Probleme des deutschen, europäischen und japanischen Rechts: Festschrift aus Anlass des 20-jährigen Bestehens der Partnerschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Chuo-Universität Tokio auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft [1 ed.] 9783428520732, 9783428120734

Alle Lebensbereiche internationalisieren sich. Es ist daher mehr denn je notwendig, sich mit ausländischen Rechtsordnung

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Probleme des deutschen, europäischen und japanischen Rechts: Festschrift aus Anlass des 20-jährigen Bestehens der Partnerschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Chuo-Universität Tokio auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft [1 ed.]
 9783428520732, 9783428120734

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Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Band 162

Probleme des deutschen, europäischen und japanischen Rechts Festschrift aus Anlass des 20-jährigen Bestehens der Partnerschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Chuo-Universität Tokio auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft

Herausgegeben von

Bernhard Großfeld, Koresuke Yamauchi, Dirk Ehlers und Toshiyuki Ishikawa

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bernhard Großfeld, Koresuke Yamauchi, Dirk Ehlers und Toshiyuki Ishikawa (Hrsg.)

Probleme des deutschen, europäischen und japanischen Rechts

Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Herausgegeben im Auftrag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster durch die Professoren Dr. Heinrich Dörner Dr. Dirk Ehlers Dr. Ursula Nelles

Band 162

Probleme des deutschen, europäischen und japanischen Rechts Festschrift aus Anlass des 20-jährigen Bestehens der Partnerschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Chuo-Universität Tokio auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft

Herausgegeben von

Bernhard Großfeld, Koresuke Yamauchi, Dirk Ehlers und Toshiyuki Ishikawa

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5383 ISBN 3-428-12073-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Alle Lebensbereiche internationalisieren sich; es ist daher mehr denn je notwendig, sich mit ausländischen Rechtsordnungen zu befassen und Rechtsvergleichung zu betreiben. Dies ist indes leichter zu fordern als zu verwirklichen. Vereinfacht wird alles, wenn es hierfür ein institutionelles Gerüst gibt. Dazu eignen sich Partnerschaften zwischen rechtswissenschaftlichen Fakultäten. Die Rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Chuo-Universität Tokio pflegen seit rund zwanzig Jahren freundschaftliche Beziehungen. Den Weg bereiteten Professor Bernhard Großfeld und dessen Institut für Rechtsvergleichung (jetzt Institut für Internationales Wirtschaftsrecht); Professor Kazuteru Kami forschte dort schon in den siebziger Jahren für die Dauer eines Jahres. Aufenthalte von Professor Großfeld (1984) und Professor Kollhosser (1985) in Tokio sowie Besuche von Professor Koresuke Yamauchi in Münster (1983–1984, 1989) schufen die Basis für ein Abkommen zwischen den beiden Universitäten. Es wurde geschlossen in der Zeit des Rektorats von Professor Hans-Uwe Erichsen. Das Abkommen sollte die zwischen den „beiden Rechtswissenschaftlichen Fakultäten bestehende Zusammenarbeit … fördern und vertiefen“. Jedes zweite Jahr lehrte seitdem ein Professor aus Münster als Gast an der Chuo-Universität, im Folgejahr besuchte ein Professor der Chuo-Universität die Fakultät in Münster. An diesem Austausch haben sich bisher acht Professoren aus Münster (Hans-Uwe Erichsen, 1989; Berthold Kupisch, 1991; Otto Sandrock, 1993; Dirk Ehlers, 1996; Wilfried Schlüter, 1998; Dieter Birk, 2000; Heinrich Dörner, 2002; Stefan Kadelbach, 2004) und acht Professoren der ChuoUniversität (Yûzô Nakanishi, 1990; Shûhei Maruyama, 1993; Rûichi Tsuno, 1995; Kunishige Sumida, 1997; Norimasa Nozawa, 1999; Toshiyuki Ishikawa, 2001, Tatsurô Kudô, 2003; Kenzaburô Kozumi, 2005) beteiligt. Andere Münsterische Professoren hielten „außer der Reihe“ Vorträge an der Chuo-Universität (Hans Joachim Schneider, Hans Jarass, Ingo Saenger und Klaus Boers). Erwähnung verdient weiterhin, dass ein früherer Mitarbeiter des Instituts für Rechtsvergleichung, Heinrich Menkhaus, als Stipendiat der Alexander-von-Humboldt-Stiftung zwei Jahre lang zu Forschungszwecken Gast an der Chuo-Universität war. Herr Menkhaus war später Leiter der Abteilung Recht und Steuern der Deutschen Industrie- und Handelskammer Tokio; er ist heute Professor für Japanisches Recht an der Philipps-Universität Marburg.

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Vorwort

Der Partnerschaftsvertrag wurde im Jahre 2002 ergänzt durch ein Abkommen, das Doktoranden oder postgraduierte Studierende von Studiengebühren im jeweiligen Studienjahr befreit. Als erste machte Frau Julia Walking davon Gebrauch; sie schrieb auch und gerade an der Chuo-Universität eine von den Herausgebern Ehlers und Ishikawa betreute Dissertation über das informale Verwaltungshandeln in Deutschland und Japan. Gegenwärtig organisieren Professor Yamauchi und der Unterzeichner die partnerschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Fakultäten. Die Rechtswissenschaftlichen Fakultäten unserer Universitäten nehmen das 20-jährige Bestehen der Partnerschaft zum Anlass, eine gemeinsame Festschrift herauszugeben. Beide Fakultäten sind überzeugt, dass die fruchtbare Zusammenarbeit in Zukunft noch weiter wachsen wird. Die Beiträge zu der Festschrift befassen sich mit dem nationalen, dem europäischen und dem beiderseitigen Recht sowie mit der Rechtsvergleichung. Untrennbar dazu gehört ein Nachruf auf unseren kürzlich verstorbenen Kollegen Helmut Kollhosser. Ihn möchten wir hier vergegenwärtigen. Er hat die Fakultät in Münster über 35 Jahre stark beeinflusst und sich sehr verdient gemacht um die persönliche und wissenschaftliche Gestaltung der Verbindungen zur Chuo-Universität. Das deutsch-japanische Gespräch unter Kollegen war ihm ein Herzensanliegen. Beide Fakultäten schulden ihm großen Dank für seinen selbstlosen Einsatz. Das möchten wir durch die Würdigung seines beruflichen Lebenswerkes zum Ausdruck bringen.

Münster, im Juni 2005

Dirk Ehlers

Inhaltsverzeichnis

I. Probleme des deutschen und europäischen Rechts sowie der Rechtsvergleichung Das so genannte Europäische Steuerrecht Von Dieter Birk ......................................................................................................... 3 Internationale Scheidungszuständigkeit und Anerkennung von Scheidungsurteilen nach der EG-Verordnung Nr. 2201/2003 Von Heinrich Dörner .............................................................................................. 17 Grundrechtsschutz in Europa Von Dirk Ehlers ...................................................................................................... 37 Rechtliche Aspekte der Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland Von Hans-Uwe Erichsen ......................................................................................... 57 Rechtsvergleichung als Kulturvermittlung Von Bernhard Großfeld .......................................................................................... 71 Japanische Gesellschaften mit Verwaltungssitz in Deutschland Von Otto Sandrock .................................................................................................. 85 Koalitionsfreiheit und Arbeitskampfrecht in der Bundesrepublik Deutschland Von Wilfried Schlüter ............................................................................................ 105

II. Probleme des japanischen Rechts und der Rechtsvergleichung Werden Japans Juristen „amerikanisiert“? – Zur Einführung des Law schoolSystems in Japan Von Anna Bartels-Ishikawa und Toshiyuki Ishikawa ............................................ 135 Heutiges Problem der Hypothek in Japan – ihr Verhältnis zum Besitzrecht Von Kenzaburô Kozumi ........................................................................................ 151 Religionsfreiheit in der japanischen Verfassung Von Tatsurô Kudô ................................................................................................. 163

VIII

Inhaltsverzeichnis

Postmortale Befruchtung und Vaterschaftsfeststellung Von Norimasa Nozawa ......................................................................................... 173 Laufen und Recht – Die japanische Pilgerfahrt Von Koresuke Yamauchi ....................................................................................... 185

III. Nachruf Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Kollhosser – * 22.4.1934 † 30.12.2004 Von Bernhard Großfeld ........................................................................................ 211

I. Probleme des deutschen und europäischen Rechts sowie der Rechtsvergleichung

Das so genannte Europäische Steuerrecht Von Dieter Birk

Eine im Herbst 2004 durchgeführte steuerliche Fachtagung in Deutschland wählte zu ihrem Thema: „Europäisches Steuerrecht ist Realität!“1 Obwohl plakativ gewählt, klingen in diesem Titel Zweifel an, ob es ein Europäisches Steuerrecht gibt. Sonst würde man es sich nicht zur Aufgabe machen, diese Zweifel auf einer Fachtagung zu widerlegen. Steuerfachleute sind gewohnt, in nationalen Regeln zu denken. Dass es daneben noch eine internationale Dimension gibt, ist ihnen zwar aufgrund der Doppelbesteuerungsabkommen geläufig, diese schaffen aber kein eigenes Steuerrecht, sondern verteilen nur die Besteuerungsbefugnisse beteiligter Staaten. Gibt es darüber hinaus ein Europäisches Steuerrecht, welches das nationale Steuerrecht überlagert, vielleicht sogar verdrängt?

I. Nähert man sich dieser Frage vom EG-Vertrag her, so sind in der Tat Zweifel angebracht. Zwar gibt es dort ein Kapitel, das überschrieben ist mit „Steuerliche Vorschriften“. Es umfasst jedoch nur vier Artikel. Davon befassen sich drei mit dem Verbot diskriminierender Abgabenbelastung anlässlich einer Warenbewegung über die Grenze, was für eine Zollunion eine Selbstverständlichkeit ist. Der vierte Artikel (Art. 93 EGV) gibt dem Rat die Befugnis, Bestimmungen über die Harmonisierung der indirekten Steuern zu erlassen, um das Funktionieren eines einheitlichen Binnenmarkts zu gewährleisten. Damit erschöpfen sich die Aussagen des EGV zum Steuerrecht. Da die Organe der EG nur die Kompetenzen haben, die ihnen ausdrücklich zugewiesen wurden (Prinzip der begrenzten Ermächtigung), können auch aus allgemeinen Regelungen keine Besteuerungskompetenzen abgeleitet werden. Der erste Befund fällt somit klar und deutlich aus: Die Mitgliedstaaten haben nur Teile ihrer Souveränität an die EG abgegeben. Dazu zählt nicht das Recht, Steuern und Abgaben zu erheben. Die Besteuerungshoheit als Kernelement staatlicher Souveränität wird im EG-Vertrag nicht angetastet. Sie verbleibt voll___________ 1

Handelsblatt-Konferenz am 23. und 24. November 2004 in Köln.

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Dieter Birk

ständig bei den Mitgliedstaaten. Gemäß dem Grundsatz „The power to tax is the power to govern“ waren die Mitgliedstaaten zu keiner Zeit bereit, ihre Besteuerungshoheit auch nur teilweise an die Europäische Gemeinschaft abzutreten. Deswegen fehlt für die direkten Steuern eine ausdrückliche Kompetenz, Bestimmungen zu ihrer Harmonisierung zu erlassen. Richtlinien in diesem Bereich können nur auf der Grundlage der allgemeinen Bestimmung des Art. 94 EGV ergehen, die voraussetzt, dass die zur Angleichung vorgesehenen Normen sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken. Der dürftige Befund zur Frage nach einer Europäischen Steuerrechtsordnung setzt sich fort, wenn man den Blick auf die Einnahmenhoheit (Ertragshoheit) und die Verwaltungshoheit richtet. Die EG hat kein unmittelbar vertraglich abgesichertes Recht auf Vereinnahmung bestimmter Steuermittel. Art. 269 Abs. 1 EGV bestimmt nur, dass der Haushalt aus Eigenmitteln finanziert wird. Was Eigenmittel sind, legt der Rat einstimmig fest (Art. 269 Abs. 2 EGV). Auf dieser Grundlage stehen der EG insbesondere die Zölle und Abschöpfungen, aber auch ein Teil der Mehrwertsteuer zu. Zölle und Abschöpfungen sind aber aufkommensmäßig gering, und die Mehrwertsteuer wird als nationale Steuer der einzelnen Mitgliedstaaten angesehen, so dass die Beteiligung hieran mehr einer Beitragsverpflichtung der Mitgliedstaaten, denn einer eigenen Ertragsquelle gleicht. Die Verwaltungshoheit über die Steuern ist vollständig bei den Mitgliedstaaten verblieben. Es gibt keine Europäische Finanzverwaltung und auch kein Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht. Die Mitgliedstaaten sind in der Organisation des Steuervollzugs frei und bestimmen in eigener Verantwortung die Regeln des Verfahrensablaufs und der Vollzugsintensität. Allerdings sind die Finanzbehörden nach der Amtshilferichtlinie2 zur gegenseitigen Amtshilfe zwecks Aufklärung grenzüberschreitender Sachverhalte verpflichtet.3

II. Bei nüchterner Betrachtung bleibt also für ein Europäisches Steuerrecht nicht viel übrig. Die EG kann keine eigenen Steuern erheben, sie hat kein vertraglich gesichertes Recht auf Vereinnahmung bestimmter Steuermittel, und sie hat selbst für die Abgaben, die ihr zustehen (Zölle, Abschöpfungen und Teile der Umsatzsteuer) keine Befugnis, diese zu verwalten. Warum beklagen dann die Staaten den Verlust an nationaler Steuersouveränität? ___________ 2

Vom 19. 12. 1977 (ABl. EG Nr. L 336, S. 15). Dazu Hendricks, Internationale Informationshilfe im Steuerverfahren, 2004, S. 182 ff. 3

Das so genannte Europäische Steuerrecht

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Die Antwort auf diese Frage verweist auf die Grundfreiheiten im EGV und die Rechtsprechung des EuGH, der die Grundfreiheiten auf dem Gebiet des Steuerrechts zur Beschränkung nationaler Besteuerungshoheit einsetzt. Wir unterscheiden vier Grundfreiheiten, die nach Art. 14 Abs. 2 EGV den gemeinsamen Binnenmarkt kennzeichnen: Der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. Da ein Markt, auf dem Waren ausgetauscht werden, nur funktionieren kann, wenn gleiche Wettbewerbsbedingungen herrschen, war die Beseitigung steuerlicher Diskriminierung durch Regelungen, die an die Warenbewegung anknüpfen, von Anfang an im EGV vorgesehen. Darauf zielen die Vorschriften der Art. 90-93 EGV ab, die Wettbewerbshemmnisse durch Abgaben möglichst weitgehend beseitigen sollen. Die direkten Steuern sind im EGV hingegen nicht angesprochen. Sie belasten die Person und nicht die Warenbewegung, deshalb geht von ihnen unmittelbar keine Wettbewerbsverzerrung und keine Marktbeeinträchtigung aus. Wenn der Investor A aus Deutschland in Frankreich andere steuerliche Bedingungen vorfindet als in Deutschland, so ist das Ausdruck der Vielfalt unterschiedlicher Steuerrechtsordnungen. Wenn er – in Deutschland ansässig – Einkünfte aus einer französischen Betriebsstätte oder einer sonstigen französischen Einkunftsquelle erwirtschaftet, so gilt er nach den Regeln des Internationalen Steuerrechts in Deutschland als unbeschränkt und in Frankreich als beschränkt steuerpflichtig. Die Regeln der beschränkten Steuerpflicht weichen von denen der unbeschränkten Steuerpflicht erheblich ab. Sie haben Objektsteuercharakter, d.h. subjektive Elemente der Leistungsfähigkeit (wie z.B. Unterhaltsaufwendungen für Kinder) werden nicht berücksichtigt. Der Investor A wird also in Bezug auf seine Einkünfte, welche er in Frankreich erzielt, dort nicht so behandelt wie ein in Frankreich ansässiger Steuerpflichtiger. Diese unterschiedliche steuerliche Behandlung hängt damit zusammen, dass der Nichtansässigkeitsstaat nur eine in seinem Gebiet gelegene Einkommensquelle besteuern kann. Die persönliche (subjektive) Leistungsfähigkeit des Einkommensbeziehers kennt er nicht und könnte sie nur unter Schwierigkeiten ermitteln, da dieser nicht auf seinem Gebiet ansässig ist. Diese grundsätzlichen Besteuerungsunterschiede haben die vertragsschließenden Staaten vorgefunden, als sie den EWGV (später EGV) geschlossen haben. Sie wollten und konnten nichts daran ändern, dass der in einem Mitgliedsstaat ansässige A, der in einem anderen Mitgliedsstaat investiert, dort ganz andere steuerliche Bedingungen vorfindet als in seinem Land, auch wenn ihn das möglicherweise vor Investitionen im anderen Staat abhält. In den unterschiedlichen steuerlichen Regelungsbedingungen konnte kein Verstoß gegen das Recht auf freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen oder Kapital gesehen werden. Andernfalls hätte eine Harmonisierung der unterschiedlichen Steuerrechtsordnungen angestrebt werden müssen, was ausdrücklich nicht gewünscht war. Der Einfluss der Grundfreiheiten auf die direkte Besteuerung

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scheint also zunächst vernachlässigbar gering zu sein. Oder, um es zugespitzt zu formulieren: Direkte Steuern belasten das wirtschaftliche Ergebnis und legen dem Einzelnen finanzielle Lasten auf, um den staatlichen Bedarf zu decken. Sie verbieten aber niemanden, grenzüberschreitend tätig zu werden, Dienstleistungen anzubieten oder Kapital anzulegen. Wer als Ansässiger des Staates I im Staat II wirtschaftlich tätig wird und dort schlechteren steuerlichen Bedingungen unterworfen wird als in seinem Ansässigkeitsstaat, dem ist dadurch nicht untersagt, dort zu investieren. Dies gilt selbst dann, wenn er im Vergleich zum ansässigen Konkurrenten im Staat II schlechter gestellt ist. Für ihn stellt sich nur die Frage, ob und wie er sich den unterschiedlichen steuerlichen Bedingungen anpassen kann. Das Recht der direkten Steuern schien gegen die EGrechtlichen Grundfreiheiten immun zu sein. Jedenfalls gingen die Mitgliedstaaten zunächst davon aus. Aber die Rechtsentwicklung ist nicht stehen geblieben. Seit langem ist bekannt, dass Steuern Lenkungswirkungen hervorrufen, die staatlichen Verboten gleichkommen. So kann z.B. eine Bruttobesteuerung ausländischer Einkünfte (also die Versagung des Abzugs von Betriebsausgaben/Werbungskosten) dazu führen, dass unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten eine Tätigkeit im anderen Staat ausscheidet. Wenn A im ausländischen Staat 100 Bruttoeinnahmen, davon aber 75 Betriebsausgaben hat und der Steuersatz 25 % der Bruttoeinnahmen beträgt, dann bringt die ausländische Investition 0 Ertrag. Denn die Steuerlast wäre 25 (25 % von 100), der Gewinn wäre aber ebenfalls 25 (100 - 75). Faktisch – wenn auch nicht rechtlich – würde sich eine solche steuerliche Regelung wie ein Verbot ausländischer Investition auswirken. Musste es wirklich soweit kommen, dass die Grundfreiheiten erst dann zur Anwendung kommen, wenn ungünstige steuerliche Regelungen die Wirkung eines Verbots auslösen? Oder reicht es schon, wenn die Bruttobesteuerung des Quellenstaats den ausländischen Konkurrenten im Ergebnis schlechter stellt als den im Quellenstaat ansässigen Konkurrenten, der auf Nettobasis besteuert wird? Die Antwort – das wissen wir heute – ist: nein, soweit musste es nicht kommen.4 Dennoch war der EuGH in seiner Rechtsprechung noch Anfang der 90er Jahre zögerlich. Im Fall Werner5, den der EuGH 1993 zu entscheiden hatte, hatte ein in Deutschland lebender und arbeitender Zahnarzt seinen Wohnsitz in die Niederlande verlegt. Die Folge war, dass er in Deutschland beschränkt steuerpflichtig wurde und damit erheblich ungünstigeren steuerlichen Regelungen als in Deutschland ansässige Steuerpflichtige unterworfen wurde. In den Niederlanden hatte er keine Einkünfte, so dass dort trotz Ansässigkeit (aufgrund des entgegenstehenden DBA) keine Steuer anfiel und somit seine persönliche Leis___________ 4 Zu dem soeben geschilderten Fall s. EuGH Slg 2003, I-5933 = IStR 2003, 458 – Gerritse. 5 EuGH Slg 1993, I-429 = NJW 1993, 995 – Werner.

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tungsfähigkeit nicht berücksichtigt werden konnte. Der EuGH sah trotz dieser steuerlichen Schlechterstellung aus Anlass des Wegzugs aus Deutschland keine Verletzung des Freizügigkeitsrechts. Es verstoße nicht gegen Art. 52 EWGV (heute Art. 43 EGV), wenn ein Mitgliedstaat eigenen Staatsangehörigen, die ihre Berufstätigkeit in seinem Hoheitsgebiet ausüben und dort ihre Einkünfte erzielen, dann, wenn sie in einen anderen Mitgliedstaat ziehen, eine höhere Steuerbelastung auferlegen.6 Die Entscheidung des EuGH auf den vom FG Köln vorgelegten Fall provozierte natürlich die Frage, ob die Antwort des Gerichtshofs anders ausgefallen wäre, wenn der Staatsangehörige eines Staates nicht seinen Wohnsitz, sondern seine Tätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hätte. Denn während es im einen Fall nur um die Freiheit der Wohnsitznahme geht, geht es im anderen Fall um die Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes. Ein solcher Fall ließ nicht lange auf sich warten. Schumacker, ein in Belgien mit seiner Familie lebender Arbeitnehmer, pendelte täglich nach Deutschland und ging dort seiner Arbeit nach. In Belgien erzielten weder er noch seine Frau Einkünfte. Da er in Deutschland keinen Wohnsitz hatte, war er dort beschränkt steuerpflichtig, d.h. er konnte weder persönliche Abzüge geltend machen, noch konnte er den Splitting-Tarif in Anspruch nehmen. Gegenüber in Deutschland lebenden und dort arbeitenden Arbeitnehmern war er also erheblich benachteiligt. Der EuGH sah in der Anwendung der beschränkten Steuerpflicht eine nicht zu rechtfertigende Diskriminierung sog. Grenzgänger. Übt ein Steuerpflichtiger, der im Mitgliedsstaat I wohnt, im Mitgliedsstaat II eine Tätigkeit aus und erzielt er (fast) sein gesamtes Einkommen im Mitgliedsstaat II, so muss ihm dieser die Vorteile der unbeschränkten Steuerpflicht einräumen.7 Folge dieser Entscheidung war, dass die unbeschränkte Steuerpflicht auf Nichtansässige Steuerpflichtige ausgedehnt wurde, wenn diese den Großteil (90 % oder mehr) ihrer Einkünfte im Tätigkeitsstaat erzielen (nunmehr §§ 1 Abs. 3, 1a EStG). Beeinträchtigen solche Entscheidungen des EuGH die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten, die doch bei Vertragsschluss davon ausgingen, dass ihnen diese ungeschmälert verbleiben soll? Dies ist zu bejahen. Die nachfolgende Rechtsprechung des EuGH zeigt, dass das Gericht keine Rücksicht auf die Steuersouveränität der Mitgliedstaaten nimmt. Beispielhaft hierfür ist die Entscheidung Eurowings8. Eurowings, eine deutsche Kapitalgesellschaft mietete ein Flugzeug von einer irischen Kapitalgesellschaft. Die Mietzahlungen waren als Betriebsausgaben für Zwecke der Körperschaftsteuer abzugsfähig, für Zwecke der Gewerbesteuer nur, wenn die Leasinggesellschaft ihren Sitz in Deutschland hat___________ 6

EuGH Slg 1993, I-429 = NJW 1993, 995, Rz. 17 – Werner. EuGH Slg 1995, I-225 – Schumacker; vgl. auch EuGH Slg 1999, I-5451 = NJW 2000, 941 – Gschwind. 8 EuGH Slg 1999, I-7447 = IStR 1999, 691 – Eurowings. 7

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te (§ 8 Nr. 7 GewStG). Hatte sie hingegen ihren Sitz im Ausland, wurden die Mietzahlungen der Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer hinzugerechnet. Der Grund hierfür war, dass ohne Hinzurechnung auf die Mietzahlungen keine Gewerbesteuer anfiel, bei der zahlenden Gesellschaft nicht, weil sie als Betriebsausgaben abzugsfähig ist, bei der empfangenden Gesellschaft nicht, da diese nicht gewerbesteuerpflichtig ist (§ 2 GewStG). Hätte der Gesetzgeber die Hinzurechnungsvorschrift nicht erlassen, wäre es ein Leichtes, die Gewerbesteuer über die Gründung einer ausländischen Tochtergesellschaft zu vermeiden. Entsprechende Mietverträge würden stets über eine ausländische Gesellschaft abgewickelt. Der EuGH sah in der Hinzurechnung der Mietzahlungen eine Diskriminierung ausländischer Anbieter und lehnte entsprechende Versuche zur Rechtfertigung der Diskriminierung ab.9 Folge dieser Entscheidung ist, dass die Hinzurechnungsbestimmung § 8 Nr. 7 GewStG in grenzüberschreitenden Fällen (EGAusland) nicht mehr angewandt werden kann.10 Das führt aber dazu, dass es nun steuerlich günstiger ist, mit einem ausländischen Partner einen Leasingvertrag abzuschließen als mit einem inländischen Partner. Die Finanzhoheit, über die die Staaten eigentlich mit Argusaugen wachen wollten, um Kontrolle über die Einnahmen zu haben, wird mittelbar durch die Grundfreiheiten beschnitten. Oder anders ausgedrückt: Die Sicherung nationaler Steuereinnahmen rechtfertigt keine diskriminierenden Steuervorschriften. Die Staaten müssen ihre Steuerrechtsordnungen anpassen, auch wenn es Steuersubstrat kostet.

III. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH fallen die direkten Steuern zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch müssen diese ihre Zuständigkeit unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben.11 Ausgangspunkt des Gerichtshofs ist also stets die Betonung der steuerlichen Souveränität der Mitgliedstaaten. Allerdings hat das Gericht nunmehr im Laufe seiner Rechtsprechung die Grundfreiheiten derart instrumentalisiert, dass die Eingriffe in die nationalen Steuerrechtsordnungen nicht mehr als marginal bezeichnet werden können, sondern zum Teil an den Grundfesten nationaler Steuerstrukturen rühren. Die entscheidende Frage ist, ob die gerichtlich verfügten und teilweise sehr weitgehenden Eingriffe in die nationalen Steuerrechtsordnungen nach und nach ein Europäisches Steuerrecht herausbilden. Das Gericht hat Entwicklungen angestoßen, die anscheinend unumkehrbar sind, so dass im Augenblick niemand vorhersa___________ 9

EuGH Slg 1999, I-7447 = IStR 1999, 691, Rz. 41 ff. – Eurowings. Siehe Ländererlass der Finanzminister BStBl. 2000, 486; Glanegger/Güroff, GewStG, 5. Aufl. 2002, § 8 Nr. 7 Rz. 1. 11 EuGH Slg 1999, I-6161 = IStR 1999, 592, Rz. 56 f. – Saint Gobain. 10

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gen kann, wie weit die Deformierung nationalen Steuerrechts durch die Rechtsprechung des EuGH noch vorangetrieben werden wird, wie die Mitgliedstaaten darauf reagieren werden und was am Ende dieses Prozesses herauskommen wird. Ein interessantes Beispiel für das Dilemma der Mitgliedstaaten ist die Besteuerung der Alterseinkünfte. Deutschland hat zum 1.1.2005 die Besteuerung der Alterseinkünfte umgestellt. Nunmehr sollen – grob gesprochen – in bestimmten Grenzen die Einzahlungen in die gesetzliche, betriebliche oder private Altersversorgung (also das „Ansparen“) steuerfrei erfolgen, dafür sollen aber die Alterseinkünfte (also die „Auszahlungen“) voll steuerpflichtig sein (sog. nachgelagerte Besteuerung). Der Staat verzichtet damit temporär auf sein Besteuerungsrecht und geht dabei davon aus, dass er in der Altersphase auf die „Auszahlungen“ zugreifen kann. Dies wird im Regelfall auch keine Probleme bereiten, da der in den Ruhestand gewechselte Steuerpflichtige weiterhin der unbeschränkten Steuerpflicht unterliegt. Probleme treten allerdings auf, wenn der Steuerpflichtige von seinem Recht auf europäische Freizügigkeit Gebrauch macht und im Alter in ein anderes Land zieht. Hat der Steuerpflichtige in der Leistungsphase in eine deutsche Versorgungskasse eingezahlt, und erhält er daraus Zahlungen ins Ausland, in das er mittlerweile verzogen ist, so hat der Staat grundsätzlich die Möglichkeit, im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht diese ins Ausland fließenden Zahlungen zu besteuern, da die Einkünfte aus einer deutschen Quelle (Versorgungskasse) stammen. Dementsprechend werden ab 1.1.2005 Renteneinkünfte, die an im Ausland ansässige Rentner fließen, in die beschränkte Steuerpflicht mit einbezogen (§ 49 Abs. 1 Nr. 7 n.F.). Die Besteuerung kommt aber nur dann zum Tragen, wenn Doppelbesteuerungsabkommen das Besteuerungsrecht nicht dem Wohnsitzstaat zuweist, was zurzeit regelmäßig der Fall ist. Aber Doppelbesteuerungsabkommen können geändert werden. Schwieriger zu beeinflussen ist eine weitere Voraussetzung, nämlich dass die Einkunftsquelle (Versorgungskasse) im Inland liegen muss. Das bedeutet, dass der Versorgungsträger seinen Sitz im Inland haben muss oder zumindest die Altersbezüge über eine inländische Zahlstelle gewährt werden müssen. Ohne einen solchen inländischen Anknüpfungspunkt können keine inländischen Einkünfte angenommen werden, so dass nach den Grundsätzen des Internationalen Steuerrechts eine (nachgelagerte) Einkommensbesteuerung ausscheidet, wenn der ins Ausland verzogene Ruheständler schon in seiner Erwerbsphase in eine im Ausland gelegene Kasse einbezahlt hat. Das in der Erwerbsphase steuerfrei gebildete Altersvermögen bleibt im Tätigkeitsstaat dann steuerfrei. Der Gedanke des temporären Steuerverzichts des Tätigkeitsstaats kommt nicht zum Tragen. Aus der „Steuerstundung“ in der Leistungsphase wird eine endgültige Steuerbefreiung in der Auszahlungsphase.

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Kann und wird der Tätigkeitsstaat diese Einbuße an Steuermitteln hinnehmen? Welche Möglichkeiten bleiben ihm, darauf zu reagieren? Der Tätigkeitsstaat hat zwei Möglichkeiten: Er könnte wieder zur vorgelagerten Besteuerung zurückkehren, so wie sie in Deutschland bis zum 31.12.2004 gegolten hat. Dann würden die Versorgungsaufwendungen in der Erwerbsphase besteuert und es spielte keine Rolle, ob der Steuerpflichtige im Ruhestand ins Ausland verzieht. Das erworbene Altersvermögen wäre in jedem Fall ordnungsgemäß versteuert. Da aber Deutschland, wie auch andere Staaten, bewusst und gezielt die nachgelagerte Besteuerung eingeführt haben, um einen Anreiz zum steuerfreien Aufbau eines Altersvermögens zu schaffen und damit die Altersvorsorge insgesamt zu fördern, wird dieser Weg nicht gewählt werden. Die Staaten werden es zu Recht als Ausfluss ihrer Steuerhoheit ansehen, die nachgelagerte Besteuerung als Form der Altersbesteuerung zu wählen. Bleibt eine zweite Möglichkeit: Der Staat könnte überlegen, nur für die Fälle, in denen der Steuerpflichtige in eine ausländische Versorgungskasse einzahlt, zur vorgelagerten Besteuerung zurückzukehren, also nur in diesen Fällen die Leistungen (Einzahlungen) zu besteuern. Der Staat könnte die Ungleichbehandlung damit rechtfertigen, dass es sich um Sachverhalte handelt, in denen der (ursprünglich gestundete) Steueranspruch ohne Besteuerung in der Einzahlungsphase vollständig verloren gehen kann. Denn für eine nachgelagerte Besteuerung der Alterseinkünfte fehlt – im Falle des Wegzugs – jeglicher Inlandsbezug, so dass auch eine Besteuerung im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht ausscheidet, die nachgelagerte Besteuerung also ins Leere läuft. Die Frage ist allerdings, ob die Rückkehr zur vorgelagerten Besteuerung nur für die Fälle der Einzahlung in eine ausländische Versorgungskasse mit EGRecht vereinbar wäre, da sie in erster Linie Angehörige anderer Mitgliedstaaten benachteiligen würde (Beeinträchtigung der Freizügigkeit) und zudem auch ausländische Versicherungsunternehmen steuerlich und damit im Wettbewerb benachteiligen würde (Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit). Denn die vorgelagerte Besteuerung ist gegenüber der nachgelagerten Besteuerung deutlich ungünstiger. Sie führt dazu, dass der Nettolohn sinkt und belastet den Steuerpflichtigen im Ergebnis mit einer höheren Steuer, da die Progression in der Phase der Erwerbstätigkeit höher ist und die fehlende Stundung einen Zinsnachteil bedeutet. Sofern aber das Steuerrecht der Mitgliedstaaten an Vorsorgeprodukte mit grenzüberschreitendem Bezug eine stärkere Belastung der Versicherungsunternehmer knüpft als an vergleichbare (inländische) Vorsorgeprodukte, werden bestimmte Anlegergruppen vom Vertragsschluss mit solchen Versicherungsunternehmen abgehalten.12 Darin kann in Bezug auf den Anleger eine Beschränkung ___________ 12

Vgl. EuGH, Rs. C-334/02, BFH NV 2004, 208 (210) – Kommission/Frankreich.

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der Kapitalverkehrsfreiheit und in Bezug auf die Versicherer eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit13 liegen. Den Ausschluss von Beitragsleistungen mit (EU-)Auslandsberührung von der steuerlichen Abzugsfähigkeit hat der EuGH zwar in der Entscheidung Bachmann unter dem Gesichtspunkt der „Kohärenz“ des nationalen Steuersystems als gerechtfertigt angesehen.14 Darunter versteht der EuGH im Bereich der Altersbesteuerung die korrespondierende steuerliche Behandlung der Altersvorsorgebeiträge und der steuerlichen Behandlung darauf beruhender Versorgungsleistungen durch das nationale Steuerrecht. Ob der EuGH an dieser Rechtsprechung festhalten wird, ist angesichts der später ergangenen Entscheidung Danner jedoch eher zweifelhaft.15 Ist es dem Staat somit europarechtlich verwehrt, in den Fällen, in denen die Steuerstundung zur Steuerbefreiung führt, zur vorgelagerten Besteuerung zurückzukehren, und will der Staat nicht insgesamt sein System auf die vorgelagerte Besteuerung umstellen, so bleibt nur zu akzeptieren, dass Sachverhalte nicht besteuert werden können, die aus Sicht der betroffenen Staaten und nach der Systematik deren Steuerrechts eindeutig besteuert werden müssten. Die europarechtlichen Grundfreiheiten führen zum Verlust nationaler Steuerhoheit und deformieren nationales Besteuerungsrecht. Noch nachdenklicher jedoch muss der Fall Ritter machen, der auf Vorlage des BFH derzeit zur Entscheidung ansteht.16 Ritter ist ein deutscher Steuerpflichtiger, der sein gesamtes Einkommen in Deutschland erzielt, aber in Frankreich in seinem eigenen Haus wohnt. Obwohl er in Deutschland keinen Wohnsitz hat, ist er aufgrund der durch die Schumacker-Entscheidung ausgelösten Gesetzesänderung (§ 1 Abs. 3 EStG) dort unbeschränkt steuerpflichtig, kann also alle privaten Abzüge geltend machen. Aber Ritter möchte mehr. In Frankreich erzielt er zwar keine Einkünfte, könnte aber aufgrund der dort geltenden Rechtslage aus der Finanzierung des selbstgenutzten Eigenheims Verluste geltend machen, wenn er Einkünfte hätte. In Deutschland kann er diese Verluste aus zwei Gründen nicht geltend machen: Der Verlust zählt zu den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung und diese sind abkommensrechtlich Frankreich zur Besteuerung zugewiesen. Daneben schließt aber auch § 2a Abs. 1 Nr. 6 EStG die Berücksichtigung negativer Einkünfte aus der Einkunftsart Vermietung und Verpachtung in anderen Staaten aus. Ritter verlangt mit anderen Worten eine Gleichstellung mit deutschen Steuerpflichtigen, die im Jahr 1987 (dem ___________ 13

EuGH Slg 1992, I-249 (284) – Bachmann; Rs. C-300/90, Slg 1992, I-305 (321) – Kommission/Belgien; Slg 1998, I-1897 (1926) – Safir; Slg 2002, I-2002, 8147 = BB 2002, 2555 (2556) – Danner; vgl. auch EuGH Rs. C-334/02, BFH NV 2004, 208 (209) – Kommission/Frankreich. 14 EuGH Slg 1992, I-249 (284) – Bachmann. 15 EuGH Slg 2002, I-2002, 8147 = BB 2002, 2555 – Danner. 16 BFH IStR 2003, 314.

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Streitjahr) ebenfalls Verluste aus selbst genutztem Wohnraum geltend machen konnten (danach wurde die Besteuerung selbst genutzten Wohnraums abgeschafft). Nach Auffassung des vorlegenden BFH liege es auf der Hand, „dass durch die Nichtberücksichtigung der negativen Einkünfte die Eigennutzung des eigenen Hauses, sofern dieses im Ausland belegen ist, gegenüber einer entsprechenden Nutzung im Inland benachteiligt wird.“17 Das ist zwar richtig. Werden jedoch die Grundfreiheiten so weit interpretiert, dann gibt es für den Staat keine Möglichkeit mehr, zwischen Inlands- und Auslandssachverhalten zu unterscheiden. Die Besteuerung des selbst genutzten Wohnraums ist u.a. auch ein Mittel, privates Wohnungseigentum zu fördern, also über eine steuerliche Lenkungsnorm (die die Verlustberücksichtigung ermöglicht), den Anteil eigen genutzten privaten Wohnraums zu erhöhen. Diese Lenkungsnorm ist an die territorialen Grenzen gebunden. Kein Staat wird ein Interesse daran haben, die Eigennutzung privaten Wohnraums auch in anderen Staaten zu fördern. Dies wäre aber die Konsequenz einer Entscheidung, die zu einer Berücksichtigung von Verlusten aus einer steuerlichen Sonderregelung im Wohnsitzstaat in den Fällen zwingen würde, in denen eine solche Sonderregelung auch im Tätigkeitsstaat gilt. Wie sehr die Deformation nationaler Steuerrechtsordnungen durch die Rechtsprechung des EuGH fortgeschritten ist, zeigt auch das aus neuester Zeit stammende Urteil des Gerichtshofs im Fall Manninen zur Anrechnung ausländischer Steuern.18 Der Finne Petri Manninen hatte Dividenden aus Schweden bezogen und von seinem Heimatstaat Finnland verlangt, ihm die darauf lastende schwedische Körperschaftsteuer zu erstatten. Sein Argument war: Hätte er Dividenden aus einer finnischen Gesellschaft erhalten, wäre aufgrund des in Finnland geltenden Anrechnungsverfahrens die finnische Körperschaftsteuer erstattet worden. Können die Grundfreiheiten so weit gehen, dass ein Mitgliedstaat gezwungen wird, Steuern zu erstatten, die er gar nicht eingenommen hat? Der EuGH hat dies bejaht. Der Ausschluss der Anrechnung bewirke, dass in Finnland unbeschränkt steuerpflichtige Personen abgehalten würden, ihr Kapital bei ausländischen Gesellschaften anzulegen und behindere außerdem ausländische Gesellschaften, in Finnland Kapital zu sammeln.19 Da auch in Deutschland bis zum Jahre 2001 das körperschaftsteuerliche Anrechnungsverfahren gegolten hat, hat dieses Urteil auch Auswirkungen auf noch nicht bestandskräftige Altfälle in der Bundesrepublik Deutschland. Das FG Köln hat am 24. 6. 2004 dementsprechend erhebliche Zweifel an der Europarechtskonformität an dem früheren gültigen Anrechnungsverfahren geäußert und § 36 Abs. 2 Nr. 3 EStG a.F. dem EuGH vorgelegt.20 Das früher kaum in Zweifel gezogene Dogma, dass es ___________ 17 18 19 20

BFH IStR 2003, 314 (315). EuGH, Rs. C-319/02, IStR 2004, 680 – Manninen. EuGH, Rs. C-319/02, IStR 2004, 680, Rz. 22 f. – Manninen. FG Köln, Urt. v. 24. 6. 2004, Az. 2 K 2241/02, IStR 2004, 580.

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keinem Staat zugemutet werden könne, Steuern zu erstatten, die er gar nicht erhoben hat, gilt heute nicht mehr. Gerade dieser Fall zeigt, dass geschlossene steuerliche Systeme innerhalb der Mitgliedstaaten kaum mehr aufrechtzuerhalten sind. War es unter der Geltung des Anrechnungsverfahrens konsequent, die Körperschaftsteuer auf den Gewinn als „Anzahlung“ auf die persönliche Leistungsfähigkeit des Anteilseigners anzusehen, so ist der Staat unter Geltung der Grundfreiheiten gezwungen, auch „Anzahlungen“ anzuerkennen, die gar nicht geleistet worden sind. Die Staaten haben eigentlich nur zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren: Entweder sie schaffen das körperschaftsteuerliche Anrechnungsverfahren ab, oder sie versuchen, den fiskalischen Folgen solcher Entscheidungen in einem länderübergreifenden Finanzausgleich zu begegnen. Erstere Alternative führt zur Verkümmerung nationaler Steuersouveränität. Letztere Alternative setzt bundesstaatliche Rahmenbedingungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft voraus, die derzeit in weiter Ferne sind. Eine alles in allem schwierige Situation, die den BFH in einem kürzlich veröffentlichten Beschluss zu der ungewöhnlichen Mahnung veranlasste, der EuGH möge die Folgen bedenken, wenn er die Nationalstaaten verpflichten wolle, Inländern ausländische Steuern gutzuschreiben. Es sei nämlich „in absehbarer Zeit nicht wahrscheinlich“, dass die Mitgliedstaaten für die fiskalischen Folgen „wirksame Abhilfe […] über einen zwischenstaatlichen Fiskalausgleich“ schaffen können.21 Aber die Mahnung kam zu spät. Das „Manninen-Urteil“ war bereits gefällt, und der deutsche Gesetzgeber versucht nun im Richtlinien-Umsetzungsgesetz (EURLUmsG) wenigstens Schadensbegrenzung, wenn er festschreibt, dass die Vorlage einer Bescheinigung nicht ausreicht, um bestandskräftige Steuerbescheide rückwirkend zu ändern.22 Der EuGH betont in ständiger Rechtsprechung, dass die Unterscheidung zwischen unbeschränkter und beschränkter Steuerpflicht nicht gegen die Grundfreiheiten verstoße, denn Gebietsansässige und Gebietsfremde befänden sich in der Regel nicht in einer vergleichbaren Situation.23 Nach dieser meist als Ausgangspunkt einschränkender Überlegungen gewählten Feststellung folgen häufig und immer häufiger Überlegungen des Gerichts, die die Unterscheidung zwischen unbeschränkter Steuerpflicht mehr und mehr einebnen. So war lange Zeit die beschränkte Steuerpflicht als eine Art rohe Objektsteuer anerkannt. Dies führte dazu, dass Staaten – um den Verwaltungsaufwand gering zu halten – häufig eine Bruttobesteuerung mit gleichbleibendem abgeltenden Steuersatz vorsahen. Im Fall Gerritse hat der Gerichtshof nun sowohl die ___________ 21

BFH v. 14. 7. 2004, BStBl. II 2005, 53 (55f.). Entwurf des § 175 Abs. 2 AO, siehe Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 15/4050. 23 EuGH Slg 1995, I-225 = BB 1995, 438, Rz. 31 – Schumacker; Slg 2003, I-5933 = IStR 2003, 458, Rz. 43 – Gerritse. 22

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Bruttobesteuerung als auch den abgeltenden Steuersatz verworfen.24 Als Folge davon hat der BFH im April 2004 dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob der in § 50a Abs. 4 und 5 und § 50d Abs. 1 EStG geregelte Steuerabzug bei beschränkt Steuerpflichtigen mit Art. 49 und 50 EGV vereinbar sind.25 Der vorlegende Senat hält es für zweifelhaft, ob der Steuerabzug mit Art. 59 und 60 EGV vereinbar sind, und zwar selbst dann, wenn nachträglich im Erstattungsverfahren Betriebsausgaben geltend gemacht werden können. Dieselben Zweifel gelten nach Auffassung des Gerichts für die Haftung des Vergütungsschuldners, der Honorarzahlungen an im Ausland ansässige Personen leistet, welche im Inland entsprechende Leistungen (künstlerische Darbietungen) erbringen. Denn entsprechende Haftungsregeln existierten bei rein inländischen Sachverhalten nicht. Die Überlegungen des Gerichts zeigen, wie weit die Unterschiede der unbeschränkten und beschränkten Steuerpflicht bereits eingeebnet sind und möglicherweise noch weiter eingeebnet werden. Sowohl Rohbesteuerung mit anschließender Korrektur im Erstattungsverfahren als auch Haftung des Vergütungsschuldners, der Zahlungen ins Ausland leistet, sind überkommene Merkmale der beschränkten Steuerpflicht und tragen den spezifischen Gegebenheiten einer temporär begrenzten Leistungserbringung von im Ausland ansässigen Künstlern, Sportlern usw. Rechnung. Beide Regelungen – Rohbesteuerung kombiniert mit Erstattung und Haftung des Vergütungsschuldners – sind zwar für die Beteiligten nachteilig, aber aus der besonderen Lage eines nur kurzfristig während der Darbietung in Deutschland anwesenden Steuerschuldners erklärbar. Folgt der EuGH der Vorlage des EuGH, so fallen wesentliche Elemente der beschränkten Steuerpflicht und ihrer verfahrensmäßigen Durchsetzung. Auch hier würde die Regelungshoheit der Mitgliedstaaten in ihrem Kern getroffen werden.

IV. Zurück zur Ausgangsfrage: Entsteht aus der fallweisen Deformierung des nationalen Steuerrechts durch die Rechtsprechung des EuGH ein Europäisches Steuerrecht? Die Antwort fällt negativ aus. Alle Eingriffe des EuGH haben nur eine Komplizierung der nationalen Steuerrechtsordnungen ausgelöst. Dies gilt für die Erweiterung der unbeschränkten Steuerpflicht (§ 1 Abs. 3, § 1 a EStG; Schumacker26) ebenso wie für die Fremdfinanzierung von Kapitalgesellschaften ___________ 24

EuGH Slg 2003, I-5933 = IStR 2003, 458, Rz. 47 ff – Gerritse. BFH v. 28. 4. 2004, I R 39/04 (V), BFH/NV 2004, 1171; 16. 6. 2004, I B 44/04 (V), BFH/NV 2004, 1339. 26 EuGH Slg 1995, I-225 = BB 1995, 438 – Schumacker. 25

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(§ 8a KStG, Lankhorst-Hohorst27) oder die Regelungen zur Durchsetzung der beschränkten Steuerpflicht (§ 50a EstG, Gerritse28). Eine Wegweisung oder gar eine konzeptionelle Vorstellung wie ein Europäisches Steuerrecht aussehen könnte, ist damit nicht verbunden. Die aus den Grundfreiheiten abgeleiteten Grenzen der nationalen Besteuerungsgewalt der Mitgliedstaaten offenbaren sich so als erhebliche Eingriffe in die Finanzhoheit der Mitgliedstaaten und nicht als Motor eines sich entwickelnden einheitlichen Steuersystems. Europäisches Steuerrecht ist, um es mit den Worten eines britischen Kollegen zu sagen, nicht Ausfluss des Grundsatz „power to tax“, sondern vielmehr schlicht das Ergebnis der vom EuGH dem Steuerpflichtigen gewährten „power to prevent taxes“.29 Es besteht ein merkwürdiger Gegensatz zwischen rein nationalstaatlichen Regelungsinteressen, die es bisher verhinderten, das Recht der direkten Steuern auf der Ebene der Gesetzgebung gegenüber europaorientierten Konzeptionen zu öffnen und den Interessen international tätiger Steuerpflichtiger, die sich auf Freiheitsgarantien berufen, für deren Gewährleistung die Rechtsordnungen gar nicht ausreichend gerüstet sind. Die Lösung dieses Gegensatzes können nur die Mitgliedstaaten selbst in die Hand nehmen. Es wäre deshalb an der Zeit, die Steuerreformdiskussion nicht nur auf nationaler Ebene zu führen, sondern auch auf europäischer Ebene Steuerkonzepte zu entwickeln. Solange das nicht geschieht, kann von einem europäischen Steuerrecht nicht die Rede sein.

___________ 27 28 29

EuGH Slg 2002, I-11779 = NJW 2003, 573 – Lankhorst-Hohorst. EuGH Slg 2003, I-5933 = IStR 2003, 458 – Gerritse. David W. Williams, EC Tax Law, 1998, S. 2.

Internationale Scheidungszuständigkeit und Anerkennung von Scheidungsurteilen nach der EG-Verordnung Nr. 2201/2003 Von Heinrich Dörner

I. Einführung Am 1. August 2004 ist in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mit Ausnahme Dänemarks die EG-Verordnung Nr. 2201/2003 („VO Brüssel IIa“) in Kraft getreten.1 Sie gilt seit dem 1. März 2005 (Art. 72 VO2) und ergänzt und ersetzt die frühere Verordnung Nr. 1347/2000 („VO Brüssel II“) aus dem Jahre 2000.3 Beide Verordnungen regeln die internationale Zuständigkeit sowie die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in bestimmten Ehesachen einer- und in bestimmten Verfahren betreffend die „elterliche Verantwortung“ andererseits. Während die Verordnung „Brüssel IIa“ vor allem neue Zuständigkeitsregeln in Fällen von Kindesentführung schafft, lässt sie die in der Vorgänger-Verordnung enthaltenen Vorschriften über die Zuständigkeit in Eheverfahren sowie über die Anerkennung einschlägiger Entscheidungen in der Sache unverändert. Sowohl die alte wie die neue Verordnung stützen sich auf die Rechtsgrundlage der Art. 61 lit. c) in Verbindung mit Art. 65 lit. b) des am 1.1.1999 in Kraft getretenen Vertrages von Amsterdam.4 Dort wird der Europäischen Gemeinschaft die Zuständigkeit für Maßnahmen übertragen, die geeignet sind, eine Vereinheitlichung der in den Mitgliedstaaten geltenden Internationalen Privatrechte zu fördern und Kompetenzkonflikte zu vermeiden, soweit dies für das ___________ 1 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 v. 27.11.2003, ABl. EG 2003 Nr. L 338, S. 1 ff. 2 Zitiert werden im Folgenden nur Artikel aus der neuen VO Nr. 2201/2003 („Brüssel IIa“). Diese Bestimmungen werden im Anhang abgedruckt. 3 Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten v. 29.5.2000, ABl. EG 2000 Nr. L 160, S. 19 ff. 4 ABl. EG 1997 Nr. C 340, S. 1 ff.

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reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes erforderlich ist. Der Rat der Europäischen Union hat sich auf den Standpunkt gestellt, dass die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Zuständigkeitsregeln in Ehesachen und den Regeln über die Anerkennung entsprechender Entscheidungen sowohl den freien Personenverkehr als auch das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes erschweren, und hat daher von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht.5

II. Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 in Ehesachen Nach ihrem Art. 1 Abs. 1 lit. a) gilt die Verordnung Nr. 2201/2003 (VO „Brüssel IIa“) für alle zivilgerichtlichen Verfahren, welche die Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes sowie die Ungültigerklärung der Ehe betreffen. Auf die Zugehörigkeit eines oder beider Eheleute zu einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft kommt es dabei nicht an. Vielmehr finden die Vorschriften der Verordnung über die internationale Zuständigkeit auch auf Angehörige von Drittstaaten Anwendung, sofern nur die vorgesehenen Zuständigkeitskriterien in deren Person erfüllt sind.6 Während fast alle Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (Ausnahme: Malta) eine endgültige Auflösung von Ehen durch gerichtlichen oder behördlichen Scheidungsakt zulassen, ist die sog. „Trennung von Tisch und Bett“, d.h. eine häufig als Vorstufe der Scheidung anzusehende, unter staatlicher Mitwirkung zustande kommende Lockerung des Ehebandes nur noch in wenigen Staaten anzutreffen (Frankreich, Italien, Polen, Portugal, Spanien, aber auch in Finnland und den Niederlanden). Verfahren zur „Ungültigerklärung der Ehe“ sind solche, die eine Beseitigung der Ehe aufgrund von Mängeln des Eheschließungsakts (Irrtum, Täuschung, Drohung, Scheingeschäft usw.) ermöglichen, wie dies im deutschen Recht etwa gemäß §§ 1313 ff. BGB der Fall ist. Die Verordnung bezieht sich nur auf Statusentscheidungen, welche die zwischen den Eheleuten aufgrund der Ehe bestehenden Rechte und Pflichten ganz ___________ 5 Erwägungsgründe Nr. 5–7 der Präambel zur VO Nr. 1347/2000 (Fn. 3). – Ob die genannten Bestimmungen des EG-Vertrages allerdings der Europäischen Gemeinschaft tatsächlich eine Zuständigkeit zur Harmonisierung des Internationalen Eheverfahrensrecht gewähren, ist im deutschen Schrifttum lebhaft umstritten, ablehnend z.B. Schack, ZEuP 1999, 805 ff. und RabelsZ 2001, 615 ff.; befürwortend dagegen etwa Leible/ Staudinger, The European Legal Forum 2000/2001, 225 ff.; Wagner, RabelsZ 2004, 119 ff. Überblick zum Diskussionsstand bei Staudinger/Spellenberg, Internationales Verfahrensrecht in Ehesachen, Neubearbeitung 2005, Vor Art. 1 EheGVO Rn. 14 ff., dort auch (in Rn. 18) zur Rechtslage nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Nizza am 1.2.2003. 6 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 8, S. 2 der Präambel zur VO Nr. 1347/2000 (Fn. 3).

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oder weitgehend aufheben. Nach ihrem klaren Wortlaut werden dagegen Klagen auf Feststellung der Nichtigkeit oder Wirksamkeit der Ehe (wie im deutschen Recht gemäß § 632 ZPO) nicht erfasst.7 Auch die meisten Folgeentscheidungen, so beispielsweise über die Namensführung nach Scheidung, über die güterrechtliche Auseinandersetzung oder den Versorgungsausgleich (vgl. im deutschen Recht in §§ 1587 ff. BGB) oder über die Verteilung von Wohnung oder Hausrat fallen nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung. Sie findet allerdings nach ihrem Art. 1 Abs. 1 lit. b) in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 wiederum Anwendung auf Entscheidungen über die anlässlich einer Entscheidung in Ehesachen erforderlich werdende Zuweisung der elterlichen Verantwortung. Die internationale Zuständigkeit zur Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen nach Scheidung, Trennung oder Ungültigerklärung einer Ehe sowie die Anerkennung entsprechender Unterhaltsurteils richten sich (derzeit noch8) nach den Vorschriften der Europäischen Gerichtsstands- und VollstreckungsVerordnung (VO „Brüssel I“) vom 22.12.2000.9 Nicht einheitlich wird die Frage beurteilt, ob die beiden Ehe-Verordnungen mit „Ehescheidung“ auch die Auflösung einer Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern (z.B. in den Niederlanden, Belgien und demnächst wohl auch Spanien) meinen, oder sogar die Auflösung einer gleichgeschlechtlichen Registrierten Partnerschaft, wie sie inzwischen in sämtlichen skandinavischen Staaten, aber auch in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Belgien sowie in mehreren spanischen Provinzen mit mehr oder weniger weit reichenden Rechtsfolgen begründet werden kann. Von der wohl herrschenden Meinung wird eine solche extensive Interpretation – zu Recht – abgelehnt.10 In fast allen ___________ 7

Vgl. Hausmann, The European Legal Forum 200/2001, 271 (276); Staudinger/ Spellenberg, (Fn. 5) Art. 1 Rn. 8; Dilger, Die Regelungen zur internationalen Zuständigkeit in Ehesachen in der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 (2004) 107 ff.; aber sehr str., a.A. z.B. Hau, FamRZ 2000, 1333; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, 26. Aufl. (2004) Art. 1 EheVO (a.F.) Rn. 2; nach Zuständigkeit und Anerkennung differenzierend Rauscher, in: Rauscher (Hrsg.) Europäisches Zivilprozessrecht (2004) Art. 1 Brüssel II-VO Rn. 2. 8 Vgl. dazu aber auch das Grünbuch „Unterhaltspflicht“ der Europäischen Kommission vom 15.4.2004, KOM (2004) 254 endgültig. Der Entwurf eines Rechtsinstruments zur Anerkennung und Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen soll noch im Jahre 2005 vorgelegt werden, vgl. dazu das „Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union“, Anhang I der Schlussfolgerungen des Vorsitzes von der Tagung des Europäischen Rats v. 4./5.11.2004 (unter 3.4.2.); abrufbar unter http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/82542.pdf; dazu Wagner, IPRax 2005, 66 (67). 9 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil und Handelssachen, ABl. EG 2001 Nr. L 12, S. 1 ff. 10 Vgl. Rauscher, (Fn. 7) Art. 1 Rn. 3, Thomas/Putzo/Hüßtege, (Fn. 7) Vor Art. 1 Rn. 5; Kohler, NJW 2001, 10 (15); Wagner, IPRax 2001, 282; Helms, FamRZ 2002, 1593 (1594); Dörner, FS Jayme (2004) 143 (150 Fn. 28); a.A. Jessurun d'Oliveira, Liber amico-

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europäischen Rechtsordnungen bezeichnet der Begriff der „Ehe“ immer noch allein die institutionalisierte Beziehung zwischen Mann und Frau. Hätte der Verordnungsgeber die gleichgeschlechtliche Ehe (oder sogar die Registrierte Partnerschaft) in die Verordnungen einbeziehen wollen, hätte er dies in ihrem Text deutlich zum Ausdruck bringen müssen.

III. Kriterien der internationalen Zuständigkeit in Scheidungssachen Die Verordnung Nr. 2201/2003 stellt in ihrem Art. 3 einen umfangreichen Katalog von Kriterien für die Zuständigkeit in Scheidungssachen zur Verfügung, auf die sich der Scheidung begehrende Ehepartner alternativ stützen kann, sofern sie nur zu den Gerichten eines Mitgliedstaates führen. Festgelegt wird allerdings nur die internationale Zuständigkeit. Welches Gericht innerhalb des international zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung einer Ehescheidung örtlich zuständig ist, richtet sich weiterhin nach den nationalen Prozessrechten der einzelnen Mitgliedstaaten. Im Einzelnen wird die internationale Zuständigkeit sowohl auf den Gesichtspunkt des gewöhnlichen Aufenthalts11 in einem Mitgliedstaat (Art. 3 Abs. 1 lit. a) VO) wie auch auf den der Mitgliedstaatenzugehörigkeit der Eheleute bzw. – soweit es um das Vereinigte Königreich oder Irland geht – auf ihr gemeinsames domicil in diesen Ländern (Art. 3 Abs. 1 lit. b) VO) gestützt. Im ersten Fall wird die internationale Zuständigkeit mit dem gegenwärtigen Lebensmittelpunkt eines oder beider Beteiligten verknüpft. Im zweiten gründet sie sich auf eine vermutungsweise fortbestehende Verbindung der Eheleute zu ihrer heimatlichen Rechtsordnung. Dagegen spielt der Parteiwille bei der Begründung der internationalen Zuständigkeit keine Rolle. Die Eheleute können also weder Gerichtsstandsvereinbarungen treffen noch steht es in ihrer Macht, eine Gerichtszuständigkeit dadurch zu begründen, dass der eine Gatte den Scheidungsantrag bei einem unternational unzuständigen Gericht stellt und der andere sich ohne Rüge darauf einlässt. Unter dem Gesichtspunkt der Aufenthaltszuständigkeit kann eine Ehe gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. a) VO zunächst von den Gerichten des Mitgliedstaates ___________ rum Kurt Siehr (2000) 527 (534); Boele-Woelki, ZfRV 2001, 121 (127); Gebauer/ Staudinger, IPRax 2002, 275 (277). 11 Eine Definition des gewöhnlichen Aufenthalts oder einen Verweis auf nationale Definitionen enthält die VO nicht. Der Begriff ist daher europäisch-autonom zu bestimmen, dürfte sich aber in der Sache wohl kaum von dem Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts unterscheiden, wie er in den verschiedenen Haager Übereinkommen verwandt wird, vgl. Hausmann, (Fn. 7) 276.

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geschieden werden, in dessen Hoheitsgebiet entweder beide Ehegatten ihren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt haben (1. Spiegelstrich) oder beide Ehegatten ihren letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt hatten, sofern ihn einer von beiden beibehalten hat (2. Spiegelstrich). Eine Mindestdauer für den gewöhnlichen Aufenthalt wird von der Verordnung nicht verlangt. Die beiden folgenden Alternativen stellen auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Antragsgegners ab: International zuständig sind nämlich außerdem die Gerichte des Mitgliedstaates, in dem entweder dieser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (3. Spiegelstrich) oder aber entweder Antragsgegner oder Antragsteller, vorausgesetzt, dass die Scheidung von beiden gemeinsam beantragt wird (4. Spiegelstrich). Der gewöhnliche Aufenthalt des Antragstellers allein führt dagegen nur dann zu einer Scheidungszuständigkeit, wenn dieser sich entweder seit mindestens einem Jahr vor der Antragstellung in seinem jetzigen Aufenthaltsland aufgehalten hat (5. Spiegelstrich) oder wenn er sich dort seit mindestens sechs Monaten vor Antragstellung aufgehalten hat und es sich gleichzeitig um seinen Heimatstaat (bzw. im Fall des Vereinigten Königreichs oder Irlands um seinen Domizil-Staat) handelt (6. Spiegelstrich). Beispiel (1): Ein in Spanien lebendes deutsch-französisches Ehepaar trennt sich. Der französische Ehemann nimmt eine Stelle in Belgien an, die deutsche Ehefrau kehrt nach Deutschland zurück. In diesem Fall sind die spanischen Gerichte zur Scheidung der Ehe nicht mehr international zuständig, weil beide Eheleute ihren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt in Spanien aufgegeben haben. Der Ehemann kann aber einen Scheidungsantrag in Deutschland stellen, weil sich dort der gewöhnliche Aufenthalt der Antragsgegnerin befindet, in Belgien dagegen zunächst nur, wenn die Scheidung auch von der Ehefrau beantragt wird. Ist dies nicht der Fall, muss sich der Ehemann, um die Scheidung in Belgien durchführen lassen zu können, dort mindestens ein Jahr unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten haben. Stellt dagegen die Ehefrau allein einen Scheidungsantrag, besteht umgekehrt zunächst nur eine internationale Zuständigkeit am gewöhnlichen Aufenthalt des Antragsgegners in Belgien. Eine Scheidung in Deutschland ist ihr dagegen nur dann möglich, wenn entweder beide Gatten gemeinsam einen entsprechenden Antrag stellen oder die Ehefrau dort – in ihrem Heimatstaat – mindestens sechs Monate ihren gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat. Auf diese Weise wird der jeweilige Antragsgegner jedenfalls für einen bestimmten Zeitraum davor geschützt, gegen seinen Willen an einem ihm fremden Forum in ein Scheidungsverfahren gezwungen zu werden. Mit fortschreitender Integration eines jeden Partners in seinem neuen Aufenthaltsland geht dieser Schutz dann allerdings wieder verloren und muss zurücktreten hinter das Interesse der Eheleute, eine Scheidung an dem ihnen jeweils räumlich am leichtesten erreichbaren Gericht durchführen zu können.

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Da die Staatsangehörigkeit der Beteiligten bei der Anwendung von Art. 3 Abs. 1 lit. a) VO keine Rolle spielt, gelten diese Regeln auch, wenn ein Ehegatte oder sogar beide einem Drittstaat angehören. Beispiel (2): Ein japanischer Staatsangehöriger ist mit einer Deutschen verheiratet. Beide leben in Frankreich. Nach der Trennung behält der Ehemann seinen französischen Wohnsitz bei; die Ehefrau wohnt jetzt in Italien. Hier besteht eine Scheidungszuständigkeit der französischen Gerichte, weil die Eheleute in Frankreich ihren letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt hatten und der Ehemann seinen Aufenthalt dort beibehalten hat. Von dieser Möglichkeit kann jeder der beiden Gatten Gebrauch machen. Auch die jetzt in Italien lebende Ehefrau muss sich also gegebenenfalls zur Durchführung des Verfahrens in Frankreich bequemen, weil sie dort in der Vergangenheit willentlich einen gemeinsamen Lebensmittelpunkt begründet hatte; andererseits ist der in Frankreich wohnen gebliebene Ehemann nicht gehalten, seiner fortgezogenen Ehefrau das Verfahren „hinterherzutragen“.12 Die französischen Gerichte sind im Übrigen bei einem gemeinsamen Antrag der Eheleute international auch deswegen zuständig, weil einer der Gatten, bzw. bei einem Antrag der Ehefrau, weil in diesem Fall der Antragsgegner seinen jetzigen gewöhnlichen Aufenthalt in Frankreich hat. In Italien kann dagegen eine Scheidung zunächst nur vom Ehemann beantragt werden bzw. es müssten dort beide Eheleute gemeinsam einen Antrag stellen. In beiden Fällen wird die Einhaltung einer bestimmten Aufenthaltsdauer wiederum nicht vorausgesetzt. Im Falle eines einverständlichen Vorgehens beider Gatten sieht die Verordnung keine Veranlassung, den jeweils anderwärts lebenden Ehegatten vor den Unbequemlichkeiten eines im Ausland durchzuführenden Scheidungsverfahrens zu schützen. Die Ehefrau kann dagegen ihrerseits ohne Mitwirkung des Ehemannes eine Scheidung in Italien nur dann beantragen, wenn sie sich dort mindestens ein Jahr unmittelbar vor Antragstellung aufgehalten hat. Eine Staatsangehörigkeitszuständigkeit ergibt sich nach Art. 3 Abs. 1 lit. b) VO nur für Gerichte des Staates, dem beide Eheleute gemeinsam angehören bzw. – soweit es um das Vereinigte Königreich oder Irland geht – in dem beide Eheleute gemeinsam ihr domicil haben. Die in zahlreichen internen Prozessrechten der Mitgliedstaaten verbreitete Regelung, dass auch in gemischtnationalen Ehen dem eigenen Staatsangehörigen auf jeden Fall die Gerichte seines Heimatstaats zur Durchführung eines Scheidungsverfahrens zur Verfügung stehen sollen (vgl. etwa im deutschen Recht § 606a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO), wird auf diese Weise zurückgedrängt.13 Außerdem stellt die Verordnung nur auf die staatsangehörigkeitsrechtliche Situation zum Zeitpunkt des Scheidungsverfahrens ab, so dass sich die Eheleute insbesondere auf eine „Antrittszuständig___________ 12 13

Vgl. Hau, (Fn. 7) 1335. Vgl. dazu Rauscher, (Fn. 7) Art. 2 Rn. 2.

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keit“ – d.h. die Staatsangehörigkeit zum Zeitpunkt der Eheschließung (vgl. etwa § 606a Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 2. Alt. ZPO) – nicht berufen können.14 Beispiel (3): Ein deutsches Ehepaar lebt und arbeitet seit langen Jahren in Irland. Beide Eheleute haben dort einen neuen Partner gefunden und wollen sich scheiden lassen. In diesem Fall würde Art. 3 Abs. 1 lit. a) VO problemlos eine internationale Zuständigkeit zur Durchführung der Scheidung am gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthaltsort der Eheleute in Irland begründen (1., 3., 4. und 5. Spiegelstrich). Da das örtlich zuständige irische Gericht allerdings auf das Scheidungsbegehren irisches Scheidungsrecht anwenden würde, wenn sich das domicil der Eheleute aus irischer Sicht in Irland befindet, könnte eine Scheidung nur bei Fehlen jeglicher Versöhnungsaussicht und nach einer mindestens vierjährigen Trennung in den letzten 5 Jahren vor Stellung des Scheidungsantrags durchgeführt werden. Im Vergleich zum deutschen Recht, das in diesem Fall nur eine einjährige Trennung verlangt, wäre die Scheidung damit deutlich erschwert. Hier böte sich ein Rückgriff auf die Staatsangehörigkeitszuständigkeit nach Art. 3 Abs. 1 lit. b) VO an: Die Ehegatten können ihren Antrag danach an das örtlich zuständige deutsche Gericht (vgl. § 606 Abs. 3 ZPO) richten, das dann gemäß Art. 17 Abs. 1 EGBGB die Ehe nach deutschem Recht scheiden würde. Dass Art. 3 Abs. 1 lit. b) VO einen Gerichtsstand nur im gemeinsamen Heimatstaat der Eheleute zur Verfügung stellt, kann in gemischt-nationalen Ehen unerwünschte Konsequenzen haben. Beispiel (4): Eine Deutsche ist mit einem irischen Staatsangehörigen verheiratet. Beide leben und arbeiten seit langem in Irland. Die Ehefrau will sich scheiden lassen, der Ehemann an der Ehe festhalten. Angesichts der irischen Staatsangehörigkeit des Ehemannes steht hier eine Staatsangehörigkeitszuständigkeit der deutschen Gerichte nicht zur Verfügung. Die deutsche Ehefrau kann sich infolgedessen in Deutschland nur unter Berufung auf den 6. Spiegelstrich des Art. 3 Abs. 1 lit. a) VO scheiden lassen. Dies würde freilich voraussetzen, dass sie während eines Zeitraums von mindestens sechs Monaten vor Antragstellung ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte – was in der Regel kaum zu bewerkstelligen sein dürfte, wenn sie nicht bereit ist, ihren Arbeitsplatz in Irland aufzugeben. Mit den Zielen der Verordnung, die nach dem Erwägungsgrund Nr. 1 ihrer Präambel den „freien Personenverkehr“ und damit die Mobilität der Bürger im Binnenmarkt fördern will, ist dieses Ergebnis nur schwer zu vereinbaren. Ist bei dem Gericht eines Mitgliedstaates ein Scheidungsantrag auf der Grundlage des Art. 3 anhängig, besteht nach Art. 4 VO automatisch auch eine ___________ 14

Vgl. Dilger, (Fn. 7) 276 ff.

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internationale Zuständigkeit für einen in den sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung fallenden Gegenantrag, also z.B. für einen eigenen Scheidungsantrag des ursprünglichen Antragsgegners. Auf diese Weise soll den Eheleuten die Möglichkeit gegeben werden, eine doppelte Rechtshängigkeit etwa mehrerer Scheidungsverfahren vor den Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten von vornherein zu vermeiden.

IV. Verhältnis der Verordnung zu den nationalen Zuständigkeitsvorschriften der Mitgliedstaaten Das Verhältnis der Verordnung zu den Zuständigkeitsvorschriften der nationalen Prozessrechte wird in ihren Art. 6 und 7 Abs. 1 in nicht sehr klarer Weise geregelt. Beide Vorschriften haben daher bereits zu einer Reihe von Meinungsverschiedenheiten Anlass gegeben. Art. 6 VO bestimmt, dass gegen einen Ehegatten, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates hat oder die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates (bzw. ein domicil im Vereinigten Königreich oder Irland besitzt), ein Scheidungsverfahren in einem anderen Mitgliedstaat nur nach Maßgabe von Art. 3 bis 515 VO durchgeführt werden kann. Dies besagt zunächst nur, dass die Gerichte eines Mitgliedstaates unter den soeben genannten Voraussetzungen ihre Zuständigkeit allein auf die Bestimmungen der Verordnung, nicht aber auf andere, insbesondere nationale Zuständigkeitsvorschriften stützen dürfen: Die Regelung schützt den Antragsgegner also davor, in einem anderen als seinem Aufenthalts- oder Heimatstaat gerichtspflichtig werden zu müssen. So ist es in dem obigen Beispiel (4) den deutschen Gerichten etwa verwehrt, einen Scheidungsantrag der in Irland lebenden deutschen Frau unter Hinweis auf § 606a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO (Zuständigkeit der deutschen Gerichte zur Scheidung deutscher Staatsangehöriger) zuzulassen. Die Ehefrau mag sich an die nach der Verordnung international zuständigen irischen Gerichte wenden. Fraglich ist aber, ob ein solcher Rückgriff auf nationale Zuständigkeitsvorschriften auch dann verwehrt ist, wenn nach den Bestimmungen der Verordnung keinerlei internationale Scheidungszuständigkeit besteht. Beispiel (5): Eine Deutsche ist mit einem Franzosen verheiratet. Beide leben in Japan. Die deutsche Frau kehrt dauerhaft nach Deutschland zurück und stellt bereits einen Monat nach ihrer Rückkehr einen Antrag auf Scheidung bei einem deutschen Gericht. ___________ 15 Art. 5 VO betrifft die Zuständigkeit für eine Umwandlung einer Entscheidung über die „Trennung von Tisch und Bett“ in eine Ehescheidung.

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In diesem Beispiel ist nach den Vorschriften der Verordnung nirgendwo eine internationale Scheidungszuständigkeit für den Antrag der Ehefrau begründet: am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Ehemannes in Japan nicht, weil Japan nicht zu den Mitgliedstaaten gehört; in Frankreich nicht, weil keiner der Gatten dort einen gewöhnlichen Aufenthalt hat und die Eheleute nicht gemeinsam die französische Staatsangehörigkeit besitzen, schließlich auch in der Deutschland nicht, weil die von Art. 3 Abs. 1 lit. a) VO vorgeschriebene Sechsmonatsfrist noch nicht verstrichen ist. Für diesen Fall wird die Auffassung vertreten, dass Art. 6 VO keinerlei Sperrwirkung entfalte: Ein deutsches Gericht könne – zur Vermeidung von Rechtsschutzlücken – seine internationale Zuständigkeit auf § 606a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO stützen.16 Diese Interpretation widerspricht allerdings dem eindeutigen Wortlaut von Art. 6 VO und wird daher von der wohl herrschenden Meinung auch nicht geteilt.17 Bei näherer Betrachtung tun sich auch keineswegs unerträgliche Rechtsschutzlücken auf: Die deutsche Ehefrau könnte zunächst die Sechsmonatsfrist von Art. 3 Abs. 1 lit. a), 6. Spiegelstrich der Verordnung abwarten und sodann einen Scheidungsantrag bei dem örtlich zuständigen deutschen Gericht stellen. Wenn sie es eilig hat, könnte sie sich vor Ablauf dieser Frist auch an ein französisches Gericht wenden. Denn Art. 6 VO versperrt nur den Weg zu den Gerichten eines anderen Mitgliedstaates, nicht aber zu den Gerichten des Heimatstaates des in einem Drittstaat lebenden Ehegatten. In Übereinstimmung damit sieht Art. 7 Abs. 1 VO vielmehr ausdrücklich vor, dass sich die Zuständigkeit in jedem Mitgliedstaat nach dessen eigenen Recht bestimmt, wenn sich – wie in dem obigen Beispiel – aus den Art. 3 bis 5 VO keine Zuständigkeit eines Mitgliedstaates ableiten lässt. Freilich ist die Antragstellerin in diesem Fall darauf angewiesen, dass sich aus den Zuständigkeitsvorschriften des nationalen französischen Prozessrechts eine internationale Scheidungszuständigkeit ergibt. Drittens bestünde die Möglichkeit, im jetzigen Aufenthaltsland des Antragsgegners – im Beispiel: Japan – ein Scheidungsverfahren durchzuführen; immerhin hatten die Eheleute dort ihren letzten gemeinsamen Aufenthalt und der Antragsgegner hat ihn beibehalten. Hier kommt es darauf an, ob der betreffende Drittstaat eine internationale Scheidungszuständigkeit zur Verfügung stellt; außerdem müsste die Antragstellerin sinnvoller Weise klären, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Urteil dieses Staates insbesondere in ihrem Heimatstaat nach den Regeln des nationalen Prozessrechts (vgl. § 328 ZPO) anerkannt würde. Wenn den Antragsgegner mit einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft weder ein gewöhnlicher Aufenthalt noch seine Staatsangehörigkeit ver___________ 16

Vgl. z.B. Rauscher, (Fn. 7) Art. 7 Rn. 7 ff.; v. Hoffmann/Thorn, Internationales Privatrecht, 8. Aufl. (2005) § 8 Rn. 64. 17 Vgl. etwa Hau, (Fn. 7) 1340; Hausmann, (Fn. 7) 279; Thomas/Putzo/Hüßtege, (Fn. 7) Art. 7 Rn. 2; Staudinger/Spellenberg, (Fn. 7) Art. 6 Rn. 2.

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bindet, gilt demgegenüber nationales Zuständigkeitsrecht uneingeschränkt; der Schutz des Art. 6 bleibt einem Drittstaatenangehörigen mit gewöhnlichem Aufenthalt in einem Drittstaat also versagt. Beispiel (6): Eine Deutsche ist mit einem japanischen Staatsangehörigen verheiratet. Das Ehepaar lebt in Japan. Die Ehefrau richtet von Japan aus ihren Scheidungsantrag an das örtlich zuständige deutsche Familiengericht. Der Ehemann lehnt eine Scheidung ab. Die Voraussetzungen des Art. 6 VO liegen hier im Hinblick auf den Ehemann nicht vor. Deutsche Gerichte sind daher ohne Einschränkungen zur Scheidung international zuständig gemäß § 606a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO – übrigens auch dann, wenn die Ehefrau ihre bei Eheschließung bestehende deutsche Staatsangehörigkeit inzwischen zugunsten der japanischen aufgegeben haben sollte. Dagegen ist wiederum unklar, ob ein Rückgriff auf nationale Zuständigkeitsvorschriften möglich bleibt, wenn zwar Art. 6 VO keinerlei Sperrwirkung entfaltet, sich aus der Verordnung jedoch gleichwohl eine Mitgliedstaatenzuständigkeit ergibt, so dass die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 VO nicht vorliegen. Beispiel (7): Eine Deutsche ist mit einem japanischen Staatsangehörigen verheiratet. Das Ehepaar lebt in Japan. Die Ehefrau kehrt nach Europa zurück und begründet einen gewöhnlichen Aufenthalt in den Niederlanden. Nach einjähriger Trennungszeit stellt sie einen Scheidungsantrag an ein deutsches Gericht. Hier sind die Voraussetzungen des Art. 6 VO wiederum nicht erfüllt, weil der in Japan zurückgebliebene japanische Ehemann als Antragsgegner weder seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates hat noch die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt. Art. 6 VO schützt ihn also nicht. Auf den ersten Blick kann daher (theoretisch) eine Scheidungszuständigkeit in allen Mitgliedstaaten nach deren jeweiligen nationalen Zuständigkeitsregeln begründet sein. Die Ehefrau hätte infolgedessen auch gemäß § 606a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO eine internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte vorgefunden, wenn sie den Scheidungsantrag zu einem deutschen Gericht während des gewöhnlichen Aufenthalts in Japan oder innerhalb des ersten Jahres ihres gewöhnlichen Aufenthalts in den Niederlanden gestellt hätte. Danach freilich hat sich die Rechtslage geändert: Nach Ablauf der einjährigen Frist hat die Ehefrau nämlich gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. a), 5. Spiegelstrich der VO die Möglichkeit, ein Scheidungsverfahren vor dem örtlich zuständigen niederländischen Gericht durchführen zu lassen. Da Art. 7 Abs. 1 VO aber einen Rückgriff auf die nationalen Regeln nur gestattet, „soweit sich aus den Artikeln 2 bis 6 keine Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaates ergibt“, sind die Voraussetzungen dieser Vorschrift angesichts der Zuständigkeit niederländischer Gerichte jetzt nicht mehr erfüllt. Damit ist die Möglichkeit einer auf § 606a

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Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO gestützten Scheidung in Deutschland verloren gegangen.18 Ist der Weg zu den nationalen Zuständigkeitsvorschriften frei, kann sich gemäß Art. 7 Abs. 2 VO jeder Angehörige eines Mitgliedstaates, der in einem anderen Mitgliedstaat lebt, auf diese Vorschriften unter den gleichen Voraussetzungen berufen wie ein Angehöriger des Aufenthaltsstaates. Auf diese Weise soll eine Diskriminierung der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten vermieden werden. Beispiel (8): Eine niederländische Staatsangehörige ist mit einem Japaner verheiratet. Die Eheleute leben zusammen in Japan. Dann kehrt die Ehefrau nach Europa zurück und begründet einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Unmittelbar danach richtet sie einen Scheidungsantrag an ein deutsches Gericht. Der Ehemann lehnt die Scheidung ab. Auch in diesem Beispiel besteht (noch) keine internationale Zuständigkeit eines Mitgliedstaatengerichts, weil sich die Ehefrau noch kein Jahr in Deutschland aufhält (Art. 3 Abs. 1 lit. a), 5. Spiegelstrich VO). Damit kommen die nationalen Zuständigkeitsvorschriften zum Zuge. Wäre die Antragstellerin deutsche Staatsangehörige, könnte sie ihren Scheidungsantrag auf § 606a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO stützen. Durch Art. 7 Abs. 2 VO wird die niederländische Ehefrau nunmehr aber einem Inländer für den Fall gleichgestellt, dass der Antragsgegner – wie hier der japanische Ehemann – weder einen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates hat noch die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt. Daher sind hier – über den Wortlaut des § 606a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO hinaus – die deutschen Gerichte zur Durchführung der Scheidung international zuständig.

V. Anerkennung von Scheidungsurteilen der Mitgliedstaaten Nach Art. 21 Abs. 1 VO in Verbindung mit Art. 2 Nr. 4 VO werden die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es eines besonderen Anerkennungsverfahrens bedarf. Dies gilt allerdings nur für solche Entscheidungen, die eine Scheidung, Trennung oder Ungültigkeit der Ehe positiv herbeiführen.19 Antragabweisende Entscheidungen sind dagegen nicht nach den Vorschriften der Verordnung (sondern allenfalls nach nationalen Anerkennungsregeln20) anerkennungsfähig. Wird also ___________ 18 Vgl. dazu Hausmann, (Fn. 7) 279; Hau, (Fn. 7) 1340 f.; Dilger, (Fn. 7) 206 f.; anders Rauscher, (Fn. 7) Art. 7 Rn. 6. 19 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 15 in der Präambel zur VO Nr. 1347/2000 (Rn. 3). 20 Vgl. Staudinger/Spellenberg, (Fn. 5) Art. 21 Rn. 94; § 328 ZPO Rn. 149.

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von dem Gericht eines Mitgliedstaates ein Scheidungsantrag zurückgewiesen, steht es dem Antragsteller frei, in einem anderen, vielleicht scheidungsfreundlicheren Mitgliedstaat – dessen internationale Zuständigkeit vorausgesetzt – einen neuen Antrag zu stellen. Die Verordnung schreibt im Übrigen eine Anerkennungspflicht nur hinsichtlich der Statusentscheidung selbst vor. Etwa damit verbundene Entscheidungen über vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen (Unterhalt, güterrechtliche Auseinandersetzung, Durchführung eines Versorgungsausgleichs) werden hingegen von ihr nicht erfasst. Die in Art. 22 VO beschriebenen und von Amts wegen zu prüfenden Anerkennungshindernisse orientieren sich an den Parallelvorschriften der Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung.21 Eine Entscheidung wird danach nicht anerkannt, wenn sie dem ordre public des Anerkennungsstaates offensichtlich widerspricht (lit. a), wenn das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht rechtzeitig zugestellt wurde und der Antragsgegner sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat (lit. b), wenn sich die Entscheidung mit einer zwischen denselben Parteien im Anerkennungsstaat ergangenen (früheren oder späteren) Entscheidung (lit. c) oder aber mit einer früheren Entscheidung nicht vereinbaren lässt, die in einem anderen Mitgliedstaat oder Drittstaat zwischen denselben Parteien getroffen wurde und ihrerseits die Anerkennungsvoraussetzungen in dem Anerkennungsstaat erfüllt (lit. d). Unklar erscheint vor allem, ob die Anerkennung eines ausländischen Scheidungsurteils gemäß Art. 22 lit. c) VO auch dann versagt werden kann, wenn es mit einer zwischen denselben Parteien im Anerkennungsstaat ergangenen, einen Scheidungsantrag abweisenden Entscheidung unvereinbar ist. Beispiel (9:) Ein niederländisch-polnisches Ehepaar lebt in Deutschland. Der Scheidungsantrag des niederländischen Ehemannes wird vom deutschen Familiengericht unter Anwendung deutschen Aufenthaltsrechts zurückgewiesen, weil die Eheleute erst ein Jahr getrennt leben und die polnische Ehefrau der Scheidung widerspricht. Daraufhin kehrt der Ehemann in die Niederlande zurück und leitet dort nach sechsmonatigem Aufenthalt ein neues Scheidungsverfahren ein. Auf der Grundlage niederländischen Scheidungsrechts wird die Ehe trotz Widerspruchs der Ehefrau wegen Zerrüttung geschieden. Dass nach Art. 21 in Verbindung mit Art. 2 Nr. 4 VO nur statusverändernde und nicht antragabweisende Entscheidungen anerkennungsfähig sind,22 würde die Bejahung eines Anerkennungshindernisses im Sinne von Art. 22 lit. c) VO nicht ausschließen,23 weil die in dieser Vorschrift angesprochene „Entscheidung“ des Anerkennungsstaates ja durchaus abweichend definiert sein und so___________ 21

Vgl. oben in Fn. 9. Vgl. in Fn. 20. 23 Vgl. aber Kohler, (Fn. 10) 13. 22

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mit auch abweisende Entscheidungen umfassen könnte. Allerdings ist eine antragabweisende Entscheidung (im Beispiel: des deutschen Familiengerichts) ihrerseits in den anderen Mitgliedstaaten jedenfalls auf der Grundlage der Verordnung nicht anerkennungsfähig, so dass sich bei Anwendung von Art. 22 lit. c) VO im Anerkennungsstaat die Gefahr unterschiedlicher Statusentscheidungen und damit „hinkender Ehen“ innerhalb der Europäischen Union abzeichnen würde. Um dieses durchaus unerwünschte Ergebnis zu vermeiden, sollte man den von Art. 22 lit. c) VO geschützten Vorrang der Inlandsentscheidung nur restriktiv handhaben und nicht auf scheidungsabweisende Entscheidungen ausdehnen,24 obwohl dadurch natürlich Versuche provoziert werden, sofort nach einem Fehlschlag in dem einen Mitgliedstaat die Scheidung der Ehe in einem anderen Mitgliedstaat zu erreichen („Scheidungstourismus“). Mit einer engen Auslegung des Art. 22 lit. c) VO würde sich auch eine Diskussion der äußerst schwierigen Frage vermeiden lassen, wann eine abweisende Entscheidung im Anerkennungsstaat mit einer die Scheidung aussprechenden, aber möglicherweise auf andere Fakten gestützten oder unter Anwendung eines anderen Rechts ergehenden Entscheidung in einem Drittstaat (bei verordnungsautonomer Auslegung25) „unvereinbar“ ist. Gerade weil sich der in einem anderen Mitgliedstaat gestellte neue Antrag vermutlich auch auf neue Scheidungsgründe (z.B. eine längere Trennungsfrist) stützen und damit regelmäßig nicht nach Art. 22 lit. c) VO gehindert sein wird, dürfte die praktische Bedeutung des Streits nur gering sein.26 Dagegen hängt die Anerkennung des Scheidungsurteils nicht davon ab, ob das Scheidungsgericht zur Durchführung des Verfahrens international zuständig war (Art. 24 S. 1 VO). Eine nach Maßgabe von Art. 3 bis 7 VO etwa fehlende Zuständigkeit darf auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines ordre-publicVerstoßes geltend gemacht werden (Art. 24 S. 2 VO). Ebenso scheidet im Anerkennungsverfahren eine inhaltliche Prüfung des Scheidungsurteils aus (Art. 26 VO). Auch der Umstand, dass im Anerkennungsstaat ein anderes Kollisionsrecht (und infolgedessen möglicherweise auch ein anderes Sachrecht) zur Anwendung gekommen wäre als im Urteilsstaat, stellt kein Anerkennungshindernis dar (Art. 25 VO). Der Verzicht auf jede Art von mitgliedstaatlichem Anerkennungsverfahren (Art. 21 Abs. 1 VO) hat zur Folge, dass auch Eintragungen in Personenstands___________ 24 Vgl. z.B. Thomas/Putzo/Hüßtege, (Fn. 7) Art. 15 EheVO (a.F.) Rn. 4; anders aber die wohl h.M., vgl. Helms, (Fn. 10) 265; Hausmann, The European Legal Forum 200/2001, 345 (350); Rauscher, (Fn. 7) Art. 15 Rn. 16; Staudinger/Spellenberg, (Fn. 5) Art. 21 Rn. 95. 25 Vgl. dazu EuGH v. 4.2.1988 (Hoffmann/Krieg), Slg 1988, 662 ff. = NJW 1989, 663 (Nr. 21 ff. zu Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ). 26 Vgl. Hausmann, (Fn. 24) 350; Staudinger/Spellenberg, (Fn. 5) Art. 21 Rn. 96.

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büchern ohne weiteres auf der Grundlage der in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen (rechtskräftigen) Entscheidungen vorgenommen werden können (Art. 21 Abs. 2 VO). Andererseits entscheidet jedes mitgliedstaatliche Gericht selbständig über die Anerkennung einer Entscheidung, wenn die Frage danach als Vorfrage auftaucht (Art. 21 Abs. 4 VO). Nach deutschem Prozessrecht können die Parteien die Wirksamkeit einer im Ausland erfolgten Statusentscheidung mittels einer Zwischenfeststellungsklage (vgl. § 256 Abs. 2 ZPO) für das Inland rechtskräftig feststellen lassen.27 Beispiel (10): Eine deutsche Ehefrau hat sich in Spanien von ihrem spanischen Ehemann scheiden lassen. Nach Deutschland zurückgekehrt erhebt sie eine Unterhaltsklage vor ihrem deutschen Wohnsitzgericht. Die internationale Zuständigkeit dieses Gerichts ergibt sich aus Art. 5 Nr. 2 der europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung. Auch wenn die Ehescheidung schon im deutschen Personenstandsregister eingetragen wurde, hat das den Unterhaltsrechtsstreit entscheidende deutsche Gericht selbstständig darüber zu befinden, ob die in Spanien erfolgte Scheidung anzuerkennen ist (dann ggf. Scheidungsunterhalt) oder nicht (dann ggf. Trennungsunterhalt). Eine derartige Inzident-Überprüfung birgt die Gefahr, dass einzelne mit der Anerkennungsfrage befasste Gerichte voneinander abweichende Entscheidungen treffen bzw. ein Gericht eine im Personenstandsregister bereits eingetragene Statusentscheidung als nicht anerkennungsfähig ansieht. Zwar gestattet Art. 21 Abs. 3 S. 1 VO den Parteien und jedem interessierten Dritten (Kindern, Erben), eine Entscheidung über die Anerkennung oder Nichtanerkennung einer Entscheidung zu beantragen.28 Ein solches Feststellungsverfahren entfaltet seine Wirkung aber nur im Verhältnis der Parteien untereinander.29 Dagegen kann das nach nationalem deutschen Recht bestehende, mit Wirkung erga omnes ausgestattete Feststellungsverfahren gemäß Art. 7 § 1 Familienrechtsänderungsgesetz30 im Verhältnis zu den übrigen Mitgliedstaaten nicht mehr ohne weiteres Platz greifen. Über den damit verbundenen Verlust an Rechtssicherheit tröstet nur der Umstand hinweg, dass es in der Praxis vermutlich nur selten zu divergierenden Anerkennungsentscheidungen kommen dürfte. Immerhin erscheint es diskutabel, eine Durchführung des Verfahrens nach Art. 7 § 1 Familienrechtsänderungsgesetz durch die im Ausland geschiedenen Eheleute jedenfalls auf freiwilliger Basis zuzulassen.31 ___________ 27 Vgl. Thomas/Putzo/Hüßtge, (Fn. 7) Art. 14 Rn. 12; Staudinger/Spellenberg, (Fn. 5) Art. 21 Rn. 81. 28 Zur örtlichen Zuständigkeit nach deutschem Recht vgl. § 10 des Gesetzes zum internationalen Familienrecht v. 26.1.2005, BGBl. 2005 I 162 (164 f.). 29 Hausmann, (Fn. 25) 351. 30 BGBl. 1961 I 1221. 31 Staudinger/Spellenberg, (Fn. 5) Art. 21 Rn. 92; ablehnend Helms, (Fn. 10) 261 f.

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VI. Ausblick Der europäische Gesetzgeber hat den zweiten Schritt vor dem ersten getan. Er hat Zuständigkeits- und Anerkennungsregeln geschaffen, ohne zuvor die Scheidungskollisionsrechte der Mitgliedstaaten vereinheitlicht zu haben. Da sich somit das auf die Scheidung anzuwendende Sachrecht weiterhin von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterscheiden kann, liegt hierin ein nicht unerheblicher Anreiz zum forum shopping. Dies gilt zum einen, weil die Scheidungsrechte in den einzelnen Mitgliedstaaten teilweise (wie etwa in Deutschland oder den Niederlanden) relativ scheidungsfreundlich, zum Teil (wie z.B. in Irland, Polen oder Portugal) aber auch recht restriktiv ausgestaltet sind, zum andern aber auch deswegen, weil mit der Festlegung des Forums für das Scheidungsverfahren auch eine Vorentscheidung für das auf die Scheidungsfolgen anzuwendende Recht getroffen wird.32 Außerdem läuft die Verpflichtung zur Anerkennung von Mitgliedstaatenentscheidungen ohne Rücksicht darauf, ob das vom jeweiligen Urteilsstaat berufene Sachrecht mit demjenigen übereinstimmt, das die eigenen Kollisionsnormen des Anerkennungsstaates für maßgeblich halten, in der Sache darauf hinaus, dass das Scheidungskollisionsrecht des Anerkennungsstaates durch dasjenige des Urteilsstaates ersetzt wird.33 Ein solches Vorgehen mag im Anwendungsbereich der Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung („Brüssel I“) akzeptabel sein, weil sich die Kollisionsrechte jedenfalls der alten EUMitgliedstaaten bei der Anknüpfung zivil- und handelsrechtlicher Verträge nicht unterscheiden und darüber hinaus auch die Unterschiede in den Vertrags-, Delikts- und Unterhaltssachnormen der europäischen Staaten noch hinnehmbar sein dürften. Auf dem Gebiet des Scheidungskollisions- und Ehescheidungsrechts mit seinen gravierenden Unterschieden und seiner tief reichenden kulturellen Verwurzelung sind dadurch für die Bürger Europas jedoch nur schwer erträgliche Überraschungseffekte vorprogrammiert. Unter beiden Gesichtspunkten richtet sich das Interesse auf die Vorschläge des „Haager Programms zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union“34, in dem die Europäische Kommission aufgefordert wird, ein Grünbuch über die Regelung des Kollisionsrechts in Scheidungssachen noch im Jahre 2005 vorzulegen. ___________ 32 So unterliegt gemäß Art. 8 des in einer Reihe von Mitgliedstaaten geltenden Haager Unterhaltsübereinkommens v. 2.10.1973 (vgl. für Deutschland BGBl. 1986 II 837 ff.) der Anspruch auf nachehelichem Unterhalt dem Recht, das auf die Ehescheidung selbst angewandt wurde. Dazu näher Spellenberg, ZZPint 6 (2001) 109 (111 f.). 33 Vgl. Kropholler, Internationales Privatrecht, 5. Aufl. (2004) 572. 34 Vgl. oben unter Fn. 8; dazu Wagner, (Fn. 8) 67.

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Anhang Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 v. 27.11.2003 (Auszüge) Artikel 1.

Anwendungsbereich

(1) Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand: a)

die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und die Ungültigerklärung einer Ehe,

b)



Artikel 2.

Begriffsbestimmungen

Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck „Gericht“ alle Behörden der Mitgliedstaaten, die für Rechtssachen zuständig sind, die gemäß Artikel 1 in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen; „Richter“ einen Richter oder Amtsträger, dessen Zuständigkeiten denen eines Richters in Rechtssachen entsprechen, die in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen; „Mitgliedstaat“ jeden Mitgliedstaat mit Ausnahme Dänemarks; „Entscheidung“ jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Entscheidung über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe sowie jede Entscheidung über die elterliche Verantwortung, ohne Rücksicht auf die Bezeichnung der jeweiligen Entscheidung, wie Urteil oder Beschluss; „Ursprungsmitgliedstaat“ den Mitgliedstaat, in dem die zu vollstreckende Entscheidung ergangen ist; „Vollstreckungsmitgliedstaat“ den Mitgliedstaat, in dem die Entscheidung vollstreckt werden soll;

Artikel 3.

Allgemeine Zuständigkeit

(1) Für Entscheidungen über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig,

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a) in dessen Hoheitsgebiet – beide Ehegatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben oder – die Ehegatten zuletzt beide ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, sofern einer von ihnen dort noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder – der Antragsgegner seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder – im Fall eines gemeinsamen Antrags einer der Ehegatten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder – der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn er sich dort seit mindestens einem Jahr unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten hat, oder – der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn er sich dort seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten hat und entweder Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats ist oder, im Fall des Vereinigten Königreichs und Irlands, dort sein "domicile" hat; b) dessen Staatsangehörigkeit beide Ehegatten besitzen, oder, im Fall des Vereinigten Königreichs und Irlands, in dem sie ihr gemeinsames „domicile“ haben. (2) Der Begriff „domicile“ im Sinne dieser Verordnung bestimmt sich nach dem Recht des Vereinigten Königreichs und Irlands.

Artikel 4.

Gegenantrag

Das Gericht, bei dem ein Antrag gemäß Artikel 3 anhängig ist, ist auch für einen Gegenantrag zuständig, sofern dieser in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt.

Artikel 5.

Umwandlung einer Trennung ohne Auflösung des Ehebandes in eine Ehescheidung

Unbeschadet des Artikels 3 ist das Gericht eines Mitgliedstaats, das eine Entscheidung über eine Trennung ohne Auflösung des Ehebandes erlassen hat, auch für die Umwandlung dieser Entscheidung in eine Ehescheidung zuständig, sofern dies im Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehen ist.

Artikel 6.

Ausschließliche Zuständigkeit nach den Artikeln 3, 4 und 5

Gegen einen Ehegatten, der a) seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat oder b) Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist oder im Fall des Vereinigten Königreichs und Irlands sein „domicile“ im Hoheitsgebiet eines dieser Mitgliedstaaten hat, darf ein Verfahren vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nur nach Maßgabe der Artikel 3, 4 und 5 geführt werden.

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Artikel 7.

Restzuständigkeit

(1) Soweit sich aus den Artikeln 3, 4 und 5 keine Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats ergibt, bestimmt sich die Zuständigkeit in jedem Mitgliedstaat nach dem Recht dieses Staates. (2) Jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats hat, kann die in diesem Staat geltenden Zuständigkeitsvorschriften wie ein Inländer gegenüber einem Antragsgegner geltend machen, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat oder die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt oder im Fall des Vereinigten Königreichs und Irlands sein „domicile“ nicht im Hoheitsgebiet eines dieser Mitgliedstaaten hat.

Artikel 21. Anerkennung einer Entscheidung (1) Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen werden in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf. (2) Unbeschadet des Absatzes 3 bedarf es insbesondere keines besonderen Verfahrens für die Beschreibung in den Personenstandsbüchern eines Mitgliedstaats auf der Grundlage einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung über Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe, gegen die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats keine weiteren Rechtsbehelfe eingelegt werden können. (3) Unbeschadet des Abschnitts 4 kann jede Partei, die ein Interesse hat, gemäß den Verfahren des Abschnitts 2 eine Entscheidung über die Anerkennung oder Nichtanerkennung der Entscheidung beantragen. Das örtlich zuständige Gericht, das in der Liste aufgeführt ist, die jeder Mitgliedstaat der Kommission gemäß Artikel 68 mitteilt, wird durch das nationale Recht des Mitgliedstaats bestimmt, in dem der Antrag auf Anerkennung oder Nichtanerkennung gestellt wird. (4) Ist in einem Rechtsstreit vor einem Gericht eines Mitgliedstaats die Frage der Anerkennung einer Entscheidung als Vorfrage zu klären, so kann dieses Gericht hierüber befinden.

Artikel 22. Gründe für die Nichtanerkennung einer Entscheidung über eine Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe Eine Entscheidung, die die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe betrifft, wird nicht anerkannt, a) wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des Mitgliedstaats, in dem sie beantragt wird, offensichtlich widerspricht; b) wenn dem Antragsgegner, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nicht so rechtzeitig und in einer Weise zugestellt wurde, dass er sich verteidigen konnte, es

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sei denn, es wird festgestellt, dass er mit der Entscheidung eindeutig einverstanden ist; c) wenn die Entscheidung mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die in einem Verfahren zwischen denselben Parteien in dem Mitgliedstaat, in dem die Anerkennung beantragt wird, ergangen ist; oder d) wenn die Entscheidung mit einer früheren Entscheidung unvereinbar ist, die in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat zwischen denselben Parteien ergangen ist, sofern die frühere Entscheidung die notwendigen Voraussetzungen für ihre Anerkennung in dem Mitgliedstaat erfüllt, in dem die Anerkennung beantragt wird.

Artikel 24. Verbot der Nachprüfung der Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats Die Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats darf nicht überprüft werden. Die Überprüfung der Vereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung gemäß Artikel 22 Buchstabe a) und Artikel 23 Buchstabe a) darf sich nicht auf die Zuständigkeitsvorschriften der Artikel 3 bis 14 erstrecken.

Artikel 25. Unterschiede beim anzuwendenden Recht Die Anerkennung einer Entscheidung darf nicht deshalb abgelehnt werden, weil eine Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung beantragt wird, unter Zugrundelegung desselben Sachverhalts nicht zulässig wäre.

Artikel 26. Ausschluss einer Nachprüfung in der Sache Die Entscheidung darf keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden.

Grundrechtsschutz in Europa Von Dirk Ehlers

Nach heute nahezu allgemein verbreiteter Auffassung gehört die Beachtung von Grund- oder Menschenrechten zu den unverzichtbaren Merkmalen einer legitimen Ausübung hoheitlicher Gewalt. Zu den Grundrechten lassen sich Rechte des Individuums und anderer Privatpersonen gegen Hoheitsträger zählen, die kraft des internationalen Rechts gelten oder auf der höchsten innerstaatlichen Normenstufe garantiert werden, die dem Einzelnen eine grundlegende Rechtsposition gegenüber den Hoheitsträgern einräumen und die diesen im Falle der Zulässigkeit einer Beschränkung eine Rechtfertigung abverlangen. Die Grund- und Menschenrechtsentwicklung ist von Europa und Nordamerika ausgegangen.1 Vorläufergarantien finden sich in den englischen Gewährleistungen der Magna Charta Libertatum von 1215, dem Act of Habeas Corpus von 1679 und der Bill of Rights von 1689 sowie dem Westfälischen Friedensschluss von Münster und Osnabrück2 aus dem Jahr 1648, welcher erstmalig bestimmte Formen der Religionsausübung unter Schutz stellte. Die erste gesamthafte Positivierung von Grundrechten im neuzeitlichen Sinne erfolgte in der Bill of Rights von Virginia des Jahres 1776, die wohl wichtigste in der französischen Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789. Der Siegeszug der Grundrechtsentwicklung hat erst nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges die internationale Ebene erreicht. Hinzuweisen ist einerseits auf die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10.12.1948 beschlossene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, andererseits auf die Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966. Ob die von einer Unterkommission der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen überwachte Allgemeine Erklärung der Menschenrechte völkerrechtliche Bindungswirkung erzeugt, ist umstritten. Die Frage dürfte im Ergeb___________ 1 Zur Entwicklung der Menschenrechte allgemein vgl. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriss, 2. Aufl. 1978. Zur Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten vgl. Walter, in Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005, § 1. 2 Vgl. hierzu den Überblick von Pieper, JA 1995, 988 ff.

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nis zu verneinen sein.3 Jedenfalls trägt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aber zur Bildung von Völkergewohnheitsrecht bei und bildet einen Gradmesser für den Menschenrechtsschutz in den Staaten und Regionen der Welt. Die 1976 in Kraft getretenen Menschenrechtspakte, die derzeit in rund 75 % der existierenden Staaten gelten, gewährleisten sowohl Freiheitsrechte als auch soziale Rechte. Die Befolgung soll durch ein periodisches und obligatorisches Berichtssystem der Vertragsstaaten gesichert werden. Zudem sieht der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowohl eine fakultative Staatenbeschwerde als auch eine fakultative Individualbeschwerde vor, die zu einer Überprüfung in einem gerichtsähnlichen Verfahren durch einen aus gewählten unabhängigen Mitgliedern bestehenden Menschenrechtsausschuss führt.4 Die genannten Garantien des internationalen Rechts gelten auch in den europäischen Staaten. Ihre Bedeutung hält sich in diesen Staaten aber deshalb in Grenzen, weil jedenfalls die Freiheits- und Gleichheitsrechte in aller Regel in Europa noch umfassender geschützt werden und es vor allem einen wesentlich weitergehenden Gerichtsschutz gibt. Eine Befassung mit den Europäischen Grundrechten ist auch für Drittländer von Interesse. Zum einen ermöglicht erst die Kenntnis des fremden Rechts einen Rechtsvergleich, der wiederum Voraussetzung dafür ist, sich der Stärken und Schwächen der eigenen Rechtsordnungen bewusst zu werden. Zum anderen kommt es in den Zeiten der Globalisierung und Internationalisierung immer häufiger zu einem grenzüberschreitenden Personen-, Dienstleistungs-, Warenund Kapitalverkehr sowie zu grenzüberschreitenden Niederlassungen. Kommen Drittstaatsangehörige oder Unternehmen aus Drittländern mit den Europäischen Institutionen respektive den Europäischen Staaten in Kontakt, müssen sie wissen, wie es um ihren Grundrechtsschutz in Europa bestellt ist. Im Folgenden sollen zunächst die Grundrechtsgewährleistungen – das heißt die materiellen Gehalte und Anwendungsbereiche – der Grundrechte in Europa vorgestellt werden (I.). Zu unterscheiden ist zwischen den nationalen Grundrechten, für die hier stellvertretend die deutschen Grundrechte stehen sollen (1.), den Rechten der Europäischen Menschenrechtskonvention (2.) sowie den Grundrechten der Europäischen Union (3.). Sodann kann auf die gerichtliche Einklagbarkeit der Grundrechte in Deutschland und Europa eingegangen werden (II.). Abgeschlossen wird die Untersuchung mit einer kurzen Zusammenfassung und einem Fazit (III.). ___________ 3 4

Vgl. statt vieler K. Ipsen, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 48 Rn. 36. Näher hierzu K. Ipsen, (Fn. 3), § 48 Rn. 49 ff.

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I. Grundrechtsgewährleistungen in Europa 1. Grundrechte der Bundesrepublik Deutschland Als Reaktion auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft hat Deutschland dem Grundrechtsschutz nach dem Zweiten Weltkrieg höchste Priorität eingeräumt. So sind die Grundrechte an den Anfang der – als Grundgesetz5 bezeichneten – Verfassung der Bundesrepublik Deutschland gestellt worden. Bereits die erste Bestimmung des Grundgesetzes beginnt mit einem Fanal. Sie lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Als ein föderalistisch organisierter Staat gliedert sich die Bundesrepublik Deutschland bekanntlich in den Bund und in eigene Staatsqualität besitzende Länder. Neben dem Bund haben abgesehen von Schleswig-Holstein auch die Länder eigene Verfassungen mit Grundrechtskatalogen erlassen.6 Da das Grundgesetz aber nicht nur alle Staatsgewalten (d.h. Legislative, Exekutive und Judikative), sondern auch alle Träger deutscher Staatsgewalt einschließlich derjenigen der Länder bindet, haben die Landesgrundrechte bei weitem nicht dieselbe Bedeutung wie diejenigen des Grundgesetzes erlangt. Soweit die Landesgrundrechte hinter den Grundrechten des Grundgesetzes zurückbleiben, sind sie ohnehin ungültig. Im Folgenden können sie daher vernachlässigt werden. Inhaltlich garantieren die Grundrechte des Grundgesetzes den Bürgern und Einwohnern vor allem einen umfassenden Freiheitsschutz. Garantiert werden nicht nur einzelne Freiheiten wie die Religions-, Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs-, Berufs- oder Eigentumsfreiheit, sondern die Freiheit schlechthin. So wird die Bestimmung des Art. 2 Abs. 1 GG, wonach jeder das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit hat, nicht nur als Persönlichkeitsrecht ausgelegt, sondern als Auffanggrundrecht, das die allgemeine Handlungsfreiheit schützt. Das Bundesverfassungsgericht spricht von einem „Grundrecht des Bürgers, nur aufgrund solcher Vorschriften mit einem Nachteil belastet zu werden, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind“.7 Daneben gewährleistet das Grundgesetz die Rechtsgleichheit, einen Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz, bestimmte staatsbürgerliche Rechte wie insbesondere das Wahlrecht sowie Justizgrundrechte (wie den Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht, den Grundsatz „nulla poena sine lege“ sowie das Verbot der Doppelbestrafung und der Todesstrafe). Sehr zurückhaltend ist es ___________ 5

Zum Begriff „Grundgesetz“ vgl. Jarass, in: ders./Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 7. Aufl. 2004, Einl. Rn. 1. 6 Vgl. die Aufstellung bei Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Vor Art. 1. 7 BVerfGE 29, 402 (408).

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dagegen mit der Garantie von originären Leistungsrechten, d. h. von Ansprüchen gegen den Staat, die sich nicht auf Abwehr staatlichen Handelns oder gleichen Zugang zu schon bestehenden staatlichen Einrichtungen oder Leistungen, sondern auf erstmaliges staatliches Handeln richten. Solche Gewährleistungen finden sich im Grundgesetz nur vereinzelt.8 Einerseits will man die Politik nicht auf den bloßen Nachvollzug von Verfassungsbefehlen festlegen. Andererseits besteht die Gefahr, dass das Verfassungsrecht nicht mehr ernst genommen wird, wenn Leistungen versprochen werden, die sich nicht durchsetzen lassen. So kannte die Weimarer Reichsverfassung, d.h. die Verfassung des Deutschen Reiches von 1919, ein Grundrecht auf Arbeit9, das aber bloß auf dem Papier stand. Von dieser Art von Verheißungen hat sich das Grundgesetz bewusst distanzieren wollen.10 Auch wenn das Grundgesetz allgemein als die beste Verfassung angesehen wird, welche die Deutschen jemals gehabt haben,11 bedeutet dies nicht, dass es nichts zu verbessern gäbe. Als problematisch anzusehen ist nach der hier vertretenen Auffassung vor allem, dass das Grundgesetz zwischen Deutschenrechten und Jedermannsrechten, die allen Menschen zustehen, differenziert. Da das Europäische Unionsrecht zwar keinen bestimmten nationalen Verfassungsschutz gebietet, wohl aber Diskriminierungen verbietet, dürfte es kaum mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht vereinbar sein, die Grundrechte den EUAusländern vorzuenthalten.12 Folgt man dieser Ansicht, verdrängt der Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts partiell den Deutschenvorbehalt. Z.B. können sich dann alle Bürger der Europäischen Union auf das Grundrecht der Berufsfreiheit berufen, obwohl Art. 12 Abs. 1 GG an sich nur den Deutschen dieses Grundrecht garantiert. Dies hilft indessen anderen Ausländern nicht weiter. Für die natürlichen Personen mag die Vorenthaltung bestimmter Grundrechte keine relevanten Konsequenzen haben, weil alle natürlichen Personen zumindest durch die allgemeine Handlungsfreiheit geschützt werden. Anderes trifft aber auf die juristischen Personen zu, weil die Grundrechte abgesehen von den Justizgrundrechten13 nach Art. 19 Abs. 3 GG nur für inländische juristische Personen gelten. Nach der hier vertretenen Auffassung sollte diese heute nicht mehr als zeitgemäß anzusehende Beschränkung durch Verfassungsänderung korrigiert werden. ___________ 8 Z.B. hat nach Art. 6 Abs. 4 GG jede Mutter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. 9 Art. 163 WRV. 10 Anderes gilt z.T. für die Verfassungen der Bundesländer. Vgl. dazu Sachs, (Fn. 6) Vor Art. 1 Rn. 47. 11 Vgl. nur Herzog, DÖV 1989, 465 (465). 12 Vgl. statt vieler Ehlers, Die Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, 1999, S. 64 ff.; Wernsmann, JURA 2000, 657 ff. 13 Vgl. BVerfGE 12, 6 (8); 64, 1 (11).

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Das deutsche Grundrechtsverständnis hat die Grundrechtsentwicklung in Europa und in einer Reihe anderer Staaten in der Welt nachhaltig beeinflusst. Zwei Besonderheiten seien hervorgehoben. Um den Grundrechten größtmögliche Wirkkraft zukommen zu lassen, hat das Bundesverfassungsgericht den Grundrechten sehr früh verschiedene Dimensionen entnommen. So hat es beispielsweise aus den Freiheitsrechten nicht nur Abwehrrechte (d.h. Ansprüche auf Unterlassung und Beseitigung), sondern auch Ansprüche auf staatlichen Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen in die grundrechtlich geschützten Belange14 sowie auf verfahrensrechtliche (und organisatorische) Vorkehrungen15 abgeleitet. Vor allem aber unterscheidet das Gericht zwischen einem subjektiven und einem objektiven Grundrechtsschutz. Ganz im Vordergrund stand zunächst die Entfaltung der Grundrechte als subjektive Rechte, d.h. als gerichtlich durchsetzbare Ansprüche. Sehr früh hat das Bundesverfassungsgericht aber herausgearbeitet, dass die Grundrechte „auch“ objektive Verhaltensanforderungen enthalten, die zu den subjektiv-rechtlichen Verbürgungen der Grundrechte hinzutreten und diese verstärken.16 Dieses Verständnis stößt deshalb auf Erstaunen, weil subjektive Rechte aus dem objektiven Recht herzuleiten sind und nicht umgekehrt.17 Das zeigt im Übrigen auch die Entstehungsgeschichte der Grundrechte. So war in der Kaiserzeit und der Weimarer Zeit der objektiv-rechtliche Charakter der Grundrechte anerkannt. Gestritten wurde nur darum, ob die Grundrechte auch subjektive Rechte enthalten. Viel größere Bedeutung kommt der Frage zu, wie weit der objektiv-rechtliche Grundrechtsschutz reicht und wann er justiziabel ist. Das Bundesverfassungsgericht spricht von den Grundrechten als objektive Grundsatznormen und Wertentscheidungen, die für alle Bereiche des Rechts gelten und von denen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung ihre Richtlinien und Impulse empfangen.18 So sollen die Grundrechte im Privatrechtsverkehr ihre Wirkkraft als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen durch das Medium der Vorschriften, die das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschen, entfalten. Der Staat habe auch insoweit die Grundrechte des Einzelnen zu schützen und vor Verletzungen durch andere zu bewahren.19 Ferner tendiert das Bundesverfassungsgericht dazu, die objektiven Grundrechtsgehalte weithin zum Gegenstand des subjektiv___________ 14 Vgl. BVerfGE 39, 1 (42 – Schwangerschaftsabbruch). Näher dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994, S. 410 ff. 15 Vgl. etwa BVerfGE 65, 1 (44 – verfahrensrechtliche Vorkehrungen, welche der Gefahr einer Verletzung des informationellen Selbstbestimmungsrechts entgegenwirken). 16 Grundlegend BVerfGE 7, 198 (205). Vgl. ferner z.B. BVerfGE 50, 290 (337). 17 Vgl. Ehlers, in: Lessmann (u.a.) (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Lukes, 1989, S. 337 (339). 18 BVerfGE 7, 198 (205). 19 Vgl. BVerfGE 103, 89 (100).

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rechtlichen Grundrechtsanspruchs zu machen. So obliege es den Zivilgerichten, den grundrechtlichen Schutz im Privatrecht durch Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts zu gewähren und im Einzelfall zu konkretisieren. Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sei es, die fachgerichtlichen Entscheidungen daraufhin zu kontrollieren, ob die Gerichte den grundrechtlichen Schutz übersehen haben (Anwendungsdefizit) oder die Bedeutung eines Grundrechts grundsätzlich verkannt haben.20 Auf diese Weise ist ein sowohl objektiv-rechtlicher als auch subjektiver Grundrechtsschutz entstanden, der in dieser Kontrolldichte weltweit nicht seinesgleichen haben dürfte. Doch hat das expansive Grundrechtsverständnis auch seinen Preis.21 Er lässt sich mit den Stichworten „Juridifizierung der Politik und Politisierung der Rechtsprechung, Verschiebung der demokratischen Ordnung in die Richtung eines Jurisdiktionsstaates, Verkürzung der Bedeutung des ,einfachen Rechts‘, besonders des Privatrechts, Inflationierung der Grundrechte und Perpetuierung alles dessen durch die erhöhte Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen“ umschreiben.22 Des Weiteren ist der Umgang mit den Grundrechten in Deutschland in äußerst feinsinniger Weise dogmatisch strukturiert und ausgeformt worden. Unterschieden wird zwischen drei verschiedenen Grundrechtsebenen, nämlich dem Schutzbereich (Gewährleistungsgehalt) eines Grundrechts, dem Grundrechtseingriff und der Rechtfertigung.23 Eingriffe in die Grundrechte sind nach Maßgabe der Schrankenregelungen sowie des kollidierenden Verfassungsrechts zwar zulässig, müssen aber stets verhältnismäßig sein. Verhältnismäßigkeit setzt zunächst voraus, dass legitime Zwecke verfolgt werden. Sodann müssen die eingesetzten Mittel als solche eingesetzt werden dürfen. Schließlich muss der Einsatz des Mittels zur Erreichung des Zwecks geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne, d.h. angemessen sein. Geeignetheit bedeutet, dass die Mittel den Zweck zumindest fördern. Erforderlich ist ein Mittel, wenn der Zweck nicht durch eine geringere Belastung bei gleicher Wirksamkeit erreicht werden kann. Als angemessen ist eine Maßnahme anzusehen, wenn sie in einem recht gewichteten und wohl abgewogenen Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung des Grundrechts steht.24 Im Ergebnis kommt es für die Beurteilung beeinträchtigender staatlicher Maßnahmen fast immer entscheidend auf die Verhältnismäßigkeit an. Mittlerweile nehmen auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und die Verfassungsgerichte der anderen europäischen Staaten eine ___________ 20

Vgl. zuletzt mit zahlreichen weiteren Nachw. BVerfG, DVBl. 2005, 106 (107). Grundlegend dazu die Kritik des Verfassungsrichters Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990, passim. 22 Hesse, JZ 1995, 265 (273). 23 Vgl. statt vieler Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 20. Aufl. 2004, § 6; Hoffmann-Riem, Der Staat 2004, 203 (215 ff.). 24 Vgl. BVerfGE 67, 157 (173). 21

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Verhältnismäßigkeitsprüfung vor, wenn auch häufig nicht in der gleichen Strenge wie das Bundesverfassungsgericht.25 Die Verallgemeinerung der deutschen Verhältnismäßigkeitsvorstellungen dürfte als einer der wichtigsten Beiträge der jüngeren deutschen Rechtskultur für die europäischen Rechtsordnungen anzusehen sein.

2. Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention Neben nationalen und universellen gibt es auch regionale Grundrechtsverbürgungen. Weitaus die größte Bedeutung kommt hierbei der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4.11.1950 zu, welche die älteste regionale Menschenrechtskonvention neuzeitlicher Art darstellt. Die EMRK, die einen Mindestgrundrechtsstandard in Europa gewährleisten soll, ist vom Europarat verabschiedet worden.26 Dieser stellt eine von den europäischen Staaten im Jahre 1949 gebildete völkerrechtliche Organisation zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, sowie zur Beförderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts dar. Bis Anfang des Jahres 2005 sind 46 Staaten Europas (einschließlich so großer, aber am Rande liegender Staaten wie der Russischen Föderation und der Türkei) dieser Organisation beigetreten. Schon nach Art. 3 der Satzung des Europarates muss jedes Mitglied den Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts sowie den Grundsatz anerkennen, dass jeder, welcher der Hoheitsgewalt eines Mitgliedstaates unterliegt, der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden soll. Um diese Grundsätze zu bekräftigen und mit Leben zu erfüllen, ist die stark von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen beeinflusste EMRK am 4.11.1950 in Rom unterzeichnet worden und am 3.9.1953 in Kraft getreten. Derzeit gilt die Konvention für rund 800 Mio. Menschen von Island bis Wladiwostok. Die Konvention ist bis heute durch 14 Zusatzprotokolle ergänzt und revidiert worden, von denen zwei (nämlich das 12. und 14. Protokoll) noch nicht in Kraft getreten sind. Die Zusatzprotokolle haben teils materiell-rechtliche Bedeutung, weil sie den Grundrechtsschutz ausbauen27, teils betreffen sie die Verfahrensüberprüfung von Konventionsverstößen. Schwerpunktmäßig wird die Freiheit des Einzelnen vor dem Staat geschützt. Allerdings ist der Schutz nicht umfassend, z.B. fehlt ein Schutz der Berufsfreiheit sowie des Asylrechts. Ebenso ___________ 25 Zur Kontrolldichte der Verhältnismäßigkeitsprüfung durch den EuGH vgl. Ehlers, in: ders., (Fn. 1) § 14 Rn. 50. 26 Zu den Einzelheiten der Entstehungsgeschichte vgl. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, § 1 Rn. 2 f. 27 Z.B. regelt das 6. Protokoll die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten. Das 13. Protokoll dehnt dieses Verbot auch auf Kriegszeiten aus.

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kennt die EMRK bisher keinen allgemeinen Gleichheitssatz. Vielmehr werden Diskriminierungen nur im Hinblick auf den Genuss der von der Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten verboten (Art. 14 EMRK). Für ein allgemeines Diskriminierungsverbot spricht sich Art. 1 des 12. Zusatzprotokolls zur EMRK aus, das bisher aber nicht von einer ausreichenden Anzahl von Staaten ratifiziert wurde. Ähnlich wie das Grundgesetz hält sich auch die EMRK mit der Gewährung von Leistungsrechten zurück. Anerkannt sind aber Ansprüche des Einzelnen auf staatlichen Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen Privater.28 Ferner haben sich die Vertragsparteien verpflichtet, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen durchzuführen (Art. 3 1. ZP EMRK). Als besonders folgenreich erwiesen haben sich die von der EMRK garantierten Verfahrensrechte.29 So hat nach Art. 6 Abs. 1 EMRK jede Person ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden. Von den zivilrechtlichen Ansprüchen erfasst werden in erheblichem Ausmaße auch solche, die nach der deutschen Rechtsordnung in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit fallen.30 Bei der EMRK handelt es sich um ein völkerrechtliches Vertragswerk. Die Konvention überlässt es den Konventionsstaaten, in welcher Weise sie ihrer Pflicht zur Beachtung der Vertragsvorschriften genügen.31 In Deutschland gelten die EMRK und ihre Zusatzprotokolle als einfaches Bundesgesetz.32 Dies hätte an sich zur Konsequenz, dass der Bundesgesetzgeber durch eine lex posterior von der EMRK abweichen darf. Jedoch gebietet die in den Art. 23 ff. GG zum Ausdruck kommende Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, dass die Gesetze im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland ausgelegt und angewendet werden, selbst wenn sie später als ein völkerrechtlicher Vertrag erlassen worden sind.33 Ferner sind Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK nach der Ansicht des Bundesverfas___________ 28 Ausführlich dazu Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, S. 712 ff.; Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, 2003, S. 191 ff. 29 Diese gehen z.T. erheblich über diejenigen des deutschen Grundgesetzes hinaus. Vgl. Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (312). 30 Vgl. etwa EGMR, NJW 2001, 2694 – Kudla. 31 EGMR, EuGRZ 1976, 62 – Schwedischer Lokomotivführerverband; Series A, No 98, Nr. 84 – James. 32 Vgl. BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (120); BVerfG, NJW 2004, 3407 (3408). 33 Grundlegend BVerfGE 74, 358 (370).

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sungsgerichts auch bei der Auslegung des Grundgesetzes in Betracht zu ziehen, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt.34 Mittelbar bekommt die EMRK auf diese Weise im innerstaatlichen Recht doch einen quasi verfassungsrechtlichen Rang.

3. Grundrechte der Europäischen Union Die Staaten in Europa haben heute zu einem erheblichen Teil ihre Souveränität verloren. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass im großen Ausmaße staatliche Hoheitsrechte auf die Europäischen Gemeinschaften übertragen wurden. Derzeit gibt es noch zwei Gemeinschaften: nämlich die Europäische Gemeinschaft sowie die (nur noch geringe Bedeutung besitzende) Europäische Atomgemeinschaft. Beide Gemeinschaften sind als Rechtsgemeinschaften errichtet worden. Das Gemeinschaftsrecht besteht aus dem Vertragsrecht (Primärrecht) und dem von den Gemeinschaften erlassenen Rechtsakten (Sekundärrecht). Es stellt eine von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unabhängige Rechtsordnung mit unmittelbarer Geltung in den Mitgliedstaaten dar. Allerdings bedürfen die Rechtsakte der Gemeinschaften teilweise der Umsetzung in nationales Recht. Kollidieren Gemeinschaftsrecht und nationales Recht, ist Letzteres jedenfalls grundsätzlich35 nicht anwendbar.36 Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft garantiert bestimmte Grundfreiheiten, nämlich die Freiheit des Warenverkehrs, die Freiheit des Personenverkehrs, bestehend aus der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Niederlassungsfreiheit, die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs und die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Die Grundfreiheiten sind zunächst nur als grenzüberschreitende Diskriminierungsverbote interpretiert worden. Da der durch die Grundfreiheiten geschützte freie Produkt- und Personenverkehr aber nicht nur durch diskriminierende, sondern auch durch unterschiedslos geltende mitgliedstaatliche Regelungen, welche In- und Ausländer gleicherweise betreffen, behindert oder unmöglich gemacht werden kann, hat der EuGH den Grundfreiheiten auch Beschränkungsverbote entnommen.37 Dies heißt mit anderen Worten aber, dass die

___________ 34

Vgl. neuerdings BVerfG, NJW 2004, 3407. Vgl. die Ausführungen zu II. 1. 36 Vgl. zum Vorrang grundlegend EuGH, Slg. 1964, 1251 (1270 f.) – Costa/ENEL. Zum bloßen Anwendungsvorrang statt eines (normhierarchischen) Geltungsvorrangs EuGH, Slg. 1991, I-297, Rn. 19 – Nimz; Slg. 1998, I-6307, Rn. 20 f. – IN.CO.GE.’90. 37 Grundlegend für die Freiheit des Warenverkehrs EuGH, Slg. 1974, 837, Rn. 5 – Dassonville. 35

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Grundfreiheiten auch Freiheitsrechte darstellen,38 die allerdings nur anwendbar sind, wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt. Dagegen kennen die Gemeinschaftsverträge bislang keinen geschriebenen Grundrechtskatalog. Dieser wurde zunächst auch nicht für notwendig erachtet, weil man die Gemeinschaftsverträge als traditionell völkerrechtliche Verträge einstufte. Es zeigte sich jedoch alsbald, dass diese Wertung nicht zutraf. Zum einen wenden sich die Gemeinschaftsverträge nicht nur an die Mitgliedstaaten der Gemeinschaften, sondern auch unmittelbar an Privatpersonen. Zum anderen ist den Gemeinschaften in einem sehr weiten Umfang die Kompetenz eingeräumt worden, für und gegen Jedermann verbindliches Recht zu setzen. An der Begrenzung der Gemeinschaftsgewalt durch die Freiheit und Gleichheit des Einzelnen schützenden Grundrechte führte deshalb kein Weg vorbei. Dies veranlasste den EuGH – befördert durch eine kritische Rechtsprechung der mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts39 – im Wege der Rechtsfortbildung Grundrechte zu entwickeln.40 Der Gerichtshof leitet die Grundrechte im Wesentlichen aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten41 sowie aus der Europäischen Menschenrechtskonvention42 als Rechtserkenntnisquellen her. Seit dem Vertrag von Amsterdam findet sich eine diesbezügliche ausdrückliche Normierung im Vertrag über die Europäische Union (Art. 6 Abs. 2 EUV). Die Europäische Union ist – nach einem vielbemühten Vergleich – ein Dach, das auf drei Pfeilern ruht: nämlich den Europäischen Gemeinschaften (1), einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (2) und einer polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (3). Während die Europäischen Gemeinschaften supranationale Gemeinschaften sind, die selbst Recht setzen können, werden die Aufgaben der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen intergouvernemental, d.h. auf völkerrechtlicher Grundlage außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, wahrgenommen. Künftig soll die Europäische Union die Rechtsnachfolge der durch den Vertrag über die Europäische Union gegründeten Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft antreten.43 Da seit dem Vertrag von Amsterdam sowohl die Europäische Union als auch die Europäische Gemeinschaft die ___________ 38 A.A. z.B. Gebauer, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages und Gemeinschaftsgrundrechte, 2004, S. 346 ff. Für ein gleichheitsrechtliches Verständnis der Grundfreiheiten z.B. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 115 ff. 39 Vgl. BVerfGE 37, 271 – Solange I. 40 Vgl. EuGH, Slg. 1969, 419 – Stauder; Slg. 1970, 1125 – Internationale Handelsgesellschaft; Slg. 1974, 491 – Nold. 41 Erstmalig EuGH, Slg. 1970, 1125, Rn. 4 – Internationale Handelsgesellschaft. 42 Erstmalig EuGH, Slg. 1974, 491, Rn. 13 – Nold. 43 Vgl. Art. IV-438 Abs. 1 VVE.

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Grundrechte, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten ergeben, achten müssen, kann auch von Unionsgrundrechten statt von Gemeinschaftsgrundrechten gesprochen werden. Ungeachtet der Verpflichtung, die Grundrechte zu wahren, wird das Fehlen eines ausdrücklichen Grundrechtskatalogs weiterhin als Mangel empfunden. Daher hat der Europäische Rat einen Konvent unter Vorsitz des früheren deutschen Bundespräsidenten Herzog beauftragt, einen Grundrechtskatalog auszuarbeiten. Die vorgelegte Charta der Grundrechte der Union44 wurde nahezu unverändert in den noch nicht in Kraft getretenen Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) übernommen. Der Vertrag muss in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ratifiziert werden. Ob dies der Fall sein wird, ist nach ablehnenden Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden sehr fraglich geworden. Doch erscheint es sehr wahrscheinlich, dass zumindest die Charta der Grundrechte der Union in Kraft gesetzt werden wird. Die Charta hat bei dem bisherigen Ratifizierungsverfahren des Vertrages über eine Verfassung für Europa innerhalb der Diskussion über die Ratifizierung keine Rolle gespielt. Kritik ist nicht laut geworden. Die Bürger werden es begrüßen, dass ihre Rechte verstärkt werden sollen. Hinzu kommt, dass eine diesbezügliche Änderung des Europäischen Primärrechts kostenlos zu haben ist. So dürfte damit zu rechnen sein, dass die Charta der Grundrechte der Union in den Vertragstext aufgenommen wird. Bereits jetzt entfaltet die Charta Vorwirkungen, weil sie den in den Mitgliedstaaten wachsenden grundrechtlichen Acquis zusammenfasst und daher als Konzentrat der Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten angesehen werden kann.45 Auch haben sich sowohl das Gericht erster Instanz46 und die Generalanwälte47 als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schon verschiedentlich auf die Charta berufen. Kommt es zu einem InKraft-Setzen der Charta der Grundrechte der Union, wird es auf der Ebene der Europäischen Union (die dann Nachfolgerin der alten Europäischen Union sowie der Europäischen Gemeinschaft sein wird) einen sehr weit ausfächernden Grundrechtsschutz geben. Inhaltlich gliedert sich die 54 Artikel umfassende Charta in sieben Titel, die mit Würde des Menschen, Freiheiten, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte, Justizielle Rechte und Allgemeine Bestimmungen überschrieben worden sind. Stellt man auf die Gesamtheit der Rechtsquellen ab, kreiert die Charta der Grundrechte der Union von Ausnahmen abgesehen nicht ___________ 44

EG ABl. 2001 Nr. C 364/1. Vgl. auch Kingreen in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 2. Aufl. 2002, Art. 6 EUV Rn. 40 b. 46 Vgl. EuG, EuZW 2002, 186, Rn. 57 – max mobil. 47 Vgl. z.B. Schlussanträge GA Alber, EuGH, Slg. 2001, I-4109, Rn. 94 – TNT; Schlussanträge GA Tizzano, Slg. 2001, I-4881, Rn. 26 ff. – BECTU. 45

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neue Grundrechte, sondern macht sie nur sichtbar und systematisiert sie. Vergleicht man die Gewährleistungen dagegen mit den Verbürgungen einzelner Rechtsquellen (z.B. der EMRK oder des Grundgesetzes) gehen sie zu einem nicht unerheblichen Teil darüber hinaus.48 Soweit die Charta Rechte im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention enthält, sollen diese die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, weitergehender Schutz aber nicht ausgeschlossen sein (Art. II-112 Abs. 3 VVE). Auch soll keine Bestimmung der Charta als Einschränkung oder Verletzung der durch die Europäische Menschenrechtskonvention ausgeübten Rechte auszulegen sein (Art. II-113 VVE). Somit bildet der Standard der Europäischen Menschenrechtskonvention stets eine Untergrenze.49 Im Übrigen sieht Art. 17 des 14. ZP EMRK (noch nicht ratifiziert) vor, dass die Europäische Union (neuer Art) der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten kann. Nach Art. I-9 Abs. 2 VVE tritt die Union sogar der EMRK bei. Kommt es zu einem solchen Beitritt, wäre damit eine unmittelbare Bindung an die Europäische Menschenrechtskonvention erreicht. Zugleich würde sich aber in noch gravierender Weise als bisher die Frage stellen, welche Gerichtsinstanz das Letztentscheidungsrecht in Grundrechtsfragen auf europäischer Ebene haben soll. Die Grundfreiheiten binden in erster Linie die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, daneben aber auch die Gemeinschaft selber.50 Dagegen wenden sich die Unionsgrundrechte primär an die Europäische Gemeinschaft. Gleichzeitig werden aber auch die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Gemeinschaft an die Unionsgrundrechte gebunden.51 Von Durchführung kann gesprochen werden, wenn die Staaten Gemeinschaftsrecht (z.B. Richtlinien oder Entscheidungen) in nationales Recht umsetzen, Gemeinschaftsrecht vollziehen oder wenn sie die Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts durch nationale Maßnahmen beschränken.52 Im zuletzt genannten Fall verstärken die Unionsgrundrechte in der Regel den Schutz der Grundfreiheiten, weil sie den den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft belassenen Spielraum zur Einschränkung der Grundfreiheiten begrenzen. Sie entfalten dann eine den Binnenmarkt fördernde integrationsfreundliche Wirkung. Andererseits können die Unionsgrundrechte und Grundfreiheiten aber auch in Kollision zueinander geraten. Dies ist der Fall, wenn und soweit sie unterschiedliche Rechtsgüter schüt___________ 48

Z.B. Verbot des reproduktiven Klonens gem. Art. II-63 Abs. 2 lit. d VVE. Vgl. Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (566). 50 Vgl. EuGH, Slg. 1984, 1229, Rn. 18 – REWE; Slg. 1994, I-3879, Rn. 11 – Meyhui; Jarass, EuR 1995, 202 (211); Schwemer, Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten, 1995, S. 45; Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263 (277). 51 Vgl. Art. II-111 Abs. 1 VVE. 52 Tridimas, The General Principles of EC Law, 1999, S. 225 ff. Zu den beiden zuerst genannten Konstellationen vgl. bereits Weiler, in: Neuwahl (u.a.) (Hrsg.), The European Union and Human Rights, 1995, S. 51 (67 ff. – agency situation). 49

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zen. Zum Beispiel hat der EuGH das staatliche Nichteinschreiten gegen die Blockade einer österreichischen Autobahn durch Umweltschützer trotz der damit verbundenen Einschränkungen der Freiheit des Warenverkehrs für zulässig erachtet, weil sich die demonstrierenden Umweltschützer auf die Grundrechte, nämlich die Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit, berufen konnten.53

II. Gerichtliche Einklagbarkeit der Grundrechte in Europa 1. Kontrolle durch die deutschen Gerichte Da die genannten Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes, der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Gemeinschaftsrechts im innerstaatlichen Rechtskreis anwendbar sind und es sich um subjektive Rechte, d.h. um gerichtlich durchsetzbare Ansprüche handelt, können sie im Falle der Ausübung deutscher Staatsgewalt vor allen deutschen Fachgerichten im Rahmen der Zuständigkeit dieser Gerichte geltend gemacht werden. Zum Beispiel kann sich der Adressat eines belastenden Verwaltungsaktes einer deutschen Behörde vor dem deutschen Verwaltungsgericht gegen diesen Akt mit der Begründung wenden, dass die Grundrechte des Grundgesetzes, die Europäische Menschenrechtskonvention, die Grundfreiheiten des EG-Vertrages oder die Unionsgrundrechte verletzt werden. Darüber hinaus müssen die Verwaltungsgerichte von Amts wegen prüfen, ob die genannten Grundrechte beachtet worden sind. Ist der Rechtsschutzsuchende der Meinung, dass die fachgerichtliche Entscheidung Grundrechte des Grundgesetzes verletzt, kann er nach Erschöpfung des Rechtswegs das Bundesverfassungsgericht anrufen. Das Europäische Recht verlangt eine konventions- bzw. gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des deutschen Rechts. Doch können die Europäische Menschenrechtskonvention und die Unionsgrundrechte auch selbst Anspruchsgrundlage sein. Liegt bereits eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vor, entfaltet diese eine grundsätzliche Bindungswirkung für alle Träger von Staatsgewalt und damit auch für die Gerichte.54 Grenzen ergeben sich aus der Bindung der Staatsorgane an das Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG), da die Europäische Menschenrechtskonvention nur als einfaches Bundesgesetz gilt und daher auch die zu ihrer Auslegung ergangenen Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte z.B. nicht die Verfassung verdrängen können. Solange das Verfahren vor den deutschen Gerichten noch nicht abgeschlossen ist, trifft diese aber die Pflicht, im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung der konventionsgemäßen Auslegung ___________ 53 54

Vgl. EuGH, Slg. 2003, I-5659 – Schmidberger. BVerfG, NJW 2004, 3407 (3409).

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den Vorrang zu geben.55 Wurde das nationale Gerichtsverfahren rechtskräftig abgeschlossen, kommt im Strafprozess eine Wiederaufnahme in Betracht, wenn der Gerichtshof eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention oder ihrer Zusatzprotokolle festgestellt hat und das deutsche Urteil auf dieser Verletzung beruht (§ 359 Nr. 6 StPO). Für die sonstigen gerichtlichen Verfahren ist nichts Entsprechendes vorgesehen. Eine Verpflichtung, insoweit ein Wiederaufnahmeverfahren einzuführen56, lässt sich der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht entnehmen, zumal der Grundsatz der Rechtssicherheit auch im Konventionsrecht beachtlich ist.57 Verkennt das deutsche Fachgericht die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention oder beachtet es die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht hinreichend, kann Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht eingelegt werden. Da das Bundesverfassungsgericht nur für die Einhaltung der deutschen Grundrechte zuständig ist, kann die Verfassungsbeschwerde zwar nicht unmittelbar auf die Verletzung eines in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Menschenrechts, wohl aber auf das einschlägige Grundrecht des Grundgesetzes mit der Begründung gestützt werden, die staatlichen Organe hätten wegen der Missachtung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der dazu ergangenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Bedeutung dieses Grundrechts verkannt.58 Die Einwirkung der Europäischen Menschenrechtskonvention auf das nationale Verfassungsrecht ändert nichts daran, dass über die Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes letztverbindlich nur das Bundesverfassungsgericht entscheidet.

Geht es um die Anwendung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, gebietet der Anwendungsvorrang, entgegenstehendes nationales Recht außer Betracht zu lassen. Dies hat zur Folge, dass EG-Verordnungen, EG-Richtlinien oder Entscheidungen der Kommission der Europäischen Gemeinschaft dem Grundgesetz vorgehen. Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs gilt der Vorrang des Gemeinschaftsrechts uneingeschränkt.59 Das Bundesverfassungsgericht sieht dies differenzierter.60 Die Bundesrepublik Deutschland dürfe nur innerhalb be___________ 55

BVerfG, NJW 2004, 3407 (3411). Vgl. Ress, EuGRZ 1996, 350 (352), sowie die unverbindliche Empfehlung des Ministerkomitees Recommendation Nr. R (2000) 2, siehe auch Art. 139 a Bundesrechtspflegegesetz der Schweiz. 57 H.M. Vgl. BFH, DVBl. 1978, 501 f.; BVerwG, DÖV 1998, 924 ff.; BVerfG, NJW 2004, 3407 (3410). 58 Vgl. BVerfG, NJW 2004, 3407 (3408, 3411). 59 Vgl. Fn. 36. 60 Vgl. BVerfGE 37, 271 (277 ff.); 73, 339 (375 f.); 89, 155 (174 f.); 102, 147 (161 ff.). 56

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stimmter Grenzen, die in Art. 23 Abs. 1 GG umschrieben sind, Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen. Nehmen die Gemeinschaften Kompetenzen wahr, die ihnen nicht übertragen worden sind (Grenze des Nichtübertragenen), oder verletzt das Gemeinschaftsrecht den nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 2 u. 3 GG unabdingbaren Standard des Grundgesetzes (Grenze des Nichtübertragbaren), ist es bei Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht anwendbar. Vielfach wird hierfür das Bild einer Brücke nach Europa bemüht, auf der das Bundesverfassungsgericht als Wächter steht, um die Einhaltung der genannten Anforderungen zu garantieren.61 Zum unabdingbaren, die Identität der geltenden Verfassungsordnung ausmachenden Standard des Grundgesetzes gehört ein nicht wesentlich hinter den Anforderungen des Grundgesetzes zurückbleibender Grundrechtsschutz. Während das Bundesverfassungsgericht einen solchen Grundrechtsschutz auf der Gemeinschaftsebene früher vermisst hat62, geht es nunmehr seit langem davon aus, dass die vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Unionsgrundrechte einen adäquaten Schutz verbürgen63. Deshalb prüft das Gericht die Rechtmäßigkeit von Gemeinschaftsakten nicht mehr am Maßstab der deutschen Grundrechte. Dagegen sind die deutschen Umsetzungs- oder Vollzugsakte von Gemeinschaftsrecht an den deutschen Grundrechten zu messen. Soweit die Umsetzungs- oder Vollzugsakte jedoch auf zwingendes Gemeinschaftsrecht zurückgehen, greift der Vorrang des Gemeinschaftsrechts mit der Folge ein, dass kollidierendes nationales Recht, einschließlich der Grundrechte, nicht angewendet werden darf. Nationaler und gemeinschaftseigener Rechtsschutz werden durch das Vorabentscheidungsverfahren des Art. 234 EGV verklammert. Geht es um die Auslegung des Gemeinschaftsrechts, können die nationalen Instanzgerichte eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs einholen, während das letztinstanzliche Gericht sogar zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet ist, es sei denn, der Europäische Gerichtshof hat die Auslegungsfrage schon beantwortet oder die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist offenkundig.64 Geht das nationale Recht von einer Ungültigkeit des Sekundärrechtsaktes wegen Verstoßes gegen das europäische Primärrecht (Vertragsrecht) aus, muss in jedem Falle eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs eingeholt werden, da nur diesem die Kompetenz zukommt, über die Gültigkeit von Gemeinschaftsrecht zu befinden.65 Im Vorlageverfahren nach Art. 234 EGV nimmt der Europäische Gerichtshof nicht zum nationalen Recht oder zur Entscheidung des vor den nationalen Gerichten anhängigen Gerichtsverfahrens, ___________ 61 Vgl. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 183 Rn. 65. 62 BVerfGE 37, 271, 277 ff. – Solange I. 63 BVerfGE 73, 339, 375 f. – Solange II. 64 Grundlegend EuGH, Slg. 1982, 3415, Rn. 14 ff. – C.I.L.F.I.T. 65 Vgl. grundlegend EuGH, Slg. 1987, 4199, Rn. 12 ff. – Foto-Frost.

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sondern nur zur Auslegung und zur Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts Stellung. Das Vorlageverfahren dient der Einheitlichkeit und Kohärenz der Gemeinschaftsrechtsordnung, weil sichergestellt wird, dass nur der Europäische Gerichtshof letztverbindlich über Auslegung und Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts entscheidet. Kommt ein deutsches Gericht seiner Pflicht nach Art. 234 EGV nicht nach, verstößt es zugleich gegen das nationale Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG).66 Da das Bundesverfassungsgericht keine Superrevisionsinstanz ist, beschränkt es sich bei der Nachprüfung einfachrechtlicher gerichtlicher Verfahrensvorschriften an sich auf eine bloße Willkürprüfung.67 Demgegenüber wird aber sehr viel strikter kontrolliert, ob eine Vorlage des Fachgerichts an den Europäischen Gerichtshof geboten gewesen wäre. Dies ist der Fall, wenn das letztinstanzliche Gericht seine Vorlageverpflichtung grundsätzlich verkannt hat, zu einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch nicht vorliegt, eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet hat oder eine Fortentwicklung der Rechtsprechung nicht nur als entfernte Möglichkeit erscheint.68 Haben die nationalen Gerichte das Gemeinschaftsrecht verletzt und ist den Betroffenen dadurch ein Schaden entstanden, stellt sich die Frage, ob der Staat zum Schadensersatz verpflichtet ist. Das deutsche Recht kennt nur in sehr seltenen Fällen eine Haftung für judikatives Unrecht.69 Wurde das Gemeinschaftsrecht verletzt, gelten andere Maßstäbe. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist dem Verletzten selbst dann, wenn ein letztinstanzliches Gericht entschieden hat, ein Schadensersatzanspruch zuzubilligen, wenn die verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen dem Verstoß und dem entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht.70 Als hinreichend qualifiziert wird ein Verstoß auch im Falle judikativen Unrechts nur angesehen, wenn die Entscheidung offenkundig gegen das geltende Recht verstoßen hat.71

___________ 66

Vgl. BVerfG-K, DVBl. 2001, 720 f.; Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, 473 (477); Ehlers, DVBl. 2004, 1444 (1448). 67 Vgl. BVerfGE 3, 359 (365); 82, 286 (299); 87, 282 (285). 68 BVerfG-K, NJW 2001, 1267 (1268). 69 Vgl. § 839 Abs. 2 BGB. 70 Vgl. EuGH, Slg. 1996, I-1029, Rn. 51 – Brasserie du Pecheur. 71 EuGH, NVwZ 2004, 79, Rn. 53 – Köbler.

Grundrechtsschutz in Europa

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2. Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Volle Wirkkraft können die EMRK-Rechte nur entfalten, wenn ihre Einhaltung von einer unabhängigen internationalen Gerichtsbarkeit durchgesetzt werden kann. Diese Aufgabe kommt dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu, der als „ständiger Gerichtshof“ fungiert.72 Die Europäische Menschenrechtskonvention sieht zwei Formen des Rechtsschutzes vor, nämlich die Staatenbeschwerde und die Individualbeschwerde. Künftig ist vorgesehen, dass sich auch das (aus den Repräsentanten der Staaten bestehende) Ministerkomitee an den Gerichtshof wenden kann.73 Die Rechtsschutzform einer Staatenbeschwerde, die es jedem Konventionsstaat ermöglicht, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen jeder behaupteten Verletzung der Konvention und der Protokolle durch einen anderen Konventionsstaat anzurufen, wird selten genutzt. Dagegen kommen Individualbeschwerden überaus häufig vor. Beispielsweise sind im Jahre 2004 fast 41.000 Beschwerden beim Gerichtshof eingegangen. Die Zulässigkeit einer Individualbeschwerde setzt insbesondere voraus, dass alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft wurden. Dazu zählen auch Verfassungsbeschwerden und unter Umständen selbst Rechtsbehelfe nach Maßgabe des Europäischen Gemeinschaftsrechts.74 Inhaltlich beansprucht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für sich ein Letztentscheidungsrecht in allen Grundrechtsfragen, soweit ein Konventionsrecht tangiert wird. So ist die Bundesrepublik Deutschland schon mehrfach wegen einer überlangen Dauer des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht verurteilt worden.75 Des Weiteren ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verschiedentlich von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abgewichen. So hat er kürzlich in dem Fall Caroline von Hannover, in dem es um die Vereinbarkeit einer Presseberichterstattung über die Schwester des Regierenden Fürsten von Monaco in der so genannten „Yellow Press“ mit deren Persönlichkeitsrecht ging, anders als das Bundesverfassungsgericht entschieden und dem Persönlichkeitsrecht in Abwägung mit der Pressefreiheit stärkeres Gewicht als das Bundesverfassungsgericht beigemessen.76 Schließlich hält der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Konventionsstaaten auch dann für an die EMRK gebunden, wenn diese Hoheitsrechte auf internationale oder supranationale Organisationen wie die Europäische Union übertragen. So wurde das Vereinigte Königreich verurteilt, weil eine britische ___________ 72

Vgl. Art. 19 S. 2 EMRK. Vgl. Art. 16 14. ZP EMRK. 74 Vgl. Ehlers, in: ders., (Fn. 1) § 2 Rn. 63. 75 Vgl. EGMR, NJW 1997, 2809 – Probstmeier; EuGRZ 1997, 310 – Pammel; EuGRZ 2003, 228, Rn. 51 – Norbert Kind. 76 Vgl. einerseits BVerfGE 101, 361; andererseits EGMR, NJW 2004, 2648 – Caroline von Hannover. 73

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Staatsbürgerin mit Wohnsitz in Gibraltar nicht an der Wahl zum Europäischen Parlament teilnehmen durfte.77 Den Einwand, dass das Europäische Gemeinschaftsrecht das Wahlrecht ausgeschlossen hat, ließ der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht gelten. Da die Europäische Gemeinschaft nicht Mitglied des Europarates und damit auch nicht Verpflichtungsadressat der Europäischen Menschenrechtskonvention ist, unterlägen die Gemeinschaftsakte zwar nicht der Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Konventionsstaaten könnten sich durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale oder supranationale Gemeinschaften aber nicht der Verantwortung für die Einhaltung des Konventionsschutzes entziehen. Indirekt überprüft der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über die Verantwortung der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für die Wahrung der Rechte aus der Europäischen Menschenrechtskonvention damit auch die Akte der Europäischen Gemeinschaft.78 Ebenso wie das Bundesverfassungsgericht ist der Europäische Gerichtshof bemüht, in Grundrechtsfragen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu folgen. Doch lassen sich Konflikte nicht ausschließen. Kommt es zu einem Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention dürfte kaum ein Weg daran vorbeiführen, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auch im Gemeinschaftsrecht die Letztentscheidungskompetenz über die Konventionsmäßigkeit der Durchführung von Unionsrecht zuzugestehen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nicht die Rechtsmacht, die konventionsverletzenden Maßnahmen aufzuheben oder die Konventionsstaaten zu Leistungen zu verurteilen.79 Bei seinen Entscheidungen handelt es sich um Feststellungsurteile. Der verurteilte Konventionsstaat ist völkerrechtlich verpflichtet, das Urteil zu befolgen. Zum Ersten muss die Rechtsverletzung beendet, zum Zweiten Wiedergutmachung geleistet, zum Dritten eine gleichartige Verletzung in Zukunft unterbunden werden. Konventionswidrige Gesetze und Verwaltungsmaßnahmen können i.d.R. ohne weiteres aufgehoben werden. Liegt allerdings bereits eine rechtskräftige Entscheidung eines nationalen Gerichts vor, kommt – wie bereits ausgeführt wurde – nur im Strafprozess eine Wiederaufnahme in Betracht. Ist die Entscheidung des nationalen Gerichts noch nicht vollstreckt worden, steht Art. 46 EMRK einer Vollstreckung zu Gunsten des Konventionsstaates entgegen. Gestattet das innerstaatliche Recht nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen der Konventionsverletzung, spricht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der verletzten Partei ___________ 77

EGMR, NJW 1999, 3107 – Denise Matthews. Vgl. ausf. Ehlers, in: ders., (Fn. 1) § 2 Rn. 31 f. 79 Vgl. BVerfG, NJW 1986, 1425 ff.; NJW 2004, 3407 (3409); Uerpmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, 1993, S. 172 ff.; Dörr, in: Sodan/Ziekow (Hrsg.), Nomos-Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, 1998, EVR Rn. 558 ff.; Ehlers, (Fn. 12) S. 139 f. 78

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eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.80 Neben materiellen sind auch immaterielle Schäden ersatzfähig. Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention können den Staaten daher sehr teuer kommen.

3. Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof Über die Wahrung der Unionsgrundrechte bei der Durchführung des Unionsrechts entscheiden sowohl die nationalen Gerichte als auch der Europäische Gerichtshof und das (Europäische) Gericht erster Instanz. Beruft sich der Einzelne darauf, dass mitgliedstaatliche Maßnahmen die Unionsgrundrechte verletzen, ist stets vor den nationalen Gerichten um Rechtsschutz nachzusuchen. Ist die Auslegung der Unionsgrundrechte nicht eindeutig, muss das letztinstanzliche nationale Gericht den Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 234 Abs. 3 EGV im Wege eines Vorlageverfahrens um die richtige Auslegung ersuchen. Wendet sich der Einzelne gegen Entscheidungen der Gemeinschaft, kann er sich an das Gericht erster Instanz wenden. Einen gemeinschaftseigenen Individualrechtsschutz gegen Normen gibt es bisher nur in Ansätzen.81 Im Regelfall muss sich der Betroffene an das mitgliedstaatliche Gericht wenden, das seinerseits wiederum im Vorlageverfahren den Europäischen Gerichtshof anrufen muss. Nach dem Vertrag über eine Verfassung für Europa sollen die natürlichen oder juristischen Personen künftig die Möglichkeit haben, direkt vor dem Gericht erster Instanz gegen EG-Verordnungen vorzugehen, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen.82 Darüber hinaus können die Gemeinschaftsorgane und Mitgliedstaaten entweder eine Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof erheben oder ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof in Gang setzen, wenn sie der Meinung sind, dass entweder die Gemeinschaft oder die Mitgliedstaaten die Unionsgrundrechte verletzt haben. Zu kritisieren ist, dass der Europäische Gerichtshof mit zweierlei Maß misst. Das Gemeinschaftsrecht in Gestalt von Verordnungen oder Richtlinien wird bisher nur äußerst selten auf seine Vereinbarkeit mit den Unionsgrundrechten hin überprüft. Soweit ersichtlich, sind solche Maßnahmen noch niemals wegen Verstoßes gegen Unionsgrundrechte für ungültig erklärt worden. Dagegen wird die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte vor dem Europäischen Gerichtshof und dem Gericht erster Instanz sehr viel ernster genommen. Es ist zu hoffen, dass nach In-Kraft-Treten der Charta der Grundrechte der Union die gebotene Grundrechtsprüfung auch im Hinblick auf das Sekundärrecht der Union verstärkt vorgenommen wird. ___________ 80

Vgl. Art. 41 EMRK. Vgl. EuGH, Slg. 2002, I-6677 – Unión de Pequeños Agricultores; EuGH, NJW 2004, 2006 – Jégo-Quéré. 82 Vgl. Art. III-365 Abs. 4 VVE. 81

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III. Zusammenfassung und Fazit Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es in Europa einen umfassenden und mehrfach gesicherten Grundrechtsschutz auf verschiedenen Ebenen gibt. Die mehrfachen Sicherungen beschwören aber zugleich materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Abgrenzungsprobleme herauf. Innerstaatlich wird das Bundesverfassungsgericht seine Führungsrolle behalten. Immer häufiger kommt es aber nicht auf das nationale, sondern auf das Europäische Recht an. Die Funktion eines Wächters der europäischen Grundrechte nimmt mehr und mehr der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wahr, während sich der Europäische Gerichtshof diesbezüglich eher zurückhält.

Rechtliche Aspekte der Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland Von Hans-Uwe Erichsen∗

I. Die Verantwortung für die Qualität von Studiengängen an Hochschulen liegt heute in der Bundesrepublik Deutschland bei Hochschulen und Staat: Wissenschaftliche Hochschulen sind per definitionem der Qualität verpflichtet und haben daher die ständige Aufgabe der Qualitätsprüfung und -entwicklung. Zugleich besteht eine aus der verfassungsrechtlich begründeten Verantwortung für die Gleichwertigkeit der in den Ländern der Bundesrepublik erworbenen Abschlüsse und aus der staatlichen Finanzierung hergeleitete Letztverantwortung des Staates, die die Länder im Bereich der Lehre mit Hilfe der Genehmigung von Studiengängen wahrnehmen oder jedenfalls bisher wahrgenommen haben.

II. Um die gemeinsame Verantwortung bei Studiengängen mit einem Hochschulabschluss wahrzunehmen, deren Gleichwertigkeit einerseits und die Mobilität Studierender andererseits zu gewährleisten, hatten die in der Kultusministerkonferenz (KMK) zusammenwirkenden, für das Hochschulwesen zuständigen Landesminister und die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) eine „Gemeinsame Kommission für die Koordinierung der Ordnung von Studium und Prüfung“ (GemKo) gebildet. Diese Kommission bereitete unter Beteiligung der Berufspraxis und des Bundes quantitativ (Semesterwochenstunden, Regelstudienzeiten) ausgerichtete Vorschläge für von KMK und HRK zu beschließende Rahmenprüfungsordnungen vor. Die Rahmenprüfungsordnungen wurden zwar als Empfehlungen und damit als im Ergebnis rechtlich unverbindlich qualifiziert; von den Hochschulen vorgelegte, abweichende Prüfungsordnungen wurden aber i.d.R. nicht genehmigt. Das Verfahren zum Erlass dieser Rahmenprüfungsordnungen nahm nicht selten Jahre in Anspruch; es erwies sich als außer___________ ∗

Die Ausführungen beziehen sich auf die Gesetzeslage Stand 31. 12. 2004

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ordentlich schwerfällig, seine Ergebnisse waren nicht selten zum Zeitpunkt der Verabschiedung bereits durch neue Entwicklungen überholt und damit für zunehmend im internationalen Wettbewerb stehende Studienangebote der deutschen Hochschulen kontraproduktiv. Die HRK hat schließlich im Jahre 2001 die Mitarbeit an der Erarbeitung der Rahmenprüfungsordnungen aufgekündigt.

III. Orientierte sich demnach die Qualitätssicherung in der Lehre in Deutschland in erster Linie an quantitativen Vorgaben und wurde letztlich ex ante durch den Staat mit Hilfe der Genehmigung von Prüfungsordnungen ausgeübt, so haben sich in anderen Ländern Qualitätssicherung und -entwicklung in der Lehre zunehmend an durch Evaluation ermittelten Ergebnissen orientiert; sie finden expost, outcomeorientiert und vielfach nicht durch den Staat statt. Anknüpfend an die internationale Entwicklung und ein gestiegenes Bewusstsein für die Notwendigkeit der Qualitätssicherung in einem durch die Erweiterung der Hochschulautonomie bestimmten System und der sich – allerdings in Deutschland eher zögerlich verbreitenden – Einsicht, dass die Verantwortung für die Qualität zumindest auch bei den Hochschulen liege, kam es auch in der Bundesrepublik in den 1990er Jahren zu einem Paradigmenwechsel. Auf der Grundlage von Empfehlungen der HRK und des Wissenschaftsrats wird seit Mitte der 1990er Jahre die Einführung von Evaluationsverfahren für die Lehre mit dem Ziel angestrebt, die Hochschulen bei der Einführung systematischer qualitätsfördernder Maßnahmen zu unterstützen, dergestalt ihre Verantwortung zu stärken, Profilbildung und Wettbewerb voranzutreiben und durch Transparenz Möglichkeiten des Vergleichs und der Auswahl zu fördern.

IV. Die 1998 erfolgte Novellierung des Hochschulrahmengesetzes (HRG)1 öffnete das deutsche Hochschulwesen für die Umsetzung von Entwicklungen und Einsichten auf europäischer Ebene. So wurde insbesondere in § 9 Abs. 1 HRG – zunächst probeweise2 – die Möglichkeit eröffnet, an Universitäten und Fachhochschulen gestufte „Studiengänge einzuführen, die zu einem Bachelor- oder Bakkalaureusgrad und zu einem Master- oder Magistergrad führen.“ Damit war die Erwartung verbunden, zu kürzeren Studienzeiten, zu mehr inhaltlicher und zeitlicher Anpassungsfähigkeit sowie zu mehr Flexibilität im Hinblick auf ver___________ 1

BGBl. 1998 I S. 2190. Durch die Novelle zum HRG vom 1. August 2002 – BGBl. 2002 I S. 3138 – wurde diese Möglichkeit endgültig eingeräumt. 2

Rechtliche Aspekte der Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland

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schiedene und sich wandelnde Ansprüche der Wissenschaft, der Berufspraxis und der Studierenden zu gelangen. In Verbindung damit wurde ein Verfahren zur Wahrnehmung der Qualitätskontrolle für notwendig erachtet, welches schneller und flexibler als das bisherige war. Auf der Linie der Rücknahme der bisherigen Detailsteuerung des Hochschulwesens durch den Staat liegt es, wenn § 9 HRG in der novellierten Fassung nur noch das Ziel der den Ländern übertragenen Verantwortung definiert, „die Gleichwertigkeit einander entsprechender Studien- und Prüfungsleistungen sowie Studienabschlüsse und die Möglichkeit des Hochschulwechsels“ zu gewährleisten, die organisatorische und verfahrensmäßige Verwirklichung dieses Ziels indes nicht festschreibt, sondern nur die Notwendigkeit einer Beteiligung der Hochschulen und der Berufspraxis festlegt. Den so eröffneten Gestaltungsspielraum aufnehmend haben HRK und KMK am 6.7.1998 und am 3. Dezember 1998 in konzertierter Aktion auf die Errichtung eines Akkreditierungssystems für die BA- und MA-Studiengänge gerichtete Beschlüsse gefasst. Sie sind damit über die in erster Linie auf Selbststeuerung gerichtete Evaluierung hinaus- und in ein System des externen benchmarking übergegangen.

V. Akkreditierung ist ein Mittel der Feststellung der Qualität von Leistungen und Produkten. Qualität ist eine Funktion des mit der Leistung, dem Produkt verfolgten Zwecks. Es gibt nicht die Qualität als solche, sondern nur die Qualität im Hinblick auf einen Zweck (fitness for purpose) aber zugleich die Frage nach der Qualität des Zwecks (fitness of purpose). Ergibt sich die Bestimmung von Qualität etwa eines Verhaltens, einer Leistung, eines Produkts also aus dem Bezug auf einen Zweck und ein Ziel, so können auch Verfahren und Organisation zu ihrer Feststellung unterschiedlich sein. Qualität ist daher eine in mehrerer Hinsicht Variable. Im Verfahren der Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland ist sie allerdings durch Festlegung zur Konstanten geworden: Qualitätsmaßstab der Akkreditierung von Studiengängen ist nach den Beschlüssen von HRK vom 6.7.1998 und KMK vom 3.12.1998 der „fachlich inhaltliche Mindeststandard“ und die „Berufsrelevanz“ der Studiengänge.

VI. Das Akkreditierungssystem in Deutschland wurde durch Beschluss der KMK vom 3.12.1998 – zunächst auf 3 Jahre probeweise – errichtet. Durch Beschlüsse der KMK vom 24.5./19.9.2002 wurde das seit Mitte 1999 eingerichtete Akkreditierungssystem auf eine dauerhafte Grundlage gestellt. In dem 2002 unbefris-

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tet erlassenen „Statut für ein länder- und hochschulübergreifendes Akkreditierungsverfahren“ sind zwar Änderungen enthalten, das System ist indes strukturell unverändert geblieben.

VII. Gemäß Ziff. I. 2. des am 1.1.2003 in Kraft getretenen Statuts sind Studiengänge staatlicher oder staatlich anerkannter privater Hochschulen Gegenstand der Akkreditierung. Der Akkreditierung unterliegen die zu den Abschlüssen BA und MA führenden Studiengänge. Hatte es in Ziff. 3 KMK-Beschluss vom 3.12.1998 noch geheißen, dass die Akkreditierung keine „zwingende Voraussetzung“ für die Einrichtung von BA- und MA-Studiengängen sei, so legt das neue Statut fest, dass diese zu akkreditieren sind. Aber auch „neu einzurichtende Diplom- und Magisterstudiengänge, in Fachrichtungen, in denen keine Rahmenprüfungsordnung vorliegt oder die geltende Rahmenprüfungsordnung überholt ist“, unterliegen einer obligatorischen Akkreditierung. Diese Regelung steht unter einem Erweiterungsvorbehalt, der durch die KMK zu realisieren ist.3 Nach Ziff. I. 1. Abs. 3 letzter Satz des Statuts kann mit der Akkreditierung die Feststellung verbunden werden kann, dass ein Hochschulabschluss den Zugang zum höheren öffentlichen Dienst eröffnet.

VIII. Die Verantwortung für die Funktionsfähigkeit der dezentral organisierten Akkreditierung in Deutschland liegt nach dem Statut beim Akkreditierungsrat. Er nimmt sie gem. Ziff. II. 4. Abs. 1 des Statuts u.a. durch Akkreditierung von Agenturen mit der zeitlich befristeten Verleihung der Berechtigung, Studiengänge durch Verleihung des Siegels des Akkreditierungsrates zu akkreditieren, durch Überwachung der Aufgabenerfüllung durch die Agenturen und periodische Reakkreditierung der Agenturen sowie durch Definition der Anforderungen für das Akkreditierungsverfahren einschließlich der Akkreditierungsentscheidung wahr. Zwar dient die Akkreditierung in Deutschland entsprechend § 9 HRG dazu, die „Gleichwertigkeit einander entsprechender Studien- und Prüfungsleistungen sowie Studienabschlüsse“ zu gewährleisten, es wird jedoch in Ziff. I. 1. Abs. 1 letzter Satz des Statuts betont, dass die Akkreditierung nicht die „primäre staatliche Verantwortung für die Einrichtung von Studiengängen“ ersetzt. Diese wird ___________ 3 Durch Beschluss vom 16.12.2004 hat die KMK Bacherlor-Studiengänge an Berufsakademien in das System einbezogen.

Rechtliche Aspekte der Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland

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durchweg auch weiterhin durch das Erfordernis der Genehmigung von Studiengängen realisiert, die allerdings in aller Regel vom Vorliegen der Akkreditierung abhängig gemacht wird oder mit der Verpflichtung dazu verbunden wird.4 Durch Ziff. II. 5. Abs. 1 Ziff. 2 des Statuts wird die Zahl der Länder-vertreter gegenüber der ursprünglich vorgesehenen Zahl verdoppelt. Nunmehr sind 4 von 17 Mitgliedern des Akkreditierungsrates Vertreter der Länder. Darüber hinaus muss einer der 5 Vertreter der Berufspraxis ein Vertreter der für das Dienstund Tarifrecht zuständigen Landesministerien sein, der gemäß Ziff. II. 5. Abs. 2 des Statuts durch die KMK im Einvernehmen mit der Innenministerkonferenz benannt wird. Die Mitglieder des Akkreditierungsrates werden von der Präsidentin/dem Präsidenten der KMK und der HRK als Vertretung der die Akkreditierung legitimierenden Länder und Hochschulen gemeinsam für 4 Jahre berufen. Abweichend von der früheren Regelung können nach Ziff. II. 7. Abs. 2 des neuen Organisationsstatuts „Vorgaben, die der Akkreditierungsrat für die Begutachtung von Studiengängen durch die Agenturen festlegt und mit denen die von der Kultusministerkonferenz beschlossenen Strukturvorgaben in das Akkreditierungsverfahren eingebracht werden“, nicht gegen die Stimmen der Ländervertreter verabschiedet werden. Auch wenn man davon ausgeht, dass hier das Veto nur durch ein einheitliches Votum der Länderbank geltend gemacht werden kann, so hat damit doch eine Verlagerung des Stimmengewichts im Akkreditierungsrat stattgefunden, der übrigens bisher in aller Regel einstimmig entschieden hat.

IX. In Ziff. III. 11. des Statuts ist festgelegt, dass soweit im Akkreditierungsverfahren festgestellt werden soll, dass ein Hochschulabschluss die Bildungsvoraussetzungen für den höheren Dienst erfüllt, ein Vertreter, der für die Laufbahngestaltung zuständigen obersten Dienstbehörde des Landes in dem die jeweilige Hochschule gelegen ist, als Vertreter der Berufspraxis am Akkreditierungsverfahren zu beteiligen ist. Die dahingehende Feststellung bedarf eines einheitlichen Votums der Vertreter der Berufspraxis, womit dem Vertreter der obersten Dienstbehörde im Ergebnis ein Veto eingeräumt ist. Durch Beschlüsse vom 24.5.2002 und 6.6.2002 haben Kultusminister- und Innenministerkonferenz sich darauf verständigt, dass für die Feststellung, ob die Bildungsvoraussetzungen von an Fachhochschulen erworbenen Masterstudienabschlüssen den Zugang zum höheren Dienst eröffnen, besondere Regelungen gelten. Dabei geht ___________ 4 In einigen Ländern ist an die Stelle der Genehmigung eine Zielvereinbarung getreten, die eine Akkreditierung verlangt.

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es um die Festlegung von Kriterien, die „auf Inhalt, Studienumfang und Prüfungsanforderungen sowie den vorhergehenden Studienabschluss“ abstellen.

X. Das Akkreditierungssystem für Studiengänge an Hochschulen in Deutschland erfreut sich nicht eben der Aufmerksamkeit der Rechtswissenschaft; vielmehr führt die Literaturrecherche in die Leere und Rechtsprechung zur Akkreditierung von Studiengängen gibt es bisher nicht. Während die Akkreditierung in den Niederlanden, Österreich, der Schweiz und Spanien durch Gesetz eingeführt und in ihren Eckdaten definiert wurde, gründet das Akkreditierungssystem in Deutschland auf Beschlüssen der KMK. Die KMK – wie auch die HRK – ist eine nichtrechts- und pflichtenfähige und damit auch nicht rechtsetzungsfähige Organisation. Die rechtliche Qualität und Belastbarkeit der Grundlage des Akkreditierungssystems lässt sich dadurch vergegenwärtigen, dass es sich weder um eine Verwaltungsvereinbarung noch um einen Staatsvertrag handelt.

XI. Während in Deutschland – mit Ausnahme der Zentralen Evaluations- und Akkreditierungsagentur Hannover (ZEvA) – die Akkreditierungsagenturen von gemeinnützigen rechtsfähigen Organisationen des Privatrechts getragen werden, die ihnen Rechtssubjektivität und Handlungsfähigkeit vermitteln, bleibt die Erscheinung des Akkreditierungsrates auch nach Erlass des Statuts vom 24.5./19.9.2002 rechtlich undefiniert, angesiedelt in der Grauzone des Öffentlichen. Die Akkreditierung einer Agentur erfolgt in einem vom Akkreditierungsrat bis ins einzelne festgelegten transparentem Verfahren, das allerdings nicht für sich in Anspruch nehmen kann, rechtlich geregelt zu sein. Das – von den Agenturen – bei der Akkreditierung von Studiengängen verliehene Gütesiegel des Akkreditierungsrates bündelt und codiert die Qualitätsaussage eines verselbständigten, aber nicht rechtsfähigen Teilsystems, welches staatliche und gesellschaftliche Komponenten zu systemimmanenter Maßstabsbildung vereint. Dementsprechend ist diese auf der Grundlage und nach Maßgabe des Statuts vom 24.5./19.9.2002 erfolgende Akkreditierung von Agenturen durch den Akkreditierungsrat zwar ein öffentlicher Akt aber kein Rechtsakt. Neben der Akkreditierung von Agenturen ist es Aufgabe des Akkreditierungsrates, die Aufgabenerfüllung durch sie zu überwachen und einen fairen Wettbewerb unter ihnen zu gewährleisten. Es liegt hier ein Konzept vor, welches den Akkreditierungsrat in die Pflicht nimmt, das dezentral eingerichtete Gesamtsystem der Akkreditierung von Studiengängen durch den Erlass von Vor- und Maßgaben zu steuern, das regelgerechte Verhalten der Agenturen zu

Rechtliche Aspekte der Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland

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beaufsichtigen und den Wettbewerb zu regulieren. Dieses Konzept wurde bisher jedenfalls weitgehend umgesetzt, weil die Agenturen sich im Akkreditierungsverfahren verpflichtet haben, die Vorgaben des Akkreditierungsrates umzusetzen. Es liegt hier eine Form „konsensualen Bewirkens“5, ein das Soft Law kennzeichnender Befund und damit insgesamt ein höchst labiles System vor. Im „Ernstfall“ fehlt es dem nach Maßgabe des Statuts agierenden Akkreditierungsrat an einer tragfähigen Rechtsgrundlage, um Fehlverhalten und -entscheidungen der Agenturen zu begegnen und etwa Sanktionen zu verhängen. Die Agenturen werden mit Ausnahme der ZEvA von rechtsfähigen Organisationen des Privatrechts getragen, denen gem. Art. 19 Abs. 3 GG Grundrechtsfähigkeit zukommt. Auch wenn der Durchführung von Studiengangsakkreditierungen nach den Vorgaben des Akkreditierungsrates nicht auf Gewinnerzielung gerichtet sein darf und damit das Grundrecht der Berufsfreiheit nicht einschlägig ist, unterliegt sie zumindest dem grundrechtlichen Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG. Akkreditierung und Reakkreditierung sind also grundrechtsrelevante Vorgänge, die angesichts der Herleitung dieser Maßnahmen über das von den Kultusministern der Länder verabschiedete Organisationsstatut dem Staat zurechenbar sind und die daher einer gesetzlichen Grundlage bedürfen.

XII. Die Agenturen schließen im Rahmen ihrer Rechtssubjektivität privatrechtliche Verträge mit den Hochschulen, in Einzelfällen auch für die Fälle der Reakkreditierung und damit über ihre eigene Akkreditierung durch den Akkreditierungsrat hinaus. Sie können ihre Rechtsbeziehungen zu den Hochschulen nach Maßgabe allgemeiner Geschäftsbedingungen aber auch jeweils individuell gestalten. Sie können auch über die Reichweite der Akkreditierung durch den Akkreditierungsrat hinaus die Qualität von Studiengängen und Institutionen zertifizieren, sie dürfen insoweit allerdings nicht das Siegel des Akkreditierungsrats vergeben. Die Agenturen unterliegen in Organisation und Verfahren den Regeln des privatrechtlichen Organisationsrechts, die im Kollisionsfall Vorrang gegenüber dem Regelwerk des Akkreditierungsrates haben. Für Fehlverhalten im Zusammenhang des Vertrages haftet die Organisation.

___________ 5 Vgl. Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, 3 / 43 und 1 / 40 ff.

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XIII. Auch wenn die Agenturen im Rahmen ihrer Akkreditierung durch den Akkreditierungsrat das Siegel des Akkreditierungsrates verleihen, sind sie weder Beliehene6, d.h. zum Erlass hoheitlicher Akte befugt, da eine Beleihung nur auf gesetzlicher Grundlage zulässig ist, noch wird man sie als Verwaltungshelfer7 ansehen können, da ein Träger öffentlicher Verwaltung fehlt, dem ihr Handeln unmittelbar zugerechnet werden kann. Andererseits gewinnt die Akkreditierung durch Verleihung des Siegels des Akkreditierungsrates dadurch Bedeutung, dass sie in manchen Ländern der Bundesrepublik Deutschland durch Gesetz zur Voraussetzung für die staatliche Genehmigung von Studiengängen gemacht worden ist oder werden wird. Insoweit entfaltet die Verleihung des Siegels des Akkreditierungsrates Tatbestandswirkung8.

XIV. Insgesamt hat sich damit das Akkreditierungssystem in Deutschland unter rechtlichem Aspekt als hochgradig unbefriedigend und einer rechtlichen Grundlegung bedürftig erwiesen. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer rechtlichen Konstituierung des Gesamtsystems hat sich allerdings nur sehr langsam entwickelt. Dabei hatte schon der im Sept. 2001 vorgelegte Bericht einer internationalen Expertengruppe über die Evaluation des Akkreditierungsrates darauf hingewiesen, dass es notwendig sei, Existenz und Handeln des Akkreditierungsrates rechtlich zu verfassen. Die sich seit Ende 2003 intensivierende Diskussion hat schließlich dazu geführt, dass die Kultusministerkonferenz sich im Oktober 2004 im Einvernehmen mit der HRK und dem Akkreditierungsrat auf „Eckpunkte für die Weiterentwicklung der Akkreditierung in Deutschland“ verständigt hat. In ihnen ist vorgesehen, dass das Land NRW durch Gesetz eine Stiftung des öffentlichen Rechts errichtet und dass dergestalt dem Akkreditierungsrat ein rechtlicher Rahmen und eine rechtliche Grundlage für die Wahrnehmung seiner Aufgaben gegeben werden.

XV. In den Eckpunkten heißt es: „Eine erfolgreiche Qualitätsentwicklung mittels eines länder- und hochschulübergreifenden Systems der Akkreditierung setzt ___________ 6 Vgl. dazu Erichsen, in: Erichsen/Ehlers, Allg. VerwR 12. Auflage 2002, § 12 Rn. 18 und Burgi,ebendort, § 54 Rn. 23 ff. 7 Vgl. dazu Burgi, in: Erichsen/Ehlers, (Fn. 6) § 54 Rn. 31 ff. 8 Vgl. Erichsen, in: Erichsen/Ehlers, (Fn. 6) § 13 Rn. 4.

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voraus, dass einerseits die weitgehend staatlich, d.h. durch die Ländergemeinschaft zu verantwortenden Belange des Gesamtsystems Berücksichtigung finden und anderseits die Akkreditierung nach verlässlichen, transparenten Standards und Verfahren durchgeführt wird. Aufgabe des Akkreditierungsrates ist es, dafür Sorge zu tragen, dass beiden Prinzipien im System der Akkreditierung Rechnung getragen wird ... Dem Akkreditierungsrat kommt somit sowohl bei der Einführung des neuen, gestuften Studiensystems und der Qualitätsentwicklung über Akkreditierung als auch bei deren Weiterentwicklung eine Schlüsselqualifikation zu.“

XVI. Im Einzelnen sieht das auf der Grundlage der „Eckpunkte für die Weiterentwicklung der Akkreditierung in Deutschland“ und mit Zustimmung der übrigen Länder konzipierte und am 1.2.2005 in Kraft getretene Gesetz des Landes NRW vor, dass eine öffentlich-rechtliche „Stiftung zur Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland“9 errichtet wird. Dieser Stiftung obliegen folgende Aufgaben: – Akkreditierung und Reakkreditierung von Akkreditierungsagenturen (Agenturen) durch eine zeitlich befristete Verleihung der Berechtigung, Studiengänge durch Verleihung des Siegels der Stiftung zu akkreditieren, – Zusammenfassung der ländergemeinsamen und landesspezifischen Strukturvorgaben zu verbindlichen Vorgaben für die Agenturen, – Regelung von Mindestvoraussetzungen für Akkreditierungsverfahren einschließlich der Voraussetzungen und Grenzen von gebündelten Akkreditierungen, – Überwachung der Akkreditierungen, welche durch die Agenturen erfolgen. Darüber hinaus hat die Stiftung folgende Aufgaben: – Sie wirkt darauf hin, einen fairen Wettbewerb unter den Agenturen zu gewährleisten. – Sie legt unter Berücksichtigung der Entwicklung in Europa die Voraussetzungen für die Anerkennung von Akkreditierungen durch ausländische Einrichtungen fest. – Sie fördert die internationale Zusammenarbeit im Bereich der Akkreditierung und der Qualitätssicherung.

___________ 9

GV NRW 2005, S. 45.

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– Sie berichtet den Ländern regelmäßig über die Entwicklung bei der Umstellung des Studiensystems auf die gestufte Studienstruktur und über die Qualitätsentwicklung im Rahmen der Akkreditierung. Das Gesetz wird um eine von den Ländern abgeschlossene Verwaltungsvereinbarung ergänzt, in der die bisher vom Akkreditierungsrat wahrgenommenen Aufgaben auf die Stiftung „Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland“ übertragen werden. Für die durch Beschluss der Kultusministerkonferenz festgelegten Studien- und Ausbildungsgänge übertragen die Länder die Wahrnehmung der Aufgaben der Kultusministerkonferenz nach § 9 Abs. 2 HRG vorbehaltlich einer Rücknahme auf die Stiftung. Mit dem In-Kraft-Treten des Gesetzes des Landes NRW und der Verwaltungsvereinbarung der Länder wird das bisherige Statut für ein länder- und hochschulübergreifendes Akkreditierungsverfahren außer Kraft gesetzt.

XVII. Die Einräumung der Berechtigung, Studiengänge durch Verleihung des Siegels des Akkreditierungsrates zu akkreditieren, erfolgt gemäß § 3 des Gesetzes durch Vertrag zwischen der Stiftung und den Agenturen. Gegenstand der Vereinbarungen sind insbesondere – die Berücksichtigung der ländergemeinsamen und landesspezifischen Strukturvorgaben für die Akkreditierungsverfahren durch die Agentur bei der Akkreditierung, – die Einhaltung der Mindestanforderungen für die Akkreditierungsverfahren, – Vergaben für die interne Organisation der Agentur, – Berichtspflichten der Agentur gegenüber der Stiftung, – die Verpflichtung der Agentur, die Berichte über die Akkreditierungen und die Namen der beteiligten Gutachterinnen und Gutachter zu veröffentlichen, – regelmäßige Information der Agentur durch den Akkreditierungsrat, – die Voraussetzungen für die Reakkreditierung der Agentur, – die Einbeziehung der Agentur in die Arbeit der Stiftung, beispielsweise durch die Anhörung der Agentur zu grundlegenden Fragen der Ausgestaltung der Akkreditierungsverfahren, – die Verteilung der Wahrnehmung internationaler Aufgaben durch die Stiftung und die Agentur nach Maßgabe ihrer jeweiligen Aufgaben, – die Verpflichtung der Agentur auf das Prinzip der Lauterkeit im Umgang mit dem Siegel der Stiftung,

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– die Voraussetzungen, unter denen die Agentur die von ihr erfolgte Akkreditierung eines Studienganges entzieht, – die Folgen der Nicht- oder Schlechterfüllung der Vereinbarung. Die Stiftung wird damit die ihr obliegenden Aufgaben der Steuerung und Kontrolle in dem zweistufigen Akkreditierungssystem der Bundesrepublik durch ein „contract government“ zu realisieren haben. Angesichts der Monopolstellung der Stiftung ist davon auszugehen, dass die Verträge mit den Agenturen wesentlich den gleichen Inhalt haben und nur im Hinblick auf Auflagen und Empfehlungen unterschiedlich sein werden.

XVIII. Sitz der Stiftung ist Bonn. Ihre Organe sind: der Akkreditierungsrat, der Vorstand und der Stiftungsrat. Der Akkreditierungsrat ist – wie schon vorher – das zentrale Organ. Seine Zusammensetzung und die Berufung seiner Mitglieder ändert sich gegenüber der im Statut enthaltenen Regelung nur insoweit, als ihm künftig eine/ein von ihnen gewählte/er Vertreterin/Vertreter der Agenturen mit beratender Stimme angehört. Die Mitglieder werden auch weiterhin ehrenamtlich tätig; sie können bei Vorliegen eines wichtigen Grundes vom Stiftungsrat abberufen werden. Der Akkreditierungsrat beschließt mit der Mehrheit seiner Mitglieder über alle Angelegenheiten der Stiftung. Insbesondere trifft er die Entscheidung über Akkreditierung und Reakkreditierung von Agenturen. Das Gesetz sieht vor, dass die Akkreditierung und die Reakkreditierung mit einer „Bedingung oder einem Vorbehalt des Widerrufs erlassen oder mit einer Auflage oder dem Vorbehalt einer nachträglichen Aufnahme, Änderung oder Ergänzung einer Auflage verbunden werden können“. Die Formulierungen orientieren sich an den Regelungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes zu den Nebenbestimmungen des Verwaltungsakts. Sie lassen deutlich werden, dass es bei dem Akkreditierungsvertrag um einen subordinationsrechtlichen verwaltungsrechtlichen Vertrag geht10, für den auch die darauf bezogenen besonderen Regelungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes gelten. Die laufenden Geschäfte der Stiftung gelten als auf den Vorstand übertragen, soweit nicht der Akkreditierungsrat sich für einen bestimmten Kreis von Geschäften oder für einen Einzelfall die Entscheidung vorbehält.

___________ 10

Vgl. Erichsen, in: Erichsen/Ehlers, (Fn. 6) § 23 Rn. 2.

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XIX. Der Vorstand führt die Beschlüsse des Akkreditierungsrates aus und führt die laufenden Geschäfte der Stiftung; im Übrigen werden die Befugnisse des Vorstands durch eine Satzung bestimmt. Die oder der Vorsitzende des Vorstands vertritt die Stiftung gerichtlich und außergerichtlich und kann sich hierbei im Einzelfall oder für einen Kreis von Geschäften vertreten lassen. Dem Vorstand gehören als Vorsitz die oder der Vorsitzende des Akkreditierungsrates, sowie die oder der stellvertretende Vorsitzende des Akkreditierungsrates, die Geschäftsführerin oder der Geschäftsführer der Stiftung an.

XX. Der Stiftungsrat überwacht die Rechtmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Führung der Stiftungsgeschäfte durch den Akkreditierungsrat und den Vorstand. Ihm gehören sechs Vertreterinnen oder Vertreter der Länder und fünf Vertreterinnen oder Vertreter der Hochschulrektorenkonferenz an.

XXI. Zur Erfüllung des Stiftungszwecks erhält die Stiftung einen jährlichen Zuschuss der Länder nach Maßgabe der jeweiligen Landeshaushaltsgesetze. Sie ist berechtigt, Zuwendungen von dritter Seite anzunehmen und ist damit projektfähig. Eine im Verhältnis zur bisherigen Lage wichtige Neuerung ist, dass die Stiftung zur Deckung ihres Verwaltungsaufwandes nach näherer Bestimmung einer von ihr zu erlassenden Satzung Gebühren für die Akkreditierung und Reakkreditierung von Agenturen sowie für die Überwachung der Studiengangsakkreditierungen durch die Agenturen erheben kann. Die Stiftung gibt sich – wie schon angesprochen – eine Satzung, die vom Stiftungsrat mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder beschlossen wird und die der Genehmigung des Ministeriums für Wissenschaft und Forschung bedarf. In der Satzung sind u.a. die Voraussetzungen zu regeln, unter denen eine Akkreditierung oder eine Reakkreditierung entzogen werden kann.

XXII. Das Stiftungsgesetz und die Verwaltungsvereinbarung der Länder haben zu einer Verrechtlichung und dadurch sowie auch durch die Festlegung der im Verhältnis Akkreditierungsrat und Agenturen bestehenden Aufgaben, Befugnis-

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se und Verpflichtungen zu einer Stabilisierung des länderübergreifenden Gesamtsystems und zu einer nachhaltigen Sicherung der Stellung des Akkreditierungsrats geführt. Es sind allerdings viele Fragen entstanden, deren Beantwortung für die künftige Funktionsfähigkeit des Systems und die Durchführung von Akkreditierungsverfahren von Bedeutung sind. Durch die durch Vertrag erfolgende Akkreditierung von Agenturen überträgt die Stiftung die ihr von den Ländern übertragene Befugnis zur Wahrnehmung staatlicher Qualitätsverantwortung auf die Agenturen. Das ist nur möglich, wenn und soweit den Agenturen Rechtssubjektivität zukommt, was bisher bei der ZEvA nicht der Fall ist. Die Frage ist, ob die Agenturen durch die durch den Akkreditierungsrat erfolgende Akkreditierung zu Beliehenen werden.11 Die durch die Agenturen im Rahmen der Beleihung erfolgende Akkreditierung von Studiengängen könnte dann in der Form des Verwaltungsaktes oder eines verwaltungsrechtlichen Vertrages stattfinden mit der Folge, dass das einschlägige Verwaltungsverfahrensgesetz Anwendung findet. Die Annahme einer Beleihung setzt allerdings voraus, dass durch ein Gesetz des Landes Nordrhein-Westfalen einem von ihm konstituierten Träger öffentlicher Verwaltung die Rechtsmacht zu Ländergrenzen übergreifender Beleihung übertragen werden kann. Angesichts der Geltung des institutionellen Gesetzesvorbehalts für die Beleihung und der Beschränkung der Geltung von Ländergesetzen auf den Bereich eines Landes könnte dies für die in NRW ansässigen Agenturen wie Aquas und ASIIN für die Akkreditierung von Studiengängen nordrhein-westfälischer Hochschulen in Betracht zu ziehen sein. Da indes im Übrigen die Übertragung der Aufgabenwahrnehmung durch Verwaltungsvereinbarung der Länder erfolgt ist, fehlt es insoweit an einer gesetzlichen Grundlage für eine auch in anderen Ländern wirksame Beleihung. Die Akkreditierung von Agenturen durch die Stiftung ist also künftig ein Rechtsakt, wenn auch kein Verwaltungsakt. Sie erfolgt im Rahmen einer zumindest auch der Wahrnehmung staatlicher Qualitätsverantwortung dienenden vertraglichen Regelung.12 Diese wird dem öffentlichen Recht zuzuordnen und damit als verwaltungsrechtlicher Vertrag einzuordnen sein.13 Streitigkeiten über die Gültigkeit und Rechtsfolgen der Akkreditierung von Agenturen durch die Stiftung gehören damit vor die allgemeinen Verwaltungsgerichte.

___________ 11 Vgl. dazu Burgi, in: Erichsen/Ehlers, (Fn. 6) § 54 Rn. 23 ff. Die sich daraus ergebenen Konsequenzen werden im Einzelnen zu bedenken sein. 12 Zur Aufgabenprivatisierung vgl. Burgi, in: Erichsen/Ehlers, (Fn. 6) § 54 III 3, 4. 13 Vgl. Erichsen, in: Erichsen/Ehlers, (Fn. 6) § 24 II.

Rechtsvergleichung als Kulturvermittlung Von Bernhard Großfeld

I. Hürden Rechtsvergleicher sind Brückenbauer zwischen Rechtskulturen. Da aber das Rechtsstudium in Deutschland fast ganz auf das positive Recht beschränkt ist, kommen junge deutsche Juristen nicht leicht an die „Grenze“ des nationalen Rechts und darüber hinaus. Man braucht eine besondere Anregung, die aus dem Elternhaus kommen kann (z.B. aus einem Gasthof und dessen Gästen an der niederländischen Grenze in Deutschland) oder von Lehrern und Partnern. Aber selbst bei viel gutem Willen und fördernden Vorbildern bleiben Hürden zwischen Rechtkulturen. Sie sind schon im Verhältnis Deutschland – Niederlande größer als sich die meisten vorstellen; sie werden zu Gebirgen zwischen Europa und Ost Asien. Aber gerade über diese Gebirge und Entfernungen hinweg muss sich die Rechtsvergleichung in einem globalen Umfeld bewähren. Denn sie soll uns auch helfen bei der Frage, wie wir kulturfremdes Recht erkennen können.1 Das bedarf der Zusammenarbeit von beiden Seiten her.

II. Anreger Mir halfen beim „Bergsteigen“ japanische Freunde; sie begegneten mir anfangs über das Wirtschafts- und Unternehmensrecht, begleiteten mich dann in die Rechtsvergleichung. Das öffnete mir über Japan hinaus einen Zugang zur ostasiatischen „Ordnungsfamilie“ (wie ich es ganz vorsichtig nennen möchte). Koresuke Yamauchi wurde mein ständiger Lehrer, Partner und Freund auf diesem „Feld“. Vermittelt durch Kinya Kubo und Hideaki Seki erscloss sich mir ein weiterer Zugang zu japanischen Gelehrten, deren Werke meine Arbeit prägten. Tetsuro Watsujis Buch „A Climate“2 zeigte, wie stark Rechtskulturen geprägt sind durch unterschiedliche Klimata. Man braucht nur zu denken an die Bauordnungen von ___________ 1 2

Hagen Henry, Kulturfremdes Recht erkennen, Helsinki 2004. 1961.

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Hamburg und Neapel, an das Wasserrecht in England oder in Arizona – und die Unterschiede werden klar. Eduard Wahl hat dem Buch einen Aufsatz gewidmet: „Klimatische Einflüsse auf die Entwicklung des Rechts in Ost und West“.3 Yosijutsi Noda lenkte sodann in seinem Werk „Introduction to Japanese Law“4 das Interesse auf die Nähe von Sprachstruktur und Recht. Er suchte darin trotz aller Verschiedenheiten „l’ esprit commune de l’humanité“, wie er mir 1985 schrieb. Yasuhiro Kojima zeigte mir die Begegnung von griechischer mit buddhistischer Kunst auf der Seidenstraße an einem Buddhakopf im Museum von Niigata. Kigoshi Igarashi5 bestätigte die Annahme, dass die chinesische Schrift wesentlich ist für die Bestimmung des ostasiatischen Rechtskreises; Koresuke Yamauchi erschloss uns den Einfluss des chinesischen Ordnungsmusters6 und des Konfuzianismus7 auf das japanische Recht.

III. Bestätigung All diese Hinweise bestätigten sich bei verschiedenen Besuchen in Japan.

1. Geographie Kommt man nach Japan, fallen auf die Insellage und die andere Struktur der Städte (eher Häuseransammlungen) ohne herausgehobene Mitte (wie in Deutschland oft durch eine Kirche). „Die Kirche im Dorf lassen“ besagt in Japan nichts. Stadtbilder spiegeln Gottesbilder. Eine Fahrt mit dem Shinkansen von Tokio nach Kyoto durch nicht endende Bebauung lässt die Bevölkerungsdichte erleben, weist hin auf die geringe Chance, sozial „auszuweichen“. Die übliche Angabe für ein Land „Einwohner per Quadratkilometer“ gibt die enge Besiedlung nicht anschaulich wieder! Das hochgebirgige Innere der japanischen Inseln ist unbewohnt; fast alle drängen sich an der Küste. Japan wendet sich zum Pazifik hin, der eine wichtige „Nahrungsfläche“ ist. Die Erdbebengefahr erschreckte uns gleich anfangs, als wir ein Erdbeben mit der Stärke 5,6 auf der Richterskala erlebten, später kam hinzu ein heftiger Vul___________ 3

FS Möhring, München 1975, S. 1. Tokio 1976. 5 Kigoshi Igarashi, Gibt es einen ostasiatischen Rechtskreis?, in: Festschrift Knut Noerr, Köln 2003, S. 419, 430. 6 Koresuke Yamauchi, Die Rezeption ausländischen Rechts in Japan – Beispiele aus dem Wirtschafts- und dem Familienrecht, Verfassung und Recht in Übersee 36 (2003) 492. 7 Koresuke Yamauchi, Was ist japanisches Recht?, in: FS Helmut Kollhosser, Karlsruhe 2004, S. 799. 4

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kanausbruch bei Kagoshima, vor dem wir unter eine Schutzhütte flüchteten. Taifune sind vor allem im September zu fürchten. Erde und Himmel erscheinen weniger sicher und beständig als bei uns; Stabilität über längere Zeit ist nicht zu erwarten. Die Zeitvorstellungen sind daher anders, was sogleich in das Verständnis des Vertrages „überspringt“: Verträge sind angelegt auf flexible Anpassung an wechselnde Umstände.

2. Ordnung Die japanische Sprache enthält weniger abstrakte Ausdrücke als die deutsche. Bildhaftes Denken ist wichtig.8 Nach einem Vortrag vor der Fakultät folgt die Diskussion einer Rangordnung gemäß dem Lebensalter. Rituale bei Begrüßungen, bei Sprache und Schrift werden deutlich. Je nach den Umständen kann oder muss man anders sprechen oder schreiben. Der Gebrauch dreier Namenssiegel ist eine Wissenschaft für sich (die Status verleiht). Reiswein (namentlich bei abendlichen Treffen) kann das Ritual zeitweise aufbrechen. Angesichts der drei japanischen Schrift(en) ist der Europäer Analphabet; zwei Religionen in einer Person (Shintoismus, Buddhismus) verwirren ihn. Hochzeitsgäste werden von den Brautleuten beschenkt. Zehn Geschenkanlässe regeln das Leben zwischen Nachbarn („Nächsten“liebe?). Man kritisiert, in dem man zu einem gebotenen Anlass nicht schenkt; nur beim Tod des Nachbarn und beim Abbrennen seines Hauses darf man mit dem Geschenk nicht fehlen. Die Seidenstraße9 begegnet in persischen Löwen auf japanischen Textilien (in Japan gab es keine Löwen) und in der erwähnten Buddhastatue im Museum von Niigata (oben II.); sie verrät klar griechische Einflüsse.

3. Recht Die Stellung und Auslegung des vom Westen übernommenen Rechts (z. T. übersetzt mit Sanskrit Wörter aus buddhistischen Texten) bleibt dem westlichen Besucher unklar. Allerdings sehen wir, wie mit der Globalisierung amerikanische und englische Anwaltsfirmen in Japan Fuß fassen.10 Das Individuum ist in Japan nicht so zentral wie bei uns, was manches verändert.11 Die „Gruppenori___________ 8 Bernhard Großfeld, Bildhaftes Rechtsdenken, Opladen/Wiesbaden 1995; Georg Lakoff/Mark Johnson, Metaphors We Live By, Chicago/London 1980. 9 Bernhard Großfeld, Neue Seidenstraße, ZVglRWiss 103 (2004) erscheint demnächst; Susan Whitfield (ed.), The Silk Road, London 2003; Michael Yamashita, Marco Polo. Eine wundersame Reise, München 2003. 10 Martin Fackler/Ichiko Fuyuno, Foreign Law Firms Spur Change in Japan’s Ways, The Wall Street J. Europe, Sept. 17-19, 2004, p. A3. 11 Ai-Ex Chen, Konfuzianismus kennt kein Individuum, in: Georg Nolte/Hans Ludwig Schreiber (Hrsg.), Der Mensch und seine Rechte, Göttingen 2004.

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entierung“ zeigt sich beim Photographieren vor jedem Tempel oder Schrein: Schüler eilen herbei, um auf das gemeinsame Foto zu gelangen. Die Unterschiede werden unterschätzt, wenn man leichthin sagt, dass Japan gegen Ende des 19. Jahrhunderts weite Teile des deutschen Bürgerlichen Rechts und des Handelsrecht „übernommen“ habe. Inzwischen ist daraus eigenständig Japanisches geworden. Diese wenigen Bemerkungen sollen indes nicht eine Diskussion über Japan einleiten; sie sollen nur eine Plattform bilden für ein rechtsvergleichendes Gespräch mit japanischen Kollegen über China. Wie sehen wir dieses Land, das wieder unser aller Schicksal wird? Damit möchte ich zugleich anknüpfen an einen ähnlichen Versuch, den ich mit Yangfen Wang machte. Gemeinsam schrieben wir „Das Europäische Recht aus der Sicht Chinas“12. Diesmal wollen wir China aus unserer Sicht erkennen und uns darüber austauschen.

IV. China 1. Seidenstraße13 Der Test für die Rechtsvergleichung ist gegenwärtig China, die Weltmacht im Aufbruch.14 China erscheint namentlich uns Europäern (aber – vielleicht etwas weniger – auch Japanern?) als undurchdringlich, gilt als von „Geheimgesellschaften“ durchsetzt. Gewiss, wir durchschauen China nicht; ich konnte bei verschiedenen Aufenthalten allenfalls in Einzelfällen schattenhaft erkennen, wie das mir Sichtbare „hinter dem Teppich“ ge- und verknüpft ist. Das ist aber kein Grund aufzugeben: Etwas ist besser als gar nichts. China hatte nach der Revolution von 1911 (Ende der Kaiserherrschaft) teilweise deutsches Recht übernommen. Der Führer der Revolution Sun Yatsen (1866–1925) hatte in Göttingen Medizin studiert. Die „Zeichenwanderung“ über die Seidenstraßen (namentlich in der Astronomie und der Mathematik) erweist, dass seit mehr als drei Jahrtausenden kulturelle Begegnung und Austausch möglich waren. So wanderte das Rechenbrett (der Abakus) von West nach Ost, wobei sich die Basiszahl von der mittelmeerischen „Leitzahl“ vier nach der chinesischen „Leitzahl“ fünf wandelte (die Zahl der Perlen im unteren Bereich). Die Mathematik der Fünf und die Fünfteilung des Kreises (das Pentagon, das Pentagram = Drudenfuß = Salomons Siegel) liefen von Ost nach West (vgl. unten 7. c)). ___________ 12

ZVglRWiss 94 (1995) 292 = Bernhard Großfeld, Zauber des Rechts, Tübingen 1999, S. 101. 13 Bernhard Großfeld, Neue Seidenstraße, ZVerglRWiss 103 (2004). 14 Zu den allgemeinen Grundlagen Bernhard Großfeld, Rechtsvergleichung, Wiesbaden 2001.

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Wahrscheinlich kommen unsere Rechnungslegung und die doppelte Buchführung (binäres Prinzip: Soll und Haben) von China. Unser binäres Zahlensystem, wie wir es in Computern nutzen (0,1/10,11/100, 101, 110, 111/ 1000 = 01/2,3/4,5, 6, 7/ 8) stammt ebenfalls von dort. Der Jurist Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) entwickelt es, nachdem Jesuiten am kaiserlichen Hof in Beijing ihm darüber geschrieben hatten. Es liegt daher nahe, die Seidenstraßen rechtsvergleichend zu „beleben“ – und sich von keinem „Exotismus“ einschüchtern zu lassen. In der Tat hielt man eine Rechtsvergleichung mit China lange Zeit für unmöglich. Sie gelingt aber doch! 2. Bevölkerungsdichte Kommt man am Mondfeiertag im Herbst auf dem Flughafen in Beijing an, so „bedrückt“ die Menschenmenge in den städtischen Ballungszentren. Ähnlich wirkt die Fahrt in einem der langen, modernen Schlafwagenzüge: Ströme von Menschen bewegen sich durch die Gänge und Warteräume der Bahnhöfe. Bevölkerungsdichte, Bevölkerungsdichte! Hinzu tritt eine Flut chinesischer Zeichen, die dem Europäer anfangs keinen Zugang gewähren. Lassen sie sich ebenso „syllogisch“ auslegen, wie es uns die herrschenden Meinung in Deutschland als der Weisheit letzter Schluss in der juristischen Hermeneutik vermitteln will? Wie wirkt sich geschäftlich der gesellschaftliche Fokus auf die Großfamilie aus? Der Wandel zur Marktwirtschaft verhüllt kaum die Rolle der kommunistischen Partei, die in vielen Gesichtern daherkommt: Als Gesetz, als Anordnung, als Gewerkschaft, als Begleiter des „Chauffeurs“ (u. U. ein Vertrauter des Universitätspräsidenten), als Vermittler von „guanxi“ (existentiell wichtige Beziehungen in allen Bereichen). Banken und andere Unternehmen sind von ihr abhängig.15 Chinesische Kollegen deuten „verschlüsselt“ an, dass es geschäftlich vorteilhaft sei, dicht bei der Regierung zu sein (besser spricht man von „Obrigkeit“). Es drängt sich auf: Privatautonomie und Demokratie im europäischen Sinn scheinen vorauszusetzen, dass die Lebensverhältnisse durchsichtig und übersichtlich sind. Daran fehlt es in China angesichts der Größe, der geographischen Vielfalt des Landes und der „dichtgepackten“ Menschenmengen. Deshalb kann es keine „at arms’ lenght-Sicht“ geben, sondern nur einen „skin to skin-Ansatz“. Das erinnert an das Nachbarschaftsrecht des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs, in dem manche Regel des eigenen Rechts „zurückgenommen“ ist. Gegen den Nachbarn kann man auf Dauer nicht mit Recht gewinnen. ___________ 15 Joseph J. Norton, Reform of State-Owned Enterprises in the People’s Republic of China, in: Festschrift für Bernhard Großfeld, Heidelberg 1999, S. 809.

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3. Gruppe Die Stellung des Einzelnen, sein „social credit“ („Gesichtswahrung“/„Gesichtsverlust“), beruht in China nicht auf abstrakten Normen, sondern auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, auf ständig gepflegten persönlichen Netzwerken und auf Verwandtschaften. Vor- oder Nachteile für die Gruppe sind das Leitbild des Handelns; einen abstrakten Wahrheitsanspruch gibt es nicht (wer kann schon unabhängig neutral urteilen aufgrund der Wahrheit?). Jahrhunderte alte Familienregister wirken als „Traditionsanker“; der älteste Sohn als Traditionserbe führt sie weiter (oft nach einer Unterbrechung durch Maos „Kulturrevolution“). Umgekehrt lässt das Fehlverhalten eines Einzelnen die engere Gruppe (zumeist die Familie) „das Gesicht verlieren“. Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Du bist nicht reich, wenn Du drei arme Verwandte hast; Du bist nicht arm, wenn Du drei reiche Verwandte hast!“ Daraus folgt eine „Sippenhaftung“ gegenüber Gläubigern. Es bedarf nicht des „Rechts“, um soziale Verlässlichkeit abzusichern. Recht ist daher mehr Mittel obrigkeitlicher Anordnung als privater Begegnung und sozialer Kommunikation. Das chinesische Zeichen „fa“ (etwa: „administratives Recht“) drückt das aus („Das Wasser fließt von oben!“).

4. Rituale Rituale beherrschen das Leben; sie schaffen auf engem Raum Distanz und erhalten – trotz gleicher menschlicher Schwächen – Rangunterschiede (wirkendes Ritual statt des wirkenden Wortes). Im Kaiserpalast in Bejing („Forbidden City“) erfährt man das auf Schritt und Tritt. Rituale ließen den Kaiser als ein Wesen von anderer Art erscheinen, dem demütig zu begegnen war. Aber Rituale werden leicht von Dienern zu Herrschern, können Leben erstarren lassen – wie man auch im Kaiserpalast erkennt. Bilder als Symbole sind ebenfalls überaus bedeutsam: Maos Bad 1966 im Jangtsekiang (dem „Herzen“ Chinas) bei Wuhan wurde das Zeichen für die chinesische Kulturrevolution – daran erinnert dort eine mächtige fünfstöckige Pagode. Schweigen ist wichtiger Teil der Kommunikation: „Dreißig Speichen treffen sich in der Nabe. Da, wo sie nicht sind, ist der Nutzen der Nabe.“16

___________ 16 Der Nutzen des Nichts, ca. 350 v. Chr. Zur Benutzung der Poesie im Recht allgemein: Heinz Holzhauer, Annette von Droste Hülshoff und das Recht, in: Festschrift für Bernhard Großfeld, Heidelberg 1999, S. 423; Bernhard Großfeld, Rechtsdogmatik/Rechtspoetik, Juristenzeitung 2003, 1149.

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5. Sprache17 Die chinesische Sprache unterscheidet sich sehr von der Japanischen. Sie ist eine Tonhöhensprache (vier Tonhöhen geben jeweils eine andere Bedeutung), ist wegen ihrer geringen Silbenzahl relativ ungenau und angelegt auf einen Kontakt von „Angesicht zu Angesicht“ – gemäß der Bevölkerungsdichte. Die Sprache soll und kann zuerst Klima schaffen, aber nicht „bestimmen“:18 „Wahre Worte sind nicht schön, Schöne Worte sind nicht wahr.“ (Entfaltung des Wesentlichen, ca. 350 v. Chr.)

Ihre Musikalität wirkt anders „auf uns ein“. Chinesische Studenten nennen die (amerikanische) Sprache des deutschen Gastprofessors „flach“, doch gegenüber einem Amerikaner stärker rhythmisiert. Man muss dann erklären, dass die Musikalität etwa der deutschen Sprache auf den vielen Vokalen beruht (u. a. ä, ö, ü) und auf der wechselnden Länge der Wörter, bedingt durch Deklinationen und Konjugationen (die im Chinesischen fehlen). Die Musik kommt bei uns stärker vom Rhythmus. Das lässt sich darstellen an Kinderliedern beider Sprachen, die zudem die „Poesie“ der Kulturen vermitteln. So gelangten deutsche (z. B. „Weißt Du wie viel Sternlein stehen?“) und chinesische Kinderlieder in die Vorlesung über Rechtsvergleichung – mit durch„tönendem“ Erfolg!

6. Schrift a) Macht Die „Bestimmung“ obliegt in China der Schrift („Beschriftung“ könnte man analog sagen); sie ist die „Wahrheit Chinas“. In der Schrift erkennt China sich selbst. Sie gibt kulturellen und sozialen Status, lässt klassische Literatur und vor allem Poesie in alles „hineinspielen“ und bewirkt eine eigenartige „Rationalität“. Das zeigt ein Besuch des Examens-Museums in Jiling (zehn Millionen Einwohner, 1.200 km nordöstlich von Beijing in Richtung Wladiwostok). Jiling ist die alte Hauptstadt der nach ihr benannten Provinz in der Mandschurei. Sie ist Ursprung des Hochchinesischen (vgl „mandarin“ = Sprache der Mandschurei; Chinesen ziehen heute „handarin“ vor = Sprache der Han). In der Mandschurei begegnen sich China und Korea; im Nordosten gibt es eine starke koreanische Minderheit. ___________ 17

Claus Luttermann, Dialog der Kulturen, in: Festschrift für Bernhard Großfeld, Heidelberg 1999, S. 771; Otto Sandrock, Die deutsche Sprache und das internationale Recht: Fakten und Konsequenzen, ebd. 971. 18 John DeFrancis, The Chinese Language, Honolulu 1984.

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Jiling war ein wichtiger Handelsort für deutsche und russische Kaufleute, deren Häuser das Flussufer säumen. Jenseits des Flusses ist eine der größten buddhistischen Tempelanlagen. Die neo-gotische katholische Kirche (1900) erinnert an den Stifter, einen Hamburger Kaufmann. „Gleich daneben“ im Mao Tsetung Museum findet sich der größte je gefundene Meteorit. Im Examens-Museum erfährt man den Ablauf, die Fragen und die Antworten im chinesischen Beamtenexamen (Mandarin-Examen). „Mogeln“ wurde mit dem Tode bestraft. Alles dreht sich um die Schriften des Konfuzius (aus dem Gedächtnis!): Aus Schrift in Schrift, nur Schrift! Für die in Jiling Erfolgreichen wiederholte sich das Ganze am Kaiserhof in Beijing. Wenige kamen nach langen Jahren durch und erhielten im Lama Tempel in Beijing eine Gedächtnisstehle. Macht und Grenze von Schrift! Für Konfuzius war China die Welt; er misstraute allem Fremden – und seine Schüler folgten ihm darin. Keiner der großen chinesischen Philosophen hatte Erfahrung mit dem Meer. Die schablonenhafte Erstarrung steigerte sich durch die Herrschaft von ca. 100.000 Eunuchen, die als einzige männliche Wesen außer dem Kaiser Zugang zum Kaiserpalast und den vielen Frauengemächern darin hatten. Sie beherrschten die Rituale und verhinderten politischen Wandel, um ihre Macht zu erhalten: „Verschnittene verschneiden die Gesetze, Von männlichen Erzeugern eingesetzt; Daraus sie haben zugeschnitten Netze, Die stellen sie auf allen Wegen jetzt. Wo ist ein Wild, das man darein nicht hetze? Das schnellste wird langsam zu Tod gehetzt.“19

Gegen solche verkrustete Struktur richtete sich die Revolution von 1911.

b) Universalien Ohne ein elementares Schriftverständnis (Einblick in die 214 [Quersumme 7] strukturbildenden „Radikalen“ als Basis der Schriftzeichen) bleibt China in der Tat „geheim“. Ein für die „Brückenbildung“ hinreichendes Verständnis lässt sich aber erreichen – wenn auch mit Unsicherheit. Dabei hilft trotz der Entwicklung zu Ideogrammen der immer noch spürbare Bildcharakter der chinesischen Schrift (Piktogramme); er lässt „Universalien“ menschlicher Lebenssicht aufschimmern. Mein Freund Josef Hoeltzenbein und ich sind dem im Einzelnen ___________ 19

Shi-King, übertragen von Friedrich Rückert.

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nachgegangen – wobei wir die hebräische Schrift als Vergleichsmuster wählten20.

一二三

Dazu vier Beispiele: Die chinesischen Zeichen für 1, 2, 3 sind , die römischen Zahlzeichen sind dagegen I II III. Die Drehung erklärt sich aus dem anderen Schreibinstrument: Mit dem Pinsel lassen sich Striche leichter untereinander fügen (gemäß der Richtung des Tropfens), mit der Feder hat man das Problem nicht. Die drei heißt – wie bei uns – auch in China „viele“: „Eins, zwei, viele“. Drei Menschen sind „viele“ Personen, drei Bäume sind „Wald“, drei Frauen sind „lebhaftes Gespräch“, dreimal Gold ist „ganz reich“ (vgl. Friedrich Rückert, „Die Zahl Drei“: „Lebendig steigt die Zahl nicht über drei hinan.“21). Die drei Zeichen (Menschen, Frauen, Bäume) sind so angeordnet, dass sie ein gleichseitiges Dreieck bilden mit der Spitze oben. Es gleicht dem Dreieck, das man etwa über den Altären katholischer Kirchen als Symbol des Heiligen Geistes sieht oder auf den amerikanischen Ein Dollar-Noten als Zeichen der „Vorsehung“. Dort und hier bedeutet es „Vielheit in der Einheit“ (vgl. „Im Namen [Einzahl!] des Vater und des Sohne und des Heiligen Geistes [Mehrzahl]“). Wir erinnern uns des „tempus perfectum“ in der Musik, den Dreitakt, der als Kreis dargestellt wird. Auch der „Dreiklang“ kommt uns ins Ohr. Wir begegnen kulturellen „Universalien“. Das chinesische Ying Yang-Symbol (dunkle und lichte Seite eines Flusstales-Reisbauernkultur) weist auf das Streben nach „gesellschaftlicher Harmonie“ in beengten Verhältnissen (wie ein Fisch in engem Wasser); es findet in Europa sein Gegenstück im Zeichen der Waage (Märkte in der Weite – Nomadenkultur). Das chinesische Zeichen für „verstehen“ enthält das Zeichen für die Hand; unsere Wörter „begreifen“, „erfassen“ (englisch „to grasp“, „to get grips on“) deuten das ebenfalls an. Das Zeichen für „Mathematik“ setzt in sich zusammen aus „Frau“ als Basis, darüber „Reis“ und neben beiden „Kultur“. Auch wir in Deutschland sagen „die Mathematik“. Gemäß dem Unterschied zwischen linearer Alphabet/Zahl-Schrift und assoziativer Zeichen/Bild-Schrift begegnet das europäische eher deduktive Denken einem mehr induktiven Herantasten. Es sind aber nur Unterschiede des Grades. Menschen sind Menschen!

___________ 20

Bernhard Großfeld/Josef Hoeltzenbein, Globalization and the Limits of Language(s): Comparative Legal Semiotics, Rechtstheorie 2004, 87. 21 Vgl. Fritz und Gudrun Sturm, Die Dreiteilung des Code Civil – Ein ungelöstes Rätsel, in: Festschrift für Bernhard Großfeld, Heidelberg 1999, 1219.

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7. Zahlen22 Zahlenkränze, „glückliche“ und „unglückliche“ Zahlen steuern für uns undurchschaubare Ordnungsvorstellungen; sie kontrollieren soziale Rhythmen (Zahlensymbolik). Deshalb findet sich in China Literatur zum Einfluss des mathematischen Denkens auf „Recht“ – das dem Präsidenten einer berühmten Universität in Beijing am Herzen lag. Er ließ mir die Zahlenstruktur des dortigen Kaiserpalastes („Verbotene Stadt“) vermitteln.

a) Vier Chinesen und Japaner sprechen die Wörter „vier“ und „Tod“ fast gleich aus; daher gilt die Vier als Unglückszahl. Es gibt in Krankenhäusern kein viertes Stockwerk, kein Zimmer vier; bei Militärflugzeugen fehlt die Vier in der Nummerierung. Ausweislich des Deutschen Ärzteblattes von 2002 starben in China am Vierten eines Monats 27 % mehr Menschen an chronischem Herzversagen, unter stationären Bedingungen 45 % mehr. Die Ahnenfolge wird im 16er Rhythmus angegeben (Nachklang eines alten Vierersystems wie es sich bei uns im Adelsrecht findet: 16 adelige Ahnen braucht man, um selbst adelig zu sein).

b) Neun Später kam das Dreiersystem und mit ihm der Aufstieg der Neun. Die Legende erzählt, dass vier (!) chinesische Weise aus Indien die Neun (3x3) holten (in der Tat sind drei und neun die hinduistischen „Leitzahlen“). Die Neun wurde zur „Kaiserzahl“. „In Frieden liegen die neun Lande. Die vier Gestade sind bewohnt. In neun Gebirge hieb ich Pfade. Neun Strömen bahnte ich das Bett Und dämmte die neun Moorgelände: Die vier Meere wurden eins.“23

„Natürlich“ hat das Zentralkomitee der chinesischen Partei neun Mitglieder. Unter chinesischem Einfluss erklärte Burma alle Banknoten für ungültig, deren Wert sich nicht durch neun teilen ließ. In der „Verbotenen Stadt“ (Kaiserpalast) in Beijing „regieren“ die Neun und die 81; lokale Kenner weisen begeistert da___________ 22 23

Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, 2. Aufl., Tübingen 1995. Yü der Große und sein Königtum, 1200–700 v. Chr.

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rauf hin. Die Formel 9 x 9 = 81 gilt als erste aller Regeln. Der Palast hat 9999 Räume. Die Herkunft aus Indien baut eine Brücke nach Europa. Unser „Neunmalkluger“ (eine Überschlaue Person) und unser „Neuntöter“ (ein Vogel) kommen von dort, aber auch die „neunschwänzige Katze“ (eine Peitsche mit neun Lederstreifen) und die „Neun Gerechten“ am Rathaus von Osnabrück. Das führt uns nach England zu den „nine days wonders“ und zur „cloud nine“, auf der besonders Glückliche „sitzen“ (vgl. in Deutschland den „siebten Himmel“). Es verwundert nicht mehr, dass in der biblischen Geschichte von der „Sündflut“ die 81 (40 + 7 + 7 + 27) auftaucht.24 Die Sieben und die Zehn mit je eigenem Symbolgehalt erscheinen ebenfalls. Man sieht das in der „Verbotenen Stadt“ an der Zahl der Tiere, die die Dachabschwünge der großen Hallen zieren (je nach dem Grad der angedeuteten „Harmonie“ sind es 7, 9 oder 10).

c) Fünf „Das Pentagramma macht dir Pein?“25

Neben der Neun steht die „jüngere“ Fünf (= umfassendes Gesetz; vgl. unser „Quintessenz“, aber auch die „Pentatonik“ in der Musik). „Fünf Söhne sind’s, die in der Ferne kämpfen, Fünf Frauen, die alle schwanger gehen.“26

Über dem kaiserlichen Thron in Changchun (Palast des letzten chinesischen Kaisers) sehen wir einen fünfstrahligen Stern; fünf fünfzackige Sterne (Pentagramme) erscheinen in der chinesischen Flagge. Das Pentagram heißt „Han Symbol“ (= chinesisches Symbol), was daran erinnert, dass Chinesen die Fünfteilung des Kreises mit Zirkel und Lineal fanden. Das Wissen gelangte über das Salomons Siegel („Pentagram“) und über Euklids (4./3. Jhd. v. Chr.) berühmtes Buch „Die Gesetze der Geometrie“ im 12. Jahrhundert nach Europa. Die Fünf gilt als Zahl des Himmels (daher der fünfstrahlige Stern); nach einem chinesischen Sprichwort „reicht sie bis an den Himmel“. Fünfundfünfzig steht für Himmel und Erde. ___________ 24

Gen 8:6–14. Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Studierzimmer. 26 Kriegsdienst, ca. 250 n. Chr. 25

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8. Brücken a) Social Credit Chinesische Kollegen und Studenten sehen „westliches Recht“ zuerst als philosophisches abstraktes Modell ohne Verknüpfung mit dem Leben. Kant, Hegel, Marx und Habermas gelten vielfach als die deutschen Juristen. Es bleibt oft bei einer abstrakten „Rechtstheorie“, weil keine Vorstellung besteht über die praktischen Aufgaben in einer europäischen Ordnung, die mehr auf Individuum, Privateigentum und Markt baut. „Gleichheit“ ist in der hierarchischen Struktur Chinas schwer zu vermitteln; Gleichheit gilt als westliche Ideologie ohne realen Sitz im Leben. Die „konkrete Wahrheit“ der abstrakten Begriffe ist kaum zu vermitteln. Das wirkt ein auf das Verständnis des Vertrages (der Gleichheit der Vertragspartner voraussetzt oder herstellt) oder der Aktiengesellschaft, die heute gleiche Informationen für alle Aktionäre erfordert. Überhaupt ist es mit der Information gegenüber einer unübersehbaren Öffentlichkeit eine eigene Sache. In einer „dichtgepackten“ Gesellschaft mit Dauerbeobachtung ist Schutz der Familien- und Gruppensphäre lebensnotwendig. Die „Wahrung des Gesichts“ ist daher ein sehr wichtiger Teil des „social credits“ innerhalb des Netzwerks von Geben und Nehmen („guanxi“). Information ist ein knappes, wertvolles Gut und soll den Zusammenhalt der Gruppe als Handlungs- und Gefahrengemeinschaft sichern. Die Weitergabe an „outsider“ kann schaden. Sie macht „erkennbar“, macht „durchschaubar“. b) Guanxi Wir Europäer tun das chinesische guanxi-System vorschnell ab als „Korruption“, als „yingyang deal“, als „eine Hand wäscht die andere“. Aber unter chinesischen Bedingungen ist es wohl unverzichtbar für die soziale Einschätzung, für den Austausch von Wissen, für zweckmäßige Organisation und für niedrige Übertragungskosten (die Vertrauenswürdigkeit muss nicht teuer ermittelt und vielleicht mit hohem Risiko eingeklagt werden). Es begründet den Erfolg der „Übersee“-Chinesen. Sie verstanden es, ihre Großfamilien (mit gemeinsamer dörflicher und sprachlicher Herkunft) wie Großunternehmen zu organisieren (abgesichert durch Familienregister, vgl. oben IV.3.). Die Unterschiede zu Europa sind nicht absolut, sondern graduell. Bei uns ist „Vitamin B“ (= „Beziehungen“) ebenfalls wichtig, und manchmal ist es nicht nur bei Parteispenden mehr als das. In den USA ist das Gespinst von „connections“ noch nachhaltiger, zumal angesichts des häufigen Wechsels von Industrie zu Regierung (und umgekehrt) und des verbreiteten „sponsoring“ (beginnend in den Schulen).

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China hütet sein guanxi eifersüchtig und lässt Ausländer nicht eindringen; „Guanxi ist innengerichet“. Das spüren ausländische Firmen, wenn sie in China ein Gemeinschaftsunternehmen errichten. Man hält sie fern von der Personalabteilung (human ressources). Ausländer erhalten kaum Chancen, durch Personalpolitik „Dankbarkeit“ zu erwecken oder über Vergabe von „Stellen“ Loyalitäten aufzubauen. Individuelle Ansätze westlicher Denkart können dagegen nur schwer konkurrieren, geschweige denn das Netzwerk aufbrechen. c) Institutionen Rechtsvergleicher müssen Bilder über kulturelle Grenzen „hinüberbringen“, um z. B. „Vertrag“, „Aktiengesellschaft“ oder „Finanzmärkte“ zu erklären. Im Wort „Recht“ schwingt immer mit, die Zuordnung zu unabhängigen Entscheidern („unabhängige Richter“), die an einen Werthintergrund gebunden sind. Professoren der Aufklärungszeit in Europa (17./18. Jahrhundert) z. B. Christian Thomasius (1655–1728) hielten daher nur das für Recht, was gerichtlich durchsetzbar ist. Die Verbindung von Recht mit eigenständiger Organisation ist in einer „obrigkeitssichtigen“ Gesellschaft wie in China schwerer zu vermitteln. Bei so dichter „Packung“ lassen sich die Distanzen und die für die Unabhängigkeit notwendige „Isolierung“ nicht leicht schaffen. Ein „gemeinsamer Werthintergrund“ ist eine Abstraktion, die dem konkreten Denken der Chinesen künstlich erscheinen mag. Wir „Westler“ können uns darin kaum einfühlen. Die Zwangsvollstreckung stößt ebenfalls auf ein Gewirr von Sperren. d) Begegnung Europäischer Professor und chinesische Studenten können sich in längeren Vorlesungen (Vertrauen braucht Zeit) trotz allem treffen – es entsteht gegenseitige Anerkennung und eine umfassende menschliche Atmosphäre. Der Gastprofessor muss als „gebildet“ erscheinen, d. h. als Kenner seiner kulturellen Tradition und ihrer Zeichen. „Ohne Shakespeare“ und „ohne Goethe“ kommt er nicht an. Schwierig bleibt es zwar: „Du musst es dreimal sagen“ – und ganz langsam sprechen. Evtl. muss man den englischen Text der Lehrmaterialien gemeinsam lesen und die Körpersprache „spielen“ lassen. Aber am Ende begegnen sich nicht Exoten, sondern Menschen, die auf gleicher Ebene Antworten suchen und sich darin begegnen.

V. Schluss Damit komme ich zum Schluss meines kleinen Beitrags. Ich wollte darin zeigen, dass Rechtsvergleicher Kulturvermittler sein können und sein müssen. Die

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Rechtsvergleichung muss einhergehen mit einer anthropologischen Vergleichung, damit sie nicht zu einem „textism“ verkümmert.27 Lesen allein genügt nicht, hinzutreten muss die Begegnung „von Angesicht zu Angesicht“. Ordnungsmuster und Ordnungsentscheide entstehen jeden Tag neu in einem und durch ein geographisch-semiotisches Umfeld. Dieses Umfeld verknüpft wie ein „chip of a nation“ Informationen und Wertungen – und entfaltet dabei still eine eigenständige Wirkung,28 strukturiert die Gesellschaft und den Staat29. Das weite Feld der rechtsvergleichenden Zeichenkunde30 hat gerade in der EuropäischJapanischen Begegnung eine große Chance. Mit diesem Beitrag möchte ich mich bedanken bei „Japan“, bei meinen dortigen Lehrern und Freunden, die mir so reiche rechtsvergleichende Sichten erschlossen haben.

___________ 27 Wolfgang Fikentscher, Legal Ethnographical Observations, in: FS für Bernhard Großfeld, Heidelberg 1999, S. 235. 28 Bernhard Großfeld/Edward J. Eberle, Patterns of Order in Comparative Law: Discovering and Decoding Invisible Powers, Texas International Law Journal 38 (2003) 29. 29 Bernhard Großfeld, Zivilrecht als Gestaltungsaufgabe, Karlsruhe 1977. 30 Bernhard Großfeld, Comparative Legal Semiotics: Numbers in Law, in: O. Sandrock/B. Großfeld/C. Luttermann/R. Schulze/Ingo Sänger (Hrsg.), Rechtsvergleichung als zukunftsträchtige Aufgabe, Münster 2004, S. 37; Jack A. Hiller/Bernhard Großfeld, Comparative Legal Semiotics and the Divided Brain: Are We Producing Half-Brained Lawyers?, American Journal of Comparative Law 50 (2002) 175.

Japanische Gesellschaften mit Verwaltungssitz in Deutschland Von Otto Sandrock*

I. Einige Fakten und Fragestellung 1. Statistische Daten Im September 2004 waren fast 900 japanische Unternehmen oder Niederlassungen japanischer Unternehmen in Deutschland tätig. Bei fast 800 dieser Unternehmen handelte es sich um deutsche GmbHs oder um Niederlassungen japanischer Gesellschaften1, also nicht um Unternehmen, die in einer anderen Rechtsform (also etwa als deutsche AGs oder KGs) organisiert waren. Auf eine Umfrage hin2 hatten für das Jahr 2002 insgesamt 139 solcher Unternehmen angegeben, einen deutschen Betriebsrat gebildet zu haben; 15 solcher Unternehmen wiesen sogar einen Aufsichtsrat auf. Im Jahre 2002 waren allein in Nordrhein-Westfalen 470 japanische Unternehmen tätig3, die etwa 22.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigten und einen Umsatz von jährlich 33 Milliarden EURO erzielten. Dabei überwogen kleine und mittlere Unternehmen; sie beschäftigten im Durchschnitt 47 Personen.4 ___________ * Prof. emeritus der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster; Dr. iur. Göttingen (1956); LLM. Yale (1956); Rechtsanwalt am Oberlandesgericht Düsseldorf; of counsel bei Hölters & Elsing, Rechtsanwälte in Düsseldorf. 1 Die Zahlen beruhen auf Informationen der Japanischen Industrie- und Handelskammer zu Düsseldorf e. V. Aus den Daten, die dem Verf. dieses Aufsatzes von dort übermittelt wurden, ergab sich zwar nicht, mit Hilfe welcher Kriterien die Eigenschaft als „japanisches Unternehmen“ definiert wurde. Es ist aber anzunehmen, dass unter „japanischen Unternehmen“ i. S. jener Informationen entweder Unternehmen zu verstehen sind, die in einer der Rechtsformen des japanischen Gesellschaftsrechts organisiert sind; oder solche, die von Einzelkaufleuten mit japanischer Staatsangehörigkeit in Deutschland betrieben werden; oder schließlich deutsche Tochtergesellschaften, die von den vorgenannten Unternehmensträgern in einer Rechtsform des deutschen Gesellschaftsrechts in Deutschland für ihren Geschäftsbetrieb gegründet wurden. Zu den letzteren vgl. unten unter II. 4. a). 2 Angaben über die genaue Anzahl solcher Unternehmen liegen dem Verf. für 2002 nicht vor. 3 Siehe hierzu oben Fn. 1. 4 So GfW NRW (Hrsg.), Japanische Firmen in NRW, Mai 2003, S. 16 und 24.

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Aus den Unterlagen, die dem Verf. dieses Aufsatzes vorliegen, ergibt sich zwar nicht, wie viele der zuvor angegebenen „japanischen Unternehmen“ in einer Form des deutschen Gesellschaftsrechts (z. B. in der Form einer deutschen GmbH oder AG) oder als deutsche Niederlassungen von Gesellschaften des japanischen Rechts betrieben wurden. Denn auf die Rechtsform der Unternehmen – ob japanisch oder deutsch – kam es bei der Umfrage, die den statistischen Angaben zugrunde lag, nicht entscheidend an. Sie war allein auf die Feststellung wirtschaftlicher Daten ausgerichtet und schenkte der jeweiligen nationalen Rechtsform keine Beachtung, in der sich die japanischen Unternehmen wirtschaftlich betätigten. Dennoch ist die Rechtsform jener Unternehmen nicht ganz ohne Bedeutung. Denn die Geschäftsführungen bzw. die Vorstände japanischer Unternehmen, die in Deutschland geschäftlich tätig sind, werden entweder „rein japanisch“ oder gemischt japanisch/deutsch besetzt sein. Bei kleineren Unternehmen dürften vorwiegend japanisch besetzte Spitzen überwiegen. In den Leitungsorganen größerer Unternehmen werden, wenn deutsche Führungskräfte überhaupt in ihnen tätig sind, ihre japanischen Kollegen das Sagen haben. Japanische Unternehmensleiter aber, die vom japanischen Stammhaus nach Deutschland entsandt werden, sind mit den Gesellschaftsformen ihrer eigenen heimischen Rechtsordnung mehr vertraut als mit den entsprechenden deutschen Gesellschaftsformen. Man darf daher annehmen, dass japanische Führungskräfte es bevorzugen, wenn ihr Unternehmen in einer ihnen vertrauten japanischen Gesellschaftsform geführt wird.5 Andererseits mag es das geschäftliche Handeln solcher Gesellschaften speziell in Deutschland, aber auch im übrigen Europa erleichtern, wenn sie am deutschen Markt im Kleid einer deutschen Gesellschaftsform auftreten. Im Einzelfall dürfte es insoweit auf die Umstände des jeweiligen Falles ankommen. Jedenfalls hängt die Frage, wie leicht, sicher und kostengünstig sich ___________ 5 Der US-amerikanische Court of Appeals (CA) für den Second District ist in einer Entscheidung vom 9. 1. 1981 (Avigliano v. Sumitomo Shoji America,Inc., 638 F. 2d 552), in der es um die Auslegung einiger Bestimmungen des Freundschafts-, Handelsund Schiffahrtsvertrages zwischen Japan und den USA von 1953 (im folgenden „The Treaty“) ging, von ähnlichen Prämissen ausgegangen. Das Gericht hatte über die Frage zu entscheiden, ob die 100 %-ige Tochtergesellschaft einer japanischen Gesellschaft auf ihrer Führungsebene ausschließlich japanisches Personal beschäftigen durfte oder ob sie an einer solchen Besetzung der Führungsebene gehindert sei, weil der Civil Rights Act von 1964 eine Diskriminierung auf Grund der Nationalität einer Person bei der Einstellung von Arbeitskräften untersagt. Der CA entschied (a.a.O S. 559): „... we believe that as applied to a Japanese company enjoying rights under Art. VIII of the Treaty it must be construed in a manner that will give due weight to the … unique requirements of a Japanese company doing business in the United States including such factors as a person’s (1) Japanese and linguistic skills, (2) knowledge of Japanese products, markets, customs, and business practices, (3) familiarity with the personnel and workings of the principal and parent enterprise in Japan, and (4) acceptability to those persons with whom the company or branch does business.“

Japanische Gesellschaften mit Verwaltungssitz in Deutschland

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japanische Unternehmen in Deutschland führen lassen, u. a. von der jeweiligen Rechtsform – ob japanisch oder deutsch – ab.6

2. Der deutsch-japanische Handels- und Schiffahrtsvertrag (HSV) von 1927 Voraussetzung dafür, dass japanische Unternehmen in Deutschland in ihrer Rechtsform als japanische Gesellschaften überhaupt rechtlich wirksam handeln können, ist deren rechtliche Anerkennung. Für die damit zusammenhängenden Fragen hält der deutsch-japanische Handels- und Schiffahrtsvertrag (HSV7) vom 20. 7. 19278 Antworten bereit. Die meisten Artikel dieses Vertrages sehen für diejenigen Rechtsfragen, die in dem Vertrag geregelt sind9, Meistbegünstigung bzw. Inländerbehandlung der Gesellschaften der jeweils anderen Partei vor. Welche Gesellschaften in den Genuss einer solchen Meistbegünstigung oder Inländerbehandlung kommen sollen, ist in Art. XIII des HSV geregelt. Dieser Artikel befasst sich demgemäß mit der Anerkennung bzw. Rechtsfähigkeit – und darüber hinaus auch mit der Parteifähigkeit – der Gesellschaften der beiden Vertragsstaaten. Er bestimmt: „Aktiengesellschaften und andere kommerzielle, industrielle oder finanzielle Gesellschaften mit Einschluß der Versicherungsgesellschaften, die in dem Gebiet des einen vertragsschließenden Staates ihren Sitz haben und nach dessen Gesetzen zu Recht bestehen, werden auch in dem Gebiete des anderen Staates als gesetzlich bestehend anerkannt und sollen befugt sein, daselbst sei es als Kläger, sei es als Beklagte, nach den Gesetzen dieses anderen Staates vor Gericht aufzutreten.“

Klauseln dieser Art sind auch aus anderen bilateralen Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsverträgen bekannt.10 Ihr Charakteristikum besteht darin, ___________ 6

Diese Probleme werden in der Betriebswirtschaft unter verschiedenen Aspekten erörtert; vgl. die Beiträge verschiedener Autoren über Leitungssysteme, Mutter-TochterBeziehungen, Organisationsstruktur (empirische Befunde) und Stammhausdelegierte in Klaus Macharzina / Martin K. Welge, (Hrsg.), Handwörterbuch Export und internationale Unternehmung, Stuttgart 1989 mit weiteren Nachweisen. 7 Teilweise wird im deutschen Schrifttum in Anlehnung an das amerikanische Schrifttum auch die Abkürzung FCN gebraucht. Sie führt auf die Abkürzung der englischen Fassung vieler Friendship-, Commerce- and Navigation Treaties zurück. 8 RGBl. II 1088. 9 Z. B. sieht Art. I Abs. 2 Ziff. 1 vor, dass „die Angehörigen eines jeden vertragsschließenden Staates … in Bezug auf die Niederlassung … sowie auf dem Gebiet ihrer industriellen und gewerblichen Unternehmungen in jeder Beziehung wie die Angehörigen der meistbegünstigten Nation behandelt werden“. Ferner schreibt Ziff. 3 dieser Bestimmung vor, dass sie „Häuser, Fabrikgebäude, Warenhäuser, Läden und die dazu gehörigen Räumlichkeiten zu Eigentum besitzen, mieten oder innehaben dürfen.“ 10 Vgl. die Zusammenstellung bei Günther Beitzke, Einige Bemerkungen zur Rechtsstellung ausländischer Gesellschaften in deutschen Staatsverträgen, in: Ottoarndt Gloss-

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dass sie die Anerkennung der Gesellschaften der jeweils anderen Vertragspartei davon abhängig machen, dass diese nach dem Recht des jeweils anderen Vertragspartners nicht nur wirksam gegründet sind, sondern dass diese Gesellschaften von dort aus auch verwaltet werden. Seinem Wortlaut nach bezieht sich der zitierte Artikel also nur auf solche japanische Gesellschaften, die – in Japan wirksam gegründet – dort auch ihren Hauptverwaltungssitz innehaben. Der zitierte Art. XIII des HSV scheint aus der Sicht des internationalen Gesellschaftsrechts also auf der Sitztheorie zu beruhen, weil sich die Vertragsstaaten zur gegenseitigen Anerkennung lediglich solcher Gesellschaften ausdrücklich verpflichtet haben, die von dem Partnerstaat aus auch ihre Hauptverwaltung führen. Nur wenn diese beiden Voraussetzungen – wirksame Gründung und Verwaltung im Partnerstaat – erfüllt sind, erscheint die Anerkennung der Rechts- und Parteifähigkeit dieser Gesellschaften als gesichert.

3. Fragestellung Japanische Gesellschaften, welche in dieser Art sowohl dem Gründungs- als auch dem Sitzkriterium des zuvor zitierten Artikels des HSV gleichzeitig genügen, sind aber gerade nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Hier soll vielmehr die davon gänzlich unterschiedliche Fallvariante untersucht werden, dass eine japanische Gesellschaft zwar in Japan wirksam gegründet worden ist, aber gerade nicht von dort aus, sondern von Deutschland aus verwaltet wird, dass also Gründungs- und Sitzstatut auseinander fallen. Im Hinblick auf Art. XIII des HSV stellt sich dann die Frage, ob diese völkervertragsrechtliche Bestimmung die Anerkennung solcher Gesellschaften ausschließt. Insoweit kommt es darauf an, wie Art. XIII des HSV zu qualifizieren ist. Hierauf kann es nur eine von zwei Antworten geben. Entweder setzt dieser Artikel einen abschließenden Maximalstandard11, der es nicht zulässt, dass andere Gesellschaften als solche, die in Japan ihren Hauptverwaltungssitz haben, in Deutschland anerkannt werden. Oder diese Bestimmung regelt lediglich einen Minimalstandard, der es umgekehrt sehr wohl erlaubt, japanische Gesellschaften, deren Hauptverwaltungssitz außerhalb Japans – nämlich: in Deutschland – liegt, hier im Inland als rechts- und prozessfähig zu behandeln.

___________ ner (Hrsg.), Festschrift für Martin Luther, München 1976, S. 1 ff. (9); Gebhard Rehm, Völker- und europarechtliche Vorgaben für die Bestimmung des Gesellschaftsstatuts, in: Horst Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, München 2004, § 2, Rdz. 16 ff., S. 19 ff. 11 Ausdrücke von Gebhard Rehm, (Fn. 10) S. 22 Rdz. 17.

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II. Die Auslegung von Art. XIII des Handels- und Schiffahrts-Vertrages (HSV) von 1927 In den folgenden Untersuchungen wird sich ergeben, dass Art. XIII des HSV in erweiterndem Sinne, d. h. im Sinne eines Minimalstandards auszulegen ist. Japanische Gesellschaften mit Verwaltungssitz in Deutschland sind hier im Inland also sehr wohl als rechts- und parteifähig anzuerkennen. Für eine solche Auslegung sprechen mehrere Gründe. Die ersten beiden derselben können unmittelbar aus dem Vertrag abgeleitet werden.

1. Sinn und Zweck des Handels- und Schiffahrtsvertrages (HSV) Die Präambel des HSV bringt zum Ausdruck, „dass der klare[n] und zielbewußte[n] Willen“ der beiden Staaten, „auf dem Boden … des gegenseitigen Interesses die Grundsätze zu schaffen, die in Zukunft auf die wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder zur Anwendung kommen sollen, zur Verwirklichung dieses hohen Zieles beitragen wird.“ Zu den wirtschaftlichen Beziehungen, die kraft des „klaren und zielbewussten Willens“ der beiden Vertragsstaaten zur Erreichung der genannten Ziele beitragen sollen, gehört auch die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften. Diese soll durch den HSV gefördert werden. Bereits dieser generelle Zweck rechtfertigt eine erweiternde Auslegung des Art. XIII in dem hier vertretenen Sinne.12 Die Rechts- und Parteifähigkeit japanischer Gesellschaften wird also durch den HSV auch dann gesichert, wenn sie von Deutschland aus verwaltet werden.

2. Das Gegenseitigkeitsprinzip Für eine solche erweiternde Auslegung spricht ferner, dass sie auch deutschen Gesellschaften zugute kommt (Gegenseitigkeitsprinzip)13. Denn mit ihr ist auch die Anerkennung solcher deutschen AGs, GmbHs, Genossenschaften, OHGs, KGs usw. gesichert, deren Hauptverwaltungssitz sich auf japanischem Territorium befindet. Dies ermöglicht es z. B., den Vertrieb deutscher Produkte in Japan durch Gesellschaften in deutscher Rechtsform, etwa einer deutschen GmbH mit Hauptverwaltungssitz in Japan durchzuführen. Mit ihrer heimischen ___________ 12 Vgl. Art. 31 der Wiener Konvention über das Vertragsrecht vom 23. 05. 1969, der vorsieht, dass ein Vertrag u. a. „im Lichte … des Zweckes des Vertrages“ ausgelegt werden soll. 13 Vgl. dazu Günther Beitzke Juristische Personen im Internationalprivatrecht und Fremdenrecht, München 1938, S. 53; ders., (Fn. 10) S. 3 f.; Gebhard Rehm, (Fn. 10) S. 23 Rdz. 19.

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Rechtsform sind deutsche Geschäftsführer natürlich mehr vertraut als mit der entsprechenden Gesellschaftsform des japanischen Rechts. Japanische Schriftzeichen werden in der Regel für deutsche Geschäftsführer in Japan ein Buch mit sieben Siegeln darstellen. Solche Geschäftsführer wären dann, wenn es einmal auf eine gesellschaftsrechtliche Frage ankommt, nicht auf eine vielleicht schwer verständliche Übersetzung des betreffenden japanischen gesellschaftsrechtlichen Textes und seiner Erläuterungen angewiesen und brauchten sich auch von japanischen Anwälten keinen gesellschaftsrechtlichen Rat einzuholen. Das gleiche gilt für japanische Gesellschaften, die von Deutschland aus verwaltet werden.14 Für manchen mag zwar die Vorstellung befremdlich sein, dass japanischen Gesellschaften die Möglichkeit offenstehen soll, unter ihrer heimischen Firma in Deutschland geschäftlich aufzutreten und auf diese Weise hier Verbindlichkeiten einzugehen, Rechte zu begründen, zu klagen und verklagt zu werden. Für einen Kollisionsrechtler gehört eine solche Vorstellung allerdings zu seinem Tagesgeschäft. So können z. B. deutsche und japanische Unternehmen auch schuldrechtliche Verträge kraft einer Rechtswahlklausel dem japanischen Recht unterwerfen.15 Ebenso ist es möglich, dass solche Verträge dann, wenn die vertragscharakteristische Leistung in Japan zu erbringen ist, kraft objektiver Anknüpfung vom japanischen Recht beherrscht werden (Art. 28 Abs. 1, 2 EG BGB).16 Es erscheint ebenso als durchaus normal, wenn japanische Gesellschaften, die hier bei uns in Deutschland den Mittelpunkt ihrer geschäftlichen Tätigkeit unterhalten, dennoch nach ihrem japanischen Gründungsstatut zu beurteilen sind. Für Gesellschaften aus den Mitgliedstaaten der EG ist dies auf Grund der neuern Rechtsprechung des EuGH, deren Bedeutung für die vorliegende Problematik später17 noch untersucht werden soll, ohnehin anerkannt. Aber auch für Gesellschaften aus EWG-Drittstaaten stellt dies nichts Besonderes dar. Für den Umgang mit Gesellschaften z. B. aus den USA und aus Spanien, mit denen Deutschland bilaterale Handelsverträge auf der Basis der Gründungstheorie abgeschlossen hat, ist dies, selbst für die deutschen Gerichte, tägliches Brot.18 Jedenfalls hinsichtlich solcher Staaten löst eine solche Vorstellung kein Befremden aus. ___________ 14

Siehe oben Fn. 5. Vgl. dazu Otto Sandrock, Das Vertragsstatut bei japanisch-deutschen privatrechtlichen Verträgen, RIW 1994, 381 (385 f.). 16 Vgl. dazu Otto Sandrock (Fn. 15) S. 386. Was speziell Kaufverträge über Waren anbetrifft, so hatte Japan bis zum 31. 12. 2001 das Wiener UN-Übereinkommen über Verträge über den Internationalen Warenkauf vom 11. 04. 1980 noch nicht unterzeichnet, geschweige denn ratifiziert (siehe Fundstellennachweis B zum BGBl. 2002 S. 604). 17 Siehe unten unter II. 5. 18 Vgl. dazu statt vieler Werner Ebke, Gesellschaften aus Delaware auf dem Vormarsch: Der BGH macht es möglich, JZ 2004, 740; ders., Überseering und Inspire Art: Auswirkungen auf das Internationale Gesellschaftsrecht aus der Sicht von Drittstaaten, 15

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3. Die Bedeutung der Meistbegünstigungsklauseln des HSV Ein weiteres Argument für die erweiternde Auslegung des Art. XIII des HSV ergibt sich aus den Meistbegünstigungsklauseln, die in großer Anzahl in den übrigen Bestimmungen dieses Vertragswerks enthalten sind. Der HSV ist nämlich übersät mit Klauseln, welche für diejenigen Rechtsfragen, die sie regeln, entweder eine Inländerbehandlung oder eine Meistbegünstigung der Gesellschaften der jeweils anderen Vertragspartei vorsehen. Inländerbehandlungsklauseln schreiben vor, dass die Gesellschaften der jeweils anderen Vertragpartei die gleichen Rechte genießen und Befugnisse ausüben können wie Inländer.19 Zwar kann diesen Klauseln im vorliegenden Zusammenhang keine Bedeutung zukommen. Denn deutsche Gesellschaften brauchen im Inland nicht in irgendeiner Weise kollisionsrechtlich anerkannt zu werden. Sie existieren im Inland vielmehr eo ipso.20 Ihre kollisionsrechtliche Anerkennung im Inland ist sogar ausgeschlossen, weil eine solche nur bei Sachverhalten mit Auslandsbeziehung (Art. 3 Abs. 1 EG BGB) in Betracht kommt. Die Gründung von Gesellschaften in Deutschland und ihre Eintragung in ein hiesiges Handelsregister weisen als solche aber keine Beziehungen zum Ausland auf. Da Gesellschaften in japanischer Rechtsform, die von Deutschland aus verwal___________ in: Otto Sandrock / Christoph F. Wetzler (Hrsg.), Deutsches Gesellschaftsrecht im Wettbewerb der Rechtsordnungen, Heidelberg 2004, S. 101 ff., 109-113. 19 Art. XXV Abs. 1–3 des deutsch-US-amerikanischen Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages (FHSV) vom 29. 10. 1954 (siehe unten Fn. 23) definieren die Inländerbehandlung wie folgt: „1. Der Ausdruck ‚Inländerbehandlung‘ bedeutet die innerhalb eines Vertragsteils gewährte Behandlung, die nicht weniger günstig ist als diejenige, die dort unter gleichartigen Voraussetzungen den Staatsangehörigen, Gesellschaften, Erzeugnissen, Schiffen und sonstigen Objekten jeglicher Art dieses Vertragsteils gewährt wird. / 2. Die Inländerbehandlung im Rahmen dieses Vertrages wird von der Bundesrepublik Deutschland auf Grund der Tatsache eingeräumt, dass den Staatsangehörigen, Gesellschaften, Erzeugnissen, Schiffen oder sonstigen Objekten der Bundesrepublik Deutschland in den gleichen Angelegenheiten von den Vereinigten Staaten von Amerika die Inländerbehandlung gewährt wird. / 3. Als Inländerbehandlung, wie sie gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages den Gesellschaften der Bundesrepublik Deutschland in einem Staat, einem Territorium oder einer Besitzung der Vereinigten Staaten von Amerika gewährt wird, gilt die Behandlung, die dort in anderen Staaten, Territorien und Besitzungen der Vereinigten Staaten von Amerika errichteten Gesellschaften gewährt wird.“ 20 Dass die Anerkennung von fremden Gesellschaften – nicht nur auf Grund von zweiseitigen Staatsverträgen – weder einen besonderen Rechtsakt erfordert noch fremdenrechtlichen Charakter aufweist, ist heute anerkannt. Vgl. dazu ausführlich hinsichtlich Art. XXV Abs. 5 des Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages zwischen Deutschland und den USA von 1954 Carsten Thomas Ebenroth / Birgit Bippus, Die Anerkennungsproblematik im Internationalen Gesellschaftsrecht, NJW 1988, 2137 ff.; Werner Ebke, Gesellschaften aus Delaware (Fn. 18). Dieser früher noch bestrittenen Auffassung hat sich jetzt auch der BGH angeschlossen, vgl. BGHZ 153, 353 = RIW 2003, 473 sowie unten Fn. 25 unter (i).

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tet werden, aber gerade ihre kollisionsrechtliche Anerkennung im deutschen Inland anstreben, können die Inländerbehandlungsklauseln im HSV für sie keine Maßstäbe setzen. Anders sieht es hingegen mit den Meistbegünstigungsklauseln im HSV aus. Diese Klauseln schreiben vor, dass den Gesellschaften der anderen Vertragspartei diejenigen Rechte und Befugnisse zu gewähren sind, welche die jeweilige Vertragspartei den Gesellschaften eines Drittstaates eingeräumt hat.21 Meistbegünstigungsklauseln verbessern also die rechtliche Stellung der Gesellschaften der jeweiligen anderen Vertragspartei nach dem Maßstab derjenigen Gesellschaften eines Drittstaates, die eine bessere Rechtsstellung genießen. 22 Als Drittstaats-Gesellschaften, auf die sich japanische Gesellschaften innerhalb Deutschlands berufen könnten, kommen insoweit die in Deutschland tätigen US-amerikanischen und spanischen Gesellschaften in Betracht. Art. XXV Abs. 5 des deutsch-US-amerikanischen Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages (FHSV) vom 29. 10. 195423 definiert die Rechtsstellung der USamerikanischen Gesellschaften, die in Deutschland tätig sind, nämlich wie folgt: „Der Ausdruck ‚Gesellschaften‘ in diesem Vertrag bedeutet Handelsgesellschaften, Teilhaberschaften sowie sonstige Gesellschaften, Vereinigungen und juristische Personen; dabei ist es unerheblich, ob ihre Haftung beschränkt oder nicht beschränkt und ob ihre Tätigkeit auf Gewinn oder nicht auf Gewinn gerichtet ist. Gesellschaften, die gemäß den Gesetzen und sonstigen Vorschriften des einen Vertragsteils in dessen Gebiet errichtet sind, gelten als Gesellschaften dieses Vertragsteils; ihr rechtlicher Status wird in dem Gebiet des anderen Vertragsteils anerkannt.“

Im Gegensatz zu Art. XIII des deutsch-japanischen Vertrages gilt auf Grund dieser Bestimmung für die Anerkennung von US-amerikanischen Gesellschaften in Deutschland also Folgendes24: Sie brauchen in den USA lediglich wirk___________ 21

Zur Bedeutung dieser Klauseln für natürliche Personen (hier: japanische Staatsangehörige, die sich wirtschaftlich in Deutschland betätigen wollen) und zur Abgrenzung von fremdenrechtlichen Bestimmungen vgl. Thorsten Maiwald, Erwerbstätigkeit japanischer Staatsangehöriger im Bundesgebiet, Zeitschrift für Japanisches Recht Bd. 4 (1999), 99 (103). 22 Art. XXV Abs. 4 des deutsch-US-amerikanischen Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages (FHSV) vom 29. 10. 1954 (siehe die folgende Fn.) definiert die Meistbegünstigung wie folgt: „4. Der Ausdruck ‚Meistbegünstigung‘ bedeutet die innerhalb des Gebiets eines Vertragsteils gewährte Behandlung, die nicht weniger günstig ist als diejenige, die dort unter gleichartigen Voraussetzungen den Staatsangehörigen, Gesellschaften, Erzeugnissen, Schiffen und sonstigen Objekten jeglicher Art irgendeines dritten Staates gewährt wird.“ 23 BGBl. 1956 II 487. 24 Vgl. zum neuesten Stand ausführlich und mit weit. Nachw. Werner Ebke, Gesellschaften aus Delaware auf dem Vormarsch (oben Fn. 18); ders., Überseering und Inspire Art, (Fn. 18) S. 109-113. Grundlegend ferner Carsten Th. Ebenroth / Birgit Bippus, Die

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sam gegründet zu sein. Es ist hingegen nicht erforderlich, dass sie von dem jeweiligen US-amerikanischen Bundesstaat aus, in welchem sie inkorporiert sind, auch verwaltet werden. Art. XXV Abs. 5 des deutsch-US-amerikanischen FHSV beruht also auf der Gründungstheorie. Dies ist jetzt auch in der deutschen höchstrichterlichen Rechtsprechung endgültig anerkannt.25 Ähnlich verhält es sich mit dem deutsch-spanischen Niederlassungsvertrag (NV) vom 23. 04. 1970.26 Dessen Art. 15 lautet: „(1) Der Ausdruck Gesellschaften im Sinne dieses Vertrages umfaßt nicht nur die Handelsgesellschaften sowie alle anderen Gesellschaften, sondern auch alle juristischen Personen des privaten Rechts oder Vereinigungen, auch wenn sie keine Rechtspersönlichkeit besitzen, sofern sie nach dem in dem Hoheitsgebiet einer Vertragspartei geltenden Recht errichtet worden sind. / (2) Der rechtliche Status der Gesellschaften der einen Vertragspartei wird im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei anerkannt. Die andere Vertragspartei ist nur dann berechtigt, diese Anerkennung zu versagen, wenn die betreffende Gesellschaft durch ihren Zweck oder ihre tatsächlich ausgeübte Tätigkeit gegen Grundsätze oder Vorschriften verstößt, welche diese Vertragspartei als Bestandteil der öffentlichen Ordnung im Sinne ihres internationalen Privatrechts ansieht.“

Auch aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass spanische Gesellschaften, die sich in Deutschland gewerblich betätigen, hier im Inland bereits dann als rechtsund parteifähig anerkannt werden müssen, wenn sie – in Spanien wirksam gegründet – in Deutschland ihren Hauptverwaltungssitz unterhalten.27 Die entscheidende Frage lautet deshalb, ob sich in Japan wirksam gegründete Gesellschaften, die aber von Deutschland aus verwaltet werden, mit Erfolg auf die im deutsch-japanischen HSV verankerte Meistbegünstigungsklauseln berufen können. Wäre dies möglich, so könnten sie ihre Anerkennung wesentlich ___________ staatsvertragliche Anerkennung ausländischer Gesellschaften in Abkehr von der Sitztheorie, DB 1988, 842 (842 f.); dies., Die Anerkennungsproblematik (Fn. 20). 25 In einer Serie von vier jüngst ergangenen hat der BGH schließlich diese Folgerung gezogen. (i) In einem ersten Urteil vom 29. 01. 2003 (BGHZ 153, 353 = RIW 2003, 473) entschied der – nicht für das Gesellschaftsrecht zuständige – VIII. Zivilsenat des BGH, auf Grund des deutsch-US-amerikanischen FHSV sei eine in den USA wirksam gegründete und noch bestehende Kapitalgesellschaft in Deutschland rechtsfähig, gleichgültig, wo ihr effektiver Verwaltungssitz liege (a.a.O. S. 355) (vgl. dazu zustimmend Hanno Merkt, Die Gründungstheorie gewinnt an Einfluß, RIW 203, 458; kritisch: Peter Kindler, Urteilsanmerkung, BB 2003, 812). – (ii) In einem zweiten Urteil vom 05. 07. 2004 (BB 2004, 1868 = RIW 2004, 787) schloss sich der für das Gesellschaftsrecht zuständige II. Senat dieser Auffassung an. – (iii) In einer dritten Entscheidung vom 13. 10. 2004 (BB 2004, 2595 mit zustimmender Anm. von Siegfried Elsing S. 2596 f.) folgte auch der I. Zivilsenat des BGH dieser Auffassung. 26 BGBl. 1972 II 1041. 27 Vgl. dazu Carsten Th. Ebenroth / Birgit Bippus, Die staatvertragliche Anerkennung ausländischer Gesellschaften, (Fn. 24) S. 843 f.

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einfacher nach den Regeln der Gründungstheorie einfordern. Damit würden sie in Deutschland die gleiche Rechtsstellung genießen wie die entsprechenden USamerikanischen und spanischen Gesellschaften. Diese Frage ist zu bejahen.28 Für eine solche Gleichstellung spricht zunächst einmal die allgemeine historische Entwicklung derjenigen Klauseln, die sich in vielen bilateralen HSVen, FHSVen oder NVen mit der Rechtsstellung der Gesellschaften der jeweils anderen Vertragspartei befassen. Als einzelne Staaten am Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Abschluss solcher bilateraler Verträge begannen29, enthielten solche Verträge zunächst überhaupt keine Bestimmungen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften oder von juristischen Personen. Dies war wohl darauf zurückzuführen, dass der bilaterale Handelsverkehr damals im Wesentlichen noch von individuellen Kaufleuten oder von Personengesellschaften abgewickelt wurde. Die bilateralen Verträge jener Zeit sprachen deshalb von „Angehörigen“, „sujets“30, „citizens“, „inhabitants“ oder „nationals“31 der jeweiligen anderen Vertragspartei. Erst nach dem ersten Weltkrieg begann man, in solchen Verträgen auch die Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen zu regeln.32 Dabei war es üblich, die gegenseitige Anerkennung von ___________ 28

So bereits Günther Beitzke, Juristische Personen, (Fn. 13) S. 53 ff., der diese Frage jedoch nicht generell bejaht, sondern auf die Umstände des einzelnen Vertrages abstellt. So auch Bernhard Großfeld, in: Staudinger, Internationales Gesellschaftsrecht, Berlin 1998, S. 58 Rdz. 223, sowie Gebhard Rehm, (Fn. 10) S. 23 Rdz. 22. Carsten Th. Ebenroth / Birgit Bippus (Führen bilaterale Investitionsförderungsverträge zu einer Abkehr vom Sitzprinzip?, RIW 1988, 336, (341 ff.)) lehnen zwar die Instrumentalisierung von Meistbegünstigungsklauseln für solche bilateralen Verträge ab, in denen festgelegt ist, dass jede Gesellschaft mit effektivem Verwaltungssitz in der Bundesrepublik Deutschland nach deutschem Recht zu behandeln ist: dadurch werde nämlich „die Sperrwirkung der Sitztheorie“ im Inland aufrechterhalten, und der Vertragspartner, der sich auf den Abschluss eines solchen Vertrages eingelassen habe, handele rechtsmissbräuchlich, wenn er die in ihm gegründeten Gesellschaften auf Grund einer bloßen Gründung anerkannt wissen wolle. In anderen bilateralen Verträgen jedoch, in denen es an einer derartigen Klausel mit „Sperrwirkung für die Sitztheorie“ fehlt, lassen die beiden Autoren die Berufung auf Meistbegünstigungsklauseln zu, wenn sie zum Ziel hat, dass diejenigen Gesellschaften, die nach dem Recht des Vertragspartners gegründet sind, auch dann anzuerkennen sind, wenn sie ihren effektiven Verwaltungssitz in Deutschland unterhalten. Vgl. dazu auch Carsten Th. Ebenroth, Gaining Access to Fortress Europe – Recognition of U. S. Corporations in Germany and the Revision of the Seat Rule, The International Lawyer Bd. 25 (1990), 459 (472 f.). 29 Die Entwicklung der US-amerikanischen Praxis ist insoweit besonders gut belegt. Vgl. Herman Walker, Provisions on Companies in United States Commercial Treaties, American Journal of International Law Bd. 50 (1956), 373 (374 ff.). 30 Vgl. Günther Beitzke, Juristische Personen, (Fn. 13) S. 54 f. 31 Vgl. Herman Walker, (Fn. 29) S. 375. 32 Vgl. zum Folgenden Robert R. Wilson, A Decade of new Commercial Treaties, American Journal of International Law Bd. 50 (1956), 927 (928 f.).

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solchen Gebilden an die Erfüllung zweier Merkmale zu knüpfen: dass diese nämlich nicht nur nach dem Gesellschaftsrecht des jeweiligen Vertragpartners wirksam gegründet waren, sondern dass sie dort auch den Sitz ihrer Hauptverwaltung unterhielten.33 Diese – nach dem bloßen Wortlaut jener Bestimmungen – einschränkende gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften, die auf der Sitztheorie basierte, wurde später dann von einer weit großzügigeren Anerkennung abgelöst, die auf das Merkmal der Hauptniederlassung im Gründungsstaat verzichtete und damit die Lehren der Gründungstheorie widerspiegelte. Als Beispiel für diese Entwicklung seien die beiden bilateralen Verträge zwischen Deutschland und den USA genannt. Nach Art. XII des früheren deutschUS-amerikanischen Freundschafts-, Handels- und Konsularvertrages (FHKV) vom 08. 12. 192334 war die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften noch davon abhängig, dass diese – in einem der beiden Vertragsstaaten wirksam gegründet – dort auch „eine Hauptniederlassung ha[tt]en“. Die Sitztheorie feierte in jenem Vertrag von 1923 also fröhliche Urständ. Sie wurde dann aber etwa 30 Jahre später durch den zitierten Art. XXV Abs. 5 des FHSV von 195435 abgelöst, der auf den Lehren der Gründungstheorie beruht. Diese Änderung im rein bilateralen deutsch-US-amerikanischen Verhältnis scheint auch eine allgemeine Entwicklung der US-amerikanischen Vertragspraxis widerzuspiegeln. Die USA legten nämlich nach dem zweiten Weltkrieg der Definition der Gesellschaften in ihren bilateralen FHSVen ganz allgemein die Gründungstheorie zugrunde. So definierte der japanisch-US-amerikanische FHSV von 195336 die jeweils anerkennungsberechtigten Gesellschaften der anderen Vertragspartei ___________ 33 Vgl. Herman Walker (oben Fn. 29) S. 381: „… the twelve United States treaties of the 1923-1932 series contained two additional requirements. Projected multilateral conventions and treaties of other countries (especially of the twentieth century) dealing with companies, have very frequently contained a requirement of the same general type as the ‚central office‘ requirement – usually in terms of ‚seat’ (‚siège social’), sometimes ‚domicile‘, occasionally ‚registered‘ – without necessarily leaving clear in all cases whether is meant merely the legal headquarters, or the real center of management, or the center of exploitation; and a ‚control‘ test has sometimes been favored.“ 34 RGBl. 1925 II 795 (800). Vgl. dazu Herman Walker (oben Fn. 29) S. 379. Art. XII Abs. 1 jenes Vertrages bestimmt: „Juristische Personen des Privatrechts mit oder ohne Haftungseinschränkung, mögen sie Erwerbszwecken dienen oder nicht, welche gemäß und unter dem Reichs-, Landes- oder Kommunalrecht eines Vertragsteils gegründet worden sind oder künftig gegründet werden und welche innerhalb seiner Gebiete eine Hauptniederlassung haben, sollen als juristische Personen durch den anderen Vertragsteil anerkannt werden, vorausgesetzt, dass sie innerhalb seiner Gebiete keine seinen Gesetzen widersprechenden Zwecke verfolgen. Sie sollen sowohl zur Verfolgung als zur Verteidigung ihrer Rechte in allen gesetzlich vorgesehenen Instanzen gemäß den auf den Fall anwendbaren Gesetzen freien Zutritt zu den Gerichten haben.“ Zum Wortlaut des Abs. 2 dieses Artikels siehe unten Fn. 40. 35 Siehe oben Fn. 23. 36 Vgl. Herman Walker, (Fn. 29) S. 378.

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lediglich nach dem Merkmal, ob diese in dem anderen Vertragsstaat wirksam gegründet waren.37 Der für den zweiten Distrikt zuständige, hochangesehene US-amerikanische Federal Court of Appeals führte dazu in einem Urteil aus dem Jahre 198138 aus: „The Treaty is always a floor and not a ceiling“. Er erkannte demgemäß als „japanische Gesellschaften“ im Sinne jenes Vertrages auch solche Gesellschaften an, die japanische Muttergesellschaften als USamerikanische Tochtergesellschaften nach einem der Rechte der Bundesstaaten der USA gegründet hatten. Natürlich kann die klar erkennbare Änderung der diesbezüglichen USamerikanischen bilateralen Vertragspraxis keinen unmittelbaren Einfluss auf die Auslegung speziell des deutsch-japanischen HSV ausüben. Aber sie stellt zumindest ein Indiz dafür dar, dass die Definition der Gesellschaften in der allgemeinen bilateralen internationalen Vertragspraxis seit dem Ende des zweiten Weltkriegs nicht restriktiv gehandhabt wird, sondern Raum für eine erweiternde Auslegung lässt. Sowohl der deutsch-US-amerikanische FHSV als auch der deutsch-spanische NV sind von diesem neuen liberalen Geist durchweht. Es darf deshalb auch japanischen Gesellschaften nicht verwehrt sein, sich – gestützt auf die vielen Meistbegünstigungsklauseln in dem deutsch-japanischen HSV von 1927 – darauf zu berufen, dass sie mit den entsprechenden USamerikanischen und spanischen Gesellschaften in Deutschland gleichgestellt werden.39 ___________ 37 Er enthielt – ebenso wie elf andere bilaterale Verträge, welche die USA zwischen den beiden Weltkriegen abschlossen – die folgende Bestimmung über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften (vgl. Herman Walker, oben Fn. 29. S. 379): „Limited liability and other corporations, whether or not for pecuniary profit, which have been or may hereafter be organized in accordance with and under the laws, National, State or Provincial, of either High Contracting Party and maintain a central office within the territories thereof, shall have their juridical status recognized by the other High Contracting Party provided that they pursue no aims within its territories contrary to its laws. They shall enjoy free access to the courts of law and equity, on conforming to the laws regulating the matter, as well as for the prosecution as for the defense of rights in all the matters established by law …“. Hinsichtlich des Textes des Abs. 2 dieser Bestimmung siehe unten Fn. 40 a. E. 38 Avigliano v. Sumitomo Shoji America, Inc. (Fn. 5) S. 557. Ebenso Spiess v. C. Itoh & Co. (America) Inc., 645 F.2d 353 (358 u. 363). 39 Japan hat zwar seinen bilateralen HSV mit Deutschland aus dem Jahre 1927 auf den Grundlagen der Sitztheorie ausgehandelt. Japan hatte damals also nicht darauf bestanden, dass diesem Vertrag die Lehren der Gründungstheorie zugrunde gelegt wurden. Aus diesem Verhalten Japans darf aber nicht der Schluss gezogen werden, es habe darauf verzichtet, sich später im Zusammenhang mit diesem Vertrag auf die Lehren der Gründungstheorie zu berufen. Denn zu jener Zeit gab es im Kreis der bilateralen Verträge der hier erörterten Art noch keine Vorbilder, die der Gründungstheorie gefolgt wären und die auf das Merkmal des Hauptverwaltungssitzes im Gründungsstaat verzichtet hätten. Jedenfalls war zumindest im Umkreis Japans ein solcher bilateraler Vertrag damals noch nicht ersichtlich. Der Tatbestand eines bewussten waiver, sich auf die Gründungs-

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4. Die Vermeidung eines mittelbaren Zwanges, deutsche Tochtergesellschaften zu bilden Eine erweiternde Auslegung des zitierten Art. XIII des HSV in dem Sinne, dass sich auch solche japanischen Gesellschaften auf seine Meistbegünstigungsklauseln berufen können, die von Deutschland aus verwaltet werden, ist ferner aus dem folgenden Umstand angezeigt. a) Japanische Gesellschaften genießen auf Grund des Art. I Abs. 2 des HSV in Deutschland folgende Rechte: „Sie sollen in Bezug auf die Niederlassung … sowie auf dem Gebiet ihrer industriellen und gewerblichen Unternehmungen in jeder Beziehung wie die Angehörigen der meistbegünstigten Nation behandelt werden“ (Ziff. 1). „Sie sollen in Bezug auf alle wie immer beschaffenen Verfügungen über Vermögen jeder Art, das sie in gesetzmäßiger Weise erworben haben, die nämlichen Begünstigungen, Freiheiten und Rechte genießen wie die Inländer oder die Angehörigen der meistbegünstigten Nation“ (Ziff. 4). „Sie sollen vollen Schutz … ihres Vermögens erhalten“ (Ziff. 8). Diese Bestimmungen sehen zwar keineswegs expressis verbis vor, dass japanische Gesellschaften berechtigt sein sollen, in Deutschland Tochtergesellschaften nach deutschem Recht zu gründen.40 Aber eine solche Befugnis lässt sich zumindest implicite aus diesen Bestimmungen herleiten.41 Denn wenn eine japanische Muttergesell___________ theorie zu berufen, wie Carsten Th. Ebenroth / Birgit Bippus (Fn. 28, S. 342 li. Sp.) dies in anderem Zusammenhang für möglich halten, kann also zumindest hinsichtlich Japans nicht vorgelegen haben. 40 Der frühere deutsch-amerikanische Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages (FHSV) mit von 1923 enthielt in seinem Art. XII Abs. 2 folgende Klausel: „Das Recht so anerkannter juristischer Personen eines Vertragsteils, sich in den Gebieten des anderen niederzulassen, Zweigniederlassungen zu errichten und ihre Tätigkeit dort auszuüben, soll von der Zustimmung dieses Teils, wie sie in dessen Reichs-, Landes- und Kommunalgesetzen zum Ausdruck kommt, abhängen und sich allein nach ihr regeln.“ Ebenso lauteten die entsprechenden Bestimmungen in den elf bilateralen Parallelverträgen, welche die USA bis zum Jahre 1931 schlossen, in englischer Sprache (vgl. Herman Walker, oben Fn. 29, S. 379): „The right of such corporations and associations of either High Contracting Party as recognized by the other to establish themselves within its territories, establish branch offices and fulfill their functions therein shall depend upon, and be governed solely by, the consent of such Party as expressed in its National, State, or Provincial laws.“ 41 So auch für den deutsch-amerikanischen Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag (FHSV) vom 29. 10. 1954, dessen Art. VII Abs. 1 Buchst. (b) und (c) allerdings expressis verbis die Befugnis verleiht, Tochtergesellschaften zu gründen, indem er bestimmt: „1. Den Staatsangehörigen und Gesellschaften jedes Vertragsteils wird in dem Gebiet des anderen Vertragsteils Inländerbehandlung hinsichtlich der Ausübung jeder Art von geschäftlicher, industrieller, finanzieller oder sonstiger gegen Entgelt vorgenommener Tätigkeit gewährt. Dabei ist es unerheblich, ob sie diese selbständig oder unselbständig und ob sie sie unmittelbar oder durch einen Vertreter oder durch juristische Personen jeder Art ausüben. Dementsprechend dürfen diese Staatsangehörigen und Gesellschaften innerhalb des genannten Gebiets a) …, b) nach dem Gesell-

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schaft in Deutschland eine nach deutschem Recht organisierte Tochtergesellschaft gründet oder die Anteile an einer solchen erwirbt, macht sie von ihrem hiesigen Niederlassungsrecht Gebrauch (Art. I Abs. 2 Ziff. 1); sie verfügt dabei über ihr „Vermögen jeder Art“, indem sie bei einer Bargründung ihr Geld in die Gesellschaft einbringt oder bei einer Sachgründung über bestimmte ihr gehörige Vermögensgegenstände verfügt (Ziff. 4). Sie ist damit befugt, unter dem HSV „den vollen Schutz … ihres Vermögens“ in Anspruch zu nehmen (Zff. 8). Wenn sich aber eine japanische Muttergesellschaft bei der Gründung einer deutschen Tochtergesellschaft auf die in dem HSV verankerten Meistbegünstigungs- oder Inländerbehandlungsklauseln berufen kann, so muss sich eine solche Begünstigung auch auf das durch diese wirtschaftliche Betätigung geschaffene Subjekt erstrecken: nämlich auf ihre in Deutschland inkorporierte Tochter, bei der es sich in den meisten Fällen um eine deutsche GmbH handeln dürfte. Es wäre befremdlich, wenn nur die japanischen Muttergesellschaften in den Schutz des HSV einbezogen würden, nicht aber ihre deutschen Tochtergesellschaften. Einen Schluss dieser Art hat der US Supreme Court in einer Entscheidung aus dem Jahre 1928 in der Sache Jordan v. Tashiro42 in einer ähnlichen Sachlage in der Tat gezogen. Der bilaterale Handels- und Schiffahrtsvertrag zwischen Japan und den USA aus dem Jahre 1911 ermächtigte die „citizens“ oder „subjects“ der beiden Vertragsstaaten lediglich in allgemeinen Formulierungen dazu, sich geschäftlich in dem Hoheitsgebiet des jeweils anderen zu betätigen. Dieser Vertrag enthielt aber keine ausdrückliche Bestimmung darüber, dass jede Vertragspartei berechtigt sein sollte, Gesellschaften in der Rechtsform des Vertragspartners zu gründen und mit Hilfe einer solchen Gesellschaft auf dem Gebiet des jeweiligen Gründungsstaates Handel zu treiben.43 Der US Supreme Court entschied, die Errichtung einer Tochtergesellschaft zu dem Zwecke, auf dem Gebiet von deren Gründungsstaat Handel zu treiben, sei „incidental to the exercise of the [unter dem bilateralen Vertrag gewährten] privilege“. In noch deutlicherer Sprache führte er aus44: „... it would … be … [eine unzulässige] narrow interpretation, indeed, which, in the absence of retsrictive language, would lead to the conclusion that the treaty had secured to citizens of Japan the ___________ schaftsrecht des anderen Vertragsteils Gesellschaften gründen und Mehrheitsbeteiligungen an Gesellschaften des anderen Vertragsteils erwerben, c) von ihnen errichtete oder erworbene Unternehmen kontrollieren und leiten.“ Vgl. dazu Ulrich Drobnig, American-German Private International Law, 2. Aufl., New York 1972, S. 272 (Bilateral Studies in Private International Law, issued by the Parker School of Foreign and Comparative Law No. 4). 42 278 U.S. 123. 43 Vgl. Fn. 1 der in der vorigen Fn. zitierten Entscheidung (S.48 li. Sp.). 44 A.a.O., S. 49 re. Sp.

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privilege of engaging in a particular business, but had denied to them the privilege of conducting that business in corporate form.“45 b) Ist dies aber so, dann würde eine einschränkende Auslegung des Art. XIII des HSV in dem Sinne, dass nur solche japanischen Muttergesellschaften in den Genuss der Meistbegünstigungs- und Inländerbehandlungsklauseln kommen, die von Japan aus verwaltet werden, zu einem bizarren Ergebnis führen und mit dem Sinn des HSV nicht zu vereinbaren sein. Japanische Muttergesellschaften wären dann, um die Vorteile des deutsch-japanischen HSV genießen zu können, dazu gezwungen, ihre wirtschaftliche Tätigkeit in Deutschland (z. B. ihre hiesige Produktion oder ihren hiesigen Vertrieb/Einkauf) entweder über eine bloße deutsche Niederlassung oder über eine in Deutschland inkorporierte Tochtergesellschaft auszuüben. Ihnen wäre andererseits aber der Genuss der besonderen Vorteile des HSV verwehrt, wenn sie hier im Inland über eine von Deutschland aus gesteuerte japanische Gesellschaft tätig würden. Damit müssten entweder ihre Führungskräfte in Japan beheimatet sein: ein klarer, wie oben ausgeführt, betriebswirtschaftlicher Nachteil. Oder sie müssten ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit in Deutschland in dem Rechtskleid einer deutschen Gesellschaft, etwa einer deutschen GmbH, nachgehen – in einer Rechtsform, mit der sie nicht vertraut wären. Jedenfalls wäre ihnen die dritte, betriebswirtschaftlich effizienteste Art einer wirtschaftlichen Betätigung in Deutschland verschlossen: Sie dürften sich hier im Inland nicht in der Rechtsform einer japanischen Gesellschaft betätigen, die von Deutschland aus gesteuert würde. Eine solche Schlussfolgerung wäre mit den Zielen des Vertrages so, wie diese oben unter II. 1. herausgearbeitet worden sind, nicht zu vereinbaren. Die betreffende japanische Gesellschaft wäre gezwungen, in Deutschland eine Tochtergesellschaft zu gründen, wenn sie in Deutschland nicht eine bloße Niederlassung schaffen wollte. Ein solcher mittelbare Zwang liefe den Zielen des HSV stracks zuwider.

5. Die Parallele zum internationalen Gesellschaftsrecht, das sich nunmehr unter dem Einfluß der EG-Niederlassungsfreiheit herausgebildet hat Die erweiternde Auslegung des Art. XIII des HSV stünde auch im Einklang mit derjenigen Entwicklung, die sich – unter Einfluss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in Sachen Centros46, Überseering47 und ___________ 45

Vgl. dazu auch Herman Walker, (Fn. 29) S. 386 f. EuGH v. 9. 3. 1999, Rs. C-212/97, Slg 1999, I-1459, BB 1999, 809 = RIW 1999, 447 = EWS 1999, 140 = JZ 1999, 669 = AG 1999, 226 = ZIP 1999, 438 = EuWZ 1999,216 = NZG 1999, 298ff. = DB 1999, 625. Vgl. dazu B. Höfling, Die CentrosEntscheidung des EuGH – auf dem Weg zu einer Überlagerungstheorie für Europa, DB 46

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Inspire Art48 – nunmehr im autonomen deutschen internationalen Gesellschaftsrecht vollzieht.49 Im allgemeinen deutschen autonomen Kollisionsrecht galt bisher die Sitztheorie. Seit dem Erlass der zitierten Entscheidungen des EuGH geht nunmehr das deutsche Schrifttum überwiegend davon aus, die Sitztheorie sei tot und sei von der Gründungstheorie abgelöst worden. Auch der BGH hat sich in zwei jüngeren Entscheidungen nunmehr der Gründungstheorie angeschlossen.50 Die erweiternde Auslegung des Art. XIII HSV in dem Sinne, wie sie hier vertreten wird, steht also auch im Einklang mit dieser neuen Entwicklung im autonomen deutschen Kollisionsrecht. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich das autonome japanische Kollisionsrecht der Gesellschaften in Zukunft ebenfalls mehr und mehr der Gründungstheorie zuwenden wird.51 Dann würde sich die hier vertretene Auslegung sogar in die autonomen Kollisionsrechte der beiden Vertragsstaaten Deutschland und Japan inhaltlich widerspruchsfrei einfügen.

6. Der sog. genuine link und der ordre public a) Das deutsche Schrifttum fordert bereits seit langer Zeit, dass ausländische Gesellschaften mit Verwaltungssitz in Deutschland – unter dem Dach eines bilateralen Vertrages – nur dann nach den Lehren der Gründungstheorie in Deutschland anerkannt werden können, wenn sie zu ihrem Gründungsstaat ei___________ 1999, 1206 ff.; dies., Das englische internationale Gesellschaftsrecht, Heidelberg 2002, S. 55 ff. 47 EuGH v. 5. 11. 2002, Rs. C-208/00, BB 2002, 2402 ff. = RIW 2002, 945 = EWS 2002, 569. = NJW 2002, 3614 = AG 2002, 37 = GmbHR 2002, 1137 ZIP 2002, 75 mit Anm. H. Eidenmüller, a.a.O., S. 83 ff. 48 EuGH v. 30. 09. 2003, Rs. C-167/01, Kamer van de Koophandel en Fabrieken voor Amsterdam gegen Inspire Art Ltd., im Internet unter . Der Generalanwalt S. Alber hatte sich in seinen Schlussanträgen (voller Text in http://www.iprax.de/Inspire.htm) bereits für ein solches Ergebnis ausgesprochen. Die Entscheidung findet sich in BB 2003, 2195 = EWS 2003, 513 mit Anm. v. H. Hirte = AG 2003, 680 = GmbHR 2003, 1260 m. Anm. v. W. Meilicke S. 1271 ff. = NJW 2003, 3331 = ZIP 2003, 1885 = EuZW 2003, 687. 49 Vgl. dazu zusammenfassend Otto Sandrock, Was ist erreicht? Was bleibt zu tun?, in: Otto Sandrock / Christoph Wetzler, Deutsches Gesellschaftsrecht im Wettbewerb der Rechtsordnungen, Heidelberg 2004, S. 33 ff. mit umfassenden weit. Nachw. Vgl. ferner dens., Die Schrumpfung der Überlagerungstheorie, Zu den zwingenden Vorschriften des deutschen Sitzrechts, die ein fremdes Gründungsstatut überlagern können, ZVglRWiss Bd. 102 (2003), 447 – 504; dens., BB-Forum: Nach Inspire Art – Was bleibt vom deutschen Sitzrecht übrig ?, BB 2003, 2588 50 Urteil v. 13. 03. 2003, BB 2003, 915 = RIW 2003, 474 in Sachen Überseering und Urteil v. 14.03.2005, BB 2005, 1016 = NJW 2005, 1648 in Sachen U. Ltd. 51 In diesem Sinne ist der Verf. dieses Aufsatzes von seinem japanischen Freund und Kollegen Koresuke Yamauchi informiert worden.

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nen sog. genuine link aufweisen.52 Man beruft sich insoweit auf die bekannte Nottebohm-Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes, die man als einen allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts qualifiziert.53 Das Ziel dieses genuine link-Erfordernisses ist es, die Anerkennung von sog. pseudo foreign corporations im Inland zu verhindern. Wenn die Gründung einer Gesellschaft in einem fremden Staat nur zu einem „rein formellen Band“ zwischen diesem und der Gesellschaft führe, „weil sich alle geschäftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten in einem anderen Staat abspielen, die Gesellschaft also in die dortige Struktur eingebettet ist“54, sei die Anerkennung einer solchen Gesellschaft ausgeschlossen. Der BGH hat in seinem bereits zitierten, jüngst ergangenen Urteil vom 13. 10. 200455 die Maßstäbe, welche an einen solchen genuine link anzuwenden sind, unter dem deutsch-US-amerikanischen FHSV von 1954 konkretisiert, und zwar indem er diese gegenüber den im Schrifttum teils vertretenen Meinungen erheblich reduzierte. In dem Fall, welcher dem BGH zur Entscheidung vorlag. ging es um die Anerkennung der Rechtsfähigkeit einer kalifornischen Gesellschaft in Deutschland. Der BGH entschied56, für einen genuine linke reiche „bereits eine geringe werbende Tätigkeit“ aus. In dem konkreten Fall verfügte die kalifornische Gesellschaft „über einen Telefonanschluss …, der eingehende Anrufe jedenfalls an einen Anrufbeantworter weiterleitet. Die genannten technischen Einrichtungen sind ersichtlich darauf angelegt, wirtschaftliche Tätigkeit auch im US-amerikanischen Bereich zu entfalten. Es kommt hinzu, dass die Klägerin … in San Francisco unter Vereinbarung des amerikanischen Rechts einen Lizenzvertrag nicht nur über eine deutsche Marke, sondern auch über eine in den Vereinigten Staaten von Amerika geschützte Software für ein Datenbankenentwicklungstool abgeschlossen hat.“57 ___________ 52 Vgl. Carsten Th. Ebenroth / Birgit Bippus, Die staatsvertragliche Anerkennung (oben Fn. 24) S. 845f.; Carsten Th. Ebenroth / Matthew J. Kenner / Andreas Willburger, Die Auswirkungen des genuine link-Grundsatzes auf die Anerkennung USamerikanischer Gesellschaften in Deutschland, ZIP 1995, 972; Peter Mankowski, Urteilsanmerkung, EWiR § 50 ZPO 1/03, 661; Bernhard Großfeld (oben Fn. 28) S. 56 Rdz. 212; jeweils mit weit. Nachw.. 53 Liechtenstein v. Guatemala, I. C. J. Rep. 1955 S. 4-49. 54 Carsten Th. Ebenroth / Birgit Bippus, Die staatsvertragliche Anerkennung, (Fn. 24) S. 845 li. Sp. 55 Siehe oben Fn. 25 unter (iii). 56 BB 2004 S. 2596 li. Sp. 57 Als Vorinstanz hatte das OLG Düsseldorf in einem Urteil vom 15. 12. 1994 (RIW 1995, 508) entschieden, die Gesellschaft weise keine tatsächlichen, effektiven Beziehungen zum amerikanischen Gründungsstaat (einen sog. genuine link) auf, weil sie sämtliche Aktivitäten in Deutschland entfalte. Es handele sich deshalb um eine rechtsmissbräuchliche Umgehungsgründung zu dem Zweck, unter Ausnutzung der „liberalen bis laxen“ Rechtsordnung des US-Bundesstaates Delaware im deutschen Inland sämtli-

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In ähnlich großzügiger Weise hatte auch der EuGH in seinen beiden Urteilen in Sachen Centros vom 09. 03. 199958 und in Sachen Inspire Art vom 30. 09. 200359 entschieden, es stelle keinen Missbrauch der nach Art. 43, 48 EGV garantierten Niederlassungsfreiheit dar, wenn eine Gesellschaft in einem Mitgliedstaat errichtet werde, dessen gesellschaftsrechtliche Vorschriften den Gründern die größte Freiheit ließen.60 Wenn eine solche Gesellschaft eine Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedsstaat errichte, sei es unbeachtlich, wenn die Gesellschaft über eine solche Gesellschaft „ihre gesamte Geschäftstätigkeit“ ausübe.61 Der EuGH schein daher noch geringere Anforderungen an diejenigen Bande zu stellen, die der BGH für den genuine link zwischen einer Gesellschaft und ihrem Gründungsstaat für erforderlich hält. Kraft der Meistbegünstigungsklauseln in dem deutsch-japanischen HSV gelten zumindest die vom BGH herausgearbeiteten Maßstäbe auch für japanische Gesellschaften mit Verwaltungssitz in Deutschland.62 b) Gegenüber der Anerkennung von Gesellschaften in japanischer Rechtsform, die vom deutschen Inland aus verwaltet werden, kann auch nicht der ordre public ins Feld geführt werden. Der deutsch-japanische HSV von 1927 enthält keine spezielle ordre public-Bestimmung. Damit käme allenfalls die Anwendung des Art. 6 EG BGB in Betracht. Die Anwendung dieser Bestimmung ist jedoch ausgeschlossen. Denn wenn der Staatsvertrag selbst keine solche Bestimmung enthält, so muss daraus geschlossen werden, dass die Parteien – von einem Rechtsmissbrauch abgesehen – die Bestimmungen ihres Vertrages angewendet wissen wollten, ohne dass einer der beiden Parteien die Befugnis zuste-

___________ che gesellschaftlichen und geschäftlichen Aktivitäten zu entfalten (sog. pseudo-foreign corporations). Vgl. zu diesem Urteil Carsten Th. Ebenroth / Matthew J. Kemner / Andreas Willburger (oben Fn. 52); Michael J. Ulmer, Die Anerkennung US-amerikanischer Gesellschaften in Deutschland, IPrax 1996, 100; Gerhard Hohloch, Urteilsanmerkung, JuS 1995, 1038. 58 Siehe oben Fn. 46. 59 Siehe oben Fn. 48. 60 Im Centros-Urteil unter Nr. 27 der Entscheidungsgründe; im Inspire Art-Urteil unter Ziff. 137 der Entscheidungsgründe. 61 Im Centros-Urteil unter Nr. 30 der Entscheidungsgründe; im Inspire Art-Urteil unter Ziff. 139 der Entscheidungsgründe. 62 Ob sich japanische Gesellschaften – gestützt auf die Meistbegünstigungsklausel im HSV – mit Erfolg auch auf die Rechtsprechung des EuGH berufen können, mag hier offen bleiben. Denn dem EuGH steht nur die Befugnis zu, für die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit nach Art. 43, 48 EGV zu sorgen. Er verfügt hingegen nicht über die Macht, den Mitgliedstaaten der EG die Befolgung von kollisionsrechtlichen Regeln vorzuschreiben. Der Zwang, bestimmten kollisionsrechtlichen Regeln zu folgen, kann sich allerdings mittelbar aus den Entscheidungen des EuGH ergeben.

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hen sollte, sich auf die allgemeine kollisionsrechtliche ordre public-Norm ihres Heimatstaates zu berufen.63

III. Ergebnisse Auf Grund von Art. XIII des bilateralen Handels- und Schiffahrtsvertrages (HSV) vom 20. 07. 1927 ist die Rechts- und Parteifähigkeit von Gesellschaften, die in Japan in einer Rechtsform des japanischen Gesellschaftsrechts wirksam gegründet worden sind, auch dann anzuerkennen, wenn sie von Deutschland aus verwaltet werden, wenn ihr Hauptverwaltungssitz also in Deutschland liegt. Die Regelung des zitierten Art. XIII ermöglicht also die Anerkennung von japanischen Gesellschaften auf der Grundlage der Gründungstheorie. Der Wortlaut des zitierten Art. XIII fordert zwar, dass die anzuerkennende japanische Gesellschaft in Japan „ihren Sitz ha[t]“. Dabei ist offensichtlich der Hauptverwaltungssitz gemeint. Diese Regelung ist aber nicht als eine abschließende Maximal-, sondern als eine offene Minimalregelung anzusehen. Sie erlaubt es deshalb, über ihren Wortlaut hinaus auch solche japanischen Gesellschaften in die Anerkennungspflicht einzubeziehen, die von Deutschland aus verwaltet werden. Eine solche erweiternde Auslegung ist auf Grund folgender Umstände gerechtfertigt: (i) Sowohl Sinn und Zweck des HSV64 als auch (ii) das Gegenseitigkeitsprinzip, auf welchem dieser bilaterale Vertrag beruht65, lassen eine solche Interpretation als angezeigt erscheinen. (iii) Die im HSV enthaltenen Meistbegünstigungsklauseln erfordern eine solche Auslegung ebenfalls. Denn Gesellschaften, die nach dem Recht eines der Bundesstaaten der USA gegründet sind, wird eine solche erleichterte Anerkennung durch Art. XXV Abs. 5 des deutsch-US-amerikanischen Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages (FHSV) vom 29. 10. 1954 gewährt. Das gleiche gilt für spanische Gesellschaften auf Grund des deutsch-spanischen Niederlassungsvertrages vom 23. 04. 1970. Japanische Gesellschaften dürfen deshalb auf Grund der im deutschjapanischen HSV enthaltenen Meistbegünstigungsklauseln nicht schlechter gestellt werden dürfen als US-amerikanische oder spanische Gesellschaften. Sie müssen also ebenfalls in den Genuss einer wesentlich erleichterten Anerkennung kommen, die auf den Lehren der Gründungstheorie beruht.66 (iv) Durch eine solche Anerkennung wird vermieden, dass japanische Gesellschaften mit___________ 63 So auch Carsten Th. Ebenroth / Birgit Bippus, Die staatsvertragliche Anerkennung, (Fn. 24) S. 847. 64 Siehe oben unter II. 1. 65 Siehe oben unter II. 2. 66 Siehe oben unter II. 3.

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telbar gezwungen werden, sich entweder mit einer deutschen Niederlassung zu begnügen oder in Deutschland eine Tochtergesellschaft nach deutschem Gesellschaftsrecht zu gründen. Ein solcher Zwang wäre mit dem deutsch-japanischen HSV nicht zu vereinbaren.67 (v) Eine derartige Interpretation steht ferner im Einklang mit dem deutschen autonomen internationalen Gesellschaftsrecht in derjenigen Gestalt, in welcher es sich derzeit auf Grund der in Art. 43, 48 des EGV garantierten Niederlassungsfreiheit herausbildet. Der EuGH hat mit seinen Entscheidungen in Sachen Centros, Überseering und Inspire Art eine solche Entwicklung des deutschen autonomen Gesellschaftskollisionsrechts vorgezeichnet.68 (vi) Eine Gesellschaft, die in Japan in einer Rechtsform des japanischen Rechts wirksam gegründet ist, kann in Deutschland allerdings nur dann die Anerkennung ihrer Rechts- und Parteifähigkeit beanspruchen, wenn zwischen ihr und Japan ein sog. genuine link besteht. Für die Existenz einer solchen „links“ genügt aber bereits eine geringe werbende Tätigkeit in Japan. Insofern ist die Rechtsprechung des BGH zur Anerkennung US-amerikanischer Gesellschaften in Deutschland maßgeblich.69 Die Berufung auf den allgemeinen deutschen ordre public im Sinne des Art. 6 EGBGB ist gegenüber der Anerkennung japanischer Gesellschaften im Allgemeinen nicht möglich.70

___________ 67

Siehe oben unter II. 4. Siehe oben unter II. 5. 69 Siehe oben unter II. 6. a). 70 Siehe oben unter II. 6. b). 68

Koalitionsfreiheit und Arbeitskampfrecht in der Bundesrepublik Deutschland Von Wilfried Schlüter

I. Die heutige Stellung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in der Gesellschaft 1. Die Gewerkschaften Die gewerkschaftliche Macht ist derzeit beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) konzentriert, der etwa 83 % der in einer Gewerkschaft organisierten Arbeitnehmer repräsentiert.1 Die Arbeitnehmer haben nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates, in dem Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände verboten waren, nicht mehr zahlreiche, weltanschaulich und parteipolitisch ausgerichtete Gewerkschaften, sondern im Wesentlichen eine Einheitsgewerkschaft gebildet. Sie vermeidet interne Zwistigkeiten zwischen den Arbeitnehmerorganisationen. Das hat erheblich zur Stärke der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland beigetragen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund umfasst als gewerkschaftlicher Dachverband acht Einzelgewerkschaften, die nicht nach dem Berufsverbands-, sondern nach dem Industrieverbandsprinzip organisiert sind. Wegen des erheblichen Mitgliederschwunds im letzten Jahrzehnt wurde ihre Zahl wurde durch mehrere Zusammenschlüsse von ursprünglich 17 auf jetzt 8 Einzelgewerkschaften reduziert.2 Die größten unter ihnen sind die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und die Industriegewerkschaft Metall. Zu den kleineren, aber sehr einflussreichen Gewerkschaften gehört die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Im Jahr 1996 hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund noch 8.972.672 Mitglieder. Bis zum 31. 12. 2004 war die Mitgliederzahl auf 7.013.037 zurückgegangen. Dennoch üben die deutschen Gewerkschaften in der Gesellschaft nach wie vor großen politischen Einfluss aus. ___________ 1

Brox/Rüthers/Henssler, Arbeitsrecht, 16. Aufl. 2004, Rdnr. 674. Dem DGB gehören folgende branchenbezogene Gewerkschaften an (Stand 2005): 1. IG Bauen-Agrar-Umwelt, IG Bergbau-Chemie-Energie, 3. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, 4. IG Metall, 5. Gewerkschaft Nahrung, Genuss und Gaststätten, 6. Gewerkschaft der Polizei, 7. TRANSNET, 8. Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. 2

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Neben dem Deutschen Gewerkschaftsbund spielen weitere konkurrierende Gewerkschaften eine nur geringe Rolle. Zu nennen sind der Christliche Gewerkschaftsbund Deutschlands mit etwa 300.000 Mitgliedern und der Deutsche Beamtenbund mit etwa 1.200.000 Mitgliedern. Insgesamt sind rund 25 % der Arbeiter, Angestellten und Beamten gewerkschaftlich – mit allerdings deutlich abnehmender Tendenz – organisiert.

2. Die Arbeitgeberverbände Ebenso wie die Gewerkschaften sind die Arbeitgeberverbände in einer Spitzenorganisation, der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, organisiert.3 Sie vereinigt die Arbeitgeberorganisationen aller Wirtschaftszweige und vertritt die sozialpolitischen Interessen der gesamten deutschen Wirtschaft. Die Bundesvereinigung umfasst 64 Bundesfachverbände und 14 Landesverbände als Mitglieder. Der größte deutsche Arbeitgeber, die öffentliche Hand, gehört allerdings nicht zu den Arbeitgeberverbänden. Insgesamt werden 75 bis 80 % aller privaten deutschen Arbeitgeber von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber repräsentiert. Aufgabe der Bundesvereinigung ist es, die Grundlagen der unternehmerischen Sozialpolitik zu legen. Die Bundesvereinigung gibt Empfehlungen an ihre Mitgliedsverbände und berät diese bei der Durchführung. Sie schließt selbst keine Tarifverträge ab, sondern beschränkt sich auf die Koordinierung der Tarifpolitik ihrer Mitglieder. Sie ist Verhandlungspartner aller gewerkschaftlichen Dachorganisationen. Die Tarifverträge werden aber von den fachlichen Arbeitgeberverbänden jeweils für einzelne Wirtschaftszweige (Metallindustrie, Chemische Industrie etc.) auf regionaler Ebene geschlossen. Während sich die Gewerkschaften als umfassende Vertreter der Arbeitnehmerinteressen verstehen, versuchen sich die Arbeitgeberverbände auf die Vertretung der tarif- und sozialpolitischen Belange der Arbeitgeber zu beschränken. Neben der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände tritt als Vertreter der unternehmenspolitischen und wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) als Spitzenorganisation der fachverbandlich strukturierten Industrieverbände auf. In ihrem Wirken nach innen sind der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände durch die Unabhängigkeit ihrer Mitglieder enge Grenzen gesetzt. Die Arbeitgeberverbände haben gegenüber ihren einzelnen Mitgliedern, ___________ 3 Näheres dazu Franke/Krüger, AR-Bl. D, Berufsverbände IV, Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände; Brox/Rüthers/Henssler, (Fn. 1) Rdnr. 678.

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insbesondere gegenüber Großunternehmen, eine verhältnismäßig schwache Stellung. Auch die Solidarität unter den Mitgliedern, die außerhalb des Verbands oftmals wirtschaftliche Konkurrenten sind, können nicht mit der gewerkschaftlichen Solidarität verglichen werden. Denn in den Arbeitgeberverbänden stoßen partiell gemeinsame Arbeitsmarktinteressen und gegenläufige Wettbewerbsinteressen der Mitglieder aufeinander.

3. Aktuelle Fragen der Tarifpolitik Die tarifvertraglichen Vereinbarungen von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften führen dazu, dass individuelle Regelungen über Löhne, Gehälter, Urlaub und Arbeitszeit etc. zur Ausnahme geworden sind. Dies gilt, obwohl nur rund 25 % der deutschen Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert sind und auch nicht alle Unternehmen Arbeitgeberverbänden angehören. In vielen Fällen, in denen die Arbeitsvertragsparteien nicht tarifgebunden sind, wird jedoch im Arbeitsvertrag auf den jeweiligen Tarifvertrag Bezug genommen und dieser damit zum Inhalt des Arbeitsvertrags. Hauptforderung der Gewerkschaften ist seit Jahren die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich. Die Gewerkschaften glauben, dass dadurch die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland von derzeit fast 5 Mio. wirksam bekämpft werden kann. Diese gewerkschaftliche Forderung führte bei den Tarifverhandlungen im Jahr 1984 zu dem härtesten und längsten Tarifkonflikt seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland, von dem zuletzt 280.000 Arbeitnehmer betroffen waren. Beigelegt wurde der mehrere Wochen dauernde Arbeitskampf dadurch, dass sich die Tarifparteien auf eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 38,5 Stunden einigten. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse, vor allem in den neuen Bundesländern, findet die Forderung nach verkürzter Arbeitzeit bei den Arbeitnehmern immer weniger Resonanz. Das wurde 2003 deutlich, als die Gewerkschaft IG Metall in den neuen Bundesländern einen Arbeitskampf um die Einführung der 35-StundenWoche führte und ihn ergebnislos abbrechen musste, was seit Bestehen der Bundesrepublik bisher bei keinem Arbeitskampf geschehen war. Anstatt einer Arbeitszeitverkürzung stehen bei den Tarifverhandlungen derzeit gegenüber Fragen der Flexibilität bei Löhnen und Arbeitszeit im Vordergrund. Namentlich die Flächentarifverträge werden wegen ihrer mangelnden Flexibilität zunehmend kritisiert. Sie gehen regelmäßig von der Lage in Großunternehmen aus und berücksichtigen häufig nicht hinreichend die Besonderheiten mittelständischer Betriebe, obwohl diese den Großteil der deutschen Arbeitnehmerschaft beschäftigen. Einigen Unternehmen ist angesichts unbezahlbarer Personalkosten keine andere Möglichkeit geblieben, als aus ihren Arbeitgeberverbänden aus-

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zutreten.4 Andere versuchen, die Tarifverträge durch Betriebsvereinbarungen oder einzelvertragliche Abmachungen zu unterlaufen. Das Tarifvertragssystem, vor allem aber der Flächentarifvertrag, ist dadurch in eine ernsthafte Krise geraten. Arbeitnehmer und Betriebsräte nehmen die untertarifliche Bezahlung oft in Kauf, obwohl sie von ihren weitergehenden Ansprüchen wissen. Durch derartige „Bündnisse für Arbeit“ handeln sie im Interesse der Existenz ihres Betriebes und der Sicherung ihrer Arbeitsplätze, schwächen dadurch aber zugleich die Position, Akzeptanz und damit auch die Kampffähigkeit der Gewerkschaften, die die tarifvertraglichen Ansprüche nach hartem Ringen gegenüber den Arbeitgebern durchgesetzt haben. Die jüngste Entwicklung offenbart Symptome einer Krise, die sich in der gegenwärtigen Diskussion um Tarifvertrag und Tarifautonomie und auch im wissenschaftlichen Schrifttum widerspiegelt.5 Der rechtliche Rahmen zur Lösung dieses aktuellen Problems ist eng. § 4 Abs. 1 TVG erklärt die Rechtsnormen eines Tarifvertrages, die den Inhalt, Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, für unmittelbar und zwingend zwischen den durch einen Flächentarifvertrag Tarifgebundenen. Abweichungen sind nur aufgrund einer tarifvertraglichen Öffnungsklausel zulässig oder wenn sie eine Regelung zugunsten der Arbeitnehmer enthalten, § 4 Abs. 3 TVG. Die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers endet nicht etwa mit dem Austritt des Arbeitgebers aus dem Arbeitgeberverband, sondern bleibt nach § 3 Abs. 3 TVG bis zum Ende der Gültigkeit des Tarifvertrags bestehen. Das erschwert die flexible Handhabung tarifvertraglicher Mindeststandards vor dem Hintergrund konjunktureller Entwicklungen sowie regionaler und einzelbetrieblicher Besonderheiten. Hinzu kommt eine gesamteuropäische Komponente. Sie hat angesichts des hohen deutschen Lohnniveaus und der hohen Lohnnebenkosten wachsende Bedeutung. So werden beispielsweise im Baugewerbe in großem Umfang portugiesische, polnische und andere ausländische Arbeitnehmer eingesetzt. Sie verdienen auf deutschen Baustellen nur einen Bruchteil des in Deutschland üblichen Arbeitslohns. Kaum ein deutscher Bauunternehmer kann dagegen in einer baukonjunkturell schlechten Wettbewerbslage mit deutschen Arbeitnehmern und einem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag (§ 5 TVG) bestehen. ___________ 4 Bauer/Diller, DB 1993, 1085; Dahlbender, Der Austritt des Arbeitgebers aus seinem Verband zwecks Loslösung von Tarifverträgen, Diss. Bonn 1995; Hoß/Liebscher, DB 1996, 529; Krauss, DB 1996, 528. 5 Zur Krise des Tarifvertragssystems Buchner, NZA 1995, 761 ff.; Hanau, RdA 1998, 65 ff.; Heinze, DB 1996, 729, 732 ff.; Henssler, ZfA 1994, 487, 488; Konzen, NZA 1995, 913, 919; Lieb, NZA 1994, 289 ff.; Schaub, NZA 1998, 617 ff.; Traxler, WSI-Mitteilungen 1998, 249 ff.; Loritz, in Festschrift 50. Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 557; zahlreiche Beiträge zu diesem Themenkreis auch in der Festschrift für G. Schaub, Tarifautonomie für ein neues Jahrhundert (1998), S. 7 ff., 205 ff., 389 ff., 487 ff.

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Der Gesetzgeber versucht dem neuerdings dadurch zu begegnen, dass er auch für grenzüberschreitende Dienstleistungen zwingende Mindestarbeitsbedingungen nach Maßgabe des für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags vorschreibt.6 Im Parlament wird derzeit darüber hinaus die Verabschiedung eines für alle Branchen geltenden Mindestlohngesetzes gefordert. In anderen Wirtschaftsbereichen versucht die betriebliche Praxis den für den einzelnen Betrieb nicht passenden, wenig flexiblen Flächentarifvertrag durch Vereinbarungen auf Betriebsebene zu entgehen. Viele Betriebsräte sind, um die Arbeitsplätze der Belegschaft möglichst zu erhalten, bereit, mit dem Arbeitgeber in Lohn- und Arbeitszeitfragen Vereinbarungen zu treffen, die zuungunsten der Belegschaft von dem Tarifvertrag abweichen („betriebliche Bündnisse für Arbeit“). Diese „Flucht“ in die Betriebsverfassung7 ist nach überwiegender und zutreffender Auffassung mit dem geltenden Recht nicht vereinbar.8 Die normativen Wirkungen, die der Tarifvertrag nach §4 Abs. 1 TVG entfaltet, können ohne eine Öffnungsklausel im Tarifvertrag nicht durch eine Betriebsvereinbarung beseitigt werden. Auch wenn kein Tarifvertrag besteht verbietet § 77 Abs. 3 BetrVG auf Betriebsebene jede Vereinbarung über Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen wenn sie üblicherweise durch Tarifvertrag geregelt werden. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Tarifvertrag ergänzende Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. Diese Regelungssperre in § 77 Abs. 3 BetrVG soll die ausgeübte und aktualisierte Tarifautonomie schützen,9 verhindert aber auf den einzelnen Betrieb zugeschnittene Vereinbarungen auf Betriebsebene. Andererseits lässt sich nicht leugnen, dass der Flächentarifvertrag durch die derzeitige gesetzliche Regelung eine Kartellwirkung hat. Er führt zu einer Gleichheit der Personalkosten bei konkurrierenden in- und ausländischen Unternehmen, die in einer Branche miteinander im Wettbewerb stehen. Der dadurch ausgelöste Kosten- und Wettbewerbsdruck hat viele Unternehmen zu Rationalisierungs- und Modernisierungsmaßnahmen gezwungen. Die hohen Personalkosten machen den Abbau von Arbeitsplätzen erforderlich, um im Personalkostenbereich Wettbewerbsvorteile gegenüber der Konkurrenz zu erzielen. Der Flächentarifvertrag hat daher nicht nur in kleineren, sondern auch in Großunternehmen eine zunehmend arbeitsplatzvernichtende Wirkung entfaltet. Deshalb wird auch im Parlament seit längerem erwogen, durch eine Gesetzesände___________ 6

§ 1 des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes – AEntG – vom 26. 2. 1996 (BGBl I S. 227), zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. 07. 2004 (BGBl I S. 1842). 7 Heinze, DB 1996, 729, 734; ders., NZA 1995, 5 ff. 8 Ehmann/Schmidt, NZA 1995, 193, 196, 198 ff.; Heinze, DB 1996, 729, 734; Reuter, RdA 1991, 193, 201 f.; RdA 1994, 152, 166 f., 182 f.; anders Henssler, ZfA 1994, 487, 497 ff. 9 BAG vom 22. 5. 1979, AP Nr. 13 zu § 118 BetrVG 1972; vom 3. 12. 1991 (GS), AP Nr. 51 und 52 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung; Richardi, Betriebsverfassungsgesetz, 9. Aufl. 2004, §77 Rdnr. 228 m.w.N.

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rung vom Flächentarifvertrag abweichende, auf die besondere Situation des jeweiligen Betriebs zugeschnittene betriebliche Regelungen zuzulassen.

II. Die mangelnde Kodifikation des Arbeitskampfrechts Das Arbeitskampfrecht unterscheidet sich von den übrigen Teilbereichen des deutschen Arbeitsrechts vor allem dadurch, dass es vom Gesetzgeber nicht geregelt worden ist. Es gibt zwar ein Tarifvertragsgesetz, aber kein Arbeitskampfgesetz. Daran hat sich auch nach der Wiedervereinigung Deutschlands nichts geändert. Art. 30 Abs. 1 Nr. 1 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag)10 verpflichtet den gesamtdeutschen Gesetzgeber nur zur einheitlichen Neukodifizierung des individuellen Arbeitsvertragsrechts. Ein Gesetz zur Regelung des kollektiven Arbeitsrechts unter Einschluss des Streikrechts verlangt Art. 30 Abs. 1 Nr. 1 des Einigungsvertrages nicht. Der Entwurf eines solchen Gesetzes, den eine Gruppe von Arbeitsrechtlern schon 1988 vorgelegt hat11, hat kaum Aussicht, in absehbarer Zeit verwirklicht zu werden. Die Bekämpfung der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik und nicht die Kodifizierung des Arbeitskampfrechts genießt derzeit politische Priorität. Hinzu kommt, dass in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen und außereuropäischen Staaten Arbeitskämpfe relativ selten geführt werden. In den Jahren 1990 bis 2002 gingen in Deutschland bezogen auf je 1000 Beschäftigten pro Jahr lediglich 12 Arbeitstage verloren. In den meisten europäischen Staaten war der Arbeitsausfall deutlich höher, so betrug er z. B. in Spanien 312 und in Griechenland 298 Arbeitstage. Mit nur zwei arbeitskampfbedingten Ausfalltagen in dem genannten Zeitraum lagen nur Japan und die Schweiz deutlich niedriger als Deutschland. Das geltende Arbeitskampfrecht ist von der Rechtsprechung entwickelt worden. Es ist also reines Richterrecht, das dem deutschen Rechtssystem an sich fremd ist. Die einzige Rechtsnorm, aus der die Rechtsprechung das gesamte sehr differenzierte Arbeitskampfrecht abgeleitet hat, findet sich in der Verfassung: Art. 9 Abs. 3 GG. Die Vorschrift lautet: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen nach den Art. 12 a,

___________ 10

Vom 3.10.1990, BGBl II S. 889; dazu Adomeit, NZA 1993, 433 ff. Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetz zur Regelung kollektiver Arbeitskonflikte, Entwurf und Begründung 1988. 11

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35 Abs. 2 und 3, Art. 87a Abs. 4 und Art. 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.“12

In Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG werden zwar Arbeitskämpfe erwähnt. Dem bloßen Wortlaut dieser Verfassungsnorm lässt sich für die nähere Ausgestaltung des Arbeitskampfrechts jedoch nichts entnehmen. Um verstehen zu können, wie die Rechtsprechung aus Art. 9 Abs. 3 GG ein komplexes und sehr detailliertes Regelwerk über die Zulässigkeit und die Grenzen von Arbeitskämpfen entwickeln konnte, sollen zunächst überblickartig die wesentlichen in Art. 9 Abs. 3 GG enthaltenen Verfassungsgarantien dargestellt werden.

III. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Koalitionsfreiheit 1. Die allgemeine Bedeutung der Koalitionsfreiheit Ein freiheitlich demokratisches Verfassungssystem ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass es die Organisation und Repräsentation gesellschaftlicher Interessen in staatsfrei gebildeten Vereinigungen zulässt und rechtlich stützt.13 Daher wird die allgemeine Vereinigungsfreiheit durch Art. 9 Abs. 1 GG garantiert. Sie gewährleistet allen Deutschen das Recht, Vereine und Gesellschaften zu gründen. Die allgemeine Vereinigungsfreiheit und die durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Koalitionsfreiheit konstituieren eines der zentralen Aufbauprinzipien der grundgesetzlichen Verwirklichung der individuellen Persönlichkeit und das Recht zur autonomen gesellschaftlichen Selbstorganisation. Art. 9 Abs. 3 GG ist die zentrale Norm für das gesamte deutsche Tarifwesen. Alle Bestimmungen des gesetzlichen Tarifrechts sowie die Regeln des von der Rechtsprechung entwickelten Arbeitskampfrechts müssen im Einklang stehen mit den Rechtsgarantien, die Art. 9 Abs. 3 vorsieht. Denn Art. 1 Abs. 3 GG bindet Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung. Das Tarif- und Arbeitskampfrecht darf daher die aus Art. 9 Abs. 3 GG fließenden Grundrechtsgewährleistungen nur konkretisieren, also inhaltlich näher ausformen, jedoch nicht verkürzen. Daher ist es erforderlich, sich die aus dieser Verfassungsbestimmung fließenden Rechtsgarantien zu vergegenwärtigen. Art. 9 Abs. 3 GG

___________ 12 Maßnahmen nach Art. 12 a, 35 Abs. 2 und 3, 87 a Abs. 4 GG sind Maßnahmen des staatlichen Notstands. 13 Rüthers, ZfA 1982, 237.

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enthält zwei Gewährleistungsebenen: die individuelle und die kollektive Koalitionsfreiheit.14 Die Koalitionsfreiheit ist somit ein Doppelgrundrecht. Der grundrechtliche Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG wirkt in zweifacher Weise: Er verpflichtet einerseits den Staat und andererseits alle Privaten, jedwede Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit zu unterlassen. Letzteres bezeichnet man als unmittelbare Drittwirkung, die nach deutschem Verfassungsrecht nur gilt, wenn ein Grundrecht ausdrücklich auch unter Privaten für anwendbar erklärt worden ist. Eine solche Erklärung enthält Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG.

2. Der Inhalt der Koalitionsfreiheit a) Die individuelle Koalitionsfreiheit Obwohl das Arbeitskampfrecht der kollektiven Koalitionsfreiheit zu entnehmen ist, soll zunächst kurz die individuelle Koalitionsfreiheit erläutert werden. Die individuelle Koalitionsfreiheit hat nach deutschem Verfassungsrecht zwei Seiten: Die positive und die negative Koalitionsfreiheit.15 Die positive individuelle Koalitionsfreiheit schützt das Recht des einzelnen Arbeitnehmers und Arbeitgebers, sich zu Koalitionen, also Gewerkschaften bzw. Arbeitgeberverbänden zusammenzuschließen, solchen beizutreten, in ihnen zu verbleiben, sich in ihnen als Mitglied zu betätigen, unter bestehenden Koalitionen auszuwählen sowie von der einen in die andere Koalition überzutreten. Daneben garantiert Art. 9 Abs. 3 GG aber auch die negative individuelle Koalitionsfreiheit. Das Bundesverfassungsgericht hat sie erst im Mitbestimmungsurteil vom 01. 03. 1979 definitiv anerkannt16. Sie umfasst das Recht des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers, sich nicht zu Koalitionen zusammenzuschließen, bestehenden Koalitionen fernzubleiben sowie aus diesen auszutreten. Bedeutung hat die negative Koalitionsfreiheit daher vor allem für den Schutz von nicht organisierten Arbeitnehmern und Arbeitgebern vor jeder Form von Zwang, der darauf abzielt, dass sie einer Koalition beitreten. Mit der negativen Koalitionsfreiheit unvereinbar ist daher jede Zwangskorporation von Arbeitnehmern bzw. Arbeitgebern ebenso wie das aus dem amerikanischen Tarifwesen bekannte „closed shop-Prinzip“, durch das dem Arbeitgeber die Einstellung nicht oder nicht bei der tarifschließenden Gewerk___________ 14 Brox/Rüthers/Henssler, (Fn. 1) Rdnr. 659 ff; Scholz, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 9 Rdnr. 168-170; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, 5. Aufl. 1998, § 8 IV 4 c. 15 BAGE 20, 175, 213 ff.; Brox/Rüthers/Henssler, (Fn. 1) Rdnr. 659 ff; Zöllner/ Loritz, (Fn. 15) § 8 IV 2. 16 BVerfGE 50, 290, 367 = AP Nr. 1 zu § 1 MitbestG.

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schaft organisierter Arbeitnehmer verboten wird.17 Ebenfalls mit der negativen Koalitionsfreiheit unvereinbar sind so genannte Tarifausschlussklauseln, durch die die Gewährung der tarifvertraglichen Arbeitsbedingungen für nicht oder nicht bei der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft organisierte Arbeitnehmer verboten wird. Die negative Koalitionsfreiheit verbietet ferner tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, durch die dem Arbeitgeber aufgegeben wird, bei der Gewährung bestimmter Leistungen zwischen organisierten und nichtorganisierten Arbeitnehmern zu unterscheiden.18 Keinen Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit sieht dagegen das Bundesverfassungsgericht in der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen.19

b) Die kollektive Koalitionsfreiheit Neben dem Individualgrundrecht der positiven und negativen Koalitionsfreiheit entnehmen Rechtsprechung und Schrifttum Art. 9 Abs. 3 GG die kollektive Koalitionsfreiheit, die sich als Verbandsgrundrecht kennzeichnen lässt. Träger der kollektiven Koalitionsfreiheit ist nicht der einzelne Bürger, sondern es sind die Koalitionen selbst, also die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Ihre spezifisch koalitionsgemäße Betätigung ist verfassungsrechtlich gesichert.20 Dieser Schutz der Koalitionen erfüllt sich in vier Teilgarantien: der Koalitionsbestandsgarantie als Sicherung von freiem Verbandsbestand und freier Verbandsorganisation, der Koalitionszweckgarantie als der Sicherung des freien Koalitionszwecks, der Koalitionsverfahrensgarantie und der Koalitionsmittelgarantie als den Sicherungen von freier Koalitionseinigung, freiem Koalitionskampf und freiheitlicher Wahl der verfahrensmäßig einzusetzenden Koalitionsmittel. Diese Teilgarantien der kollektiven Koalitionsfreiheit zergliedern Rechtsprechung und Schrifttum weiter in bestimmte Teilgewährleistungen, die sich im Rahmen dieses Überblicks nicht systematisch, sondern nur beispielhaft wiedergeben lassen.

aa) Die Koalitionsbestandsgarantie Eine wesentliche Teilgewährleistung der Koalitionsbestandsgarantie besteht darin, dass der Staat – einschließlich der Gerichte – die Gründung von Koaliti___________ 17 Dazu auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, NJW 1982, 2717 ff.; Scholz, AöR 107, 126. 18 BAG GS AP Nr. 13 zu Art. 9 GG. 19 BVerfGE 44, 322, 352. 20 BVerfGE 17, 319, 333; 18, 18, 26; Brox/Rüthers/Henssler, (Fn. 1) Rdnr. 666.

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onen nicht behindern darf, etwa durch präventive Kontrollen.21 Die Koalitionen bedürfen zu ihrer Gründung keiner staatlichen Anerkennung. Die Koalitionsbestandsgarantie sichert den Koalitionen auch ihre freie Verbandsorganisation, also die verbandsinterne Verbandsautonomie. Im Rahmen der Koalitionsbestandsgarantie besteht weiterhin ein Schutz für solche Maßnahmen, die für die Erhaltung und Sicherung der Existenz der Koalitionen unerlässlich sind. Dazu gehört vor allem das Recht zur Werbung und Information im Betrieb. Dabei muss die Gewerkschaft allerdings die Grundrechte des Arbeitgebers beachten, sie darf beispielsweise nicht sein Eigentum, etwa Schutzhelme als Werbeträger für Aufkleber, benutzen.22 Hieran zeigt sich, dass die kollektive Koalitionsfreiheit wie jedes andere Grundrecht nicht grenzenlos ist, sondern dort endet, wo der Schutz anderer Grundrechte einsetzt.

bb) Die Koalitionszweckgarantie Die Koalitionszweckgarantie umfasst die Gewährleistung des Aufgabenbereichs von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, also die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen.23 Bei der Formulierung des Grundgesetzes wurde bewusst darauf verzichtet, den Koalitionszweck näher zu bestimmen. Nach deutschem Verfassungsrecht soll sich der Koalitionszweck erst in der Verfassungswirklichkeit konkretisieren. Die Koalitionen sollen in der Lage sein, sich auch neuer vom Verfassungs- und Gesetzgeber noch nicht vorhergesehener Probleme anzunehmen. Art. 9 Abs. 3 GG gibt den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden so die Möglichkeit und Freiheit, ihre Ordnungsaufgaben sowie ihr ordnungspolitisches Funktionsverständnis weiterzuentwickeln und den wechselnden Realitäten des Arbeitslebens anzupassen. Die autonome Ordnung dieses Funktionsbereichs soll sich danach im freiheitlichen Koalitionsverfahren zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern vollziehen. Da jedoch nicht nur den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen verfassungsrechtlich garantiert ist, sondern nach Art.74 Nr.12 GG auch der staatliche Gesetzgeber zur Ordnung des Arbeitslebens berufen ist, kommt es häufig zu einer nur schwer lösbaren Konkurrenzsituation. Fest steht zwar einerseits, dass es mit der Koalitionszweckgarantie nicht zu vereinbaren wäre, wenn der Staat, wie im Nationalsozialismus, die Löhne verbindlich nach oben und unten festsetzen ___________ 21

BVerfGE 28, 295, 304. BAG AP Nr. 30 zu Art. 9 GG; LAG Hamm BB 1978, 556 f. 23 BVerfGE 17, 319, 333; 18, 18, 26; BAG AP Nr. 5 und 13 zu Art. 9 GG; Schönfeld, BB 1989, 1818 ff. 22

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würde. Andererseits ist der Staat aber auch nicht – wie im Liberalismus des 19. Jahrhunderts – zur arbeits- und sozialpolitischen Untätigkeit verpflichtet. Die abstrakte Grenzziehung zwischen staatlicher Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Arbeitsrechts und tarifvertraglicher Normsetzung durch die Koalitionen fällt schwer. Fest steht nur, dass den Koalitionen wesentliche Aufgaben bei der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen erhalten bleiben müssen.24 So steht es den Koalitionen zu, durch Tarifverträge die Preise am Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland festzulegen. Es ist das verfassungsrechtlich geschützte und in erster Linie den Tarifvertragsparteien vorbehaltene Recht, quasi durch globale Kartellabsprachen die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt zu bestimmen. Hierin verwirklicht sich die Tarifautonomie der Koalitionen. Im Rahmen der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Gestaltungsbefugnisse des Gesetzgebers stellt sich allerdings die Frage, ob der Gesetzgeber die Tarifautonomie an verbindliche Lohnleitlinien oder gar an Maßnahmen des Lohnstops binden kann, was in verschiedenen Ländern der Europäischen Gemeinschaft (z.B. Italien, Frankreich, Niederlande) rechtlich möglich ist. In der Bundesrepublik Deutschland verbietet die Tarifautonomie eine solche direkte staatliche Einflussnahme auf die verbandliche Lohnpolitik. Die Bundesregierung hat keine rechtlichen Möglichkeiten, stabilitätsfeindliche Tarifabschlüsse zu verhindern. Die Tarifparteien gestalten die Lohnpolitik selbstverantwortlich. Nur bei einer grob stabilitätswidrigen Tarifpolitik wäre es mit Art. 9 Abs. 3 GG zu vereinbaren, dass die Tarifpartner an bestimmte Toleranzgrenzen für quantitative Beschränkungen der Lohnpolitik gebunden werden. Im Übrigen ist die staatliche Globalsteuerung unzulässig. Der Politik bleibt also nur die Möglichkeit, die Tarifpolitik auf der Basis freiwilliger Mitwirkung von Arbeitgebern und Gewerkschaften zu koordinieren. Auf diesem Weg ist mehrfach versucht worden, Arbeitslosigkeit und Inflation durch abgestimmte Verhaltensweisen zu verhindern oder wirksam zu bekämpfen.

cc) Die Koalitionsverfahrensgarantie Als weitere Teilgarantie enthält die kollektive Koalitionsfreiheit die Koalitionsverfahrensgarantie.25 Diese Garantie umfasst alle Formen koalitionsmäßiger Einigung und Auseinandersetzung. Art. 9 Abs. 3 GG garantiert einen Prozess antagonistischer Interessenauseinandersetzung und -einigung. Art. 9 Abs. 3 GG überlässt dabei den Koalitionen grundsätzlich die Wahl, welche Verfahrenswei___________ 24 BVerfG AP Nr. 1 und 7 zu Art. 9 GG; AP Nr. 17 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; AP Nr. 1 zu § 1 MitbestG. 25 BAG AP Nr. 64 zu Art. 9 GG Arbeitskampf.

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se sie zur Beilegung ihrer Interessengegensätze für geeignet halten. Durch die Koalitionsverfahrensgarantie wird jede Form der Zwangsschlichtung ausgeschlossen, wie sie in Deutschland aus der Weimarer Republik bekannt ist. Der Staat ist zur Neutralität verpflichtet, solange nicht die Funktionsfähigkeit des Koalitionsverfahrens insgesamt bedroht ist. Es gilt der Grundsatz, dass der Staat jede Überwachung gegenüber dem Tarif- oder Arbeitskampfgeschehen zu unterlassen hat. Nach der Koalitionsverfahrensgarantie ist nicht nur jede Zwangsschlichtung von Tarifauseinandersetzungen ausgeschlossen, sondern auch die Genehmigungspflicht von Tarifverträgen, wie sie noch nach alliiertem Besatzungsrecht vor Inkrafttreten des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vorgeschrieben war. Dem Staat ist auch jede sonstige Einflussnahme auf den Arbeitskampf untersagt. Er darf nicht – wie § 146 Abs. 1 S. 1 SGB III26 ausdrücklich bestimmt – durch die Gewährung von Arbeitslosengeld in Arbeitskämpfe eingreifen.27 Diese Regelung ist mit der Verfassung, insbesondere mit Art. 9 Abs. 3 GG, aber auch mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG und dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.28

dd) Die Koalitionsmittelgarantie Das von Art. 9 Abs.3 GG geschützte Koalitionsverfahren vollzieht sich im einzelnen durch bestimmte Koalitionsmittel. Art. 9 Abs. 3 GG enthält demgemäß eine Koalitionsmittelgarantie, durch die für die Koalitionseinigung und den Koalitionskampf ein funktionstypisches Instrumentarium garantiert wird. Als Mittel zur koalitionsrechtlichen Gesamtvereinbarung schützt Art. 9 Abs. 3 GG die Tarifautonomie. Der Gesetzgeber hat den Koalitionen ein Tarifvertragssystem im Sinne des modernen Arbeitsrechts zur Verfügung zu stellen.29 Bei der Ausformung der Tarifautonomie hat der Gesetzgeber allerdings einen breiten Gestaltungsspielraum. Er kann Regelungen über Gegenstände des Tarifvertrags, über die Tariffähigkeit, über die normative Rechtsnatur des Tarifvertrags treffen. In § 4 Abs. 1 TVG hat der Gesetzgeber in Ausfüllung seines aus der Koalitionszweckgarantie folgenden Gesetzgebungsauftrags bestimmt, dass die Normen des Tarifvertrags, die den Inhalt, Abschluss oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, unmittelbar und zwingend zwischen den ___________ 26 Sozialgesetzbuch (SGB) Drittes Buch – Arbeitsförderung – vom 24. 03. 1997 (BGBl. I S. 594) zuletzt geändert durch Gesetz vom 09. 12. 2004 (BGBl. I S. 3242). 27 Eine ähnliche Regelung enthielt schon § 116 AFG. 28 BVerfG DB 1995, 1464 ff.; BSG NZA 1991, 982 ff.; Denck, NZA 1987, 433, 435 f.; Steinmeyer, NZA 1988, 41, 42. 29 BVerfGE 4, 106 ff.; 20, 317 ff.; 44, 340 f.

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tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien gelten. Der Gesetzgeber hat damit die Tarifpartner mit echter Rechtsetzungsmacht beliehen (Delegationstheorie), um ihnen ein funktionstypisches Instrumentarium für die Koalitionseinigung an die Hand zu geben. Bei der Ausgestaltung der Tariffähigkeit ist der Gesetzgeber nicht gezwungen, lediglich Koalitionen im verfassungsrechtlichen Sinn mit der Tariffähigkeit auszustatten. Die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers gemäß § 2 TVG liegt ebenso im legitimen Gesetzgebungsermessen wie die Tariffähigkeit der Handwerksinnungen als öffentlich-rechtliche Kooperationen (§ 54 Abs. 3 Nr. 1 HandwO). Auch die Mitwirkung der Gewerkschaften an den Aufgaben der Betriebsverfassung und der Personalvertretung sowie der Unternehmensmitbestimmung gehört zu den legitimen Koalitionsmitteln. In den Bereich der Koalitionsmittelgarantie fällt schließlich auch die Beteiligung der Koalitionen an den Selbstverwaltungsorganen der Sozialversicherung. Als wichtiges Instrument des aktiv ausgetragenen Gegensatzes von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden garantiert die Koalitionsmittelgarantie den Arbeitskampf. Die wichtigsten Kampfmittel sind der Streik auf der Gewerkschaftsseite und die Aussperrung auf der Arbeitgeberseite. Das Recht zum Streik und zur Aussperrung gewährleistet die Verfassung jedoch nicht uneingeschränkt. Im Folgenden wird dargestellt, unter welchen Voraussetzungen Arbeitskämpfe in der Bundesrepublik Deutschland rechtmäßig sind und welche Auswirkungen solche Arbeitskämpfe auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse haben. Ferner werden die Rechtsfolgen rechtswidriger Arbeitskämpfe behandelt.

IV. Die Grundstrukturen des deutschen Arbeitskampfrechts 1. Allgemeine Grundsätze Der Arbeitskampf und die freiwillige Schlichtung sind funktional notwendige Hilfsinstrumente der Tarifautonomie. Arbeitskämpfe sind daher einerseits verfassungsrechtlich garantiert, andererseits folgen aus der Dienstfunktion des Arbeitskampfes gegenüber der Tarifautonomie verbindliche Zulässigkeitsschranken:30 a) Arbeitskämpfe dürfen nur zwischen Tarifvertragsparteien geführt werden. b) Das verfolgte Arbeitskampfziel muss tariflich regelbar sein. ___________ 30

Bredemeier, Zeitschrift für die Anwaltspraxis 1998, 403, 404-407; Hanau/ Adomeit, Arbeitsrecht, 13. Aufl. 2005, Rdnr. 272 ff.; Löwisch, Arbeitsrecht, 7. Aufl. 2004 Rdnr. 341 ff.

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c) Zwischen den Arbeitskampfparteien (Tarifparteien) muss ein Mindestmaß an Kräftegleichgewicht (Verhandlungsgleichgewicht und Waffengleichheit) herrschen (Grundsatz der Parität). d) Der Einsatz der Arbeitskampfmittel muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. e) Es darf keine Friedenspflicht zwischen den Tarifvertragsparteien bestehen.

2. Konkretisierung dieser Grundsätze a) Die Tariffähigkeit als Voraussetzung rechtmäßiger Arbeitskämpfe Nur tariffähige Koalitionen können rechtmäßige Arbeitskämpfe führen. Nur sie können einen Tarifvertrag abschließen. Die Tariffähigkeit verleiht das Recht, Partei eines Tarifvertrags zu sein. Das Gesetz definiert den Begriff der Tariffähigkeit aber nicht. § 2 Abs. 1 TVG bestimmt zwar, dass Gewerkschaften einerseits und einzelne Arbeitgeber sowie Vereinigungen von Arbeitgebern andererseits Parteien eines Tarifvertrags sein können. Damit ist allerdings nichts darüber gesagt, welche Voraussetzungen eine Koalition, etwa eine Gewerkschaft, erfüllen muss, um tariffähig zu sein. Die Rechtsprechung31 hat hierfür verschiedene Kriterien entwickelt. Tariffähig und damit zum Arbeitskampf befugt ist danach eine Koalition nur, wenn sie frei, überbetrieblich und körperschaftlich organisiert und tarifwillig32 ist. Sie muss auf eine bestimmte Dauer angelegt sein und den Zweck verfolgen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder zu wahren und zu fördern. Tariffähige Koalitionen müssen gegnerfrei und unabhängig sein. Es muss sich also um Vereinigungen handeln, in denen sich ausschließlich entweder Arbeitgeber oder Arbeitnehmer zusammengeschlossen haben. Mitgliedschaftlich gemischte Vereinigungen sind nicht tariffähig. Es muss gewährleistet sein, dass die interne Willensbildung nicht vom sozialen Gegenspieler beeinflusst werden kann. Die Rechtsprechung33 fordert schließlich auch eine gewisse soziale Mächtigkeit der Vereinigung. Die Koalition müsse in der Lage sein, die Interessen ihrer Mitglieder wirksam durchsetzen zu können. Streiks dürfen demnach ausschließlich von Gewerkschaften ausgerufen und geführt werden, die die genannten Voraussetzungen erfüllen. Die (tariffähigen) Gewerkschaften haben ein „Streik-Monopol“.34 Das bedeutet allerdings nicht, ___________ 31 BVerfG NJW 1979, 699, 709; BAGE 15, 174, 192 ff.; 22, 162, 164 ff.; 30, 50, 61; BAG AP Nr. 106 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 32 Brox/Rüthers/Henssler, (Fn. 1) Rdnr. 690. 33 BAG AP Nr. 39, 55 zu § 2 TVG 34 Rüthers, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., 1982, Rdnr. 132.

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dass sämtliche streikenden Arbeitnehmer der Gewerkschaft angehören müssen.35 Aus der Hilfsfunktion des Streiks für die Tarifautonomie folgt andererseits, dass „wilde“, also nicht gewerkschaftlich organisierte Streiks rechtswidrig sind.36 Denn ein „wilder“ Streik kann mangels eines tariffähigen Vertragspartners nicht zu einem Tarifabschluss führen. Spontane Arbeitnehmerorganisationen sind keine tariffähigen Koalitionen und haben deshalb auch nicht an der Tarifautonomie teil. Übernimmt allerdings eine Gewerkschaft einen „wilden“ Streik, so wird er nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts rückwirkend rechtmäßig.37 Entsprechendes gilt für Arbeitskampfmaßnahmen der Arbeitgeberseite. „Wilde Aussperrungen“ sind unzulässig.38

b) Die Regelungsziele des Arbeitskampfrechts Der Arbeitskampf ist nur rechtmäßig, wenn er mit dem Ziel geführt wird, die Gegenseite zum Abschluss einer tarifvertraglichen Regelung zu zwingen.39 Dieser Grundsatz ist vor allem für die Beurteilung von politischen Arbeitskämpfen, Demonstrationsarbeitskämpfen, Arbeitskämpfen um Rechtsstreitigkeiten sowie Sympathie- und Warnarbeitskämpfen von Bedeutung.

aa) Politische Arbeitskämpfe Politische Arbeitskämpfe sind in aller Regel verfassungs- und damit rechtswidrig.40 Sie sind nur ausnahmsweise, nämlich unter den Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 4 GG, in Ausübung des Widerstandsrechts erlaubt. Das Widerstandsrecht ist jedoch nur gegeben, wenn die verfassungsmäßige Ordnung bedroht und andere Abhilfe nicht möglich ist, wie etwa bei einem Staatsstreich. Ansonsten ist der politische Streik in der Bundesrepublik Deutschland rechtswidrig, weil der Adressat der Kampfforderung und der Kampfbetroffene auseinander fallen. Die Forderung eines politischen Streiks ist an eine staatliche Instanz (Parlament, Regierung, Gericht) adressiert. Die bestreikten Unternehmen können die an den Staat gerichtete Forderung (z.B. den Erlass eines Gesetzes) ___________ 35

BAG AP Nr. 3, 4 zu § 615 Betriebsrisiko. BAGE 15, 174, 192 ff.; 22, 162, 164 ff.; Rüthers, JZ 1970, 625 ff.; Säcker, BB 1971, 962 ff. 37 BAGE 15, 174, 193. 38 BAG DB 1996, 578 f. 39 BAG AP Nr.106 zu Art.9 GG Arbeitskampf; Rüthers, (Fn. 34) Rdnr. 138. 40 Vgl. BAG AP Nr. 1, 32, 41 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Dütz, Arbeitsrecht, 8. Aufl. 2003, Rdnr. 649; Hanau/Adomeit, (Fn. 30) Rdnr. 289; Söllner/Waltermann, Grundriß des Arbeitsrechts, 13. Aufl. 2003, Rdnr. 248. 36

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nicht erfüllen. Ein politischer Streik ist nicht nur rechtswidrig und löst unter Umständen Schadensersatzpflichten aus, sondern kann sogar nach § 105 StGB als Nötigung von Verfassungsorganen strafbar sein.

bb) Arbeitskämpfe um Rechtsstreitigkeiten Arbeitskämpfe, mit denen Streitigkeiten ausgetragen werden, für die der Rechtsweg zur Verfügung steht, sind ebenfalls unzulässig.41 Denn der Gerichtsschutz hat Vorrang vor der Selbsthilfe des Arbeitskampfs. Dieser darf den möglichen und erreichbaren Richterspruch nicht durch das Faustrecht ersetzen. Das verfassungsrechtlich verankerte staatliche Rechtsprechungsmonopol darf nicht durch den Arbeitskampf verdrängt oder unterlaufen werden.

cc) Demonstrationsarbeitskämpfe Beim Demonstrationsstreik fehlt ein unmittelbares tariflich regelbares Kampfziel. Durch einen solchen Streik wollen die Arbeitnehmer lediglich ihre Ansicht zu bestimmten Sachfragen ausdrücken, ohne eine bestimmte Maßnahme, den Abschluss eines Tarifvertrags, erzwingen zu wollen. Es geht oft um einen Protest gegen ein bestimmtes Arbeitgeberverhalten oder gegen politische Ereignisse. Der Demonstrationsstreik ist rechtswidrig, weil er kein zulässiges Kampfziel verfolgt.42 Die Demonstration von Wünschen und Überzeugungen – auch zu tariflichen Fragen – ist nämlich nicht tarifvertraglich regelbar. Nur tarifvertraglich regelbare Kampfziele rechtfertigen jedoch Arbeitskämpfe.

dd) Sympathiestreik Beim Sympathiestreik wird zur Unterstützung eines anderen Arbeitskampfs, des Hauptarbeitskampfs, gestreikt.43 Kampfziel ist also die Unterstützung des Hauptkampfes aus Solidarität mit den daran beteiligten Arbeitnehmern. Kampfgegner beim Sympathiestreik ist der unmittelbar bestreikte Arbeitgeber, Adressat dagegen der Arbeitgeber oder Arbeitgeberverband des Hauptarbeitskampfs. ___________ 41

BAG AP Nr. 58 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Dütz, (Fn. 40) Rdnr. 590; Löwisch, (Fn. 30) Rdnr. 349. 42 Hanau/Adomeit, (Fn. 30) Rdnr. 288; Rüthers, (Fn. 34) Rdnr. 141; Söllner/Waltermann, (Fn. 40) Rdnr. 252. 43 Lieb, ZfA 1982, 113 ff.; Brox/Rüthers/Hennsler, (Fn. 1) Rdnr. 780.

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Der bestreikte Arbeitgeber kann daher die Kampfforderung nicht erfüllen. Die bereits wiederholt genannte Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit eines Streiks, dass er um ein tariflich regelbares Ziel geführt wird, ist folglich beim Sympathiearbeitskampf nicht erfüllt. Im Hinblick darauf hält das Bundesarbeitsgericht den Sympathiestreik regelmäßig dem Grunde nach für unvereinbar mit Art. 9 Abs. 3 GG.44 Grundsätzlich ist ein Arbeitskampf nämlich nur zwischen den Parteien des umkämpften Tarifvertrags zulässig. Denn auch nur zwischen ihnen gilt der Tarifvertrag. Deshalb dürfen in der Regel andere Unternehmen, die an diesem Arbeitskampf nicht beteiligt sind und auf ihn keinen Einfluss nehmen können, nicht bestreikt werden. Insoweit ergibt sich aus Art. 9 Abs. 3 GG kein Recht zum Sympathiestreik. Das Bundesarbeitsgericht hält jedoch Ausnahmefälle für denkbar, etwa wenn das bestreikte Unternehmen nicht mehr als außenstehender Dritter bezeichnet werden kann. Das soll etwa dann gelten, wenn das bestreikte Unternehmen in der Lage ist, Einfluss auf den Hauptarbeitskampf auszuüben.

ee) Warnstreik Warnstreiks sind befristete Streiks, die der Arbeitgeberseite die Entschlossenheit der Arbeitnehmerseite zeigen sollen, notfalls für tariflich regelbare Ziele einen dauernden Arbeitskampf zu führen.45 Anlässlich der Lohnrunde 1981 hat die Industriegewerkschaft Metall noch während des Laufs von Tarifverhandlungen ihre Mitglieder zu Warnstreiks aufgerufen. Es handelte sich um Arbeitsniederlegungen, die nach einem einheitlichen Plan, der so genannten „Neuen Beweglichkeit“, kurzfristig in verschiedenen immer wieder wechselnden Betrieben stattfanden. Die so genannte „Neue Beweglichkeit“ bedeutet, dass nach einem rollenden System, das für den Kampfgegner nicht durchschaubar oder vorhersehbar ist, während der gesamten Tarifrunde täglich wechselnd einzelne Unternehmen kurzfristig bestreikt werden. Das Bundesarbeitsgericht hält kurze tarifbezogene Warnstreiks nach Ablauf der Friedenspflicht – im Ansatz zutreffend – dann für zulässig, wenn sie nicht gegen das ultima ratio-Prinzip verstoßen.46 Die Warnstreiks dürfen also nur als letztes mögliches Mittel eingesetzt werden, d.h. erst dann, wenn sämtliche Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind und für die Gewerkschaft keine Möglichkeit besteht, ohne den Einsatz von Arbeitskampfmaßnahmen noch zu einer Einigung zu kommen. Allerdings geht das ___________ 44

BAG AP Nr.85 und 90 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. Herschel, RdA 1983, 364 ff.; Rüthers, (Fn. 37) Rdnr. 152-158; Seiter, JZ 1983, 773 ff. 46 Grundlegend BAGE 23, 292, 306; BAG, NZA 1988, 846, 847 f.; DB 1996, 1566 ff.; anders noch BAG AP Nr. 51, 81, 83 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; dazu Adomeit, NJW 1985, 2515 ff. 45

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Bundesarbeitsgericht davon aus, dass die Beurteilung, ob diese Voraussetzungen, unter denen Warnstreiks zulässig sind, erfüllt sind, allein Sache der Gewerkschaft ist, die die Arbeitskampfmaßnahmen einleitet. Ihre Beurteilung soll nicht nachprüfbar sein. Diese Rechtsprechung führt praktisch dazu, dass die Unzulässigkeit von Warnstreiks nie festgestellt werden kann, eine Gewerkschaft von diesem Mittel also jederzeit Gebrauch machen kann, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Bei dieser Betrachtung steht das ultima ratio-Prinzip nur auf dem Papier. Dieses Ergebnis lässt sich nicht dadurch vermeiden, dass das Gericht ermächtigt wird nachzuprüfen, ob die Einschätzung der Gewerkschaft zutreffend ist. Die tatsächliche innere Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft der Tarifvertragsparteien lässt sich nämlich nur schwer feststellen. Wohl aber kann man – wie das im Schrifttum gefordert wird47 – den Zeitpunkt, von dem an Warnstreiks zulässig sind, formell in der Weise bestimmen, dass vor Einleitung der Arbeitskampfmaßnahmen eindeutig und offiziell erklärt worden ist, dass die Verhandlungen gescheitert sind.

c) Das Gebot der Kampfparität Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass zwischen den Arbeitskampfparteien ein Mindestmaß an Kräftegleichgewicht herrschen muss. Nur unter dieser Voraussetzung ist der Arbeitskampf ein wirksames Hilfsinstrument der Tarifautonomie. Tarifverträge sollen nämlich einen tatsächlichen Macht- und Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern schaffen. Das können sie jedoch nur leisten, wenn keine Seite der anderen von vornherein wegen eines dauernden Übergewichts ihren Willen aufzwingen kann. Das Gebot der Kampfparität folgt somit aus den Funktionsbedingungen der Tarifautonomie und soll den Einfluss der Koalitionen auf den von ihnen abzuschließenden Tarifvertrag egalisieren. Daher wird grundsätzlich als Mittel der Streikabwehr die Abwehraussperrung garantiert. Streik und Aussperrung sind jedoch nach der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht mehr in jeder Hinsicht gleichberechtigte und gleichgewichtige Kampfmittel. Das Gebot der Kampfparität setzt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts dem Streik zwar keine Grenzen, wohl aber der Aussperrung. Nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts sind nämlich die Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen a priori unterlegen. Ohne Streikrecht seien ihre Forderungen nicht mehr als ein „kollektives Betteln“.48 ___________ 47

Brox/Rüthers/Henssler, (Fn. 1) Rdnr. 801; Seiter, Die Warnstreikentscheidungen des Bundesarbeitsgerichts, S. 101; ders., JZ 1983, 773 ff. 48 BAG AP Nr. 51 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; BAG EzA Nr. 56 zu Art. 9 GG Arbeitskampf.

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Daher stehe es im freien Ermessen der Gewerkschaften, ob sie Voll- oder Teilstreiks oder auch eng begrenzte Schwerpunktstreiks durchführen. Das Bundesarbeitsgericht49 meint, dass die Arbeitgeber und ihre Verbände demgegenüber weitaus weniger als die Gewerkschaften darauf angewiesen sind, durch Mittel des Arbeitskampfs ihren Interessen und Forderungen in der Tarifpolitik Nachdruck zu verleihen. Aus dieser Sicht kommt das Gericht zu einer stark eingeschränkten Zulassung des Kampfmittels der Aussperrung.50 Die Abwehraussperrung beurteilt es zwar als ein für das Verhandlungs- und Kampfgleichgewicht der Arbeitgeberseite grundsätzlich erforderliches und darum rechtmäßiges Kampfmittel.51 Abwehraussperrungen sind jedoch nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nur zulässig, wenn durch eine bestimmte Streiktaktik der Gewerkschaft das Kampfgleichgewicht einseitig zugunsten der Arbeitnehmer verschoben wird.52 Das ist der Fall, wenn die Gewerkschaft die Streikwaffe in der Form eng geführter Teil- oder Schwerpunktstreiks einsetzt. Die Gewerkschaft verschärft durch solche Streiks, durch die einzelne Arbeitgeber herausgegriffen werden, die konkurrenzbedingten Gegensätze auf der Arbeitgeberseite und schwächt auf diese Weise die Arbeitgebersolidarität. Bei Schwerpunktstreiks geraten einzelne Unternehmen auf Dauer leicht in die Gefahr, erhebliche Marktanteile zu verlieren. Unter dem Druck dieses Risikos sind sie relativ schnell bereit, sich dem Diktat der Gewerkschaft zu unterwerfen und überhöhten gewerkschaftlichen Forderungen nachzugeben. Als adäquates Gegenmittel erkennt das Bundesarbeitsgericht die Abwehraussperrung an, durch die die Arbeitgeberseite den Kampfrahmen erweitern kann. Dadurch wird das Kampfgleichgewicht wiederhergestellt, indem einerseits auf der Arbeitgeberseite die Wettbewerbsvorteile der nicht bestreikten Arbeitgeber beseitigt werden und andererseits die Gewerkschaft in größerem Umfang ihre Mitglieder finanziell unterstützen muss. Abwehraussperrungen nur auf die Fälle von Schwerpunktstreiks zu beschränken, wie es der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts entspricht, ist sehr angreifbar. Vor allem erscheint mir der Ausgangspunkt des Bundesarbeitsgerichts nicht richtig gewählt zu sein. Dass die Gewerkschaften der Arbeitgeberseite a priori unterlegen und deshalb Streik und Aussperrung nicht gleichwertige Kampfmittel seien, ist nicht verifizierbar. Im Übrigen kann das Kampfgleichgewicht nicht nur bei Schwerpunktstreiks einseitig zugunsten der Arbeitnehmer verschoben werden. Unter bestimmten wirtschaftlichen Voraussetzun___________ 49

BAG AP Nr. 65 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. Hanau/Adomeit, (Fn. 30) Rdnr. 303; Lieb, Arbeitsrecht, 7. Aufl. 2000, Rdnr. 637; Brox/Rüthers/Henssler, (Fn. 1) Rdnr. 804 f. 51 BAG AP Nr. 107 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; BAG DB 1996, 223 f.; zur Kampfmittelfreiheit auch Rolfs, DB 1994, 1237, 1238. 52 BAG EzA Nr. 36 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 50

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gen kann der Druck von taktisch geschickt angesetzten Angriffsstreiks auf die Arbeitgeberseite, auch wenn unter den Mitgliedsunternehmen des angegriffenen Arbeitgeberverbands kein direkter Wettbewerb besteht, so groß sein, dass er bei geringem gewerkschaftlichem Kampfrisiko ein einseitiges Tarifdiktat ermöglicht, wenn es kein zulässiges Abwehrkampfmittel der Arbeitgeber gibt. Aus dem Gebot der Kampfparität folgt nicht nur die Zulässigkeit von Abwehraussperrungen, sondern auch von Angriffsaussperrungen.53 Angriffsaussperrungen sind in der Bundesrepublik Deutschland seit Inkrafttreten des Grundgesetzes konjunkturbedingt bedeutungslos geblieben. Ihre rechtliche Zulässigkeit ist aber kaum zu bezweifeln. Auch der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts54 hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 1971 diesen Standpunkt geteilt. Er geht zutreffend davon aus, dass auch der Arbeitgeber einen Arbeitskampf beginnen kann. Jede mit einer Tarifforderung auftretende Tarifpartei muss zu deren Durchsetzung den Druck eines möglichen Kampfmittels haben. Das kann bei einschneidenden Rezessionen auch für die Arbeitgeberseite zutreffen. Ob das Bundesarbeitsgericht die Angriffsaussperrung auch heute noch billigen würde, ist jedoch angesichts seiner zuvor erläuterten Rechtsprechung zur Abwehraussperrung fraglich. Es liegt nämlich ein gewisser Widerspruch darin, Abwehraussperrungen nur als Reaktion auf Schwerpunktstreiks zuzulassen, Angriffsaussperrungen dagegen generell anzuerkennen.

d) Das Verhältnismäßigkeitsgebot Bei der Darstellung der Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen von Arbeitskämpfen ist bereits darauf hingewiesen worden, dass der Einsatz der Kampfmittel dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen muss. Kampfmaßnahmen dürfen nicht „außer Verhältnis zu dem verfolgten Ziel“ stehen. Das Verhältnismäßigkeitsgebot hat zwei Anwendungsbereiche:55 Es regelt einmal das Verhältnis unter den kämpfenden Tarifparteien sowie zu den unmittelbar kampfbeteiligten sozialen Gegenspielern. Zum anderen regelt es die Frage, wo die Grenze zulässiger Drittwirkungen des Arbeitskampfs auf nicht unmittelbar kampfbeteiligte Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Dritte und die Allgemeinheit liegt. Stets unverhältnismaßig ist die Existenzvernichtung des Gegners.56 Aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip folgt der „ultima ratio-Grundsatz“, der bereits im Zusammenhang mit der Zulässigkeit von Warnstreiks angesprochen worden ist. ___________ 53 Lieb, (Fn. 50) Rdnr. 41; zur entsprechenden Problematik, ob Streikbruchprämien als Mittel der Streikabwehr dienen dürfen, Rolfs, DB 1994, 1236, 1238 ff. 54 BAGE 23, 292, 308. 55 Brox/Rüthers/Henssler, (Fn. 1) Rdnr. 796; Rüthers, (Fn. 34) Rdnr. 194. 56 Brox/Rüthers/Henssler, (Fn. 1), Rdnr. 804.

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Die Tarifvertragsparteien dürfen sich wechselseitig durch Arbeitskämpfe nicht willkürlich und ohne rechtfertigenden Grund schädigen, dürfen Arbeitskämpfe also nicht ohne Notwendigkeit „vom Zaun brechen“.57 Ein rechtmäßiger Arbeitskampf setzt daher voraus, dass alle zumutbaren Verständigungsmöglichkeiten ausgeschöpft worden sind. Verhandlungen müssen tatsächlich geführt und ihr Scheitern muss eindeutig erklärt werden. Verweigert eine Tarifpartei jede Verhandlung, so kann sie durch einen Arbeitskampf, also beispielsweise durch einen Streik, zur Verhandlungsbereitschaft gezwungen werden.58 Die Tarifparteien müssen ferner vorhandene Schlichtungseinrichtungen anrufen, wenn die Tarifverhandlungen für gescheitert erklärt sind, bevor Kampfmaßnahmen ergriffen werden dürfen. Die Tarifparteien sind jedoch nicht gezwungen, sich dem Schiedsspruch einer Schlichtungsstelle zu unterwerfen. Wie bereits im Zusammenhang mit der Koalitionsverfahrensgarantie ausgeführt, wäre eine staatliche – auch gerichtliche – Zwangsschlichtung verfassungswidrig. Aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ergeben sich außerdem quantitative Schranken für das Kampfgeschehen. Angriffsstreiks verletzen zwar grundsätzlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht. Vor allem gibt es keine quantitative Begrenzung der Streiktaktik oder -strategie bei Angriffsstreiks im Sinne von Höchst- oder Mindestquoten der Streikenden eines Tarifgebiets. Für Abwehraussperrungen hat die Rechtsprechung dagegen aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip differenzierte Einschränkungen hergeleitet. Das Bundesarbeitsgericht begrenzt Abwehraussperrungen, um ein Übergewicht der Arbeitgeberseite oder eine Ausuferung des Kampfgeschehens zu vermeiden, in der Regel auf das Tarifgebiet, in dem der Streikangriff geführt wird.59 Dem Verhältnismäßigkeitsgebot hat das Gericht zudem in zwei Entscheidungen aus dem Jahre 1980 einen Zahlenschlüssel für das Verhältnis von Streikenden und denen, die ausgesperrt werden sollen, entnommen.60 Danach gilt: – Werden weniger als 25 % der Arbeitnehmer im Tarifgebiet von der Gewerkschaft zur Arbeitsniederlegung aufgefordert, so dürfen höchstens weitere 25 % der Arbeitnehmer ausgesperrt werden. – Werden mehr als 25 % zum Streik aufgerufen, so dürfen nur so viele Arbeitnehmer ausgesperrt werden, dass Streikende und Ausgesperrte zusammen nicht mehr als 50 % der Arbeitnehmer des Tarifgebiets ausmachen. ___________ 57

Rüthers, (Fn. 34) Rdnr. 199. Rüthers, (Fn. 34) Rdnr. 201. 59 BAG 48, 195. 60 BAG AP Nr. 64, 65 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Kritisch dazu Lieb, (Fn. 50) Rdnr. 641; Rüthers, (Fn. 34) Rdnr. 208 ff. 58

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– Sind bereits 50 % der Arbeitnehmer oder mehr zum Streik aufgerufen oder von einem Aussperrungsbeschluss betroffen, so ist eine weitere Aussperrung unzulässig. Dieser Zahlenschlüssel ist aus mehreren Gründen zu kritisieren. Er ist zum einen willkürlich. Jede generell quantifizierende Quotenregelung für die Relation zwischen Angriffsstreik und Abwehraussperrung ist ein zu grobes Raster, um differenzierten Markt- und Wettbewerbsverhältnissen Rechnung tragen zu können. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip lässt sich nicht generell quantifizieren. Vor allem aber steht nach deutschem Verfassungsverständnis eine solche generelle Quotierung nicht einem Gericht, sondern nur dem Gesetzgeber zu. Die Richter haben nur konkrete Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, jedoch nicht allgemeine Regeln aufzustellen. Die Gerichte sind an Recht und Gesetz gebunden und dürfen deshalb nicht eigene Normen schaffen. Gerade diesem Aspekt schenkt die Judikative in Deutschland im Rahmen des gesamten Arbeitskampfrechts zu geringe Beachtung. Ob das Bundesarbeitsgericht ungeachtet dieser Bedenken an seinem Zahlenschlüssel festhält, ist fraglich. In einer Entscheidung61 aus dem Jahre 1985, die sich mit der Beurteilung der Zulässigkeit von Aussperrungen anhand des Verhältnismäßigkeitsprinzips beschäftigt, hat das Gericht von einer Anwendung seines Schlüssels abgesehen. Auch hat es die Unverhältnismäßigkeit der Aussperrung im entschiedenen Fall nicht allein mit der Zahl der streikenden und auszusperrenden Arbeitnehmer begründet. Zusätzlich hat es auf die durch Streik und Aussperrung ausgefallenen und noch ausfallenden Arbeitstage sowie auf die Zahl der bestreikten Betriebe abgestellt. In einer weiteren Entscheidung62 hat es Bedenken geäußert, ob an seiner „Aussperrungsarithmetik“ festgehalten werden kann; es hat die Frage aber letztlich unbeantwortet gelassen.

e) Die tarifvertragliche Friedenspflicht Als letzte Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für einen Arbeitskampf ist die Nicht-Fortdauer der Friedenspflicht zu nennen. Die tarifvertragliche Friedenspflicht begründet nämlich ein Kampfverbot Während der Dauer der Friedenspflicht ist jede Kampfmaßnahme zur Neuregelung des Inhalts des Tarifvertrags untersagt.63 Diese Pflicht gehört zum notwendigen Inhalt eines jeden Tarifvertrags, muss also nicht ausdrücklich vereinbart werden. Der Arbeitsfrieden wird durch den Tarifvertrag jedoch nur so lange garantiert, wie der Tarifvertrag gilt. ___________ 61

BAG AP Nr. 84 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. BAG AP Nr. 107 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 63 Dütz, (Fn. 40) Rdnr. 495; Rüthers, (Fn. 34) Rdnr. 201; Söllner/Waltermann, (Fn. 40) Rdnr. 255. 62

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Nach Auslaufen des Tarifvertrags ist dessen Friedensfunktion beendet. Dennoch dürfen sich Kampfmaßnahmen nicht unmittelbar anschließen. Der bereits erwähnte „ultima ratio“-Grundsatz bewirkt eine richterrechtlich begründete Verlängerung der Friedenspflicht bis zur Ausschöpfung der realen Möglichkeiten einer friedlichen Einigung einschließlich eines (freiwilligen) Schlichtungsverfahrens.

V. Die Folgen des Arbeitskampfes für die kampfbeteiligten Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie für die Verbände Im Folgenden wird zunächst erörtert, welche Auswirkungen ein rechtmäßiger Arbeitskampf auf die Arbeitsverhältnisse hat. Anschließend wird der Frage nachgegangen, welche Rechtsfolgen ein rechtswidriger Arbeitskampf nach sich zieht.

1. Die Folgen eines rechtmäßigen Streiks a) Arbeitspflicht Seit der grundlegenden Entscheidung des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 29.01.195564 wird die Rechtmäßigkeit des Streiks – entsprechendes gilt für die Aussperrung – kollektiv – und individualrechtlich einheitlich beurteilt. Danach ist es dem Arbeitnehmer ohne vorherige Kündigung rechtlich möglich, sich ohne Vertragsbruch an einem rechtmäßigen Streik zu beteiligen. Durch ein rechtmäßiges Kollektivverhalten wird die sich aus dem Arbeitsverhältnis ergebende Arbeitspflicht für die Dauer des Streiks suspendiert. Die Arbeitsniederlegung ist wegen der Suspendierung der Arbeitspflicht keine Vertragsverletzung. Die auf der kollektivrechtlichen und individualrechtlichen Ebene einheitliche Beurteilung des Streiks ist ein entscheidender dogmatischer Fortschritt gegenüber dem Arbeitskampfrecht aus der Zeit der Weimarer Republik. Bis zu dem erwähnten Beschluss des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 1955 hatte die herrschende Lehre zwischen den beiden Ebenen getrennt. Selbst wenn die Gewerkschaft rechtmäßig handelte, sollte die Teilnahme des einzelnen Arbeitnehmers am Streik rechtswidrig sein, wenn er die Arbeit ohne vorherige Kündigung des Arbeitsvertrags niederlegte. Erst nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses sollten die Arbeitsvertragsparteien zu Kampfmaßnahmen berechtigt sein. ___________ 64

BAGE 1, 291.

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Das Bundesarbeitsgericht hat sich mit Recht dieser Auffassung nicht angeschlossen. Sie wird den Interessen beider Seiten nicht gerecht. Weder die Arbeitgeber noch die Arbeitnehmer wollen eine Lösung des Arbeitsverhältnisses. Der angestrebte Tarifvertrag soll eine Verbesserung der bisherigen Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen bewirken oder doch wenigstens die bestehenden Arbeitsbedingungen erhalten. Außerdem würde dem Streik jede Durchschlagskraft fehlen, müsste ihm eine Kündigung der Arbeitsverhältnisse vorausgehen. Denn die Arbeitnehmer könnten wegen der verschieden langen Kündigungsfristen nicht zur selben Zeit die Arbeit niederlegen. Für den Streik ist aber der einheitliche Streikbeginn taktisch notwendig und für den Kampferfolg entscheidend. Der Streik kann seine Funktion als Hilfsinstrument der Tarifautonomie nur erfüllen, wenn er nicht durch entgegenstehende Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis wirkungslos gemacht wird. Daher ist es zutreffend, den rechtmäßigen Arbeitskampf als Suspendierungsgrund für das Arbeitsverhältnis anzusehen.65 Die Suspendierung der Arbeitspflicht gilt für alle streikenden Arbeitnehmer. Der gewerkschaftliche Streikaufruf rechtfertigt auch die Streikteilnahme der Außenseiter, so dass sich alle Belegschaftsmitglieder ohne vorherige Kündigung an dem gewerkschaftlich geführten Streik beteiligen dürfen. Trotz der grundsätzlichen Suspendierung des Arbeitsverhältnisses sind die Arbeitnehmer zu notwendigen Erhaltungsarbeiten verpflichtet. Durch Erhaltungsarbeiten soll verhindert werden, dass die Produktionsmittel endgültig vernichtet werden. Da der Streik nur zu einem Ruhen der vertraglichen Hauptpflichten führt, leben diese mit dem Ende des Arbeitskampfs wieder auf. Der Arbeitnehmer hat daher einen Anspruch gegen den Arbeitgeber auf Weiterbeschäftigung, ohne dass ein neuer Arbeitsvertrag abgeschlossen werden muss.

b) Die Vergütungspflicht Da das Arbeitsverhältnis während des Streiks suspendiert ist und die streikenden Arbeitnehmer keine Arbeitsleistung erbringen, haben sie während des Streiks auch keinen Anspruch auf die Vergütung. Ist der streikende Arbeitnehmer Mitglied der Gewerkschaft, die zum Streik aufgerufen hat, hat er gegen diese Anspruch auf Streikunterstützung. Der Arbeitnehmer erhält wegen der Verpflichtung des Staats zur Neutralität in Arbeitskämpfen kein Arbeitslosengeld.66 ___________ 65

Heute ganz h.M.: Brox, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl. 1982, Rdnr. 288; Hanau/Adomeit, (Fn. 30) Rdnr. 310; Lieb, (Fn. 50) Rdnr. 568; Löwisch, (Fn. 30) Rdnr. 380 ff. 66 § 146 Abs. 1 SGB III; dazu bereits oben III. 2. b) cc).

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2. Die Folgen rechtmäßiger Aussperrung Zwei Arten von Aussperrungen sind zu unterscheiden: die suspendierende und die lösende Aussperrung.67 Die suspendierende Aussperrung hat im Wesentlichen dieselben Rechtsfolgen wie ein Streik. Sie bewirkt ein Ruhen der Hauptleistungspflichten aus dem Arbeitsverhältnis. Der Arbeitnehmer ist nicht zur Arbeitsleistung verpflichtet und hat auch keinen Anspruch auf Beschäftigung. Der Arbeitgeber ist für die Zeit der Aussperrung nicht zur Zahlung des Arbeitslohns verpflichtet. Wird die suspendierende Aussperrung beendet, so leben die Arbeitspflicht des Arbeitnehmers und die Vergütungspflicht des Arbeitgebers automatisch wieder auf. Auch während einer (suspendierenden) Aussperrung sind die Arbeitnehmer zu Notstandsarbeiten verpflichtet. Die lösende Aussperrung führt dagegen zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Folglich ist nach dem Ende der Aussperrung der Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags notwendig. Der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts68 hat jedoch ein generelles Wiedereinstellungsgebot aufgestellt, so dass der Arbeitgeber nach einer nur ausnahmsweise zulässigen lösenden Aussperrung alle Arbeitnehmer seines Betriebs wiedereinzustellen hat. Die kampfweise Lösung von Arbeitsverhältnissen widerspricht dem Zweck des Arbeitskampfes, der auf die Gestaltung der fortbestehenden Arbeitsverträge gerichtet ist. Mit Recht wird die Vorstellung als unerträglich bezeichnet, dass im Wege einer kollektiven kampfweisen Auflösung von Arbeitsverträgen langjährig erdiente individuelle Rechte und Anwartschaften verloren gehen können. Daher dürfte die lösende Aussperrung rechtswidrig sein.69

3. Die Folgen eines rechtswidrigen Streiks Die Teilnahme des Arbeitnehmers an einem rechtswidrigen Streik führt nicht zur Suspendierung der Arbeitspflicht. Der Arbeitgeber kann seinen Anspruch auf die Arbeitsleistung zwar einklagen, jedoch aus dem Urteil nicht vollstrecken (§ 888 Abs. 2 ZPO). Wegen der Nichtarbeit kann der Arbeitgeber allerdings Schadensersatz aus Vertrag (§ 280 Abs. 1 BGB) und aus unerlaubter Handlung (§ 823 Abs. 1 BGB: Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb) verlangen, sofern der Arbeitnehmer schuldhaft gehandelt hat. Er handelt nur dann fahrlässig, wenn er erkennen musste, dass der von der Gewerkschaft geführte Arbeitskampf rechtswidrig ist. Unter den Voraussetzungen ___________ 67 BAGE 1, 291, 310; 23, 292, 313 ff.; BAG DB 1996, 143 ff., 223 f.; Hanau/ Adomeit (Fn. 30) Rdnr. 312; Söllner/Waltermann, (Fn. 40) Rdnr. 239. 68 BAGE 23, 292, 306 ff. 69 Ebenso Hanau/Adomeit, (Fn. 30) Rdnr. 310 ff.; Lieb, (Fn. 50) Rdnr. 654.

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des § 840 BGB haften die streikenden Arbeitnehmer gesamtschuldnerisch für den durch die Betriebseinstellung entstandenen Schaden. Der Arbeitgeber kann danach theoretisch von jedem Arbeitnehmer, der an einem rechtswidrigen Streik teilgenommen hat, Ersatz des gesamten Schadens verlangen. Außerdem ist der Arbeitgeber unter bestimmten Voraussetzungen zur fristlosen Kündigung der Arbeitsverhältnisse der streikenden Arbeitnehmer berechtigt. Die bloße Teilnahme an einer kurzfristigen vertragswidrigen Arbeitsniederlegung ist im Regelfall kein Grund, der zur fristlosen Kündigung berechtigt. Dagegen rechtfertigt die Teilnahme an einem wilden Streik über einen längeren Zeitraum die außerordentliche Kündigung. Nach der Rechtsprechung70 muss einer Kündigung wegen Störungen im Leistungsbereich eine Abmahnung vorausgehen. Der Arbeitgeber muss also die an rechtswidrigen Kampfmaßnahmen teilnehmenden Arbeitnehmer ausdrücklich auf die Vertragswidrigkeit und die daraus entstehenden Folgen hinweisen und sie zur Arbeitsaufnahme auffordern. Der Arbeitgeber ist bei der Kündigung nicht an den Gleichbehandlungsgrundsatz gebunden. Das Bundesarbeitsgericht71 hat bei einem wilden Streik die Zulässigkeit selektiver Kündigungen bejaht, so dass im Ergebnis eine willkürliche Auswahl unter den rechtswidrig streikenden Arbeitnehmern möglich ist. Führt eine Gewerkschaft einen rechtswidrigen Streik, so stehen dem bestreikten Arbeitgeber auch Schadensersatzansprüche gegen sie zu. Sie ergeben sich, wenn der Streik deshalb rechtswidrig ist, weil er gegen die Friedenspflicht verstoßen hat, aus § 280 Abs. 1 BGB. Ist der Streik aus anderen Gründen rechtswidrig, so kann sich eine Schadensersatzpflicht der Gewerkschaft aus den § 823 ff. BGB ergeben. In erster Linie kommt ein Anspruch aus § 823 Abs.1 BGB (Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb) in Betracht. Als Zugriffsobjekt steht dem rechtswidrig bestreikten Arbeitgeber das gesamte Vereinsvermögen der Gewerkschaft zur Verfügung.

4. Die Folgen rechtswidriger Aussperrung Eine rechtswidrige Aussperrung hat – ebenso wie ein rechtswidriger Streik – keine Suspendierung der beiderseitigen Hauptleistungspflichten aus dem Arbeitsvertrag zur Folge. Der Arbeitgeber, der die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers nicht entgegennimmt, gerät in Annahmeverzug (§§ 293 ff. BGB). Der zu Unrecht ausgesperrte Arbeitnehmer kann nach § 615 BGB Zahlung des Arbeitslohns verlangen, ohne zur Nachleistung der ausgefallenen Arbeit verpflichtet zu sein. Wegen einer rechtswidrigen Aussperrung können sich Schadensersatzansprüche nach § 280 Abs. 1, 2, 286 BGB wegen Verletzung des Arbeitsvertrags ___________ 70 71

BAG AP Nr. 57 und 62 zu § 626 BGB. BAG AP Nr. 41 zu Art. 9 GG Arbeitskampf.

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ergeben.72 Meistens wird jedoch ein Schaden fehlen, weil der Arbeitgeber zur Zahlung des Lohns schon aufgrund des § 615 BGB verpflichtet ist.

VI. Zusammenfassung 1. Das deutsche Arbeitskampfrecht ist einfachgesetzlich nicht geregelt. Es wird unmittelbar aus der Verfassung, Art. 9 Abs. 3 GG, abgeleitet. Art. 9 Abs. 3 GG enthält verschiedene Verfassungsgarantien. Zu unterscheiden sind zunächst die individuelle und die kollektive Koalitionsfreiheit. Träger der individuellen Koalitionsfreiheit sind der einzelne Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Träger der kollektiven Koalitionsfreiheit die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Bei der individuellen Koalitionsfreiheit sind die positive und die negative Koalitionsfreiheit zu unterscheiden. Teilgarantien der kollektiven Koalitionsfreiheit sind die Koalitionsbestandsgarantie, die Koalitionszweckgarantie, die Koalitionsverfahrensgarantie und die Koalitionsmittelgarantie. Durch die Koalitionsmittelgarantie werden die Tarifautonomie und der Arbeitskampf garantiert. 2. Der Arbeitskampf und die freiwillige Schlichtung sind funktional notwendige Hilfsinstrumente der Tarifautonomie. Daher sind Arbeitskämpfe einerseits verfassungsrechtlich garantiert, andererseits folgen aus der Dienstfunktion des Arbeitskampfes gegenüber der Tarifautonomie verbindliche Zulässigkeitsschranken: a) Das verfolgte Arbeitskampfziel muss tariflich regelbar sein. b) Zwischen den Arbeitskampfparteien (Tarifparteien) muss ein Mindestmaß von Kräftegleichgewicht herrschen (Grundsatz der Parität). c) Es darf keine Friedenspflicht (mehr) zwischen den Tarifvertragsparteien bestehen. d) Der Einsatz der Arbeitskampfmittel muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. 3. Aus diesen Zulässigkeitsschranken folgt: a) Die (tariffähigen) Gewerkschaften haben ein Streikmonopol. „Wilde“ Streiks sind rechtswidrig. Tariffähig ist eine Gewerkschaft nach der Rechtsprechung nur, wenn sie frei, überbetrieblich und körperschaftlich organisiert ist. Sie muss auf Dauer angelegt sein und den Zweck verfolgen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder zu wahren und zu fördern. Sie muss gegnerfrei und unabhängig sein. Außerdem muss sie nach der Rechtsprechung eine gewisse „soziale Mächtigkeit“ besitzen. ___________ 72

Löwisch, (Fn. 30) Rdnr. 386.

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b) Politische Arbeitskämpfe, Arbeitskämpfe um Rechtsstreitigkeiten, Demonstrations- und Sympathiearbeitskämpfe sind grundsätzlich rechtswidrig, da sie nicht auf tariflich regelbare Ziele gerichtet sind. c) Das Gebot der Kampfparität soll den Einfluss der Koalitionen auf den von ihnen abzuschließenden Tarifvertrag egalisieren. Daher wird als Mittel der Streikabwehr die Abwehraussperrung und als Mittel der Aussperrungsabwehr der Abwehrstreik gewährleistet. Da nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die Gewerkschaften a priori unterlegen sind, sind Streik und Aussperrung nicht völlig gleichzustellen. Aus dieser Sicht hat das Bundesarbeitsgericht das Kampfmittel der Aussperrung stark eingeschränkt. Sie soll nur noch bei Schwerpunktstreiks zur Erweiterung des Kampfrahmens zulässig sein. d) Aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip folgt der „ultima ratio“-Grundsatz. Danach setzt ein rechtmäßiger Arbeitskampf voraus, dass alle zumutbaren Verständigungsmöglichkeiten ausgeschöpft worden sind. Zweifelhaft ist, ob sich aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip auch quantitative Schranken für die Aussperrung ergeben. e) Die tarifvertragliche Friedenspflicht garantiert den Arbeitsfrieden und begründet ein befristetes Kampfverbot. Sie endet erst, wenn nach Ablauf des Tarifvertrags alle Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. 4. Arbeitskämpfe haben folgende Rechtsfolgen: a) Ein rechtmäßiger Streik führt zur Suspendierung des Arbeitsverhältnisses. Eine vorherige Kündigung durch die Arbeitnehmer ist daher nicht erforderlich. Dennoch sind die Arbeitnehmer zu Erhaltungsarbeiten verpflichtet. Die Suspendierung bewirkt für die Dauer des Streiks auch ein Erlöschen der Vergütungspflicht. Die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer erhalten von ihrer Gewerkschaft Kampfunterstützung; der Staat darf jedoch wegen seiner Neutralitätspflicht keine Arbeitslosenhilfe gewähren. b) Auch die rechtmäßige Aussperrung führt zur Suspendierung des Arbeitsverhältnisses. Eine „lösende“ Aussperrung ist mit dem Sinn des Arbeitskampfs unvereinbar. c) Ein rechtswidriger Streik hat keine Suspendierung des Arbeitsverhältnisses zur Folge. Der Arbeitgeber kann daher sowohl von dem einzelnen Arbeitnehmer als auch von der Gewerkschaft Schadensersatz wegen der Arbeitsniederlegung verlangen. Außerdem kann der Arbeitgeber dem rechtswidrig streikenden Arbeitnehmer unter Umständen (sogar selektiv) fristlos kündigen. d) Die rechtswidrige Aussperrung führt ebenfalls nicht zur Suspendierung des Arbeitsverhältnisses. Die Arbeitnehmer behalten ihren Lohnanspruch nach § 615 BGB.

II. Probleme des japanischen Rechts und der Rechtsvergleichung

Werden Japans Juristen „amerikanisiert“? – Zur Einführung des Law school-Systems in Japan Von Anna Bartels-Ishikawa und Toshiyuki Ishikawa

I. Einleitung Japan ist immer wieder einmal gut für etwas Neues. Dieses Mal geht es nicht um eine neue Art von Sushi oder einen neuen Supercomputer, sondern um einen eher konservativen Bereich: Die Justiz. Japan befindet sich – wie allenthalben bekannt – seit dem Beginn der 90er Jahre (etwa 1993) in einem wirtschaftlichen Niedergang deflationärer Prägung.1 Die Einkommen – Löhne, Renten und Pensionen – sinken ebenso wie die Preise; die Zahl der Arbeitslosen und der Universitätsabgänger, die keine Stelle finden, steigt ständig. Viele Regierungsprogramme sollten die Talfahrt stoppen, aber keinem Programm war ein durchschlagender Erfolg oder gar eine Trendwende beschieden. Selbst so verzweifelte Regierungsmaßnahmen wie Minderjährigen und Rentnern pro Person je 10.000 ¥ (ca. 72 €) zu schenken, damit sie konsumieren, halfen nichts, sondern riefen in der Bevölkerung eher Heiterkeit hervor. Kommentar einer Rentnerin: „Davon kann ich keine neue Brille für mich kaufen, am besten ich spare das Geld!“. Aber, und das ist das Entscheidende, 10 Jahre wirtschaftlicher Probleme haben in Regierung und Bevölkerung die Einsicht bewirkt, dass sich in Japan einiges ändern muss und zwar nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet. Mittlerweile begrüßen weite Teile der Bevölkerung die Reformen. Neben dem wirtschaftlichen Bereich wurde bereits im Juli 1999 eine Verwaltungsreform durchgesetzt, bei der ca. 2100 die Verwaltung betreffende Gesetze geändert wurden.2 Dieser Verwaltungsreform lagen verschiedene Überlegungen zugrunde. Die Regierung hoffte, durch die Deregulierung in einzelnen Verwal___________ 1

Sehr aufschlussreich ist hier der Artikel von Jesper Koll, Chefanalyst für volkswirtschaftliche Fragen von Merrill Lynch Japan, mit dem Titel „Japan King of deflationary economy“, in: The Daily Yomiuri vom 13. Juni 2003, S. 9. Koll weist nach, dass es den japanischen Bürokraten und Politikern mit ihrer Politik trotz der großen Einbußen an privaten Vermögen gelungen ist, die Deflation so in Grenzen zu halten, dass eine große Wirtschaftsdepression, die immerhin eine reale Gefahr war, vermieden werden konnte. 2 Vgl. Toshiyuki Ishikawa, Zur jüngsten Reform der japanischen Gemeindeordnung 2000, Vortrag gehalten an der Universität Münster am 18. April 2001.

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Anna Bartels-Ishikawa und Toshiyuki Ishikawa

tungsbereichen die Verwaltung – insbesondere auf regionaler Ebene – effizienter zu machen, indem sie der gemeindlichen Verwaltung und den Privaten einen größeren Zuständigkeitsbereich einräumt. Vor allem sollte es so für die Verwaltung leichter werden, auf die örtlichen Gegebenheiten und Bedürfnisse einzugehen. Dies hatte sich auch und gerade in wirtschaftlicher Hinsicht als wichtig erwiesen, da die zentrale Tokioter Verwaltung nicht stets mit dem örtlichen Verhältnissen vertraut war. Bis zur Durchführung der Verwaltungsreform war es das große Ziel der Tokioter Regierung gewesen, das ganze Land einigermaßen gleichmäßig zu entwickeln, quasi überall im Lande einen ähnlichen Lebensstandard herzustellen. Betrachtet man z. B. den Straßenbau, so ist dies sicherlich gelungen. Den Preis hierfür zahlte die Bevölkerung in den hochentwickelten, steuerstarken Gebieten wie etwa im Großraum Tokio oder Osaka. Diese Form der „Umverteilung“ ließ sich in der jüngsten Zeit aufgrund der Deflation und dem entsprechend geringeren Steueraufkommen weder länger rechtfertigen noch durchführen, zumal ein recht guter, gleichmäßiger Standard erreicht ist. Ferner soll in Zukunft weniger Gyōseishido, d. h. die spezielle japanische Form von Verwaltungslenkung, stattfinden. Demnach soll sich das vorherige staatliche Eingreifen verringern und das Gewicht einer Beteiligung staatlicher Behörden soll zur Justiz verlegt werden. So soll z. B. in Zukunft ein verwaltungsrechtliches Vorhaben zunächst ohne vorheriges Gyōseishido durchgeführt und nur gegebenenfalls hinterher gerichtlich überprüft werden können. Eine weitere Überlegung betrifft die Bestrebung der japanischen Regierung, sich den Herausforderungen der weltweiten Globalisierung zu stellen. Hierzu gehören nicht nur die Umstrukturierungen im unternehmerischen und wirtschaftlichen Bereich, sondern auch Verbesserungen in der Berufsausbildung der zukünftigen Arbeitskräfte. Auf den Gebieten der Justiz und der Juristenausbildung nahm Japan bisher unter den weltweit führenden Industrienationen eine Sonderstellung ein, sowohl was die Zahl der bereits forensisch Tätigen angeht als auch die Zahl der jährlich neu zugelassenen Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte. Nur ca. 1.000 Kandidaten bestehen pro Jahr die Zulassungsprüfung zum juristischen Referendariat. Diese Quote ist staatlicherseits so festgesetzt (mehr dazu später). Auch die Anzahl der erledigten erstinstanzlichen Prozesse ist geringer als in Deutschland. Die nachfolgende Tabelle bietet einen Vergleich der entsprechenden deutschen und japanischen Verhältnisse auf dem Gebiet der Justiz. Wie aus der folgenden Tabelle ersichtlich, gibt es in Deutschland wesentlich mehr Prozesse als in Japan. Allerdings werden in Japan dafür mehr außergerichtliche Vergleiche (= assen, § 695 japanisches ZGB) geschlossen. Dieses assen-Verfahren ähnelt dem deutschen außergerichtlichen Vergleich.

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Werden Japans Juristen „amerikanisiert“? Japan

BRD

Bevölkerung

ca. 121 Mio.

ca. 80 Mio.

Amtsgerichte

575

693

Landgerichte

50

116

Oberlandesgerichte

8

24

Oberste Bundesgerichte

1

6

Richter

ca. 2.939

ca. 20.000

Rechtsanwälte

ca. 16.853

ca. 105.000

Erledigte Zivilprozesse erster Instanz (AG und LG) pro Jahr

ca. 345.000

ca. 2.485.424

Übersicht z. T. nach Igarashi, Einführung in das japanische Recht, Darmstadt 1990, S. 44 und aktualisiert nach der Statistik des Bundesministeriums der Justiz, Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit vom 30. 9. 2000 bezogen auf das Jahr 1998.

Außerdem gibt es in Japan noch ein gerichtliches Schlichtungsverfahren, chotei genannt; es ist für Familien- und Zivilsachen in den Schlichtungsgesetzen von 1947 und 1951 geregelt. Durchschnittlich gibt es pro Jahr ca. 100.000 Schlichtungen in Zivil- und ca. 80.000 in Familiensachen. Das chotei-Verfahren ist verglichen mit einem Prozess weniger zeitraubend und kostengünstiger. Addiert man die chotei-Verfahren zu der Zahl der erstinstanzlich erledigten Zivilprozesse hinzu – was durchaus zulässig ist, weil es sich ebenfalls um eine gerichtliche Konfliktlösung handelt – so ergibt sich eine Zahl von 525.000 erstinstanzlichen gerichtlichen Verfahren. Diese Zahl ist allerdings gegenüber der deutschen von 2.485.424 bedeutend geringer, die japanische Quote entspricht ca. einem Drittel der deutschen Verfahren. Als konkretes Beispiel seien hier noch zusätzlich die Zahlen für den Bereich der Anwaltskammer Tama, einem Vorort Tokios, genannt. In diesem Teil Tokios leben ca. 4 Mio. Menschen, die von 700 Rechtsanwälten, die bei der Rechtsanwaltskammer Tama Mitglied sind, betreut werden. Zum Vergleich nun die Rechtsanwaltskammer Frankfurt am Main: in diesem Kammerbereich leben ebenfalls 4 Mio. Menschen, denen jedoch 14.000 Rechtsanwälte zur Verfügung stehen. In ländlichen Gegenden fehlt z. T. völlig eine anwaltliche Versorgung. Eindrucksvoller lassen sich die Verhältnisse unseres Erachtens kaum noch illustrieren. Die Gründe, warum in Japan die Zahl der Prozesse und der forensisch Tätigen im Vergleich zu westlichen Ländern so viel geringer ist, sind oft bespro-

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Anna Bartels-Ishikawa und Toshiyuki Ishikawa

chen. Sie sind – und insoweit ist Zweigert/Kötz durchaus zuzustimmen3 – in der kulturellen und historischen Prägung Japans zu suchen. Zumindest in Japan ist seit 1.400 Jahren, d. h. seit der 17 Artikel umfassenden Verfassung des Prinzen Shōtoku4 Harmonie innerhalb der Gesellschaft das oberste Gebot. „Ein Kampf ums Recht“ – noch dazu im Iheringschen Sinne – würde die Harmonie stören und außerdem zeigen, dass der Betreffende nicht in der Lage ist, seine Angelegenheiten selbst harmonisch zu lösen.5 Dieses tradierte Verhaltensmuster beginnt nun allmählich sich aufzulösen. Da die Globalisierung auf wirtschaftlichem Gebiet mit einer Amerikanisierung einhergeht, ändert sich damit zwangsläufig das Verhalten der Unternehmen im Rechtsverkehr. Auch in Japan wird nunmehr eine stärkere juristische Beratung bei Vertragsabschlüssen und der Durchführung von Verträgen benötigt als bislang um mögliche Rechtsstreite – wie in den USA gelegentlich üblich – zu vermeiden. Kennzeichnend ist auch in Japan die Zunahme von Fusionen von japanischen und US-amerikanischen Kanzleien. Um dieser Entwicklung hin zu einer Internationalisierung zu entsprechen, soll die Ausbildung der Juristen in Japan ab dem 1. April 2004 verbessert werden. In Japan wird ebenfalls – ähnlich wie in Deutschland im Rahmen der Juristenausbildungsreform – vor allem eine Intensivierung der Ausbildung von Rechtsanwälten angestrebt. Bislang war es möglich, ohne Universitätsstudium die staatlichen Eingangsprüfungen für die Aufnahme in das juristische Referendariat zu bestehen und auf diesem Wege nach Ablegung eines weiteren, zweiten staatlichen Examens Richter, Rechtsanwalt oder Staatsanwalt zu werden. Allseits bekannt sind die „Self-made-manStories“ von Hausfrauen, yakuza (= Mitglied der japanischen Mafia) oder Taxifahrern, die nach jahrelangen autodidaktischen Studien ohne juristisches Universitätsstudium – gelegentlich im 10. „Anlauf“ – die staatliche Eingangsprüfung bestanden und später den Beruf eines Rechtsanwaltes ergriffen haben. Dies soll nun nicht mehr möglich sein. Nach einer Übergangsfrist soll ab dem Jahre 2011 der Besuch einer Universität und einer Law school obligatorisch sein. ___________ 3

Vgl. Konrad Zweigert/Hein Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 68 ff., 71 ff. und 130 f. 4 Prinz Shōtoku (* 574, † 622), japanischer Staatsmann, seit 593 Regent unter Kaiserin Suiko († 628). Seine Reformen waren für Japan prägend (Taikareform). Im Jahre 604 erließ er die erwähnte Verfassung, die am Konfuzianismus orientiert war und die absolute Herrschaft des Kaisers festlegte. Zum Begriff des Konfuzianismus und seinen inhaltlichen Wandlungen vgl. aus jüngster Zeit die Ausführungen von Eun-Jeung Lee in ihrer Hallenser Habilitationsschrift: „Anti-Europa“. Die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung, Münster 2003, vor allem S. 13 ff. 5 Vgl. zu diesem Thema auch den Beitrag von Anna Bartels-Ishikawa, The success of Jhering’s „Kampf um’s Recht“ in Japan especially in the Meiji-period, in: FS für Mario G. Losano, Madrid 2005.

Werden Japans Juristen „amerikanisiert“?

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II. Die Neuregelung der Juristenausbildung 1. Ziel der Reform Um eine Reform der Juristenausbildung auf den Weg zu bringen, schlug der Rat für die Reform der Juristenausbildung im Jahre 2001 vor, in Japan nach US-amerikanischem Vorbild sog. Law schools zu gründen und das bis jetzt bestehende Universitätssystem zu reformieren. Durch die landesweite Einführung von Law schools wollte man insbesondere zwei bis zu diesem Zeitpunkt bestehende Missstände in der Juristenausbildung beseitigen: Zum einen wollte man das gerade eben beschriebene Prüfungssystem für Juristen abschaffen und zum anderen wollte man dem Mangel an gut ausgebildeten Juristen abhelfen. Mit anderen Worten, man möchte zwei Ziele erreichen: Ein adäquates Juristenprüfungssystem und eine Erhöhung der Zahl gut ausgebildeter Juristen. Darüber hinaus möchte Japan die durchschnittliche Prozessdauer verkürzen, weshalb zusätzliche Richter und Staatsanwälte eingestellt werden müssen. Wenden wir uns zunächst dem ersten Missstand zu. Wie bereits erwähnt, konnte man und kann man bis zum Jahre 2011 in Japan z. B. Richter werden, ohne eine juristische Universitätsausbildung genossen zu haben. Idealerweise bereiten sich diejenigen, die z. B. Richter oder Rechtsanwalt werden wollen, im Selbststudium vor. Üblicherweise – man ist an den berühmten Unterschied von Sollen und Sein erinnert – besuchen diejenigen, die sich auf das erste Justizexamen (= shihou-shiken) vorbereiten, jedoch täglich einen Repetitor, genannt „Juku“ oder „Yobiko“. Ähnlich wie in Deutschland auch wird dort das prüfungsrelevante Wissen gepaukt. Fast noch intensiver werden jedoch beim Repetitor diejenigen Fähigkeiten und Kenntnisse eingeübt, die benötigt werden, um die komplizierte Multiplechoice-Prüfung handhaben zu können. Einige dieser Repetitorien arbeiten – ähnlich wie in Deutschland auch – landesweit. Es gibt sogar eine Partnerschaft zwischen einem bekannten japanischen Repetitor und dem wohl größten deutschen Repetitor. Durchschnittlich dauert die Prüfungsvorbereitung fünf bis sechs Jahre für das bar exam. Ebenfalls versuchen durchschnittlich ca. 50.000 (!) Kandidaten jedes Jahr am Muttertag, dem traditionellen Prüfungstag (der Sonntag ist in Japan recht beliebt als Prüfungs- oder Arbeitstag, weil dann jeder Zeit hat) die schwierige Multiplechoice-Prüfung zu bestehen. Die Durchfallquote ist horrend, sie beträgt ca. 98% der Kandidaten oder positiv ausgedrückt nur 2% der Kandidaten schaffen die Prüfung und werden zum bisher zweijährigen Referendariat zugelassen. In absoluten Zahlen für das Jahr 2002 ausgedrückt, nahmen am „großen Schlachtfest“ 41.459 Kandidaten teil, wovon 1.183 die Prüfung bestanden.6 Abgesehen von dem Mangel einer ___________ 6 Angaben nach Eriko Arita: „US-style Law schools to offer practical approach“, in: The Japan Times, vom 2. Juli 2003, S. 3.

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fundierten wissenschaftlichen, juristischen Ausbildung, liegt unseres Erachtens in diesem System eine außerordentliche Verschwendung von Ressourcen, nämlich der Finanzmittel der Kandidaten und ihrer Lebenszeit. Diejenigen, die die Prüfung nicht bestehen, können, wenn sie ein juristisches Studium absolviert haben sollten, als Paralegal in einer Kanzlei arbeiten, oder sie müssen in den Berufen auf Beschäftigungssuche gehen, die sie erlernt haben. Der zweite Missstand, den man beenden wollte, war und ist der Mangel an gut ausgebildeten Juristen. Sowohl die Quantität als auch die Qualität der ausgebildeten Juristen soll angehoben werden. Damit möchte der Rat für die Justizreform dem wachsenden Bedarf an Juristen entsprechen. Bis in die jüngste Zeit war in Japan der Bedarf an gut ausgebildeten Volljuristen nicht sehr groß, was – wie bereits angedeutet – an der kulturellen Tradition des Landes liegen mag. Das Verhaltensmuster, dass die Harmonie innerhalb der Gesellschaft bzw. Gruppe stets Vorrang hat, ist in Japan allgemein tief internalisiert. Dies konnte die Co-Autorin im Alltag oft feststellen, wenn sie meinte, eine rechtliche Frage – wie etwa den Umtausch einer mangelhaften Sache – grundsätzlich regeln zu wollen. Nicht selten endet ein solches den Frieden störendes Verhalten damit, dass die umstehende Ladenkundschaft interessiert zuhört und dann „den Frieden rettet“, indem sie anbietet, die mangelhafte (aber noch leidlich funktionsfähige) Sache zu kaufen und anregt, der (unwissenden) Ausländerin statt der an sich mangelhaften Sache eine neue zu geben. In diesem Fall ist jeder „Kampf ums Recht“, wenn auch durchaus juristisch gerechtfertigt, aussichtslos und wie jeder einsehen muss (!) störend. Hinzu kommt noch das Gefühl der Blamage, den Frieden gestört zu haben (!). Das Verhalten der umstehenden Kundschaft zeigt deutlich einen in Japan üblichen Konfliktregelungsmechanismus. Derjenige, der nach Meinung der Gruppe oder Gesellschaft den Frieden stört, wird dadurch reglementiert, dass ihm das Gefühl vermittelt wird, sich für sein Verhalten schämen zu müssen. Insofern ist der US-amerikanischen Autorin Ruth Benedict zuzustimmen, die in ihrem mittlerweile zum Klassiker geworden Japanbuch „The Chrysanthemum and the Sword“ davon spricht, dass Japan eine „Schamgesellschaft“ sei.7 Das Erzeugen eines Schamgefühls wird zur gesellschaftlichen Regulierung benützt. Durch den Druck der Gruppe, die mit ihrer Verachtung droht, wird gruppenkonformes Verhalten eingefordert. Wird jemand in Japan beschimpft, so wird ihm vorgeworfen, er sei eine „shitsurei na hito“, das heißt eine Person, die sich schämen und entschuldigen muss. Die Beschreibung dieses Verhaltensmusters illustriert unseres Erachtens deutlich, warum bis vor einigen Jahren in Japan mit juristischen Mitteln ausgetragene Konflikte nicht sehr häufig waren und man die Hilfe ausgebildeter Juristen nur selten in Anspruch nahm. Die zunehmende ___________ 7 Ruth Benedict, The Chrysanthemum and the sword, Patterns of Japanese Culture, Charles E. Tuttle, Vermont & Tokyo, 24. Aufl., 1972, S. 222 ff.

Werden Japans Juristen „amerikanisiert“?

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Amerikanisierung Japans seit dem Ende des zweiten Weltkrieges, insbesondere auch durch die in Japan beliebten amerikanischen Filme, hat zu einer Veränderung der Gesellschaft, sprich zu einer stärkeren Betonung des Individuums geführt. Dieser Wertewandel zeigt sich nun auch darin, dass das Individuum nicht mehr stets der Gruppe den Vorrang einräumt, sondern seine Interessen und Rechte durchsetzt. Insofern wird hier die Entkonfuzianisierung der japanischen Gesellschaft deutlich, das heißt, das „willige, loyale Sich-Einfügen“ in die Gesellschaft nimmt ab.8 Als Beispiel ist hier die Tatsache zu nennen, dass Ehescheidungen in Japan in den letzten Jahren zugenommen haben und insoweit entsprechend mehr Rechtsanwälte mit Kenntnissen des Familienrechts benötigt werden. Wie bereits angedeutet, ist auch auf ökonomischem Gebiet der Bedarf an Rechtsrat gewachsen. Gerade durch die Globalisierung wurde es notwendig, eine größere Zahl gut ausgebildeter Juristen vor allem Rechtsanwälte z. B. bei Vertragsverhandlungen zur Verfügung zu haben. Diese Juristen müssen in ihrem Kenntnisstand, d.h. in ihrer juristischen Qualifikation, aber auch in ihren Fremdsprachenkenntnissen (z. B. der englischen Sprache) dem internationalen Standard entsprechen, damit sie die japanischen Firmen effizient beraten und vertreten können. Die in Japan durchaus übliche Vorgehensweise, geschäftliche Verträge häufig nur mündlich ohne juristische Beratung zu schließen, ist zumindest auf internationaler Ebene undenkbar und unpraktikabel. Die Globalisierung hat auch für Japan den Zwang zur Anpassung an internationale – und hier vor allem US-amerikanische – Gepflogenheiten mit sich gebracht. Dem muss der Standard der Juristenausbildung entsprechen, wenn Japan seinen Rang als zweitgrößte Industrienation der Welt behaupten will. Insofern war eine zumindest äußerliche Adaption des amerikanischen Law school-Systems realitätsbezogen und geradezu logisch. Damit die Kenntnisse und Fähigkeiten der japanischen Juristen dem internationalen Standard äquivalent sind, müssen sie ebenfalls eine qualifizierte Universitätsausbildung vorweisen können. Nur so sind sie den stets an Universitäten ausgebildeten ausländischen Kollegen in Wissen und Fähigkeiten „ebenbürtig“. Außerdem steht Japan auch deshalb unter einem gewissen Zwang, die Zahl seiner Volljuristen zu erhöhen, weil nicht nur die Nachfrage nach Rechtsrat größer geworden ist, sondern auch deshalb, weil die Prozessdauer – wie erwähnt – verkürzt werden soll. Nach dem Gesetz zur Prozessbeschleunigung, das im Sommer 2003 das Parlament passierte, sollen in Zukunft erstinstanzliche Zivil- und Strafprozesse innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen sein. Eine Verkürzung der Prozessdauer kann jedoch nur durch einen Zuwachs an Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten erreicht werden. ___________ 8

Eun-Jeung Lee, (Fn. 4) S. 15.

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2. Die Gestaltung des neuen Juristenausbildungs- und -prüfungssystems a) Die Law schools Am 30.06.2003 war es soweit: Die Frist, die das japanische Kultusministerium für die Anmeldung zur Eröffnung einer Law school gesetzt hatte, lief ab. 72 Universitäten hatten die Erlaubnis beantragt, ab April 2004 eine Law school führen zu dürfen. Davon erhielten 68 Universitäten die begehrte Erlaubnis. Zwei Bewerbern wurde die Erlaubnis verweigert, weil sie nicht den Qualitätsanforderungen des Kultusministeriums entsprachen. Die zwei weiteren Bewerber scheiterten, weil sie die Law school in Zusammenarbeit mit einem Repetitor führen wollten. 46 der 72 Law schools sind in Großräumen Tokio und Osaka eröffnet worden. Die Law schools, die den US-amerikanischen Law schools ähneln, sind graduate schools, die ein 3-jähriges Ausbildungsprogramm anbieten. Voraussetzung für die Aufnahme als Student an eine Law school ist demnach ein bereits abgeschlossenes Universitäts(grund)studium, d. h. mindestens BachelorAbschluss. Dabei muss es sich nicht unbedingt um ein juristisches Studium handeln, ebenso ist ein medizinisches, philosophisches oder philologisches zulässig. Diejenigen Kandidaten, die bereits ein juristisches Studium absolviert haben, werden Kishu-sha genannt, die übrigen Mishu-sha. Wie der folgenden Übersicht zu den japanischen Law schools entnommen werden kann, sind demgemäß die vorhandenen Studienplätze grundsätzlich in zwei Quoten aufgeteilt, nämlich die Quote für Bewerber, die bereits ein Jurastudium abgeschlossen haben (Kishu-sha) und die Quote für diejenigen, die ein anderes Studium absolviert haben (Mishu-sha). In der Regel ist die Studienplatzquote für Bewerber mit vorausgegangenem juristischem Studium größer. Eine Ausnahme bildet hier insoweit nur die Waseda-Universität in Tokio, die mehr Mishu-sha als Kishusha aufnimmt. Ob diese Universität allerdings diese Aufteilung beibehalten wird, ist zurzeit noch nicht gewiss. Ferner zeigt sich wiederum die Tendenz, dass die Zahl der Bewerber mindestens zehnfach so groß ist wie die Zahl der vorhandenen Studienplätze an einer Law school. Allerdings muss man in seine Betrachtung die Tatsache miteinbeziehen, dass sich viele Bewerber für die Aufnahme an 2 oder 3 Law schools gleichzeitig bewerben, um im Ergebnis wenigstens einen Studienplatz an einer Law school zu „ergattern“. Ferner muss der Kandidat ein Eintrittsexamen, das sog. LSAT-Examen (= Law school Admission Test), bestehen. Hierbei handelt es sich um eine landeseinheitliche Prüfung. Sie wird von zwei juristischen Organisationen durchgeführt und zwar einerseits vom Daigaku-nyu-shi-center und andererseits von der Nichi-benren-houmu-Kenkyu-saidan. Das Daigaku-nyu-shi-center ist eine halbstaatliche Organisation. Die Nichi-benren-houmu-kenkyu-saidan oder mit englischer Bezeichnung Japan Law Foundation (JLF) ist eine Stiftung der

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Werden Japans Juristen „amerikanisiert“?

Studienplätze pro Jahr

Chou

300

Waseda

300

Meji

200

Keio

260

Hosei

100

Tokyo

300

Kyoto

200

Kansai

130

Kishu-sha Mishu-sha Bewerber für Auf- Zahl der Profes(abgeschlos- (Studium, aber nahme in eine Law soren senes Juranicht Jura) school studium) davon davon Kishu-sha Mishu-sha 5.413 200 100 67 2.130 3.283 4.557 26 274 72 3.188 100 100 43 1.242 1.946 200 ca. 60 53 2.188 70 30 21 975 1.113 2005 200 100 71 869 1.136 1.974 140 60 47 935 1.039 1.638 29

Jochi

100

50

50

Kanseigakuin

100

50

50

1.548 237 940 371 gleichzeitig für beide 1.542 562 811 169 gleichzeitig für beide

23

34

japanischen Rechtsanwälte, die sich unter anderem der Erforschung des Rechtes widmet. Diese beiden Organisationen bereiten die Prüfungsfragen für den LSAT-Test vor und führen die Prüfungen einmal jährlich durch. Bei diesen beiden Organisationen beantragen die Kandidaten ihre Teilnahme und bezahlen ihre Prüfungsgebühren von durchschnittlich ca. 35 000 ¥ (= 250 €). Mit dem LSAT-Examen wird die Fähigkeit des Kandidaten, logisch zu denken in einem multiple-choice-Test geprüft. Dieses Eintrittsexamen ist von seinem gleichnamigen US-amerikanischen Vorbild geprägt. Unter Vorweis der Noten, die der Kandidat im LSAT-Test erhalten hat, bewirbt er sich an einer Law school. Es folgt ein weiteres Eintrittsexamen der jeweiligen Law school, für die sich der Kandidat beworben hat. In diesem Test werden die Kishu-sha auf ihr bereits erworbenes juristisches Wissen geprüft, während die Mishu-sha eine sho-ronbun (= eine kleine Hausarbeit) auf einem

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nicht-juristischen Gebiet zu verfassen haben. Diese Prüfungen sind – wie erwähnt – nicht landeseinheitlich und daher in ihrem Niveau von Law school zu Law school unterschiedlich.

b) Das Studium an einer Law school Hat der Kandidat diese Prüfungen erfolgreich bestanden und die Aufnahmegebühr von ca. 300.000 ¥ entrichtet, so beginnt – landeseinheitlich im April eines jeden Jahres – das Law school-Studium. Pro Studienjahr beträgt die Studiengebühr ca. 2.000.000 ¥ (= 15.000 €)9. Für Kishu-sha währt die Studienzeit an einer Law school mindestens zwei Jahre, während die Mishu-sha drei Jahre zu studieren haben. In diesem zusätzlichen Studienjahr sollen die Mishu-sha ihre fehlenden juristischen Kenntnisse nachholen. Ob aber wirklich ein einziges Studienjahr ausreicht, um vier Jahre eines fehlenden Jurastudiums auszugleichen, ist doch ein wenig zweifelhaft. Hier wird die Zukunft zeigen müssen, ob sich dieses System bewährt. An der Law school werden die Studenten in sieben Pflichtfächern unterrichtet. Hierzu gehören die in Japan klassischen sechs juristischen Fächer, die sog. roppou (wörtlich übersetzt: 6 Rechte). Zu den roppou zählen neben dem Staatsrecht, das Zivil-, das Straf-, das Handels-, das Zivilprozess- und das Strafprozessrecht. Das Verwaltungsrecht ist erst neuerdings als siebtes Pflichtfach aufgenommen worden. Daneben gibt es selbstverständlich Unterrichtsangebote in weiteren juristischen Fächern wie etwa Rechtsphilosophie, Arbeits- und Gesellschaftsrecht etc. Der Unterricht findet in Klassen mit durchschnittlich 50 Studenten statt. Die Unterrichtsmethode an den Law schools soll sich von der bisherigen Unterrichtsmethode an den juristischen Fakultäten unterscheiden. Angestrebt wird ein interaktiver Unterricht zwischen Professor und Studenten. Anders als bisher sollen die Vorlesungen nicht nur Wissen und Fakten vermitteln. Bis heute war und ist es auf der Fakultätsebene üblich, dass der Professor in eher monologisierender Weise seine Vorlesungen hält. Fragen an die Studenten sind ebenso unüblich wie Fragen der Studenten an den Professor. Nach der traditionellen Erziehung sollte man als Student seinen sensei (Meister, Lehrer) nicht durch – wohl möglich dumme – Fragen stören. Dieses Verhalten soll sich nun auf beiden Seiten ändern. Die Professoren sollen den Law school-Studenten – wie gesagt – nicht mehr nur Wissen und Fakten vermitteln, sondern auch die Fähigkeiten zu analytischem Denken als Praktiker und zur Führung einer Diskussion. Ähnlich wie in den USA soll die sog. „Sokratische Methode“ die Unterrichts___________ 9 Dieser Betrag bezieht sich auf die privaten Universitäten, an einer staatlichen beläuft sich die Gebühr auf ca. 80.000 ¥.

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methode sein. Die Studenten sollen durch Fragen und Antworten juristische Probleme, d.h. Fälle, angehen und lösen. Die Form des Dialogs, die bei der Sokratischen Methode benützt wird, soll es ja beiden Seiten – Lehrer und Schülern – ermöglichen, ihre Argumente und Gegenargumente auszutauschen.10 Den Studenten soll nicht mehr in langen Vorlesungen ein Lehrstoff „vorgesetzt“ werden, von dem sie u.U. gar nicht überzeugt sind oder den sie nicht verstehen. Vielmehr soll durch die Dialogform ein Konsens, d. h. das Verstehen und Überzeugtsein von der Richtigkeit des Gehörten, erreicht werden. Sind beide Seiten – Professor und Studenten – zu einer Überstimmung gelangt, dann erst soll und kann der nächste Argumentionsschritt bzw. Unterrichtsabschnitt kommen. Diese Unterrichtsmethode verlangt von beiden Seiten eine (wahnsinnig!) intensive Vorbereitung und außerdem auch Mitarbeit der Studenten. Wie der Ko-Autor und auch andere Law school-Professoren allerdings feststellen konnten, findet diese Methode Anklang bei den Studenten. Entgegen ihrem bisherigen Verhalten auf der Fakultätsebene stellen sie nun Fragen an die Sensei, wenn auch z. T. erst nach dem Unterricht. Dies mag zwar nicht völlig dem Sinn der Sokratischen Methode entsprechen, mag aber als japanische Variante angehen. Immerhin muss man in Rechnung stellen, dass es in Japan traditionell verpönt ist, innerhalb einer Gruppe – etwa durch eine Frage – aufzufallen. Gilt doch das Sprichwort, dass „ein Nagel, der heraussteht, einzuschlagen sei“. Insofern kann man nicht erwarten, dass sich westliche Verhaltensweisen, insbesondere die Diskutierlust, schlagartig in diesem östlichen von ganz anderen Verhaltenstraditionen geprägten Land durchsetzen, aber die Veränderung hat begonnen. Hinzu kommt die ganz andere Sprechtradition im japanischen, die den hierarchischen Unterschied zwischen Sensei und Student betont, d. h., schon sprachlich begegnen sich die beiden Seiten nicht unbedingt auf der gleichen Ebene. Der Student wird seinen Professor stets mit „sensei“ und der „Sie-Form“ anreden. Zumindest der männliche Professor wird seine Studenten öfter mit „Kimi“ und „Kun“, also z. B. „Kato-Kun“, ansprechen, was der „Du-Form“ entspricht und betont, dass der Student der Jüngere und entsprechend in der Hierarchie untenstehende ist. Dies klingt für japanische Ohren allerdings bisher (!) ganz normal. Anders als auf der Fakultätsebene ist der Law school-Unterricht durch einen starken Praxisbezug gekennzeichnet. So wird z. B. wesentlich intensiver als auf der Fakultätsebene die Rechtsprechung in den Unterricht einbezogen. Nicht nur Fälle aus der Rechtsprechung des Supreme court werden gelesen und gemeinsam besprochen. Ebenfalls der Förderung der praktischen Fähigkeiten der Studenten sollen Rollenspiele (moot courts) dienen, bei denen sie Gerichtsverhandlungen nachstellen, um so das Auftreten bei Gericht zu erlernen. Die meisten Universitäten, wie etwa die Gakushu-in-Universität in Tokio, haben für ihre ___________ 10 Zur „Sokratischen Methode“ vgl. Josef Simon, in: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Reclam Ausgabe, Stuttgart 2003, Nachwort, S. 348 f.

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Law schools eigens neue Gebäude errichtet, die auch über einen nachgebauten Gerichtssaal für ihre Studenten verfügen. Dem gleichen Ziel soll ferner die Einrichtung einer Law school eigenen Law firm dienen. Quasi im „klinischen Test“ sollen die Law school-Studenten die Arbeit von Rechtsanwälten in der Praxis kennenlernen. Unter der Aufsicht eines gleichzeitig anwesenden Professors, der in Japan neben seiner universitären Tätigkeit auch als zugelassener Rechtsanwalt tätig werden darf, soll der Law school-Student Mandanten betreuen, d. h. sie beraten. Gibt es Probleme, so greift der in diesem Fall als Rechtsanwalt tätig werdende Professor ein. Die Einrichtung von Law school eigenen Law firms entspricht also einem Ansatz wie man ihn in Deutschland und auch in Japan bisher nur von medizinischen Fakultäten kennt, die über ein Universitätskrankenhaus verfügen. Dies führte in Japan zur Bezeichnung „law clinic“. Dieser sehr auf die spätere Berufspraxis bezogenen Vorgehensweise entspricht es auch, dass an den Law schools neben den Professoren (ehemalige) Praktiker unterrichten. Gemäß dem japanischen Grundsatz, dass man nur von einem „Honmono“, also einer Person/Sache profitieren kann, die selbst zu „200 Prozent“ das ist, was man werden will oder haben möchte, werden in Japan z. B. für den Sprachunterricht auch an den Gymnasien ausländische Muttersprachler beschäftigt und keine japanischen Lehrer. Entsprechend unterrichten an den Law schools beurlaubte oder pensionierte Richter und Staatsanwälte z. B. die jeweiligen Prozessrechte oder auch materiellen Rechte. Demgemäß hält etwa der ehemalige Staatsanwalt Vorlesungen in Straf- und Strafprozessrecht. Diese Praktiker, die in der Regel fest an der Law school angestellt sind, sind durchschnittlich zwischen 60 – 70 Jahre alt. Dieses Alter ist in Japan für einen Professor nicht ungewöhnlich, da in Japan die Emeritierung häufig erst mit 70 Jahren stattfindet. Vor ihrer Anstellung an eine Law school werden diese Praktiker von einer staatlichen Auswahlkommission auf ihre Eignung überprüft. Mit der Anstellung von Praktikern kommen die Law schools einer Anforderung des Kultusministeriums nach. Dieses verlangt, dass mindestens 20 % der Law school-Fakultätsmitglieder aktuelle praktische Erfahrung besitzen müssen. Neben den ehemaligen Richtern und Staatsanwälten erteilen auch noch forensisch tätige Rechtsanwälte Unterricht.

c) Das Shin-shihou-shiken und seine möglichen Auswirkungen Steht der Kishu-sha-Student am Ende seiner zweijährigen Law schoolAusbildung, so folgt das staatliche Shin-shihou-shiken (= neues Justizexamen). Bei diesem Examen handelt es sich einerseits um das Abschlussexamen für die Law school und andererseits um das Eintrittsexamen für das Referendariat. Beim Shin-shihou-shiken, das für Kishu-sha zum ersten Male im Mai 2006

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durchgeführt werden wird und für Mishu-sha im Jahre 2007, muss der Prüfling zunächst einen eintägigen Multiplechoice-Test bestehen. In diesem Teil werden seine Kenntnisse in den oben genannten sieben Pflichtfächern (Zivil-, Straf-, Verfassungs-, Verwaltungs-, Handels-, Zivilprozess- und Strafprozessrecht) geprüft. Darauf folgen an weiteren drei Tagen sieben Klausuren in den gleichen Fächern. Eine mündliche Prüfung ist im Rahmen des Shin-shihou-shiken nicht vorgesehen. Im Jahre 2006 sollen ca. 2.500 Kandidaten an der Prüfung teilnehmen, nach der bereits jetzt festgesetzten Quote sollen ca. 800 – 1.000 Prüflinge die Prüfung bestehen. Drei Wiederholungen der Prüfung innerhalb von 5 Jahren nachdem Studierende an der Law school sind möglich. Bei ein wenig kritischer Betrachtung fragt man sich allerdings, wie das Ministerium reagieren würde, wenn der doch theoretisch immerhin denkbare Fall eintreten würde und alle Kandidaten würden zu 100 % richtige Antworten geben. Fallen sie dann trotzdem durch? Für das Empfinden der Co-Autorin mangelt es in diesem Punkt an Prüfungsgerechtigkeit. Auf das erfolgreich bestandene Shin-shihou-shiken folgt das staatlicherseits durchgeführte 1-jährige Referendariat.11 Dieses ähnelt in seiner Durchführung dem Referendariat in Deutschland. Hat der Referendar die Ausbildung erfolgreich durchlaufen, so wartet auf ihn ebenso wie auf seinen deutschen Kollegen eine zweite staatliche Prüfung, das Nikai-shiken. Betrachtet man die Quote derjenigen, die das Shin-shihou-shiken (= Referendariatseintrittsprüfung) bestehen, so soll sich bis zum Jahre 2020 die Zahl der voll ausgebildeten Juristen ändern. Im Jahre 2002 haben nach dem alten Prüfungssystem – wie bereits erwähnt – 1.183 Kandidaten das shihou-shiken bestanden. Für die Jahre 2004 bis 2009 soll sich nach Plänen der Regierung diese Quote zunächst nicht viel ändern. Die Zahl der Prüflinge, die das Shinshihou-shiken bestehen, soll weiterhin zwischen 1.000 – 1.500 Kandidaten liegen, d. h., ca. 7.000 Kandidaten sollen in diesem Zeitraum erfolgreich sein. Für die Jahre 2010 – 2020 ist pro Jahr eine Quote von ca. 3000 erfolgreichen Kandidaten vorgesehen, es sollen also ca. 30.000 neue Volljuristen ihre Arbeit aufnehmen. Danach soll die Quote wieder gesenkt werden. Theoretisch können also nach dieser Planung bis 2020 ca. 37.000 Volljuristen neu als Richter, Staatsanwälte oder Rechtsanwälte zugelassen werden. Ferner ist geplant, bis zum Jahr 2020 die Zahl der Rechtsanwälte von jetzt knapp 20.000 auf 50.000 zu erhöhen. Will man dieses Ziel erreichen, so dürften von den ca. 37.000 neuen Volljuristen nur 7.000 Richter und Staatsanwälte werden, während 30.000 den Beruf des Rechtsanwaltes zu ergreifen hätten. Bei realistischer Betrachtung fragt man sich freilich, wie es möglich sein soll, dass ___________ 11 Das Referendariat dauerte bis vor kurzem 2 Jahre, seit 2004 ist es auf 1 ½ Jahre verkürzt.

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ein Anwachsen der Rechtsanwaltschaft auf 50.000 Rechtsanwälte gesichert ist. Schließlich kann auch in Japan niemand gezwungen werden, als Rechtsanwalt tätig zu sein. Dies gilt erst recht, wenn es darum geht, dass sich in den ländlichen – teilweise unterentwickelten – Gebieten mehr Rechtsanwälte niederlassen sollen. Bei einem Studium, das so viele Jahre und solche finanziellen Anstrengungen beansprucht, ist die Bereitschaft auf dem „inaka“ (= flachen Land) tätig zu werden wohl eher gering. Abgesehen von einigen, die sowie so vom Lande stammen und dort bleiben wollen, wird wohl die Mehrheit die Großstädte und die Ballungszentren als Arbeitsplatz vorziehen. Inwieweit sich hier der Dirigismus wird durchsetzen können, bleibt abzuwarten. Eine weitere Konsequenz der Einführung des Law school-Systems wird darin liegen, dass die Zahl der Prüfungsteilnehmer pro Jahr eher sinken wird. Unter dem alten Prüfungssystem haben pro Jahr ca. 50.000 Kandidaten am Shihoushiken teilgenommen. Dabei muss man berücksichtigen, dass dieses Examen bisher die Funktion einer Eintritts- oder Aufnahmeprüfung hatte, praktisch das einzige Tor zur juristischen Berufsausbildung darstellte, sich hier quasi das „Staatsmonopol“ zeigte. In Zukunft wird diese Funktion das LSAT-Examen übernehmen, da es de facto die Eintrittsprüfung für eine juristische Ausbildung ist, während die Funktion des Shin-shihou-shikens auf eine Eintrittsprüfung in das Referendariat reduziert wurde. Addiert man die zurzeit vorliegenden Kandidatenzahlen für das LSAT-Examen für die 10 bekanntesten Universitäten für das Jahr 2004 gemäß der beigefügten Tabelle (vgl.: „Bewerber für Aufnahme in eine Law school“), so kommt man auf 24.053 Kandidaten. Diesen stehen 1990 Studienplätze gegenüber, d. h. ca. 8,5 % erhalten einen Studienplatz. Allerdings soll die Zahl der Kandidaten für das LSAT-Examen nach der Planung des Justizreformausschusses in Zukunft auf ca. 12.000 Kandidaten gesenkt werden. Auch für das Shin-shihou-shiken, also die zukünftige Eintrittsprüfung in das Referendariat, sieht das Zahlenverhältnis günstiger aus. Beträgt die Quote derjenigen, die das Shin-shihou-shiken in Zukunft bestehen, ca. 1.500 – 3.000 Prüflinge, so ist natürlich im Vergleich zum jetzigen Zustand das rechnerische Verhältnis wesentlich günstiger. Mit anderen Worten oder besser „Zahlen“ ausgedrückt: Zur Zeit liegt die Quote der Kandidaten, die das Shihou-shiken bestehen, bei 3 % (50.000 Kandidaten, davon bestehen ca. 1.500), während diese Quote beim Shin-shihou-shiken (von 12.000 Law school-Studenten bestehen ca. 3000 das Shin-shihou-shiken) bis zum Jahre 2020 auf ca. 25 % steigen soll. Damit wäre zumindest in den Jahren 2010 – 2020 ein Anwachsen der Zahl der Volljuristen garantiert. Das in Japan gelegentlich vorgebrachte Argument, dass das neue Juristenausbildungssystem teurer sei als das alte, kann bedauerlicherweise nicht von der Hand gewiesen werden. Die Kosten eines Law school-Studiums betragen bei mindestens 2.000.000 ¥ pro Ausbildungsjahr, also für einen Kishu-sha bei zwei-

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jährigem Studium 4.000.000 ¥ (= 30.000 €) plus ca. 35.000 ¥ Prüfungs- und ca. 300.000 ¥ Aufnahmegebühr. Hierzu kommen die Lebenshaltungskosten etc. im teuersten Land der Welt. Dies sind aber die minimalen Kosten im Idealfall. Weniger ideal dafür eher real dürfte es sein, dass der Kandidat mindestens einmal keinen Studienplatz an einer Law school erhält, dann ein Jahr warten muss, bis er wieder die Möglichkeit hat, sich neu zu bewerben. In dieser Zeit wird er sich mit Hilfe eines Repetitors vorbereiten. Es ist leicht erkennbar, dass das neue Juristenausbildungssystem gegenüber dem alten wesentlich teurer ist. Im Sinne der Chancengleichheit wirkt das neue Ausbildungssystem insofern nicht, auch wenn es jetzt möglich ist, eine Art „BAföG“ für den Lebensunterhalt zu beantragen. Letztlich muss man freilich einräumen, dass das neue Juristenausbildungssystem trotz seiner Unzulänglichkeiten seine Ziele erreichen wird, nämlich eine Verbesserung des Prüfungssystems sowie eine Zunahme der Zahl gut ausgebildeter Volljuristen. Die zukünftigen Volljuristen werden eine universitäre Ausbildung als feste Grundlage für ihre Tätigkeit besitzen. Ob sich tatsächlich die durchschnittliche Prozessdauer in der 1. Instanz verkürzen lassen wird, bleibt abzuwarten. Schließlich hängt die Frage, wie schnell ein Prozess beendet werden kann von verschiedenen Faktoren ab wie etwa von den Schwierigkeiten des zu entscheidenen Falles. Sollten die Japaner zudem in Zukunft „streitlustiger“ werden, so kann es durchaus sein, dass die jetzt angestrebte Zahl von Richtern etc. nicht ausreicht.

III. Wie sich die Bilder gleichen oder doch nicht? Auf den ersten Blick scheinen sich die jüngsten Juristenausbildungsreformen in Deutschland und in Japan teilweise zu ähneln. Mit beiden Reformen soll – selbstredend – die Juristenausbildung verbessert werden. Dies ist für Japan uneingeschränkt zu bejahen, denn eine obligatorische Law school-Ausbildung ist gegenüber der bisherigen Ausbildung sicher ein Vorteil. Weiterhin gilt für beide Länder, dass ein stärkerer Praxisbezug in der juristischen Ausbildung beider Länder vor allem hinsichtlich der Ausbildung von Rechtsanwälten angestrebt wird, was positiv zu beurteilen ist. Sowohl in Deutschland als auch in Japan hat es bisher an einer stärker auf die spätere Berufsausübung bezogenen Universitätsausbildung gefehlt. In beiden Ländern kam der zukünftige Jurist erst während seiner Referendariatszeit mit der Praxis in Berührung. Erst hier lernte er – wenn er Glück hatte – „sein Handwerk“. In der Regel galt jedoch das „trained on job“ für den Juristen, gleichgültig ob er als junger Richter, Rechtsanwalt oder Staatsanwalt seine Karriere begann. Diesem Zustand wird nun abgeholfen. Eine weitere Ähnlichkeit der Verhältnisse beider Länder zeigt sich auch darin, dass beide ihre Juristenausbildungsreformen im Rahmen einer Universitäts-

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reform durchführen. Bis ungefähr zu diesem Punkte gleichen sich die Bilder in Ost und West, was zu einem gewissen Teil daran liegen mag, dass durch die weltweite Globalisierung überall ähnliche Bedürfnisse gegeben sind. Anders liegt es dagegen mit den Zielen, die die beiden Länder mit ihren Juristenausbildungsreformen verfolgen. Während in Deutschland vor allem das Ziel verfolgt wird, die Juristenausbildung intensiver und auch zu einem früheren Zeitpunkt näher an der Praxis – insbesondere auch an der des Rechtsanwaltes – auszurichten, verfolgt Japan – wie erwähnt – mehrere verschiedene Ziele: Erstens wird eine Verbesserung der Juristenausbildung durch ein obligatorisches Universitäts- und Law school-Studium angestrebt. Zweitens soll die Zahl der Volljuristen in Japan anders als in Deutschland erheblich erhöht werden. Drittens soll in Japan durch den Zuwachs an Volljuristen die erstinstanzliche Prozessdauer auf 2 Jahre durchschnittlich verkürzt werden. Viertens möchte sich Japan, um den Forderungen der Globalisierung adäquat entsprechen zu können, den internationalen Gepflogenheiten, d. h. vor allem den US-amerikanischen, angleichen. Hierzu ist es notwendig, dass die Ausbildung der japanischen Juristen dem amerikanischen Ausbildungsstandard entspricht. Dieses Ziel hofft man, mit der Einführung des obligatorischen Law school-Studiums erreichen zu können. In dieser Änderung des Ausbildungssystems liegt durchaus eine Amerikanisierung. Äußerlich zeigt sich die Angleichung an die USA darin, dass der Law school-Student mit dem Abschluss seines Studiums den Titel „J.D.“ (juris doctor) erhalten wird ebenso wie sein amerikanischer Kollege. Wie stark sich dieser amerikanische Einfluss auf die Arbeitsweise der japanischen Juristen in der Zukunft auswirken wird, ist schwer abzuschätzen. Wahrscheinlich wird der amerikanische Einfluss eher äußerlicher Art sein, da nicht nur die Ausbildung für die Arbeitsweise von Juristen wichtig ist. Weitere bedeutsame Faktoren für die Arbeitsweise in diesem stark an die Kommunikationsgepflogenheiten gebundenen Beruf sind etwa das allgemeine Erziehungssystem sowie die Mentalität und Traditionen des japanischen Volkes. Hinzu kommt ferner das Wesen des japanischen Rechtssystems, das dem kontinentaleuropäischen Recht und hierbei insbesondere dem deutschen Rechtskreis verbunden ist und nicht dem anglo-amerikanischen Case law. Allein diese Tatsache bedingt bereits eine andere Denk- und Arbeitsweise. Insofern erscheint uns die Annahme, dass die Amerikanisierung eher äußerlicher Natur ist, durchaus berechtigt.

Heutiges Problem der Hypothek in Japan – ihr Verhältnis zum Besitzrecht Von Kenzaburô Kozumi

I. Einleitung In Japan haben in der letzten Zeit viele Geldinstitute die (Zwangs)versteigerung unbeweglicher Sachen, die zu ihren Gunsten mit Hypotheken belastet waren, bei Gerichten beantragt. Dabei haben sich verschiedene schwerwiegende praktische Probleme ergeben. Eine wichtige Frage ist, ob und unter welchen Voraussetzungen der Hypothekengläubiger einen Anspruch auf die Herausgabe eines Grundstücks oder Gebäudes gegen einen unbefugten Besitzer hat. Dieses Problem scheint dem deutschen Recht fremd zu sein. In aktuellen deutschen Lehrbüchern zum Sachenrecht konnte ich keine Beiträge dazu finden. Soweit es für mich ersichtlich ist, haben Hypothekengläubiger nach dem deutschen Zivilrecht kein Besitzrecht an dem mit der Hypothek belasteten Grundstück. Der Herausgabeanspruch gem. § 985 BGB gilt nur, wo der Besitz an der Sache zum Inhalt eines dinglichen Rechts gehört, d.h. gerade nicht bei Grundpfandrechten.1 Früher hat man die Wirkung der Hypothek auf das Besitzverhältnis auch in Japan kaum erörtert. Bislang ging die herrschende Meinung davon aus, dass es sich bei der Hypothek um ein so genanntes Wertrecht handele, welches das Grundstück nicht materiell, sondern nur hinsichtlich dessen Tauschwert beherrsche.2 Der Hypothekengläubiger kann nach dieser Auffassung keinen Einfluss auf den Besitz des Eigentümers sowie auf die Nutzung und den Gebrauch nehmen.3 Aber bei der Versteigerung des Grundstücks und des dazugehörigen Gebäudes kann aufgrund des unberechtigten Besitzes durch Dritte häufig kein optima___________ 1

Vgl. Baur/Stürner, Sachenrecht, 17. Aufl. 1999, § 11 A I. Vgl. S. Wagatsuma, Lehrbuch des Sicherungsrechts, 2. Aufl. 1968, S. 208 f. 3 Vgl. Japanisches Reichsgericht 15.6.1934, Sammlung der Entscheidungen des japanischen Reichsgericht in Zivilsachen 13, 1164; Wagatsuma, (Fn. 2) S. 382 ff. 2

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ler Kaufpreis erzielt werden. Manchmal macht der unberechtigte Besitz die Versteigerung sogar unmöglich, weil der Ersteher damit belastet würde, den Dritten das Grundstück räumen zu lassen. Es kann mit großem Zeitaufwand oder hohen Kosten verbunden sein, das Grundstück vom unrechtmäßigen Besitzer herauszubekommen. Außerdem möchte manchmal der im Verzug befindliche Hypothekenschuldner zusammen mit einem anderen Gläubiger die Versteigerung verhindern. Dazu kann er das Grundstück sowie das Gebäude einem anderen Gläubiger übergeben. Dadurch entsteht die Gefahr, dass der Kaufpreis sinkt oder sich niemand findet, der das Grundstück ersteigert. Deshalb ist es wichtig zu klären, ob und unter welchen Voraussetzungen der Hypothekengläubiger einen Herausgabeanspruch gegen den unrechtmäßigen Besitzer geltend machen kann. Der Oberste Gerichtshof in Japan hat 1991 einen solchen Anspruch verneint. Acht Jahre später hat das Gericht seine Auffassung jedoch geändert und dem Gläubiger unter bestimmten Voraussetzungen einen Herausgabeanspruch eingeräumt. In diesem Vortrag möchte ich diese Urteile behandeln und meine Ansicht darüber äußern, ob im japanischen Zivilrecht dem Hypothekengläubiger eine Besitzbefugnis zustehen kann. Außerdem möchte ich einen kurzen Blick auf die Frage werfen, ob im deutschen Recht eine Möglichkeit besteht, dem Hypothekengläubiger den Besitz einzuräumen.

II. Zum Urteil vom 22.03.19914 1. Der gesellschaftliche Hintergrund Anders als im deutschen Recht unterliegt im japanischen Recht das Verhältnis zwischen Hypothek und Mietvertrag dem Prioritätsprinzip. Wenn ein Gebäude vor der Eintragung der Hypothek im Grundbuch dem Mieter übergeben wird, wird der Mietvertrag dem Hypothekengläubiger entgegengesetzt. Das bestimmt § 31 des japanischen Mietgesetzes. Dies bedeutet, dass der Mietvertrag bei der Versteigerung aufgrund der Hypothek vom Ersteher übernommen wird. Wenn dagegen die Hypothek dem Mietvertrag im Rang vorgeht, wird der Mietvertrag gegenüber dem Ersteher unwirksam. In diesem Fall muss der Mieter das Gebäude räumen. Dazu hat es bisher eine wichtige Ausnahme gegeben. Nach § 395 des japanischen Zivilgesetzes kann der kurzfristige Mietvertrag (maximal 3 Jahre) dem Hypothekengläubiger entgegengesetzt werden, auch wenn das Gebäude dem ___________ 4

268.

Sammlung der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes in Zivilsachen 45, 3,

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Mieter erst nach der Eintragung der Hypothek übergeben wird. (Der Wortlaut des § 395 verlangt vom Mieter die Eintragung des Mietrechts. Nach der herrschenden Meinung war es mit Rücksicht auf § 31 des Mietgesetzes allerdings ausreichend, dass das Gebäude dem Mieter übergeben wird.) Der Zweck dieser Vorschrift liegt darin, mit dem Schutz des Mietvertrages das Gebrauchs- und Nutzungsrecht des Eigentümers in der Praxis zu stärken. Denn wer würde gern ein Gebäude mieten, welches er bei der Versteigerung verlassen muss? Tatsächlich jedoch haben der Schuldner und seine anderen Gläubiger dieses Institut häufig missbraucht, um die Versteigerung zu erschweren.5 Der Kaufpreis für das Grundstück und das Gebäude ist meistens niedrig, wenn der Ersteher den Mietvertrag übernehmen muss. Deswegen hat der Hypothekar bisher oft auf die Aufhebung eines solchen kurzfristigen Mietvertrages geklagt. In der Tat hat § 95 bestimmt, dass der Hypothekengläubiger einen Anspruch auf die Aufhebung des Mietvertrages hat, wenn derselbe ihm schadet. Nach der herrschenden Meinung liegt der Schaden hier darin, dass sich der Hypothekengläubiger wegen der Existenz des Mietvertrags aus dem Grundstück oder Gebäude nicht ausreichend befriedigen kann. Aber auch, wenn der Mietvertrag durch das Urteil aufgehoben wird, besitzt der Dritte den Gegenstand weiter. Deshalb muss der Hypothekengläubiger letztlich eine Räumungsklage gegen den Besitzer erheben, um den Schaden zu vermeiden. Früher waren die Ansichten der Unteren Gerichte hinsichtlich des Herausgabeanspruchs des Hypothekengläubigers verschieden. Zur Begründung dieses Anspruchs sind zwei Rechtskonstruktionen denkbar. Die eine ist die, dass der Gläubiger aufgrund seiner Hypothek einen eigenen Herausgabeanspruch als dinglichen Anspruch hat. Die andere ist die, dass er gemäß § 423 des japanischen Zivilgesetzes den dinglichen Herausgabeanspruch des Eigentümers ausüben kann, um die von der Hypothek gesicherte Geldforderung zu sichern. § 423 des japanischen Zivilgesetzes stammt aus dem französischen Recht. Danach kann der Gläubiger ein Vermögensrecht des Schuldners (vor allem dessen Geldforderungen) gegen den Drittschuldner ausüben, um seine Forderung gegen den Schuldner zu sichern, wenn der Schuldner in eine finanzielle Notlage gerät. Dieses Recht nennt sich Surrogationsrecht des Forderungsgläubigers. Weil der Hypothekengläubiger zugleich Forderungsgläubiger ist, kann er zwar grundsätzlich auch das Surrogationsrecht ausüben.

2. Inhalt des Urteils Aber der Oberste Gerichtshof hat im Urteil vom 22.3.1991 den Herausgabeanspruch des Hypothekengläubigers nicht anerkannt. Der Sachverhalt war Fol___________ 5

Deswegen ist dieses Institut 2003 aufgehoben worden.

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gender: Ein mit einer Hypothek belastetes Grundstück sowie ein dazugehöriges Gebäude sind vom Eigentümer einem Dritten vermietet worden. Der Mieter hat beides an einen anderen weitervermietet. Der Mietvertrag war auf drei Jahre befristet. Später hat der Hypothekengläubiger beim Vollstreckungsgericht die Versteigerung des Gegenstands beantragt. Wegen des Mietvertrags ist der Kaufpreis gefallen. Daher hat der Gläubiger auf die Aufhebung des Mietvertrags gemäß § 395 und zugleich auf die Räumung des Gebäudes durch den Untermieter geklagt. Der Oberste Gerichtshof hat den Anspruch auf die Aufhebung des Mietvertrags bejaht. Hinsichtlich der Räumung hat es sowohl den eigenen dinglichen Anspruch des Hypothekengläubigers als auch das Surrogationsrecht gemäß § 423 verneint. Die Verneinung des Räumungsanspruchs des Gläubigers begründete der Oberste Gerichtshof damit, dass der Hypothekengläubiger den Eigentümer bei Gebrauch und Nutzung nicht beeinflussen dürfe. Nach Auffassung des Gerichts wird die Hypothek auch dann nicht beeinträchtigt, wenn ein Dritter das Grundstück oder Gebäude ohne entsprechende Befugnis besitzt. Zudem sinke der Wert des Grundstücks nicht durch den bloßen unrechtmäßigen Besitz des Dritten, weil sich der Ersteher mit dem Räumungsbefehl des Vollstreckungsgerichts nach § 83 des japanischen Zivilvollstreckungsgesetzes – der dem Räumungstitel nach § 93 ZVG in Deutschland entspricht – den Besitz verschaffen könne. Deshalb könne der Hypothekengläubiger den Herausgabeanspruch des Hypothekenschuldners nicht ausüben. Hier fehle die Grundlage für das Surrogationsrecht des Gläubigers.

3. Kritik Zwar geht der Besitz bei der Begründung der Hypothek nicht vom Eigentümer auf den Hypothekengläubiger über. Das bestimmt § 369 eindeutig. Auch, wenn der Schuldner in eine finanzielle Notlage gerät, ist die Grundlage für die Anwendung von § 423 nicht vorhanden, solange der Wert des Grundstücks nicht durch den Besitz Dritter vermindert wird. § 423 bezweckt nämlich, das Schuldnervermögen zu erhalten und damit die Rechtsstellung aller Gläubiger zu schützen. Aber die Auffassung des Gerichts ist wie folgt stark kritisiert worden.

a) Zum Kaufpreis des Grundstücks Eine Kritik richtete sich gegen die Ansicht, dass sich trotz des rechtswidrigen Besitzes eines Dritten der Wert des Grundstücks oder Gebäudes nicht verringere. Richtigerweise ist zwar der unbefugte Besitz keine rechtliche Belastung des

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Grundstücks. Dessen Wert fällt theoretisch nicht durch den bloßen Besitz eines Dritten. In der Praxis verhält es sich jedoch ganz anders. Wenn wir ein Grundstück oder Gebäude kaufen wollen, wie reagieren wir darauf, dass jemand dieses unrechtmäßigerweise besitzt? Und wie erst, wenn der Besitzer den Anschein erweckt, sich weiterhin rechtswidrig auf dem in Frage stehenden Grundstück aufhalten zu wollen? Natürlich versuchen wir, einen möglichst niedrigen Kaufpreis zu erzielen. Vielleicht entscheiden wir uns sogar, vom Kauf des Grundstücks abzusehen. Auch ein theoretisch möglicher Räumungsbefehl kann unsere Bedenken möglicherweise nicht aus der Welt räumen, da das Vollstreckungsgericht einen solchen nicht immer erlässt. Vor diesem Hintergrund sind viele der Meinung, dass die Hypothek sehr wohl beeinträchtigt werde, soweit der Grundstückskaufpreis durch den unbefugten Besitz verringert wird.6 Dann sei es erforderlich, dem Besitzer den Besitz zu entziehen. Deshalb müsse der Hypothekengläubiger zumindest ab dem Zeitpunkt der Pfandreife, also der Beschlagnahme, einen Räumungsanspruch gegen den unrechtmäßigen Besitzer haben, falls der Kaufpreis für das Grundstück andernfalls sinke.

b) Zur Besitzbefugnis des Hypothekars Weiterhin kann man die Ansicht kritisieren, dass die Hypothek als Pfandrecht keine Besitzbefugnis beinhalte. Wie bereits gesagt, geht der Besitz bei der Begründung der Hypothek nicht vom Eigentümer auf den Gläubiger über. Dies bedeutet zwar, dass auch nach der Begründung der Hypothek die Besitz-, Gebrauchs- und Nutzungsrechte dem Eigentümer verbleiben. Deswegen darf der Hypothekengläubiger zumindest vor der Pfandreife den Eigentümer hinsichtlich dieser Rechte nicht beeinträchtigen, es sei denn, dass andere besondere Umstände dies rechtfertigen. Dem Gläubiger schon vor der Pfandreife ohne weiteres den Besitz einzuräumen, würde dem Wesen der Hypothek widersprechen. Soweit besteht Einigkeit. Von dieser Situation vor der Pfandreife müssen wir jedoch das Rechtsverhältnis ab der Pfandreife unterscheiden. Nach § 369 hat der Hypothekengläubiger das Recht, sich vor anderen Gläubigern aus dem zu seinen Gunsten mit der Hypothek belasteten Grundstück zu befriedigen. Um Befriedigung aus dem Gegenstand zu erlangen, bedarf es der Verwertung desselben. Daraus folgt, dass das Verwertungsrecht der Hypothek innewohnt. In der Tat fasst die deutsche herrschende Meinung das Grundpfandrecht einschließlich der Hypothek als ___________ 6 Vgl. K. Oumi, Lehrbuch des Sicherungsrechts, 2. Aufl. 1992; T. Takagi, Lehrbuch des Sicherungsrechts, 2. Aufl. 1993, S. 148.

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dingliches Verwertungsrecht auf.7 Das Verwertungsrecht ist das Recht des Hypothekars, dem Eigentümer zwangsweise seine Rechte zu entziehen, um sich aus dem Grundstück zu befriedigen. Soweit der Hypothekengläubiger ein solches Recht hat, kann er dem Eigentümer auch die Besitz-, Gebrauchs- und Nutzungsrechte entziehen. So betrachtet widerspricht es keineswegs dem Wesen der Hypothek, dem Hypothekengläubiger bei der Verwertung des Grundstücks, d.h. nach der Pfandreife, eine Besitzbefugnis einzuräumen.

c) Zusammenfassung Nach der überwiegenden Ansicht wird das Ergebnis für unzutreffend gehalten, dem Hypothekengläubiger einen Anspruch auf Räumung des Grundstücks, also auf Einräumung des Besitzes zu verwehren. Nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofes ist das Zivilvollstreckungsgesetz dahingehend geändert worden, dass der Ersteher den Besitz am Grundstück jetzt leichter erwerben kann als früher. Nach dem neuen Gesetz kann das Vollstreckungsgericht allen Besitzern, die dem Ersteher gegenüber keine Besitzbefugnis haben, die Räumung aufgeben. Die Bedenken des Erstehers wegen des unrechtmäßigen Besitzers sind damit allerdings nicht restlos aufgelöst worden. Viele Gläubiger müssen den Besitzübergang noch einklagen. Vor diesem Hintergrund ist die neue Entscheidung des Obersten Gerichtshofes erschienen.

III. Zum Urteil vom 25.11.19998 1. Inhalt des Urteils Der Oberste Gerichtshof hat im Urteil vom 25.11.1999 seine Ansicht grundlegend geändert. In der Entscheidung ging es um folgenden Sachverhalt: Ein Hypothekengläubiger hat beim Gericht die Versteigerung eines Gebäudes beantragt. Ein Dritter besaß das Gebäude ohne entsprechende Befugnis. An zwei vom Gericht anberaumten Versteigerungsterminen konnte kein Käufer für das Gebäude gefunden werden. Daraufhin hat der Gläubiger Klage auf Einräumung des Besitzes gegen den Dritten erhoben.

___________ 7 Vgl. Wolff/Raiser, Sachenrecht, 10. Aufl. 1957, § 131; Westermann, Sachenrecht, 5. Aufl. 1966, § 94; Baur/Stürner, (Fn. 1) § 36 II 2; Wieling, Sachenrecht, 4. Aufl. 2001, § 26 I 1. 8 Sammlung der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes in Zivilsachen 53, 8, 1899.

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Einerseits hat der Oberste Gerichtshof den Anspruch des Hypothekengläubigers gemäß § 423 anerkannt. Seiner Auffassung nach ist die Hypothek das Recht, sich aus dem Tauschwert unbeweglicher Sachen zu befriedigen. Die Hypothek sei beeinträchtigt, wenn die Verwertung durch den unrechtmäßigen Besitz gehindert werde. Dann bestehe der Anspruch des Hypothekengläubigers auf Beseitigung der Beeinträchtigung gegen den Eigentümer, weil der Eigentümer dem Gläubiger gegenüber verpflichtet sei, das Grundstück zu erhalten und ordentlich zu verwalten. Der Eigentümer müsse zur Erfüllung dieser Pflicht den Herausgabeanspruch gegen den unrechtmäßigen Besitzer geltend machen. Übt der Eigentümer sein Recht gegen den Besitzer nicht aus, könne der Gläubiger den Herausgabeanspruch des Eigentümers an dessen Stelle geltend machen, um seinen eigenen Anspruch gegen den Eigentümer zu sichern. Andererseits hat das Gericht ausgeführt, dass der Hypothekengläubiger einen eigenen Beseitigungsanspruch gegen den Beeinträchtigenden, d.h. den unbefugten Besitzer, habe, wenn die Verwertung durch den Besitz verhindert werde. Außerdem hat sich einer der Richter des Obersten Gerichtshofes, M. Okuda, ergänzend zum konkreten Inhalt des Anspruchs gegen den Eigentümer und die Rechtsnatur des Besitzes des Hypothekengläubigers geäußert. Seiner Meinung nach könne ein Anspruch gegen den Eigentümer nicht nur bei der Versteigerung, sondern auch vor der Pfandreife entstehen, wenn der Wert des Grundstücks durch den Besitz eines Dritten verringert werde. Der Hypothekengläubiger habe jederzeit einen Anspruch auf die Erhaltung des Grundstückswertes gegen den Eigentümer. Um diesen Anspruch zu sichern, könne er auch vor Pfandreife vom unrechtmäßigen Besitzer verlangen, das Grundstück an ihn (den Hypothekengläubiger) herauszugeben. Der dadurch erworbene Besitz sei kein Eigenbesitz des Hypothekengläubigers, sondern eine Art Fremdbesitz. Okuda hält einen solchen Besitz für notwendig, soweit das geltende Recht kein anderes Mittel zur Erhaltung des Grundstücks bietet.

2. Kritik Viele stimmen dem Schluss zu, dass sich der Hypothekengläubiger den Besitz am Grundstück oder Gebäude verschaffen kann, wenn der Kaufpreis durch den unrechtmäßigen Besitz sinkt. Das schadet dem Gläubiger, so dass wir uns fragen müssen, wie wir dieses Ergebnis rechtfertigen können. Aber die Begründung des Obersten Gerichts erscheint unzureichend. Zunächst ist die Konstruktion eines Surrogationsrechts gemäß § 423 problematisch, weil es sich in unserem Fall eigentlich um den Inhalt oder die Wirkung der Hypothek handelt. Daher ist die Konstruktion eines Surrogationsrechts nach § 423 unpassend.

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Zudem ist fraglich, ob § 423 hier überhaupt anwendbar ist. Der ursprüngliche Zweck des § 423 ist die Sicherung der Forderungen aller Gläubiger durch die Erhaltung des Schuldnervermögens. Bei den zu sichernden Forderungen handelte es sich um Geldforderungen. Der vom Gericht anerkannte Anspruch ist jedoch keine Geldforderung, sondern ein Anspruch auf eine bestimmte Handlung. Zwar hat die bisherige Rechtsprechung die Anwendung des § 423 auf Forderungen anerkannt, die sich auf bestimmte Leistungen, also nicht auf die Zahlung von Geld, richten. Ein Beispiel ist der Übergabeanspruch des Mieters gegen den Vermieter, falls unbefugte Dritte das Grundstück oder Gebäude besitzen.9 Die Rechtsprechung hat die Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 423 für notwendig gehalten, um den Mieter vor den Auswirkungen rechtswidrigen Besitzes zu schützen, da er aufgrund des schuldrechtlichen Vertrages die Übergabe des Grundstücks nicht vom Dritten verlangen kann. Die Hypothek ist jedoch nicht schuldrechtlicher Natur, sondern ein dingliches Recht. Soweit die Hypothek tatsächlich durch den Besitz des Dritten beeinträchtigt wird, soll der Berechtigte den Beseitigungsanspruch nicht gegen den Eigentümer, sondern direkt gegen den Dritten haben. Dabei bedarf es keiner Anwendung des § 423. Aus diesem Grund wird die Konstruktion eines Surrogationsrechts überwiegend für umständlich gehalten.10 Auch ich stimme dem zu. Es geht hier gerade um die Wirkung der Hypothek gegenüber dem Dritten, also dem Besitzer, nicht gegenüber dem Eigentümer. Am wichtigsten ist es zu erörtern, inwiefern die Hypothek durch den unrechtmäßigen Besitz beeinträchtigt wird.

IV. Die Hypothek als Verwertungsrecht 1. Das Problem der Theorie vom Wertrecht Wie oben beschrieben, ist die Hypothek nach der japanischen herrschenden Meinung das Wertrecht, das nur den Tauschwert unbeweglicher Sachen beherrscht. Danach kann der Hypothekengläubiger den Gegenstand grundsätzlich nicht materiell beherrschen und keinen Einfluss auf Besitzverhältnisse nehmen. Dennoch besteht das Bedürfnis, dem Hypothekengläubiger im Ergebnis einen Herausgabeanspruch einzuräumen. Dies beruht auf der Prämisse, dass der ___________ 9 OGH 24.9.1954, Sammlung der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes in Zivilsachen, 8, 9, 1658. 10 Vgl. H. Matsuoka, Der Räumungsanspruch aufgrund des Surrogationsrechts des Forderungsgläubigers gegen den unrechtmäßigen Besitzer des Hypothekenobjekts, NBL 683 (2000), 37 ff.

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Tauschwert des Grundstücks oder Gebäudes durch den unrechtmäßigen Besitz eines Dritten vermindert werde. Indessen ist sehr bedenklich, den bloßen unrechtmäßigen Besitz als rechtliche Verletzung des Tauschwerts aufzufassen. Zwar bedeutet es in der Praxis häufig eine Verringerung Kaufpreises, wenn ein Dritter das zu versteigernde Grundstück ohne Befugnis besitzt. Dies beruht jedoch nicht allein auf dem Besitz, sondern zu einem großen Teil vielmehr auf der subjektiven Beurteilung der Lage durch den Ersteher. Weil der bloße Besitz rechtlich das Grundstück nicht belastet, kann dessen objektiver Tauschwert auch nicht durch den Besitz vermindert werden. Deshalb müssen wir eigentlich die Beeinträchtigung der Hypothek durch den unrechtmäßigen Besitz verneinen, soweit wir die Theorie vom Wertrecht voraussetzen. Es ist jedoch zu erörtern, ob die Theorie vom Wertrecht für die japanische Hypothek überhaupt zutreffend ist. Die Theorie, die das Grundpfandrecht als Wertrecht auffasst, ist früher in Deutschland von Kohler vertreten worden.11 In Japan hat Wagatsuma diese Theorie auf die japanische Hypothek angewendet.12 Dabei hat er betont, dass sich der Hypothekengläubiger eigentlich aus dem Entgelt für die Verwertung des Grundstücks befriedigen solle, ohne den Eigentümer beim Besitz und Gebrauch zu stören, wie dies bei der Grundschuld im deutschen Recht der Fall ist. Der Grund dafür läge darin, dass in der modernen Wirtschaft eine Hypothek ideal sei, da sie sich mit dem Nutzungsrecht des Eigentümers vereinbaren lasse. Wagatsuma hat eine derartige Hypothek als Wertrecht bezeichnet. Von diesem Standpunkt aus hielt er es für richtig, dass der Mietvertrag auch nach einer Versteigerung aufgrund der Hypothek grundsätzlich wirksam bleibe.13 Aber anders als im BGB gilt im japanischen Recht der Grundsatz der Akzessorietät für alle Pfandrechte gleichermaßen. Auch die Hypothek unterliegt in Japan diesem Grundsatz. Daher tritt der Hypothekengläubiger selten sein Recht als Befriedigungsmittel ab. Er muss vielmehr regelmäßig sein Recht geltend machen, um sich zu befriedigen. Dabei entzieht der Gläubiger dem Eigentümer notwendigerweise alle Befugnisse einschließlich des Besitz-, Gebrauchsund Nutzungsrechts. Hier kollidiert die Hypothek mit den Rechten des Eigentümers.

___________ 11

Kohler, Pfandrechtliche Forschung, 1882, S. 47 ff.; ders., Substanzrecht und Wertrecht, AcP 91 (1901), 155 ff. 12 Wagatsuma, Überlegende Stellung der Forderung in der modernen Zeit, 1953, S. 83 ff. 13 Wagatsuma, (Fn. 2), S. 297 f.

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2. Das Verwertungsrecht und die Besitzbefugnis Bei genauerem Hinsehen kommt man zu dem Ergebnis, dass auch Kohler die Hypothek nicht als Wertrecht betrachtet. Vielmehr hat er eigentlich gemeint, dass das Wesen des Grundpfandrechts darin liegt, dass das Grundstück verwertet wird und der Gläubiger sich aus dem Erlös befriedigt.14 Um diese Natur des Grundpfandrechts zum Ausdruck zu bringen, hat er den Begriff „Wertrecht“ gebraucht. Das Wertrecht, von dem Kohler spricht, ist anders gemeint, als das bei Wagatsuma. Die Natur des Pfandrechts, wie Kohler es versteht (Verwertung und Befriedigung), passt nicht nur auf das Grundpfandrecht des BGB, sondern auch auf die japanische Hypothek, da zwar § 369 des japanischen Zivilgesetzes im Wortlaut dem Hypothekengläubiger nur das Recht einräumt, sich aus dem Grundstück zu befriedigen, aber dieses Befriedigungsrecht ein Verwertungsrecht voraussetzt. Deshalb meine ich, dass das Wesen der Hypothek im Verwertungsrecht besteht, und dass wir mit Rücksicht auf diese Natur das Recht des Hypothekengläubigers zum Besitz erörtern müssen. § 369 des japanischen Zivilgesetzes bestimmt zwar, dass der Besitz am Gegenstand bei der Begründung der Hypothek nicht auf den Gläubiger übergeht. Aber dies bedeutet nicht zugleich, dass der Hypothekengläubiger überhaupt keine Besitzbefugnis hat. Es ist zu beachten, dass die Wirkung der Hypothek als Verwertungsrecht erst bei der Pfandreife entsteht. Daher müssen wir danach fragen, ob dem Gläubiger die Besitzbefugnis in diesem Zeitraum eingeräumt werden kann oder nicht. In diesem Zusammenhang scheint mir die actio hypothecaria aus dem römischen Recht bedeutungsvoll. Es ist umstritten, ob die Hypothek des BGB aus dem römischen oder dem germanischen Recht stammt.15 Aber niemand kann bestreiten, dass das römische Recht das BGB erheblich beeinflusst hat. Durch das deutsche und französische Recht hat es sich auch auf die japanische Hypothek ausgewirkt. Nach der herrschenden Meinung hat das römische Recht dem Hypothekar zumindest bei Pfandreife die actio hypothecaria eingeräumt, weil er ein Verkaufsrecht hatte und es bei der Übereignung des Gegenstands der Besitzübergang bedürfte. Dernburg hat dieses Verkaufsrecht als das Wesen der römischen Hypothek aufgefasst.16 Jedenfalls hatte der Hypothekar im römischen Recht ein Recht zum Besitz. Im modernen Recht ist die Eintragung ins Grundbuch an die Stelle der Besitzübertragung als Voraussetzung für die Übereignung von unbeweglichen Sa___________ 14

Kohler, Pfandrechtliche Forschung, S. 47 ff. Vgl. Wolff/Raiser, (Fn. 7) § 129. 16 Dernburg, Das Pfandrecht nach den Grundsätzen des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1860, S. 96 ff. 15

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chen getreten. Das bedeutet aber nicht, dass der unrechtmäßige Besitz die Ausübung des Verwertungsrechts nicht stört. Soweit die Versteigerung des Grundstücks auf einem Verwertungsrecht aus der Hypothek beruht, soll der Hypothekar die Stellung eines Verkäufers haben. Er muss also den Besitz am Kaufobjekt erwerben, um seine Pflicht zu erfüllen. Insofern stört der unrechtmäßige Besitz eines Dritten die Ausübung des Verwertungsrechts zwar nicht vor, aber nach der Pfandreife. Andererseits ist im modernen Recht der Privatverkauf durch den Hypothekengläubiger verboten, welcher im römischen Recht allgemeinen anerkannt war. §§ 1147, 1149 BGB bestimmen, dass der Hypothekar sich nur im Wege der Zwangsvollstreckung (im Vollstreckungsverfahren) befriedigen kann. Auch in Japan widerspricht niemand diesem Grundsatz, obwohl das Zivilgesetz keine Vorschrift darüber enthält. Aber diese Behandlung im Verfahrensrecht verneint nicht ohne weiteres die Existenz eines Verwertungsrechts im materiellen Recht. Früher hat Sohm die Auffassung vertreten, dass die Hypothek kein dingliches und kein Verkaufsrecht sei sowie, dass sie keine Besitzbefugnis enthalte.17 Begründet hat er dies damit, dass sich der Hypothekar nur in der Zwangsvollstreckung aus dem Gegenstand befriedigen kann. Meines Erachtens werden materielles Recht und Verfahrensrecht von Sohm vermischt. Auch nach der heutigen herrschenden Meinung in Deutschland liegt das Wesen der Hypothek im dinglichen Verwertungsrecht. Deshalb halte ich die Auffassung für gut vertretbar, dass nach der Pfandreife, d.h. nach dem Antrag auf Versteigerung, dem Hypothekar der Herausgabeanspruch als dinglicher Anspruch eingeräumt wird. Vor der Pfandreife kann dagegen ein solcher Anspruch nicht entstehen, solange der Besitzer den Gegenstand weder verletzt noch zerstört. Nach der Rechtsprechung ist der Herausgabeanspruch des Hypothekengläubigers gegeben, wenn die Verwertung durch den unrechtmäßigen Besitz eines Dritten verhindert oder erschwert wird. Die Hypothek werde beeinträchtigt, wenn der Kaufpreis des Grundstücks durch den unrechtmäßigen Besitz niedriger als der objektive Wert ausfalle. Es ist allerdings schwierig, den objektiven Wert zu bestimmen. Außerdem ist fragwürdig, ob der Wert des Grundstücks durch bloßen Besitz vermindert wird. Nach diesem Kriterium könnte der Hypothekar den Beseitigungsanspruch gegen den Besitzer schon vor Pfandreife geltend machen, wenn der Tauschwert durch den Besitz verringert würde. Es ist jedoch überflüssig, dem Hypothekar den Besitz vor der Pfandreife zu verschaffen. Wie soll man die Rechtsnatur eines Besitzes erklären, der dem Gläubiger vor Pfandreife eingeräumt wird? ___________ 17 Sohm, Über Natur und Geschichte der modernen Hypothek, Grünhuts Zeitschrift 5 (1878), 1 ff.

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Meiner Meinung nach hat der Hypothekar erst nach der Pfandreife, dann aber ohne besondere Voraussetzungen einen Herausgabeanspruch. Sein Besitz am Grundstück ist dann als Eigenbesitz einzustufen. Ich glaube, dass ein solches Ergebnis der Natur der Hypothek als dingliches Verwertungsrecht am besten entspricht.18

V. Schlussbemerkung Bislang konnte ich keine Antwort auf die Frage finden, ob der Hypothekengläubiger sich in Deutschland den Besitz am Pfandobjekt verschaffen kann. Ist es im BGB unmöglich, dass der Hypothekar Besitz erlangt? Oder braucht der Hypothekar in Deutschland gar keinen Besitz zu erwerben? Könnte für den Gläubiger und den Ersteher zum Beispiel der Räumungstitel aus dem ZVG ausreichend sein? Aber auch, wenn der Hypothekengläubiger im Verfahrensrecht genug geschützt ist, kann dies nicht gleich die Begründung für die Verneinung eines materiellen Anspruchs sein. Ist das Recht zum Besitz im BGB dem Hypothekar völlig verwehrt? In diesem Zusammenhang ist Folgendes in den Motiven angedeutet:19 Dass es sich bei der Hypothek um ein dingliches Recht handelt, hat heute nicht dieselbe Bedeutung wie im früheren römischen Recht. Denn während dies nach römischem Recht dazu führt, dass der Gläubiger nach Eintritt der Fälligkeit seiner Forderung das Grundstück in Besitz nehmen und nach einer bestimmten Zeit zum Zwecke seiner Befriedigung veräußern kann, findet die Verwertung des Grundstücks nach heutigem Recht nur im Wege der Zwangsverwaltung oder der Zwangsversteigerung statt. Diese Abweichung der modernen Hypothek von der römischen betrifft aber weniger die Natur des Rechts, als die Art und Weise der Geltendmachung und Verwirklichung desselben. Nach dieser Erläuterung scheint sich die Hypothek des heutigen BGB nicht sehr von der Hypothek im römischen Recht zu unterscheiden. Soweit es mir möglich ist, das deutsche Zivilrecht zu beurteilen, komme ich zu dem Schluss, dass dort die Möglichkeit besteht, dem Hypothekar Besitz zu verschaffen. ___________ 18 Kurz vor diesem Vortrag bin ich einem neuen Urteil des Obersten Gerichtshofes über den hypothekarischen Räumungsanspruch gegen einen Mieter begegnet, dessen Besitzrecht nicht dem Hypothekar entgegengesetzt werden kann (OGH 11.3.2005). Im Ergebnis hat der Oberste Gerichtshof den Räumungsanspruch bejaht. Aber dieses Urteil setzt voraus, dass das Besitzrecht des Gegenstandes auch bei der Pfandreife grundsätzlich nicht dem Hypothekar, sondern dem Eigentümer zusteht. 19 Vgl. Mugdan, Die gesamten Materialen zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 3, 1899, S. 336.

Religionsfreiheit in der japanischen Verfassung Von Tatsurô Kudô*

I. Der Zweck des Erlasses der japanischen Verfassung Im August 1945 hat Japan die Potsdamer Erklärung akzeptiert und bedingungslos kapituliert. Nachdem Anfang August Atombomben auf zwei Städte, Hiroshima und Nagasaki, abgeworfen worden waren, waren die Kampfkräfte Japans erschöpft. So endete der Zweite Weltkrieg in Japan. Dann wurde Japan unter die Besatzung der Alliierten gestellt. In Unterschied zu Deutschland waren die Besatzungsmächte in Japan nur ein Staat, die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Potsdamer Erklärung schrieb in einer Vorschrift folgendes vor: „Die japanische Regierung muss alle Hindernisse der Wiederherstellung und Verstärkung der demokratischen Tendenzen im japanischen Volk beseitigen. Die Freiheit der Meinungsäußerung, der Religion und des Gewissens sowie die fundamentalen Menschenrechte müssen gewährleistet werden.“ Um diese Aufforderung zu Demokratisierung und Grundrechtsschutz zu verwirklichen, musste die damalige Meiji-Verfassung notwendigerweise geändert werden. Die MeijiVerfassung, die 1889 auf Grundlage der Souveränität des Kaisers erlassen wurde, war undemokratisch und der Grundrechtsschutz ungenügend. Am 3. November 1946 wurde die japanische Verfassung erlassen. Sie trat am 3. Mai des folgenden Jahres in Kraft. Im Hinblick auf diesen Verlauf ist der Zweck des Erlasses der japanischen Verfassung die Abschaffung der militärischen bzw. totalitären Herrschaft der Vergangenheit und die Wiederherstellung der sozialen Gerechtigkeit, die sich im damaligen Japan zu Demokratisierung und Grundrechtsschutz konkretisieren sollte. Das ist der Anlass, hier über die Grundrechte der japanischen Verfassung zu sprechen.

___________ *

Diesem Manuskript liegt ein Referat zugrunde, das am 24. 4. 2003 vor dem Seminar des Instituts für öffentliches Wirtschaftsrecht an der Universität Münster gehalten wurde.

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Ähnlich wie im GG werden die in der japanischen Verfassung gewährleisteten Grundrechte als vorstaatliche Naturrechte aufgefasst. Das Grundgesetz äußert im ersten Artikel sein Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde und zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten. Die japanische Verfassung spricht in Art. 11 und 97 aus, dass die von dieser Verfassung garantierten Grundrechte unverletzliche ewige Rechte sind. Die Grundrechte in der japanischen Verfassung sind nicht vom Staat geschaffene Rechte, sondern dem Staat vorausliegende Rechte. Daher ist die Verletzung der Grundrechte dem Staat verboten1 und sollen alle Menschen unabhängig von der Staatsangehörigkeit Grundrechte genießen. Die Garantie der Grundrechte in der JV reicht über japanische Staatsbürger hinaus bis zu Ausländern, die sich in Japan aufhalten.2 Wären Grundrechte dem Staat und der Verfassung vorausliegend, müssten Grundrechte allgemeingültig garantiert sein. Aber in Wirklichkeit sind die Erscheinungsformen des Grundrechtsschutzes in jeder Verfassung verschieden. Als ein Beispiel kann man die Religionsfreiheit anführen.

II. Geschichtlicher Hintergrund der Religionsfreiheit in der JV Die japanische Verfassung normiert in Art. 20 die Religionsfreiheit und den Grundsatz der Trennung von Staat und Religion wie folgt: (1) Jeder genießt Religionsfreiheit. Religionsgemeinschaften dürfen weder Privilegien vom Staat erhalten noch politische Macht ausüben. (2) Niemand wird gezwungen, an einer religiösen Handlung, einem religiösen Fest, einem religiösen Ritus oder einer Praxis teilzunehmen. (3) Der Staat und seine Organe dürfen sich nicht mit dem Religionsunterricht oder sonstigen religiösen Tätigkeiten irgendwelcher Art befassen.

Darüber hinaus verbietet die JV in Art. 89 die Subventionierung von Religionsgemeinschaften, um diesen Trennungsgrundsatz von finanzieller Seite zu ergänzen: ___________ 1 Die Grundrechtsverletzung durch Privatpersonen ist natürlich verboten. Mittelbare Drittwirkung der Grundrechte ist auch in Japan anerkannt. Aber eine Doppelfunktion der Grundrechte, insbesondere objektiv-rechtliche Seite der Grundrechte ist noch nicht anerkannt. 2 Ausgenommen ist das Wahlrecht, das aufgrund seiner Rechtsqualität nur Japanern zukommt. Das Wahlrecht der Ausländer verletzt das Prinzip der Volkssouveränität, weil „Volk“ im Sinne der Volksouveränität nur Japaner bedeutet. Aber der OGH hat anerkannt, dass solches Gesetz, das den in Japan langjährig wohnenden Ausländer das Kommunalwahlrecht verleiht, nicht verfassungswidrig ist. OGH, 3. Kleiner Senat, Urteil vom 28. 2. 1995, Minshu (= Zivilsache) 49, 639.

Religionsfreiheit in der japanischen Verfassung

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Öffentliche Gelder oder sonstige öffentliche Vermögen dürfen nicht zur Verfügung, Begünstigung oder Erhaltung einer Religionsgesellschaft oder -gemeinschaft […] ausgegeben oder verwendet werden.

Diese Vorschriften wurzeln in der Reflexion über religiöse Unterdrückungen im Vorkriegsjapan. Zwar wurde auch in der Meiji-Verfassung die Religionsfreiheit gewährleistet. Artikel 28 der Meiji-Verfassung lautete: „Die Untertanen Japans haben die Freiheit des Glaubens, es sei denn, dass sie Ruhe und Ordnung stört oder gegen Untertanenpflichten verstößt.“ Tatsächlich aber waren das Kaisersystem und der Shintoismus miteinander verbunden. Shintoistische Schreine wurden immer besonderes gut behandelt, während andere Religionen unterdrückt wurden. Man kann von Staatsshintoismus sprechen, weil Shintoismus eine vom Staat mit Privilegien versehene Staatsreligion geworden war. Die damalige Regierung hat diese Situation damit gerechtfertigt, dass Shintoismus keine Religion sei. Shintoismus falle nicht unter den verfassungsrechtlichen Begriff „Religion“. Daher seien der Staat und der Shintoismus miteinander verbunden, weil der Trennungsgrundsatz von Staat und Religion hier nicht gelte. Alle Japaner waren verpflichtet, Shintoismus zu glauben. Das war eine „Untertanenpflicht“. Soweit gegen sie nicht verstoßen wurde, wurde die Religionsfreiheit zugelassen. Beim Staatsshintoismus handelt es sich eigentlich nicht um eine Tradition. Vielmehr ist er in der Meiji-Zeit neu geschaffen geworden, um den Staat und die Nation zu vereinheitlichen. Traditionaler Shintoismus hat keine Dogmen, er ist unsystematisch und feiert nur das Vorfahrensfest. Er ist Polytheismus und erkennt nicht einen einzigen Gott, sondern mehrere Götter an. Im neu geschaffenen Staatsshintoismus wurde dagegen der Kaiser als eine lebendige Gottheit zum Gegenstand des Glaubens. Nach der japanischen Mythologie ist der Kaiser der Nachkomme Gottes. Die Herrschaftsmacht des Kaisers wurde vom Vorfahren des Kaisers als Gottheit abgeleitet, war daher eine Art von Gottesgnadentum. Der Kaiser war der Vater des japanischen Volkes, alle Japaner waren verpflichtet, dem Kaiser als ihrem Vater Liebe und Treue entgegen zu bringen. Die Alliierten haben den Staatsshintoismus als die geistige Grundlage des japanischen Militarismus angesehen und im Dezember 1945 die Trennung des Staates vom Shintoismus und den Ausschluss des Shintoismus aus der Erziehung in den Schulen angeordnet. Diese Anordnung ist eine Konkretisierung der Potsdamer Erklärung und bildet die Grundlage für die Religionsfreiheit der japanischen Verfassung.

III. Religionsfreiheit Das in Art. 20 JV garantierte Grundrecht schützt nur die Religionsfreiheit. Gewissens- und Weltanschauungsfreiheit sind in einem anderen Artikel nor-

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miert. Der Begriff „Religion“ als Grundlage der Religionsfreiheit wird in der Rechtsprechung und Literatur sehr weit gefasst, indem er definiert ist als der Glaube an die Existenz eines transzendenten Wesens wie Gott, Buddha usw. sowie dessen ehrfürchtige Verehrung. Darunter fallen nicht nur traditionelle Religionen, sondern auch neue Religionen, die noch nicht sozial anerkannt sind. Daher wird die Religionsfreiheit auch den Angehörigen der kleinen Religionsgemeinschaften und -sekten genauso wie den der großen Religionsgemeinschaften gewährleistet. Die Religionsfreiheit reicht über den Glauben im inneren bis zum religiösen Handeln nach außen. Die religiöse Handlungsfreiheit umfasst die religiöse Meinungsäußerungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Darüber hinaus wird nicht nur die positive Freiheit garantiert, an eine Religion zu glauben, sondern auch die negative Freiheit, bestimmten Religionen nicht zu glauben oder auch keinerlei Glauben zu haben. Daher darf gem. Art. 20 JV niemand gezwungen werden, an einer religiöse Handlung oder ähnlichem teilzunehmen. Die Religionsfreiheit umfasst die religiöse Vereinigungsfreiheit. Diese Freiheit umfasst zum einen die Individualfreiheit, sich zu einer Religionsgemeinschaft zusammenzuschließen, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder aus einer Religionsgemeinschaft auszutreten, zum anderen die Freiheit der Religionsgemeinschaft als solcher. Jede Religionsgemeinschaft hat das Recht auf innere Selbstbestimmung und auf die Existenz als ein Verein. Die Religionsgemeinschaft kann auf Wunsch eine Rechtspersönlichkeit bekommen. Sie ist dann eine juristische Person des Privatrechts. Die japanische Rechtsprechung und Literatur erkennt an, dass diese juristische Person grundrechtsfähig ist, obwohl es keine ausdrückliche Vorschrift wie Art. 19 Abs. 3 GG gibt. Anders als in Deutschland können Religionsgemeinschaften nicht Körperschaften des öffentlichen Rechts werden. Dies ist von der JV verboten, um einer Gefahr der Wiederholung des Staatsshintoismus vorzubeugen. Im Jahre 1995 hat ein Zwischenfall ganz Japan erschüttert. Eine Religionssekte hat selbst hergestelltes Giftgas in der U-Bahn in Kasumigaseki, dem Behördenviertel von Tokyo, freigesetzt. Durch diesen wahllosen Terror starben viele Menschen, zahlreiche Opfer leiden noch heute unter den Spätschaden. Die Täter, Mitglieder einer Religionssekte, waren der Überzeugung, dass sich mit der Beseitigung des heutigen politischen Systems das Paradies auf Erden verwirklicht. Die Religionsfreiheit reicht zwar bis zum Handeln nach außen, aber die Tötung kann damit nicht gerechtfertigt werden. Die Täter sind bald verhaftet worden und zu lebenslänglichem Zuchthaus oder zum Tode verurteilt worden. Der Gründer der Sekte, der seinen Gläubigen diese Massentötung befohlen hatte, ist auch verhaftet worden, aber seine Verhandlung ist noch nicht abgeschlossen und das Urteil ist noch nicht verkündet. Soweit es um die Religionssekte als solche geht, kann nach dem Gesetz zur Verleihung der Rechtspersönlichkeit an Religionsgemeinschaften ein Gericht

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gegen eine Religionsgemeinschaft, die eine Gemeinwohl verletzende und rechtswidrige Handlung begeht, eine Auflösungsanordnung erlassen. Die Religionssekte behauptete, dass diese Auflösungsanordnung verfassungswidrig sei, weil sie die religiöse Vereinigungsfreiheit verletze. Der OGH hat diesen Einspruch verworfen.3 Die Auflösungsanordnung bedeute lediglich, der Sekte ihre Rechtspersönlichkeit zu nehmen. Nach der Auflösungsanordnung könne die Sekte als nichtsrechtsfähiger Verein weiter bestehen. Daher sei die Auflösungsanordnung mit der verfassungsrechtlichen Gewähr der Religionsfreiheit vereinbar. In der japanischen Öffentlichkeit herrscht große Angst vor dem Fortbestehen der Religionssekte, die für das Massaker verantwortlich war. Die japanische Rechtsordnung kennt das Radikalengesetz, aufgrund dessen – ähnlich wie gem. § 3 des Vereinsgesetzes in Deutschland – über die Entziehung der Rechtspersönlichkeit hinaus ein Verein als solcher aufgelöst werden kann. Es gab eine heftige Diskussion um die Anwendung des Radikalengesetzes auf diese Sekte, wobei diese Frage bislang offen gelassen worden ist. Die Sekte besteht heute noch, steht aber unter besonderer Aufsicht. Im heutigen Japan haben große traditionelle Religionsgemeinschaften nur einen kleinen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben des Volkes. Daher sind heutige Japaner überwiegend nicht religiös oder gläubig. Kleine Religionssekten erscheinen insbesondere Jugendlichen aber zunehmend als attraktiv. Hierin besteht ein zurzeit viel diskutiertes Problem.

IV. Trennungsgrundsatz von Staat und Religion Hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und Religion bestehen zwischen dem GG und der JV große Unterschiede. Das GG erkennt zwar keine Staatskirche an, aber erwartet in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens die Kooperation von Staat und Kirche. Zum Beispiel ist der Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen ordentliches Lehrfach. Des Weiteren sind die christlichen Kirchen Körperschaften des öffentlichen Rechts und der Staat vertritt sie bei der Erhebung der Kirchensteuer. Würden diese Institutionen in die japanische Rechtsordnung eingeführt werden, würden sie ohne Zweifel als verfassungswidrig aufgehoben. In der KruzifixEntscheidung4 hat das Bundesverfassungsgericht das Kruzifix im Schulzimmer wegen der Verletzung der negativen Religionsfreiheit als verfassungswidrig angesehen. Wenn der shintoistische Hausschrein im japanischen Schulzimmer ___________ 3 4

OGH, 1. Kleiner Senat, Beschluss vom 8. 3. 1996, Minshu 50, 199. BVerfGE 93, 1; Beschluss vom 16.5.1995.

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aufgestellt würde, würde diese Aufstellung wegen des Verstoßes gegen den Trennungsgrundsatz von Staat und Religion als verfassungswidrig aufgefasst. Der Schwerpunkt des Verhältnisses von Staat und Religion basiert in der JV auf Trennung, nicht auf Kooperation. Die JV verbietet, dass sich der Staat mit dem Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen oder religiösen Tätigkeiten irgendwelcher Art befasst. Der OGH hat diesen Trennungsgrundsatz als institutionelle Garantie begriffen, die unmittelbar kein subjektives Recht gewährleistet, sondern den Kern der Institution vor gesetzlicher Änderung objektiv-rechtlich schützt. Nach der Rechtsprechung des OGH5 ist die vollkommene Trennung von Staat und Religion zwar das Idealbild, aber praktisch unmöglich. Weil Religion in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens auftritt, gerät der Staat, der das gesellschaftliche Leben zu regeln verpflichtet ist, unvermeidlich mit Religion in Berührung. Daher verlangt der Trennungsgrundsatz zwar vom Staat die religiöse Neutralität, schließt aber die Verbindung des Staates mit der Religion nicht gänzlich aus. Sie ist vielmehr nur dann untersagt, wenn sie im Hinblick auf Zweck und Folgen das zumutbare Maß überschreitet. Konkret gesagt geht es darum, ob der Zweck der einschlägigen Staatshandlung eine religiöse Bedeutung hat und ob deren Folgen in der Unterstützung, Hilfe, Förderung oder Unterdrückung einer Religion bestehen. Mit diesem milden Kriterium hat der OGH mehrere Verbindungen des Staates mit der Religion für unbedenklich erklärt,6 aber im Jahre 1997 in einem Verfahren über die Ausgabe öffentlicher Gelder durch eine Gemeinde die Verfassungswidrigkeit festgestellt. Ein Bürgermeister dieser Gemeinde hatte öffentliche Gelder mehr als zehn Mal für einen heiligen Sakaki-Zweig (Tamagushi) für den Festakt des Yasukuni-Schreins ausgegeben. Die Summe war zwar gering, aber der OGH hat dahingehend argumentiert, dass die Ausgabe religiöse Bedeutung habe sowie die Gefahr der Wiederholung und der Unterstützung bzw. Förderung des Shintoismus bestehe.7 Der Yasukuni-Schrein war vor dem Weltkrieg das Zentrum des Staatsshintoismus. Dieser Schrein hat die im Krieg Gefallenen als Götter verehrt. Die Leute, die im Krieg fallen, können als Götter ewiges Leben bekommen. Der Tod im Krieg wurde als Märtyrertod gerechtfertigt. Daher hatte der YasukuniSchrein eine untrennbare Verbindung zum Militarismus. Nach dem Krieg ist der Yasukuni-Schrein vom Staat getrennt worden und eine privatrechtliche Religi___________ 5 OGH, Großer Senat, Urteil vom 13. 7. 1977, Minshu 31, 533. Dieses Urteil ist ins Deutsche übersetzt. Vgl. U. Eisenhardt u.a. (Hrsg.), Japanische Entscheidungen zum Verfassungsrecht in deutscher Sprache, 1998, S 259 ff. 6 Als ein Beispiel, OGH, Großer Senat, Urteil vom 1. 6. 1988. Vgl. Eisenhardt, (Fn. 5), S. 286 ff. 7 OGH, Großer Senat, Urteil vom 2. 4. 1997, Minshu 51, 1673.

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onsgemeinschaft geworden. Trotzdem übt er immer noch erheblichen Einfluss aus.8 Die japanischen Juristen reagieren daher nervös auf jegliche Verbindung von Staat und Yasukuni-Schrein, weil die Abschaffung des Staatsshintoismus ein Zweck der JV ist. In diesem Zusammenhang ist das Urteil des OGH von großer Bedeutung.

V. Kollision von Religionsfreiheit und Trennungsgrundsatz Die Religionsfreiheit und der Trennungsgrundsatz von Staat und Religion sind zwei verfassungsrechtliche Werte. Normalerweise verstärken beide Werte sich gegenseitig, aber unter bestimmten Umständen können sie miteinander kollidieren. Das Kendo ist die japanische Fechtkunst. In vielen höheren Schulen müssen Schüler als ein Pflichtfach des Sports Kendo oder Judo lernen. Ein Schüler, der eine technische höhere Schule besucht hat, hat sich geweigert, am KendoUnterricht teilzunehmen. Er ist deswegen in Sport durchgefallen und wurde nicht versetzt. Nach zweimaligem Durchfallen wurde er wegen schlechter Leistungen im Sportunterricht von der Schule verwiesen. Der Schüler hat einen Prozess gegen die Schule geführt. Er ist Angehöriger der Zeugen Jehovas, deren Dogmen es Gläubigen verbieten, einen Kampf zu führen. Aus diesem Grund konnte er nicht an dem Unterricht des Kampfsports teilnehmen. Der Schüler hat argumentiert, wegen der Nichtteilnahme am Kampfsport durchzufallen, bedeute den Zwang der Teilnahme am Kampfsport und daher die Verletzung seiner Religionsfreiheit. Die erste Instanz hat die Klage gleichwohl mit der Begründung abwiesen, dass die besondere Behandlung eines Schülers aus religiösen Gründen gegen das Gebot religiöser Neutralität der Erziehung in öffentlichen Schulen und somit gegen den Trennungsgrundsatz von Staat und Religion verstoße. Hier kollidiert ein verfassungsrechtlicher Wert mit anderem verfassungsrechtlichen Wert. Wie kann man beide Werte harmonisch verwirklichen? Im Gegensatz zu der ersten Instanz, die dem Trennungsgrundsatz den Vorrang gegeben hat, gibt der OGH der Religionsfreiheit den Vorrang. Das Kendo kann gegen ein anderes Sportfach ausgetauscht werden. Diese besondere Behandlung des Schülers verletzt nicht den Trennungsgrundsatz, weil sie weder einem religiösen Zweck dient noch religiöse Folgen hat. Wenn auch der Schüler freiwillig ___________ 8

Ein offizieller Besuch des Ministerpräsidenten am Yasukuni-Schrein ist nicht nur verfassungswidrig wegen der Verletzung des Trennungsgrundsatzes von Staat und Religion, sondern ruft auch diplomatishe und politische Probleme hervor, weil im YasukuniSchrein auch die als Kriegsverbrecher hingerichteten Kriegsleiter verehrt sind. Nachbarstaaten argwöhnen, dass Japan wieder militärisch würde.

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die betreffende Schule gewählt hat, ist es nicht zugelassen, besonders belastende Maßnahme wie die Verweisung von der Schule zu ergreifen. Daher hat der OGH entschieden, dass die Maßnahme rechtswidrig ist.9 Auch in der Literatur findet dieses Urteil große Unterstützung. Weil der Trennungsgrundsatz dazu dient, die Religionsfreiheit des Individuums zu verstärken, muss im Kollisionsfalle der Religionsfreiheit der Vorrang gegeben werden.

VI. Religionsfreiheit des Kaisers Das Kaisersystem ist eine japan-spezifische Institution, die das GG nicht kennt. In der Meiji-Verfassung, und auch in der japanischen Verfassung heißt das erste Kapital „Der Kaiser“. Die verfassungsrechtliche Stellung des Kaisers ist aber je nach Verfassung völlig unterschiedlich. In der Meiji-Verfassung war der Kaiser das Oberhaupt des Staates, vereinigte in sich alle Rechte der Staatsgewalt (Art. 4 MV). Wie oben gesagt, hatte der Kaiser als der Nachkomme Gottes die Göttlichkeit. Die Religion, die der Kaiser glaubt, ist Shintoismus, die die Ahnen des Kaisers als Goetter verehrt. Der Kaiser war der shintoistische höchste Priester, und der Shintoismus war die Staatsreligion. Der Kaiser hatte nicht nur politische Befugnisse, sondern auch religiöse Autorität. Die politische Herrschaft des Kaisers und seiner Regierung war religiös rechtfertigt. Dagegen ist der Kaiser in der japanischen Verfassung das Symbol des japanischen Staates und der Einheit des japanischen Volkes (Art. 1 JV). Er hat keine staatspolitische Befugnisse und vollzieht nur diejenigen Handlungen in Staatsangelegenheiten, die die japanische Verfassung ausdrücklich bestimmt. Für alle Handlungen des Kaisers in Staatsangelegenheiten ist der Rat und die Zustimmung des Kabinetts erforderlich (Art. 3, 4 JV). Eine von diesen Handlungen des Kaisers in Staatsangelegenheiten ist Zeremonien abzuhalten (Art. 7 Nr. 10). Diese Zeremonien dürfen keinen religiösen Charakter haben. Der Trennungsgrundsatz von Staat und Religion gilt auch für Handlungen des Kaisers, soweit der Kaiser als Staatsorgan handelt. Auf der anderen Seite kann der Kaiser als Privatperson handeln. Die Stellung des Kaisers ist kein „full-time job“. Der Kaiser als Privatperson genießt die Religionsfreiheit. Während der Kaiser in der Meiji-Verfassung an den Shintoismus glauben musste, kann der Kaiser in der japanischen Verfassung wie bisher an den Shintoismus glauben, jedoch – konsequenterweise – auch an andere Religion wie das Christentum oder den Islam, oder aber an gar keine Religion. In der Realität ___________ 9

OGH, 2. Kleiner Senat, Urteil vom 8. 3. 1996, Minshu 50, 469.

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glaubt der Kaiser jedoch weiterhin an den Shintoismus. Diese Lage wird wahrscheinlich andauern, weil der Shintoismus traditionell die Religion der kaiserlichen Familie ist. Als der jetzige Kaiser 1989 den kaiserlichen Thron bestiegen hat, wurden viele Zeremonien der Thronfolge veranstaltet. Während die staatlichen Zeremonien wie Ritus der Thronbesteigung nicht religiös sein sollten, wurden religiöse und shintoistische Zeremonien als privaten Zeremonien der kaiserlichen Familie abgehalten. Auf diese Weise ließen zwei Verfassungswerte, Trennungsgrundsatz von Staat und Religion einerseits und Religionsfreiheit des Kaisers anderseits, sich miteinander vereinbaren.10 Zwar gibt es große Unterschiede zwischen dem GG und der JV; beide Verfassungen haben aber den gemeinsamen Zweck des Grundrechtsschutzes. Als Verfassungen im gleichen Zeitalter stehen sie gleichartigen Aufgaben gegenüber und finden ähnliche Lösungen. Darin liegt die Bedeutung der Rechtsvergleichung beider Verfassungen, die eine interessante Aufgabe darstellt.

___________ 10 Eine von wichtigsten Zeremonien der Thronfolge ist der Ritus von Daijosai. Dieser Ritus war sehr shintoistisch und wurde als private Zeremonie der kaiserlichen Familie abgehalten. Nichtsdestotrotz hat die damalige Regierung zu dieser Zeremonie öffentliche Gelder zur Verfügung gestellt. Das war problematisch.

Postmortale Befruchtung und Vaterschaftsfeststellung Von Norimasa Nozawa∗

I. Einleitung Die moderne Fortpflanzungsmedizin weckt bei Paaren, die ihren Kinderwunsch auf natürliche Weise nicht verwirklichen können, große Hoffnungen, im Wege medizinisch assistierter Zeugung, vor allem durch künstliche Insemination („in vivo“) oder extrakorporale Befruchtung („in vitro“), Kinder bekommen zu können. Bei der medizinisch assistierten Zeugung lässt sich zwischen homologer und heterologer künstlicher Befruchtung unterscheiden, je nach dem, ob beide verwendeten Keimzellen (Ei- und Samenzelle) von den – meistens miteinander verheirateten – Wunscheltern herrühren oder nicht. Allgemein wird die homologe künstliche Befruchtung, die in der Praxis weit verbreitet ist, sowohl vom moralischen als auch vom rechtlichen Standpunkt aus für unproblematisch gehalten. Moralische Bedenken, wie sie etwa teilweise gegen eine Samenspende durch einen Dritten angeführt werden, bestehen keine, weil hier lediglich einem Paar medizinisch dabei geholfen wird, seinen Kinderwunsch zu verwirklichen. Auch familienrechtlich scheint die homologe künstliche Befruchtung unproblematisch zu sein, weil im Unterschied zur heterologen künstlichen Befruchtung keine gespaltene Elternschaft entsteht, die einer besonderen Regelung bedürfte.1 Doch wie stellt sich die Rechtslage dar, wenn eine Frau eine künstliche Befruchtung mit dem kryokonservierten Samen ihres verstorbenen Ehemannes durchführen lässt und auf diese Weise ein Kind zur Welt bringt? Während in Deutschland die wissentliche Durchführung einer postmortalen Befruchtung nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 des Embryonenschutzgesetzes strafbar ist,2 existieren in Japan zurzeit bis auf das sog. Klonverbot keine Vorschriften, welche die Zuläs___________ * Der Verfasser dankt Herrn Dr. Tobias Helms (Freiburg i. Br.) herzlich für sprachliche Korrekturen. 1 Zu den familienrechtlichen Problemen der heterologen Befruchtung in Japan vgl. Nozawa, FS Kollhosser Bd. II (2004), 487 ff. 2 Nach § 4 Abs. 2 des Embryonenschutzgesetzes wird allerdings die Frau, bei der die postmortale Befruchtung vorgenommen wird, selbst nicht bestraft.

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sigkeit medizinischer Fortpflanzungstechniken regeln.3 Theoretisch denkbar ist eine postmortale Befruchtung nicht nur als homologe, sondern auch als heterologe Befruchtung, denn es können auch die konservierten Keimzellen eines verstorbenen Spenders bzw. einer verstorbenen Spenderin verwendet werden, doch gibt es für eine bewusste Entscheidung zugunsten eines solchen Vorgehens keinen nachvollziehbaren Anlass. Demgegenüber ist der Wunsch zur Vornahme einer homologen postmortalen Befruchtung nicht so fernliegend: In erster Linie wird es dabei um Fälle gehen, in denen eine Witwe, die zu Lebzeiten ihres Ehemannes eine künstliche Befruchtung ohne Erfolg unternommen hat, ihre Bemühungen nach dem Tod des Mannes mit Hilfe von dessen kryokonservierten Samen fortsetzen möchte.4 Im deutschen Schrifttum ist man sich einig, dass ungeachtet des Verbots der postmortalen Befruchtung der Vater eines auf diese Weise gezeugten Kindes nach den allgemeinen Grundsätzen des Abstammungsrechts zu bestimmen ist.5 Allerdings hatten die deutschen Gerichte – soweit ersichtlich – über einen einschlägigen Fall noch nicht zu entscheiden. In Japan demgegenüber hat im Jahre 2003 erstmals ein im Wege postmortaler Befruchtung gezeugtes Kind auf Feststellung der Vaterschaft des verstorbenen Ehemannes seiner Mutter geklagt. Das Landgericht („Chihô Saibansho“, LG) Matsuyama wies am 12. 11. 2003 die Klage ab6, das Obergericht („Kôtô Saibansho“, OG) Takamatsu dagegen hob mit Urteil vom 16. 7. 2004 die Entscheidung der ersten Instanz auf und gab der Klage des Kindes statt.7 Hiergegen ist nunmehr Revision beim obersten Gerichtshof („Saikô Saibansho“, OGH) eingelegt worden.8 Dieser Fall verdient aus zwei Gründen besondere Aufmerksamkeit. Zum einen zwingt er dazu, die Zulässigkeit der postmortalen Befruchtung erneut zu überdenken, denn obwohl dieses Thema bislang gelegentlich diskutiert worden ist, steht eine endgültige Klärung noch aus. Zum anderen wirft er Fragen auf, ___________ 3 Ein Gesetz zur Regelung der medizinisch assistierten Fortpflanzung ist in Vorbereitung, vgl. Nozawa, (Fn. 2), 496 ff. Obwohl die Reform für das Jahr 2004 geplant war, liegt ein Regierungsentwurf bisher noch nicht vor. 4 Die von Zierl, DRiZ 1985, 337, 340 angenommenen Umstände sind fast identisch mit denen des vorliegenden Falles. 5 Schwab, Familienrecht 12. Aufl. 2003, RdNr. 487; Quantius, FamRZ 1998, 1145, 1147; MünchKomm/Seidel, 4. Aufl. 2002, § 1589 RdNr. 16, § 1592 RdNr. 33, § 1593 RdNr. 14; zur Rechtslage vor der Kindschaftsrechtsreform 1997 vgl. Beitzke, in Gaul (Hrsg.), Familienrecht in Geschichte und Gegenwart, 1992, S. 50 ff.; Coester-Waltjen, Gutachten zum 56. DJT, B 37 ff. In diesem Fall kann die Vaterschaft des verstorbenen Mannes im Verfahren nach § 1600e Abs. 2 BGB festgestellt werden (MünchKomm/Seidel, 4. Aufl. 2002, § 1600e RdNr. 50). 6 Kasai-Geppô, 56-7-140 = Hanrei Jihô, 1840-85,= Hanrei Times, 1144-133. 7 Kasai-Geppô, 56-11-41 = Hanrei Jihô, 1868-69, = Hanrei Times, 1160-86. 8 Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Manuskriptes war der Ausgang des Verfahrens noch nicht bekannt.

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die die Grundlagen des japanischen Abstammungsrechts betreffen. Sollte die Klage in letzter Instanz Erfolg haben, würde auf Grund der biologischen Abstammung eine Vaterschaft rechtlich anerkannt werden, die in vergleichbarer Form in der Natur nicht möglich ist, sondern nur auf künstlichem Wege geschaffen werden konnte. Damit müssten die Fundamente des japanischen Abstammungsrechts neu überdacht werden. Im Folgenden sollen zuerst der Inhalt des Falles skizziert (II.) und dann die gegensätzlichen Entscheidungen der ersten und zweiten Instanz wiedergegeben werden (III.). Abschließend werden die Zulässigkeit der postmortalen Befruchtung sowie deren abstammungsrechtliche Konsequenzen erörtert (IV.).

II. Sachverhalt und rechtliche Ausgangslage Im Jahre 1997 heiratete F ihren Verlobten M, der schon seit einiger Zeit wegen Leukämie in ärztlicher Behandlung war. Der Versuch, im Wege extrakorporaler Befruchtung ein Kind zu zeugen, blieb zunächst erfolglos. Bevor dem M im Jahre 1998 das Knochenmark eines Spenders implantiert und eine Strahlentherapie durchgeführt wurde, entschlossen sich die Eheleute, Samen des M zu kryokonservieren, weil eine Beeinträchtigung seiner Zeugungsfähigkeit zu befürchten war. Anlässlich der Konservierung des Samens in der Klinik A unterschrieben die Eheleute ein Formblatt, welches unter anderem die Erklärung enthielt, dass die Unterzeichner den Grundsatz respektierten, dass der Samen demjenigen gehöre, von dem er herrühre, und F deshalb im Fall eines Todes des M die Klinik unverzüglich davon in Kenntnis setzen würde, damit der konservierte Samen vernichtet werde. Außerdem beinhaltete das Schriftstück eine Klausel, wonach postmortale Manipulationen mit dem konservierten Samen nicht vorgenommen werden durften. Nach der Durchführung der Knochenmarktransplantation entschlossen sich die Eheleute, ihre Bemühungen bezüglich einer extrakorporalen Befruchtung in der Klinik B, die näher bei ihrem Wohnort lag, fortzusetzen. Sie benachrichtigten deshalb die Klinik A, um die Bereitstellung der konservierten Samen zu veranlassen. Noch bevor dieses Vorhaben ausgeführt werden konnte, verstarb allerdings M im Jahre 1999. Dennoch begab sich F zusammen mit ihrer Schwiegermutter zur Klinik A und holte den dort aufbewahrten Samen ab, ohne die Klinik über den Tod des M zu informieren. In der Klinik B wurde sodann eine künstliche Befruchtung mit Erfolg durchgeführt, und im Jahre 2001 gebar F ein Kind. Dem Personal der Klinik B hatte F noch zu Lebzeiten ihres Mannes erzählt, M könne wegen seiner Krankheit bei den Gesprächen in der Klinik nicht anwesend sein. Aus diesem Grund hatte man auch darauf verzichtet, seine erneute Zustimmung einzuholen.

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Im Unterschied zum LG Matsuyama ging das OG Takamatsu davon aus, M habe den ausdrücklichen Wunsch gehabt, dass F nach seinem Tod ein Kind gebären würde. Kurz vor der Operation habe M seine Frau gebeten, sein Kind zu gebären und seine Eltern zu versorgen, wenn sie nach seinem Tod nicht wieder heiraten wolle. Auch nach der Operation habe er gegenüber seinen Eltern, seinem Bruder und seiner Tante erneut den Wunsch geäußert, seine Frau möge durch postmortale Befruchtung ein Kind empfangen, welches von der gesamten Familie als sein Kind akzeptiert werden sollte. Nach Ansicht des OG Takamatsu kam diesen ausdrücklichen Willensbekundungen eine größere Aussagekraft zu als der zeitlich älteren Erklärung gegenüber der Klinik A. Als F ihr Kind beim zuständigen Amt als eheliches Kind ihres verstorbenen Mannes ins Familienbuch („Koseki-bo“) eintragen lassen wollte, wurde diese Eintragung abgelehnt. Alle dagegen eingelegten Rechtsmittel blieben erfolglos. Dass F für ihr Kind zunächst die Stellung als eheliches Kind anstrebte, kann nicht verwundern, da in Japan immer noch gravierende Unterschiede zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern bestehen. Die Ungleichbehandlung zeigt sich vor allem beim gesetzlichen Erbrecht. Wenn ein nichteheliches Kind zusammen mit einem ehelichen Kind einen Elternteil beerbt, steht dem nichtehelichen Kind nur ein Erbteil zu, der die Hälfte des Erbteils des ehelichen Kindes beträgt (§ 900 Nr. 4 S. 2 japan. BGB). Trotz großer verfassungsrechtlicher Bedenken sieht die höchstrichterliche Rechtsprechung in dieser Vorschrift keinen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot. Hinzu kommt, dass nichteheliche Kinder in Japan auch gesellschaftlich teilweise immer noch diskriminiert werden. Nach § 772 Abs. 1 japan. BGB gilt ein Kind, das während der Ehe empfangen wurde, als Kind des Ehemannes. Eine Empfängnis während der Ehe wird vermutet, wenn das Kind 200 Tage oder später nach der Eheschließung bzw. binnen 300 Tagen nach Auflösung der Ehe geboren wird (§ 772 Abs. 2). Da das Kind im vorliegenden Fall aber später als 300 Tage nach der Auflösung der Ehe durch den Tod des M geboren war, griff die Ehelichkeitsvermutung nicht ein. Das Kind wurde daher zu recht als nichtehelich angesehen. Wenn die Vaterschaft nicht anerkannt wird, können ein nichteheliches Kind und seine gesetzliche Vertreterin, also seine Mutter (§ 819 Abs. 4 japan. BGB), Klage auf Vaterschaftsfeststellung gegen den vermutlichen Vater beim Familiengericht (bzw. bis zum 31. 3. 2004 beim Landgericht)9 erheben (§ 787 S. 1 japan. BGB). Das Gesetz verwendet den Terminus „Klage auf Anerkennung“ (sog. erzwungene Anerkennung). Diese Klage wird von der herrschenden Mei___________ 9 Nach § 2 des neu gefassten Statusprozessgesetzes („Jinji Soshôhô“ vom 16.7.2003) ist das Familiengericht für die Klage betreffend Ehe- und Kindschaftssachen sachlich zuständig. Vor Inkrafttreten dieses Gesetzes am 1. 4. 2004 galt das alte Statusprozessverfahrensgesetz, nach dem für diese Klage das Landgericht zuständig war.

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nung und der ständigen Rechtsprechung als eine Gestaltungsklage angesehen.10 Die Klageerhebung ist auf drei Jahre nach dem Tod des vermeintlichen Vaters befristet (§ 787 S. 2 japan. BGB).11 Falls der Vater schon gestorben ist, übernimmt der Staatsanwalt von Amts wegen die Beklagtenrolle.12 Im vorliegenden Fall hat das Kind, vertreten durch seine Mutter, innerhalb von drei Jahren nach dem Tod des M gegen den örtlich zuständigen Staatsanwalt Klage auf Feststellung der Vaterschaft beim Landgericht Matsuyama erhoben.13

III. Divergierende Entscheidungen der Instanzgerichte 1. Streitpunkte Das klagende Kind14 machte geltend, M habe den ernsthaften Wunsch besessen, F möge nach seinem Tod unter Verwendung seines Samens ein Kind zur Welt bringen. Der Sache nach handele es sich daher lediglich um einen verspäteten Erfolg der schon lange ordnungsgemäß begonnenen homologen Befruchtung. Der rechtliche Status eines Kindes müsse unabhängig von der bioethischen und rechtspolitischen Diskussion über die Zulässigkeit einer postmortalen Befruchtung15 bestimmt werden, dabei müsse dem Wohl des Kindes Vorrang ___________ 10 Sowohl die freiwillige als auch die erzwungene Anerkennung begründet die rechtliche Vaterschaft natürlich rückwirkend auf die Geburt des Kindes (vgl. § 784 japan. BGB). Bevor die postmortale gerichtliche Anerkennung (Vaterschaftsfeststellung) gesetzlich eingeführt worden ist, wurde diese Klage überwiegend als eine Leistungsklage, d.h. Klage auf Abgabe der Anerkennung der Vaterschaft, angesehen. Sie war in diesem Sinne Ersatz für die ausbleibende freiwillige Anerkennung. Im Schrifttum wird heutzutage teilweise vertreten, diese Klage sei eine Feststellungsklage. Diese theoretischen Auseinandersetzungen hängen aus rechtsvergleichender Sicht mit dem Gegensatz zwischen dem sog. Anerkennungssystem und dem Abstammungssystem zusammen. 11 Die postmortale gerichtliche Vaterschaftsfeststellung wurde erst 1942 (!) aus Rücksicht auf die nicht freiwillig anerkannten Kinder gefallener Soldaten eingeführt. Die Befristung beruht auf der Abwägung zwischen der Eindeutigkeit der Sachlage und der Sicherheit der erbrechtlichen Verhältnisse. Im Schrifttum wird teilweise vertreten, dass ausnahmsweise von der Befristung befreit werden könne, wenn die leibliche Vaterschaft ohne Schwierigkeiten beweisbar sei. Die Rechtsprechung lehnt eine solche Auslegung aber ab. 12 Diese Regelung der Prozessführungsbefugnis wird dadurch gerechtfertigt, dass der Streitgegenstand des Prozesses die Interessen der Allgemeinheit berührt. Dabei kann das Familiengericht denjenigen Dritten, dessen erbrechtliche Interessen durch die postmortale Vaterschaftsfeststellung beeinträchtigt werden könnten, im Prozess intervenieren lassen (§ 15 des Statusprozessgesetzes). 13 Zur damaligen sachlichen Zuständigkeit vgl. Fn. 10. 14 Da das Geschlecht des Kindes aus den veröffentlichten Entscheidungen – wahrscheinlich aus Datenschutzgründen – nicht erkennbar ist, kann man hier von „dem Kläger“ oder „der Klägerin“ nicht sprechen. 15 Vgl. unten IV.1.

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vor allen sonstigen Erwägungen zukommen. Die Würde des Menschen gebiete es, dass die väterliche Abstammung eines Kindes offiziell anerkannt werde, auch in Form der Eintragung in das Familienbuch. Neben immateriellen Interessen besitze es aber auch ein schützenswertes Vermögensinteresse an der Anerkennung seiner väterlichen Abstammung, weil es nur auf diese Weise Unterhaltsansprüche gegen väterliche Verwandte sowie entsprechende Erbrechte geltend machen könne. Der Staatsanwalt in der Rolle des Beklagten erwiderte demgegenüber, im Falle einer künstlichen Befruchtung setze die Feststellung der Vaterschaft voraus, dass das betreffende Kind zu Lebzeiten des biologischen Vaters gezeugt worden sei. Selbst wenn man eine Vaterschaftsfeststellung auch dann für zulässig halte, wenn ein Mann mit der postmortalen Befruchtung unter Verwendung seines Samens einverstanden sei, so fehle es im vorliegenden Fall doch an einer solchen Zustimmung, da M anlässlich der Konservierung seines Samens in der Klinik A durch die Unterzeichnung des Formblattes seinen gegenteiligen Willen ausdrücklich erklärt habe.

2. Begründung der ersten Instanz In seiner Urteilsbegründung weist das LG Matsuyama zunächst darauf hin, dass sich die Bedeutung der blutsmäßigen Abstammung als Grundlage zur Bestimmung der rechtlichen Vaterschaft aufgrund der Fortschritte in der Medizin verändert habe. Der Gesetzgeber sei selbstverständlich davon ausgegangen, dass Vater eines Kindes grundsätzlich derjenige ist, der durch Geschlechtsverkehr mit der Kindesmutter das Kind gezeugt hat. Nunmehr sei aber aufgrund der medizinischen Entwicklung eine Zeugung ohne Geschlechtsverkehr ohne weiteres möglich, so dass sich in diesen Fällen die Frage nach der rechtlichen Vaterschaft erneut stelle. Während bei der homologen künstlichen Befruchtung im Regelfall keine Zweifel daran bestünden, dass der Ehemann der gebärenden Mutter der Vater des Kindes ist, könne im Falle der heterologen künstlichen Befruchtung der biologische Vater, der lediglich seinen Samen zur Verfügung stellt, nicht als Vater im Rechtssinne angesehen werden. Der entscheidende Unterschied liegt für das LG Matsuyama in der Willenslage der Beteiligten, denn im Fall der heterologen Befruchtung wünschten weder die Eheleute noch der Samenspender, dass diesem das Kind abstammungsrechtlich zugeordnet werde. Es zeige sich damit, dass die traditionelle Konzeption, die die blutsmäßige Abstammung als alleinige Grundlage der rechtlichen Vaterschaft ansah und den Willensfaktor vollkommen außer Acht ließ, nicht geeignet ist, die unterschiedliche Behandlung von homologer und heterologer künstlicher Befruchtung zu erklären. Letzten Endes liege aber sogar der natürlichen Zeugung durch Geschlechtsverkehr – zumindest auf der Seite des Mannes – eine willentliche Entscheidung zugrunde.

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Das LG Matsuyama zieht hieraus die Schlussfolgerung, für die Bestimmung der Vaterschaft könne nicht ausschließlich auf die biologischen Verhältnisse abgestellt werden, vielmehr müsse auch Berücksichtigung finden, wer nach den Anschauungen der Allgemeinheit als Vater im Rechtssinne anzusehen sei. Zwar sei es zu bedauern, dass in einer Frage, die den grundlegenden rechtlichen Status eines Kindes betreffe, auf ein so unbestimmtes Kriterium wie die Anschauungen der Allgemeinheit zurückgegriffen werden müsse. Solange jedoch der Gesetzgeber die abstammungsrechtlichen Konsequenzen der modernen Befruchtungstechniken nicht geregelt habe, komme man nicht daran vorbei, nach Fallgruppen zu differenzieren. Beim Rückgriff auf die Anschauungen der Allgemeinheit seien verschiedene Faktoren zu berücksichtigen: der Schutz des Kindeswohls, die Übereinstimmung mit dem geltenden Familien- und Erbrecht, die Vergleichbarkeit der angewandten Fortpflanzungstechnik mit der natürlichen Zeugung sowie die allgemeine Zulässigkeit der angewandten Technik usw. Das LG Matsuyama hält es im Falle der postmortalen Befruchtung für entscheidend, dass diese Form der Zeugung in keiner Weise mehr mit einem natürlichen Paarungsakt vergleichbar ist. Auch das allgemeine Rechtsbewusstsein sperre sich dagegen, den verstorbenen Samenspender als Vater anzusehen. Zumindest aber sei die Zustimmung des Verstorbenen zur Vornahme einer postmortalen Befruchtung Voraussetzung für die Anerkennung seiner rechtlichen Vaterschaft, eine solche könne im vorliegenden Fall aber nicht festgestellt werden. Was den Gesichtspunkt des Kindeswohls anbelangt, so kommt das Gericht zu keinem eindeutigen Ergebnis: Auf der einen Seite müsse berücksichtigt werden, dass die Vaterlosigkeit des Kindes negative Auswirkungen auf sein gesellschaftliches Ansehen haben könne, und auch das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner eigenen Abstammung verdiene grundsätzlich Beachtung. Auf der anderen Seite sei aber fraglich, ob es tatsächlich dem Wohl des Kindes diene, die Vaterschaft eines Mannes festzustellen, von dem es weder Pflege und Erziehung noch Unterhalt zu erwarten habe. Schlimmstenfalls könne es für das Kind sogar seelisch belastend sein, wenn es von den Umständen seiner postmortalen Zeugung erfahre. Auch wenn mit der Vaterschaftsfeststellung grundsätzlich materielle Vorteile für das Kind verbunden sind, so sei es doch rechtslogisch fehlerhaft, von den denkbaren familien- und erbrechtlichen Folgen auf die Voraussetzungen der Vaterschaftsfeststellung zu schließen. Bei Abwägung all dieser Umstände dürfe im vorliegenden Fall die Vaterschaft des verstorbenen Mannes daher nicht festgestellt werden.

3. Begründung des Berufungsgerichts In der Berufungsinstanz hob das OG Takamatsu das Urteil des LG Matsuyama auf und gab der Klage statt, denn Voraussetzung für den Erfolg einer Vaterschaftsfeststellungsklage durch ein Kind, das im Wege künstlicher

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Befruchtung gezeugt wurde, sei lediglich die Zustimmung des leiblichen Vaters zur Verwendung seines Samens, soweit nicht ausnahmsweise besondere Umstände gegen die Zulässigkeit der Klage sprächen. Nach Ansicht des OG Takamatsu darf eine Klage auf Feststellung der Vaterschaft eines außerhalb der Ehe durch künstliche Befruchtung geborenen Kindes nicht allein deshalb abgewiesen werden, weil der Gesetzgeber an die betreffende Befruchtungstechnik nicht gedacht hat. Die gegenwärtig in Japan geführte Diskussion über die Zulassung bestimmter Fortpflanzungstechniken sowie deren abstammungsrechtliche Implikationen habe Bedeutung lediglich de lege ferenda und sei für die Auslegung des geltenden Rechts wenig hilfreich. Vielmehr müsse auch im Falle postmortaler Zeugung der allgemeine Grundsatz gelten, dass die rechtliche Vaterschaft aus der biologischen Abstammung resultiere. Es sei daher nicht erforderlich, dass der biologische Vater im Zeitpunkt der Zeugung noch lebe. Doch setze die Vaterschaftsfeststellung voraus, dass er der Durchführung der fraglichen Befruchtung zugestimmt hatte, denn es wäre unerträglich, wenn ein Mann, der seinen Samen zum Zwecke der Konservierung einer Klinik anvertraut, als Vater eines Kindes anzusehen sei, das gegen seinen Willen unter Verwendung seines Samens gezeugt wurde. Im Unterschied zum LG Matsuyama stellte sich das OG Takamatsu auf den Standpunkt, dass im vorliegenden Fall der verstorbene Ehemann die Vornahme einer postmortalen Befruchtung bei seiner Frau ernsthaft gewünscht hatte (vgl. oben unter II.). Was die Rechtsfolgen des Statusverfahrens anbelangt, so stellt das Gericht klar, dass aufgrund der Feststellung der väterlichen Abstammung das Kind auch seine Großeltern beerben kann.

IV. Beurteilung 1. Zur Zulässigkeit der postmortalen künstlichen Befruchtung Am 28. 4. 2003 hat die Kommission für medizinisch assistierte Fortpflanzung des japanischen „Ministry of Health, Labour and Welfare“ (Kôsei-Rôdô Shô) einen Bericht vorgelegt, welcher der Vorbereitung von Gesetzgebungsmaßnahmen auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin dient.16 Dieser Bericht beschäftigt sich aber hauptsächlich mit der Frage der heterologen künstlichen Befruchtung und behandelt daher die postmortale Befruchtung nicht unmittelbar. Allerdings wird vorgeschlagen, dass gespendete Samen, Eizellen sowie Embryonen nach dem Tod des Spenders bzw. der Spenderin vernichtet werden sollen. Dafür werden drei Gründe angeführt: die ethische Fragwürdigkeit einer Geburt unter Verwendung von Keimzellen eines Toten, die Nichtfeststellbarkeit ___________ 16

Vgl. Nozawa, (Fn. 2), 496 ff.

Postmortale Befruchtung und Vaterschaftsfeststellung

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des wahren Willens des Spenders bzw. der Spenderin sowie die Gefahr, dass sich die Abwesenheit des biologischen Vaters oder der biologischen Mutter nach der Geburt nachteilig auf das Kindeswohl auswirkt. Schon vorher hatte das japanische Justizministerium (Hômu Shô) eine Sonderkommission eingesetzt und diese beauftragt, Vorschläge für eine gesetzliche Regelung bezüglich der Rechtsstellung der durch medizinisch assistierte Befruchtung geborenen Kinder zu erarbeiten. Nach zweijährigen Beratungen hat sie am 15.7.2003 einen Vorentwurf17 veröffentlicht. Obwohl während der Kommissionssitzungen auch über die Rechtsstellung der durch postmortale homologe Befruchtung gezeugten Kinder diskutiert worden ist und die Mehrheit der Kommissionsmitglieder sich eher ablehnend gegenüber der Zulässigkeit einer Vaterschaftsfeststellung geäußert hat, enthält der vorgelegte Entwurf keine entsprechende Regelung, da die Frage der medizinischen Zulässigkeit der postmortalen Befruchtung noch nicht endgültig geklärt sei. Das Fehlen einer gesetzlichen Regelung wird ein Stück weit durch autonome Richtlinien der Ärzteschaft kompensiert. So versucht die „Japan Society of Obstetrics and Gynecology“18, die fortpflanzungsmedizinische Praxis ihrer Mitglieder durch eigene Richtlinien zu vereinheitlichen. Obwohl dieser Verband zur postmortalen Befruchtung bisher nicht ausdrücklich Stellung bezogen hat, kann man aus seinen Richtlinien doch indirekt auf seine ablehnende Haltung schließen. Denn nach der „Äußerung zur extrakorporalen Befruchtung und zum Embryonentransfer“ aus dem Jahre 198319 darf eine künstliche Befruchtung nur homolog durchgeführt werden20, und nach der „Äußerung zur Kryokonservierung und zum Transfer menschlicher Embryonen und Eier“ aus dem Jahre 198821 dürfen die für die homologe Befruchtung hergestellten Embryonen nur so lange konserviert werden, wie die Ehe des betroffenen Paares besteht. Die „Japanese Society of Fertility and Sterility“ fordert in seiner Richtlinie zur Kryokonservierung von Samen vom 30.9.2003 von seinen Mitgliedern, den konservierten Samen sofort nach dem Tod des Mannes zu vernichten.22 Nachdem der in diesem Beitrag behandelte Fall bekannt geworden ist, hat die „Japan Society of Fertilization and Implantation“ am 1.11.2004 die Beratungsergebnisse seiner Ethikkommission veröffentlicht.23 Obwohl die Mehrheit der Kommissionsmit___________ 17

Http://www.moj.go.jp/PUBLIC/MINJI35/refer01.html. Zu dieser Vereinigung vgl. Nozawa, (Fn. 2) 488 (Fn. 8). 19 Wiedergegeben in Seimei Rinri to Hô (2004), 103. 20 Die heterologe Befruchtung hat dieser Verband erst im Jahre 1997 offiziell für zulässig erklärt und zwar nur für verheiratete Frauen mit Zustimmung ihres Ehemannes (vgl. Nozawa, (Fn. 2), 488 ff. 21 Http://www.jsog.or.jp/kaiin/html/kaikoku/S63_html. 22 Http://www.jsfs.or.jp/funin/guideline/2003.html. 23 Http://www.jsfi.jp/ethicscommit/hokoku_index.html. 18

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glieder eine eher ablehnende Haltung gegenüber der postmortalen Befruchtung mit kryokonservierten Samen eines verstorbenen Ehemannes eingenommen hat, wurde eine klare Empfehlung nicht ausgesprochen. Allerdings fordert die Kommission, dass bei der rechtspolitischen Entscheidung, ob die postmortale homologe Befruchtung ausnahmslos verboten oder unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt werden soll, die Einstellung der Bevölkerung zu berücksichtigen sei. Solange keine gesetzliche Regelung getroffen ist, schlägt sie vor, keine künstlichen Befruchtungen durchzuführen, wenn das Ehepaar geschieden ist oder der Ehemann nicht mehr lebt. Dieser Überblick zeigt, dass die postmortale Befruchtung in Japan mehrheitlich auf Ablehnung stößt. Allerdings gibt es auch abweichende Stimmen, die sich auf das verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf eigene Nachkommenschaft berufen.24 Dennoch sollte der herrschenden Auffassung gefolgt werden. Ausschlaggebend hierfür ist der Gedanke, dass nur diejenigen Formen künstlicher Befruchtung erlaubt werden sollten, bei denen lediglich dem natürlichen Zeugungsvorgang mit Hilfe medizinischer Mittel „assistiert“ wird. Solange es um die Geburt eines Menschen geht, darf eine Zeugung, die schon den äußeren Voraussetzungen nach auf natürlichem Wege nicht denkbar ist, auch nicht durch die Anwendung moderner medizinischer Techniken ermöglicht werden. In der Natur aber ist die Zeugung eines Kindes nur zu Lebzeiten von Vater und Mutter möglich. Eine vorprogrammierte Vaterlosigkeit ist nicht nur schädlich für das Wohl des Kindes, sondern beeinträchtigt auch die Würde des Menschen. Deshalb ist die postmortale Befruchtung, sowohl in Form der homologen als auch der heterologen Befruchtung, abzulehnen.25

2. Zur Klage auf Vaterschaftsfeststellung Die Vaterschaft eines auf künstlichem Wege gezeugten Kindes bestimmt sich nach den allgemeinen Grundsätzen des Abstammungsrechts, solange gesetzlich nichts Abweichendes geregelt ist. So ist z.B. bei der konsentierten heterologen Befruchtung nach herrschender Lehre das Kind dem Ehemann der Mutter zugeordnet, was dem Wunsch aller Beteiligten am besten entspricht.26 Dieser Rechtslage liegt die Vorstellung zu Grunde, dass diese Form der künstlichen Befruchtung allgemein zulässig ist und der Ehemann der Mutter durch seine Zustimmung den entscheidenden Anstoß für die Geburt des Kindes gegeben hat. ___________ 24

Vgl. Kugisawa, Sanfujinka no Sekai, Nr.54 (2002), 47, 55 ff. Vgl. Matsukawa, Hanrei Jihô, Nr. 1861, 190, 195 (zust. Anmerkung zum Urteil des LG Matsuyama), Mizuno, Hanrei Times, Nr. 1169, 98, 102 f. (abl. Anmerkung zum Urteil des OG Takamatsu). 26 Vgl. dazu Nozawa, (Fn. 2) 492 ff. 25

Postmortale Befruchtung und Vaterschaftsfeststellung

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Rechtstechnisch gesehen wird diese Zustimmung als Verzicht auf das Ehelichkeitsanfechtungsrecht gedeutet, womit die dauerhafte rechtliche Zuordnung des Kindes gesichert wird. Was jedoch die Vaterschaft eines zum Zeitpunkt der Zeugung schon verstorbenen Mannes anbelangt, so kann man sich auf die allgemeine Zulässigkeit einer solchen Befruchtungsmethode nicht berufen, wie das LG Matsuyama hervorhebt. Vielmehr überwiegen in der rechtspolitischen Diskussion eindeutig die ablehnenden Stellungnahmen. Wer über die abstammungsrechtlichen Konsequenzen einer postmortalen Befruchtung zu entscheiden hat, steht also vor einer schwierigen Wahl: Stellt man die gravierenden Einwände gegen die Zulässigkeit der angewandten Befruchtungstechnik in den Vordergrund, so spricht vieles dafür, die Klage auf Feststellung der Vaterschaft aus generalpräventiven Erwägungen für unzulässig zu erklären.27 Dogmatisch ließe sich dieses Ergebnis mit dem Gedanken des ordre public begründen, welcher auch im Abstammungsrecht Anwendung findet.28 Wer demgegenüber die Interessen der betroffenen Kinder in den Vordergrund stellt, wird der Klage auf Vaterschaftsfeststellung unabhängig von der Zulässigkeit der verwendeten Befruchtungstechnik zumindest dann stattgeben, wenn der verstorbene Mann diesem Vorgehen zugestimmt hat. Nur auf diese Weise kann das Kind vor der Vaterlosigkeit bewahrt werden.29 Selbst vor die schwierige Wahl zwischen diesen beiden Alternativen gestellt, möchte ich einstweilen mit einem Zitat aus meinem Beitrag für die Festschrift Kollhosser aus dem Jahre 2004 antworten: „Oft hinkt der Gesetzgeber den immer schneller sich entwickelnden modernen Techniken um einiges hinterher. Wenn er rechtzeitig darauf reagiert, kann das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Technik jedoch immer wieder zum Ausgleich gebracht werden. Zögert der Gesetzgeber demgegenüber ein Tätigwerden zu lange hinaus, hat er oft gar keine andere Wahl mehr, als die schon etablierte Praxis zu akzeptieren.“30

V. Schlussbemerkungen Sollte die postmortale Befruchtung de lege ferenda unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen werden, bedürfte es einer umfassenden Regelung, die nicht nur die medizinrechtlichen Rahmenbedingungen, sondern auch den familien- und erbrechtlichen Status dieser Kinder klärt. Hierbei wird man sich die Frage stellen müssen, ob man im Interesse der betroffenen Kinder bereit ist, ___________ 27

So Ninomiya, Kazoku ho, 2. Aufl. 2005, S. 185 f.. Matsukawa, (Fn. 26) 195; vgl. auch Mizuno, (Fn. 26) 102 f. 29 Vgl. Tokotani, Hanrei Times, 1150, 81 (abl. Anm. zum Urteil des LG Matsuyama). 30 Nozawa, (Fn. 2) 499. 28

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weit reichende Ausnahmeregelungen zu schaffen, die mit den herkömmlichen Grundsätzen des Familienrechts nicht in Einklang stehen. Z.B. hatte im vorliegenden Fall die Mutter vor Erhebung der Vaterschaftsfeststellungsklage zunächst hartnäckig versucht, ihr Kind als eheliches Kind ins Familienbuch ihres verstorbenen Mannes eintragen zu lassen.31 Es ist auch durchaus nachvollziehbar, dass es wegen der gesellschaftlichen und rechtlichen Diskriminierung nichtehelicher Kinder den Interessen von Mutter und Kind am besten entsprochen hätte, wenn die Ehelichkeit des Kindes anerkannt worden wäre. Es ist aber offensichtlich, dass dieses Ergebnis im Rahmen des geltenden Abstammungsrechts nur hätte erzielt werden können, wenn das Kind binnen 300 Tagen nach dem Tode des Mannes geboren wäre und niemand seine Ehelichkeit wegen der postmortalen Zeugung in Frage gestellt hätte. Außerdem hätte das Kind im vorliegenden Fall seinen verstorbenen Vater sicherlich gerne beerbt, doch war es de lege lata nicht erbfähig, da es erst nach dem Tod des Erblassers gezeugt worden war.32 Sollte die postmortale Befruchtung de lege ferenda ausnahmsweise erlaubt und die Vaterschaft zum verstorbenen Erzeuger anerkannt werden, müsste klargestellt werden, in welchem Umfang ein familienrechtlicher Sonderstatus für diese Kinder geschaffen werden darf. Hoffentlich ist die Sorge unbegründet, hier könnte sich dann das Epigramm bewahrheiten: „Hard cases make bad law“.

___________ 31 32

Vgl. dazu oben II. Das japanische Recht kennt keine testamentarische Erbeinsetzung.

Laufen und Recht – Die japanische Pilgerfahrt Von Koresuke Yamauchi



I. Einführung Begegnungen mit fremden Kulturen bringen uns immer neue Kenntnisse. Dazu zählen auch neue Ansätze in der akademischen Entwicklung. Der Austausch mit den Kollegen von der juristischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster war für uns insoweit eine reiche Ernte.1 Ein persönliches Glück für mich war die Begegnung mit dem Gründer dieser Partnerschaft, Herrn Kollegen Bernhard Großfeld, der mich als Stipendiat der Heinrich-Herz-Stiftung von Februar 1983 bis Juli 1984 erstmals in Münster aufnahm. Er hat sich seither für die Verbindung zur Universität Chuo stark engagiert. Ich selbst habe von ihm nicht nur im Internationalen Privat- und Wirtschaftsrecht, sondern auch in der Rechtsvergleichung sehr viel gelernt. Seine Ideen haben auf mehreren Wegen, einschließlich meiner Übersetzungen seiner Werke,2 ihren Weg nach Japan gefunden. Er hat jetzt viele Anhänger auch in Japan. Ich bin hier deshalb verpflichtet, mit meinem Beitrag etwas von dem zurückzugeben, was die deutschen Kollegen uns geschenkt haben. Unter dem Thema „Laufen und Recht“ will ich die Pilgerfahrt (peregrinus; pilgrimage; pèlerinage; „Junrei“3 auf japanisch) behandeln. Die Wallfahrt zu Fuß mit religiöser Funktion ist den europäischen Christen nicht fremd. Zu er___________ ∗ Ordentlicher Professor für Internationales Privat- und Wirtschaftsrecht, Deutsches und Europäisches Privatrecht sowie Rechtsvergleichung an der Universität Chuo seit 1984. Der Verfasser dankt auch diesmal Herrn Kollegen Professor Dr. Heinrich Menkhaus, Japanische Abteilung, Institut für Privatrechtsvergleichung, Fachbereich Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg und Geschäftsführender Direktor des dortigen Japan-Zentrums, für seine sprachliche Hilfe ganz herzlich. 1 Als erstes Ergebnis ist zu nennen Koresuke Yamauchi (Hrsg.), Beiträge zum japanischen und ausländischen Bank- und Finanzrecht, Schriftenreihe des Japanischen Instituts für Rechtsvergleichung (Band 10), Tokyo 1988. 2 Bernhard Großfeld, Rechtsprobleme der multinationalen Unternehmen, Hamburg 1975; ders., Internationales Unternehmensrecht, Tübingen 1986; ders., Kernfragen der Rechtsvergleichung, Tübingen 1996. 3 Toshiyuki Shiraki, Junrei-sanpai yôgo jiten (Fachwörterbuch der Pilgerfahrt), Tokyo 1994, S. 66.

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wähnen sind die drei heiligen Orte: Klagemauer in Jerusalem, la cattedrale di Santo Pietro in Rom, el camino de Santiago di Compostela in Nordwestspanien als Ziel der berühmtesten Pilgerfahrten auf der Erde. Ferner sind u.a. als Ziele anzugeben Le Mont-Saint-Michel in Nordfrankreich, Lourdes in Südfrankreich (1858), die Insel Guadalupe Hidalgo in Mexico (1531; die braune Maria), Fátima in Portugal (1917).4 Man kann beim Vergleich zwischen japanischen und ausländischen Pilgerfahrten einige typische Unterschiede feststellen, die unten ausführlicher zu beschreiben sind. Solche Fahrten sind nämlich soziale und kulturelle Handlungen, die von Manieren, Sitten und Regeln stark beeinflusst werden. Pilger halten es für ihre Pflicht, den gewohnheitsrechtlichen Regelungen zu gehorchen.5 Es gab und gibt seit langem enge Verbindungen zwischen den religiösen Tätigkeiten und vor Ort geltendem Recht. Religiöses Verhalten mit gewohnheitsrechtlichen Regelungen ist ein gutes Beispiel für das Thema „Kultur und Recht“ oder „Geographie und Recht“. Dazu möchte ich dem Leser einige rechtsvergleichende Aspekte überreichen.

II. Geschichte Ein klassisches Modell der Pilgerfahrt in Japan ist „Nanto shichi daiji junrei“ der Nara-Zeit. Auf dieser Pilgerfahrt wurden die sieben von den damaligen Regierungen in der Hauptstadt Nara gegründeten großen buddhistischen Tempel,6 d.h. Taianji (mit anderen Namen: Dai kandaiji), Yakushiji, Hôryûji, Tôdaiji, Gankôji, Kôfukuji und Saidaiji der Reihe nach besucht. Zu den frühen Teilnehmern zählten nur Angehörige der oberen Klasse, die ihre politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zwecke durch den buddhistischen Glauben verwirklichen wollten. Die Pilgerfahrt anderer Schichten der Bevölkerung begann erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, weil das Verkehrssystem bis dahin noch nicht gut organisiert war. Zu nennen ist ein großer buddhistischer Lehrer der Pilgerfahrt: Kôbô-Daishi (774-835). Er wurde in Zentsûji/Sanuki (jetzt in der Kagawa-Präfektur) geboren ___________ 4 Der Moslem pilgert nach Mekka als dem Geburtsort von Mohammed im jetzigen Saudi Arabien. 5 Auszuschließen sind hier die jetzt populären Fahrten zum Disneyland Resort in den U.S.A., nach Paris und Tokyo oder dem Louvre in Paris usw.; sie sind keine religiösen Fahrten. 6 Der Buddhismus kam im Jahr 538 aus dem Land Kudara (jetzt: Korea). Er gewann unter staatlichem Schutz Einfluss in Japan. Seine Basis ist die politische Herrschaft der großen Familien. Diese unterstützen die Tempel wirtschaftlich. Siehe Fumihiko Gomi u.a. (Hrsg.), Shôsetsu nihonshi kenkyû (Ausführliche Studien zur Geschichte Japans), Tokyo, 1998, S. 85.

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und zum buddhistischen Priester ausgebildet. Sein Name war ursprünglich Kûkai. Der japanische Name „Kû-kai“ besteht aus zwei Schriftzeichen und bedeutet „Himmel“ und „Meer“. Nach langem Studium des Buddhismus in Japan und China gründete er eine Sekte des Buddhismus mit dem Namen Shingonshû und verbreitete sie im ganzen Land. Durch seine Lehrtätigkeit half er vielen Menschen geistig, körperlich und wirtschaftlich. Die Zuhörer dankten es ihm, indem sie seiner Doktrin folgten. Besuche bei den von ihm gegründeten sowie mit ihm verbundenen Tempel und das dortige Beten erleichterte die Seele vieler Gläubiger. Seine asketische Reise bildete ein erstes Modell der „Shikoku henro“-Pilgerfahrt, eine Pilgerfahrt bei der 88 mit Kôbô-Daishi eng verbundene Tempel der Reihe nach besucht werden. Wann die „Shikoku henro“-Pilgerfahrt begann, ist unklar. In den alten literarischen Werken „Konjaku monogatari shû“ (gegen 1120), „Ryôjin hishô“ (1179) u.a. wird die Pilgerfahrt von buddhistischen Priestern als ein Mittel zur religiösen Ausbildung angesehen.7 Im „Namu amida butsu sakuzen shû“ ist geschrieben, dass der buddhistische Priester Shunjôbô Chôgen (1121-1206) in Shikoku ausgebildet wurde. Daraus schließt man, dass es die Pilgerfahrt auf Shikoku schon in der letzten Phase der Heian-Zeit gab. Die Akte „Daigoji bunsho“ spricht von „Saigoku henro 33 kasho shokoku junrei“ (Pilgerfahrt zum Besuch der 33 Tempel in Shikoku) und verwendet erstmals den Begriff „Henro“.8 Wie aber kommt man dann auf 88 Besuchsorte? In der 1471 auf dem Rand eines Schwertes geschnitzten Erklärung findet die Anzahl von 88 Tempeln.9 Das 1687 vom buddhistischen Priester Shin-nen geschriebene Führungsbuch „Shikoku henro michi shinan (Einführung in die Shikokupilgerschaft)“10 war der erste Reiseführer für die Henro-Pilgerfahrt. Dort finden sich Beschreibungen der 88 Tempel und ihrer wichtigsten Idole, die geeignete Wegfolge für die Pilgerfahrt, Übernachtungsmöglichkeiten und anderes.

___________ 7

Hisamitsu Satô, Henro to junrei no shakaigaku (Die Soziologie von Henro und Junrei), Kyoto 2004, S. 57. 8 Shiraki, (Fn. 3) S. 115. 9 Satô, (Fn. 7) S. 59 ff. 10 Das Buch hat auch den Titel „Shikoku henrei kudoku ki“. Siehe Shôzen Asai, Henro kudoku ki to junpai shûzoku (Berichte der Wohltätigkeitsaktivitäten und die Gewohnheit der Pilgerfahrt), Ôsaka 2004, S. 22 ff.

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III. Begriff 1. Allgemeines „Pilgerfahrt“ heißt auf Japanisch „Junrei“. Das Wort besteht aus zwei Schriftzeichen: „Jun“ bedeutet „umstellen“, „der Reihe nach besuchen“, u.a.; „Rei“ bedeutet „einer im gesellschaftlichen Leben zu gehorchenden Form“, „Höflichkeit“ u.a. Das Wort „Junrei“ meint daher, mehrere heilige Orte der Reihe nach zu besuchen und dort zu buddhistischen Göttern zu beten. Hier sind u.a. zu nennen „Saigoku 33 Kan-non reijô meguri“ (Pilgerfahrt zu den 33 Bildern des Bodhisattwa Kannon im westlichen Teil Japans), „Kantô 36 fudô reijô meguri“ (Pilgerfahrt zu den 36 Feuergöttern in Kantô-Bezirk), „Nichiren-shû honzan meguri“ (Pilgerfahrt zu wichtigen Tempeln der Nichiren-Sekte). Die populärste Pilgerfahrt ist jedoch „Shikoku 88 kasho reijô meguri“ (Pilgerfahrt zu den 88 heiligen Orten in Shikoku), die als „Henro“11 bezeichnet und in meiner Heimat stattfindet. Die Bedeutung der Wörter ändert sich mit der Zeit. „Junrei“ wird jetzt oft als Oberbegriff benutzt. „Junrei“ und „Henro“ werden gelegentlich auch wie folgt unterschieden: „Junrei“ im engeren Sinne ist eine luxuriöse, „Henro“ hingegen eine einfache, eher traurige Pilgerfahrt12. Im Folgenden wird besonders „Henro“ näher betrachtet. Die Pilger, die 88 mit Kôbô-Daishi verbundene Tempel der Reihe nach besuchen, heißen „O henro san“. Das Schriftzeichen „O“ steht für eine ehrenvolle Bezeichnung; „O henro san“ ist deshalb eine höfliche Form. Wer „O henro san“ sagt, erweist dem Pilger Respekt. „O henro san“ nennt man nicht nur die Pilger zu den 88 buddhistischen Tempeln, sondern auch die Pilger zu anderen mit Kôbô-Daishi verbundenen Tempeln. Die heiligen Orte werden nicht mit einer beliebigen, sondern mit einer bestimmten Zahl erfasst, 3313, 8814 usw. Dies ist Ausdruck der japanischen Kultur15. Alle 88 Tempel haben eine eigene Nummer, alle liegen auf der Insel Shikoku. Shikoku besteht aus vier Präfekturen: Im östlichen Teil (Präfektur Tokus___________ 11

Daihôrinkaku (Hrsg.), Zenkoku reijô junpai jiten (Wörterbuch zu den heiligen Stellen der Pilgerfahrten in ganz Japan), Tokyo 1997, S. 26. 12 Kazuhisa Nakayama, Yomu, shiru, tanoshimu: junrei henro ga wakaru jiten (Lesen, Kennen, Genießen – Wörterbuch für Junrei und Henro), Tokyo 2004, S. 10 ff. 13 In Hokkaidô, Tsugaru, Mogami, Shônai, Aizu u.a. gibt es viele „33 kasho reijô“ (33 heilige Orte für Pilger). 14 Abgesehen von der „Henro“-Pilgerfahrt in Shikoku, gibt es „Kantô 88 kasho reijô“ (88 heilige Orte in Kantô-Bezirk), „Chita shikoku 88 kasho reijô“ (88 heilige Orte der Halbinsel Chita), „Hiroshima shin shikoku 88 kasho reijô“ (88 heilige Orte in Hiroshima). 15 Shiraki, (Fn. 3) S. 66.

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hima) gibt es 23 Tempel, im südlichen Teil (Präfektur Kôchi) sind es 16, im westlichen Teil (Präfektur Ehime) 26 und im nördlichen Teil (Präfektur Kagawa) 23 Tempel. Die „O henro san“ sollen immer einer bestimmten Route folgen. Sie besuchen die 88 Tempel nacheinander beginnend bei dem „Ryôzenji“Tempel mit der Nummer 1 bis zum „Ôkuboji“-Tempel mit der Nummer 88. Die 88 Tempel haben unterschiedliche Verbindungen zu Kôbô-Daishi. Er wurde im 43. Meisekiji ausgebildet, im 76. Konzôji war er nach kurzem Aufenthalt im China der Tang-Periode ein kurze Zeit; im 87. Nagaoji errichtete er den Gedenkdienstturm („Kuyôtô“). 81 Tempel der 88 gehören zur ShingonSekte, die restlichen 7 nicht. 4 dieser Tempel gehörten früher zur ShingonSekte. Nach Kriegszerstörungen im 16. Jahrhundert bauten buddhistische Priester anderer Sekten sie im 18. Jahrhundert wieder auf. Seither gehören zwei zur Rinzai-Sekte (Nr. 11 Fujiidera und Nr. 33. Sekkeiji), einer gehört zur SôtôSekte (Nr. 15. Kokubunji) und ein anderer zu Tendai-Sekte (Nr. 82 Negoroji). Die restlichen 3 Tempel gehören zur Tendai-Sekte. Woher nun kommt die Zahl 88? Es gibt verschiedene Erklärungen: Nach einer Meinung addierte man die drei bedeutungsvollen Zahlen 42 (unglückliches Jahr für Männer), 33 (unglückliches Jahr für Frauen) und 13 (unglückliches Jahr für Kinder). Kôbô-Daishi machte seine Pilgerfahrt in Shikoku erstmals, als er 42 Jahre alt war. Eine andere Ansicht beruft sich auf das Schriftzeichen für Reis (Kome). Es besteht aus drei Teilen, die wiederum aus den eigenständigen Schriftzeichen für acht, zehn und wieder acht gebildet werden, sodass 88 ein fruchtbares Produkt der Grundkörner (Reis, Weizen, Hirse, Erbsen u.a.) bedeutet. Wieder andere behaupten, dass 88 von der Zahl der weltlichen Wünsche („Bon-nô“) stammt, die im buddhistischen heiligen Buch „Agon kyô“ beschrieben werden. Verbreitet ist ferner die Ansicht, nach der 88 für die unübersehbare Anzahl buddhistischer Tempel steht. Es gibt also keine endgültige Antwort. Die nötige Zeit und die Kosten für die Pilgerfahrt sind erheblich. Die Strecke beträgt zwischen 1200 und 1400 km. Das bedarf einer großen geistigen und körperlichen Stärke. Essen und Übernachtung hängen ab von den Wünschen der Pilger. Früher musste man unter freiem Himmel schlafen, jetzt kann man zelten oder ein Hotelzimmer mieten. Eine 24-jährige Dame brauchte für die Strecke fast zwei Monate sowie 371.725 Yen.16 Eine 53-jährige Frau ging 73 Tage und wandte ca. 550.000 Yen auf.17 Mit der weiteren Entwicklung und Erweiterung des Verkehrssystems kann man Zeit und Kosten sparen. Heute benutzen etwas 90 % der Pilger irgendein ___________ 16

Yukiko Tsukioka, Heisei musume junrei ki (Pilgerfahrt einer Frau der Heisei-Zeit), Tokyo 2002, S. 217. 17 Masako Hosoya, Shikoku henro ki (Pilgerfahrt im Poesieland Shikoku), Tokyo 1999, S. 413.

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Transportmittel, wie Eisenbahn, Linienbus, Taxi und PKW. 60 % fahren mit dem PKW; ca. 30 % nehmen Teil an einer Gruppenbusfahrt Im Jahre 1965 betrugen die Kosten für die Gruppenbusfahrt in Shikoku durchschnittlich 46.000 Yen bei 12 Nächten; 1979 waren es durchschnittlich 98.000 Yen bei 11 Nächten. Die Pilgerfahrt zu Fuß schlug bei 40-50 Nächten mit 100,000 bis 120.000 Yen zu Buche; mit dem Charter-Taxi bezahlte man 250.000 Yen mit 9 Nächten. Heute ist die Pilgerfahrt zu Fuß die teuerste. Sie kostet ungefähr 10.000 Yen pro Tag, damit entstehen Gesamtkosten von mindestens 400.000 bis 500.000 Yen; die Gruppenbusfahrt kostet ca. 140.000 Yen; vier Pilger bezahlen ca. 250.000 Yen für ein gemeinsam genutztes Taxi. Geschäftsleute und Arbeitnehmer haben heute mehr Ruhetage und verdienen mehr. Daher ist es für sie einfacher, eine Pilgerfahrt zu machen. Auch die Tempel bemühen sich um mehr Pilger durch Verlängerung der Öffnungszeiten, Einrichtung von Parkplätzen, usw.

2. Verhalten der „O henro san“-Pilger „O henro san“-Pilger gehen im Prinzip zu Fuß zur heiligen Stätte. Sie müssen dort drei symbolische Akte vornehmen: Sie verehren zunächst verschiedene „Bosatsu“ (Bodhisattwa) im Tempel („Hairei“): Begrüßung, Sutragesang, Verehrung, u.a. Die Verehrungen gelten als buddhistisch asketische Praktiken („Butsudô shugyô“). Die Pilger bieten dann dem Bodhisattwa Verschiedenes an: Lautes Lesen verschiedener Sutren, selbstgeschriebene Kopien von Sutren, selbstgemachte buddhistische Holzfiguren, Kerzen, Weihrauchstäbchen, Geld u.a. Die Übergabe ist zugleich ein Akt der Wohltätigkeit („Kudoku“). Schließlich teilen die Pilger dem Bodhisattwa ihre Wünsche mit. Dabei richten sie sich an die Idole des Tempels („Honzon“). Früher war jede Bitte auf dem Blatt eines Baumes geschrieben oder auch auf Holztäfelchen, die man an die Tür des Tempels nagelte; heute wird dünnes Papier benutzt. Der Besuch und das Beten im Tempel wird deshalb immer noch „Utsu“ (schlagen, anschlagen) genannt. Pilger müssen diesen Ablauf bis zur Begegnung mit dem Buddha („Hotoke“) und/oder eines Bodhisattwa („Bosatsu“) fromm wiederholen.

3. Gründe für die Pilgerfahrt Die Pilgerfahrt ist eine religiöse Aktivität mit vielfältigen Motiven. Sie dient dem Gedenken („Kuyô“), dem Gebet („Kigan“), asketischen Praktiken (Shugyô“), der Flucht vor der Welt, der Heilung u.a. Die Pilger wollen durch solche Taten ein gutes Gefühl gewinnen oder erneuern. Asketische Praktiken dienen oft der Buße. Die Pilger legen die großen Entfernungen zu Fuß zurück, um Gefahren zu begegnen. Sie kämpfen während

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ihrer langen Reise mit Einsamkeit, Ermüdung, Krankheit, Raub u.a.; sie müssen alle diese Schwierigkeiten bewältigen. Die Pilgerfahrt ähnelt dem Weg, der nach dem Tode zu beschreiten ist18. Ihre Vollendung gibt den Pilgern damit ein Gefühl der Leistung, eine geistige Leichtigkeit, ein Gefühl der Zufriedenheit. Die Zu-Fuß-Pilgerfahrt ist deshalb nach wie vor populär. Solche Aktivitäten sind keine weltlichen und tagtäglichen. Sie werden als Aktivitäten in der Welt nach dem Tod angesehen. Pilger werden mithin als Verstorbene betrachtet. Sie erfahren durch die Pilgerfahrt ihre Wiedergeburt und gewinnen Erfahrung in mystischen Ereignissen. Pilger gehorchen nicht den weltlichen Gesetzen, sondern eigenen über lange Jahre weitergegebenen traditionellen Formen, die als Gewohnheit funktionieren. Die Pilgerfahrt ist eine Art von Übergangsritus.

4. Teilnehmer Im Jahre 1964 machten 7.147 Perosonen die „O henro san“-Pilgerfahrt, 1969 waren es 14.257, 1979 30.285. Den vorläufigen Höhepunkt bildete das Jahr 1984 mit 47.648 Pilgern; es war das 1150. Jubiläumsjahr des Todes von „KôbôDaishi“: Neuerdings steigen die Zahlen weiter an: 1989: 46.148; 1999: 75.143 und 2002: 82.656.19 Die Heimat der „O henro san“-Pilger ist vielfältig. Fast die Hälfte kommt von der Insel Shikoku selbst, wohl zunächst wegen der geographischen Nähe aber auch wegen des religiösen Interesses. Die Bewohner von Shikoku leben in einem für Pilgerfahrten sensibilisierten Land, in dem Kôbô-Daishi geboren wurde (in Zentsûji/Sanuki) und in dem es viele Legenden über ihn gibt. Eltern geben seit langem das Rezitieren von Sutren und andere religiöse Praktiken an ihre Kinder weiter. Pilger des Kinki-Gebietes (die Präfekturen Hyôgo, Kyôto, Mie, Nara, Ôsaka, Shiga und Wakayama) und des Chûgoku-Gebietes (die Präfekturen Hiroshima, Okayama, Shimane, Tottori und Yamaguchi) sind mit jeweils ca. 20% vertreten; diese Provinzen liegen nahe an Shikoku. Nicht wenige Ausländer, die Interesse an japanischer Kultur haben, besuchen ebenfalls Shihoku. 1994 machten 9 Studenten aus Leiden (Niederlande) eine „O henro san“-Pilgerfahrt dort zu Fuß.20 Ein US-Amerikaner aus Chicago flog nach Japan, um eine „O henro san“-Pilgerfahrt zu erfahren.21 ___________ 18

Kazuo Tatsuno, Shikoku henro (Shikoku Pilgerfahrt ), Tokyo 2001, S. 106. Satô, (Fn. 7) S. 161. 20 Satô, (Fn. 7) S. 217. 21 Tatsuno, (Fn. 18) S.109. Zwei US-amerikanische junge Damen zogen um in die Ehime Präfektur, um die Pilgerfahrt zu erleben. Siehe Tsukioka, (Fn. 16) S. 204 ff. 19

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Die Anzahl der Frauen ist größer als die der Männer. Man sagt, dass Frauen religiöser als Männer seien; aber der wahre Grund ist noch nicht gefunden. In jedem Bezirk von Shikoku begegnet man „Musume henro“ als Pilger. „Musume-henro“ bedeutet, dass Frauen vor ihrer Eheschließung eine Pilgerfahrt machen. Die 20- bis 40-jährigen Frauen haben wegen ihrer häuslichen Pflichten, insbesondere wegen der Kinderbetreuung, keine Zeit nach der Eheschließung zu pilgern. Die Anzahl der Frauen ist auffällig bei den Gruppenfahrten. Ältere Frauen fahren im Bus mit ihrer Schwester, Freundin, Kollegin u.a. zusammen. Bei Gruppenfahrten sollen 70 bis 80% der Teilnehmer Frauen sein.22 Fast 33 bis zu 40% der Pilger sind 60 Jahre alt, ein Drittel ist 50 Jahre und knapp ein Fünftel 70 Jahre alt.23 Pensionäre und Rentner begeben sich auf Pilgerfahrten, weil sie viel Zeit haben. Die Zahl der Pilger ist im Frühling am größten.24 Der 21. März ist der Jahrestag des Todes von Kôbô-Daishi. Im Frühling 1969 waren es 63,8 %, im Sommer 11,4%, im Herbst 21,9 %, im Winter schließlich nur 2,9%. Im Frühling 1989 waren es 39,6 %, im Sommer 15,9%, im Herbst 34,6 % und schließlich im Winter 9,9 %. Der Frühling ist für Reisende auch die beste Jahreszeit: Das Klima ist mild und die Temperatur angenehm. Das Wort „Shikoku“ besteht aus zwei Schriftzeichen „Shi“ und „Koku“. Es bedeutet vier Länder. Der Laut „Shi“ kann aber auch mit verschiedenen anderen Schriftzeichen geschrieben werden, nämlich z.B. als Poesie, womit „Shikoku“ als „Poesieland“ avanciert.25

5. Häufigkeit der „O henro san“-Pilgerfahrt Je mehr Mühe sich der Pilger zur Erreichung seines Ziels gibt, umso zufriedener wird er. Deshalb wird die Pilgerfahrt gern wiederholt. Einer Statistik26 nach macht die einmalige Pilgerfahrt 58,6 % aller Fälle aus, die zweimalige 20,6 %, die dreimalige 7,9 %, die vier- bis neunmalige 7,5%, und die mehr als zehnmalige immer noch 5,4 %. In der Edo-Zeit hat es der buddhistische Priester Shin-nen über zwanzigmal erreicht und darauf sein Buch „Shikoku henro michi shinan“ (Einführung in die Shikoku-Pilgerfahrt) gegründet. Herr Mohē Nakatsukasa machte vom Ende der Edo-Zeit, während der Meiji-Zeit und zu Beginn der Taishô-Zeit 279-mal die Pilgerfahrt, der asketische Buddhist Mitsuharu aus ___________ 22

Satô, (Fn. 7) S. 217 ff. Satô, (Fn. 7) S. 219 ff. 24 Satô, (Fn. 7) S. 171 ff. 25 Der Titel der Reiseberichte von Hosoya, (Fn. 17). 26 Satô, (Fn. 7) S. 224 ff. 23

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Togakushi/Shinano schaffte es 199-mal, ein Herr Kichigorô aus Bitchû 162mal.27 Auch heute gibt es einige, die die Pilgerfahrt mehr als 100-mal zurückgelegt haben. Tatsächlich ist die mehrfache Ausübung charakteristisch für die „O henro san“-Pilgerfahrt.28 Warum will man mehrfach pilgern? Es gibt kein natürliches Ende von asketischen Praktiken; jede asketische Tätigkeit gilt als unvollständig. Wer alle 88 Tempel schon einmal besucht hat, möchte die Pilgerfahrt wiederholen, weil er sich davon eine gesteigerte geistige Befriedigung verspricht. Wer es mindestens viermal geschafft hat, kann zum „O sendatsu san“ (Leiter, Führer) avancieren; die „Shikoku 88 kasho reijôkai“ (Sozietät für „O henro san“-Pilgerfahrt) verleiht eine solche Stellung. Es gibt verschiedene Stufen der Ehrung: die Höchste heißt „Tokunin sendatsu“ (Extragroßleiter), die zweithöchste „Dai sendatsu“ (Großleiter), die dritthöchste „Gon dai sendatsu“ (Quasigroßleiter), die vierhöchste „Chû sendatsu“ (Mittelleiter), die fünfhöchste „Gon chû sendatsu“ (Quasimittelleiter). Es gibt also eine deutliche Hierarchie.

6. Route Die Route nach Santiago di Compostela ist gekennzeichnet durch die Überschreitung des Höhenzuges der Pyrenäen, etwa Paris – Bordeaux – Ostabat – St. Jean Pied de Port – Puenta la Reina – Burgos – León – Santiago de Compostela. Pilger sollen keinem anderen Kurs folgen. Man darf aber die Strecke von Paris bis Ostabat ersetzen durch andere Strecken (Vézelay – Nevers – La Châtre – Limoges – Périgueux – Ostabat; Le Puy – Espalion – Conques – Figeac – Cahors – Moissac – Condom – Ostabat; Arles – St. Guilhem le Désert – Toulouse – Auch – Oloron – Ostabat u.a.).29 Die „O henro san“-Pilgerfahrt weist die Charakteristik auf, dass die 88 heiligen Orte grundsätzlich im Uhrzeigersinn der Reihe nach zu besuchen sind. Dabei bilden die in derselben Präfektur befindlichen Tempel jeweils eine Einheit. Ingesamt bestehen vier Einheiten: Die 23 Tempel in der Präfektur Tokushima bilden eine Einheit für die Einführung in asketische Praktiken („Hosshin“), ebenfalls die 16 Tempel in der Präfektur Kôchi („Shugyô“). Die 26 Tempel in der Präfektur Ehime bilden eine Einheit für den Gang zum Paradies („Bodai“) und die 23 Tempel in der Präfektur Kagawa schließlich eine Einheit zur Achtung des Todes von Buddha („Nehan“).

___________ 27

Satô, (Fn. 7) S. 225 f. Mein 74-jähriger Vetter machte schon sechsmal die „O henro san“-Pilgerfahrt. Er will weiter pilgern. 29 Fumi Dan, Munehiro Ikeda, Midori Igarashi u.a., Santiago junrei no michi (Route für die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela), Tokyo 2002. 28

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Ausgangspunkt ist der Ryôzenji-Tempel mit der Nummer 1 in der Präfektur Tokushima.30 Der Endort ist der Ôkuboji-Tempel mit der Nummer 88 in der Präfektur Kagawa.31 Diese Reihenfolge ist schon vorgestellt in den im 18. Jahrhundert publizierten Pilgerfahrtsreiseführern. Der Besuch bei allen 88 Tempeln in Uhrzeigersinn – jeweils nur einmal – heißt „Tôshi uchi“ (Pilgerfahrt in normaler Reihenfolge).32 Kôbô-Daishi entschied das schon so im Jahr 815. Zu ergänzen ist aber, dass der erste Tempel auch der erste Zielort war, wenn der seinerzeitige Pilger mit dem Schiff von Ôsaka oder Wakayama zur Insel Shikoku reiste.

IV. Verhalten Für die Pilgerfahrt gibt es viele Regelungen. Weil es sich um eine nicht alltägliche Aktivität handelt, werden diese Regeln viel stärker befolgt als normal. Das Ziel, religiöse Zufriedenheit zu erreichen, fördert außerdem eine ungewöhnliche Treue zu den traditionellen Regeln. Sie umfassen die Kleidung und den Ablauf im Einzelnen.

1. Kleidung und mitgeführte Gegenstände Wie schon gesagt, wird der Pilger aus weltlicher Sicht als „Verstorbener“ angesehen. Er soll daher weiße Kleidung („Hakue“, „Shiro shôzoku“) als Zeichen der Verstorbenen tragen. Diese Kleidung versinnbildlicht die Verneinung des sozialen Daseins. Status und Stellung des Pilgers bleiben unberücksichtigt, weil alle Pilger vor Buddha gleich sind. Pilger setzen sich einen aus Rohr geflochtenen Hut mit dem Namen „Suge gasa“ auf, um sich vor starkem Sonnenschein, Wind und Regen zu schützen. Außen an den Hut sind verschiedene religiöse Texte geschrieben. „Dôgyô ninin“ bedeutet, dass man immer mit KôbôDaishi zu zweit pilgert, so dass keine Einsamkeit aufkommt. Die Pilger hängen eine abgetragene violette Ringrobe („Wa gesa“) über ihre Schulter. Dabei handelt es sich um eine vereinfachte Kleidung der buddhistischen Priester. Die halten eine Bergkristallkette („Juzu“) – ähnlich einer Perlenkette – in einer Hand. Sie ist eine „Rechenmaschine“, mit der durch Perlen die Häufigkeit eines Gebe___________ 30 Der Ryôzenji wurde von dem Priester Gyôki zwischen 729 und 749 errichtet. Kôbô-Daishi fertigte die Buddhastatur im Tempel. In der Nähe liegt das Deutsche Haus der Stadt Naruto, in dem der gefangenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs gedacht wird. 31 Ôkuboji liegt auf einem Berg 787 m über dem Meeresspiegel. Der Tempel wurde ebenfalls vom Priester Gyôki zwischen 717 und 723 gegründet. 32 Nakayama, (Fn. 12) S. 40.

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tes zu Buddha gezählt wird. Pilger besitzen einen quadratischen Wanderstab mit dem Namen „Kongô zue“ (Symbol der Pilger)33. Auf dessen Oberfläche sind vier von Kôbô-Daishi ausgewählte Wörter („Hosshin“, „Shugyô“, „Bodai“ und „Nehan“) geschrieben. Sie bedeuten eine Inkarnation oder das andere Selbst des Kôbô-Daishi. Der Stock wird als Grabmal benutzt, wenn der Pilger auf der Fahrt stirbt. Alle diese Gegenstände finden in täglichen Leben keine Verwendung. Ferner führen die Pilger einen Schulter-Sack („Zuda bukuro“) mit sich, in dem einige andere Gegenstände verstaut sind. An erster Stellte ist zu erwähnen das „Kyôten“ oder „Kyôhon“ (Das heilige Buch der buddhistischen Pilger: „Han-nya shingyô“, „Jûsan butsu shingon“ u.a.). Bei verschiedenen Gelegenheiten wird daraus eine Sutra laut rezitiert. Als Nächstes finden sich im Gepäck Papierblätter in einer bestimmten Farbe; diese tragen den Namen „Osame fuda“. Darauf sind Namen und Adresse der Pilger angegeben. Abhängig von der Zahl der vollständig vollendeten Pilgerfahrten werden verschiedene Farben nach den so genannten sechs Wegen benutzt: weißes Papier für die 1. bis 4. Pilgerfahrt, grünes bei der 5. bis 7., rotes bei der 8. bis 24., silbernes bei der 25. bis 49.; goldenes bei der 50. bis 99. und schließlich brokat ab der 100. Pilgerfahrt. Die benutzten Farben stammen wahrscheinlich von den Farben der abgetragenen Schulterroben der Priester. Drittens ist das Stempelbuch mit Namen „Nôkyôchô“ mit dabei. In ihm wird für jeden besuchten Tempel nach der lauten Rezitation einer Sutra ein roter Stempel eingedruckt. Das Stempelbuch dient als Beweis für den Besuch des jeweiligen Tempels. Der vierte Gegenstand ist eine kleine Glocke mit dem Namen „Ji rei“. Bei der Rezitation einer Sutra vor einem Tempel oder auf dem Weg klingeln die Pilger damit. Die Töne schützen gegen das Böse, sie sind außerdem Begleitmusik beim Sinnen der buddhistischen Hymne mit dem Namen „Go eika“ u.a. Mitgeführt werden ferner Kerzen sowie ein Weihrauchstäbchen. Sie erleuchten die Dunkelheit auf dem Weg; sie sind zugleich Zierde für buddhistische Zeremonien.

2. Besuchsreihenfolge im Tempel Der Pilger tritt auf als Einzelner, mit der Familie, in der Gruppe oder in der Masse. Typisch sind Familien- und Gruppenpilger. Etwa 30 % aller Pilger sind Gruppenpilger, Ehepaare kommen auf 28,8 %34, die Pilgerfahrt mit Freunden ___________ 33 Der Pilgerstock des Moses hat Wasser aus einem Stein geschlagen, Wasser in Blut verwandelt, das Meer geteilt, hat Donner und Hagelschauer gebracht. Der Stock ist ein Symbol der Führer. Nach dem Buch Genesis hat der einbeinige Prophet Jakob immer einen Stock bei sich. Das ist das Symbol für die Stütze im Leben. 34 Satô, (Fn. 7) S. 231 ff.

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liegt bei 10,2 %, zwei Ehepaare zusammen sind in 6,9 % der Fälle zu finden. Der Einzelpilger ist selten, weil man die Einsamkeit vermeiden will. 48,1 % sind Anhänger des Shingon-Buddhismus. Das liegt am Gründer der Shingon-Sekte, Kôbô-Daishi. Mehrere zur Shingon-Sekte gehörige Tempel veranstalten Gruppenreisen wie ein Reisebüro. Aber auch Gläubige anderer Sekten wie Jôdo shinshû (21,2%), Zenshû (9,6 %), Jôdoshû (6,5 %), Tendaishû, Nichirenshû u.a. pilgern. Die Pilgerfahrt ist eine Form asketischer Praxis; das jedenfalls ist das Grundmodell. Vorbild dafür ist Kôbô-Daishi. Im Tempel geht man durch das Haupttor zur Haupthalle, betet die dortigen Idole an und legt das „Osame fuda“-Papier mit Namen, Adresse, Datum, Pilgerfahrtkurs und Wünschen in einen bereitgestellten Kasten hinein. Vor der Haupthalle schließt man die Hände, betet und rezitiert eine Sutra („Han-nya shingyô“, „Kômyô shingon“, „Daishi hôgô“, „Ekôbun“ usw.) laut. Danach geht man in das Tempelbüro, bezahlt einen Betrag in Höhe von 500 bis 1.000 Yen und erhält den roten Stempel („Shu in“, „Nokyô in“) in das Stempelbuch gedruckt. Früher wurden selbstgestaltete Buddhastatuen, selbstgeschriebene Sutrakopien u.a. geopfert. Anstelle dieser lästigen Arbeit gibt es heute eine einfachere Form: eine phonetisch-japanische Lesung der in Sanskrit geschriebenen Sutra. Der rote Stempel entspricht einem Reisepass zum Glücksland, wie etwa dem Himmel. Er stellt das andere Selbst der Idole des Tempels dar und bietet Schutz als ein Talisman gegen das Böse. Bei wiederholten Besuchen wird der rote Stempel jeweils auf dieselbe Seite des Stempelbuches gesetzt, nur gegen den vorherigen Stempel leicht versetzt. Je mehr rote Stempel auf einer Seite, desto höher also der Wert. Das Stempelbuch gilt als Hüter der ganzen Familie neben Stammbuch und Familientodesregister. Verstirbt ein Pilger, wird das Stempelbuch mit in den Sarg gelegt, damit er wieder eine Reise zur anderen Welt mit Kôbô-Daishi gehen kann. Wichtig ist es, dass der Pilger nach den vorbeschriebenen religiösen Aktivitäten die Hymne des Tempels singt. Sie ist ein 31-Silben Gedicht mit eigenartiger Melodie. Das Gedicht, das aus fünf Teilen von jeweils 5, 7, 5, 7 und nochmals 7 Silben besteht, ist Buddha gewidmet. Damit treten Verstorbene in das Nirwana ein. In der buddhistischen Welt gilt, dass Wörter, Gedichte sowie Gesänge besondere Beschwörungskräfte haben. Alle 88 Tempel haben eine eigene Hymne. Der 1. Tempel (Ryôzenji) hat die Folgende: Ryo o za n no sha ka no mi ma e ni me gu ri ki te yo ro zu no tsu mi mo ki e u se ni ke ri”

Ich konnte endlich vor dem heiligen Buddha im Ryôzenji-Tempel stehen. Es ist für mich ein Glück. Mit dem frommen Beten konnte ich mich hoffentlich von allen Vergehen reinigen.

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Der 6. Tempel (Anrakuji) hat folgende Hymne: Ka ri no yo ni chi gyo o a ra so u mu yak u na ri a n ra ku e n no shu go o no zo me yo

Alle Gegenstände in der weltlichen Gesellschaft sind für Menschen vergänglich. Stellung, Erfolg, Ehre, Luxus u.a., alle werden sofort verschwinden. Jeder Streit um irgendeine Herrschaft ist sinnlos. Man muss so beten, dass man im buddhistischen Paradies leben kann.

3. Verhaltensrichtlinien für „O henro san“-Pilger Der Pilger zeichnet sich aus durch drei Glaubensbekenntnisse: Asketische Praktiken führen zum Glauben; keine Klagen, weil alle Schwierigkeiten von Buddha aufgegebene Prüfungen sind; die 88 weltlichen Wünsche sind aufzugeben. Er muss den 10 Regeln gehorchen, um weltliche Schwierigkeiten zu vermeiden und um in den Himmel zu kommen. Die Regeln 1 bis 3 enthalten Ermahnungen an das Verhalten: man darf keine Kreatur töten; man darf keine Sache stehlen; man darf nicht lasziv sein. Die Regeln 4 bis 7 enthalten Ermahnungen an das Sprechen: man darf nicht lügen; man darf nicht übertreiben; man darf nichts Schlechtes sagen; man darf nicht betrügen. Die Regeln 8 bis 10 enthalten Ermahnungen an das Gefühl: man darf nichts begehren; man darf nichts Böses wollen; man darf keine bösen Gedanken haben. Diese Regeln sind keine von Buddha einseitig gegebenen Befehle, sondern Gebote, die sich jeder Pilger selbst zu setzen hat. Der Pilger hat weiter sieben Almosen zu geben, auch wenn er materiell arm ist: zarte Augen; ruhiges Lächeln; freundliche Worte; Dienst wahren Herzens an Menschen in Schwierigkeiten; rücksichtsvolles Benehmen; Schaffung einer positiven Umgebung für andere; Einladung anderer ins eigene Zuhause. Diese Gebote stammen aus der Lehre des Buddhismus. Sie sind Richtlinien für die Entwicklung der Menschlichkeit. Um die Menschlichkeit zu entwickeln, sind ständig asketische Praktiken auf dem eigenen Lebensweg auszuüben. Dann stellt sich die Einsicht ein, dass sie gewinnbringend sind, dass dank des Schutzes und der Hilfe des Buddhas die Erfahrung wächst, und dass deshalb dem Buddha sowie allen anderen stets zu danken ist.

4. Wirkungen der Pilgerfahrt Was lässt sich durch eine Pilgerfahrt gewinnen? Im Allgemeinen wird gesagt, durch die Pilgerfahrt erreiche man zehn Tugenden: Ausweichen vor Missgeschicken (Feuer, Flut, Diebstahl u.a.); Ausweichen vor Angriffen durch Tiere,

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wie etwa schädlichen Insekten; Ausweichen vor Giften oder Strafen aufgrund nicht begangener Vergehen; Ausweichen vor Donner sowie dem Sturz vom Pferd; Ausweichen vor Fieber und Epidemie; Ausweichen vor starkem Wind sowie großen Wellen auf dem Meer und dem Fluss; Langlebigkeit und Wohlstand für die Nachkommen; Schutz durch jedes buddhistische Idol; Erfüllung verschiedener Wünsche; Reinigung von Vergehen, sowie Himmelfahrt. Die „O henro san“-Pilgerfahrt besteht aus vier Toren: „Hosshin“, „Shugyô“, „Bodai“ und „Nehan“. Der Pilger kann durch diese vier Tore in die Welt des Buddhas eintreten. Jedesmal wenn er ein Tor durchschreitet, erreicht er eine höhere Stufe. Der eigentliche Buddha hat sich angeblich im Osten dazu entschieden, die Wahrheit zu erkennen, er hat sich im Süden asketischen Praktiken gewidmet, im Westen hat er das Verständnis der Realisierbarkeit erlangt und im Norden hat er seinen Charakter vervollständigt. Die Präfektur Tokushima liegt im Osten der Insel Shikoku, die Präfektur Kôchi im Süden, Ehime im Westen und Kagawa im Norden. Die vier Präfekturen versinnbildlichen deshalb die verschiedenen asketischen Praktiken „Hosshin“, „Shugyô“, „Bodai“ und „Nehan“.

5. „O settai“ „O settai“ ist ein in der japanischen Sprache mehrdeutiger Begriff: Dankbarkeit, Dienst, Empfang, Glauben, Hilfe, Wohltätigkeit u.a. Ortsansässige Personen offerieren beispielsweise den Pilgern verschiedene Güter und Dienstleistungen: Lebensmittel, weltliche und religiöse Gegenstände, Unterkünfte usw. Dies wird als Akt der Wohltätigkeit bewertet, weil keine Gegenleistung verlangt wird. Pilger sind Diener Buddhas. Für die Ortsansässigen ist es ein eigener religiöser Wert, den Bedarf von Pilgern zu decken. Das gilt insbesondere, wenn sie selbst nicht pilgern können: Die Deckung des Bedarfs der Pilger ersetzt die eigene Pilgerfahrt. Pilger, die „O settai“ erhalten, sollen die Gaben gerne annehmen und dürfen sie im Prinzip nicht verweigern, weil die Annahme selbst eine religiöse Tat ist. Pilger sollen ihren Gastgebern deshalb ein Blatt von ihrem „Osame fuda“-Papier geben. „O settai“ ist die japanische Form der „Gemütlichkeit“. Es unterstützt die Entwicklung der Pilgerfahrt in Shikoku, weil die Pilger ohne Sorge über Lebensmittel, Verkehrsmittel, Übernachtungen u.a. sich ihren asketischen Praktiken hingeben können. Die auf ihrer Fahrt in den Genuss von „O settai“ Gekommenen sollen anderen Pilgern „O settai“ weiter geben. In den angrenzenden Präfekturen Wakayama, Okayama und anderen bestehen viele Gruppen mit dem Namen „Settai kô“ (Zusammenschluss für „O settai“-Aktivisten), deren Mitglieder regelmäßig nach Shikoku gehen und dort den Pilgern „O settai“ (z.B. in Form von Reis, Reiskuchen, Orangen als besondere Produkte von Wakayama, Strohsandalen usw.) gewähren. Sie haben sogar gelegentlich verstorbene Pilger

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betreut, ein Grab bestellt und eine Beerdigung abgehalten. Nur selten gibt es Betrug durch Bettler, die sich der Dienste dieser Gruppen bedienen, ohne Pilger zu sein.35

6. Ende der Pilgerfahrt Hat man alle 88 Tempel mit den richtigen religiösen Handlungen absolviert, endet die „O henro san“-Pilgerfahrt. Danach wird ein Zusatzkurs geplant.36 Der Kurs heißt „Orei mairi“ (Sonderfahrt aus Dankbarkeit für Buddha). Man weiß nicht genau, woher der Zusatzkurs kommt, ob er religiösen oder gewerblichen Motiven entspringt. Jedenfalls dient er dem Dank für die problemlose Beendigung der Pilgerfahrt, weil man unter dem besonderen Schutz des Buddhas stand. Die Zielorte des Zusatzkurses sind Kôyasan-oku-no-in, der höchstrangige Tempel der Shingon-Sekte, der in der Präfektur Wakayama liegt, Shikoku-88kasho-sô-oku-no-in (Yodaji), oder der zuerst besuchte Tempel der 88er Pilgerfahrt (Ryôzenji). Dort werden der Wanderstab oder eine andere Gabe in Dankbarkeit gewidmet. Mitunter wird der Wanderstab oder anderes auch dem 88. Tempel Ôkuboji als dem letzten gewidmet. Der von einem Pilger heimgebrachte Stock aber ist nach dem Tod in seinen Sarg zu legen, damit er mit diesem Stock die Reise zur anderen Welt antreten kann. Nach dem Ende des zusätzlichen Kurses kehrt man von der nicht alltäglichen Welt zur täglichen Welt zurück. Die „Wiedergeburt“ feiert man gelegentlich mit großartigen Mahlzeiten. Das entspricht in etwa dem islamischen Ramadanabschluss.

V. Vervielfachung des Zwecks Zweck der „O henro san“-Pilgerfahrt in der von Kôbô-Daishi begründeten Form war die asketische Praxis. Die Priester wollten sich geistig und körperlich harten Aufgaben und Prüfungen unterziehen und dadurch ein Gefühl der Leistung bekommen. Je schwieriger die Aufgabe war, desto höher das religiöse Verdienst. Diesen Zweck verfolgen nur noch 35,4% der Teilnehmer.37 Andere Zwecke sind: Glaube an den Shingonshû-Buddhismus, Gebet um Heilung von schwerer Krankheit, Buße nach dem Bekennen einer Sünde auf dem Lebensweg, Gefühl der Dankbarkeit für alles, Übung des Verstandes und Erhaltung der ___________ 35

Satô, (Fn. 7) S. 69 f. Nakayama, (Fn. 12) S. 50 f. 37 Satô, (Fn. 7) S. 221. 36

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Gesundheit, Lösung von geistigen und emotionalen Schmerzen, Befreiung von Lasten des Alters wie Einsamkeit, Todesfurcht u.a. Die heiligen Orte liegen in steilen Bergen und an unbewohnten Stränden. Es gibt größere und kleinere Flüsse, die das Gehen erschweren, wenn es stark regnet, obwohl Straßen und Beförderungsmittel bestehen und Reiseführer publiziert sind. Für die Älteren ist die Pilgerfahrt deshalb schwierig; sie benutzen deshalb in neuerer Zeit verschiedene Transportmittel. Damit wurde die „O henro san“-Pilgerfahrt langsam zu einem weltlichen Ereignis. Die heiligen Tempel haben sich zu einer Sehenswürdigkeit gewandelt. Die Pilgerfahrt dient deshalb zumindest zwei Zwecken: dem Glauben und der Besichtigung. Beide sind schwer miteinander vereinbar. Touristische Pilgerfahrten machen schon ca. 26,5 % aus.38 Den Zweck der Horizonterweiterung nennen immerhin noch 15 %. Die Zahl der „Stempel-Sammler“ steigt ständig. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Japan ein „Wirtschaftswunder“, aber die moralische Bildung der jungen Menschen blieb zurück. Der Stillstand des Wirtschaftswachstums hat den Absturz der traditionellen Moral, die Zunahme von Verbrechen, die geistige Verarmung und Unzufriedenheit offengelegt. Die „O henro san“-Pilgerfahrt wurde sogar Thema von literarischen Werken39 und von Fernsehfilmen.40 Sie erscheint dort als ein attraktives Phänomen ohne religiösen Gehalt, als eine Mode. Trotzdem veränderte die „O henro san“-Pilgerfahrt das Bewusstsein eines Teilnehmers, selbst bei einer verkürzten Pilgerfahrt. Deshalb nennt man die „O henro san“-Pilgerfahrt gelegentlich auch „O shikoku byôin“ (das heilige Krankenhaus Shikokus) oder „O shikoku daigaku (die heilige Universität Shikokus)“. Angenehme Stimmung, reiche Natur, Anknüpfen von Freundschaften erwecken gute Erinnerungen.

VI. Vervielfachung des Verhaltens Bewundernswert ist die große Flexibilität in der japanischen Kultur. Das lässt sich auch an der „O henro san“-Pilgerfahrt erkennen. Es gibt viele Wahlmöglichkeiten. Die Fahrt vom 1. Tempel Ryôzenji bis zum 88. Ôkuboji heißt ___________ 38

Satô, (Fn. 7) S. 221. Als Schriftsteller oder Poeten sind die Folgenden zu nennen: Naoya Shiga („An-ya kôro“), Shiki Masaoka („Kanzan rakuboku“), Masuji Ibuse („Henrou Yado“), Torahiko Tamiya („Ashizuri misaki“), Seichô Matsumoto („Suna no utsuwa“), Masako Bandô („Shikoku“), Fujiko Sawada („Henjô no umi“); Akira Hayasaka, („Hana henro“) u.a., siehe Nakayama, (Fn. 12) S. 118. 40 Besonders bekannt ist der von dem Sender Nippon Hôsô Kyôkai 1985 im Fernsehen ausgestrahlte Film „Hana henro“ (Blumenpilgerfahrt). Er beruht auf der Autobiographie des 1929 geborenen Schriftstellers Akira Hayasaka. Nakayama, (Fn. 2) S. 118 u.a. 39

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„Jun uchi“ (Fahrt nach der ursprünglichen Reihenfolge); der Kurs vom 88. Tempel Ôkuboji bis zum 1. Tempel Ryôzenji wird im Gegensatz dazu als „Gyaku uchi“ (Fahrt in umgekehrter Reihenfolge) bezeichnet. Es gibt die Legende, dass man Kôbô-Daishi treffen kann wenn man „Gyaku uchi“ reist, weil Kôbô-Daishi nach „Jun uchi“ pilgert.41 Der letztere Kurs ist nur geeignet für Erfahrene, weil es viele geographisch schwierige Stellen gibt. Aber es gibt auch ganz andere Kurse, z.B. die mit dem Schiff aus Kyûshû. Sie beginnt im Hafen von Yawatahama/Ehime mit dem 43. Tempel Meisekiji42 und endet im Uhrzeigersinn via die Präfekturen Kagawa, Tokushima und Kôchi im 44. Tempel Daihôji43 in der Präfektur Ehime. Ist die vollständige Pilgerfahrt aus verschiedenen Gründen (Zeit, Geld, Gesundheit usw.) schwierig, wird eine Teilpilgerfahrt empfohlen. Davon gibt es viele. Als „Kugiri uchi“ (verteilte Pilgerfahrt), „Ikkoku mode“ oder „Ikkoku mairi“ (Fahrt nur in einer Präfektur) werden die 23 Tempel allein in der Präfektur Tokushima, die 16 Tempel in der Präfektur Kôchi, die 26 Tempel in der Präfektur Ehime und die 23 Tempel in der Präfektur Kagawa besucht. Als „Bunkatsu junrei“ oder „Ichibu junrei“ (unterteilte Pilgerfahrt) sind die auf bestimmte Zahlen (z.B. 7, 10, 13, 17 u.a.) festgelegten Tempel zu besuchen. Als „Chika mairi“ gilt die Fahrt zum benachbarten Tempel. Die Wahl des Kurses, die Reihenfolge der Tempel, die Aufenthaltszeit u.a. ist also sehr flexibel. Angeboten werden auch Tagestouren per Reisebus aus der Kansai-Ebene. Schließlich ist „Utsushi junrei“ (eine Kopie der Pilgerfahrt) zu erwähnen. In den meistem Teilen Japans gibt es am Shikoku-Original angelehnte Routen44 Sie bieten Kopien der eigentlichen Symbole (Idole, Namen, Nummern, Hymnen usw.). Die Kopien haben drei Bedeutungen oder Aufgaben: – Ersatz: Es lässt sich ein ähnliches religiöses Gefühl wie auf der eigentlichen Pilgerfahrt erfahren (in der Edo-Zeit war die Reise in andere Landesteile verboten); – Simulation: Es lässt sich eine Probe für die eigentliche künftige Pilgerfahrt machen und – Erinnerung: Es wird erinnert an die harte und schwierige Originalfahrt.

___________ 41

Nakayama, (Fn. 12) S. 130. Meisekiji wurde zwischen 539 und 571 gegründet. 43 Daihôji wurde 701 eröffnet. 44 Nakayama, (Fn. 12) S. 148 ff. 42

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VII. Erfahrungen Viele Reiseberichte wurden publiziert.45 Ich möchte einige vorstellen. Ein Journalist hatte im Alter von 44 Jahren eine „O henro san“Teilpilgerfahrt in Shikoku gemacht und 39 Tempel besucht, um einen Zeitungsartikel zu schreiben.46 Seither wuchs sein Bedürfnis, nach der Pensionierung eine vollständige „O henro san“-Pilgerfahrt zu machen. Im Alter von 68 Jahren schließlich besuchte er alle 88 Tempel in sechs Teilpilgerfahrten. Als Zusatzkurs bestieg er den höchsten Berg Shikokus, Ishizuchisan, mit 1.982 m Höhe. Wir hören ein Lob der Natur. Eine 24-jährige Frau wollte auf dem Weg ihr Musikinstrument, ein Shamisen, spielen.47 Dieses Instrument spielten früher blinde Frauen, um damit Geld zu verdienen. Die Frau erpilgerte in etwa zwei Monaten alle 88 Tempel zu Fuß. In jedem Tempel widmete sie Buddha jeweils eine musikalische Aufführung. Als Ernte der Pilgerfahrt empfing sie Ideen für eine musikalische Komposition. Ein 23-jähriger Schriftsteller erpilgerte die 88 Tempel ebenfalls zu Fuß.48 Mit 37 Jahren wiederholte er die Fahrt. Religiöse Zufriedenheit stellte sich bei ihm nicht ein. Trotzdem genoss er beide Reisen sehr. Er hat sich darüber gefreut, auf dem Weg neue Freunde kennenzulernen. Eine 53-jährige Frau erwanderte die 88 Tempel in 69 Tagen.49 Sie glaubte nicht an den Buddhismus, sondern wollte lediglich den weiten Weg laufen. Nach ihrer Ansicht ist die Route der „O henro san“-Pilgerfahrt klar und stufenförmig; sie schafft ein einfaches Leistungsziel. Auf der Fahrt fragte sie niemand, ob sie dem buddhistischen Glauben anhängt oder warum sie pilgert. Nach der Pilgerfahrt blieb die Freude darüber, die Natur erlebt zu haben.

___________ 45

Hosoya, (Fn. 17), Tokyo 1999; Tatsuno, (Fn. 18), Tokyo 2001; Tsukioka, (Fn. 16), Tokyo 2002; Kôichi Kagayama, O henro nyûmon – Jinsei koromogae no tabi (Einführung in die „O henro san“-Pilgerfahrt: Eine Reise für „Kleidungsveränderung“ auf dem Lebensweg), Tokyo 2003; Nobuharu Takeda, Henro de manabu ikiru chie (Die durch die „O henro san“-Pilgerfahrt erlernte Weisheit vom Leben), Tokyo 2004; Hiroshi Yokoi, Jun aruki henro no susume (Empfehlung für eine Pilgerfahrt mit Transportmitteln), Tokyo 2005. 46 Tasuno, (Fn. 18) S. 2 ff. 47 Tsukioka, (Fn. 16) S. 17. 48 Kagayama, (Fn. 45) S. 226 ff. 49 Hosoya, (Fn. 17) S. 412.

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VIII. Bedeutungen im modernen Leben Welche Bedeutungen hat die „O henro san“-Pilgerfahrt im modernen Leben Japans? Religiös asketische Praktiken sind erhalten geblieben, manchmal ist die Pilgerfahrt indes zu einer Besichtigungstour abgesunken. Viele Reiseberichte, Reiseführer, Fotosammlungen, literarische Werke und Fachzeitschriften werden publiziert, und große Buchhandlungen haben oft Sonderabteilungen dafür. Auch Videos, einschlägige Notizbücher und Straßenkarten werden überall verkauft. Einige Pilger erflogen 1998 per Hubschrauber die 88 Tempel in drei Tagen und sprachen in der Luft jeweils ein Gebet zu Buddha. Insgesamt kostete das 880.000 Yen. Religionslehrer kritisieren diese Tendenz scharf. Der Hauptpriester eines Tempels wird zum Manager zwischen Religion und Wirtschaft. Aber für die Tempel wird der finanzielle Aspekt immer wichtiger. Viele Bürger kritisieren, dass die moderne Pilgerfahrt eine Heuchelei ohne Glauben sei. Ungewöhnlich war, dass ein Kritiker trotzdem die Pilgerfahrt auf sich nahm und gute Eindrücke bekam. Für den Buddhismus in Japan im Ganzen ist problematisch, dass nur die Anzahl der Teilnehmer der „O henro san“-Pilgerfahrt ständig steigt, die anderen Pilgerrouten aber nicht populär sind. Die moderne Pilgerfahrt tendiert mitunter zu einer Show. Man nennt sie schon „Modan Henro“ (Henro in der modernen Form). Bei „Stempelsammlern“ zweifelt man an ihrem Glauben. Die Stempelsammlung wird fast zu einer „stamp collection rally“ wie Paris-Dakar. Touristen tragen keine offizielle Kleidung sondern Freizeitstil. Fromme Menschen rufen auf zum Widerstand gegen „verdorbene Priester“; sie fordern eine Rückkehr zu den alten Praktiken.

IX. Rechtsvergleichung 1. Ausländische Fälle Die Pilgerfahrt durch Jerusalem folgt der „Via Dolorosa“; zur Buße gehen die Pilger auf der von Jesus zurückgelegten Strecke. Die Mutter des römischen Kaisers Konstantin pilgerte nach Jerusalem und Palästina nachdem Rom das Christentum im Jahre 313 offiziell anerkannt hatte. Danach wurden Jerusalem und Palästina als heilige Pilgerorte anerkannt. Die Pilgerfahrt für die Heilung von Gebrechen und zur Buße für begangene Sünden verbreitete der die heiligen Stätten verwaltenden Franziskaner-Orden seit dem 14. Jahrhundert.50 Bei der Pilgerfahrt ist in 14 Stationen zu meditieren ___________ 50

Nakayama, (Fn. 12) S. 218.

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oder zu beten. Aber viele Gläubige konnten wegen politischer, sozialer, wirtschaftlicher und körperlicher Gründe nicht pilgern. Deshalb mussten für sie an deren Wohnort Heiligenbilder und Heiligenstatuen geschaffen werden. Die berühmtesten heiligen Orte des Buddhismus in Indien sind vier: Geburtsort (Lumbinī), Verwandlungsort Buddha (Buddh-gayā), erster Predigtort (Sarnath) und Todesort (Kuśinagara) des Buddha. Auch in China gab es zwischen 960 und 1.279 Pilgerfahrten. Sie waren damals gesetzlich geregelt. Betstellen entstanden an vielen Orten. In einer Deltazone des Yangtze Flusses wurden die Schiffe für die Gruppenreisen der Bauern jedes Jahr zwischen dem 12. Februar und dem 5. Mai bereitgestellt. Die Bauern trugen blau-gelbe Kleidung mit roten Schürzen; sie führten eine rote Fahne mit sich. Die vier wichtigen Zielorte der Pilgerfahrt waren Godaisan in Shanxi (Bodhisattwa der Weisheit), Fudasan in Tchékiang (Göttin der Gnade), Gabisan in Setchouen (Sichuan) (Samantabhadra-bodhisattwa) und Kyûkazan in Anhuei (Anhui) (Schutzgottheit der Kinder).51 In Sri Lanka sind als heilige Stätten anerkannt der Tempel, der einen Zahn Buddhas aufbewahrt, und der Tempel, der den Stein mit dem Fußabdruck Buddhas schützt. In Tibet gilt die Pilgerfahrt als größtes Ziel eines jeden Lebens; je mehr man dort pilgert, desto mehr erwirbt man Tugend und Glück in der anderen Welt.

2. Ansätze zur Rechtsvergleichung Die Gewohnheiten der japanischen Pilgerfahrt geben Ansätze zur Rechtsund Kulturvergleichung. Zu erwähnen ist zuerst ein klassischer Gesichtspunkt: Übergabe und Rückgabe. „O henro san“-Pilger widmen den Göttern materielle und immaterielle Güter und die Götter geben etwas zurück, freilich in verschiedenen Formen (Überwindung eines Misserfolges, Heilung von Krankheit, Entdeckung eines Lebenszieles, wirtschaftlicher Erfolg u.a.). Es besteht nicht immer Gleichwertigkeit zwischen beiden Gaben. Auch Zahlen sind ein interessanter Ansatzpunkt, den Großfeld wiederholt betont hat.52 Die Zahl 2 bedeutet hier, dass jeder Pilger seine Pilgerfahrt zusammen mit Buddha durchführt, um kein Gefühl der Einsamkeit zu erleiden. Die Zahlen 33, 34 und 88 bedeuten jeweils die Anzahl der zu erpilgernden Tempel. Die Pilger erwerben Bergkristallketten mit dem Namen „Juzu“, die sie beim ___________ 51

Kagayama, (Fn. 45) S. 13. Bernhard Großfeld, Zeichen und Zahlen im Recht, Zahlen in Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung, 2. Auflage, Tübingen 1995, S. 28 ff., 49 ff., 197 ff.; ders., Kernfragen der Rechtsvergleichung, Tübingen 1996, S. 210 ff., 230 ff. 52

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Rezitieren der Sutren als eine „Rechenmaschine“ nutzen, um zu wissen, wie vielmal sie die Sutren schon rezitiert haben. Als weiteres Thema ist die Farbe zu nennen. In China waren blau-gelbe Kleidung und rote Schürzen zu benutzen. Japanische Pilger tragen weiße Kleidung und violette Schulterringroben. Jeder Tempel gibt allen Pilgern jeweils einen roten Stempel als Besuchsbeweis. Die Farben der „Osame fuda“-Papiere sind streng getrennt nach der Häufigkeit der Pilgererfahrung. Das nächste Thema ist die Richtung. Traditionell wird empfohlen die Reihenfolge im Uhrzeigersinn (nach rechts) vom 1. Tempel bis zum 88. Tempel. Mit Rücksicht auf die individuellen Umstände eines Pilgers ist die umgekehrte Richtung (nach links) anerkannt. Der Vorrang der rechten Richtung stammt aus dem Buddhismus Chinas.53 Das letzte Thema ist Ton und Musik. Mit dem Klingeln der Handglocke gibt der Pilger dem Buddha oder dem Idol des Tempels ein Zeichen zur Begrüßung. Vor der Haupthalle schlägt er eine fest im Tempel installierte große Glocke, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Pilger rezitiert aus dem heiligen Buch „Kyôten“ laut in kurzen regelmäßigen Intervallen. Der Pilger singt jede Hymne eines Tempels im Refrain.

X. Schluss In der traditionellen japanischen „O henro san“-Pilgerfahrt findet man den „alten und guten“ Zeitgeist Japans. Wo können wir den japanischen Zeitgeist heute finden? Unsere Gesetze und Gerichtssysteme sind durch Rezeptionen des europäischen und US-amerikanischen Rechts ziemlich stark verwestlicht.54 Unsere Rechtspraxis aber ist weniger verwestlicht, d.h. einige traditionelle kulturelle Besonderheiten leben noch. Nicht alle Juristen verstehen westliches Rechtsdenken. Die national orientierten Menschen, die keine fremden Sprachen verstehen und keinen Auslandsaufenthalt kennen, leben und arbeiten nur in der japanischsprachigen Rechts- und Richterwelt.55 ___________ 53 Nakayama, (Fn. 12) S. 32. Die linke Richtung wird gelegentlich vorgezogen. In der Nara-Zeit wurde die Stellung des „Sadaijin“ (Minister zur Linken) nach dem Muster der chinesischen Bürokratie der Tang-Dynastie eingeführt. Im Gerichtssaal setzt sich der zweithöchste Richter auf die rechte Seite des Vorsitzenden. Der Richter wird „Hidari baiseki hanji“ genannt. Siehe Mikio Tsukasaki, Migi to Hidari no hanashi (Die Bedeutung von Rechts und Links), Tokyo 2005. 54 Koresuke Yamauchi, Die Rezeption ausländischen Rechts in Japan – Beispiele aus dem Wirtschafts- und dem Familienrecht, Verfassung und Recht in Übersee 36/2003, S. 492, 501 ff. 55 Bernhard Großfeld, Kigyôhô no hensen (Wandlung des Unternehmensrechts), Vortrag an der Juristischen Fakultät der Aoyama Gakuin Universität am 5. Oktober

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Gewohnheit, Moral und Recht gelten als Kriterien für die Lösung von Streitigkeiten. Jeder formuliert einen Anspruch weil er sich bemüht, Wunsch, Verlangen, Gier, Sehnsucht usw. zu befriedigen. Ein wesentliches Ziel der Pilgerfahrt aber ist die Aufgabe der Gier. Dadurch, dass „O henro san“-Pilger ihre Gier aufgeben, wollen sie ihre geistigen und wirtschaftlichen Interessenkonflikte lösen. Hier ist ein grundlegender Faktor des japanischen Rechtsbewusstseins zu finden. Diese altmodische Denkweise wurde früher in jedem kleinen Dorf verstanden; dort gab es deshalb fast keine Streitigkeiten. Obwohl Meinungsverschiedenheiten eintreten konnten, waren sie durch gegenseitige Zugeständnisse lösbar. Das Aufgeben der Gier war und ist in Japan einziges Mittel für die Lösung von Streitigkeiten. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt der japanischen Rechtskultur.56 Trotzdem bestehen jetzt viele Rechtsstreitigkeiten im ganzen Land. Kämpfe zwischen den Betroffenen in einer Familie57, einem Unternehmen58, sogar unter Staaten59 sind an der Tagesordnung. Unsere Gesellschaft ist stark amerikanisiert (früher nur Coca Cola, McDonalds, Disneyland etc; jetzt auch lawyer, court, law school etc.). Langsam wächst deshalb wieder die Zahl der Menschen, die Interesse an „O henro san“-Pilgerfahrten zeigt. Das bedeutet einerseits Flucht aus der Wirklichkeit, andererseits eine Suche nach dem idealen japanischen Lebensstil. Heute kann man die „O henro san“-Pilgerfahrt im Fernsehen betrachten; Reisebüros schalten Werbung in jeder Touristenjahreszeit. Die berühmte Schauspielerin Sachiko Hidari pilgerte nach Heilung ihrer schweren Krankheit aus Dankbarkeit in Shikoku. Der führende Politiker der Minshutô (Demokratische Partei) Naoto Kan machte vom 15. bis zum 26. Juli 2004 eine Teilpilgerfahrt von Tokushima bis Muroto-misaki. Die „O henro san“-Pilgerfahrt ist also sehr populär.

___________ 2004, übersetzt von Hideaki Seki, Aoyama Hôgaku Ronshû (Aoyama Law Review) Bd.46 Heft 4 (2005), S.142 (131), 134 (139). 56 Koresuke Yamauchi, Was ist japanisches Recht?, in: Reinhard Bork/Thomas Hoeren/Petra Pohlmann (Hrsg.), Festschrift für Helmut Kollhosser, Bd. II, Karlsruhe 2004, S. 799 ff., 804 ff. 57 Häusliche Gewalt, Jugendkriminalität, Gewalt in der Schule u.a. 58 Das Bezirksgericht Tokyo entschied am 30. Januar 2004, dass ein ehemaliger angestellter Chemiker, Shûji Nakamura, 20 Billionen Yen als Belohnung für die Erfindung der Blaulichtdiode von seinem ehemaligen Arbeitgeber erhalten soll. Die Parteien schlossen am 11. Januar 2005 im Obergericht Tokyo einen Vergleich über die Zahlung von nur 600 Millionen Yen. 59 Es gibt territoriale Streitigkeiten zwischen Japan und China, Korea und Russland.

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Ein Gefühl wie „O settai“ habe ich selbst erfahren durch meine mehrfachen Aufenthalte in Münster. Der wiederholte kollegiale Austausch in Tokyo ließ mich ebenfalls Zufriedenheit verspüren. Herr Großfeld schrieb mir neuerdings:60 „Auf Latein sagt man: ‚Ambulando discimus‘ (‚Beim Wandern lernen wir‘ oder ‚Beim Spazierengehen lernen wir‘). Lockeres Wandern entspannt eben den Geist – und das macht frei für Begegnungen und Ideen: Die richtige Verfassung für den Rechtsvergleicher.“

Dieser Satz hat mich tief beeindruckt.

___________ 60

E-Mail vom 24. März 2005 an den Verfasser.

III. Nachruf

Helmut Kollhosser * 22.4.1934 † 30.12.2004

„Blick auf zu den Sternen, hab Acht auf die Gassen!“

Helmut Kollhosser hätte seine Verbundenheit mit der Chuo-Universität gerne ausgedrückt als Mitherausgeber dieser Festschrift. Der Tod nahm ihm die Chance, die von ihm mitbegründete menschlich-wissenschaftliche Brücke zu verstärken. Daher möchte ich versuchen, hier den „Zauber“ seiner Persönlichkeit gegenwärtig zu machen – wie er uns entgegenleuchtet aus seinen Werken im weiten Bereich des Zivilrechts und des Zivilprozessrechts.

I. Zauber Helmut Kollhosser war mit seiner Frau Olgamaria geb. Weckmann im August und September 1985 an der Chuo-Universität. Dort hielt er Vorträge über deutsches Zivilrecht. Der Besuch hat beide tief berührt. Das wissenschaftliche Gespräch, die persönliche Begegnung, die interkulturelle Neugierde, und die Einfühlung in die Schönheit der Natur hinterließen bleibende Eindrücke; die Besteigung des Fujisan wurde beiden zum „Höhepunkt“. Die Wärme, die Helmut Kollhosser in unserer Fakultät entfaltete, brachte er gleichermaßen ein in die Verbindung mit Japan. Der dortige Sinn für disziplinierte Harmonie und für friedliche Lösungen klang immer nach: „Pax optima rerum“ („Der Friede ist das Beste von allem!“). So steht der Besuch in Japan für alles, was das Besondere an Helmut Kollhosser war: Menschliche Zuwendung, lebensnahe Jurisprudenz („Rechtsklugheit“) und mitreißende Lehre.

II. Rechtsvergleichung Die Betrachtung reicht aber über das Persönliche hinaus in die Rechtsvergleichung hinein. Denn Helmut Kollhosser zeigt, wie sich die deutsche Rechts-

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kultur als „Rechtswissenschaft“ zur gelebten Ordnung entfaltet über „Honoratioren“1. Das scheint mir wichtig im Verhältnis zu Japan: Der abstrakt-logische Anspruch des deutschen Rechts mag dort eher „exotisch“ erscheinen und die Frage aufwerfen, wie er sich mit dem täglichen Leben verbindet. Entscheidend ist ein ständiges Miteinander und Ineinanderwirken, angeleitet eben durch „Honoratioren“ – und als solcher „spielte“ Helmut Kollhosser eine hervorragende Rolle: In unserer Fakultät, im akademischen „Betrieb“, in der wissenschaftlichen Diskussion und weit hinein in die Praxis.

III. Lebensprägung Juristen erhalten ihre grundlegende Rechtssicht im geographischen, kulturellen und beruflichen Raum der Eltern. Helmut Kollhosser stammt aus Volmarstein an der Ruhr, damals einem Dorf mit einigen hundert Seelen am Rande des Ruhrgebiets. Eine leicht hügelige Landschaft verbindet sich mit der Silhouette der Stahlindustrie. Kriegs- und Nachkriegszeit prägten seine Kindheit. Er war der zweite Sohn seiner Eltern Anna und Georg. Der Vater war mehrere Jahre Soldat. Er war zunächst längere Zeit vermisst, dann Kriegsgefangener in Russland; dort starb er 1947. Die Mutter führte die Bäckerei weiter – die beiden Kinder halfen ihr dabei. Die Familie lebte ganz in und von dem dörflichen Umfeld. Handwerkliche Arbeit und kaufmännische Tüchtigkeit waren die Leitsterne. Begegnungen mit vielen Menschen, die Kunst auf sie zuzugehen und in ihren konkreten Bildern zu sprechen bestimmten den Umgang. Die Erfahrung um die praktische Bewährung des Wissens brachte Helmut Kollhosser in das Studium ein. Er ging zuerst nach Köln, dann nach Mainz – und interessierte sich schon früh für das „Gewusst wie“; über Fritz Baur fand er den Weg in das Prozessrecht. Das erweist sich am Thema seiner Dissertation „Der Anscheinsbeweis in der höchstrichterlichen Rechtsprechung“ mit der er 1963 bei Josef Esser promovierte. Hieran lernte er, dass der vordergründig so anschauliche Begriff „Anscheinsbeweis“ dazu verführt, die Regeln des Beweisrechts vorschnell zu lockern. Fortan betonte Kollhosser, dass der Richter auch prozessuale Normen nur unter strengen Voraussetzungen fortentwickeln darf. Zum Lebensthema wurde die innige Verknüpfung von wissenschaftlicher Durchdringung und lebensgemäßer Umsetzung in seiner Habilitationsschrift ___________ 1 Rheinstein, Die Rechtshonoratioren und ihr Einfluss auf Charakter und Funktion der Rechtsvergleichung, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 34 (1970)1. Vgl. aber Herbert Bernstein, Rechtsstile und Rechtshonoratioren. Ein Beitrag zur Methode der Rechtsvergleichung, Rabels Zeitschrift 34 (1970) 443 .

Nachruf – Helmut Kollhosser

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„Zur Stellung und zum Begriff der Verfahrensbeteiligten im Erkenntnisverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit“. Mit ihr habilitierte er sich 1969 ebenfalls in Mainz bei Johannes Bärmann. 1970 wurde Helmut Kollhosser Professor in Münster. In Mainz hatte er seine Frau im Hörsaal kennen gelernt; sie nannte ihn „Thomas“. In Mainz war die Hochzeit, dort kamen die Söhne Peter und Philipp zur Welt. Helmut Kollhosser liebte das Hochgebirge, das ihn stets herausforderte. Nach dem Motto „semper sursum“ („immer aufwärts!“) bestieg er u. a. das Matterhorn, den Mont Blanc, den Monte Rosa und den Piz Bernina.

IV. Freiwillige Gerichtsbarkeit Der Student aus einem handwerklich-kaufmännischen Elternhaus, in dem Bilder stärker wirken als Buchstaben, steht zunächst beeindruckt aber auch verwirrt vor dem Abstraktum, als das sich ihm die Rechtswissenschaft darstellt. An die Stelle menschlicher Begegnung im Dorf tritt die Begegnung mit Buchstaben in der Bibliothek. Es bedarf Kraft, dem Wechsel standzuhalten und im Chaos die eigene Position zu finden und durchzuhalten. Der Weg dahin und das dabei gewonnene Selbstvertrauen erweisen sich an Kollhossers Zuwendung zur Freiwilligen Gerichtsbarkeit in seiner Habilitationsschrift. Dieses Gebiet ist sehr weit, es erstreckt sich über 18 Bundesgesetze und noch mehr Landesgesetze. Hinter dem so freundlich klingenden Namen verbirgt sich ein staatliches Verfahren zu vielen Angelegenheiten im Grenzgebiet zwischen Zivil- und Verwaltungsrecht; es wirkt tief herein in persönliche Bereiche. Musterbeispiele sind das Vormundschaftsrecht, das Grundbuchrecht und das Handelsregister. Es braucht Mut, sich diesem schwammigen Gebilde zu stellen, einen geordneten Ansatz zu finden und die eigene wissenschaftliche Sicht zu entwickeln. Helmut Kollhosser fand den Anfang des „Knäuels“ bei der Frage nach den „Beteiligten“: Wer ist Partei des Verfahrens (formell Beteiligter), wer wird vom Ausgang betroffen (materiell Beteiligter)? Das zwang ihn, systematische Verbindungen zu zeigen und von ihnen her Einzelfälle zu lösen. Daher stehen nebeneinander rechtstheoretische Erörterungen über die unterschiedlichen Aufgaben von Gesetzgeber und Richter, von Verfassungsrecht und einfachem Recht, von sozialer Ausgewogenheit und privatem Zurechtkommen. Den Schluss bilden klar gegliederte Thesen zur Bestimmung der Beteiligten und zu deren Rechten. Die Fülle wird zusammengehalten durch eine Sprache, die nie wissenschaftlicher wird als unbedingt nötig. Man meint eine Stimme zu hören, die uns den Weg durch das „Wirrwarr“ erzählen will. Hier bricht sich ein großer Lehrer Bahn.

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V. Schenkung/Leihe Verständlich, dass Helmut Kollhosser um die zuverlässige Umsetzung der „Wissenschaft“ in das Leben rang. Seine langjährige Tätigkeit als Richter am Oberlandesgericht Hamm belegt das (dazu unten VIII.), ebenso seine Kommentierung des Rechts der Schenkung (einschließlich des Schenkungssteuerrechts) und der Leihe in einem führenden Großkommentar über vier Auflagen hinweg (1980–2003). Die Behandlung dieser Gebiete verschafft keinen „glamour“, verlangt aber große Feinfühligkeit, weil eben der Messstab des Geldes weithin fehlt. Hellmut Kollhosser setzte Maßstäbe mit dem wiederum einfachen Satz für die Einordnung als „Schenkung“: „Der Schenker muss ärmer werden“. Das klingt banal, entfaltet aber gerade eine starke Wirkung, wie sie sein Schüler Thomas Hören in der Festschrift für Kollhosser2 am Beispiel der „open software“ darstellt.3 Es geht um den Haftungsmaßstab, wenn etwa der Quellcode von Linux gebührenfrei zur Bearbeitung offen gelegt wird. Gelten die Haftungserleichterungen des Schenkungsrechts? Lässt sich die neue Erscheinung unter alte Begriffe „quetschen“? Ganz im Sinne seines Lehrers plädiert Thomas Hören für Geduld gegenüber dem „unbändig“ Neuen; „vorgefertigte“ Systeme eignen sich nicht für eine schnelle Antwort.

VI. Westfälische Landschaft Der Sinn für das geschichtlich Gewachsene erweist sich an der Arbeit über die „Westfälische Landschaft“ (1988); sie half entscheidend mit, eine westfälische „Institution“ auf die Anforderungen moderner Finanzmärkte umzustellen. Die Westfälische Landschaft war im späten 19. Jahrhundert als Verein gegründet worden, um den ländlichen Bereich mit Kredit zu versorgen; die Darlehen waren abgesichert mit Hypotheken auf den Grundstücken der Schuldner (Hypothekenbank). Die traditionelle Rechtsform erlaubte es nicht, das Eigenkapital gemäß dem wachsenden Geschäftsvolumen zu erhöhen. War die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft möglich? Dafür gab es kein spezielles Gesetz und keinen Beispielsfall. Helmut Kollhosser fand das „Ei des Kolumbus“: Zunächst ließ sich klären, dass die bisherigen Mitglieder nicht verlangen konnten, Aktionäre zu werden. Denn Mitglieder waren sie nur solange, wie sie Schuldner waren; sie hatten eine „Benutzermitgliedschaft“ ohne weitere Vermögensrechte. Einziger Aktionär wurde statt ihrer eine Stiftung. Nach der Umwandlung erhöhte die Westfälische Landschaft das Kapital; zwei genossenschaftliche Zentralbanken übernahmen ___________ 2 3

Recht und Risiko, Bd. 2, Zivilrecht, Karlsruhe 2004. Open Source und das Schenkungsrecht – eine durchdachte Liaison?, (Fn. 2) S. 229.

Nachruf – Helmut Kollhosser

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die neuen Aktien. Die Stiftung verkaufte dann einen Teil ihrer Aktien an die neuen Mitaktionäre und benutzte den Erlös zum Aufbau des Kongresszentrums „Haus Hovestadt“, ein Schmuckstück etwas außerhalb der Stadt Münster.

VII. Versicherungsrecht Helmut Kollhosser wandte sich mit Beginn der 80er Jahre verstärkt dem Versicherungsrecht zu und zwar in beiden Hauptvarianten: Dem Versicherungsvertragsrecht und dem Versicherungsaufsichtsrecht. Deshalb heißt die ihm gewidmete Festschrift „Recht und Risiko“, und deshalb ist deren Band 1 dem Versicherungsrecht gewidmet. Im Mittelpunkt steht die sorgfältige und entsagungsvolle Kommentierung in dem jeweils führenden Kommentar dieser Rechtsgebiete über drei Auflagen hinweg (1992–2004). Wieder ist es die Begegnung mit Fällen aus der Praxis; sie spornten ihn an, die systematischen Zusammenhänge aufzudecken und damit der Praxis zu dienen. Das verlangt Überblick und Disziplin. Noch mehr kam hinzu: Die Kunst der Begegnung und der Führungskraft. Helmut Kollhosser gründete zunächst den Münsterischen Versicherungstag und danach die Münsterische Forschungsstelle für Versicherungswesen. Beide verdanken ihre Blüte seiner Fähigkeit zur Integration und seiner steten Neugierde nach neuen Themen. Münster gelangte so an die erste Stelle in diesem Fachgebiet.

VIII. Oberlandesgericht Helmut Kollhosser war von 1974–1989 Richter im Nebenamt am Oberlandesgericht Hamm; er berichtete darüber 1994 in der Festschrift für Hans Kiefner. Dies waren seine großen Lehrjahre für die Umsetzung der abstrakten Rechtswissenschaft in eine lebensnahe Jurisprudenz. In einem Senat mit bis zu sechs Richtern war er vor allem zuständig für Berufungen in Versicherungsund Banksachen. Er sah Stärken und Anfechtungen des Richteramtes. Das beginnt mit der Schwächung der richterlichen Unabhängigkeit durch Rücksicht auf eine Beförderung. Der Druck ist deshalb groß, weil der Vorsitzende Richter seine Beisitzer regelmäßig in einem Zeugnis beurteilen muss. Das kann diese verleiten, ihren Standpunkt nicht so zu vertreten, wie sie es eigentlich für richtig hielten. Da Helmut Kollhosser als Professor „nicht beförderungsfähig“ war, konnte er seine Unbefangenheit voll einbringen. Sein Fazit: „An die Führungskunst, Selbstdisziplin und Objektivität des Vorsitzenden eines Spruchkörpers bei Ge-

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richt sind höchste Ansprüche zu stellen“. Ihnen wollte er auch als Professor gerecht werden. Für „Rechtskunst“ steht seine Darstellung eines Streites zwischen einem Putenzüchter und einem Putenschlachter. Die Akte war schon in der ersten Instanz beim Landgericht sehr dick geworden. Bei der mündlichen Verhandlung traten beide Parteien an den Richtertisch und sagten wie aus einem Mund: „Die Sache war an sich ganz einfach, bis sich die Anwälte da reingehängt haben“. In einem Gespräch wurde die „verwickelte“ Sache „entwickelt“ bis auf den Kern hin. Nach einer Stunde war der Streit durch Vergleich beigelegt. Ein souveräner, demütig dienender Richter mit „gesundem Menschenverstand“ oder – sagen wir – mit lebensnahem Gerechtigkeitsgefühl.

IX. Harry Westermann Das Bild Helmut Kollhossers tritt uns auch entgegen in seinen Würdigungen (1994 und 1997) von Harry Westermann (1909–1986). Mit dieser „Leitfigur“ der Fakultät hatte er siebzehn Jahre eng zusammengearbeitet im Vorstand des Vereins zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität. In Harry Westermann sah er den klassischen Dreiklang von Forscher, Lehrer und Rechtsgestalter. Er hebt hervor die Einsatzbereitschaft, die frische Sprache, die Offenheit und den Humor. „Wenn der Pulverdampf dann verraucht war, war die Luft auch wieder rein“: Das Gespräch war wieder möglich, ohne das ein Stachel zurückblieb. So muss man es über Helmut Kollhosser ebenfalls sagen.

X. Schluss Helmut Kollhosser sah sich zuerst als sorgfältigen „Handwerker“, doch er war ein „Kunsthandwerker“: Ein Künstler des Einfachen zur Bestimmung und zur Erklärung der Position – im Fachlichen und im Menschlichen! Er lehrte durch sein Vorbild, durch ein vermittelndes Verhalten und durch das versöhnende Wort. Die Juristische Fakultät Münster ist Helmut Kollhosser sehr dankbar; das soll im Einzelnen an anderer Stelle gewürdigt werden. Hier nur soviel: Helmut Kollhosser stellte sich jeder wichtigen Frage. Nie wich er aus, aber immer baute er am kollegialen Miteinander. Herzlichen Dank! Requiescat in pace! („Er ruhe in Frieden!“) Bernhard Großfeld