Praktische Philosophie bei Kant: Metaphysik und moralisches Selbstverständnis 9783534274147, 9783534747146, 9783534747153

In dieser Bilanz seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Kant behandelt Maximilian Forschner die zentralen Themen von

168 61 12MB

German Pages 384 Year 2022

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Praktische Philosophie bei Kant: Metaphysik und moralisches Selbstverständnis
 9783534274147, 9783534747146, 9783534747153

Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
I. »In die Metaphysik verliebt«: Zur »Einleitung« der Kritik der reinen Vernunft
1. Die Grundlegung der Metaphysik als Anliegen der Kritik
2. Kritik, Transzendentalphilosophie, Metaphysik
3. Kritik als besondere Wissenschaft. Organon und System
4. Das Grundproblem: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?
5. Die Metaphysik der »Schule« und die Metaphysik des »einfachen Menschen«
II. Kants Weg zu einer »kritischen« Metaphysik der Sitten: Über Moralität und Glückseligkeit in den Reflexionen
1. Das Glück der Selbstzufriedenheit in dieser Welt
2. Kants neues Glücksverständnis
III. Kants Weg zum moralischen Glauben: Religionsphilosophie in den Reflexionen
1. Vernunftglaube und moralische Gesinnung
2. Der Fehler der philosophischen »Sekten«
3. Die Verheißung der Vernunft
4. Die »Lehre der Alten« und das christliche Ideal der Heiligkeit
5. Der Weise des Evangeliums und seine Lehre
IV. Guter Wille und Hass der Vernunft: Zum ersten Abschnitt der Grundlegungsschrift
1. Die Interpretationsschlüssel: ein dialektischer Streit
2. Zwei Begründungen für die Ausgangsthese
3. Der Mensch als im Ganzen zweckmäßig eingerichtetes Wesen
V. Kants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen
1. Über die natürliche Antithetik der rationalen Kosmologie
2. Die zwei dynamischen Thesenpaare
2.1 Der dritte Widerstreit der Antinomie der reinen Vernunft
2.2 Der vierte Widerstreit der Antinomie der reinen Vernunft. Erläuterung der Antithesen und der jeweiligen Argumente
3. Die Welt als Produkt des Geistes
4. Über die transzendentale Idee einer Kausalität aus Freiheit
5. Naturkausalität und transzendentale Freiheitskausalität als Betrachtungsweisen
6. Die Lösung des Determinismusproblems
7. Die Auflösung des vierten Widerstreits der Antinomie
VI. Kants kritisches Freiheitsverständnis
1. Freiheit als Ausgangs- und Schlusspunkt der kritischen Philosophie
2. Über die verschiedenen Bedeutungen von »Freiheit«
3. Freiheit als Spontaneität des Denkens
4. Transzendentale und praktische Freiheit
4.1 Transzendentale Freiheit als mögliche Antwort auf ein zweifaches Problem
4.2 Transzendentale Freiheit, praktische Freiheit und transzendentaler Idealismus
4.3 Praktische Freiheit als Tatsache
4.4 Transzendentale Freiheit als offenes theoretisches Problem
5. Freiheit als Autonomie des Willens. Die Verteidigung und der sogenannte Beweis transzendentaler Freiheit
6. Das Gefühl der Achtung vor dem Gesetz als principium executionis
VII. Reine Morallehre und Anthropologie
1. Reine Moral, Metaphysik der Sitten, empirische Anthropologie
2. Ein a priori gültiges praktisches Gesetz
3. Zum Verhältnis der Tugendpflichten: Der Ausschluss moralischer Tragik
4. Zu Kants strikten Verboten von Lüge und Selbsttötung
VIII. Über Vernunftglauben und Handlungsmotivation
1. Das »System der Sittlichkeit« und das »System der Glückseligkeit«
2. Moralisches Selbstverständnis und reiner Vernunftglaube
3. Die Motivationsstruktur moralischen Handelns
IX. Die Theorie des radikal Bösen im Menschen
1. Die Anlagen des Menschen
2. Die Rede vom »angeborenen« Hang zum Bösen
3. Grund und Beschaffenheit des Hangs zum Bösen im Menschen
4. Von der Konversion des Menschen zum Guten
5. Die Perspektiven der Betrachtung und der Beurteilung
6. Kants Begriff des »Hangs zum Bösen« und die christliche Erbsünde
7. Menschliche Tugend ist Tugend im Kampfe
X. Kant über Glauben, Meinen und Wissen
1. Die Unterscheidung von Glauben, Meinen und Wissen
2. Das Aufklärungskonzept von Glauben
3. Glaube und Interesse
4. Vernunftglaube, Religion und Offenbarungsglaube
XI. Kants Gottesbild in der Religionsschrift
1. Die Gottesidee – ein Bedürfnis der menschlichen Vernunft
2. Die Reinheit der Gesinnung und der Blick auf die Folgen
3. Zweckvorstellung und Bestimmungsgrund des reinen Willens
4. Höchstes ursprüngliches und höchstes abgeleitetes Gut
5. Achtung vor dem Gesetz und Liebe des Endzwecks
6. Gott als Bedingung der Möglichkeit des höchsten (abgeleiteten) Guts
7. Die Konstruktion des Wesens Gottes aus der Moral
8. Gott als Dreifaltiger und Schöpfer
9. Gott als Gesetzgeber, Regierer und Richter
XII. Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie
1. Praktische Vernunftbegriffe und mögliche Anschauung
2. Die verschiedenen Weisen der Veranschaulichung von Begriffen
3. Das Ideal moralischer Vollkommenheit des Menschen
4. Die Lehre von der wahren sichtbaren Kirche
4.1 Sichtbare und unsichtbare Kirche
4.2 Die vielen Kirchen und die eine Kirche
4.3 Der Weg zur wahren Kirche
4.4 Die christliche als Schema der wahren Kirche
4.5 Das Ideal der wahren sichtbaren Kirche als regulatives Prinzip
XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich
1. Zu Thomas von Aquins Naturrecht
1.1 Das natürliche Gesetz
1.2 Das positive Gesetz und sein Maßstab
1.3 Die Würde des Menschen und seine Rechte
2. Zu Kants Vernunftrecht
2.1 Die natürliche Ordnung der Dinge als Objekt reiner Vernunft
2.2 Die Unterscheidung von Recht und Moral
2.3 Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
2.4 Das »häusliche« Recht
XIV. Zeitliches Gericht und Endgericht: Zu Kants Theorie der Strafe
1. Das göttliche Strafgericht
2. Das menschliche Strafgericht
XV. Schlusswort: Immanuel Kant ein »nachmetaphysischer« Denker? Zu Jürgen Habermas’ Kantinterpretation
Literatur
Nachweise
Namenregister
Sachregister
Rückcover

Citation preview

9:53 Uhr

Seite 1

»In die Metaphysik verliebt« ... war Immanuel Kant, wie er selbst bekannte. Und so würdigt Maximilian Forschner in der hier vorgelegten Bilanz seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Kants praktischer Philosophie zwar die innovative Leistung des großen Philosophen, stellt sein Denken aber zugleich in den Traditionsrahmen der abendländischen Metaphysik. Diese Perspektive hat heute eine besondere Bedeutung und Aktualität, da Kant etwa durch Jürgen Habermas zu einem der Pioniere »nachmetaphysischen« Denkens erhoben wurde.

Maximilian Forschner war Ordinarius für Philosophie an der Universität Osnabrück und Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg. Bei der wbg sind von ihm u. a. erschienen: Philosophie der Stoa (2018), Die stoische Ethik (21995).

Kommen Sie ins Gespräch mit Leser:innen und Autor:innen auf wbg-community.de wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27414-7

Praktische Philosophie bei Kant

10.12.2021

Forschner

Praktische-Philosophie-bei-Kant_RZ_neu:Layout 1

Maximilian Forschner

Praktische Philosophie bei Kant Metaphysik und moralisches Selbstverständnis

Praktische Philosophie bei Kant

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 1

08.11.2021 16:20:35

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 2

08.11.2021 16:20:35

Maximilian Forschner

Praktische ­Philosophie bei Kant Metaphysik und moralisches Selbstverständnis

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 3

08.11.2021 16:20:35

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. © 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Christina Kruschwitz, Berlin Satz: Arnold & Domnick, Leipzig Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Einbandabbildung: Immanuel Kant, Altersportrait. Holzstich von J. L. Raab nach dem ­Gemälde von G. Doebler. © akg-images. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27414-7 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-534-74714-6 eBook (epub): ISBN 978-3-534-74715-3

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 4

08.11.2021 16:20:35

Vorbemerkung Ich zitiere Kants Werke nach der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1900 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften (= AA; den jeweiligen Band in römischen, die Seitenzahl in arabischen Ziffern). Lediglich die Kritik der reinen Vernunft wird, wie üblich, nach der Originalpaginierung der Auflagen A und B zitiert. Als Abkürzungen werden verwendet: KrV = Kritik der reinen Vernunft; GMS = Grundlegung zur Metaphysik der Sitten; KpV = Kritik der praktischen Vernunft; KdU = Kritik der Urteilskraft; MdS = Metaphysik der Sitten; Rel. = Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft; MAN = Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Der leichteren Lesbarkeit wegen habe ich die kantische Schreibweise der aktuellen Orthographie angeglichen. Dies liegt umso näher, als Kant in seinem handschriftlichen Nachlass diesbezüglich keiner festen Regel folgt und die verschiedenen Kant-Ausgaben sich einer unterschiedlichen Orthographie bedienen.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 5

08.11.2021 16:20:35

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 6

08.11.2021 16:20:35

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

I. »In die Metaphysik verliebt«: Zur »Einleitung« der Kritik der reinen Vernunft������������������������������������ 19 1. Die Grundlegung der Metaphysik als Anliegen der Kritik�������������������������������� 19 2. Kritik, Transzendentalphilosophie, Metaphysik���������������������������������������������� 21 3. Kritik als besondere Wissenschaft. Organon und System������������������������������25 4. Das Grundproblem: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?������������29 5. Die Metaphysik der »Schule« und die Metaphysik des »einfachen Menschen« ������������������������������������������������������������������������������35

II. Kants Weg zu einer »kritischen« Metaphysik der Sitten: Über Moralität und Glückseligkeit in den Reflexionen���������������������� 41 1. Das Glück der Selbstzufriedenheit in dieser Welt ������������������������������������������ 41 2. Kants neues Glücksverständnis������������������������������������������������������������������������ 61

III. Kants Weg zum moralischen Glauben: Religionsphilosophie in den Reflexionen ����������������������������������������������64 1. Vernunftglaube und moralische Gesinnung����������������������������������������������������64 2. Der Fehler der philosophischen »Sekten«������������������������������������������������������69 3. Die Verheißung der Vernunft����������������������������������������������������������������������������78 4. Die »Lehre der Alten« und das christliche Ideal der Heiligkeit��������������������82 5. Der Weise des Evangeliums und seine Lehre ����������������������������������������������� 90

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 7

08.11.2021 16:20:35

8

Inhalt

IV. Guter Wille und Hass der Vernunft: Zum ersten Abschnitt der Grundlegungsschrift ��������������������������������94 1. Die Interpretationsschlüssel: ein dialektischer Streit������������������������������������94 2. Zwei Begründungen für die Ausgangsthese��������������������������������������������������100 3. Der Mensch als im Ganzen zweckmäßig eingerichtetes Wesen �����������������112

V. Kants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen���������������������������������������������������115 1. Über die natürliche Antithetik der rationalen Kosmologie�����������������������������115 2. Die zwei dynamischen Thesenpaare���������������������������������������������������������������119 2.1 Der dritte Widerstreit der Antinomie der reinen Vernunft ���������������������119 2.2 Der vierte Widerstreit der Antinomie der reinen Vernunft. Erläuterung der Antithesen und der jeweiligen Argumente������������������ 125 3. Die Welt als Produkt des Geistes�������������������������������������������������������������������� 128 4. Über die transzendentale Idee einer Kausalität aus Freiheit���������������������� 133 5. Naturkausalität und transzendentale Freiheitskausalität als Betrachtungsweisen ���������������������������������������������������������������������������������� 136 6. Die Lösung des Determinismusproblems������������������������������������������������������ 142 7. Die Auflösung des vierten Widerstreits der Antinomie �������������������������������� 145

VI. Kants kritisches Freiheitsverständnis�������������������������������������������������� 146 1. Freiheit als Ausgangs- und Schlusspunkt der kritischen Philosophie ������ 146 2. Über die verschiedenen Bedeutungen von »Freiheit« ��������������������������������148 3. Freiheit als Spontaneität des Denkens �������������������������������������������������������� 149 4. Transzendentale und praktische Freiheit������������������������������������������������������ 152 4.1 Transzendentale Freiheit als mögliche Antwort auf ein zweifaches Problem �������������������������������������������������������������������� 152 4.2 Transzendentale Freiheit, praktische Freiheit und transzendentaler Idealismus������������������������������������������������������������������ 157 4.3 Praktische Freiheit als Tatsache������������������������������������������������������������ 159 4.4 Transzendentale Freiheit als offenes theoretisches Problem ������������160

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 8

08.11.2021 16:20:35

Inhalt

9

5. Freiheit als Autonomie des Willens. Die Verteidigung und der sogenannte Beweis transzendentaler Freiheit�������������������������������������� 166 6. Das Gefühl der Achtung vor dem Gesetz als principium executionis�������� 172

VII. Reine Morallehre und Anthropologie �������������������������������������������������� 175 1. Reine Moral, Metaphysik der Sitten, empirische Anthropologie �������������� 175 2. Ein a priori gültiges praktisches Gesetz������������������������������������������������������ 179 3. Zum Verhältnis der Tugendpflichten: Der Ausschluss moralischer Tragik��������������������������������������������������������������184 4. Zu Kants strikten Verboten von Lüge und Selbsttötung����������������������������189

VIII. Über Vernunftglauben und Handlungsmotivation������������������������198 1. Das »System der Sittlichkeit« und das »System der Glückseligkeit«������198 2. Moralisches Selbstverständnis und reiner Vernunftglaube ������������������� 205 3. Die Motivationsstruktur moralischen Handelns���������������������������������������� 213

IX. Die Theorie des radikal Bösen im Menschen ������������������������������������ 221 1. Die Anlagen des Menschen����������������������������������������������������������������������������222 2. Die Rede vom »angeborenen« Hang zum Bösen������������������������������������������227 3. Grund und Beschaffenheit des Hangs zum Bösen im Menschen������������� 230 4. Von der Konversion des Menschen zum Guten������������������������������������������� 234 5. Die Perspektiven der Betrachtung und der Beurteilung������������������������������237 6. Kants Begriff des »Hangs zum Bösen« und die christliche Erbsünde ����� 244 7. Menschliche Tugend ist Tugend im Kampfe������������������������������������������������� 250

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 9

08.11.2021 16:20:35

10

Inhalt

X. Kant über Glauben, Meinen und Wissen ��������������������������������������������� 254 1. Die Unterscheidung von Glauben, Meinen und Wissen��������������������������������255 2. Das Aufklärungskonzept von Glauben������������������������������������������������������������257 3. Glaube und Interesse��������������������������������������������������������������������������������������� 260 4. Vernunftglaube, Religion und Offenbarungsglaube��������������������������������������267

XI. Kants Gottesbild in der Religionsschrift��������������������������������������������� 269 1. Die Gottesidee – ein Bedürfnis der menschlichen Vernunft��������������������� 269 2. Die Reinheit der Gesinnung und der Blick auf die Folgen��������������������������272 3. Zweckvorstellung und Bestimmungsgrund des reinen Willens������������������275 4. Höchstes ursprüngliches und höchstes abgeleitetes Gut��������������������������276 5. Achtung vor dem Gesetz und Liebe des Endzwecks ����������������������������������279 6. Gott als Bedingung der Möglichkeit des höchsten (abgeleiteten) Guts���� 281 7. Die Konstruktion des Wesens Gottes aus der Moral ��������������������������������� 284 8. Gott als Dreifaltiger und Schöpfer��������������������������������������������������������������� 286 9. Gott als Gesetzgeber, Regierer und Richter ����������������������������������������������� 289

XII. Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie ������������������293 1. Praktische Vernunftbegriffe und mögliche Anschauung����������������������������293 2. Die verschiedenen Weisen der Veranschaulichung von Begriffen ��������� 296 3. Das Ideal moralischer Vollkommenheit des Menschen���������������������������300 4. Die Lehre von der wahren sichtbaren Kirche����������������������������������������������307 4.1 Sichtbare und unsichtbare Kirche������������������������������������������������������� 308 4.2 Die vielen Kirchen und die eine Kirche������������������������������������������������310 4.3 Der Weg zur wahren Kirche ������������������������������������������������������������������ 312 4.4 Die christliche als Schema der wahren Kirche������������������������������������ 313 4.5 Das Ideal der wahren sichtbaren Kirche als regulatives Prinzip ������ 315

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 10

08.11.2021 16:20:36

Inhalt

11

XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich���������������������������������������������������������������������������� 317 1. Zu Thomas von Aquins Naturrecht�������������������������������������������������������������� 318 1.1 Das natürliche Gesetz���������������������������������������������������������������������������� 318 1.2 Das positive Gesetz und sein Maßstab ����������������������������������������������324 1.3 Die Würde des Menschen und seine Rechte��������������������������������������327 2. Zu Kants Vernunftrecht��������������������������������������������������������������������������������332 2.1 Die natürliche Ordnung der Dinge als Objekt reiner Vernunft����������332 2.2 Die Unterscheidung von Recht und Moral����������������������������������������� 335 2.3 Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft��������������������������������� 339 2.4 Das »häusliche« Recht ������������������������������������������������������������������������ 341

XIV. Zeitliches Gericht und Endgericht: Zu Kants Theorie der Strafe��������������������������������������������������������������������347 1. Das göttliche Strafgericht����������������������������������������������������������������������������347 2. Das menschliche Strafgericht ��������������������������������������������������������������������352

XV. Schlusswort: Immanuel Kant ein »nachmetaphysischer« ­Denker? Zu Jürgen Habermas’ Kantinterpretation ������������������������ 361

Literatur �������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 371 Nachweise ���������������������������������������������������������������������������������������������������������� 377 Namenregister����������������������������������������������������������������������������������������������������378 Sachregister�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 381

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 11

08.11.2021 16:20:36

Vorwort »Ich kann also Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Behuf des notwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal annehmen, wenn ich nicht der spekulativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung überschwänglicher Einsichten benehme, weil sie sich, um zu diesen zu gelangen, solcher Grundsätze bedienen muss, die, indem sie in der Tat bloß auf Gegenstände möglicher Erfahrung reichen, wenn sie gleichwohl auf das angewandt werden, was nicht ein Gegenstand der Erfahrung sein kann, wirklich dieses jederzeit in Erscheinung verwandeln, und so alle praktische Erweiterung der reinen Vernunft für unmöglich erklären. Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatismus der Metaphysik, d. i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist.« Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede, B XXX.

(1) Kant ist ein Kritiker der ihm überkommenen (rationalistischen) Metaphysik; doch sein philosophisches Werk lässt sich keineswegs als Beginn eines »nachmetaphysischen« Denkens verstehen. Kants Philosophie bietet eine Grundlegung der Metaphysik; seine normative Philosophie menschlicher Praxis ist metaphysisch begründet. Kant war, wie er selbst von sich bekennt, »in die Metaphysik verliebt«, erfreute sich anfangs nicht immer ihrer Gunst (vgl. AA II, 367 f.) und suchte nach einer gesicherten Beziehung zu ihr. Er war überzeugt, den nicht bezweifelbaren Ansatz und die solide Basis für eine konstante (und für uns alle offene und erfüllte) Liebe zu ihr schließlich im moralischpraktischen Selbstverständnis gefunden zu haben. Was er in der Vorrede zur zweiten Auflage der KrV als Aufgabe und Ziel seines philosophischen Unternehmens erklärt, scheint denn auch klar und eindeutig zu sein: Er möchte die Erkenntnisansprüche der theoretischen Vernunft, erhoben in der traditionellen »rationalistischen« Metaphysik, als Anmaßung dartun und den legitimen Gebrauch der Grundsätze unseres Verstandes auf die Erkenntnis möglicher Gegenstände unserer Erfahrung begrenzt wissen. Was in der Geschichte der Kantinterpretation manchen nicht so klar erschien, ist dies, dass er in eins damit auch die »überschwänglichen« Erkenntnisansprüche eines verabsolutier-

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 12

08.11.2021 16:20:36

Vorwort

13

ten szientistischen Empirismus oder »dogmatischen« Naturalismus zurückweisen möchte. Auch sie betreiben schlechte Metaphysik. Auch sie erheben ja (wenn auch negative) Erkenntnisansprüche über Dinge bzw. Sachverhalte, die »nicht ein Gegenstand der Erfahrung sein [können]«. Sie erklären schließlich »alle praktische Erweiterung der reinen Vernunft für unmöglich«. Kant möchte mit seiner Kritik der reinen Vernunft sowohl die theoretisch-spekulativen als auch gängige oder drohende verabsolutierte theoretisch-empirische Erkenntnisansprüche aufheben, »um zum Glauben Platz zu bekommen«. Dabei soll erst im letzten Teil der KrV, der transzendentalen Methodenlehre, klarwerden, was da mit »Glauben« genauer gemeint ist. Kants Philosophie ist antinaturalistisch. Worauf sich sein Interesse zentriert, ist allem voran »die praktische Erweiterung der reinen Vernunft« und der »notwendige praktische Gebrauch der Vernunft« sowie, was das Glauben betrifft, zunächst die (theoretische) Sicherung wenigstens der Möglichkeit der Annahme von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Es geht ihm dabei allem anderen voran um die Moralität des Menschen. Fälschlich verabsolutierte Erkenntnisansprüche führten zu unlösbar scheinenden metaphysischen Kontroversen und zum Unglauben; der Unglaube widerstreite der Moralität; er sei jederzeit dogmatisch. In kritischer philosophischer Prüfung seine trüben unkritischen Quellen offenzulegen, diene der Klärung und Sicherung der Moralität des Menschen. (2) Nun haben, was »die praktische Erweiterung der reinen Vernunft« und den »notwendigen praktischen Gebrauch der Vernunft« betrifft, in seinem zeitlichen Entdeckungs- und sachlichen Begründungsgang für Kant nicht alle der drei genannten Annahmen den gleichen Stellenwert. In einem Brief an Christian Garve vom 21. September 1798 sieht Kant sich veranlasst, falschen Darstellungen seines philosophischen Weges entgegenzutreten: »Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, die Unsterblichkeit etc. ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r. V.: ›Die Welt hat einen Anfang –: sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten: Es ist Freiheit im Menschen, – gegen den: es ist keine Freiheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendigkeit‹; diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb, um das Skandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben« (AA XII, 257).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 13

08.11.2021 16:20:36

14

Vorwort

Freiheit ist für die Moralität des Menschen schlechthin konstitutiv. Der »Skandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst« besteht hier darin, dass es vernünftig erscheint, den Menschen in seinem Verhalten einerseits (wie alle Naturwesen) als prädeterminiert, andererseits (wie alle Vernunftwesen) als verantwortlich und frei zu betrachten. Die Auflösung des dritten Widerstreits der Antinomie ist demnach von eminenter anthropologischer und ethischer Tragweite. Sie ist es, die Kant »zur Entwicklung einer vernunftkritisch abgesicherten Metaphysik [nötigte]« (Falkenburg, Brigitte 2000, 261). Dies ist der Grund, warum Kants Bestimmung menschlicher Freiheit im Folgenden (Kap. V und VI des Buches) ein relativ breiter Raum gewährt wird. Seine Diskussion des vermeintlich strikt erfahrungswissenschaftlich (oder auch pantheistisch bzw. allmachtstheologisch) ausgelösten Determinismusproblems und die diesbezügliche Auflösung des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst scheinen mir nach wie vor beispielhaft zu sein. Kant entwickelt einen starken meta-physischen Freiheitsbegriff im Sinne der Fähigkeit des Menschen, sein Verhalten unabhängig von allen Determinanten seiner vorgegebenen sinnengebundenen Natur und Lebenswelt nach Gesichtspunkten der Vernunft selbst zu bestimmen. In diesem Rahmen steht dann auch seine umstrittene, vielfach als inkonsistent oder abwegig beurteilte Theorie des radikal Bösen im Menschen. Seine Theorie, so meine These in Kap. IX des Buches, übersetzt die christliche Lehre von der Erbsünde in eine völlig säkulare Ethik und Anthropologie. Und sie erweist sich als in sich völlig konsistent, wenn man die verschiedenen Perspektiven (der verstandesgemäßen Erklärung und der vernunftgemäßen Beurteilung) beachtet, unter denen Kant vom menschlichen »Hang zum Bösen« spricht. (3) Es gibt in der Kantforschung eingefahrene Interpretationsdogmen, die häufig wiederholt und selten in Frage gestellt werden. Ein erstes betrifft die Frage, inwiefern der Unglaube an Gott und Unsterblichkeit der »Moralität widerstreiten« soll. Sie scheint an die zentrale kantische Idee der Autonomie zu rühren: Die unbedingte Geltung des Sittengesetzes verdanke sich der Selbstgesetzgebung menschlicher Vernunft; der objektive Sinn des kategorischen Imperativs für den Menschen sei demnach ganz unabhängig vom reinen Vernunftglauben (und könne diesen sehr wohl entbehren). So eine verbreitete Interpretationsmeinung, der allerdings Kants ausdrückliche Aussagen zu widersprechen scheinen, Moralität führe unausbleiblich zur Religion (Rel. AA VI, 8 Anm.), ja, das

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 14

08.11.2021 16:20:36

Vorwort

15

moralische Gesetz wäre »an sich falsch«, wenn das höchste Gut unmöglich wäre (KpV AA V, 114). Ein praktisches Gesetz ist bekanntermaßen »an sich falsch«, wenn es jemandem etwas zu befolgen und durch seine Befolgung zu bewirken gebietet, was an sich unmöglich ist. Nun gebietet das moralische Gesetz dem Menschen (als sinnlich-vernünftigem Weltwesen), dass »jedermann sich das höchste in der Welt mögliche Gut zum Endzwecke machen solle« (Rel. AA VI, 8 Anm.). Zugleich weiß der Mensch (als Einzelner und im Kollektiv), dass er auf die Verwirklichung des Endzwecks zwar hinarbeiten und zu ihr beisteuern kann, dass aber »das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht« (Rel. AA VI, 8 Anm.). Das höchste Gut, das heißt der von der Vernunft in ihrem Verlangen nach vollendeter Gerechtigkeit geforderte notwendige Zusammenhang von Glückswürdigkeit und Glück des Menschen, bleibt in seiner Lebens- und Erfahrungswelt zweifelsfrei kontingent. Vernunft muss deshalb die Garantie seiner endgültigen Verwirklichung in ein »allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher« (ebd.) setzen (vgl. dazu auch Dörflinger, Bernd 2004). Kant hat, dies sollen die Kapitel II, III und IV des Buches eingehend belegen, vom Beginn seiner Überlegungen zur praktischen Philosophie um die richtige Bestimmung des Verhältnisses von Tugend bzw. Moralität und Glückseligkeit des Menschen gerungen. Er schließt da, wie vor allem der handschriftliche Nachlass (und der Beginn der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten) zeigt, bewusst an die Ethik der Griechen mit ihrer Theorie vom höchsten Gut an. Für eine gewisse Zeit seiner sogenannten vorkritischen Phase scheint er auch die Antwort im Sinne der akademisch-peripatetischen Theorie (wohl unter dem Einfluss seiner Cicero-Lektüre) favorisiert zu haben, bis er schließlich den Gedanken des selbstbewirkten Tugendglücks verwirft und (wohl unter dem Einfluss christlicher Anthropologie und des zeitgenössischen Empirismus und Sensualismus) der Lehre der zentralen Figur des alttestamentlichen Buches Hiob und (vor allem) der Lehre Jesu, des »Weisen des Evangeliums«, beipflichtet. Ein zweites, mit dem erstgenannten zusammenhängendes Interpretationsdogma besagt, dass Kants (kritische) Ethik ausschließlich die Achtung vor dem Gesetz als authentisches Motiv moralisch guten Handelns kennt. Ich möchte dieser Meinung mit der These widersprechen, dass Kants (kritische) Ethik von ihrer frühen Konzeption bis zuletzt eine zwiefältige Triebfeder moralischen Handelns in Ansatz bringt. Im Kapitel VIII wird eingehend dafür argumentiert, dass nicht nur das Gefühl der Achtung vor dem (kategorisch gebietenden)

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 15

08.11.2021 16:20:36

16

Vorwort

moralischen Gesetz, sondern auch die im reinen Vernunftglauben gegebene zuversichtliche Hoffnung auf das höchste Gut nach Kant notwendiges (und beides im Verein notwendiges und zureichendes) Motiv vernünftigen menschlichen Handelns ist. (4) Theologie und Religion begründen nicht Moralität. Doch Moralität führt nach Kant aufgrund eines unabweisbaren »Bedürfnisses« praktischer Vernunft »unausbleiblich« zur Religion und, philosophisch gesehen, zur Theologie. Die Kapitel X, XI und XII sind im Detail Kants Begriff des Glaubens, seinem Gottesbild und seiner Auffassung von Kirche als einer Tugendgemeinschaft gewidmet. Wenn Kant erklärt, dass (vernünftiges) Glauben »dem Grade nach keinem Wissen nachsteht, ob es gleich der Art nach davon völlig verschieden ist« (Was heißt: Sich im Denken orientieren?, AA VIII, 141), dann folgt er hier einer schulphilosophischen Tradition, die bis ins hohe Mittelalter zurückreicht. Aller­dings bezieht sich seine Aussage nicht auf einen historisch begründeten Offenbarungsglauben, sondern einzig auf einen »moralischen« Glauben. Die Gewissheit dieses Glaubens ist durch keine externe Autorität vermittelt, sondern stützt sich allein auf die existentiell überragende, sich selbst genügende Evidenz des je eigenen (und als allgemein unterstellten) moralischen Bewusstseins. Die Normen dieses Bewusstseins bieten denn auch den Maßstab der Konstruktion der Gottesidee. Als Vorlage dieser Idee dienen Kant die zentralen Dogmen der christlichen Religion. Auf klassisch allegorische Weise interpretiert er sie auf einen strikt monotheistischen Gottesbegriff hin, der als personifiziertes Ideal die Prädikate der Allmacht, der Allwissenheit und Allgüte bzw. Allgerechtigkeit in sich vereint und die Gewähr vollkommener Verwirklichung des höchsten Guts »in einer anderen Welt« bietet. Die historische Person Jesu wird zum Ideal moralischer Vollkommenheit des Menschen stilisiert. Die Kirche als Tugendgemeinschaft, die den einzelnen Staat als Rechtsgemeinschaft stützt und im Blick auf die ihr allein zustehende gemeinschaftliche Pflege innerer Freiheit »ergänzt«, hat durch ihre aufgeklärten Lehrer und Vorsteher die (absolute) Bindung der Gläubigen an historische Dogmen und statutarische Observanzen zu lockern und zu lösen und auf das Ziel einer universalen moralischen Gemeinschaft der Menschen hinzuwirken. (5) »[E]ine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden« (MdS AA VI, 217). Die explizite und ausführliche Anwendung reiner, für alle vernünftigen Wesen kraft ihrer autonomen

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 16

08.11.2021 16:20:36

Vorwort

17

Vernunft gültigen Gesetze auf den Menschen (als sinnlich-vernünftiges Weltwesen) nimmt Kant in der Rechts- und Tugendlehre (für die Bereiche seiner äußeren und inneren Freiheitsgestaltung) vor. Der Darstellung, Analyse und Kritik des kantischen Anwendungsverfahrens und seiner Probleme (bis »hinab« zu konkreten Gebots- und Verbotsnormen und noch zum Teil durchaus traditionell teleologisch bestimmten rechtlichen und moralischen Festlegungen) sind die Kapitel VII, XIII und XIV, in gewisser Weise auch das Kapitel XII gewidmet. Dabei zeigt sich, dass Kants »intelligible« moralische Weltordnung das Element des sittlich Tragischen und damit auch die objektive Möglichkeit veritabler moralischer Konfliktsituationen ausschließt. Sie dürfte denn auch für seinen Rigorismus bezüglich bestimmter strikter Verbote (des Suizids, der Lüge etc.) verantwortlich zeichnen. Ja, selbst seine entschiedene Vergeltungstheorie der Strafe ist, wie ich in Kap. XIV (entgegen einer neuerlich vertretenen prominenten nicht-vergeltungstheoretischen Interpretation seiner Straftheorie) nachzuweisen versuche, ohne seine Theorie des höchsten Guts nicht zureichend zu verstehen. (6) Das Ziel sämtlicher Studien des Buches ist es, unsere Sicht auf das metaphysische Profil der Philosophie Immanuel Kants aus zum Teil ungewohnter Pers­ pektive und Zugangsweise zu schärfen. Dabei liegt ihr Schwerpunkt auf dem richtigen Verständnis seiner Verhältnisbestimmung von Moralität, Recht und Vernunftglaube bzw. Religion. Kant war, wie er selbst einmal bekennt (Träume eines Geistersehers, AA II, 367 f.) und durch all seine Schriften eindringlich bekundet, zeit seines Lebens, wenn auch in einer kurzen skeptischen Phase nicht so ganz glücklich, »in die Metaphysik verliebt«. Sein gesamtes kritisches Unternehmen gilt der Grundlegung und Entfaltung einer sicheren und überzeugenden Metaphysik des menschlichen Erkennens, Urteilens und Handelns. Das erste Kapitel des Buches soll dies, als Einleitung zum dann Folgenden, illustrieren. Das Grundanliegen kantischen Philosophierens scheint mir zu verfehlen, wer ihn, in traditionalistischer metaphysischer Einstellung, zum »Zertrümmerer der Metaphysik«, aber auch, wer ihn, auf »moderne«, zeitdiagnostische Weise, zu einem Pionier »nachmetaphysischen« Denkens machen möchte. Man muss Kants philosophisches Anliegen nicht teilen und seine Durchführung nicht (in allem) gutheißen. Es gibt sehr wohl plausible, stärker der Phänomenologie der (zwischen-)menschlichen Erfahrung und dem modernen Naturverständnis verbundene philosophische Alternativen zu seinem auf das

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 17

08.11.2021 16:20:36

18

Vorwort

Nichtempirische im Empirischen, auf eine abstrakt-apriorische Vernunft-Basis von Moralität und auf ein noch frühmodernes Weltbild zentrierten Selbst- und Weltverständnis. Doch die Aufgabe und der Versuch der Interpretation eines Klassikers der Philosophiegeschichte scheinen mir nicht überholt zu sein: ihn in seinem großartigen, in vielem Maßstäbe setzenden und wegweisenden Werk möglichst so zu verstehen, wie er sich selbst verstanden und geäußert hat. Einer kritischen Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas’ jüngster Kantinterpretation ist deshalb das Schlusswort des Buches gewidmet. Sämtliche Kapitel des Buches sind so geschrieben, dass sie auch (dem Lesen und Studium dienlich) separat gelesen und verstanden werden können. Als Preis dafür habe ich gelegentliche Wiederholungen (insbesondere von wichtigen Kant-Zitaten) in Kauf genommen. Der Kollegin Gisela Schlüter (Erlangen) und den Kollegen Rudolf Langthaler (Wien) und Wolfgang Ertl (Tokio) danke ich für wertvolle Hinweise, Einwände und Gesichtspunkte. Ohne den Austausch mit ihnen hätte das Buch nicht die Form, die es jetzt gefunden hat. Für die zweifellos verbliebenen Mängel bin ich natürlich selbst verantwortlich. Gewidmet ist das Buch meiner Familie. Erlangen, im November 2020

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 18

08.11.2021 16:20:36

I. In die Metaphysik verliebt: Zur »Einleitung« der Kritik der reinen Vernunft »Der Metaphysik, einer ganz isolierten spekulativen Vernunfterkenntnis, die sich gänzlich über Erfahrungsbelehrung erhebt, und zwar durch bloße Begriffe, […] ist das Schicksal so günstig nicht gewesen, dass sie den sicheren Gang einer Wissenschaft einzuschlagen vermocht hätte; ob sie gleich älter ist, als alles Übrige, und bleiben würde, wenngleich die Übrigen insgesamt in dem Schlunde einer alles vertilgenden Barbarei gänzlich verschlungen werden sollten.« Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage, B XIV

1. D  ie Grundlegung der Metaphysik als Anliegen der Kritik Kant beginnt seine akademische Laufbahn mit Studien über elementare Fragen der damaligen Physik: über den Begriff der Kraft, die Natur des Feuers, die Struktur der Planetenbewegung, das Wesen des Raumes, den Begriff der Materie. Jedoch versteht sich Kant von Anfang an nicht als empirischer Physiker. Sein leitendes Interesse gilt vielmehr dem, was er reine Physik nennt; es gilt den nichtempirischen, den metaphysischen Grundlagen der Physik. Doch sein Interesse gilt nicht nur den metaphysischen Grundlagen der Physik, sondern der Metaphysik im Ganzen, der cosmologia, psychologia und theologia rationalis. Im Verlauf seiner frühen wissenschaftlichen Entwicklung wird er immer unsicherer hinsichtlich des epistemischen Status von Aussagen metaphysischer Art, die etwa den Ursprung und das Ganze der Welt, das Wesen der menschlichen Seele, das Dasein und Wesen Gottes und seine Beziehung zur Welt betreffen. Seine Liebe zur Metaphysik1 bleibt gleichwohl, wenn auch nach seinen eigenen Worten zeitweise etwas einseitig, ungetrübt und ungebrochen. Dies 1

Vgl. dazu Beiser, Frederick C. 1992.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 19

08.11.2021 16:20:36

20

I. In die Metaphysik verliebt: Zur »Einleitung« der Kritik der reinen Vernunft

gilt auch für die Phase Mitte der 60er Jahre, in der Kant von den Anfechtungen und Ablenkungen des Empirismus und der Skepsis am stärksten affiziert wird. Kant weiß dabei immer, dass seine Liebe zur Metaphysik keine idiosynkratische Liebe ist, sondern einer Anlage des Menschen als eines vernunftfähigen Sinnenwesens entspricht, einer Anlage, die bei ihm vielleicht nur etwas stärker ausgeprägt sein mag als bei anderen Menschen. Diese von Seiten der Geliebten zunächst recht schwankend und zurückhaltend erwiderte Liebe lässt in ihm, dem Philosophen und Wissenschaftler aus Neigung, das Bedürfnis wachsen, Metaphysik auf ein wissenschaftlich bzw. philosophisch sicheres Fundament zu stellen, die prekäre Liebe sozusagen in den sicheren Hafen einer rechtsverbindlichen und dauerhaften Ehe zu führen. Dass bei diesem Versuch einerseits das unausrottbare Verlangen menschlicher Vernunft nach Einsicht in den Ursprung und die verborgenen Eigenschaften der Dinge zu berücksichtigen ist, andererseits sowohl die nüchtern-realistische Einschätzung der menschlichen Möglichkeiten als auch die haltgebende Bindung an Erfahrung eine besondere Rolle spielen muss, war ihm frühzeitig klar. »Die Metaphysik, in welche ich das Schicksal habe verliebt zu sein, ob ich mich gleich von ihr nur selten einiger Gunstbezeugungen rühmen kann, leistet zweierlei Vorteile. Der erste ist, den Aufgaben ein Genüge zu tun, die das forschende Gemüt aufwirft, wenn es verborgenen Eigenschaften der Dinge durch Vernunft nachspäht. Aber hier täuscht der Ausgang gar zu oft die Hoffnung […]. Der a­ ndre Vorteil ist der Natur des menschlichen Verstandes mehr angemessen und besteht darin: einzusehen, ob die Aufgabe aus demjenigen, was man wissen kann, auch bestimmt sei und welches Verhältnis die Frage zu den Erfahrungsbegriffen habe, darauf sich alle unsre Urteile jederzeit stützen müssen.«2

Der persönlich besonders ausgeprägten und als allgemein menschlich unterstellten Liebe zur Metaphysik und dem persönlich ebenso wie im neuzeitlichen Progress der Wissenschaften sich steigernden Bedürfnis nach einem sicheren Fundament für metaphysische Aussagen entspringt Kants großes philosophisches Unternehmen der Kritik, nämlich die Klärung und Beantwortung der Frage, wie, in welcher Reichweite, in welchem Behauptungsmodus, durch wel2

Träume eines Geistersehers, AA II, 367 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 20

08.11.2021 16:20:36

2. Kritik, Transzendentalphilosophie, Metaphysik

21

che Vernunftlegitimation Metaphysik als Wissenschaft, aber auch Metaphysik als allgemeinmenschliche Kultur einer Naturanlage möglich ist. Neben Prinzipienfragen der Physik gilt Kants metaphysisches I­nteresse schon sehr früh und anhaltend auch Grundfragen der Moral. Bereits am 31. 12. 1765 stellt Kant in einem Brief an den Philosophen, Mathematiker und Physiker Johann Heinrich Lambert in Aussicht, in Bälde Schriften zu den »metaphysische[n] Anfangsgründen der natürlichen Weltweisheit, und [den] metaph. Anfangsgr. der praktischen Weltweisheit« zu liefern.3 Kants Metaphysik der Sitten, das heißt seine Ethik und Rechtsphilosophie, sollte letztendlich erst gegen Ende seines Lebens im Jahre 1797 fertiggestellt sein und im Buchhandel erscheinen. Dazwischen liegen in den 60er und 70er Jahren Anläufe und Vorstudien zum Kritik-Unternehmen und schließlich, in den 80er Jahren, die Realisierung dieses Unternehmens, zunächst als ausführliche Kritik der reinen theoretischen Vernunft, und dann auch, in ausführlicher Ergänzung, als Kritik der reinen praktischen Vernunft und als Kritik der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft. Wichtig scheint mir, sich stets vor Augen zu halten, dass das Kritik-Unternehmen, wie der systematische Schlussteil, die Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft, bereits hinreichend belegt, sich auf die theoretische und die praktische Vernunft bezieht, dass die Unterscheidung und die Verbindung von theoretischer und praktischer Vernunft sich in den Vorreden, dem Dialektikkapitel und der Methodenlehre der KrV als zentrales Problem darstellt und dass die wissenschaftliche bzw. die philosophisch überzeugende Lösung metaphysischer Fragen auf kardinale Weise von der Lösung dieses Problems der Einheit der Vernunft in der Realisierung ihrer verschiedenen Funktionen und Anliegen abhängig ist.

2. Kritik, Transzendentalphilosophie, Metaphysik Kant hat 1781 und 1787 jeweils eine Vorrede und eine Einleitung an den Anfang seines epochemachenden Werkes Kritik der reinen Vernunft gestellt. Wie die Vorreden, so sind auch die Einleitungen der Auflage A und der Auflage B erheblich voneinander verschieden. Der Unterschied zeigt sich im Umfang: Die 3

AA X, 56.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 21

08.11.2021 16:20:36

22

I. In die Metaphysik verliebt: Zur »Einleitung« der Kritik der reinen Vernunft

Einleitung B ist doppelt so lang wie die Einleitung A. Der Unterschied zeigt sich in den Überschriften, mit denen die Texte strukturiert sind und ihren Inhalt signalisieren: Die Einleitung A exponiert die Idee und die Einteilung der Transzendentalphilosophie, die Einleitung B entwickelt, wie die Überschrift ihres Abschnitts VII zeigt, »die Idee und Einteilung einer besonderen Wissenschaft unter dem Namen einer Kritik der reinen Vernunft«. Der heutige Leser mag sich fragen, ob mit den Titeln »Transzendentalphilosophie« und »Kritik der reinen Vernunft« dasselbe oder Verschiedenes gemeint ist, und wenn Verschiedenes, wie das eine sich zum anderen verhalten mag. Tatsächlich enthalten die beiden Einleitungen bezüglich der Begriffe »Kritik« und »Transzendentalphilosophie« keine nennenswerten Differenzen. Unter »Transzendentalphilosophie« versteht Kant in Einleitung A und B »das System aller Prinzipien der reinen Vernunft«,4 und die »Kritik« soll die Propädeutik hierzu sein, nämlich die Entwicklung der vollständigen Idee bzw. des gesamten Planes dieser Transzendentalphilosophie, ohne dass der Plan bereits gänzlich ausgeführt würde. Kant wollte, wie er in der Vorrede zur zweiten Auflage klarstellt, mit seinen Änderungen im Ganzen ohnehin nur gewisse Dunkelheiten in der Darstellungsweise der ersten Auflage beheben.5 Zwischen der Auflage A und der Auflage B der KrV liegt die Veröffentlichung von Schriften, die zum Verständnis dessen beitragen, was Kant in der Auflage B gegenüber jener von A klargestellt sehen möchte. 1783 hatte Kant die Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik zum besseren Verständnis des Kernanliegens und der Grundzüge der KrV nachgereicht. 1785 kommt die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten heraus. Und 1786 legt Kant die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft vor. Damit scheint eingelöst zu sein, was Kant bereits vor mehr als 20 Jahren dem Kollegen Lambert als in Bälde erfolgend in Aussicht gestellt hatte. In der Vorbereitung der zweiten Auflage der KrV arbeitet Kant daran, das in der ersten Auflage in der transzendentalen Methodenlehre über Freiheit, Gott und Sittlichkeit Gesagte im Sinne einer gegenüber der Kritik der reinen theoretischen Vernunft gleichgewichtigen und sachlich hinreichenden Kritik der reinen praktischen Vernunft auszudifferenzieren. Am 21. November 1786 erschien in der »Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung« (Nr. 276) der (wohl von Kant selbst stammende) Hinweis, dass 4 5

KrV B 27. Vgl. KrV B XXXVII.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 22

08.11.2021 16:20:36

2. Kritik, Transzendentalphilosophie, Metaphysik

23

»zu der in der ersten Auflage enthaltenen Kritik der spekulativen Vernunft in der zweiten Auflage noch eine Kritik der reinen praktischen Vernunft hinzukommen [wird], die dann ebenso das Prinzip der Sittlichkeit wider die gemachten oder noch zu machenden Einwürfe zu sichern und das Ganze der kritischen Untersuchungen, die vor dem System der Philosophie der reinen Vernunft vorhergehen müssen, zu vollenden, dienen kann«.6

Diese Kritik der reinen praktischen Vernunft ist Kant wohl in der Vorbereitung der zweiten Auflage dem Umfang nach aus den Fugen geraten. Die zweite Auflage der KrV erscheint im Frühjahr 1787 deshalb ohne sie. Die neue Vorrede ist »im Aprilmonat 1787« datiert;7 sie enthält den eindeutigen Hinweis: »Bis hierher (nämlich nur bis zu Ende des ersten Hauptstücks der transzendentalen Dialektik) und weiter nicht erstrecken sich meine Abänderungen der Darstellungsart«.8 Ende Juni desselben Jahres schreibt Kant an Christian Gottfried Schütz, den Herausgeber der Allgemeinen Literaturzeitung: »Ich habe meine Kritik der praktischen Vernunft so weit fertig, dass ich sie denke künftige Woche nach Halle zum Druck zu geben.«9 Die KpV ist demnach ganz offensichtlich als Bestandteil der Kritik der reinen Vernunft gedacht und im Zusammenhang von deren Überarbeitung zur 2. Auflage entstanden.10 Kant hat, wie gesagt, von Anfang an die »Kritik der reinen Vernunft« als Entwicklung des gesamten Plans der Transzendentalphilosophie vom »System

6 Zitiert nach Vorländer, Karl 1963, XIV. 7 KrV B XLIV. 8 KrV B XXXVIII f. Kant spricht, was die Unterschiede bezüglich der ersten und der zweiten Auflage der KrV betrifft, lediglich von »Abänderungen der Darstellungsart«. Ich halte mich im Folgenden im Wesentlichen an diese Selbstauskunft und sehe jedenfalls dort als Interpret keine nennenswerte systematische Positionsänderung, wo Kant den Text der ersten Auflage in der zweiten Auflage unverändert wieder abdrucken ließ. Kant in dieser Frage eine bewusste Täuschung seiner Leser zu unterstellen, verbietet sich mir von selbst. Andernfalls müsste ich Kant unterstellen, er habe wichtige Änderungen seiner Position selbst nicht wahrgenommen, und der etwas problematischen hermeneutischen Maxime folgen, ihn entschieden besser zu verstehen als er sich selbst verstanden hat. Dies betrifft für den Kontext meiner Studie vor allem die Skizze der praktischen Philosophie in der transzendentalen Methodenlehre. Dies besagt freilich nicht, dass er während der langen kritischen Phase seines Philosophierens nicht erhebliche Ausdifferenzierungen und Ergänzungen seiner Gedanken und Verbesserungen der Argumente vorgenommen hat. 9 Zitiert nach Vorländer, Karl 1963, XV. 10 Vgl. dazu detaillierter Ina Goy, Stichwort: Kritik der praktischen Vernunft, in: Willaschek, Marcus u. a. (Hgg.) 2015, Kant-Lexikon Bd. 2, 1316.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 23

08.11.2021 16:20:36

24

I. In die Metaphysik verliebt: Zur »Einleitung« der Kritik der reinen Vernunft

der Philosophie der reinen Vernunft« als vollständig ausgeführtem Plan der Transzendentalphilosophie klar und deutlich unterschieden sehen wollen. Was nicht so klar ist, und auch in der Kantliteratur nicht immer klar in Erscheinung tritt, ist dagegen Kants Unterscheidung von »Transzendentalphilosophie« und (kritischer) »Metaphysik«. Kant hat nach der Kritik dem Publikum ein transzendentalphilosophisches System sowohl der spekulativen als auch der praktischen Weltweisheit vorzulegen in Aussicht gestellt.11 Bereits in der Vorrede zur 1. Auflage der KrV schreibt er: »Ein solches System der reinen (spekulativen) Vernunft hoffe ich unter dem Titel: Metaphysik der Natur, selbst zu liefern.«12 Geliefert hat Kant allerdings nur noch die Metaphysik der Sitten. Die Metaphysik der Natur, zu der er 1786 die Metaphysischen Anfangsgründe publizierte, blieb Projekt.13 Die naturphilosophische Grundlegungsschrift von 1786 belegt Kants eindrucksvollen Versuch, »den Bereich apriorischer Grundsätze der Physik noch über das in der Kritik der reinen Vernunft Gesagte hinaus zu erweitern und näher zu bestimmen«.14 Worin diese Erweiterung und nähere Bestimmung im Wesentlichen besteht, macht eine von vielen überlesene Unterscheidung deutlich, die sich in der Einleitung B am Ende des ersten Abschnitts findet: »Von den Erkenntnissen a priori heißen aber diejenigen rein, denen gar nichts Empirisches beigemischt ist. So ist z. B. der Satz: eine jede Veränderung hat ihre Ursache, ein Satz a priori, allein nicht rein, weil Veränderung ein Begriff ist, der nur aus der Erfahrung gezogen werden kann.«15

Kant unterscheidet also reine synthetische Urteile a priori von nichtreinen synthetischen Urteilen a priori.16 Reine synthetische Urteile a priori enthalten ausschließlich apriorische Begriffe. In nichtreinen synthetischen Urteilen a priori sind auch Begriffe im Spiel, die »nur aus der Erfahrung gezogen werden können«. Was Kant an kritischer materialer Metaphysik entwickeln wird, als Metaphysik der Natur und als Metaphysik der Sitten, hat ganz wesentlich mit 11 12 13 14 15 16

Vgl. Kants Brief an Bering vom 7. April 1786, Vorländer, Karl 1963, XIII. KrV A XXI. Ansätze und Fragmente dazu bietet das Opus postumum. Patzig, Günther 1976, 13. KrV B 3. Vgl. dazu v. a. Cramer, Konrad 1985.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 24

08.11.2021 16:20:36

3. Kritik als besondere Wissenschaft. Organon und System

25

nichtreinen synthetischen Urteilen a priori zu tun, in denen elementare Erfahrungsbegriffe, mit denen wir die Natur und den Menschen beschreiben, in Sätze eingehen, die einen Geltungsanspruch erheben, der nicht empirisch begründbar ist. Unter »Transzendentalphilosophie« will Kant dagegen eine Wissenschaft verstanden wissen, die lediglich aus analytischen und reinen synthetischen Urteilen a priori besteht, eine Wissenschaft, in die »gar keine Begriffe hineinkommen müssen, die irgendetwas Empirisches enthalten«.17 Doch mit diesem Hinweis zur Unterscheidung von Transzendentalphilosophie und (kritischer) Metaphysik habe ich schon etwas vorgegriffen. Kommen wir auf die einführende Erläuterung von Kants philosophischem Grundanliegen zurück.

3. K  ritik als besondere Wissenschaft. Organon und System Mit der KrV verfolgt und realisiert Kant (jedenfalls im Umriss) die Idee einer »besonderen Wissenschaft«.18 »Besonders« ist an ihr, dass nach Kants Auffassung niemand sie bisher konzipiert und realisiert hat. Und besonders ist an ihr, dass sie in der bestehenden Ordnung der Wissenschaften eine ganz eigene Stellung zwischen der rein formalen, von allem Inhalt und Gegenstandsbezug abstrahierenden Logik und den materialen Wissenschaften von der Welt einnimmt. Kant kennzeichnet sie als »Wissenschaft der bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen«.19 Es handelt sich, kurz gesagt, um eine Wissenschaft von der Struktur des reinen apriorischen theoretischen und praktischen Wirklichkeitsbezugs unserer Vernunft. Vernunft ist für Kant in diesem Zusammenhang das Vermögen, »welches die Prinzipien der Erkenntnis a priori an die Hand gibt«.20 Unter »Erkenntnis a priori« versteht er nichtempirische Erkenntnis, ein, wie er sich ausdrückt, »von der Erfahrung und selbst von allen Eindrücken der Sinne unabhängiges Erkenntnis«.21

17 18 19 20 21

KrV A 14/B 28. KrV A 10/B 24. KrV A 11/B 25. KrV A 11/B 24. KrV B 2.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 25

08.11.2021 16:20:36

26

I. In die Metaphysik verliebt: Zur »Einleitung« der Kritik der reinen Vernunft

Dass es solche Erkenntnis gibt, ist uns aus der formalen Logik und der reinen Mathematik hinreichend vertraut. Beide sind, auch nach heutigem allgemeinem Verständnis, keine empirischen Wissenschaften. Doch Kant hat mit seiner besonderen Wissenschaft in theoretischer Hinsicht nicht primär diese kaum umstrittenen nichtempirischen theoretischen Disziplinen, er hat etwas Neues im Auge. Er äußert eingangs der Einleitung B die Vermutung, »dass selbst Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlasst) aus sich selbst hergibt, welchen Zusatz wir von jenem Grundstoffe nicht eher unterscheiden, als bis lange Übung uns darauf aufmerksam und zur bloßen Absonderung geschickt gemacht hat«.22

Kant interessiert also mit seiner besonderen Wissenschaft einer Kritik der reinen Vernunft die Erfassung und Erläuterung des Nichtempirischen im Empirischen,23 sei es in Aussagen, in denen die Welt beschrieben und erklärt wird, sei es in Sätzen, in denen uns etwas in der Welt zu tun oder zu unterlassen geboten oder empfohlen wird. Und der Schwerpunkt der Kritik liegt zunächst auf der ersten Art von Sätzen. Kant bemüht zur Verdeutlichung seines neuen Anliegens und Vorhabens das alte aristotelische Verstehensmodell von Stoff und Form. Das »Gebilde« veritabler Erfahrungserkenntnis ist etwas aus Form und Materie Zusammengesetztes, das Ergebnis eines Zusammenspiels dessen, was die Sinne uns rezeptiv an Eindrücken von der Welt liefern, und dessen, was wir aktiv über Leistungen unserer Erkenntnisvermögen zur epistemischen Formung, Strukturierung und Buchstabierung des Materials der Eindrücke beitragen. Doch Kant interessiert bei seiner besonderen Wissenschaft in theoretischer Hinsicht nicht alles an diesem unserem Beitrag, sondern nur ein ganz bestimmter Zusatz. Vieles tragen wir zur epistemischen Erfassung von aktuellen Eindrücken bei, was wir aus individueller und kollektiver Erfahrung beizutragen gelernt haben, sei es bewusst, sei es unbewusst. Die Assoziations-, die Gestalt-, die Kulturpsychologie und andere Disziplinen mehr mögen uns darüber belehren. Nicht dies interessiert. Kant interessiert vielmehr jener nicht zeitlich, 22 KrV B 1 f. 23 Vgl. dazu Prauss, Gerold 31993.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 26

08.11.2021 16:20:36

3. Kritik als besondere Wissenschaft. Organon und System

27

sondern sachlich vorgängige, apriorische Zusatz, der in aller menschlichen Erfahrungserkenntnis, aller bestimmten Erfahrung vorgängig, notwendigerweise als formendes Element im Spiel ist, wenn von einer gelungenen empirischen Erkenntnis mit Anspruch auf objektive Geltung die Rede sein soll. Es sei hier nur angedeutet, was mit diesem apriorischen Zusatz gemeint ist: Wir gliedern, was die Eindrücke uns bekunden, nach den Ordnungsmustern von Vorher, Nachher und Gleichzeitig, von Ineinander und Außereinander, von Ding und Eigenschaften, von Ursache und Wirkung etc. So muss ich etwa, um ein Erfahrungsobjekt als wirklich behaupten und von bloß Fiktivem unterscheiden zu können, ihm seine Raum-Zeit-Stelle zuweisen, es mit anderem bereits Bekannten verbinden und in die Ordnungsmuster der Kausalität integrieren können. Diese Ordnungsgesichtspunkte sind definierende Wesensbestandteile von Erfahrungserkenntnis. In Kants Sprache gesprochen: Diese Gesichtspunkte sind keine Erfahrungsgegebenheiten, sondern machen, was unter einer Erfahrungserkenntnis zu verstehen ist, allererst möglich. Und diese Gesichtspunkte gilt es zu untersuchen. Von ihnen und ihrem Gefüge und von ihrer Beziehung zu Logik und Mathematik ist auf dem Wege transzendentaler Analyse und Reflexion eine Wissenschaft möglich. Das epistemische Vermögen, diese Gesichtspunkte zu liefern ebenso wie zu reflektieren, nennt Kant »reine Vernunft«. »Daher ist reine Vernunft diejenige, welche die Prinzipien, etwas schlechthin a priori zu erkennen, enthält.«24 Die Wissenschaft der bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen nennt Kant »Kritik der reinen Vernunft«.25 Ihr der Idee nach abschließbares und objektiv gültiges Reflexions- und Beurteilungsergebnis wäre ein »Organon der reinen Vernunft«. Die Rede vom Organon erinnert an das Oeuvre des Aristoteles. Enthielt das aristotelische Organon nach Kants Sicht der Dinge nur rein formale Elemente der Logik und wissenschaftlichen Argumentation, so soll sein eigenes »Organon der reinen Vernunft« dem Ziel nach alle rein apriorischen Elemente des geordneten Bezugs der theoretischen und praktischen Vernunft auf Gegenstände der Erfahrung ebenso wie Kriterien seiner Unterscheidung vom ungeordneten Bezug auf Gegenstände überhaupt enthalten. Dies »würde ein Inbegriff derjenigen Prinzipien sein, nach denen alle reinen Erkenntnisse a priori erworben und wirk24 KrV A 10 f./B 24. 25 KrV A 11/B 25.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 27

08.11.2021 16:20:36

28

I. In die Metaphysik verliebt: Zur »Einleitung« der Kritik der reinen Vernunft

lich zustande gebracht werden«.26 Die Betonung liegt hier auf »alle reinen Erkenntnisse a priori«. Vom Organon als bloßem Prinzipien-Instrument zur Erstellung reiner apriorischer Erkenntnisse ist der Einsatz des Instruments und das erfolgreiche Erzielen, Sammeln und abschließende Ordnen reiner apriorischer Erkenntnisse überhaupt zu unterscheiden. Dieses letzte epistemische Ziel nennt Kant Tranzendentalphilosophie als »System der reinen Vernunft«.27 Sowohl die philosophische Arbeit an der Erfassung des Organons als auch den Einsatz des Organons in der Arbeit am System kennzeichnet Kant mit dem Ausdruck »transzendental«. Transzendentales Philosophieren ist nicht selbstvergessen objektbezogenes, sondern in seiner Objektbezogenheit reflexives, auf die rein apriorischen Elemente des Gegenstandsbezugs reflektierendes Denken. Es geht in ihm nicht darum, in direktem Zugriff auf den Gegenstand zu erfassen, was etwas ist und warum es so ist, wie es ist (oder sein soll). Es geht ihm vielmehr darum, zu erfassen, ob und wie und inwieweit es möglich ist, zu erkennen, dass und warum etwas so ist, wie es ist (oder sein soll). Und dies auf apriorische Weise. »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.«28 Transzendentalphilosophie klärt also das gesamte Vermögen und die gesamten Leistungen unserer Vernunft im Blick auf »unsere Begriffe a priori von Gegenständen überhaupt«.29 »Ein System solcher Begriffe würde Transzendentalphilosophie heißen.«30 Nun möchte Kant mit seiner KrV, wie gesagt, nicht Organon und System der reinen Vernunft in einem liefern. Dies wäre, wie er sagt, für den Anfang zu viel, müsste dies doch alle analytische Erkenntnis a priori und alle reine synthetische Erkenntnis a priori umfassen. Mit den analytischen Vernunftleistungen möchte er sich in der Kritik nur so weit befassen, als es »unentbehrlich notwendig ist, um die Prinzipien der Synthesis a priori, als worum es uns nur zu tun ist, in ihrem ganzen Umfange einzusehen«.31 Die Rede von »Prinzipien der Synthesis a priori in ihrem ganzen Umfange« lässt bewusst offen, was alles mit 26 27 28 29 30 31

KrV A 10/B 24 f. KrV A 10/B 25. KrV B 25. KrV A 11 f. KrV B 25. KrV A 12/B 25 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 28

08.11.2021 16:20:36

4. Das Grundproblem: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?

29

diesen Prinzipien der Synthesis32 noch an nichtreinen apriorischen Erkenntnissen, das heißt an Metaphysik im kritischen Sinn, zu erzielen ist. Die KrV liefert nur das Organon und nur die Umrisse des Systems, nicht aber das ausgeführte System der reinen Erkenntnisse a priori. Sie ist, wie es im Vorwort zur zweiten Auflage heißt, »ein Traktat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft selbst; aber sie verzeichnet gleichwohl den ganzen Umriss derselben, sowohl in Ansehung ihrer Grenzen, als auch den ganzen inneren Gliederbau derselben«.33 Die Grenze zwischen Transzendentalphilosophie und kritischer Metaphysik ist in der KrV nicht immer klar gezogen. Transzendentalphilosophie (im engen Sinn) ist nach Kants eigenen Worten auf den reinen Teil der apriorischen Erkenntnisse beschränkt. Deshalb, so Kant, sollte auch die Moralphilosophie nicht umstandslos zur Transzendentalphilosophie gerechnet werden. »Daher, obzwar die obersten Grundsätze der Moralität und die Grundbegriffe derselben, Erkenntnisse a priori sind, so gehören sie doch nicht in die Transzendental-Philosophie, weil sie die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen usw., die insgesamt empirischen Ursprungs sind, zwar selbst nicht zum Grunde ihrer Vorschriften legen, aber doch im Begriffe der Pflicht, als Hindernis, das überwunden, oder als Anreiz, der nicht zum Bewegungsgrunde gemacht werden soll, notwendig in die Abfassung des Systems der reinen Sittlichkeit mit hineinziehen müssen.«34

4. D  as Grundproblem: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Die leitende Aufgabe, die Kant sich mit seiner Kritik stellt, ist die Beantwortung der Frage: »Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?«35 Und er formuliert auf philosophisch-kunstsprachliche Weise das dabei zu lösende Gru­ndproblem

32 Zum Begriff der Synthesis bei Kant (im Vergleich zu Aristoteles) vgl. ausführlich Forsch­ ner, Maximilian 1986. 33 KrV B XXII f. 34 KrV B 28 f.; vgl. A 14 f. 35 KrV B 22.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 29

08.11.2021 16:20:36

30

I. In die Metaphysik verliebt: Zur »Einleitung« der Kritik der reinen Vernunft

mit der Frage: »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?«36 Diese Frage zielt nicht auf eine Erklärung, wie wir Menschen dazu kommen, synthetischapriorische Urteile zu fällen. Sie zielt auf die epistemische Berechtigung solcher Urteile. Kant sieht in der Frage der epistemischen Legitimität dieser Urteilsart das zentrale Problem, weil er sieht, dass in der Metaphysik, sei es als bloß versuchter, sei es als wirklicher Wissenschaft, diese Urteilsart notwendigerweise eine, ja die tragende Rolle spielt.37 Und weil er sieht, dass die Transformation überkommener Metaphysik in eine solche mit begründetem Wissensanspruch nur möglich ist, wenn die Legitimitätsfrage bezüglich synthetischer Urteile a priori positiv und im »Wie« überzeugend beantwortbar ist. Was ist mit der technischen Formel »Wie sind synthetische Urteile a p ­ riori möglich?« näherhin gemeint? Kant unterscheidet analytische von synthetischen Urteilen. Analytische Urteile, so Kant, sind das Ergebnis von »Zergliederungen der Begriffe, die wir schon haben.38 Dieses liefert uns eine Menge von Erkenntnissen, die, ob sie gleich nichts weiter als Aufklärungen oder Erläuterungen desjenigen sind, was in unsern Begriffen (wiewohl noch auf verworrene Art) schon gedacht worden, doch wenigstens der Form nach neuen Einsichten gleich geschätzt werden, wiewohl sie der Materie oder dem Inhalte nach die Begriffe, die wir haben, nicht erweitern, sondern nur auseinandersetzen.«39

Über die Wahrheit analytischer Urteile kann man durch bloßes Nachdenken entscheiden; die Entscheidung bedarf nicht der Berufung auf Erfahrung. Kant geht, wie vor ihm schon Platon und Aristoteles, von der logisch-grammatischen Subjekt-Prädikat-Struktur des Satzes als der Fundamentalstruktur eines Aussagesatzes aus: Etwas wird von etwas ausgesagt. In einem solchen Satz wird der Prädikatbegriff zum Subjektbegriff in ein bestimmtes Verhältnis gesetzt bzw. als in einem bestimmten Verhältnis stehend behauptet. Und dieses Verhältnis, so Kant, ist auf zweierlei Art möglich: »Entweder das Prädikat B gehört zum Subjekt A als etwas, was in diesem Begriff A (versteckterweise) ent-

36 37 38 39

Prolegomena, AA IV, 263; 274 f.; vgl. KrV A 10/B 18. Vgl. KrV B 18. Vgl. dazu jetzt Newen, Albert/Horvath, Joachim (Hgg.) 2007. KrV A 5 f./B 9.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 30

08.11.2021 16:20:36

4. Das Grundproblem: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?

31

halten ist«40 – man könnte auch »technisch« sagen: was Bestandteil des Definiens der Definition von A ist –, »oder B liegt ganz außer dem Begriff von A, ob es zwar mit demselben in Verknüpfung steht. Im ersten Fall nenne ich das Urteil analytisch, in dem andern synthetisch.«41 Analytisch wäre demnach der Satz »Ein Junggeselle ist unverheiratet«; synthetisch wäre der Satz »Sokrates sitzt«. Das Prädikat des ersten Satzes ist Bestandteil der Definition des Subjektbegriffs. Das Prädikat des zweiten Satzes steht zwar, wie Kant metaphorisch sagt, mit seinem Subjektbegriff »in Verknüpfung«; der Satz behauptet ja, dass dem Sokrates (zum Zeitpunkt tx) das Sitzen zukommt. Aber dies, dass Sokrates (gerade) sitzt, kann nicht durch eine Analyse des Subjektbegriffs erfasst werden. Der Ausdruck »Sokrates« bezeichnet einen bestimmten Menschen. Im Begriff eines Menschen sind zwar die Möglichkeiten des Sitzens, Stehens, Liegens oder Lehnens dieser Art von Körpern enthalten, und diese Möglichkeiten ließen sich in Form analytischer Sätze a priori behaupten. Aber nicht dies ist im Begriff eines Menschen, oder im Begriff eines bestimmten Menschen enthalten, dass er gerade sitzt. Um den Satz »Sokrates sitzt« wahrheitsgemäß behaupten zu können, bedarf es nicht nur der Beherrschung der deutschen Sprache und des Verstehens des Begriffs des Menschen und des Eigennamens »Sokrates«, sondern der Legitimation durch anderes, in unserem Fall letztlich durch sinnliche Erfahrung, die wir und jedermann sonst, bezogen auf den Menschen Sokrates, zum Zeitpunkt tx machen können. Löst man Kants Erläuterung des Begriffs analytischer Urteile vom Paradigma eines Satzes mit Subjekt-Prädikat-Struktur, so kann man sagen, dass analytisch all jene Sätze sind, über deren Wahrheit allein im Rekurs auf die Regeln der Logik und Semantik einer Sprache entschieden werden kann. Und als synthetisch wären all jene Sätze zu bezeichnen, bei denen dies nicht möglich ist. Analytische Urteile sind erläuternd, synthetische Urteile sind erweiternd. Zu den synthetischen Urteilen gehören alle sogenannten Erfahrungsurteile.42 In einem Erfahrungsurteil gehen wir über den Begriff, den wir von einem Gegenstand haben, hinaus und erweitern unser Urteil über ihn durch Bestimmungen, von denen wir durch Beobachtung und sinnliche Wahrnehmung des über den vorgängigen Begriff identifizierbaren Gegenstandes Kenntnis erhal40 KrV A 6/B 10. 41 Ebd. 42 KrV B 11.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 31

08.11.2021 16:20:36

32

I. In die Metaphysik verliebt: Zur »Einleitung« der Kritik der reinen Vernunft

ten. Erfahrungsurteile sind synthetische Urteile a posteriori. Wie aber, so lautet für Kant die alles entscheidende Frage, sollen synthetische Urteile a priori möglich sein? Kennzeichen analytischer Urteile ist ihre allgemeine und notwendige Geltung. Kennzeichen synthetischer Urteile a posteriori ist ihre bloß faktische, ihre »zufällige«, ihre kontingente Geltung. Sinnliche Wahrnehmung als Wahrnehmung von Einzelnem, auch wiederholte sinnliche Wahrnehmung als Wahrnehmung von gleichem und ähnlichem Einzelnem legitimiert uns nur, zu sagen, dass etwas einmalig oder regelmäßig so oder so ähnlich der Fall ist, aber niemals, dass es jetzt so oder stets so der Fall sein muss, wie es ist. Synthetische Urteile a priori sollen nun mit den analytischen den legitimen Anspruch allgemeiner und notwendiger Geltung teilen. Dieser Anspruch kommt ihnen aufgrund ihrer Apriorität zu. Aber gleichwohl sollen sie erweiternd, nicht bloß erläuternd, nicht bloß aus rein logisch-semantischen Gründen wahr sein; sie sollen uns etwas über die (Struktur der) Welt sagen.43 Kants Beispiel eines synthetischen Urteils a priori (es handelt sich übrigens um ein nichtreines synthetisches Urteil a priori) in der Einleitung ist: »Alles, was geschieht, hat seine Ursache.«44 Kants Argument, dass es sich hier um ein synthetisches Urteil a priori handeln muss, ist einmal das Merkmal seines notwendigen und universellen Geltungsanspruchs, mit dem es etwa die Physiker, aber auch der Alltagsverstand gebrauchen, und zum anderen der Gedanke, dass der Begriff der Ursache bzw. des Verursachtseins, genauer, des notwendigen Verursachtseins nicht einer Analyse des Begriffs des Geschehens zu entnehmen ist. Der Begriff des Geschehens impliziert die Zeitvorstellung und die Vorstellung der Veränderung, das heißt die Vorstellung, dass einige Attribute, die einem Gegenstand zum Zeitpunkt t1 zukommen, diesem Gegenstand zum Zeitpunkt t2 nicht mehr zukommen etc. Er impliziert nicht den Gedanken, dass diese Veränderung des Gegenstandes in t2 sich aus dem Zustand des Gegenstandes in t1 und den Randbedingungen, denen er in t1 ausgesetzt ist, nach (sc. empirisch zu eruierenden und validierenden) Verlaufsgesetzen (»notwendig«) ergibt. Dies ist eine Vorstellung, die den Begriff des Geschehens erweitert. Nun mag dies ja durchaus bei diesem Beispiel zutreffen. Und bis hierher hätte auch ein David Hume der kantischen Interpretation wohl zugestimmt. 43 Vgl. dazu Haag, Johannes 2007. 44 KrVA 9/B 13.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 32

08.11.2021 16:20:36

4. Das Grundproblem: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?

33

Die entscheidende Frage ist: Was gibt dem apodiktischen Geltungsanspruch dieses Beispielsatzes seine Berechtigung? Nun, Hume würde sagen, wir werden zu solchem Geltungsanspruch über psychische Assoziationsmechanismen der Erfahrung von Regularitäten verführt. Kants Antwort auf diese Frage ist dagegen die eines Wesenstheoretikers. Sie wird in dem Nachweis bestehen, dass dieser Satz, zusammen mit anderen derartigen Sätzen, das vorgängige Bedingungsgefüge ausmacht, das gelten muss, wenn so etwas wie Erfahrungserkenntnis (etwa im Sinne der Newton’schen Physik, oder auch im Sinne unseres Alltagsverständnisses) überhaupt möglich sein soll. Dieser Satz, so Kant, stellt ein konstitutives Element des wesenhaften und normativen Rahmens aller Erfahrungserkenntnis dar. Das heißt, ich meine mit Erfahrungserkenntnis und kann nur dann veritable Erkenntnis bezüglich eines Gegenstandes der Erfahrung beanspruchen, wenn ich sein Dasein und Sosein nach Kausalgesetzen erklären kann. Dass solche Erklärungen im Alltag meist sehr elliptisch ausfallen, versteht sich von selbst, nimmt aber dem Anspruch nichts von seiner prinzipiellen Valenz. Ereignisse in Raum und Zeit, so Kant, sind nur unter der Bedingung Gegenstand einer theoretischen Erkenntnis und Erkenntnisbemühung, dass sie in einen kausal bestimmten Ereigniszusammenhang eingeordnet werden können. Kant hat eine Vorstellung vom Wesen der Erfahrungserkenntnis und eine Vorstellung von notwendigen Elementen dieses Wesens. Das Merkmal, dass ein Grundsatz ein Element dieses Wesens ausmacht, ist dies, dass der Satz mit dem Anspruch auf notwendige und ausnahmslose Geltung auftritt und Gewissheit beansprucht wie etwa, schon im Alltagsverstand, das Kausalprinzip (nämlich, dass alles, was geschieht, seine Ursache hat). Gerechtfertigt wird der Grundsatz dann durch den Nachweis seiner »Unentbehrlichkeit zur Möglichkeit der Erfahrung selbst«,45 das heißt durch den Nachweis, dass der Begriff der Erfahrungserkenntnis ohne diesen Grundsatz nicht konsistent und sinnvoll zu denken ist. Solche Rechtfertigung ist nicht auf empirischem Wege möglich. »Denn wo wollte selbst Erfahrung ihre Gewissheit hernehmen, wenn alle Regeln, nach denen sie fortgeht, immer wieder empirisch, mithin zufällig wären; daher man diese schwerlich für erste Grundsätze gelten lassen kann.«46 45 KrV B 5. 46 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 33

08.11.2021 16:20:36

34

I. In die Metaphysik verliebt: Zur »Einleitung« der Kritik der reinen Vernunft

Kant zieht nun ein Resümee dieser Unterscheidungen und formuliert eine markante These. Das Ziel, das gesamte Ziel unserer spekulativen, das heißt theoretischen Vernunfterkenntnis a priori besteht in der Erkenntnis solcher synthetischen Urteile a priori;47 denn, so die Überschrift eines aus den Prolegomena (§ 2c) in die Einleitung B neu übernommenen Kapitels (V): »In allen theoretischen Wissenschaften der Vernunft sind synthetische Urteile a priori als Prinzipien enthalten.«48 Kant belegt diesen Gedanken durch drei Paradedisziplinen spekulativer Vernunfterkenntnis: die Mathematik, die Physik und die Metaphysik. ­Urteile der reinen Mathematik, gemeint sind die Sätze der euklidischen Geometrie, der Arithmetik und der Algebra, so Kant, »sind insgesamt synthetisch«.49 Als Beispielsatz für die Arithmetik dient ihm der triviale Satz »7 + 5 = 12«; als Beispielsatz für die Geometrie der Satz, »dass die gerade Linie zwischen zwei Punkten die kürzeste sei«50. Kants Argument ist jeweils, dass die Wahrheit dieser Sätze nicht über eine Zergliederung der in ihnen enthaltenen Begriffe, sondern nur über ein Zusammenspiel von Begriff und (reiner) Anschauung einleuchtet. Ja, mathematische Begriffe enthalten Konstruktionsanweisungen bzw. sind nichts anderes als Regeln der Konstruktion eines Begriffs in der (reinen) Anschauung. Die Frage also, worauf die legitime Beanspruchung objektiver, ja notwendiger Gültigkeit mathematischer Sätze als synthetischer Urteile a priori beruht, lässt sich so beantworten, dass die hier behaupteten Sachverhalte als (notwendig) bestehende Begriffsverhältnisse anhand einer (jederzeit wiederholbaren) Konstruktion der entsprechenden Begriffe in der Anschauung demonstrierbar sind und sein müssen. Als Beispiele für synthetische Sätze a priori einer reinen Naturwissenschaft nennt Kant das Trägheitsgesetz51 sowie den Satz, »dass in allen Veränderungen der körperlichen Welt die Quantität der Materie unverändert bleibt«,52 und schließlich den Satz, »dass in aller Mitteilung der Bewegung Wirkung und Gegenwirkung jederzeit einander gleich sein müssen«.53 Es sind dies Sätze, die in 47 KrV A 9 f./B 13. 48 KrV B 14. 49 Ebd. 50 KrV B 16. 51 KrV B 21 Anm. 52 KrV B 17; 21 Anm. 53 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 34

08.11.2021 16:20:36

5. Die Metaphysik der »Schule« und die Metaphysik des »einfachen Menschen«

35

der Physik Newtons, in dessen Philosophiae naturalis principia mathematica von 1687, als gültig vorausgesetzt werden, und die, wenn ich recht sehe, zum Teil auch heute noch, etwa in Form des Energieerhaltungssatzes, ihre Gültigkeit beanspruchen. Kant sah es als Tatsache, ja als beweisbare Tatsache an, dass Mathematik und Naturwissenschaft synthetische Urteile a priori, Mathematik nur reine synthetische Urteile a priori, reine Naturwissenschaft auch nichtreine synthetische Urteile a priori enthalten, und dass der Wissenschaftscharakter dieser Disziplinen nicht in Frage steht. Seine Frage ging deshalb nicht dahin, ob es synthetische Urteile a priori mit legitimem Geltungsanspruch gibt. Sie ging vielmehr dahin, worauf es beruht, dass diese Urteile objektiv gültig sind. Der logische Positivismus des vergangenen Jahrhunderts hat als Quelle veritabler Erkenntnis dagegen nur Logik und Erfahrung anerkannt. Die Möglichkeit synthetischer Sätze a priori wurde von ihm strikt geleugnet: Alle wissenschaftlich seriösen Sätze seien entweder analytisch/a priori oder synthetisch/a posteriori; tertium non datur. Die Frage nach Existenz und Berechtigung synthetischer Urteile a priori wird in der Wissenschaftstheorie heute nach wie vor kontrovers diskutiert.54 Klar scheint zu sein, dass alle Naturwissenschaften auf ihrer Prinzipienebene mit synthetisch-apriorischen Annahmen operieren, und dass ihre allgemeinen Gesetzesannahmen durch Erfahrungssätze (vorläufig) bestätigt oder (definitiv) widerlegt, nicht aber begründet werden können. Klar scheint auch zu sein, dass die Mathematik ihrerseits von Grundsätzen abhängig ist, die nicht aus der Logik allein zu gewinnen sind.55 Allerdings wird für diese synthetisch-apriorischen Annahmen nicht mehr wie bei Kant Anschauungsevidenz in Anspruch genommen. Ihr Geltungsstatus ist konventionell bzw. rein hypothetisch, nicht apodiktisch und auf Evidenz gegründet.

5. Die Metaphysik der »Schule« und die Metaphysik des »einfachen Menschen« Reine Mathematik und reine Naturwissenschaft erfüllen für Kant eine Brücken­ funktion zum Verständnis und zur Beantwortung der Frage, wie Meta­physik als Wissenschaft möglich ist. Die Ausgangssituation für die Beantwortung der 54 Vgl. Quine, Willard Van Orman 1951; Nimtz, Christian 2004; Müller, Olaf 1998. 55 Vgl. Patzig, Günther 1976, 27.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 35

08.11.2021 16:20:36

36

I. In die Metaphysik verliebt: Zur »Einleitung« der Kritik der reinen Vernunft

­ rage, wie Metaphysik möglich sei, sieht grundsätzlich anders aus als jene für F reine Mathematik und reine Naturwissenschaft. Sind diese anerkannte wissenschaftliche Disziplinen, so gibt jene durch ihren bisherigen schlechten Fortgang allen Anlass, »einen jeden mit Grund an ihrer Möglichkeit zweifeln zu lassen«56. Die Metaphysiker der philosophischen Schulen liegen miteinander in beständigem Streit, der sich allem Anschein nach nicht mit zwingenden Vernunft­ argumenten beilegen lässt. Andererseits, so Kant, ist Metaphysik zwar nicht als wissenschaftliche Disziplin, wohl aber als »Naturanlage« wirklich und in der ­Aktualisierung dieser Naturanlage wohl auch nicht aus der Welt zu schaffen. »Denn die menschliche Vernunft geht unaufhaltsam, ohne dass bloße Eitelkeit des Vielwissens sie dazu bewegt, durch eigenes Bedürfnis getrieben bis zu solchen Fragen fort, die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft und ­daher entlehnte Prinzipien beantwortet werden können, und so ist wirklich in allen Menschen, sobald Vernunft sich in ihnen zur Spekulation erweitert, ­irgendeine Metaphysik zu aller Zeit gewesen, und wird auch immer darin bleiben.«57

Ein der Vernunft eigenes Bedürfnis macht Metaphysik als Naturanlage möglich und zu aller Zeit, wenn Menschen einmal ihre Vernunft kultiviert und theoretisch zu denken begonnen haben, wirklich. Kant weiß sich mit diesen Gedanken in einer langen Tradition philosophischer Interpretation des menschlichen Selbstverständnisses: Vernunft greift aus nach dem Unbedingten. Sie sucht den Abschluss, die Totalität der Bedingungen in der Erklärung der Phänomene der äußeren und inneren Welt, und sie sucht die Totalität der Bedingungen eines sinnvollen Selbstverständnisses im Verlangen nach persönlichem Glück und nach Gerechtigkeit in der Welt. Solches Ausgreifen der Vernunft übersteigt den Rahmen möglicher Erfahrung, der uns Menschen 56 KrV B 21. 57 Ebd.. Wer, wie etwa Jürgen Habermas, gegenwärtiges (und künftiges) Philosophieren geschichtsdiagnostisch als »nachmetaphysisches Denken« charakterisiert, könnte damit im Sinne der Behauptung (miss)verstanden werden, dass gegenwärtiges (und künftiges) Philosophieren sich nicht mehr mit »radikalen« Prinzipienfragen sowie Unbedingtheits- und Totalitätsbehauptungen beschäftigt. Ihm wäre dann wohl am besten mit Kant zu antworten: »Dass der Geist des Menschen metaphysische Untersuchungen einmal gänzlich aufgeben werde, ist ebensowenig zu erwarten, als dass wir, um nicht immer unreine Luft zu schöpfen, das Atemholen einmal lieber ganz und gar einstellen würden« (Prolegomena, AA IV, 367).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 36

08.11.2021 16:20:36

5. Die Metaphysik der »Schule« und die Metaphysik des »einfachen Menschen«

37

schon durch die Struktur von Raum und Zeit als formalem ­Bedingungsgefüge möglicher materialer Erfahrung und durch die begrenzte zeitliche Dauer ­unseres Daseins gezogen ist. Kant zentriert dieses Ausgreifen der Vernunft auf das Unbedingte thematisch in der Vorrede B in der dreigliedrigen Formel »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit«.58 Um diese Themen bemüht sich der gemeine Menschenverstand, um sie bemühen sich die Philosophen. Viele der Letzteren versuchen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit mit subtilen theoretischen Argumenten zu beweisen, die Unsterblichkeit etwa über den Gedanken der Einfachheit der Seelensubstanz oder das Dasein Gottes über den Begriff eines allerrealsten bzw. eines vollkommenen Wesens.59 Diese Beweise erleiden ein zweifaches Schicksal: Sie übersteigen in ihrer spekulativen Subtilität die Fassungskraft des breiten Publikums, und sie rufen stets ähnlich starke und subtile theoretische Argumente der professionellen Gegner auf den Plan. Dieses Schauspiel der Philosophen besitzt, da die Themen das menschliche Selbstverständnis in seinem Kern berühren, für das breite, inzwischen (d. h. zu Kants Zeit) ja schon weitgehend zum Lesen befähigte Publikum alle Züge eines Skandals. Um »dem Skandal vorzubeugen, das über kurz oder lang selbst dem Volke aus den Streitigkeiten aufstoßen muss, in welche sich Metaphysiker […] verwickeln«,60 sieht Kant eine zweifache Strategie geboten: einmal eine »professionelle«, das heißt philosophisch durchdringende Prüfung, eine Kritik der Möglichkeiten und Grenzen theoretischer Vernunftleistungen, die, wie er sagt, die elitäre Anmaßung und »den lächerlichen Despotismus der Schulen«61 auf ihrem eigenen wissenschaftlichen Niveau ein für allemal bricht, und zum anderen eine Kultur der »allgemein fasslichen und in moralischer Hinsicht hinreichenden Beweisgründe«,62 die der »jedem Menschen bemerkliche[n] Anlage seiner Natur«63 zu metaphysischen Fragen entsprechen. Kant deutet in der Vorrede B in kurzen, prägnanten Worten diese Anlage und die »in moralischer Hinsicht hinreichenden Beweisgründe« nur an, die dann in der Kritik der praktischen Vernunft, der Kritik der Urteilskraft und der 58 59 60 61 62 63

KrV B XXX. Vgl. KrV B XXXII. KrV B XXXIV. KrV B XXXV. KrV B XXXIII. KrV B XXXII.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 37

08.11.2021 16:20:36

38

I. In die Metaphysik verliebt: Zur »Einleitung« der Kritik der reinen Vernunft

Religionsschrift ihre argumentative Ausgestaltung (und »schulgerechte« Vertiefung) erfahren. So führt einmal die Anlage unserer Natur, »durch das Zeitliche (als zu den Anlagen seiner ganzen Bestimmung unzulänglich) nie zufriedengestellt werden zu können« zur »Hoffnung eines künftigen Lebens«. So führt zweitens unsere »Anlage zur Persönlichkeit«64 über »die bloße klare Darstellung der Pflichten im Gegensatze aller Ansprüche der Neigungen« zum »Bewusstsein der Freiheit«. So führt schließlich unser Sinn für Ordnung, Schönheit und Zweckmäßigkeit im Blick auf »die herrliche Ordnung, Schönheit und Fürsorge, die allerwärts in der Natur hervorblickt«, zum »Glauben an einen weisen und großen Welturheber«.65 Und Kant deutet in ebenso kurzen, prägnanten Worten die Legitimationsquelle an, durch die der menschlichen Vernunft – obgleich ihr die theoretische Erkenntnis von Totalität und Unbedingtem in der Erfahrungswirklichkeit verwehrt ist, gleichwohl auf der Basis praktischer Erkenntnis und Bejahung von Unbedingtem – eine theoretische Bestimmung von Übersinnlichem im Sinne eines reinen Vernunftglaubens bezüglich Gott, Freiheit, Weltganzem, Substantialität und Unsterblichkeit der Seele möglich ist. »Nun bleibt uns immer noch übrig, nachdem der spekulativen Vernunft alles Fortkommen in diesem Felde des Übersinnlichen abgesprochen worden, zu versuchen, ob sich nicht in ihrer praktischen Erkenntnis Data finden, jenen transzendenten Vernunftbegriff des Unbedingten zu bestimmen, und auf solche Weise, dem Wunsche der Metaphysik gemäß, über die Grenze aller möglichen Erfahrung hinaus mit unserem, aber nur in praktischer Absicht möglichen Erkenntnisse a priori zu gelangen.«66 Diese »in praktischer Absicht«, das heißt auf der Basis und im Sinne eines moralischen Selbstverständnisses, möglichen Erkenntnisse a priori bilden für sich betrachtet eine schlichte, allen normalsinnigen Menschen fassliche Metaphysik. Der Besitz der sie definierenden Überzeugungen im Sinne kanonischer Dogmen eines reinen Vernunftglaubens bleibt durch das subtile philosophische Geschäft einer durchdringenden Kritik nicht nur »ungestört, sondern er gewinnt vielmehr dadurch noch an Ansehen, dass die Schulen nunmehr belehrt werden, sich keine höhere und ausgebreitetere Einsicht in einem Punkte 64 Vgl. Rel. VI, 26 ff. 65 Vgl. KrV B XXXIII. 66 KrV B XXI.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 38

08.11.2021 16:20:37

5. Die Metaphysik der »Schule« und die Metaphysik des »einfachen Menschen«

39

anzumaßen, der die allgemeine menschliche Angelegenheit betrifft, als diejenige ist, zu der die große (für uns achtungswürdigste Menge) auch eben so leicht gelangen kann«.67 Die genannten metaphysischen Überzeugungen des »einfachen Menschen« – Jean-Jacques Rousseau hat dies Kant in den 60er Jahren beigebracht – sind von subtiler philosophischer Spekulation unabhängig und müssen gegen diese durch strenge wissenschaftliche Kritik und durch eine Kultur der allgemeinen Menschenvernunft geschützt werden. Strenge wissenschaftliche Kritik bzw. kritische Metaphysik ist allerdings dringend erforderlich, um der Verführung »einfacher« Menschen vorzubeugen und der Aufklärung irregeführter Menschen dienlich zu sein. »Es ist eine herrliche Sache um die Unschuld, nur es ist auch wiederum sehr schlimm, dass sie sich nicht wohl bewahren lässt und leicht verführt wird. Deswegen bedarf selbst die Weisheit – die sonst wohl mehr im Tun und Lassen, als im Wissen besteht – doch auch der Wissenschaft, nicht um von ihr zu lernen, sondern ihrer Vorschrift Eingang und Dauerhaftigkeit zu verschaffen.«68 Fassen wir zusammen: Die Frage »Wie ist Metaphysik als Naturanlage möglich?« ist zu beantworten über eine Erklärung, wie metaphysische Fragen ganz unausweichlich »aus der Natur der allgemeinen Menschenvernunft« entspringen.69 Sie entspringen, so die hier nur plakativ zu gebende Antwort, aus dem (legitimen, ja durch sie selbst bedingten) Totalitätsverlangen der Vernunft, alles zu erkennen, immer zu sein und mit dem Leben und der Welt im Ganzen einverstanden zu sein. Vielleicht hat Thomas von Aquin in seiner Summa contra Gentiles diesem Totalitätsverlangen menschlicher Vernunft und seiner notwendigen Enttäuschung im zeitlichen Dasein den philosophisch überzeugendsten Ausdruck verliehen.70 Vernunft verwickelt sich – so Kants durch die religiösen und philosophischen Weltanschauungskämpfe der frühen Neuzeit und der Aufklärung, durch den philosophischen Rationalismus, den Empirismus und die philosophische Skepsis gleichermaßen geschulte und belehrte Einsicht –, als rein theoretische Vernunft im Überstieg über den Bereich möglicher menschlicher Erfahrung, sei es im Rahmen des Alltagsverstandes, sei es im Rahmen schulmäßiger Philosophie, bei 67 68 69 70

KrV B XXXIII. GMS IV, 404 f. KrV B 21. Vgl. dazu Forschner, Maximilian 2006, 185–207.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 39

08.11.2021 16:20:37

40

I. In die Metaphysik verliebt: Zur »Einleitung« der Kritik der reinen Vernunft

der Beantwortung metaphysischer Fragen in unvermeidliche und unauflösliche Widersprüche. Das Bedürfnis einer überzeugenden Auflösung dieser Widersprüche führt zur Frage, wie Metaphysik als Wissenschaft möglich ist. Die Antwort lautet: Sie ist zum einen möglich auf dem Weg der Kritik der Leistungsfähigkeit des gesamten menschlichen Erkenntnisvermögens mit dem Ergebnis einer transzendentalphilosophisch geläuterten und vermittelten Metaphysik der Erfahrungserkenntnis und der Natur, die zugleich eine Lehre von den »bestimmten und sicheren Schranken« rein spekulativer Vernunfttätigkeit darstellt. Metaphysik als Wissenschaft ist zum anderen möglich als Prinzipienforschung und Prinzipienwissenschaft auf der Basis und im Ausgang vom moralischen Bewusstsein des »einfachen Menschen« bzw. des allgemeinen sittlichen Bewusstseins. Das heißt, sie ist möglich im Sinne der dialektischen Erhebung und genauen Analyse der Grundbegriffe und Grundsätze dieses Bewusstseins einerseits und der präzisen und schlüssigen Argumentation für einen Kanon positiver Überzeugungen eines reinen Vernunftglaubens bezüglich erfahrungstranszendenter Sachverhalte andererseits, für einen Kanon von unverzichtbaren theoretischen Annahmen, die die Vernunft unseres moralischen Selbstverständnisses in praktischer Absicht als gegeben und erfüllt postuliert, die sich »auf allgemein fassliche und in moralischer Hinsicht hinreichende Beweisgründe« stützen und die den Anlagen und dem Interesse unserer Natur als eines vernünftigen moralitätsfähigen und glücksbedürftigen Sinnenwesens entsprechen. Es wirkt immer noch nach, dass Vertreter des Neukantianismus Kants positive Metaphysik der gemeinen Menschenvernunft, die er in Form von theoretischen Postulaten des praktisch-moralischen Selbstverständnisses, als unverzichtbare Überzeugungen eines reinen Vernunftglaubens formuliert, schlicht ignorierten und Kants Kritik der reinen Vernunft auf eine Prinzipientheorie der Mathematik und exakten Naturwissenschaft reduzierten. Ein kleines, aber doch sprechendes Zeichen des (vielleicht gar unbewussten) Nachwirkens dieser Tradition mag sein, dass ein gewichtiger Textkommentar zur Einleitung in die KrV mit Scharfsinn und penibler Genauigkeit auf das Verständnis von Kants Formel »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« eingeht, doch dann Kants Bemerkungen über Metaphysik als Naturanlage schlicht übergeht und den Passus der Einleitung ab B 21 ganz einfach unkommentiert lässt.71 71 Cramer, Konrad 1998.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 40

08.11.2021 16:20:37

II. K  ants Weg zu einer »kriti­ schen« Metaphysik der Sitten: Über Moralität und Glück­ seligkeit in den Reflexionen »Die Moralität besteht in den Gesetzen der Erzeugung der (wahren) Glückseligkeit aus Freiheit überhaupt.« Immanuel Kant, AA XIX, Reflexion 7199

»Das moralische Gefühl ist kein ursprüngliches Gefühl. Es beruhet auf einem notwendigen inneren Gesetze, sich selber aus einem äußerlichen Standpunkt zu betrachten und zu empfinden. Gleichsam in der Persönlichkeit der Vernunft: da man sich im Allgemeinen fühlt und sein Individuum als ein zufällig Subjekt wie ein Accidens des Allgemeinen ansieht.« Immanuel Kant, AA XIX, Reflexion 6598

1. Das Glück der Selbstzufriedenheit in dieser Welt (A) Kants Weg zu einer »kritischen« Metaphysik der Sitten soll hier über die Reflexionen seines handschriftlichen Nachlasses gefunden werden. Die publizierten Schriften vermitteln uns über ihn kein sonderlich klares Bild. Die Beschäftigung mit Kants handschriftlichem Nachlass ist für das Verständnis (der Entwicklung) seines publizierten Werkes eben deshalb von besonderem Interesse, weil diese Reflexionen, wie zu zeigen sein wird, uns eine Theorie, die wir im Resultat kennen, in entscheidenden Schritten ihres Entstehens präsentieren.1

1 Die Reflexionen haben eindeutig »vorläufigen Charakter«; sie dokumentieren einen Selbstverständigungsprozess; vgl. Bojanowski, Jochen 2006, 19. Zu Editionsgeschichte und Editionsbeurteilung der Briefe und des handschriftlichen Nachlasses (in der Akademie-Ausgabe) siehe Stark, Werner 1993.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 41

08.11.2021 16:20:37

42

II. Kants Weg zu einer »kritischen« Metaphysik der Sitten: Über Moralität und Glück­seligkeit in den Reflexionen

Gewiss stellen uns Gedanken eines großen philosophischen Autors und Lehrers, die nicht zur Publikation bestimmt waren, vor spezielle Probleme der Interpretation: Sie sind fragmentarisch, vorläufig, mitunter rein hypothetisch, nicht selten vergröbernd, aufs Prinzipielle reduziert, mehr thesenartig als schulgerecht begründet und gelegentlich stark okkasionell, das heißt an einen zufälligen Kontext der täglichen Lehrtätigkeit und Lektüre gebunden. Dabei ist nicht immer sicher entscheidbar, ob ein Satz einen eigenen Gedanken oder ­lediglich eine notierte Lesefrucht darstellt. Gleichwohl scheint mir bei einem Philosophen vom Range Kants, dessen veröffentlichtes Werk seiner sogenannten kritischen Phase für die Philosophie in fast all ihren Disziplinen umwälzend und neuorientierend wirkte und sich auch heute noch ungebrochener Autorität erfreut, der Blick in seinen handschriftlichen Nachlass für das Verständnis (der Entwicklung) seines Denkens unverzichtbar. Die Gründe sind folgende: (a) Die Reflexionen zeigen deutlicher Kontinuität, Wenden und Brüche in der Entwicklung seiner Gedanken hin zu einer (vorläufig) abschließenden Position als dies die in teilweise großen Abständen publizierten Schriften tun. (b) In ihren oft ermüdenden Wiederholungen manifestieren sie zum Teil klarer als das publizierte Werk Art, Gewicht und Konstanz der Probleme, um deren Lösung er sich vorrangig be­mühte. (c)  Ihre meist lapidare Form zeigt Prämissen »nackt«, ohne eine literarische Einkleidung, die den Blick auf das Wesentliche verstellen kann. (d) Sie dokumentieren im Unterschied zu den Veröffentlichungen den Spielraum alternativer Konzepte, die Kant für erwägenswert hielt und zeitweise selbst zu vertreten geneigt war. (e) Sie enthalten im Fall der Prinzipien der Moral ein Konzept, das neben dem publizierten einen eigenständigen Rang besitzt und im Blick auf eine zentrale systematische Problemstellung der Allgemeinen Ethik der eingehenderen Prüfung wert sein dürfte. Das gemeinte Problem betrifft die Verhältnisbestimmung von Glück und Moralität und spezieller die Frage nach der Motivation moralischen Handelns. Warum moralisch sein wollen? Diese elementare und unabweisbare Frage glaubte die philosophische Ethik von ihren griechischen Anfängen bis in die Neuzeit hinein nur im Rückgang auf das (wahre) Glück des Menschen beantworten zu können. Moralität ist für Glück konstitutiv; und glücklich sein wollen wir selbstverständlich alle. Der »kritische« Kant hat bekanntlich mit diesem »Eudämonismus der Moral« gebrochen. Ethik wird zur philosophischen Sittenlehre; sie verliert durch ihn den primären Charakter einer Theorie

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 42

08.11.2021 16:20:37

1. Das Glück der Selbstzufriedenheit in dieser Welt

43

menschlichen Glücks und wird vorrangig zu einer Theorie der Moralität bzw. der Pflicht. Seine kritische Metaphysik der Sittlichkeit leitet der Gedanke, dass die Gründe und Normen moralischen Verhaltens und die Gründe und Regeln menschlicher Glückssuche ganz verschiedene, jedenfalls genau zu unterscheidende Dinge sind. Dieser Unterschied betrifft auch das Hauptmotiv moralischen Handelns. Allein die Vernünftigkeit des moralisch Gebotenen selbst bzw. die Achtung vor dem moralischen Gesetz, ohne Rücksicht auf eigene Glückseligkeit,2 ist, so Kant, wahres Motiv, wenn menschliches Handeln (auch) subjektiv gut sein soll. Die Theorie beruht auf einer trennenden Unterscheidung der empirischen von einer nichtempirischen, intelligiblen, nur durch die Vernunft erfassbaren Dimension der menschlichen Person. Moralität wird zum unbedingten Anspruch ihres nur gedanklich fassbaren Kerns, während im Streben nach Glück sich die naturale Selbstliebe des empirischen, bedürftigen, sprachfähigen Lebewesens Ausdruck verschafft. Bis heute möchte ein erheblicher Teil der Ethik-Forschung3 wesentliche Aspekte von Kants Theorie der Moralität bewahrt wissen, ohne auch dessen dualistischer Unterscheidung von empirischem und intelligiblem Ich Rechnung tragen zu müssen. Nun hat Kant das Projekt einer Konzeption (irdischen) menschlichen Glücks, die seinen Begriff von Moralität einschließt, auch selbst verfolgt, eine Konzeption, in der zwar die metaphysische Unterscheidung von sensiblem und intelligiblem Ich noch keine explizite Rolle spielt, wohl aber bereits eine platonisch gefärbte Anthropologie4 am Werk ist. Und er hat das Projekt in einer Phase verfolgt, in der er bereits eine einiger­ 2 Inwiefern dieser Satz der Modifikation durch den ergänzenden Verweis auf das Motiv der Hoffnung auf die Verwirklichung des höchsten Guts bedarf, siehe unten Kap. VIII. 3 Im Anschluss etwa an Tugendhat, Ernst 1984 und Patzig, Günther 1971. Diese (im deutschsprachigen Bereich einflussreichen) Autoren stehen mehr in der ethischen Tradition von David Hume und John Stuart Mill als von Kant, versuchen allerdings, kantische Aspekte von Moralität in ihr nicht-metaphysisches Konzept von Ethik zu integrieren. Im Anschluss an Hegel, Marx, die Linkshegelianer und Theoreme moderner Sprachphilosophie versucht auch Habermas, Jürgen 2019, Motive kantischer Ethik in sein »nachmetaphysisches« Konzept kommunikativer Ethik zu transferieren. 4 Im Ganzen ist freilich die Affinität Kants zur hellenistischen Philosophie, zu Stoa, Epiku­ reis­mus und Skepsis weitaus stärker als zu Platon und Aristoteles. Genauere Textkenntnis besitzt er von Cicero und Seneca; vieles ist ihm aus der Schule sentenzenhaft präsent; vieles schöpft er aus zeitgenössischen Lehrbüchern (Brucker, Gentzken, Büsching, Formey). Für die Ausbildung seiner Ethik, vielleicht auch für sein Konzept der Naturteleologie der KdU war die Stoa (und in so gut wie keiner Weise Aristoteles) von besonderer Bedeutung. Zu den Details bezüglich der drei großen Kritiken vgl. die eingehende Studie von Santozki, Ulrike 2006.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 43

08.11.2021 16:20:37

44

II. Kants Weg zu einer »kritischen« Metaphysik der Sitten: Über Moralität und Glück­seligkeit in den Reflexionen

maßen klare Vorstellung von seiner kritischen Transzendentalphilosophie (jedenfalls in theoretischer Hinsicht) besaß und die praktische Philosophie in enger Parallele zur theoretischen realisieren zu können dachte.5 Dieses Konzept lässt sich, wie ich im folgenden ersten Schritt zu zeigen versuche, mosaikartig aus Reflexionen vorwiegend der 70er Jahre6 in seiner eigenartigen Struktur rekonstruieren. Ich möchte nicht behaupten, Kant habe die dabei zutage tretende Position in der Zeit kurz vor der Veröffentlichung der KrV dezidiert vertreten. Doch da ich mich durchweg auf Reflexionen im Behauptungsmodus stütze, meine ich, dass er sie ernsthaft ins Auge gefasst hat. In einem zweiten Schritt werde ich dann versuchen, die Gesichtspunkte herauszuarbeiten, die Kant dazu bewogen haben, die Idee eines Glücks moralischer Selbstzufriedenheit zugunsten jener eines reinen Vernunftglaubens definitiv zu verabschieden. (B) Mit vier Zitaten scheint mir die zunächst zu rekonstruierende Position im Umriss beschreibbar zu sein: 1. »Die Freiheit ist ein schöpferisches Vermögen. Das Gute aus Freiheit ist daher ursprünglich.«7 2. »Die Moralität ist die innere Gesetzmäßigkeit der Freiheit, sofern sie nämlich sich selbst ein Gesetz ist.«8 3. »Die Moralität besteht in den Gesetzen der Erzeugung der (wahren) Glückseligkeit aus Freiheit überhaupt.«9 4. »Glückseligkeit ist eigentlich nicht die (größte) Summe des Vergnügens, sondern die Lust aus dem Bewusstsein seiner Selbstmacht zufrieden zu sein.«10 Zum ersten Satz: »Die Freiheit ist ein schöpferisches Vermögen. Das Gute aus Freiheit ist daher ursprünglich.« Mit Rousseau und im Sinn der Neu5 Die Vorstellung einer auffallenden Ähnlichkeit bzw. Parallelität zwischen kritischer Transzendentalphilosophie und Moralphilosophie, von der Kant in einer Vorarbeit zu seinen Prolegomena mit gewissem Entdeckerstolz spricht, scheint hier stärker gedacht zu sein, als sie sich dann für ihn in den publizierten moralphilosophischen Schriften realisieren lässt. Vgl. dazu die Ausgabe der Prolegomena, Phil. Bibl. Meiner Bd. 40, 1957, Beilage I, 156–166, 165. 6 Die von mir herangezogenen Reflexionen sind sämtlich dem Band XIX von Kants gesammelten Schriften der Akademie-Ausgabe, Berlin und Leipzig 1934 entnommen. R. bezieht sich auf die Reflexionsnummer, S. auf die Seiten- und Z. auf die Zeilenzahl. 7 R. 7196, S. 270, Z. 7–8. 8 R. 7197, S. 270, Z. 19–20. 9 R. 7199, S. 273, Z. 8–9. 10 R. 7202, S. 276, Z. 30–32.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 44

08.11.2021 16:20:37

1. Das Glück der Selbstzufriedenheit in dieser Welt

45

zeit sieht Kant in der Freiheit die wesentliche Eigenschaft des Menschen. Der freie Wille macht das Spezifische des geistbegabten Wesens und damit den Kern der Person aus. Freiheit ist demnach auch als das eigentliche Prinzip menschlicher Sittlichkeit anzusehen. Kant entwickelt diesen Gedanken zunächst in kommentierenden Bemerkungen zur schulphilosophischen Lehre von der i­mputatio practica, der juridischen und moralischen Zuschreibung von H ­ andlungen und Zurechnung von Handlungsfolgen.11 Freiheit wird darin primär als Gegenbegriff zu Natur verstanden und besagt Unabhängigkeit vom Zwang der Natur bzw., wie Kant es zumeist in platonisierender Sprache ausdrückt, vom »Zwange der Sinnlichkeit«.12 Gemeint ist fürs Erste der schlichte Sachverhalt, dass tierisches Leben über Instinktanlagen naturgesetzlich gesteuert wird, während menschliche Willkür durch die Fähigkeit zu Überlegung und Entscheidung das Leben selbst zu führen vermag.13 Freiheit ist dabei wesentlich charakterisiert durch das Merkmal der Ungebundenheit, das heißt der Fähigkeit, stets auch anders sich zu verhalten, als man sich tatsächlich verhält. »Das Vermögen zum Gegenteil ist immer da.«14 Kant erweitert allerdings den schulphilosophischen Gedanken der Indeterminiertheit des Menschen um ein wichtiges, ein Rousseau’sches Element: Er bezieht die Ungebundenheit nicht nur auf die Wahl der Mittel, er interpretiert sie auch als Freisein des Menschen von einem inhaltlich vorgegebenen Endziel des Lebens, in dem sein Streben zur Erfüllung gelangt. Der Mensch hat, in Kants Worten, eine »zu allerlei Gestalten fähige Natur«.15 Er findet eine »natürliche Unbestimmtheit in der Art und Proportion seiner Vermögen und Neigungen«16 vor; er wird Urheber auch der Ziele seines Handelns nach Begriffen.17 Kant sieht also den Menschen von Natur dazu bestimmt, sich mit der Wahl der Strebensziele in der Welt auch seine ihm adäquate Lebensform selbst zu schaffen. Und ein weiterer Aspekt, der die Rede vom Zwang der Natur erklärt, ist von Bedeutung: Der Mensch gefällt sich in dieser unabhängigen Tätigkeit der 11 So wie sie in Alexander Gottlieb Baumgartens Initia Philosophiae Practicae, Halae Magde­ burgica 1760, Sectio VII-X lehrbuchgerecht dargestellt ist. 12 Etwa R. 7202, S. 281, Z. 11. 13 Vgl. R. 7220, S. 289, Z. 9–10. 14 R. 7178, S. 265, Z. 11–12; vgl. R. 7150, S. 258. 15 R. 6593, S. 99, Z. 1–2. 16 R. 6593, S. 98 f. 17 Vgl. R. 7248, S. 294; R. 7199, S. 272.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 45

08.11.2021 16:20:37

46

II. Kants Weg zu einer »kritischen« Metaphysik der Sitten: Über Moralität und Glück­seligkeit in den Reflexionen

Welt- und Selbstgestaltung. Ja, sein Streben findet befriedigende Erfüllung nur in Zielen, die er selbst konzipiert, sich vornimmt und realisiert. Unter diesem Gesichtspunkt spricht Kant in einem programmatischen Entwurf »Zur praktischen Philosophie« davon, der Mensch sei »durch die Natur bestimmt […] selbst der Urheber seiner Glückseligkeit und sogar seiner eigenen Neigungen und Fertigkeiten zu sein, welche diese Glückseligkeit möglich machen«.18 Freiheit vom Zwang »tierischer Sinnlichkeit« bedeutet für Kant dementsprechend nicht nur Herrschaft des Verstandes über den unmittelbaren Eindruck der S­ inne und den durch Lust/Unlust-Empfindung evozierten unwillkürlichen Verhaltensimpuls, im Sinn der Fähigkeit, »einen Teil der Sinnlichkeit mit dem Ganzen proportionierlich zu vergleichen«19 und entsprechend zu handeln. Freiheit bedeutet auch die Fähigkeit des Menschen, bewusst und sua sponte auf etwas aus zu sein, was in keinerlei Motivationszusammenhang steht mit seinen unwillkürlichen Tendenzen der Selbst- und Arterhaltung, der Lustsuche und Unlustvermeidung.20 In Kants Worten: Freiheit bedeutet Unabhängigkeit von »empirischer Selbstliebe«,21 »von empirischen Bedingungen der Antriebe«,22 von aller »Naturbestimmung« überhaupt.23 Nicht darin unterscheidet sich der Mensch grundlegend vom Tier, dass er anstelle von Instinktausstattung über Verstand verfügt, sondern darin, dass er die Ziele seines Strebens unabhängig von Vorgaben seiner Natur selbst zu setzen vermag, dass er in der Bestimmung seines Wollens nicht »physisch genötigt« ist: »Wenn ein Wesen auch vermittelst seines Willens wozu bestimmt würde, der Wille selbst aber würde bestimmt, so würde er gerne tun und doch physisch genötigt sein.«24 Freiheit ist so gesehen für Kant die Fähigkeit zu selbstmächtiger Schöpfung der Beschaffenheit des eigenen Lebens und Erlebens des Lebens in der Welt. Diese Eigenschaft verleiht ihrem Träger den Grund eines Werts, der dem gegenüber völlig andersartig ist, was wir meinen, wenn wir Dinge, Vorgänge oder Sachverhalte in der Welt als schön, gut oder angenehm bezeichnen. Es

18 19 20 21 22 23 24

R. 7199, S. 272, Z. 13–15. R. 7197, S. 271, Z. 24–25. Zu den Quellen von Kants anthropologischen Überlegungen siehe Brandt, Reinhard 1999. R. 7199, S. 272, Z. 31. R. 7200, S. 274, Z. 12–13. R. 7202, S. 276, Z. 25. R. 7245, S. 293, Z. 26–29.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 46

08.11.2021 16:20:37

1. Das Glück der Selbstzufriedenheit in dieser Welt

47

ist das derart die Welt und sich selbst gestaltende Person-Sein, das Kant in Abgrenzung zu allen übrigen Objekten des Strebens oder Wohlgefallens mit dem Ausdruck »Würde« charakterisiert.25 Entitäten, denen Würde zukommt, sind das Vornehmste, was es für uns gibt.26 Und Person-Sein im Sinn schöpferischer Freiheit ist Ursprung oder Bezugspunkt all dessen, was wir sonst noch wertvoll nennen. Dieses wird so nur genannt und ist es durch seine spezifische Relation und in dem Maß seiner Nähe zu personaler Freiheit. »Natur«, so heißt es in einer Reflexion aus dem Anfang der 70er Jahre, »hat keinen eigentümlichen Wert«;27 und wenig später: »das Gute im Physischen ist immer relativ«.28 Demjenigen, was nicht Person ist, wird lediglich der Stellenwert des Materials bzw. Mittels zuerkannt, in dem oder durch das sich die Person in ihrer Freiheit realisiert.29 Der (nur) relative Wert des Physischen wird von Kant dabei zweifach bestimmt: als Mittel zum Genuss des Lebens und als Mittel bzw. Material des Gebrauchs der Freiheit; wobei der gute Gebrauch, den die Person von ihrer Freiheit und den Dingen in der Welt macht, die oberste Bedingung all dessen darstellen soll, was wir vernünftigerweise gut nennen und billigen. Und dieser Gebrauch der Freiheit wird praktisch gedacht. Die Aktualisierung der Fähigkeit des Menschen zur Theoria, zur bedürfnisenthobenen Erkenntnis und Betrachtung der Natur und ihrer Prinzipien, ehedem für das Göttliche im Menschen und als eine, wenn nicht die Quelle seiner ihm möglichen Glückseligkeit angesehen, verliert gegenüber der Aktualisierung schöpferischer und gestaltender Freiheit an Gewicht und wird in den Rang eines bloßen Vergnügens herabgestuft: »Die Welt ist von keinem Wert, wo nicht vernünftige Wesen sind, von denen sie gebraucht wird (und nicht bloß angeschaut wird); der bloß beliebige Gebrauch der Welt gehet auf das Vergnügen des Lebens […]. Allein die oberste Bedingung 25 R. 7248, S. 294, Z. 8: »Die Freiheit hat Würde wegen ihrer Unabhängigkeit.« 26 Der Mensch hat sich selbst »als ein frei handelndes Wesen und zwar dieser Independenz und Selbstherrschaft nach zum vornehmsten Gegenstand«( R. 7199, S. 272, Z. 21–23). 27 R. 6618, S. 112, Z. 18–19. 28 R. 7216, S. 288, Z. 2. 29 »Die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person ist die Persönlichkeit selbst, d. i. Freiheit; denn er ist nur Zweck an sich selbst, sofern er ein Wesen ist, das sich selbst Zwecke setzen kann. Die Vernunftlosen, die das nicht können, haben nur den Wert der Mittel« (R. 7305, S. 307, Z. 20–23).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 47

08.11.2021 16:20:37

48

II. Kants Weg zu einer »kritischen« Metaphysik der Sitten: Über Moralität und Glück­seligkeit in den Reflexionen

dieser Absicht ist der gute Gebrauch, den sie von sich selbst und den Dingen der Welt machen.«30

»Zweck an sich selbst«, das heißt um seiner selbst willen schätzenswert und der bedingungslosen Achtung und Sorge würdig, ist ein Wesen nur im Blick auf die Freiheit seines Willens. Kognitive Eigenschaften des Geistes sind in diese Selbstwerthaftigkeit nur eingeschlossen, soweit sie Bestandteil der Freiheit bzw. einer bestimmten Qualifikation der Freiheit sind. »Verstand ist nur mittelbar gut, als ein Mittel zu anderem Guten und zur Glückseligkeit. Das unmittelbare Gute kann nur bei der Freiheit angetroffen werden […]. Gleich wie die Freiheit den ersten Grund von allem enthält, was anfängt, so ist sie auch, was die selbständige Bonität allein enthält.«31

Die Freiheit der Person ist ursprünglicher, schöpferischer Grund des Guten in zweifacher Hinsicht. Durch eine Selbstqualifizierung konstituiert sie das, was wir vernünftigerweise zuhöchst schätzen und unter allen Umständen billigen: die »Bonitaet (der) freien Willkür«32. Und durch diese Selbstqualifizierung bewirkt sie für die Person Wesentliches von dem, wonach alles Lebendige auslangt, das überhaupt nach etwas strebt: Glückseligkeit. Sie wird zu einem »innern Quell der Glückseligkeit, den Natur nicht geben kann und wovon wir selbst Urheber sein«.33 Kant scheut sich nicht, diese neuzeitlich gewichtete Differenz von Physischem und Freiheit bezüglich der Prinzipien menschlichen Lebens und Tätigseins in einer Sprache auszudrücken, die der platonischen Zweiweltenlehre entstammt: Soweit Natur unser Tun bewegt, sind wir pathologisch bestimmt, erleiden wir das Leben; soweit wir der »Freiheit subordiniert« sind,34 ist unser Leben »von reinen und himmlischen Ursprüngen«.35 Entsprechend zu differenzieren ist das Vergnügen, das der Befriedigung von Bedürfnis30 R. 6908, S. 203, Z. 6–12. Kant steht, was den Primat des Willens über den Verstand, der Praxis über die Theoria betrifft, zweifellos unter dem unmittelbaren Einfluss von Christian August Crusius, Anweisung vernünftig zu leben, Leipzig 1744 (Nachdruck Hildesheim 1969), §§ 233–234; 284–288. 31 R 6598, S. 103, Z. 9–10, 16–18. 32 Ebd,, Z. 16. 33 R. 7260, S. 296, Z. 28–30. 34 R. 6605, S. 106, Z. 6–7. 35 R. 6615, S. 111, Z. 11.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 48

08.11.2021 16:20:37

1. Das Glück der Selbstzufriedenheit in dieser Welt

49

sen entspringt, von der Lust, die mit einem Handeln aus Freiheit verbunden ist: »Diese Wollust ist vom Himmel genommen und das Ambrosia der Götter.«36 Zum zweiten Satz: »Die Moralität ist die innere Gesetzmäßigkeit der Freiheit, sofern sie nämlich sich selbst ein Gesetz ist.«37 Freies Person-Sein ist sowohl faktisch als auch rechtmäßig Gegenstand eigentümlicher Wertschätzung, aber nicht nur von Achtung, sondern auch von Verachtung, je nach seiner Qualifikation. Denn es ist Ursprung dessen, was wir umstandslos gut, wie dessen, was wir absolut schlecht nennen. Das absolut Gute nun, die »Bonität« bzw. die Moralität der Person, soll, wie es die wohl gewichtigste Reflexion dieser Phase ausdrückt, in ihrer »wohlgeordnete[n] Freiheit« bestehen.38 Als solche ist sie »das größte und eigentlich absolute Gut in jedem Verhältnisse«.39 Und umgekehrt gilt, dass »aus der Regellosigkeit das größte Böse« entspringt.40 Freiheit und Ordnung, beides im Verein, macht für Kant den Inhalt des Begriffs »absolut gut« aus. Die Synthese realisiert sich in dem, was er in dieser Phase (im Anschluss an Jean-Jacques Rousseau) den allgemeinen Willen einer Person nennt. Von Freiheit der Person kann im Fall der Moralität nur die Rede sein, wenn die Ordnung ihres Handelns selbstgegeben ist – dies meint die Wendung »innere Gesetzmäßigkeit« –, aber auch, und darin besteht die Pointe Kants, wenn das durch das Gesetz gesicherte Gut wiederum Freiheit ist  – dies meint die Wendung, sie sei »sich selbst ein Gesetz«. Kant bestimmt Moralität ausschließlich in Begriffen der Identität, der Anerkennung und Erhaltung von Freiheit. Ausgeblendet wird auch inhaltlich alles, was in irgendeiner Form durch Natur vorgegeben ist. Moralität ist »die Freiheit unter allgemeinen Gesetzen der Willkür«,41 und diese haben nichts anderes zum Inhalt als die Bedingungen, »unter denen allein die Freiheit mit sich selbst stimmen kann«.42 Das Mit-sich-selbst-Stimmen der Freiheit will Kant offensichtlich in Anlehnung an die Unterscheidung von numerischer und qualitativer Identität verstanden wissen. Ein Wesen ist moralisch gut, wenn es seine Freiheit mit sich

36 37 38 39 40 41 42

R. 6915, S. 205, Z. 30–31. R. 7197, S. 270, Z. 19–20. R. 7202, S. 276, Z. 26. R. 7202, S. 282, Z. 12–13. R. 7210, S. 286, Z. 8. R. 7202, S. 277, Z. 5–6. R. 7197, S. 270, Z. 21–22.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 49

08.11.2021 16:20:37

50

II. Kants Weg zu einer »kritischen« Metaphysik der Sitten: Über Moralität und Glück­seligkeit in den Reflexionen

selbst und mit der Freiheit anderer Wesen einstimmig macht. Und diese Einstimmigkeit der Freiheit des moralischen Subjekts ist eine Leistung seiner Vernunft. Man mag sich das Gemeinte, das Kant als »Vollkommenheit der Freiheit« bezeichnet,43 folgendermaßen verdeutlichen: Ein Wesen, das von Natur ungebunden und in der Lage ist, sich selbst Ziele zu setzen, muss seine Zielsetzungen unter einheitsstiftende Grundsätze stellen, um sich selbst eine Identität als freies Wesen zu geben. »Das Erste, was der Mensch tun muss, ist, dass er die Freiheit unter Gesetze der Einheit bringt; denn ohne dieses ist sein Tun und Lassen lauter Verwirrung.«44 Wer dies nicht tut, unterliegt permanentem Wandel, ist fragmentiert, schwankend, fremdbestimmt, keine bestimmte Person in ihrer Geschichte. Man ›hat dann keinen sicheren Grund, mit sich selbst zu rechnen‹;45 man kann sich und anderen nur unter Voraussetzung einer derartigen Einheit einen »eigenen Willen« zusprechen.46 Und ein Mensch mit eigenem Willen will in allem, was er an empirischen Sachverhalten in der Welt erstrebt, auch und vor allem die Erhaltung dieser seiner Einheit und Selbständigkeit. Wenn wir also einem Menschen Moralität zusprechen, dann haben wir eine Einheit seines Wollens im Auge, die sich in all seinen Handlungen und Äußerungen dokumentiert, eine Einheit seiner Ziele, die von den Polen bloßer Kompatibilität bis zu wechselseitiger Beförderung reicht, die aus selbstgegebenen Grundsätzen resultiert und von dem obersten Grundsatz geleitet und begleitet wird: Wahrung der eigenen Identität als freies Wesen in allem, was man tut. Der zweite Aspekt von Moralität ist der der qualitativen Identität von Freiheit. Freiheit stimmt in diesem Sinn mit sich überein, wenn das freie Subjekt alles mit sich qualitativ Identische, also die Freiheit aller anderen freien Subjekte, genauso schätzt, behandelt und behandelt wissen will wie die eigene; sei es in Nichteinmischung, sei es in Kooperation oder Solidarität. Das Mit-sich-selbst-Stimmen der Freiheit im Sinn numerischer Identität ist Sache des Verstandes, auf die durchgängige Konsistenz des eigenen Lebens 43 Auch hier dürfte Christian A. Crusius Kant beeinflusst haben; vgl. Anweisung vernünftig zu leben § 235 f. 44 R. 7202, S. 280, Z. 21–23. Vgl. bis in die Formulierung hinein Crusius, a. a. O., § 235. 45 »Nun muss mir diejenige Ungebundenheit, durch die ich wollen kann, was meinem Willen selbst zuwider ist, und ich keinen sicheren Grund habe, auf mich selbst zu rechnen, im höchsten Grade missfällig sein« (R. 7202, S. 281, Z. 14–16). 46 Vgl. Ebd,, Z. 14.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 50

08.11.2021 16:20:37

1. Das Glück der Selbstzufriedenheit in dieser Welt

51

bezogen und beschränkt. Die Einstimmigkeit der Freiheit im Sinne qualitativer Identität ist eine Forderung praktischer Vernunft. Denn unter ihr verstehen wir nach Kant »das principium konstitutiver oder objektiver Grundsätze«,47 das heißt die Lösung der freien Willkür aus ihrer Beziehung auf einen privaten Endzweck,48 das Übersteigen der subjektiven Perspektive,49 die Bildung eines objektiven, allgemeinen Willens, der objektiv und allgemein ist genau darin, dass er das Wollen aller freien Subjekte berücksichtigt und unter Bedingungen der Gleichbehandlung stellt. Moralität ist demnach durch eigene Vernunft geordnete Freiheit. »Das System ist also ein rationales System der mit sich selbst allgemein einstimmigen Freiheit.«50 Zum dritten Satz: »Die Moralität besteht in den Gesetzen der Erzeugung der (wahren) Glückseligkeit aus Freiheit überhaupt.«51 Dieser Satz steht im Unterschied zu den bisherigen noch völlig quer zu Kants publizierter kritischer Moralphilosophie. Er behauptet einen Zusammenhang zwischen Moralität und Glückseligkeit, der dann strikt geleugnet wird. Weder lässt sich, so die Kritik der praktischen Vernunft, »zwischen äußerst ungleichartigen Begriffen, dem der Glückseligkeit und dem der Tugend, Identität ergrübeln«52 noch ein strenger empirisch-kausaler Zusammenhang feststellen. Die Analytik der Kritik der praktischen Vernunft versucht gerade nachzuweisen, dass die Maximen der Tugend und die der eigenen Glückseligkeit »einander in demselben Subjekt gar sehr einschränken und Abbruch tun« können.53 Und schlichte Weltkenntnis scheint uns zu sagen, dass Natur und Mitmenschen den Tugendhaften nur recht zufällig ein glückliches Leben führen lassen. Der notwendige Zusammenhang von beidem ist vielmehr ein selbstevidentes Postulat unparteiischer Vernunft, die erfahrungsunabhängig fordert, dass Glückseligkeit genau in Proportion zur Sittlichkeit verteilt sein soll, die uns auch diesbezügliche Anstrengungen abverlangt, aber keinen zureichenden Erfolg in der erfahrbaren Welt verspricht und deshalb die Hoffnung auf einen jenseitigen Ausgleich Grund und Nahrung gibt.

47 48 49 50 51 52 53

R 7217, S. 288, Z. 24–25. Ebd., Z. 23. Vgl. R. 7202, S. 279, Z. 12–14.; R. 6598. R. 7217, S. 288, Z. 9–10. R. 7199, S. 273, Z. 8–9. KpV V, 111. KpV V, 112.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 51

08.11.2021 16:20:37

52

II. Kants Weg zu einer »kritischen« Metaphysik der Sitten: Über Moralität und Glück­seligkeit in den Reflexionen

Ganz anders die zitierte Reflexion. Die Kernthese Kants in dieser Phase seines Denkens lautet: Moralität des Menschen ist Bedingung der Möglichkeit seiner irdischen Glückseligkeit. Er scheint sich mit ihr noch einigermaßen bruchlos in die ethische Tradition der Griechen einzureihen.54 Doch zum adäquaten Verständnis dieser These scheinen mir folgende Klärungen angebracht: Kant fasst nicht etwa in völliger Übereinstimmung mit den antiken Vorbildern Glückseligkeit als fragloses Endziel allen menschlichen Strebens auf, dem sittliche Tüchtigkeit dann nach dem Schema einer Zweck-Mittel- oder Teil-Ganzes- oder Identitäts-Relation zugeordnet wird. Für ihn ist zunächst einmal »wohlgeordnete Freiheit« bzw. die Moralität der Person höchster, unvergleichlicher Wert und unbedingt verpflichtendes Ziel. Schon 1762 nennt Kant im Anschluss an den Philosophen und Theologen Christian August Crusius den Begriff der Verbindlichkeit (obligatio) grundlegend für alle Ethik, bezieht den moralischen Verpflichtungsanspruch auf einen »an sich notwendigen Zweck«, nämlich die Vollkommenheit der Freiheit, und grenzt ihn vom imperativen Modus der Regeln geschickten Verhaltens zur Beförderung der Glückseligkeit ab.55 Der Begriff des Glücks, der etwas zum Inhalt hat, wonach wir von Natur aus unvermeidlich streben, sei nicht geeignet, den unbedingten Verpflichtungscharakter und unvergleichlichen Wert zu erklären, den wir mit Moralität verbinden.56 Die Reflexion 7202 sagt nun auch unmissverständlich, Moralität hänge nicht von der Glückseligkeit als dem Zwecke ab,57 und erklärt pointiert, die Gesetze der Freiheit müssten »unabhängig von der Absicht auf eigene Glückseligkeit gleichwohl die formale Bedingung derselben a priori enthalten«.58 Die Moralität eines Menschen ist, so Kant, die formale Bedingung a priori seiner Glückseligkeit. »Die Bedingung a priori« besagt zunächst: Sie ist

54 Wenn Kant die »Sekten« bzw. »Schulen der Alten« bemüht und ihre Thesen referiert, so ist zu beachten, dass er dabei kein historisch-philologisches Interesse, sondern stets ein systematisch orientiertes »Vernunftinteresse« verfolgt. Vgl. dazu Santozki, Ulrike 2006, 22–33. 55 Siehe die Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral, AA II, 298. 56 Kant übernimmt diesen Gedanken bis in die Wortwahl hinein von Christian A. Crusius und behält ihn zeitlebens bei. »An sich notwendiger Zweck«, der alle moralische Verbindlichkeit begründet, ist für Kant allerdings nicht wie bei diesem der Wille Gottes, sondern die Vollkommenheit unserer Freiheit. Vgl. dazu Schmucker, Joseph 1961, 59 ff. 57 R. 7202, S. 277, Z. 7. 58 R. 7202, S. 279, Z. 23–25.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 52

08.11.2021 16:20:37

1. Das Glück der Selbstzufriedenheit in dieser Welt

53

conditio sine qua non59 in einem universellen Sinn. Für alle Menschen gilt: ohne Moralität keine Glückseligkeit; und sie ist die Bedingung, das heißt die einzige Bedingung dieser Art. Der Ausdruck »formal« hat zwei verschiedene Konnotationen. Zunächst steht er im Gegensatz zu »material« und ist in Analogie zur Unterscheidung von Form und Materie in Kants Theorie der Erfahrungserkenntnis gebildet.60 Wie im Theoretischen das Material des sinnlich Gegebenen durch die Form des Verstandes geprägt werden muss, um Wirklichkeitserkenntnis zu ermöglichen, so muss im Praktischen die innere Gesetzlichkeit der Freiheit Wahl und Erstrebensmodus empirischer Ziele bestimmen, um richtiges Handeln und Fühlen zu ermöglichen. Und in Parallele zur theoretischen Erfahrungserkenntnis spricht Kant davon, dass die Materie menschlicher Glückseligkeit sinnlich, die Form derselben intellektuell sei;61 wobei dem moralischen Gefühl offensichtlich (noch) eine Vermittlungsstellung zugedacht ist.62 In diesem Zusammenhang meint »formal« dann, dass Moralität über den moralischen Sinn und sein Gefühl allen Elementen des Erlebens des Lebens in der Vielfalt und dem Wechsel seiner Aktivitäten und Widerfahrnisse eine für die Glückseligkeit erforderliche einheitsstiftende Form verleiht. Mit dem zweiten Bedeutungselement von »formal« nähert Kant sich dem scholastischen Begriff von forma an: Er spricht explizit davon, Moralität mache das Wesen des Glücks aus.63 Nun benennt im Praktischen der Ausdruck »apriorisch« Grundbegriffe und Grundsätze, die natur- und widerfahrnisunabhängig unsere auf die empirische Welt bezogenen Wert- und Verpflichtungsurteile begründen und unser Handeln ebenso orientieren wie motivieren. Moralität sei formale Bedingung a priori der Glückseligkeit besagt also dann: Das glückliche Erleben des Lebens ist notwendig und essentiell bedingt durch die erfahrungs- und widerfahrnisunabhängige Einstellung der Moralität; das heißt, in allem Tun und Lassen moralisch sein zu wollen, was auch immer geschehen möge. Dies meint die schwächere Formulierung, Moralität sei »die Bedingung 59 Vgl. R. 7202, S. 276, Z. 29. 60 Vgl. R. 7202, S. 276, Z. 32; S. 277, Z. 2. 61 R. 7202, S. 276, Z. 18–19. 62 Vgl. dazu die R. 7255, S. 295, Z. 23–26: »Wir haben ein reines und unbedingtes Vergnügen, welches wir von dem allgemeinen ableiten. Denn dies ist notwendig in aller Beziehung gültig; also ist der moralische Sinn eigentlich die allgemein gemachte sinnliche Lust, die von Einschränkung frei wird.« 63 R. 7202, S. 277, Z. 5.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 53

08.11.2021 16:20:37

54

II. Kants Weg zu einer »kritischen« Metaphysik der Sitten: Über Moralität und Glück­seligkeit in den Reflexionen

a ­priori, unter der man allein der Glückseligkeit fähig sein kann«64 und die stärkere Formulierung, Glückseligkeit sei »Produkt der eigenen Menschenvernunft«.65 Zum vierten Satz: »Glückseligkeit ist eigentlich nicht die (größte) Summe des Vergnügens, sondern die Lust aus dem Bewusstsein seiner Selbstmacht zufrieden zu sein.«66 Wenngleich Kant von Moralität als formaler Bedingung a priori der Glückseligkeit bzw. ihrer ursprünglichen Form oder der »Funktion der Einheit a priori aller Elemente der Glückseligkeit«,67 ja gar ihrem Wesen spricht, so will er doch Glückseligkeit von Moralität genau unterschieden wissen. Soweit der Begriff der Glückseligkeit selbst betroffen ist, scheinen zwei Gesichtspunkte seine Betonung des Unterschieds zu bestimmen. Einmal wird eingeräumt, Moralität sei zwar »die wesentliche formale Bedingung der Glückseligkeit«, aber es seien auch »noch andere materiell (wie bei der Erfahrung) erforderlich«,68 wenngleich letztere in ihrem Beitrag zum Glück nur als »Accidentien« anzusehen sind.69 Zum anderen versteht Kant, anders als etwa die aristotelisch-scholastische Tradition, unter Glückseligkeit in keiner Weise bestimmte (unbehinderte) Aktivitäten des Subjekts aufgrund entsprechender Neigung, Fähigkeit und Tüchtigkeit, sondern ein Befinden des Subjekts, und zwar keinen objektiven Zustand, sondern eine exklusiv subjektive Befindlichkeit, das heißt eine Art und Weise, wie sich das Subjekt selbst fühlt. Glücklich sein – und dieses Vorverständnis hält sich bei Kant durch – heißt in einem scheinbar schlichten psychologischen Sinn: Zufrieden sein mit seinem Leben im Ganzen, an ihm durchgängig und in jeder Hinsicht Gefallen haben. »Glückseligkeit ist das Bewusstsein einer immer währenden Zufriedenheit mit seinem Zustand.«70 Moralität nun erfordert eine Definition in Begriffen qualifizierter Aktivität und entsprechender Tüchtigkeit; Glück, lediglich als bestimmtes Gefühl verstanden, lässt sich dagegen nur als Folge, Wirkung oder Begleitphänomen be-

64 65 66 67 68 69 70

R. 7202, S. 279, Z. 3–4. R. 7202, S. 282, Z. 1. R. 7202, S. 276, Z. 30–32. R. 7202, S. 277, Z. 3. R. 7202, S. 276, Z. 32 und S. 277, Z. 1–2. R. 7202, S. 278, Z. 3. R. 7311, S. 309, Z. 6–7.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 54

08.11.2021 16:20:37

1. Das Glück der Selbstzufriedenheit in dieser Welt

55

stimmen, sei es von Einstellungen und Aktivitäten, sei es von Widerfahrnissen des Subjekts. Man wünscht deshalb durchaus Verschiedenes, wenn man glücklich sein und wenn man moralisch sein will, und es ist die Frage, wie beide Wünsche in einer Person verbunden zu denken sind. Die von Kant gedachte Synthese hat eine eigenartige teleologische Struktur. Moralität muss »über alles und zwar schlechthin gefalle[n]«, 71 der Wunsch nach Moralität demnach unabhängig sein »von der Absicht auf eigene Glückseligkeit«.72 Das Verlangen nach Glückseligkeit darf also nicht die Rolle des dominanten Bestimmungsgrunds und Motivs für Moralität spielen.73 Andererseits kann der Mensch als endliches, bedürftiges Wesen gar nicht umhin, auf Glück aus zu sein.74 Dieses Ziel bzw. dieser Wunsch lässt sich nicht abtun oder beseitigen, wohl aber nachordnen. Der moralisch gut gesinnte Mensch sieht und wünscht seine eigene Glückseligkeit als nicht primär intendierte Folge von Moralität, und zwar in Form eines Wissens um den Selbstbeglückungseffekt des Bewusstseins eigener Moralität – Glückseligkeit aus Freiheit – und in Gestalt einer zusätzlichen Hoffnung auf jenseitigen Ausgleich für möglicherweise entgangenes sinnliches Vergnügen und erlittenen Schmerz.75 Glücklich wird man nach dieser Theorie also nur, wenn man sein Streben nach Glück dem Wunsch nach Moralität nachzuordnen versteht. Wer dagegen Moralität bejaht und wünscht um der Glückseligkeit willen, wird beides ver-

71 R. 7202, S. 279, Z. 12. 72 Ebd., Z. 23–24. 73 »Das System des feinsten Eigennutzes ist darin vom Lehrbegriff der sich selbst genügsamen Tugend unterschieden, dass diese die Tugend an sich selbst liebt«, während für jenes »die Hoffnung der Glückseligkeit […] ein Grund der Tugend ist« (R. 6606, S. 106, Z. 10–12 und 15–16). 74 In R. 7310, S. 308, Z. 29 heißt es lapidar: »Der Zweck der Menschen ist Glückseligkeit.« An anderer Stelle (R. 6539, S. 60, Z. 3) meint Kant, der Mensch könne jedenfalls nicht »gänzlich unglücklich sein wollen«. 75 R. 6615, S. 111, Z.9–13: »Man muss die moralischen Bewegungsgründe aus dem Gemische der übrigen […] herausziehen; es ist von reinen und himmlischen Ursprüngen; man findet sich dadurch, wenn man es in seinem Verhalten bemerkt, gleich veredelt und sieht alle Glückseligkeit nur als das Gefolge davon an.« Die Erwartung einer Belohnung mindert nicht den moralischen Wert einer Handlung, wenn sie nicht deren Motiv ist (so R. 7281, S. 301). Kant unterscheidet hier einen Lohn, der das Handlungsmotiv ausmacht (praemium, quod motivum actionis in se continet, R. 7111, S. 251, Z. 8), und nennt ihn Preis, R. 7110, S. 250, Z. 25, von einer Belohnung, die nicht Motiv einer Handlung, aber nach Gerechtigkeitsgesichtspunkten zu erwarten ist (praemium morale, vgl. R. 7110; 7105; 7112; 7102).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 55

08.11.2021 16:20:37

56

II. Kants Weg zu einer »kritischen« Metaphysik der Sitten: Über Moralität und Glück­seligkeit in den Reflexionen

fehlen. Glückseligkeit ist gewusste, gewünschte und erhoffte Nebenwirkung moralischer Einstellung und Lebensführung. Menschliches Glück speist sich nach Kants Reflexionen aus zwei ungleichartigen und ungleichgewichtigen Quellen, »aus dem, was Natur darbietet«,76 und aus der Tugend als einer bestimmten »Eigenschaft der freien Willkür«.77 Menschliches Leben ist ein Gebilde aus Natur und Freiheit. Entsprechend ist die Qualität des Erlebens des Lebens im Gefühl durch beide Faktoren bestimmt und bestimmbar. Der eine bedingt, was Kant, mitunter terminologisch fixiert, das Vergnügen, der andere, was er Selbstzufriedenheit nennt. Das Verhältnis von beiden ist so zu denken, dass ohne Selbstzufriedenheit kein gelungenes Erleben von Vergnügen möglich ist, dass Selbstzufriedenheit ihrerseits nicht des Vergnügens bedarf, den Mangel desselben weitgehend zu kompensieren vermag, und, soweit sie dazu nicht zureicht, auf ein vernunftgestütztes Erhoffen eines jenseitigen Ausgleichs zurückgreifen kann. Unter »Natur« versteht Kant in diesem Zusammenhang sowohl die aller Erziehung und Bildung sowie Überlegung, Entscheidung und Handlung vorgängige »individuelle[n] oder auch spezifische[n] Beschaffenheit unseres Subjekts«78 als auch die nichtmenschliche Natur im Sinn all dessen, was ohne unser Zutun in der Welt besteht und geschieht. Natur nun bietet »Materialien zum Wohlbefinden«,79 zeichnet primär verantwortlich für das Vergnügen als der Materie80 bzw. dem Empirischen81 der Glückseligkeit. Im Anschluss wohl an Ciceros commoditas et iucunditas vitae,82 aber auch an die zeitgenössischen Empiristen spricht Kant von der Annehmlichkeit des Lebens: Diese besteht letztlich darin, dass das Leben sich in leiblich-sinnlicher Hinsicht als lustvoll erlebt. Das Subjekt erweist sich in diesem Genuss seines Daseins als wesentlich passiv, rezeptiv, von empirischen Gegebenheiten abhängig.83 »Wir haben ein Wohlgefallen an Dingen, die unsere Sinne rühren, weil sie unser Subjekt harmonisch affizieren und unser ungehindertes Leben oder die Belebung fühlen lassen.«84 76 77 78 79 80 81 82 83 84

R. 7202, S. 277, Z. 29–30. R. 7202, S. 276, Z. 29. R. 7202, S. 276, Z. 8–9. R. 7202, S. 277, Z. 24. R. 7202, S. 278, Z. 21–22. R. 7202, S. 279, Z. 17. Vgl. etwa De officiis I, 10. Vgl. R. 7202, S. 276, Z. 23. Ebd., Z. 5–7.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 56

08.11.2021 16:20:37

1. Das Glück der Selbstzufriedenheit in dieser Welt

57

Das Vergnügen resultiert also aus einem harmonischen Zusammenspiel von individueller und spezifischer, im Kern naturaler Beschaffenheit des Subjekts und den Dingen, mit denen wir in Kontakt treten und die wir in Erfahrung bringen. Kant beschreibt es, in engem Anschluss an antike, insbesondere epikureische Konzepte, mit den Ausdrücken »Belebung« und »ungehindertes Leben«. Gemeint ist wohl die Lust der Bedürfnisbefriedigung in ihrer zweifachen Form: als Lust, die den Prozess der Befriedigung eines Bedürfnisses begleitet, und als Lust, die das vom Bedürfnisdruck freie und wache Leben erlebt. Kants zentrale These lautet nun: Der Mensch, der sein Glück in die größtmögliche Annehmlichkeit des Lebens setzt, wird sein Ziel unweigerlich verfehlen. Die Argumente für diese These sind weitgehend der traditionellen Hedo­ nismuskritik entnommen.85 Der Gebrauch der Vernunft »nach sinnlicher Anlockung ist unzuverlässig. Zudem ist es keine wahre Freiheit wobei das principium nicht von Sinnen unabhängig ihnen allein ein Gesetz gibt.« Mit andern Worten und etwas ausführlicher gesagt: Wer als Mensch die Zufriedenheit mit seinem Leben im Ganzen von der größtmöglichen Summe des Vergnügens erwartet, hat (a) kein klares, präzises und konsistentes Konzept dessen, was er will, begibt sich (b) in Abhängigkeit von Dingen, die keine bestimmte Grenze haben, die dauerndem Wandel unterliegen und seiner Verfügungsgewalt sich weitgehend entziehen, und verfolgt (c) ein Endziel, das seinen eigenen Wert als freies Vernunftwesen unterbietet.86 »Seinen Zustand angenehm zu finden, beruht auf dem Glück, aber sich über die Annehmlichkeiten dieses Zustandes als Glückseligkeit zu erfreuen, ist dem Wert derselben nicht angemessen.«87 Das Wohlgefallen an seinem Dasein im Ganzen kann hauptursächlich nur aus etwas resultieren, was der Mensch sicher weiß, uneingeschränkt in seiner Hand hat und seiner Würde entspricht: Aus der Haltung eines moralischen Souveräns zu sich selbst als empirisch-bedürftiges ­Lebewesen. Seine freie Willkür selbst unter die Gesetze eines allgemein gültigen Willens zu bringen, ist für ein endliches vernunftfähiges Subjekt not85 Sie finden sich, auf das Wesentliche reduziert, in der Reflexion 7212, S. 287, Z. 6–9. 86 R. 7202, S. 277, Z. 17–23: »Für die Sinne kann keine Befriedigung ausgefunden werden, nicht einmal lässt sich mit Gewissheit und allgemein bestimmen, was den Bedürfnissen derselben gemäß sei; sie steigen immer in der Forderung und sind unzufrieden, ohne sagen zu können, was ihnen denn genug tue. Noch weniger ist der Besitz dieser Vergnügen wegen der Veränderlichkeit des Glücks und der Zufälligkeit günstiger Umstande und der Kürze des Lebens gesichert.« 87 R. 7202, S. 277, Z. 12–14.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 57

08.11.2021 16:20:37

58

II. Kants Weg zu einer »kritischen« Metaphysik der Sitten: Über Moralität und Glück­seligkeit in den Reflexionen

wendiger und zureichender Grund der Selbstbilligung und hat ein erhebendes Selbstwertgefühl zur Folge.88 Um die Quelle dieser Zufriedenheit ist ein präzises und sicheres Wissen möglich. Und sie verdankt sich unabhängig von wechselnden Lebensumständen ganz und gar unserer Freiheit; sie ist selbstgewirkt. Kant spricht deshalb vom moralischen Selbstwertgefühl als einer »Spontaneität des Wohlbefindens«89 bzw. »einem Produkt der Spontaneität«.90 Die oberste implizite Prämisse seiner Argumentation besteht offensichtlich in dem Gedanken, dass ein im Vollsinn des Wortes vernunftfähiges Wesen sich darin und im Ganzen nur darin gefällt und gefallen kann, vernünftig zu sein.91 88 Vgl. R. 7202, S. 276, Z. 10–14. Dieses Gefühl, der positive Aspekt des moralischen Gefühls, drückt ein allgemein gültiges Verhältnis aus zwischen Freiheit und Lust des Subjekts. Es gründet darin, dass wir unsere Freiheit des Beliebens nach Gesetzen der Vernunft ordnen, ist also nicht Ursprung, sondern Begleit- bzw. Folgephänomen unserer Selbstmoralisierung. Die »Moralisten der sittlichen Empfindung« (R. 6624, S. 116, Z. 9–10) – gemeint ist vor allem der Schotte Francis Hutcheson, aber auch er selbst in der Vergangenheit (vgl. etwa R. 6581; 6577; 6560) – haben also unrecht mit ihrer Deutung, wenn sie einen moralischen Sinn und ein moralisches Gefühl in strenger Analogie zur Sinneswahrnehmung und -empfindung als ursprüngliche, unmittelbare Unterscheidungs- und Antriebsinstanz für moralisch Gutes ansetzen. Die erste Reflexion, die die diesbezügliche Positionsklärung zum Ausdruck bringt, datiert die Akademie-Ausgabe an das Ende der 60er Jahre: »Das moralische Gefühl ist kein ursprüngliches Gefühl. Es beruhet auf einem notwendigen inneren Gesetze, sich selber aus einem äußerlichen Standpunkt zu betrachten und zu empfinden. Gleichsam in der Persönlichkeit der Vernunft: da man sich im Allgemeinen fühlt und sein Individuum als ein zufällig Subjekt wie ein Accidens des Allgemeinen ansieht« (R. 6598, S. 103, Z. 19–24). Dass allerdings das gedanklich-objektive, »mit der Moralität wesentlich verbundene motivum, nämlich die Würdigkeit glücklich zu sein« (R. 6628, S. 117, Z. 28–29), auch der Beihilfe einer subjektiv-instinktartigen Empfindungskraft (= »das Herz«) bedarf, um effiziente Triebfeder zur Moralität (principium executionis) zu werden, hat Kant offensichtlich noch längere Zeit angenommen (vgl. dazu R. 6610; 6619; 6906; 7029; 7170; 7175; 7181; 7185; 7202, S. 279, Z. 16–20; 7236; anders dann R. 7204, S. 283, Z. 25–27.; R. 7213, S. 287, Z. 15–17.; R. 7262). Tatsächlich legt der Gedanke einer engen Verbindung von Moralität und Glück des Menschen den Gedanken einer natürlichen Ausrichtung des Menschen auf Moralität nahe. Solange Kant der stoischen und altakademisch-peripatetischen Tradition stärker verpflichtet war, hielt er an ihm fest. Dieses im Kern naturteleologische Theoriestück vom moralischen Sinn verliert dann in dem Maß an Funktion, in dem Moralität und Glückseligkeit des (irdischen) Menschen durch verstärkt säkularisiert-christlichen und empirisch-sensualistischen Einfluss bei ihm auseinandertreten. 89 R. 7202, S. 278, Z. 25. 90 R. 6892, S. 169, Z. 10. 91 Kant muss deshalb den Begriff der Selbstliebe differenzieren. Er ordnet das moralische Wohlgefallen an sich selbst dem Prinzip einer »rationellen«, d. h. vernunftzentrierten Selbstliebe zu, im Unterschied zur »empirischen«, auf das endliche Individuum zentrierten Selbstliebe: »Es ist also nicht die empirische Selbstliebe, welche der Bewegungsgrund eines vernünftigen Wesens sein soll, denn diese geht von Einzelnen zu allen, sondern die rationelle, welche vom Allgemeinen und durch dasselbe die Regel vor [= für] das Einzelne hernimmt« (R. 7199, S. 272, Z. 30; S. 273, Z. 1).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 58

08.11.2021 16:20:37

1. Das Glück der Selbstzufriedenheit in dieser Welt

59

Dieses Wohlgefallen an sich selbst hat im Fall des moralischen Gefühls einen dreifachen Aspekt: einen theoretischen, einen moralisch-praktischen und einen außermoralisch-praktischen. Das Subjekt gefällt sich, weil es seinen Ansichten Konsistenz verleiht,92 weil es sich moralischen, das heißt absoluten Wert gibt,93 und weil es sich gegenüber naturalen Determinanten seines Strebens unabhängig, überlegen und stark erweist.94 Kant verweist damit95 auf einen ebenso schlichten wie wichtigen Gedanken: »Glückseligkeit zu einem Produkt der Spontaneität zu machen«96 verläuft innengewendet über Selbstbeherrschung, während der Weg, Zufriedenheit in der Sicherung und Maximierung des (sinnenbasierten) Vergnügens zu suchen, außengewendet in die gesteigerte Anstrengung technischer und pragmatischer Weltbeherrschung führt. Glückseligkeit als Zufriedenheit mit seinem Leben im Ganzen schließt das Bewusstsein ein, dass diese Zufriedenheit das gesamte Leben begleitet. Sie setzt im Erinnern von Vergangenem, im Erleben von Gegenwärtigem und Vorwegnehmen von Kommendem eine Einheit des Bewusstseins voraus, die die Integration empirisch bedingter Verschiedenheiten in Gedanken, Absichten und ­Gefühlen zu »einer einzigen […] empirischen Glückseligkeit«97 möglich macht.98 Diese Einigung kann auf emotionaler Ebene nur das selbstgewirkte moralische Selbstwertgefühl leisten. Wie im Theoretischen das »ich denke« alle meine Erfahrungen muss begleiten können, um eine Einheit des Bewusstseins der Erfahrungswelt zu ermöglichen,99 und wie im Praktischen der allgemeine Wille als »transzendentale Einheit im Gebrauch der Freiheit« die Einheit unserer empirischen Zwecksetzungen bedingt,100 so ist moralische Zufriedenheit mit sich selbst »gleichsam apperceptio iucunda primitiva«,101 das heißt der widerfahrnisunabhängige emotive Konstitutionsrahmen für eine mögliche empirische Glückseligkeit.102 Dies besagt nicht, Moralität habe sinnliches Vergnü-

92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102

Vgl. R. 7202, S. 276, Z. 10–14. R. 7202, S. 278, Z. 16; S. 281, Z. 32–33. Vgl. R. 6892, S. 196, Z. 6 ff. Explizit in R. 6611, S. 109, Z. 22–23. R. 6892, S. 196, Z. 10–11. R. 7202, S. 278, Z. 29–30. Vgl. R. 7204, S. 284, Z. 4–7. Vgl. R. 7204, S. 283, Z. 33; S. 284, Z. 7. R. 7204, S. 284, Z. 7. R. 7202, S. 278, Z.4–5. Vgl. R. 7202, S. 280, Z. 19–20; S. 281, Z. 29–33.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 59

08.11.2021 16:20:38

60

II. Kants Weg zu einer »kritischen« Metaphysik der Sitten: Über Moralität und Glück­seligkeit in den Reflexionen

gen zur Folge.103 Es besagt allerdings, dass Zufriedenheit des Menschen mit seinem Zustand als endliches, bedürftiges, verletzbares Verstandes- und Sinnenwesen wenn, dann nur im Rahmen einer moralischen Lebenseinstellung und Lebensführung möglich ist. Da sie den Einzelnen befähigt, »auch ohne Lebensannehmlichkeiten zufrieden zu sein und glücklich zu machen«,104 setzt sie ihn zu sinnlichem Vergnügen und empirischer Selbsterhaltung in ein gelassenes Verhältnis und befreit sinnliches Vergnügen von der ihm unter menschlichen Lebensbedingungen selbstdestruktiven Last, Endziel des Strebens zu sein.105 Zum anderen ist optimale empirische Wohlfahrt unter gesellig lebenden Menschen nur dann möglich, wenn diese einmütig ihr Zusammenleben nach Grundsätzen der Moralität ordnen: »Es ist wahr, die Tugend hat den Vorzug, dass sie aus dem, was Natur darbietet, die größte Wohlfahrt zuwege bringen würde.«106 In Anlehnung wohl an Platons Politeia, stärker noch an Rousseaus Contrat Social, glaubt Kant, das Optimum empirischer Wohlfahrt für jeden sei möglich nur in einem System gegenseitig vermittelter Bedürfnisbefriedigung, in dem die einzelnen Menschen miteinander in Nichteinmischung, Kooperation und Solidarität nicht nur durch Rechtsgesetze, sondern auch moralisch verbunden sind.107 Und wie Rousseau sieht Kant auch das einigermaßen Utopische dieser Bedingung.108 Die Religionsschrift wird dazu später Differenzierteres sagen.109 Wer nun moralisch gut ist auch unter Bedingungen defizienter gesellschaftlicher Moralität,110 weiß sich, so Kant, von Gaben der Natur, des Schicksals und der Mitmenschen weitgehend unabhängig111 und bezieht seine Zufriedenheit aus dem Bewusstsein des eigenen moralischen Werts, das zugleich ein Bewusstsein ist, »seiner Selbstmacht zufrieden zu sein«.112 103 Vgl. R. 7202, S. 279, Z. 16–18; S. 278, Z. 21–23. 104 R. 7205, S. 278, Z. 29–30. 105 Der Gedanke, dass »unser Vergnügen schmackhafter [wird, M. F.], wenn wir es unter edleren Absichten verdecken«, findet sich explizit relativ früh (R. 6620, S. 114, Z. 4–5), wenngleich unter deutlich epikureischen Prämissen (vgl. R. 6621). 106 R. 7202, S. 277, Z. 29–31. 107 Vgl. R. 7199, S. 273, Z. 23–25. 108 Vgl. R. 7204, S. 283, Z. 14–17. 109 Siehe dazu unten Kap. XII. 110 Vgl. R. 7204, S. 283, Z. 22–23 111 Vgl. R. 7198; R. 7202, S. 278, Z. 5–7.; S. 277, Z. 8–11; R. 7311, S. 309. 112 R. 7202, S. 276, Z.31–32

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 60

08.11.2021 16:20:38

2. Kants neues Glücksverständnis

61

2. Kants neues Glücksverständnis »Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen, (sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade und auch protensive, der Dauer nach).«113 Mit diesem inhaltlich ganz und gar empirischen, begriffslogisch als Totalitätsvorstellung überschwänglichen Glücksbegriff der Kritik der reinen Vernunft distanziert sich Kant offensichtlich vom skizzierten Konzept der Reflexionen.114 Wurde dort nach Art hellenistischer, insbesondere stoischer Ethik (moralische) Selbstzufriedenheit zum »Hauptstuhl« der Glückseligkeit erhoben,115 so wird ihre Funktion in der Kritik der praktischen Vernunft zur Andeutung eines bloß »negative[n] Wohlgefallen[s] an seiner Existenz«,116 das heißt der bloßen Existenz als eines moralitätsfähigen Subjekts herabgestuft. Die emotionale Einstellung, die dem moralischen Selbstbewusstsein des Menschen angemessen ist, ist nun die der Achtung vor sich selbst als Person. Diese stellt uns die Erhabenheit unserer Bestimmung vor Augen und schlägt zugleich den Eigendünkel nieder,117 kann deshalb auch nicht als »der mindeste Teil« der Glückseligkeit angesehen werden.118 Das moralische Gefühl pagan-antiken Stolzes ist dem moralischen Gefühl säkularisiert-christlicher Demut gewichen. Kant zerschneidet also das enge Band, das er im vorgestellten Konzept der Reflexionen zwischen Moralität und Glückseligkeit gezogen hat. Warum er dies tut, lässt sich keiner direkten Argumentation im Nachlass entnehmen. Aber es gibt deutliche Hinweise, welche Einflüsse ihn zu seinem Schritt bewogen haben. Es sind dies, im eigenartigen Zusammenspiel, materialistische Auf-

113 KrV B 834; vgl. A 806. 114 Dieses Konzept der Reflexionen reiht sich ganz offensichtlich in eine ethische Tradition ein, wie sie Cicero in De finibus bonorum et malorum als akademisch-peripatetische Position expliziert und im Wesentlichen auf den stoisierenden Akademiker Antiochos von Askalon zurückgehen dürfte. Zur Antike-Rezeption Kants vgl. die bereits erwähnte eingehende Studie von Santozki, Ulrike 2006. 115 R. 7202, S. 278, Z. 1–5. 116 KpV V, 117, Z. 30–31. 117 Vgl. KpV V, 87, Z. 31–33. 118 KpV V, 88, Z. 9–10.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 61

08.11.2021 16:20:38

62

II. Kants Weg zu einer »kritischen« Metaphysik der Sitten: Über Moralität und Glück­seligkeit in den Reflexionen

klärungsanthropologie (was den irdischen Glücksbegriff betrifft) und christliche Heilslehre (was das Moralitätsverständnis betrifft).119 Aus Reflexionen, die bis in die Anfänge seiner Beschäftigung mit praktischer Philosophie zurückreichen, wird deutlich, dass Kant in seiner Typologie alternativer Lebensideale zunächst dem Ideal griechischer Weltweisheit zugeneigt war.120 Literarische Orientierung bietet ihm da vor allem Ciceros Darstellung der stoischen und altakademisch-peripatetischen Bestimmung des Lebensziels und dessen Gegnerschaft zu Epikur.121 Besonders stark wirkte auf ihn die schulische Seneca-Lektüre, die er auch in späteren Jahren kontinuierlich fortgesetzt hat. Ab Mitte der 70er Jahre mehren sich dann Empfehlungen zur Demut.122 Nun rückt das christliche Ideal der Heiligkeit in den Vordergrund.123 Dem »Lehrer des evangelii« wird mit Nachdruck recht gegeben in der Meinung, dass die zwei Prinzipien des Verhaltens, Tugend und Glückseligkeit,124 verschieden und ursprünglich sind, dass die Verknüpfung von beidem nicht in der Natur dieser Welt liege, dass man sie jedoch für ein anderes Leben getrost glauben dürfe,125 und dass die natürliche Tugend ebenso wie das natürliche Glück stets ergänzungsbedürftig bleiben.126 Die »gravitätische Würde« der

119 Dies wird jedenfalls bezüglich des Materialismus und Atheismus (etwa eines La Mettrie oder Helvétius) deutlich in der späten Reflexion 7314: »Einwurf: Der Mensch kann nicht glücklich sein, ohne wenn er sich selbst wegen seines Charakters Beifall geben kann. Er kann dieses aber nur alsdann nicht, wenn er in der Moralität einen absoluten Wert sieht. Wenn er hierauf nicht Rücksicht nimmt, wenn ihm das Wohlbefinden aus physischer Empfindung genug ist, so kann er glücklich sein, ohne sich im mindesten um die Übereinstimmung seines Verhaltens mit der Moral zu bekümmern, davon er nur den äußeren Schein […] als eine von den Regeln der Klugheit, benutzt.« Kant setzt sich mit dem Glücksbegriff der atheistischen Hedonisten auseinander, übernimmt aber auch wesentliche Aspekte ihres Begriffs. 120 Vgl. R. 6611; 6616; 6892; 6893; 7237; 7311. 121 Insbesondere in der Schrift De officiis, die zu seiner Zeit zum verpflichtenden Bildungsgut in Preußen gehörte. Die Schrift De finibus bonorum et malorum mit ihrer präzisen Unterscheidung der hellenistischen Schulen scheint er allerdings nicht (genauer) gekannt zu haben, da er Cicero in seiner Ethik wohl für einen Stoiker hielt (vgl. AA IX, 31; Santozki, Ulrike 2006, 156), Es könnte aber auch sein, dass er, wie Ciceros Lehrer Antiochos von Askalon, die Differenz von stoischer und altakademisch-peripatetischer Ethik systematisch (zunächst?) für vernachlässigbar hielt. 122 Vgl. R. 7166; 7159; 7093; 7060. 123 Vgl. R. 6878; 6882; 6894. 124 Wobei die Idee der Tugend als principium diiudicationis und die der Glückseligkeit als principium executionis der Moral fungiert. 125 Vgl. R. 7060, S. 238. 126 So R. 6882, S. 191, Z. 12–14.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 62

08.11.2021 16:20:38

2. Kants neues Glücksverständnis

63

Stoa127 wird nun zur paulinischen »Torheit dieser Welt«,128 das heißt zum verblendeten Stolz und Eigendünkel, der »den guten Geist« der reinen Gesinnung und damit den sittlichen Fortschritt verhindert.129 Kants neues Glücksverständnis gibt der Sinnlichkeit des Menschen jetzt ein Gewicht, wie dies zuvor nur die philosophisch verfemte Tradition des Hedonismus tat. Glückseligkeit als die Summe der Befriedigung aller unserer Neigungen verstanden – das ist genau die Eudaimonie-Formel Aristipps, der vom σύστημα ἐκ τῶν μερικῶν ἡδονῶν gesprochen hat.130 Kant findet dieses Konzept bei den Zeitgenossen La Mettrie und Helvétius vertreten.131 Er übernimmt es und versucht zugleich kritisch nachzuweisen, dass es zwar ein unabweisbares Ziel des Menschen beschreibt, aber nicht zur sicheren Richtschnur seines Verhaltens in dieser Welt taugt: Weder lassen sich aus dieser »schwankenden Idee«132 verlässliche Verhaltensregeln ableiten, noch zeigt Erfahrung, dass wir sonderlich erfolgreich sind, wenn unsere Vernunft sich primär »mit der Absicht auf den Genuss des Lebens«133 beschäftigt. Ja, wie Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten argumentieren wird: Theoretisch vertretener und praktisch gelebter Hedonismus führe in den Selbsthass einer Vernunft, die das reflexionslose Glück animalischen Daseins ruiniert.

127 Vgl. ebd. 128 Vgl. v. a. Paulus, 1 Kor 1, 17; 2, 16. 129 Vgl. R. 7312, S. 309, Z. 26–29. 130 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen (= DL), II, 87. 131 Vgl. R. 6611; 6631; 6637; 6881 sowie AA XXVII, 253, Z. 13–15; vgl. XXVII, 276 (Moralphilosophie Collins) und XXVII, 100 (Moralphilosophie Powalski). 132 GMS IV, 399. 133 GMS IV, 395.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 63

08.11.2021 16:20:38

III. Kants Weg zum moralischen Glauben: Religionsphiloso­ phie in den Reflexionen »Wenn man Gott vor der Moralität erkennen will, so legt man ihm nicht moralische Vollkommenheiten bei. Daher kann Religion böse Sitten hervorbringen […]. Eine Frömmigkeit, die vor der Sittlichkeit anfängt, ist ihr oft entgegen.« Immanuel Kant, AA XIX, R. 6499

»Es ist wahr: ohne Religion würde die Moral keine Triebfedern haben, die alle von der Glückseligkeit müssen hergenommen sein. Die moralischen Gebote müssen eine Verheißung oder Drohung bei sich führen.« Immanuel Kant, AA XIX, R. 6858

»Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich Endzweck des Menschen sein kann und sein soll.« Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, 6

1. Vernunftglaube und moralische Gesinnung Wir Menschen wollen glücklich sein. Aber wir wollen vernünftigerweise auch, dass der und nur der glücklich ist, der es nach moralischen Gesichtspunkten zu sein verdient. Eine solche Verbindung von Moralität und Glück, das höchste Gut, scheint freilich nicht der conditio humana in dieser Welt zu entsprechen. Es ist gedachtes Objekt einer jetzt nicht sichtbaren, aber erhofften Welt. Das Glück des Menschen wird für den »kritischen« Kant zum Gegenstand eines der moralischen Gesinnung und Einstellung entspringenden vernünftigen Glaubens.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 64

08.11.2021 16:20:38

1. Vernunftglaube und moralische Gesinnung

65

Im Folgenden wird der gedankliche Weg nachgezeichnet, auf dem Kant zu seiner in der transzendentalen Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft skizzierten, nunmehr religionsphilosophischen Position bezüglich des »ganzen Zwecks« des Menschen gelangt ist. Es scheint dies, obwohl es in der Kantforschung immer wieder behauptet wird, für ihn keine abschließende Position zu sein. Die Kritik der praktischen Vernunft trennt Triebfeder und Gegenstand bzw. Bestimmungsgrund und Objekt eines durch reine Vernunft bestimmten menschlichen Wollens voneinander ab. Das (objektive) Bewusstsein des moralischen Gesetzes wird zum Bestimmungsgrund und das (subjektive) Gefühl der Achtung vor diesem Gesetz zur notwendigen und hinreichenden Triebfeder eines endlichen, moralisch guten Willens erklärt.134 Der Vorstellung eines in Aussicht stehenden, durch Gott vermittelten höchsten Guts, dessen Besitz für den Tugendhaften auch sein vollkommenes Glück bedeuten würde, dieser Vorstellung eine unverzichtbare Rolle im Bestimmungsgrund und eine positive Motivationsrolle in Vorsatz und Ausübung sittlicher Handlungen zuzuschreiben, scheint danach gleichbedeutend mit dem Ansatz einer unreinen moralischen Gesinnung zu sein. »[D]as moralische Gesetz muss allein als der Grund angesehen werden, jenes [sc. das höchste Gut, M. F.], und dessen Bewirkung oder Beförderung, sich zum Objekt zu machen.«135 Andererseits soll das höchste Gut im Sinn einer Verbindung von Tugend und Glück eben die Rolle des praktischen Objekts eines moralischen Willens spielen, eines Objekts, dessen Verwirklichung bzw. Beförderung kategorisch gebotenes Handlungsziel endlicher Vernunftwesen ist. Erwiese sich dieses Ziel als unrealisierbar bzw. unerreichbar, würde das den Sinn und die Geltung des moralischen Gesetzes für den Menschen untergraben, wenn nicht zerstören. »Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muss auch das moralische Gesetz, welches gebietet, dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.«136 Kant gibt hier, wie ich meine, eindeutig zu verstehen, dass sein Verständnis des moralischen Gesetzes, dass sein Begriff von Moralität mit ihrem Charakter uneingeschränkten Gutseins und absoluter Verbindlichkeit nur zusammen mit der Perspektive der Realisierbarkeit des höchsten Guts in sich konsistent und theoretisch wie prak134 Vgl. KpV V, 71–89. 135 KpV V, 109. 136 KpV V, 114.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 65

08.11.2021 16:20:38

66

III. Kants Weg zum moralischen Glauben: Religionsphilosophie in den Reflexionen

tisch tragfähig ist. Es wäre ohne diese Perspektive »phantastisch« und »an sich falsch«.137 Es verlöre damit evidentermaßen seinen Charakter objektiver Verbindlichkeit. Und ein derart phantastisches Gesetz büßte natürlich auf Seiten des Adressaten auch an Achtung ein und verlöre damit auch seine Motivationskraft für den Menschen. Es bliebe für ihn allenfalls ein Gegenstand fruchtloser, praktisch bedeutungsloser ›ästhetischer‹ Bewunderung, ein Gesetz, das vielleicht für andere Wesen als den Menschen Geltung hätte. So gesehen ist und bleibt nicht nur die subjektive Triebfeder, sondern auch der objektive Bestimmungsgrund eines moralisch bestimmten Wollens im Konzept der Kritik der praktischen Vernunft und der nachfolgenden moralphilosophischen bzw. moralphilosophisch relevanten Schriften mit dem Gedanken der Möglichkeit des höchsten Guts untrennbar verbunden. Kant hat denn auch in der KpV keine Bedenken, das recht verstandene höchste Gut sowohl Objekt als auch Bestimmungsgrund des reinen Willens zu nennen: »Es versteht sich aber von selbst, dass, wenn im Begriffe des höchsten Guts das moralische Gesetz, als oberste Bedingung, schon mit eingeschlossen ist, alsdann das höchste Gut nicht bloß Objekt, sondern auch sein Begriff und die Vorstellung der durch unsere praktische Vernunft möglichen Existenz desselben zugleich der Bestimmungsgrund des reinen Willens sei.«138

Mit vergleichbarer Eindeutigkeit ist in der Religionsschrift von einer negativen Motivationsrolle der Idee des höchsten Guts die Rede, insofern sie ein unabweisbares theoretisches Bedürfnis befriedigt und damit ein »Hindernis der moralischen Entschließung« beseitigt.139 Darauf gilt es später genauer einzuge-

137 Die Beschränkung der Idee des höchsten Guts auf seine (negative, die Angst vor definitivem Glücksverlust aufhebende) Motivationsrolle für die Befolgung des moralischen Gesetzes durch manche Interpreten ist also wohl verkürzt und trifft nicht die ganze Tragweite des »reinen Vernunftglaubens« für den objektiv-praktischen Sinn und die unbedingte Geltung des moralischen Gesetzes für den Menschen. Vgl dazu etwa Habermas, Jürgen 2019, Bd. 2, 298–374, der in Kants Moralphilosophie einen »methodischen Atheismus« am Werk sieht und in seinem Vernunftglauben lediglich dessen Motivationsrolle wahrzunehmen vermag. Er verkennt, wenn ich das richtig sehe, die Bedeutung der ethikotheologischen Sinndimension, die Kant mit dem moralischen Selbstverständnis verbindet. Vgl. dazu vor allem die Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft der KdU. 138 KpV V, 109 f. 139 Rel. VI, 5.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 66

08.11.2021 16:20:38

1. Vernunftglaube und moralische Gesinnung

67

hen.140 Wenn Kant zu Beginn der Religionsschrift mit Nachdruck betont, die Moral des Menschen bedürfe »weder der Idee eines anderen Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer anderen Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten«,141 so enthält dieser Satz für ihn nur die halbe Wahrheit; jedenfalls ist er ergänzungs- und interpretationsbedürftig. Er ist ergänzungs- und interpretationsbedürftig hinsichtlich seiner Funktion: Kant erklärt zum »Beschluss« der Metaphysik der Sitten, alle Pflichten »als (instar) Gebote Gottes« und »in Ansehung Gottes« zu denken sei eine »Pflicht des Menschen gegen sich selbst, d. i. nicht objektive, die Verbindlichkeit zur Leistung gewisser Dienste an einen anderen, sondern subjektive zur Stärkung der moralischen Triebfeder in unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft«.142 Unklar scheint zunächst, in welcher Hinsicht »die moralische Entschließung« der Anerkennung der Kerngedanken des Vernunftglaubens bedarf und in welcher nicht. Eine überzeugende Antwort ist wohl in der Richtung zu suchen, dass die Erkenntnis des moralischen Gesetzes, das sich dem Bewusstsein in »aufdringender« Evidenz präsentiert, und die Einnahme der Position der Moralität, wie Kant sie versteht, keinerlei theoretisch-metaphysische Prämissen voraussetzt, dass aber auf dem Boden und in der Perspektivik dieser Position ein objektiv vernünftiges und sich subjektiv als praktisch wirksam erweisendes Selbst- und Weltverständnis den reinen Vernunftglauben notwendig einschließt. So lässt sich ein auf dieses Problem bezogener Kernpassus der Kritik der praktischen Vernunft wohl einigermaßen konsistent interpretieren: »Diese Pflicht [sc. sich das höchste Gut zum Objekt des Wollens zu machen, M. F.] gründet sich auf einem, freilich von diesen letzteren Voraussetzungen [sc. den Postulaten von Gott und Unsterblichkeit etc., M. F.] ganz unabhängigen, für sich selbst apodiktisch gewissen, nämlich dem moralischen Gesetze und ist sofern keiner anderweitigen Unterstützung durch theoretische Meinung von der innern Beschaffenheit der Dinge, der geheimen Abzweckung der Weltordnung, oder eines ihr vorstehenden Regierers bedürftig, um uns auf das Vollkommenste zu unbedingt gesetzmäßigen Handlungen zu verbinden. Aber der subjektive Effekt dieses Gesetzes, nämlich die ihm angemessene und durch dasselbe not-

140 Siehe unten Kap. VIII. 141 Rel. VI, 3. 142 MdS VI, 487.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 67

08.11.2021 16:20:38

68

III. Kants Weg zum moralischen Glauben: Religionsphilosophie in den Reflexionen

wendige Gesinnung, das praktisch mögliche höchste Gut zu befördern, setzt doch wenigstens voraus, dass das Letztere möglich sei, widrigenfalls es praktisch unmöglich wäre, dem Objekte eines Begriffs nachzustreben, welcher im Grunde leer und ohne Objekt wäre.«143

Eine (vernünftige) moralische Gesinnung kann uns nicht ins ersichtlich Unmögliche und Phantastische hinein ausrichten. Diese wenigen, noch recht vorläufigen Hinweise mögen Zweifel bestärken, ob sich die Stellung der Religion bzw. des reinen Vernunftglaubens im Rahmen der Theorie menschlicher Moralität und menschlichen Glücks, wie sie die Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft skizziert, von jener wesentlich unterscheidet, die die späteren moral- und religionsphilosophischen Texte Kants fortschreiben. Um diese Frage angemessen zu diskutieren und zu beantworten, ist es zumindest dienlich, den gedanklichen Motiven, den Problemstellungen und Lösungsversuchen nachzugehen, die Kant vor der Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft mit der Religionsthematik verbunden hat. Für die Beantwortung dieser Vorfrage bieten die publizierten Schriften wenig, der handschriftliche Nachlass reichlich Material. Die zentrale Interpretationsaufgabe besteht hier in einer Strukturierung der recht rhapsodischen, fragmentarischen, skizzen- und formelhaften Notizen, derart, dass eine einigermaßen klare Ordnung und plausible Entwicklung der Gedanken sichtbar werden. Die Beschäftigung mit Kants Reflexionen vermittelt hier für das Gebiet der praktischen Philosophie den Eindruck, dass seine Bindung an Problemstellungen der Tradition weit enger ist, als die innovative Sprache der publizierten »kritischen« Schriften dies unmittelbar glauben macht. Für die Religionsthematik kann man feststellen, dass sie vom Anfang bis zum Ende ihren systematischen Ort in der Moralphilosophie, näherhin im Zusammenhang der Diskussion des höchsten Guts bzw. des Endziels menschlichen Strebens und Handelns einnimmt. An Entwicklung lässt sich ausmachen, dass das »christliche« Ideal eines moralischen Vernunftglaubens ab Ende der 60er bis Mitte der 70er Jahre schrittweise gegenüber kynischen, stoischen, epikureischen und platonischen Verhältnisbestimmungen von Tugend und Glück an Kontur und Gewicht gewinnt und schließlich definitiv vertreten wird. Die zentrale Problemstellung, die den Verlauf der Entwicklung begleitet, ist von der Frage bestimmt, wie ein 143 KpV V, 142 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 68

08.11.2021 16:20:38

2. Der Fehler der philosophischen »Sekten«

69

Verständnis von Moralität allein in Begriffen der Vernunft sich mit dem Ideal von Gott als Prinzip des höchsten Guts verbinden lässt. Kant scheint den moralischen Glauben neben dem moralischen Gefühl gegen Ende der »vorkritischen« Phase sowohl im Gerechtigkeitsverlangen der Vernunft als auch in der Triebfeder moralischer Motivation des Menschen zu verorten. Ob und inwieweit diese Lösung des Glaubens- und des Motivationsproblems mit jener der später publizierten »kritischen« Schriften, insbesondere mit der der Religionsschrift in Einklang zu bringen ist, wird sich zeigen.

2. Der Fehler der philosophischen »Sekten« Aus der Zeit von 1764 bis 1766 stammt eine Notiz Kants, deren Inhalt als eines der Leitmotive sein gesamtes Denken über Religion bestimmen wird. »Wenn man Gott vor der Moralität erkennen will, so legt man ihm nicht moralische Vollkommenheiten bei. Daher kann Religion böse Sitten hervorbringen […]. Eine Frömmigkeit, die vor der Sittlichkeit anfängt, ist ihr oft entgegen.«144 Der Begriff der Moralität und der Tugend sei von dem der Religion unabhängig.145 Kant folgt hier wie in vielem anderen in seinem aufgeklärten Moralverständnis Alexander Baumgarten, dessen Initia Philosophiae practicae primae146 im § 71 kategorisch feststellen: »ius naturae late dictum s. philosophia practica esset […], etiam si non daretur deus, […] prorsus est independens a deo, […] ex voluntate dei nulla ratione omnino derivari potest, […] aeque bene cognosci ­potest ab atheo […].« Das Naturrecht im weiten Sinn bzw. die praktische Philosophie gäbe es, auch wenn es keinen Gott gäbe; es könne nicht aus dem Willen Gottes abgeleitet werden; es könne genauso gut von einem Atheisten erkannt werden. Religion kommt für Kant ins Spiel der Moral »in Ansehung der Unzulänglichkeit, ohne Einstimmung des Schicksals glücklich zu werden«147 und ohne göttliche Beihilfe tugendhaft zu sein.148 Die zunehmend sich klärende und verfestigende Einsicht in die Unzulänglichkeit und Schwäche der mensch144 R. 6499, S. 35. 145 Vgl. R. 6876, S. 188. 146 Halle-Magdeburg 1760, zusammen mit Kants Reflexionen abgedruckt in Bd. XIX der Akademie-Ausgabe. 147 R. 6892, S. 296. 148 Vgl. R. 6832 S. 174.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 69

08.11.2021 16:20:38

70

III. Kants Weg zum moralischen Glauben: Religionsphilosophie in den Reflexionen

lichen Natur im Blick auf die Realisierung von Tugend und Glück und die Einsicht in die starke, ja unaufhebbare Kontingenz des Zusammenhangs von Tugend und Glück in diesem Leben sind es, die Kant schrittweise von einer eher paganen, nichtchristlichen Bestimmung des höchsten Guts Abstand nehmen lassen. Der Prozess der Auseinandersetzung mit dem »summum bonum der philosophischen Sekten«149 wird um die Zeit von 1776 bis 1778 mit der definitiven Diagnose abgeschlossen: »Der Fehler der philosophischen Sekten war der, dass sie die Moral von der Religion unabhängig machen wollten (dass sie die Glückseligkeit in Verbindung mit der Moral von der Natur erwarteten […]); die Natur der Dinge aber enthält keine notwendige Verbindung zwischen Wohlverhalten und Wohlbefinden, und also ist das höchste Gut ein bloßes Gedankenwesen.«150

Wie Kant, prima facie paradoxerweise, den Begriff der Moralität von Religion unabhängig und zugleich die Moral von der Religion abhängig erklären kann, gilt es verständlich zu machen. Und ebenso bedarf es der Klärung, wie sich sein höchstes Gut als »bloßes Gedankenwesen«, als ens rationis, von den »Chimären der Alten« unterscheiden soll. Kants Diskussion des höchsten Guts arbeitet wohl von Beginn seiner Überlegungen zur praktischen Philosophie an mit dem Gedanken, dass Glückseligkeit und Sittlichkeit, Wohlbefinden und Wohlverhalten, moralisches Gefühl und Neigungen der Selbstliebe im Menschen und seiner Lebenswelt heterogene Sachverhalte sind, die es im Begriff des Endziels menschlichen Strebens und Handelns zu verbinden gilt. Dies zeigt sich sowohl an seinen Notizen zu Baumgartens Initia als auch an seinen allgemeinen Reflexionen über die »Systemata der Alten«. In frühen Kommentaren zu Baumgartens Bestimmung der infirmitas humana und der fragilitas naturae humanae151 findet sich bereits die Antithetik von moralischem Gefühl und Neigung, der Begriff reiner Moralität und die Rede von einem allgemeinen menschlichen Hang zum Bösen, der mit einer Dominanz der Neigungen gegenüber dem moralischen Gefühl zu tun hat. »Die Schwäche der menschlichen Natur besteht in der Schwäche des 149 R. 6872, S. 187. 150 R. 6876, S. 188. 151 Initia §§ 168 und 169.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 70

08.11.2021 16:20:38

2. Der Fehler der philosophischen »Sekten«

71

mora­lischen Gefühls verhältnisweise gegen andere Neigungen […]. Wenn diese die Bewegungsgründe zum Teil sind, so ist die Moralität nicht rein.«152 »Die allgemeine Gebrechlichkeit besteht nicht in bösen Neigungen, sondern in der großen Möglichkeit derselben, böse zu werden. Das ist der Hang der Neigungen zu Bösem, ehe die Neigungen böse sind.«153 Bereits aus der Zeit zwischen 1764 und 1768 besitzen wir eine Einteilung und Beurteilung der »Ideale der Alten de summo bono«, die Kant bis in seine »kritischen« moralphilosophischen Schriften mit leichten Variationen wiederholen und beibehalten wird. Unterschieden wird zwischen einem natürlichen und einem mystischen Ideal, wobei Kant das kynische, epikureische und stoische dem natürlichen, das platonische dem mystischen zuordnet und das kynische als System der Einfalt und Genügsamkeit charakterisiert, das epikureische als Ideal der Klugheit und Wollust, das stoische als Ideal der Tugend und Weisheit, und das platonische durch den Gedanken der (durch »intellektuelle Anschauung« ermöglichten) Gemeinschaft mit Gott.154 Von bleibendem, durch zeitgenössische Autoren erhöhtem Gewicht ist für Kant das epikureische Ideal. Nach diesem besteht das Wohlverhalten »bloß in der Abzweckung der Handlungen zu Wohlbefinden«,155 ist »die Tugend eine notwendige Form der Mittel der Glückseligkeit«.156 Es ist »den Neigungen der Menschen vollkommen angemessen«157 und bezieht seine bestechende Überzeugungskraft aus einem weltimmanenten Daseinsverständnis. »Wenn der Lauf der Welt alle Folgen der guten und bösen Handlungen bestimmt, so ist Weltklugheit das Wohlverhalten, was zum höchsten Gut führt. Hierzu aber wird erfordert, dass man Moralität als die Regel ansieht mit Vorbehalt aller Ausnahmen, welche die Umstände zu unserem Vorteil ratsam machen.«158

Als ungeklärter »Rest« bleibt für Kant hier allerdings jene Seite unseres Selbstverständnisses, die zwischen Tugend und Vergnügen genau unterscheidet und 152 R. 6560, S. 77. 153 R. 6563, S. 78. 154 R. 6584, S. 94 ff.; vgl. R. 6583, S. 94; R. 6601, S. 104 u. ö. 155 R. 6584, S. 95. 156 R. 6601, S. 104. 157 R. 6607, S. 106. 158 R. 6876, S. 188 f. Es ist dies eine Beschreibung der epikureischen Position, die der späteren Bestimmung des radikal Bösen (in der Relgionsschrift) entspricht.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 71

08.11.2021 16:20:38

72

III. Kants Weg zum moralischen Glauben: Religionsphilosophie in den Reflexionen

der Moralität des Verhaltens den höchsten, einen absoluten Wert im Leben zuerkennt. Dieser Seite zollt die Stoa mit ihrem Ideal der Weisheit Respekt. Kant lässt von Anfang an keinen Zweifel, dass der Stoa darin recht zu geben ist. Ihr Ideal der Tugend sei richtig;159 ihre »Lehre ist die wahrhafteste der reinen Moral«.160 Doch darin, dass sie »Glückseligkeit in der größten Tugend ohne physische Vergnügen« setzt, die Glückseligkeit als eine »notwendige Folge der Tugend« behauptet,161 mache sie ihren Weisen zur Chimäre, wird ihr Ideal »als eine wirkliche Vorschrift des menschlichen Verhaltens töricht«162 und »am wenigsten der Natur des Menschen angemessen«.163 Gegen Ende der 60er Jahre scheint Kant die vermittelnde, leicht skeptisch präsentierte Position eines theoretischen Stoikers und praktischen Epikureers zu beziehen: »[D]as stoische Ideal ist das richtigste reine Ideal der Sitten, aber in concreto auf die menschliche Natur unrichtig; es ist richtig, dass man so verfahren soll, aber falsch, dass man jemals so verfahren wird. Das Ideal des Epikurs ist nach der reinen Regel der Sitten und also in der Theorie des sittlichen principii falsch, obzwar in den sittlichen Lehren wahr; allein es stimmt am meisten mit dem menschlichen Willen.«164

Das gravierende Problem der Vermittlung dieser so antithetischen Positionen soll die Unterscheidung zwischen den subjektiven Gründen der Exekution und den objektiven Gründen der Dijudikation sowie die Unterscheidung zwischen Form und Materie lösen. Das »reine Bild der Tugend an sich selbst« sei eine Vernunftvorstellung. Es beinhalte die »Vollkommenheit eines Subjekts«, die nicht darauf beruhe, »dass es glücklich sei, sondern dass sein Zustand der Freiheit subordiniert sei«;165 und es finde den Grund seiner »Approbation im intellektualen Begriff«.166 Das moralische Gefühl sei als emotionaler menschlicher Gemütsreflex der »Vor159 160 161 162 163 164 165 166

R. 6584, S. 96. R. 6607, S. 106. R. 6602, S. 104. R. 6584, S. 96. R. 6607, S. 106. R. 6607, S. 106. R. 6605, S. 106. R. 6619, S. 112.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 72

08.11.2021 16:20:38

2. Der Fehler der philosophischen »Sekten«

73

stellung der reinen Tugend« zu verstehen, einer Vorstellung, die unserer Vernunft entspringt: »Das moralische Gefühl ist kein ursprünglich Gefühl. Es beruht auf einem notwendigen inneren Gesetz, sich selber aus einem äußerlichen Standpunkt zu betrachten und zu empfinden. Gleichsam in der Persönlichkeit der Vernunft; da man sich im Allgemeinen fühlt und sein Individuum als ein zufällig Subjekt wie ein Accidens des Allgemeinen ansieht.«167

Objektive Vernunftvorstellung und subjektives moralisches Gefühl reichen indessen nicht aus, »die Menschen zum moralisch Guten anzutreiben«, »ihre elateres [liegen] im Sinnlichen«,168 da »uns die Natur wegen aller unsrer Handlungen den sinnlichen Bedürfnissen zuletzt unterworfen zu haben« scheint.169 Auf der Ebene der Ausführung bedarf der Mensch also der Beihilfe natürlicher Neigungen, von »motiva auxiliaria« wie »Mitleid«, »Ehre«, »Liebe« etc., ohne welche die Moral chimärisch wäre,170 einer Beihilfe freilich, die nicht den Anschein erwecken darf, es ginge uns letztlich nur um uns selbst und die Erhaltung und Steigerung unseres eigenen empirischen Daseins. Ja, ein gewisses Maß der Selbstillusionierung muss diese hilfreichen Neigungen begleiten, da das Selbstverständnis des Menschen sich am Bewusstsein moralischer Motivation seines Handelns am stärksten erhebt und in Richtung tugendgemäßer Handlungen praktisch auswirkt. »Es ist besonders, dass der vorgestellte Nutzen und [die] Ehre nicht die so starke Entschließung, der Tugend nachzuahmen, hervorbringen können, als das reine Bild der Tugend an sich selbst; und selbst, wenn man im Geheim durch Aussicht auf Ehre getrieben wird, tut man es doch nicht um dieser Ehre willen allein, sondern nur, soferne wir uns durch eine geheime Überredung einbilden können, die Grundsätze der Tugend hätten es hervorgebracht. Wir müssen uns vor unsern eignen Augen die Mechanik unserer eigennützigen Antriebe verbergen.«171 167 168 169 170 171

R. 6598, S. 103. R. 6619, S. 112 f. R. 6621, S. 114. R. 6560, S. 77. R. 6619, S. 112 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 73

08.11.2021 16:20:38

74

III. Kants Weg zum moralischen Glauben: Religionsphilosophie in den Reflexionen

Kant versucht gegen Ende der 60er Jahre (unter dem Einfluss von so heterogenen Autoren wie Baumgarten, Crusius, Hutcheson und Rousseau) Stoa und Epikureismus, den »Lehrbegriff der sich selbst genugsamen Tugend« und »das System des feinsten Eigennutzes«, »die eben dieselbe Wirkung, aber nicht aus denselben principiis leisten«,172 miteinander zu verbinden, ohne auf ein Erfordernis von Religion Bezug zu nehmen. Für die Praxis sei wichtig, dass bezüglich des Verfolgens unserer Neigungen das einschränkende moralische Gesetz der »Regeln des allgemeinen Beifalls« »doch immer die beste allgemeine Regel der Klugheit ist«.173 Die Stoa soll die Form, Epikur den Inhalt liefern, und die Synthese sei beiden bekömmlich, denn »wir machen unser Vergnügen schmackhafter, wenn wir es unter edleren Absichten verdecken«.174 Damit »unsere blinden Triebe uns nicht auf bloßes Glück bald hie, bald dahin trieben […], war ein Urteil nötig, welches in Ansehung ihrer aller unparteiisch und also abgesondert von aller Neigung bloß durch den reinen Willen die Regel entwarf, die vor [= für] alle Handlungen und vor [= für] alle Menschen gültig, die größeste Harmonie eines Menschen mit sich selbst und mit andern hervorbrächten. Man musste in diese Regeln die wesentlichen Bedingungen setzen, unter welchen man seinen Trieben Gehör geben konnte, und als wenn die Beobachtung derselben an sich selbst ein Gegenstand unseres Willens sein könnte, welchen wir selbst mit Aufopferung unsrer Gückseligkeit verfolgen mussten, ob sie zwar nur die beständige und zuverlässige Form war.«175

Diese ›aufgeklärte‹ Synthese von Stoa und Epikureismus konnte Kant auf Dauer nicht befriedigen. Denn sie versagt für ihn gerade dort, wo Moralität eine definitive »Aufopferung unsrer Glückseligkeit« verlangt, in Situationen moralisch geforderten Einsatzes des eigenen Lebens bzw. in Umständen, in denen ein Gerechter kein Glück in diesem Leben mehr zu erwarten hat. Nicht ohne Grund hatte Rousseau gerade im Blick auf derartige Umstände seine Konzepte einer politischen und privaten Versöhnung von Gerechtigkeit und Nutzen in dieser Welt durch die Perspektive der Dogmen einer religion civile im Contrat Social

172 173 174 175

R. 6606, S. 106. R. 6621, S. 114. R. 6620, S. 114. R. 6612, S. 114 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 74

08.11.2021 16:20:38

2. Der Fehler der philosophischen »Sekten«

75

und des Glaubens des savoyardischen Vikars im Émile ergänzt.176 Kant verfolgt denn auch seinen Gedanken – Moralität als Form irdischer Glückseligkeit – zunächst wie Rousseau in einer stark kynisch-stoisch gefärbten Richtung weiter: Tugend, um ihrer selbst willen und als unbedingte Bedingung aller anderen Ziele erstrebt, führe Selbstzufriedenheit bei sich. Diese, »gleichsam apperceptio iucunda primitiva«,177 sei sowohl Bedingung der Möglichkeit aller empirischen Gückseligkeit als auch, im Fall ihres Fehlens, deren weitgehender Ersatz. »In dem Bewusstsein hat der Mensch Ursach, mit sich selbst zufrieden zu sein. Er hat die Empfänglichkeit aller Glückseligkeit, das Vermögen, auch ohne Lebensannehmlichkeiten zufrieden zu sein und glücklich zu machen. Dieses ist das Intellektuelle der Glückseligkeit.«178 »Die Funktion der Einheit a priori aller Elemente der Glückseligkeit […] ist die Freiheit unter allgemeinen Gesetzen der Willkür, die Moralität. Das macht die Glückseligkeit als solche möglich und hängt nicht von ihr als dem Zwecke ab und ist selbst die ursprüngliche Form der Glückseligkeit, bei welcher man die Annehmlichkeiten gar wohl entbehren und dagegen viel Übel des Lebens ohne Verminderung der Zufriedenheit, ja selbst zur Erhebung derselben, übernehmen kann.«179

Doch bei aller Betonung der selbstgewirkten Form von Glückseligkeit wahrt Kant noch die Distanz zur Stoa, identifiziert er die moralische Selbstzufriedenheit des guten Menschen nicht völlig mit seinem Glück. »Gleichwohl vergnügt sie darum doch nicht, weil sie das Empirische der Glückseligkeit nicht verspricht; sie enthält also an sich keine Triebfedern; dazu werden immer empirische Bedingungen, nämlich Befriedigung der Bedürfnisse, erfordert.«180 Zwar ist richtig, dass Tugend, allgemein realisiert, »aus dem, was Natur darbietet, die größte (Glückseligkeit) Wohlfahrt zuwege bringen würde«.181 Aber dies tut sie sicherlich nicht, wenn man sich inmitten einer depravierten Gesellschaft allein oder mit wenigen um sie bemüht. »Es ist unstrittig, dass die 176 Vgl. dazu Forschner, Maximilian 2000, 21–42; ders., 1977, 192–203. 177 R. 7202, S. 278. 178 Ebd. 179 R. 7202, S. 277. 180 R. 7202, S. 279. 181 R. 7202, S. 277.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 75

08.11.2021 16:20:38

76

III. Kants Weg zum moralischen Glauben: Religionsphilosophie in den Reflexionen

Tugend glücklich mache, wenn sie jedermann ausübt; aber Epikur behauptete: auch dann, wenn man sie allein ausübt.«182 Das Materiale menschlichen Glücks entstamme der Sphäre der Sinnlichkeit und der Bedürfnisse, deren Aktualisierung und Befriedigung nicht bzw. nicht uneingeschränkt in unserer Hand sind. Angesichts »der Unzulänglichkeit, ohne Einstimmung des Schicksals glücklich zu sein«,183 bieten ihm weder Stoa noch Epikur noch eine Synthese von beiden eine zureichende Antwort. »Das principium der Moral ist Autokratie der Freiheit« und als solches »das principium der Epigenesis der Glückseligkeit.« So gesehen ist »die Glückseligkeit das Selbstgeschöpf der guten […] Willkür«, »besitzt der Tugendhafte in sich selbst die Glückseligkeit (in receptivitate), so schlimm auch die Umstände sein mögen«;184 aber eben nur in receptivitate, das heißt als Fähigkeit und Disposition, deren Aktualisierung auf den Empfang geeigneter (sc. sinnlicher) ›Materialien‹ angewiesen ist. Das Prinzip der Moral und das der Glückseligkeit, »sofern sie Natur = Glücks Gabe ist«, sind verschieden. Ihre Entsprechung setzt eine vernünftige Weltordnung und gerechte Weltverwaltung voraus. »Hierbei muss vorausgesetzt werden, dass ursprünglich ein freier Wille, der allgemeingültig ist, die Ursache der Ordnung der Natur und aller Schicksale sei. Alsdenn ist die Anordnung der Handlungen nach allgemeinen Gesetzen der Einstimmung der Freiheit zugleich ein principium der Form aller Glückseligkeit.«185

Hier ist theoretisch bereits der Punkt erreicht, an dem Kant sich über den »Fehler der philosophischen Sekten« definitiv im Klaren ist und einer bestimmten Abhängigkeit der Moral von der Religion das Wort redet. Denn einerseits ist das Bestehen einer gerechten Weltordnung und Weltverwaltung nichts, was theoretisch beweisbar oder empirisch belegbar wäre. Andererseits ist der Gedanke einer Welt, »wo die Glückseligkeit genau mit der Sittlichkeit zusam-

182 183 184 185

R. 6794. Stillschweigend vorausgesetzt, dass die Natur dabei mitspielt. R. 6892, S. 196. R. 6867, S. 186. R. 6867, S. 168.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 76

08.11.2021 16:20:38

2. Der Fehler der philosophischen »Sekten«

77

menstimmt«, »ein notwendig moralisches Ideal«186 und als Sinnhorizont vernünftigen Strebens und Handelns mit unserem sittlichen Selbstverständnis untrennbar verbunden. Und zur Realisierung des höchsten durch Freiheit möglichen Guts, der Verbindung und Entsprechung von Moralität und Glück in unserer Lebenswelt, reichen die Kräfte des Menschen bei weitem nicht aus. Kant will das sittliche Selbstverständnis mit seinem unbedingten Primat der moralisch verstandenen Tugend retten, aber ebenso den Anspruch des bedürftigen Menschen auf sein Glück, wenn er sich denn des Glückes würdig erweist. Er bezieht in der Frage des höchsten Guts schließlich weder die stoische noch die epikureische Position noch eine Synthese von beiden. Er tendiert vielmehr in die Richtung einer Position, wie sie die (stoisch gefärbte) altakademischperipatetische, ihm von Cicero her vertraute Philosophie vertreten hat. Dabei gewinnt allerdings, ganz gegen diese Tradition, wohl aber im Einklang mit biblischen Texten, das provozierende Skandalon des Unglücks des Tugendhaften und des Glücks des Lasterhaften in dieser Welt und die Frage nach einer gerechten Weltordnung ein immer stärkeres Gewicht. »Wenn der rechtschaffene Mann unglücklich ist und der lasterhafte glücklich ist, so ist der Mensch nicht unvollkommen, sondern die Ordnung der Natur.«187 »Und eine Regierung der Welt würde böse sein, darin nicht alles nach dieser Würdigkeit angeordnet wäre.«188 Das höchste Gut enthält für Kant nun fraglos »ein pathologisches und ein praktisches Gut. Wohlverhalten und Wohlbefinden«. Der gute Wille, sich aller Natur- und Glücksgaben wohl zu bedienen, »macht, dass wir derselben insgesamt würdig sind«; »die Würdigkeit ist zwar ein wahres und das oberste Gut, aber nicht das vollständige«.189 Und unterhalb der Vollständigkeit kann Vernunft sich nicht zufriedengeben. Sie hat die Glücksbedürftigkeit des Menschen, und in dieser seine Naturabhängigkeit, seine Sinnlichkeit und Endlichkeit ernst zu nehmen.

186 R. 6838, S. 176. Wie dann die KdU in der Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft zeigen wird, ist das moralische Selbstverständnis untrennbar mit der gläubigen Hoffnung auf eine von Gott gestiftete sinnvolle Weltordnung im Ganzen verbunden, und zwar derart, »dass Kant offenbar mit dieser ja durchaus selbst moralisch begründeten Sinndimension auch deren moralisches Fundament in Frage gestellt sah« (Langthaler, Rudolf 2014, Bd. 1, 478). 187 R. 6590, S. 98. 188 R. 6630, S. 118. 189 R. 6876, S. 189.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 77

08.11.2021 16:20:38

78

III. Kants Weg zum moralischen Glauben: Religionsphilosophie in den Reflexionen

3. Die Verheißung der Vernunft Religion, so wie Kant sie in den Reflexionen ihrem Begriff und ihrer Funktion nach erstmals bestimmt, ist ausschließlich Vernunftreligion, das ist eine Religion, die ganz und gar aus einem vernunftgeleiteten Selbst- und Weltverständnis entwickelt wird und zur Stützung eines derartigen Selbst- und Weltverständnisses gedacht ist. Ausgangspunkt ist einmal die an der Idee der Gerechtigkeit orientierte Vernunft-Prämisse einer notwendigen Verbindung von Wohlverhalten und Wohlbefinden, einer Verbindung, die die erfahrbare Natur der Dinge und Menschenwelt nicht bietet, und die zu bewirken die Kräfte des Menschen übersteigt.190 Werden die Prinzipien und Richtlinien des Wohlverhaltens nicht den empirischen Bedingungen des Wohlbefindens nachgeordnet und angepasst, sondern in Form des Primats einer moralisch verstandenen Tugendforderung aufrechterhalten, dann führt dies von selbst zur Eröffnung der Vernunftperspektive des Ideals einer »anderen« Welt. »Die andere (intellektuale) Welt ist eigentlich die, wo Glückseligkeit genau mit der Sittlichkeit zusammenstimmt: Himmel und Hölle […]. Die andere Welt ist ein notwendig moralisches Ideal.«191 Ausgangspunkt ist zum Zweiten der Gedanke, dass der Mensch der Glückseligkeit bedürftig ist und bleibt, dass er als vernünftiges Wesen sein Streben nach Glück zwar der Bedingung der Glückwürdigkeit unterstellen muss und kann, dass er aber als endliches, bedürftiges, sinnliches Vernunftwesen sein Verlangen nach Glück nicht dem Bewusstsein bloßer Glückswürdigkeit aufzuopfern oder mit diesem selbst zu befriedigen vermag. Denn, so Kant nach zähem Ringen mit den »Systemata der Alten« vergleichsweise kategorisch: »[V]on der bloß moralischen Glückseligkeit oder der Seligkeit verstehen wir nichts.«192 Gewiss: »Das Prinzip der Selbstliebe ist zwar das allgemeine subjektive der Triebfedern, aber nicht der Beurteilung der Handlungen und ihres objektiven Werts.«193 Aber es ist eben doch subjektiv-allgemein, das heißt an die Natur des Menschen unlöslich gebunden und als wesentliche subjektive Motivationsquelle in all seinem Handeln im Spiel. Objektive Beurteilungs- und Beweg190 191 192 193

Vgl. R. 6876, S. 188. R. 6838, S. 176. R. 6883, S. 191. R. 6843, S. 177.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 78

08.11.2021 16:20:38

3. Die Verheißung der Vernunft

79

gründe und subjektive Triebfedern bzw. Motive des Handelns gilt es genau zu unterscheiden.194 Aber ohne subjektive Triebfedern handelt der Mensch nicht, und diese, so der jetzige Stand kantischer Überlegungen, müssen »alle von der Glückseligkeit […] hergenommen sein«.195 So gesehen dürfen moralische Gebote jedenfalls nicht der Aussicht auf Glückseligkeit Abbruch tun, wenn sie für den Menschen sinnvolle und zumutbare Weisungen sein sollen. Der Mensch kann nicht gegen seine sinnlich-vernünftige Natur handeln und sein Verlangen nach Glück aufgeben. Dabei gilt es, zwischen selbstsüchtiger, allemal auf den eigenen Vorteil bedachter Eigenliebe und (unverdorbener) Selbstliebe zu unterscheiden.196 Die ­Eigenliebe ist eine »ausschließende Selbstliebe«; die mit den »motiva auxiliaria« verbundene Selbstliebe ist es gerade nicht. Sie ist mit der Idee des absolut Wertvollen und zuhöchst Guten in Einklang zu bringen.197 Das Gesetz der Moralität verleiht den Bestrebungen der Selbstliebe ein Korsett der Einheit, über die sie von sich aus nicht verfügen. »Aus Selbstneigung entspringen Handlungen, die nicht notwendig Einheit unter sich und andern haben.«198 Das Gesetz, unter das das subjektive Glücksstreben gestellt wird, besagt nun, dass das Streben nach Glück, soll es objektiv vernünftig sein, die Bedingung erfüllen muss, des erstrebten Glückes auch würdig zu sein. »Der Gebrauch der Freiheit, der ein Grund der Glückseligkeit nach einer allgemeinen Regel ist, ist die Würdigkeit glücklich zu sein. Uns liegt es ob, die Glückseligkeit einer Regel zu unterwerfen.«199 Durch die Anwendung des moralischen Gesetzes auf sich und seine bedürftige sinnliche Natur modifiziert sich der natürliche Wunsch nach Glück zum Wunsch, sich des erstrebten Glücks auch würdig zu erweisen. Denn aus der Perspektive unparteilicher Vernunft ist das Glück eines moralitätsfähigen und glücksbedürftigen Wesens nur dann zu billigen, aber nach Gerechtigkeitsgesichtspunkten auch zu fordern und nach Billigkeitsgesichtspunkten zu erwarten, wenn dieses sein Glück verdient. Umgekehrt wird das moralische ­Gesetz

194 Vgl. R. 6615, S. 111. 195 R. 6858, S. 181. 196 Kant hat da sicher auch Rousseaus Unterscheidung von amour de soi und amour propre vor Augen. 197 Vgl. R. 6894, S. 198. 198 R. 6843, S. 177. 199 R. 6844, S. 177.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 79

08.11.2021 16:20:38

80

III. Kants Weg zum moralischen Glauben: Religionsphilosophie in den Reflexionen

nur zum subjektiv wirksamen Handlungsmotiv, wenn es sich derart mit dem Streben nach Glück verbindet. »Wodurch werden die sittliche[n] Bedingungen motiva, d. i. worauf beruhet ihre vis movens und also ihre Anwendung aufs Subjekt? Die Letztere[n] sind erstlich das mit der Moralität wesentlich verbundene motivum, nämlich die Würdigkeit, glücklich zu sein.«200 Da »Tugend […] keinen sichern Vorteil bei sich führt: so muss man ihre Bewegungsgründe mit dem Nutzen, den sie schafft, vereinigen«.201 Denn die subjektiven Bedingungen der Ausübung moralischer Gesetze »bestehen in der Übereinstimmung mit unserem Verlangen zur Glückseligkeit«.202 Und dies besagt: Das sittliche Handlungsmotiv der Glückswürdigkeit muss sich mit der subjektiven (plausiblen) Erwartung verbinden, dass Glückswürdigkeit sich tatsächlich als notwendiger und zureichender Grund von Glück erweist, um wirksames Handlungsmotiv des Menschen sein zu können. Ohne solche Erwartung wäre unbedingte Moralität dem Menschen, so wie er ist, nicht zumutbar, die uneingeschränkte Tugendliebe eine Torheit und ein ausgefeilter Epikureismus die vernünftigere Option. In die Stelle der subjektiven Erwartung tritt angesichts einer mangelnden empirischen Stütze Religion als reiner Vernunftglaube, das heißt als von der Vernunft zu Zwecken ihrer Autoritätssicherung unter Menschen gegebene Hoffnung und Verheißung der Wirklichkeit und Verwirklichung des höchsten Guts »in einer anderen Welt«. Ohne diese »Zusage« der Vernunft im Menschen verlöre das moralische Gesetz für ihn die Rechtskraft des unbedingt Verpflichtenden. »Die moralischen Gesetze haben wohl das principium obligandi in sich, aber obligieren nicht ohne Religion, weil sie nicht durch ihre Natur Verheißung der Glückseligkeit bei sich führen.«203 Doch der Verpflichtungscharakter des moralischen Gesetzes dehnt sich damit keineswegs auch auf den Vernunftglauben aus. Die Religion ist weder Grund noch Inhalt einer Pflicht, sondern eine Zusage, eine Verheißung der Vernunft als Gegengewicht gegen die empirisch plausible Furcht des Glücksverlusts, die mit der Einlösung von Pflicht verbunden sein mag. »Die Verheißung obligiert nicht, sie benimmt nur die Ausrede der Selbstliebe, welche ein Recht hat, alles mit seiner Glückseligkeit als einstimmig zu fordern.«204 200 201 202 203 204

R. 6628, S. 117. R. 6629, S. 118. R. 7097, S. 248. R. 7279. S. 301. R. 7108, S. 250.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 80

08.11.2021 16:20:38

3. Die Verheißung der Vernunft

81

Kants Argumentation für die (objektiv gültige) »Verheißung der Vernunft« findet sich in einer vergleichsweise ausführlichen Reflexion im Zusammenhang: »Man nennt Vorliebe […] den Wunsch, sich selbst oder […] andern glücklich zu sehen ohne Beziehung auf das Urteil, ob man dieser Glückseligkeit würdig sei. Wer ohne Vorliebe […] urteilt, urteilt unparteiisch. Unser Wunsch ist jederzeit in Ansehung unserer selbst parteiisch […]. Aber ohnerachtet alles eigenliebigen und unablässigen Wunsches können wir doch das Vernunfturteil nicht unterdrücken, dass zwar die Begierde zur Glückseligkeit natürlich vor dem Wunsche, es [sc. der Glückseligkeit würdig, M. F.] zu sein, vorhergehe, gleichwohl das Letztere vor dem Ersteren in dem Urteil der Vernunft vorhergehen müsse: dass die erste Frage sein muss, ob die Person gut sei, und die zweite nur: ob ihr Zustand gut und glücklich sei. Wir würden eine Welt verachten und eine Regierung der Welt, worin es anders geordnet wäre. Die Würdigkeit glücklich zu sein ist zwar nicht unser unmittelbarer Wunsch, aber die erste und unnachlassliche Kondition, unter welcher die Vernunft ihn billigt. Es scheint aber auch, als wenn die Vernunft uns in diesem Gebot auch etwas verspreche. Nämlich dass man hoffen könne glücklich zu sein, wenn man sich nur so verhält, dass man derselben nicht unwürdig ist. Denn da der ohne Zweifel ein Tor […] sein würde, welcher sich eigensinnig einer Regel unterwürfe, ob er gleich wüsste, dass er seinen Zweck viel besser erreichen würde, wenn er gelegentlich Ausnahmen davon machte: so würde folgen, dass man auch wohl ein Dupe […] der Tugend sein könne: ein unausstehlicher und ungereimter Gedanke.«205

Religion als Vernunftglaube begegnet also der Gefahr, dass der kategorische Anspruch moralisch-praktischer Vernunft sich im Blick auf die Glücksbedürftigkeit des Menschen als absurd erweist. Diese Verheißung und dieser Glaube der Vernunft zur Stützung der Vernünftigkeit ihres eigenen moralischen Anspruchs an den Menschen impliziert das Verständnis moralischer Gesetze als Gebote eines Gottes, dessen Einsicht unbegrenzt, dessen Wille gut und allvermögend ist,206 der als unparteilicher Richter über die Gesinnungen und Anstrengungen der Menschen urteilen und die von der Vernunft verheißene Ent205 R. 7059, S. 237 f. 206 Vgl. R. 7097, S. 248.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 81

08.11.2021 16:20:38

82

III. Kants Weg zum moralischen Glauben: Religionsphilosophie in den Reflexionen

sprechung von Glückswürdigkeit und Glück letztendlich herstellen,207 und der schließlich der Unzulänglichkeit des Menschen zur Heiligkeit nach Maßgabe von dessen Anstrengung helfend entgegenkommen wird.208 Es ist dies nach Aussage der Reflexionen ein zuversichtlicher Glaube, der nicht den kategorischen Anspruch moralisch-praktischer Vernunft begründet, sondern der sich aus der Anwendung dieses Anspruchs auf den Menschen in seiner naturgegebenen Verfassung nach Gesichtspunkten unparteilicher Vernunft notwendig ergibt. Es ist dies zum Zweiten ein Glaube, der die Reinheit der Tugendgesinnung nicht aufhebt, sondern nur dazu dient, dem Hindernis der Moralität im Menschen, das in der Furcht vor dem Verlust des Glücks besteht, in Gestalt einer Hoffnung etwas entgegenzusetzen.209 Es ist zum Dritten ein Glaube, der dem Menschen in der Größe seiner moralischen Bestimmung und ebenso in seiner natürlichen Schwäche gerecht wird, der sowohl der Gefahr theoretischer wie praktischer Selbstüberschätzung als auch der Tendenz zur Unlauterkeit und selbstverliebter Nachsicht begegnet. Und es ist schließlich ein rationaler Glaube, der allem Aberglauben und den »unmoralischen Hilfsmitteln der Religionsobservanzen« den Boden entzieht. Andererseits aber auch nur ein Glaube, eine Hoffnung, eine Verheißung, ein Versprechen der Vernunft, keineswegs ein theoretisch gesichertes Wissen.

4. D  ie »Lehre der Alten« und das christliche Ideal der Heiligkeit Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Lehre »der Alten« vom summum bonum präsentiert Kant seinen moralischen Vernunftglauben in den 70er Jahren im Unterschied zum kynischen Ideal der Einfalt, zum epikureischen der Weltklugheit und zum stoischen der Weltweisheit als Ideal der Heiligkeit, als das wahre christliche Ideal des Lehrers des Evangeliums. Den Ausgangspunkt von Kants Religionsphilosophie bildet, das ist durch Wortlaut und zeitliche Folge der Reflexionen eindeutig belegbar, das subjektive Problem der Triebfeder bzw. des Motivs moralischen Handelns und, mit ihm 207 Vgl. R. 7202, S. 280 f. 208 Vgl. R. 7094, S. 248. 209 Vgl. R. 7281, S. 301.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 82

08.11.2021 16:20:38

4. Die »Lehre der Alten« und das christliche Ideal der Heiligkeit

83

engstens verbunden, das objektive Problem einer gerechten Weltordnung. War er zunächst während seines Syntheseversuchs von Stoa und Epikureismus der Meinung, dass die menschliche Natur nur eine gemischte, eine »unreine« Motivation zu moralischem Handeln zulässt, so glaubt er dann, dass sein Konzept des moralischen Glaubens sowohl die Reinheit der Motivation durch objektive Beweggründe der Tugendliebe rettet als auch das unhintergehbare Faktum der subjektiven, auf Glück gerichteten Triebfeder des Handelns berücksichtigt und ihr Recht wahrt; nämlich dadurch, dass er die (vollkommene) Realisierung des höchsten Guts in eine andere, absolut gerecht regierte bzw. geordnete Welt verlegt. Aus den 60er Jahren stammt folgende Reflexion: »Die Schwäche der menschlichen Natur besteht in der Schwäche des moralischen Gefühls verhältnisweise gegen andere Neigungen. Daher die Vorsehung sie mit hilfsleistenden Trieben als analogis instinctorum moralium vergrößert hat, e. g. Ehre, Storge [= Liebe], Mitleiden, Sympathie oder auch mit Strafen. Wenn diese die Bewegungsgründe zum Teil sind, so ist die Moralität nicht rein. Die Moral ist chimärisch, welche alle diese motiva auxiliaria ausschließt.«210

In die Zeit von 1776 bis 1778 dagegen gehören folgende Reflexionen: »Epikur wollte der Tugend die Triebfeder geben und nahm ihr den innern Wert. Zeno wollte der Tugend einen innern Wert geben und nahm ihr die Triebfeder. Nur Christus gibt ihr den innern Wert und auch die Triebfeder […]. Die Triebfeder aus der andern Welt ist auch schon an sich selbst der Entsagung auf allen Vorteil gleich […]; die andere Welt ist ein notwendig moralisches Ideal. Ohne dieses ist die moralische Gesetzgebung ohne Regierung. Sie allein geht auf den innern Wert der Handlungen. Durch die gehoffte Belohnung der andern Welt wird die Tugend uneigennützig und hat doch eine Stütze oder Zuflucht. Die Triebfeder ist den Sinnen so weit als möglich entzogen.«211 »Es ist wahr: ohne Religion würde die Moral keine Triebfedern haben, die alle von der Glückseligkeit müssen hergenommen sein. Die moralischen Gebote müssen eine Verheißung oder Drohung bei sich führen. Die Glückseligkeit ist 210 R. 6560, S. 77. 211 R. 6838, S. 176.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 83

08.11.2021 16:20:39

84

III. Kants Weg zum moralischen Glauben: Religionsphilosophie in den Reflexionen

in diesem Leben nicht ihre Aufmunterung; überdem ist die reine Gesinnung des Herzens das, was den eigentlichen moralischen Wert ausmacht; diese aber wird niemals von andern recht erkannt, oftmals gar verkannt. Es hat sicherlich keinen Menschen gegeben, der mit gänzlicher Gewissenhaftigkeit über die Reinigkeit seiner Sitten wachte und der nicht zugleich hoffte, dass einmal diese Sorgfalt von großer Wichtigkeit sein werde und von einer die Welt regierenden höchsten Weisheit erwartete, es werde nicht umsonst sein, dieser genauen Beobachtung sich gewidmet zu haben. Allein das Urteil über den Wert der Handlungen, sofern sie Beifalls und der Glückseligkeit würdig sind, muss doch von aller Erkenntnis von Gott unabhängig sein.«212

Nicht der Begriff der Moralität und das Urteil über den moralischen Wert von Handlungen ist von der Überzeugung von der Existenz eines Gottes abhängig, wohl aber die Triebfeder zu moralischem Handeln; aber nicht nur die subjektive Triebfeder, sondern auch die Einsicht in die objektiv-unbedingte Verbindlichkeit moralischer Gesetze: »Wäre kein Gott, so würden alle unsere Pflichten schwinden, weil eine Ungereimtheit im Ganzen wäre, nach welcher das Wohlbefinden nicht mit dem Wohlverhalten stimmete, und diese Ungereimtheit würde die andere entschuldigen. Ich soll gerecht gegen andere sein; aber wer sichert mir mein Recht?«213

Von besonderer Bedeutung ist für Kant offensichtlich der Gesichtspunkt, dass die im Vernunftglauben enthaltene Hoffnung auf gerechte Belohnung nicht die Reinheit der Tugendgesinnung verdirbt. »Das Ideal des Christen hat dieses Besondere, dass es nicht allein die Idee der sittlichen Reinigkeit zum Principio der Dijudikation macht, sondern auch zur unnachlasslichen Richtschnur der Handlungen und dass er darnach solle gerichtet werden.«214 Der Christ, so Kant, bemüht sich um Moralität nicht des Lohnes wegen, sondern um der Tugend selbst willen und ist sich bewusst, dass er von einem göttlichen Richter eine Belohnung nur zu gewärtigen hat, wenn er genau dieses tut. Ja, der Vernunftglaube ist eine Folge der Tugendliebe und nicht umgekehrt. Der und nur 212 R. 6858, S. 181. 213 R. 6674, S. 130. 214 R. 6634, S. 120.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 84

08.11.2021 16:20:39

4. Die »Lehre der Alten« und das christliche Ideal der Heiligkeit

85

der, welcher Tugend als unbedingtes Gut und Bedingung der Billigung von Natur- und Glücksgaben an freien Wesen ansieht und schätzt, gewinnt den wahren Vernunftglauben. »Das System des feinsten Eigennutzes ist darin von dem Lehrbegriff der sich selbst genugsamen Tugend unterschieden, dass diese die Tugend an sich selbst liebt und darin nicht umhin kann, einen allsehenden Richter ihrer Reinigkeit und ihre Belohnung zu hoffen. Die Tugendliebe ist der Hoffnung glücklich zu sein, und diese gibt ihr Stärke, dem Unangenehmen, was mit ihr verbunden ist, zu widerstehen. Dagegen im ersteren System ist die Hoffnung der Glückseligkeit womöglich ein Grund der Tugend, eigentlich ein Grund kluger Handlungen, die eben dieselbe Wirkung, aber nicht aus denselben principiis leisten.«215

Kant spricht im Anschluss an Alexander Baumgarten von einem praemium morale, wenn die Belohnung für eine Tat nicht Grund, sondern Folge der freien Handlung ist,216 während das praemium pragmaticum der »Preis ist […], der Bewegungsgrund war«.217 In diesem Sinn spricht er auch von praemia auctorantia, von einem auf etwas ausgesetzten Preis bzw. Lohn, der zum Handeln anregen und bewegen soll, im Unterschied zu praemia remunerantia, Belohnungen, die eine geschehene gute Tat vergelten. Derartige Belohnungen entsprechen guten Handlungen, zu denen man verpflichtet ist bzw. die man über seine Pflicht hinaus vollzieht. Auf sie besteht kein Rechtsanspruch, wohl aber entsprechend der Güte und dem Vermögen des Gebieters oder Adressaten eine plausible bzw. billige Erwartung, insbesondere dann, wenn die Pflichterfüllung bzw. gute Tat mit Mühen und Einbußen auf Seiten des Handelnden verbunden ist.218 In diesem Sinn sind die Reflexionen 7280 und 7281 zu verstehen, die Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre Baumgartens Behandlung der praemia kommentieren. »Prinzip des Eigennutzes. analogon meriti ist eine pflichtmäßige Handlung unter Hindernissen der entgegenstrebenden Natur. Wie kann die Hoffnung auf göttliche Güte mit der Uneigennützligkeit verbunden werden? Wenn sie nicht als 215 216 217 218

R. 6606, S. 106. R. 7110, S. 250; vgl. R. 7102, S. 249. R. 7110, S. 250. Vgl. R. 7109, S. 250; R. 7111, S. 251; R. 7114, S. 251 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 85

08.11.2021 16:20:39

86

III. Kants Weg zum moralischen Glauben: Religionsphilosophie in den Reflexionen

praemium [hier zu verstehen im engen Sinn von Lohn bzw. Preis, M. F.] betrachtet wird, sondern nur als Beifall, der unsere Wahl bestätigt.«219 »Die Erwartung der Belohnungen verhindert nur dann den moralischen Wert, wenn diese den Bewegungsgrund enthalten, nicht aber, wenn sie nur dazu dienen, die Hindernis der Moralität in der Furcht vor dem Verlust aller Glückseligkeit aufzuheben.«220

Kant unterscheidet in dieser Zeit im Blick auf die Motivation sittlich guten Handelns des Menschen zwei Faktoren, den objektiven Bewegungsgrund, meist »motivum« genannt, nämlich die Pflicht bzw. die Tugend selbst,221 der in einer Vernunftaussage und einem dictamen rationis besteht, und die subjektive Triebfeder, meist mit »elater« bezeichnet, die sich aus Gefühlen, Trieben und Neigungen konstituiert. Bei der Triebfeder nun ist zu unterscheiden zwischen dem moralischen Gefühl (der Selbstachtung, des Wohlgefallens, der Selbstbilligung) und naturbasierten Neigungen. Die Hoffnung auf Glück nach Maßgabe der Glückswürdigkeit im Vernunftglauben ist wie das moralische Gefühl eine vernunftgewirkte emotive Einstellung und verstärkt die Kraft des moralischen Gefühls, das unter der bedürfnis- bzw. neigungsbezogenen Furcht des Glücksverlusts in Verbindung mit der Tugend- und Pflichtvorstellung der Vernunft zu schwach wäre, den Menschen zu tugendhaftem Handeln zu bewegen. »Wie kann Vernunft eine Triebfeder abgeben, da sie sonst jederzeit nur eine Richtschnur ist und die Neigung treibt, der Verstand nur die Mittel vorschreibt? Zusammenstimmung mit sich selbst. Selbstbilligung und Zutrauen.222 Die Triebfeder, die mit der Pflicht verbunden werden kann, aber niemals an deren Stelle gesetzt werden muss, ist Neigung oder Zwang.223 Die erste darum, weil die Neigung (selbst die wohlwollende) durch Pflicht muss regiert werden. Die zweite darum, weil die Zwangsbedürftigkeit an sich selbst schon eine Schwächung der Macht der Pflicht ist.«224 219 220 221 222 223 224

R. 7280, S. 301. R. 7281, S. 301. R. 6601; R. 6974; vgl. R. 6638. Das »Zutrauen« dürfte sich auf den Vernunftglauben beziehen. Gemeint sind wohl die bereits erwähnten motiva auxiliaria. R. 6864, S. 185.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 86

08.11.2021 16:20:39

4. Die »Lehre der Alten« und das christliche Ideal der Heiligkeit

87

»Die treibende Kraft kommt auf das Gefühl des Wohlgefallens an, sofern es auf sich selbst und die Selbstschätzung angewandt wird, und zwar nach seinem allgemeingültigen Preis, d. i. dem inneren Wert. Erhebung der Menschheit.«225

Die Hoffnung des Tugendhaften auf ein durch Gott gewährtes Glück steht im Rahmen der moralischen Gliederung des Triebfederbereichs zwischen moralischem Gefühl und Neigung und hat die Funktion eines ausgleichenden Gegengewichts zu neigungsbedingten Emotionen, die dem moralischen Gefühl entgegenwirken. Sie ist wie das moralische Gefühl eine auf Gesichtspunkten der Vernunft beruhende Emotion und trägt zugleich dem Anspruch der Neigung bzw. des sinnlichen Bedürfnisses Rechnung. Ein wesentlicher Gesichtspunkt, der Kants Plädoyer für das christliche Ideal der Heiligkeit gegenüber den Lehren der Alten leitet, ist die Abwehr der Gefahr sowohl theoretischer Selbstüberschätzung als auch moralischen Eigendünkels oder sittlicher Selbstnachsicht, der nach seiner Meinung durch die Philosophie der vorchristlichen Antike vom summum bonum Vorschub geleistet wird. Während Kant in den 60er Jahren Platons Ideal einer durch theoretische und charakterliche Bildung zu erreichenden Gemeinschaft mit Gott mit den Prädikaten »mystisch«, »enthusiastisch«, gar »fanatisch« belegt und offensichtlich in engen Zusammenhang mit dem Christentum bringt,226 wird dieses Ideal in den 70er Jahren ungleich positiver beurteilt. »Plato: Moral aus der Idee, nicht den Neigungen oder den Erfahrungen gemäß, auch nicht aus Reflexionsbegriffen. Nur er suchte seine Idee in Gott, oder er machte seinen Begriff von Gott aus diesen Ideen.«227 Die bleibende Differenz zu Platon besteht allerdings darin, dass dieser, wie Kant meint, ein Wissen, eine intellektuelle Anschauung behauptet, während er nach dem Vorbild Christi nur von Wohlverhalten sowie von Glauben und Hoffen zu sprechen vermag. »Christus sagt auch, dass in der Gemeinschaft mit Gott das höchste Gut besteht; aber sein Weg ist durch das Wohlverhalten im Glauben, nicht durch Anschauen oder Andächtelei. Er ist hierin von Plato unterschieden.«228 Als Kritik an allen vorchristlichen Ethikentwürfen bleibt der Vorwurf der Selbstüberschätzung, während einzig das Christentum sich in gebotener, dem 225 226 227 228

R. 6866, S. 185 f. Vgl. R. 6601; R. 6611, S. 108 f. R. 6842, S. 177. R. 6894, S. 198 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 87

08.11.2021 16:20:39

88

III. Kants Weg zum moralischen Glauben: Religionsphilosophie in den Reflexionen

Menschen gemäßer Bescheidenheit übt. »Das Christentum hat dieses Besondere an sich, dass, da alle andre vorgeben, der Mensch könne aus eignen Kräften dahin gelangen, dasselbe die Schwäche der menschlichen Natur nicht vorschützt, sondern zur Schärfe der Selbstprüfung braucht und von Gott Hilfe.«229 Stoa und Epikureismus, für Kant (ähnlich wie für Cicero) die großen ethischen Antipoden der Antike, die nunmehr in der Aufklärung erneut eine paradigmatische Rolle spielen, hätten einerseits den Menschen dünkelhaft überschätzt (die Stoa), andererseits das moralische Gesetz den empirischen Neigungen angepasst (Epikur). Das Christentum allein verfüge über den korrekten Vernunftbegriff des höchsten Guts des Menschen und trage zugleich dem anthropologischen Sachverhalt Rechnung, dass der Mensch mit seinen natürlichen Kräften bezüglich beider Komponenten des höchsten Guts überfordert sei. Es habe den strengsten Begriff der Würdigkeit und fordere die größte Reinheit des Herzens, stärke aber zugleich das Vertrauen auf einen gerechten und hilfreichen Gott. »Das summum bonum der philosophischen Sekten konnte nur stattfinden, wenn man annahm, der Mensch könne dem moralischen Gesetz adäquat sein. Zu dem Ende musste man entweder seine Handlungen mit moralischem Eigendünkel vorteilhaft auslegen oder das moralische Gesetz sehr nachsichtlich machen. Der Christ kann die Gebrechlichkeit seines persönlichen Wertes erkennen und doch hoffen, des höchsten Gutes selbst unter Bedingung des heiligsten Gesetzes teilhaftig zu werden.«230 »Wenn die Hoffnung der Glückseligkeit unserer sittlichen Würdigkeit soll gemäß sein, so ist der Weise des Evangelii das wahre sittliche Ideal. Der nämlich die natürliche Tugend und das natürliche Glück nicht für hinreichend hält, sondern beides als ergänzungsbedürftig sowohl zur Würdigkeit als auch den Besitz der Glückseligkeit.«231 »Weil die Alten kein ander Vermögen der Sittlichkeit als das natürliche erkannten, so machten sie das Gesetz nachsichtlich. Dagegen das Evangelium rein.

229 R. 6832, S. 174 230 R. 6872, S. 187. 231 R. 6882, S. 191.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 88

08.11.2021 16:20:39

4. Die »Lehre der Alten« und das christliche Ideal der Heiligkeit

89

Daher vollkommenere Morallehre. Die Triebfeder in dieser Welt ist auch nicht den Gesinnungen angemessen.«232 »Die christliche Religion sagt: wir können niemals hoffen, durch eigen Verdienst die Würdigkeit zu erlangen. Sie fordert die größte Reinigkeit des Herzens.«233

Die Einsicht in die Schwäche menschenmöglicher Tugend führe im Rahmen des christlichen Ideals nicht zur Verminderung des moralischen Anspruchs, sondern zur Hoffnung auf göttlichen Beistand, sie führe nicht zu quietistischer »Bangigkeit«, sondern zum Einsatz der vorhandenen Kräfte, sie führe nicht zu Versuchen äußerlichen Lohndienstes und sklavischer »Andächtelei« vor Gott, sondern zur Arbeit an der eigenen Sittlichkeit. Wahre Religion habe ihren Ausgangspunkt und Kern im moralischen Gefühl, in der moralischen Gesinnung und in der auf sie sich stützenden Hoffnung; andernfalls ist sie Ausdruck einer unmoralischen knechtischen Einstellung. »Die Lehre des Evangelii will auch, dass man nicht anders als durch Wohlverhalten und Heiligkeit soll hoffen selig zu werden, dass man aber diese Heiligkeit hoffen soll, sofern man mit allem Ernste sich befleißigt, nach seinen verliehenen Kräften so gut zu sein als man kann.«234 »Es ist nötig, die Sittlichkeit vor der Religion zu schicken, dass wir eine tugendhafte Seele Gott darbringen; wenn die Religion vor den Sitten vorhergeht, so ist die Religion ohne Sentiment eine kalte Einschmeichelei und die Sitten eine Observanz aus Not ohne Gesinnung.«235 »Es ist unverschämt, um Glück oder nur um Straflosigkeit zu bitten, wenn man nicht ein besserer Mensch ist. Der göttliche Wille wird alsdenn nicht als ein heiliger, sondern eigenliebiger und despotischer Wille betrachtet, der keine Gesetze der innern Anständigkeit achtet und bloß den Einschmeichelungen Gehör gibt.«236 232 233 234 235 236

R. 6839, S. 176 f. R. 6838, S. 175. R. 7094, S. 248. R. 6753, S. 148. R. 7093, S. 247.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 89

08.11.2021 16:20:39

90

III. Kants Weg zum moralischen Glauben: Religionsphilosophie in den Reflexionen

5. Der Weise des Evangeliums und seine Lehre Kant hat, dies lässt sich den Reflexionen des handschriftlichen Nachlasses eindeutig entnehmen, vom Beginn der 70er Jahre bis etwa um die Zeit der Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft eine moralphilosophische Grundposition ausformuliert, die er in ihren wesentlichen Zügen bis zum Ende seines Lebens beibehalten wird. Man mag sie mit dem Titel eines aufgeklärten, christianisierten, stoisch imprägnierten Platonismus charakterisieren. Religion wird völlig in den Kontext eines rational zu interpretierenden moralischen Selbstverständnisses gestellt und an ihm gemessen. Wie es in späten Reflexionen zur Religionsphilosophie heißt: Moral ohne Religion ist unmöglich »in Ansehung des Endzwecks«;237 aber: »Das Dasein der Gottheit ist nicht bewiesen, sondern es wird postuliert, und es kann also bloß dazu dienen, wozu die Vernunft gezwungen war, es zu postulieren«.238 Dass Kant bereits in der Zeit zwischen 1773 und 1779 genau diese Position vertrat, zeigt sein damaliges Verständnis der christologischen Erlösungstheologie: »Es konnte zu gewissen Zeiten nötig sein zu wissen, wie Gott die Gebrechlichkeit unserer Moralität ergänzte (um den Menschen von abergläubischen Satzungen loszumachen); aber an sich selbst ist dem Menschen nichts mehr nötig als zu wissen, wie er sich dieser Beihilfe würdig mache. Damit wegen der vorher begangenen Sünden, deren Schuld er nicht tilgen kann, [er] sich nicht durch abergläubische Mittel zu befriedigen suchte, so wurde das Verdienst einer Person im Namen des menschlichen Geschlechts vorgestellt, damit der Mensch jetzt keine andre Genugtuung selbst suchte, als in einem ganz neuen Lebenswandel.«239

237 R. 8097, S. 641, aus der Zeit von 1792 bis 1794. Was den Begriff des Endzwecks betrifft, so ist, auf der Basis des moralischen Selbstverständnisses, zu unterscheiden (a) zwischen dem Menschen (allein aufgrund seiner Anlage zur Persönlichkeit) als real existierendem Endzweck der Schöpfung (KrV B 425; A 840/B 868), (b) dem ihm durch seine Vernunft aufgegebenem praktischen Endzweck (die Beförderung des höchsten durch Freiheit möglichen Guts in der Welt, KdU V, 195 f.; 450) und (c) dem Endzweck der Welt als »Endabsicht Gottes« bezüglich der Schöpfung bzw. als von der praktischen Urteilskraft vorausgesetztem Sinn des Weltganzen (eine den höchsten sittlichen Zwecken angemessene Welt), die einen »allgenugsamen«, verständigen und moralischen Gott zum Urheber hat (KdU V, 441; 477). 238 R. 8092, S. 637 aus der Zeit von 1788 bis 1790. 239 R. 8086, S. 629.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 90

08.11.2021 16:20:39

5. Der Weise des Evangeliums und seine Lehre

91

Diese Reflexion entspricht dem Inhalt eines Briefes, den Kant am 28. April 1775 an Johann Caspar Lavater schrieb, dem einzigen aller von Kant erhaltenen Briefe übrigens, in dem er sich offen, ausführlich und prägnant über seine religionsphilosophische Position äußert. Bezeichnend an diesem Brief ist zunächst, dass Kant sich in ihm religiös nicht so sehr auf der Linie der Griechen, sondern des alttestamentlichen Hiob liegend begreift.240 Hiob steht beispielhaft für einen freien und aufrechten Glauben, aber sicher auch für die in der griechischen Philosophie fehlende Anerkennung des Skandalon, dass ein Lasterhafter in diesem Leben glücklich bzw. ein Tugendhafter in diesem Leben unglücklich sein könnte.241 »Sie verlangen mein Urteil über Ihre Abhandlung vom Glauben und dem Gebete. Wissen Sie auch an wen Sie sich deshalb wenden? An einen, der kein Mittel kennt, was in dem letzten Augenblicke des Lebens Stich hält, als die reineste Aufrichtigkeit in Ansehung der verborgensten Gesinnungen des Herzens und der es mit Hiob vor [= für] ein Verbrechen hält Gott zu schmeicheln und innere Bekenntnisse zu tun, welche vielleicht die Furcht erzwungen hat und womit das Gemüt nicht in freiem Glauben zusammenstimmt.«242

Bemerkenswert ist ferner, dass Kant genau »die Lehre Christi von der Nachricht, die wir von der Lehre Christi haben«243 unterschieden, den moralischen Glauben, »welchen ich im Evangelio fand«, von seiner Vermischung mit »Factis und offenbarten Geheimnissen«244 und »den neutestamentlichen Satzungen«245 getrennt wissen will. Die »Lehre Christi« »ist gewiss die Grundlehre des Evangelii, das Übrige kann nur die Hilfslehre desselben sein, weil die Letztere nur sagt: was Gott getan um unserer Gebrechlichkeit in Ansehung der Rechtfertigung vor ihm zu Hilfe zu kommen, die Erstere aber, was wir tun müssen, um uns alles dessen würdig zu machen.«246

240 So auch nachdrücklich in R. 8089, S. 632 f. 241 Vgl. dazu die späte markante Reflexion 7314, S. 310 f. 242 AA X, Brief 99, S. 176. 243 Ebd. 244 Ebd., S. 177. 245 Ebd., S. 176. 246 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 91

08.11.2021 16:20:39

92

III. Kants Weg zum moralischen Glauben: Religionsphilosophie in den Reflexionen

Die »Grundlehre« wird charakterisiert als »die Lehre des guten Lebenswandels und der Reinigkeit der Gesinnungen im Glauben«.247 Und der Glaube als »das unbedingte Zutrauen auf die göttliche Hilfe«248 hat zum zentralen Inhalt, »dass bei der Heiligkeit seines Gesetzes und dem unüberwindlichen Bösen unseres Herzens, Gott notwendig irgendeine Ergänzung unsrer Mangelhaftigkeit in den Tiefen seiner Ratschlüsse verborgen haben müsse, worauf wir demütig vertrauen können, wenn wir nur so viel tun als in unseren Kräften ist, um derselben nicht unwürdig zu sein«,249 »die uns zu wissen [aber] gar nicht nötig ist«.250

Unter »neutestamentlichen Satzungen« versteht Kant »alles, wovon man nur durch historische Nachricht Überzeugung bekommen kann und was gleichwohl zur Konfession oder Observanz als eine Bedingung der Seligkeit anbefohlen wird«.251 Derartiges zu gebieten widerspricht der »reinen Religion« und fällt unter den Begriff »gottesdienstlicher Bewerbungen, darin zu aller Zeit der Religionswahn bestanden hat«.252 Was »die Wunder und eröffneten Geheimnisse« betrifft, so mag solches »nötig gewesen sein, um eine so reine Religion […] bei dem Widerstande, den sie am Judentum fand, zuerst einzuleiten und unter einer großen Menge auszubreiten«. Dabei mag ihre »Nachricht« jetzt noch »in einigen Gemütern ein Hilfsmittel sein«. Aber seine »Seel und Seligkeit darauf zu verschwören« ist, gegenüber bloßen »Nachrichten«, die sie sind, unsinnig und dem einmal erreichten Standpunkt des Vernunftglaubens abträglich. »Ich bin den Zeiten, von welchen sie her sind, nicht nahe genug, um solche gefährliche und dreiste Entscheidungen zu tun. Überdem kann mich das nicht im Mindesten der Zuneigung dieses Guten, wenn ich es auch gewiss wüsste, würdiger machen: dass ich es bekenne, beteuere und meine Seele damit anfülle.«253 Jesus ist für Kant der Weise des Evangeliums, der in den überkommenen frühchristlichen Zeugnissen idealisierte Lehrer der reinen Religion der Vernunft und des Herzens. Was Kant an Einstellung und Inhalt seines aufgeklär-

247 Ebd., S. 177. 248 Ebd., S. 178. 249 Ebd., S. 176 250 Ebd., S. 177. 251 Ebd., S. 178. 252 Ebd., S. 177. 253 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 92

08.11.2021 16:20:39

5. Der Weise des Evangeliums und seine Lehre

93

ten Vernunftglaubens für wesentlich christlich hält, mag hier abschließend die wohl klarste und konzentrierteste religionsphilosophische Reflexion (aus den Jahren 1776 bis 1778) verdeutlichen: »Der Lehrer des Evangelii setzte mit Recht zum Grunde, dass die zwei principia des Verhaltens, Tugend und Glückseligkeit, verschieden und ursprünglich wären. Er bewies, dass die Verknüpfung davon nicht in der Natur (dieser Welt) liege. Er sagte, man könne sie jedoch getrost glauben. Aber er setzte die Bedingung hoch an und nach dem heiligsten Gesetz. Zeigte die menschliche Gebrechlichkeit und Bösartigkeit und nahm den moralischen Eigendünkel weg (Demut) und, indem er das Urteil dadurch geschärft hatte, so ließ er nichts übrig als Himmel und Hölle, das sind: Richtersprüche nach der strengsten Beurteilung. Er nahm noch alle unmoralischen Hilfsmittel der Religionsobservanzen weg und machte dagegen die Gütigkeit Gottes in allem dem, was nicht in unseren Kräften ist, zum Gegenstande des Glaubens, wenn wir so viel als in unsern Kräften mit Aufrichtigkeit zu leisten bestrebt sind. Er reinigte die Moral also von allen nachsichtlichen und eigenliebigen Einschränkungen. Das Herz von moralischem Eigendünkel. Die Hoffnung der Glückseligkeit von phantastischen Aussichten. Den Begriff der Gottheit von den schwachen Begriffen nachsichtlicher Gütigkeit, imgleichen dem dienstbedürftigen Willen Observanzen zu verlangen, von kindlichem Leichtsinn leerer Hoffnung und von knechtischer Furcht kriechender Andächtelei und gab ihm Heiligkeit des Willens als die Norm der Gütigkeit seiner Absichten. Folglich wurde die Moral mit einer Stütze versehen, worauf sich alle Hebel, die das Herz bewegen sollen, fest stützen, aber zugleich rein, ohne Beimengung der eigennützigen Absichten oder fremdartiger Ersetzungsmittel.«254

Was Kant in den 70er Jahren für sich und in einem persönlichen Brief an Lavater formulierte, wird er in seiner späten Religionsschrift von 1793 im Wesentlichen bestätigen und veröffentlichen.

254 R. 7060, S. 238 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 93

08.11.2021 16:20:39

IV. G  uter Wille und Hass der ­Vernunft: Zum ­ersten ­Abschnitt der Grund­ legungsschrift »In der Tat finden wir auch, dass, je mehr eine kultivierte Vernunft sich mit der Absicht auf den Genuss des Lebens und der Glückseligkeit abgibt, desto weiter der Mensch von der wahren Zufriedenheit abkomme, woraus bei vielen und zwar den Versuchtesten im Gebrauche derselben, wenn sie nur aufrichtig genug sind, es zu gestehen, ein gewisser Grad von Misologie, d. i. Hass der Vernunft, entspringt […]« Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten IV, 395

1. D  ie Interpretationsschlüssel: ein dialektischer Streit Im ersten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten exponiert Kant die wesentlichen Grundbegriffe und Grundsätze seiner (kritischen) Moralphilosophie. Der Abschnitt im Ganzen dient der Erläuterung und noch recht vorläufigen Rechtfertigung seines ersten Satzes, dass »ohne Einschränkung für gut […] allein ein guter Wille« könne gehalten werden.1 Die Instanz, auf die Kant sich bei dieser erläuternden Rechtfertigung beruft, ist ›die moralische Erkenntnis der gemeinen Menschenvernunft‹.2 Dabei geht es ihm hier nach seinen eigenen Worten nicht darum, »etwas Neues zu lehren«. Er möchte vielmehr, »wie Sokrates tat«, unser aller »gemeinen Verstand« darauf aufmerksam machen, was er im Grunde ohnehin bereits weiß.3 Nun kann das Anliegen des 1 2 3

GMS IV, 393. GMS IV, 403. GMS IV, 404.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 94

08.11.2021 16:20:39

1. Die Interpretationsschlüssel: ein dialektischer Streit

95

ersten Abschnitts natürlich nicht einfach darin bestehen, ins klare Licht zu rücken, was der »gemeine Verstand« so alles an tatsächlicher oder vermeintlicher moralischer Einsicht im Allgemeinen bereithält. In der Vorrede zur GMS bemerkt Kant, dass wahre Philosophie »sich eben von der gemeinen Vernunfterkenntnis [dadurch unterscheidet], dass sie, was diese nur vermengt begreift, in abgesonderter Wissenschaft vorträgt«.4 Der gemeine Verstand, so Kant, neige nämlich dazu, Apriorisches und Empirisches zu vermengen. Und dies sei im Moralischen besonders misslich, weil durch diese Vermengung der »Reinigkeit der Sitten selbst Abbruch« geschehe.5 Die Aufgabe des ersten Abschnitts der Grundlegungsschrift dient also bereits einer Auflösung und Isolierung von im Bestand der »gemeinen Vernunfterkenntnis« unheilvoll Vermengtem. Und dies soll nach dem Vorbild des Sokrates, das heißt des sokratisch-dialektischen Verfahrens, geschehen. Was diese penible Scheidung im Ergebnis bieten soll, sind von allem Empirischen gereinigte Grundbegriffe und Grundsätze, mit denen dann auf ordentliche Weise »in abgesonderter Wissenschaft« Moralphilosophie betrieben werden kann. Warum es »von der äußersten Notwendigkeit sei, einmal eine reine Moral­ philosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch sein mag und zur An­thro­pologie gehört, völlig gesäubert wäre«,6 liegt für Kant auf der Hand: ­Moralische Forderungen verpflichten uns absolut. Und für ihn ist ebenso evident, dass somit »der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft«.7 Es scheint fast unnötig, zu bemerken, dass dieser moralphilosophische Ansatz, der von vornherein die Fülle praktischer Erfahrungen, die Menschen im Mit- und Gegeneinander ihres Lebens gemacht haben und machen, hinter sich lässt, für einen etwa an aristotelischer Ethik Geschulten weit weniger überzeugend ist. Der erste Abschnitt der GMS ist deutlich zweigeteilt. Sein erster Teil besteht in der Klärung und Stützung »der Idee von dem absoluten Werte des bloßen Willens, ohne einigen Nutzen bei Schätzung desselben in Anschlag zu bringen«,8 und der dialektischen Zurückweisung von Bedenken, die diese von 4 GMS IV, 390. 5 Ebd. 6 GMS IV, 389. 7 Ebd. 8 GMS IV, 394.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 95

08.11.2021 16:20:39

96

IV. Guter Wille und Hass der ­Vernunft: Zum e­ rsten ­Abschnitt der Grund­legungsschrift

Menschen verfolgte Idee dem Verdacht einer bloß »hochfliegende[n] Phantasterei«9 aussetzen. Der zweite Teil10 entwickelt den Begriff des »an sich selbst hochzuschätzenden und ohne weitere Absicht guten Willens«,11 der die oberste Bedingung des Gutseins unserer Handlungen ausmacht, anhand des Begriffs der Pflicht, indem er beispielhafte Konfliktsituationen zwischen Pflicht und Neigung dem gesunden moralischen Bewusstsein und Urteil der »gemeinen Menschenvernunft«12 aussetzt. Kant beansprucht, von der »gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis« auszugehen und über die dialektische Prüfung der Popularphilosophie zur kritischen Moralphilosophie und ihrer metaphysischen Letztbegründung zu gelangen. Der Verdacht scheint prima facie jedoch nicht unbegründet, dass die »Phänomene des moralischen Bewußtseins […] von vornherein vom metaphysischen und transzendentalen Standpunkt Kants aus interpretiert und kritisiert« werden.13 Dieser Verdacht lässt sich etwa durch Kants Erklärung des Begriffs der Achtung stützen: »Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon jene uns das Beispiel gibt«,14 ein Satz, der für das gemeine sittliche Bewusstsein wohl alles andere als selbstverständlich ist und nur vor dem Hintergrund des moralphilosophischen Platonismus Kants15 verständlich und annehmbar sein dürfte. Ich konzentriere mich im Folgenden auf eine interpretierende Analyse von Kants Auseinandersetzung mit der (antiken und zeitgenössischen) Popularphilosophie, die im ersten Abschnitt der GMS beim »Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen«16 eine zentrale Rolle spielt. Ein erster Schlüssel zum Verständnis der Anfangspassagen des ersten Abschnitts der GMS besteht in der Beachtung des Sachverhalts, dass Kant hier auf eine Weise Thesen erläutert und Kontroversen verhandelt, die zwischen »gemeiner« und »philosophischer sittlicher Vernunfterkenntnis« anzusiedeln und im Wesentlichen der »populären sittlichen Weltweisheit« zuzuordnen sind. 9 Ebd. 10 Ab S. 397. 11 GMS IV, 397. 12 Ebd. 13 Siep, Ludwig 21993, 33. 14 GMS IV, 401 Anm. 15 Sein moralphilosophischer Platonismus ist allerdings auch, wie gezeigt, von stoischen und christlichen Motiven geprägt. 16 GMS IV, 393.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 96

08.11.2021 16:20:39

1. Die Interpretationsschlüssel: ein dialektischer Streit

97

Dabei ist Kants Überzeugung von Bedeutung, dass man, um über wahre Popularität zu lernen, nicht nur zu den Neueren greifen, sondern auch und vor allem die Alten lesen muss.17 Ein zweiter Schlüssel findet sich in dem Hinweis am Ende des ersten Abschnitts, dass die Antithese zur Ausgangsbehauptung einer »natürlichen Dialektik« im Menschen entspringt, die sich zwischen dem Gebot der Vernunft und dem Anspruch der Neigung bereits auf der Ebene der »gemeinen Menschenvernunft«, mehr noch auf der Stufe ihrer popularphilosophischen Kultivierung »nachgerade« von selbst ergibt und zu ihrer Lösung wissenschaftlicher Philosophie bzw. einer »vollständigen Kritik unserer Vernunft« bedarf.18 Kant trägt diesen Widerspruch auf (im antiken Sinn) dialektische Weise19 aus, und zwar unter Berufung auf einen komplexen Grundsatz (sc. von der zweckmäßigen Einrichtung von Lebewesen),20 von dem er unterstellt, dass beide Parteien ihn akzeptieren. Dabei scheinen die Rollen nur auf den ersten Blick sonderbar verteilt. Die These »von dem absoluten Werte des bloßen Willens«,21 nämlich seine eigene, gilt »unerachtet aller Einstimmung selbst der gemeinen Vernunft mit derselben«22 als befremdlich. Dies besagt: Sie ist für einen gewichtigen, wenn nicht den überwiegenden Teil der zeitgenössischen Popularphilosophie und der durch sie Gebildeten ein Paradoxon. Die Gegenthese des Herausforderers vertritt, unerachtet ihres provokativen Anscheins, die Meinung der meisten Gebildeten, die sich aufgeklärt geben und dafür halten. Das Ergebnis des Verfahrens der Überprüfung zeigt, dass die Herausforderung des traditionellen sittlichen Selbstverständnisses durch Vertreter gegenwärtiger »kultivierter« Vernunft selbstwidersprüchlich ist und damit jedenfalls nach Argumenten erfolglos sein müsste. Wenn der Streit auf dieser Ebene gleichwohl weiterbestehen wird, so liegt dies daran, dass die Vertreter der ­These dem 17 »Um über wahre Popularität zu lernen, muss man die Alten lesen, z. B. Cicero’s philosophische Schriften, die Dichter Horaz, Vergil u. s. w. unter den Neuern Hume, Shaftesbury u. a. m.« (Logik Jäsche, AA IX, 47, Z. 29–31). Die Kontroverse, die Kant zu Beginn der GMS diskutiert, wird etwa in Ciceros Schrift De finibus bonorum et malorum ausgetragen. 18 GMS IV, 405. 19 Vgl. dazu Forschner, Maximilian 1987, 41–61. 20 »In den Naturanlagen eines organisierten, d. i. zweckmäßig zum Leben eingerichteten Wesens, nehmen wir es als Grundsatz an, dass kein Werkzeug zu irgendeinem Zwecke in demselben angetroffen werde, als was auch zu demselben das schicklichste und am meisten ange­ messen ist« (GMS IV, 395). 21 GMS IV, 394, Z. 32–33. 22 Ebd., Z. 34–35.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 97

08.11.2021 16:20:39

98

IV. Guter Wille und Hass der ­Vernunft: Zum e­ rsten ­Abschnitt der Grund­legungsschrift

Anspruch der Neigung nur in einer streng wissenschaftlichen »Metaphysik der Sitten« gerecht werden könnten. Diesen Gedanken legt die Gesamtanlage der Schrift nahe; er kommt im ersten Abschnitt allenfalls indirekt zum Ausdruck. Ein dritter Schlüssel zum Verständnis des ersten (und zweiten) Abschnitts der GMS besteht in ihrem Vergleich mit den Reflexionen des handschriftlichen Nachlasses und den Kollegnachschriften zur Moralphilosophie. Kant hat zur Zeit der Abfassung der GMS23 und wohl schon längere Zeit vorher24 seine an Alexander Baumgarten orientierte Vorlesung mit Ausführungen über »Die moralische[n] Systemata der Alten« und »Vom Principio der Moralität« eingeleitet.25 Die Einteilungsgesichtspunkte für den ersten Abschnitt der Vorlesung boten die unterschiedlichen Konzepte des höchsten Guts.26 Kant unterschied hier (gewöhnlich) das kynische, das epikureische, das stoische, das platonische und das christliche Ideal;27 und zwar einmal danach, wie die »2 Elemente des höchsten Guts […]: das physische Gut und das moralische Gut, das Wohlbefinden und das Wohlverhalten«28 in ihrem Verhältnis zueinander gedacht sind; zum anderen danach, ob das höchste Gut eine Sache der (unbehinderten und unpervertierten) Natur oder der Kunst (der Wissenschaft, Staatskunst, Erziehung und Ausbildung) oder der Übernatur bzw. des göttlichen Beistands sei.29 Der zweite Abschnitt der Vorlesung ist mit den »Systemata der Alten« verschränkt, aber auf die spezifische Fragestellung sowie auf Autoren der Neuzeit und kantischen Gegenwart bezogen. Jetzt geht es nach Kant im Unterschied zur Antike30 primär um das »Principium der moralischen Judication«,31 das prin23 Vgl. Praktische Philosophie Powalski AA XXVII/1, 100–108 und Moralphilosophie Collins AA XXVII/1, 247–260. 24 Vgl. AA XIX, Refl. Nr. 6584, 6601, 6611, 6624, 6632, 6634, 6708, 6878. 25 Die Überschriften sind der (zuverlässigeren) Moralphilosophie Collins entnommen. 26 »Zum Grunde aller moralischen Systemate der Alten lag die Frage vom summo bono, worinnen dasselbige bestehe, und in der Beantwortung dieser Frage unterschieden sich die Systemate der Alten« (Moralphilosophie Collins AA XXVII/1, 247, Z. 15–17). 27 Vgl. dazu noch KpV V, 128 Anm.: »Die Ideen der Cyniker, der Epikureer, der Stoiker und der Christen sind: die Natureinfalt, die Klugheit, die Weisheit und die Heiligkeit.« 28 Moralphilosophie Collins 249, Z. 29–31. 29 Moralphilosophie Collins 248 f.; Praktische Philosophie Powalski 102 ff. 30 Vgl. AA XIX, R. 6880, S. 190, Z. 9–12: »die Alten frugen nicht (wie wir) wodurch: ob durch Verstand oder Gefühl wir die Moralität beurteilen, sondern: worin wir sie setzen, entweder im Intellektuellen der Tugend oder dem Sensitiven der Wohlfahrt oder der Einfalt.« Kants etwas gewagte Diagnose wäre an der differenzierten Kriterien-Lehre der hellenistischen Schulen zu überprüfen. 31 Moralphilosophie Collins 252, Z. 15–16.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 98

08.11.2021 16:20:39

1. Die Interpretationsschlüssel: ein dialektischer Streit

99

cipium diiudicationis, das heißt um eine Antwort auf die Frage nach dem Kriterium von Moralität, dem Erkenntnismittel und Beurteilungsmaßstab dafür, »worin die Bonität der Handlungen an und für sich selbst besteht«,32 sekundär um das principium executionis, das heißt um eine Antwort auf die Frage, »wodurch man zu der Bonität bewegt wird«.33 Das Systema morale möglicher Positionen wird hier eingeteilt in vel empiricum vel intellectuale;34 der empirische Teil gliedert sich nach inneren oder äußeren Prinzipien; die inneren werden auf das moralische oder physische Gefühl zurückgeführt, das physische Gefühl wird mit dem Prinzip der Selbstliebe identifiziert und (gelegentlich noch) in Eigennutz und Eitelkeit aufgefächert.35 Dem Prinzip des physischen Gefühls bzw. der Selbstliebe ordnet Kant als zeitgenössische Autoren La Mettrie, Helvétius und Mandeville zu und stellt sie in die antike Tradition von Aristipp und Epikur.36 Sie sind es, die »Sittlichkeit zur bloßen Geschicklichkeit in der Befriedigung unserer Begierden« machen, deren Zweck in den »eigenen Zustand der Sinne« setzen und das menschliche Lebensziel »in der Befriedigung der gesamten vereinigten Neigungen« sehen.37 An äußeren empirischen Prinzipien werden dann Erziehung, Gewohnheit und staatliches Gesetz genannt.38 Die nichtempirischen Prinzipien sind wiederum zweifach: ein principium morale intellectuale externum, der göttliche Wille, oder ein principium morale intellectuale internum, der eigene gute Wille, genauer: die »Übereinstimmung der freien Willkür mit sich selbst und anderen«.39 32 Moralphilosophie Collins 258, Z. 26–27. 33 Ebd., 258, Z. 26. 34 »Empirische Gründe sind, die von den Sinnen abgeleitet werden, insofern unsre Sinnen dadurch befriedigt werden. Intellektuale Gründe sind die, wo alle Moralität aus der Übereinstimmung unsrer Handlung mit den Gesetzen der Vernunft abgeleitet wird« (Moralphilosophie Collins 252 f.). 35 Vgl. Moralphilosophie Collins 252 f. 36 »Die Autoren des Principii der Selbstliebe sind unter den Alten Epikur, wie er auch überhaupt ein Principium der Sinnlichkeit hatte, unter den neueren Helvetius, Mandeville«, Moralphilosophie Collins 253, Z. 13–15; vgl. 276; Praktische Philosophie Powalski 100, mit Verweisen auf Aristipp und La Mettrie sowie Helvétius; vgl. die Reflexionen AA XIX, Nr. 6611, 6631, 6637, 6881, 6894 sowie den Brief von Reinhold an Kant AA X, 525, Z. 4–5. Die Charakterisierung (und Beurteilung) der Position Epikurs schwankt zwischen reinem Sensualismus und einer Klugheitslehre, die sich der Moralität nähert; vgl. Moralphilosophie Collins 250; 276; Praktische Philosophie Poswalski 104; Düsing, Klaus 1971, 5–42, hier S. 10, der Kants Unterscheidung von Aristipp und Epikur hervorhebt. 37 Die Wendungen finden sich in den Reflexionen Nr. 6881 und 6611. 38 Vgl. Praktische Philosophie Powalski 108 f. 39 Moralphilosophie Collins 254, Z. 24–25; vgl. 255, Z. 1–9.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 99

08.11.2021 16:20:39

100

IV. Guter Wille und Hass der ­Vernunft: Zum e­ rsten ­Abschnitt der Grund­legungsschrift

Auf diese beiden Einteilungsschemata folgt dann einer Diskussion der Imperative als »Formeln einer praktischen Nezessitation«40 die Thematik der Obligatio, ähnlich wie in der GMS die Eingangsargumentation von der Einführung des Begriffs der Pflicht abgelöst wird und im zweiten Abschnitt die Imperative behandelt werden. Hält man das Gerüst der beiden Vorlesungsabschnitte an die Anfangspassagen des ersten und zweiten Abschnitts der GMS, dann wird deutlich, dass die Vorlesung der publizierten Schrift als Gedankenvorlage diente. Denn zumindest einige Interpretationsfragen lassen sich nur durch den Rückgriff auf die Vorlesung und die entsprechenden Reflexionen klären.

2. Zwei Begründungen für die Ausgangsthese Kant stellt sich mit seiner Ausgangsthese, dass als uneingeschränkt gut nur ein guter Wille zu denken möglich sei, ganz bewusst in einen Problemzusammenhang der ethischen Prinzipienlehre, wie er von der (v. a. hellenistischen) Antike mit ihrer Diskussion des höchsten Guts vorgezeichnet wurde. Wie in seiner Vorlesung verschränkt er die spezifisch antike mit der (vermeintlich) spezifisch neuzeitlichen Fragestellung. Dies verdeutlicht der Abschluss seiner einführenden Argumentation für die Ausgangsthese: »Dieser Wille darf also zwar nicht das einzige und das ganze, aber er muss doch das höchste Gut und zu allem Übrigen […] die Bedingung sein.«41 Es geht ihm um die Stellung (des Prinzips) der Moralität im Rahmen einer Bestimmung des höchsten Guts, das heißt des Zustands der Dinge, der vom Menschen vernünftigerweise um seiner selbst willen, und alles andere um seinetwillen erstrebt, geschätzt und gebilligt wird. Der zitierte Satz macht auch deutlich, welche der klassischen Antwortalternativen er eindeutig ausschließen zu können glaubt: diejenige, die Moralität nicht zum wesentlichen Bestandteil, sondern allenfalls zum unentbehrlichen Mittel des höchsten qua vollendeten Guts macht, die Position Epikurs; und diejenige, die den guten Willen oder deren antikes Pendant, nämlich die moralisch interpretierte Tugend (ἀρετή) bzw. deren Prinzip, praktische Ver-

40 Moralphilosophie Collins 255; 260. 41 GMS IV, 396, Z. 24–26.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 100

08.11.2021 16:20:39

2. Zwei Begründungen für die Ausgangsthese

101

nunft (φρόνησις/σοφία), mit dem vollendeten Gut des Menschen gleichsetzt, die Position der Stoa.42 Die erste (erläuternde) Begründung der Ausgangsthese bedient sich bis in die Formulierungen hinein eines in der Antike geläufigen Arguments. Die Sokratik43 und in ihrer Nachfolge die Stoa44 haben aus ihm den rigorosen Schluss gezogen, der in der Formel »Nur das sittlich Gute ist gut (μόνον τὸ καλὸν ἀγαθόν – id solum bonum esse quod honestum sit)« seinen klassischen Ausdruck fand:45 Unter den Dingen, die gemeinhin gut genannt und zu den Gütern des Lebens gerechnet werden, sind viele, die missbraucht werden und für den Besitzer oder andere zu echtem Nachteil ausschlagen können. Nur die Tüchtigkeit des Menschen als Menschen, identifiziert mit ihrem Prinzip praktischer Weisheit, lässt sich nicht missbrauchen und kann für niemanden wahrhaft schädlich sein. Die Stoa schloss im Gefolge der Sokratik daraus, dass nur sie im prägnanten Sinn gut genannt zu werden verdient. Aristoteles, und nach ihm die altakademisch-peripatetische Schule, wie sie Ciceros Gewährsmann Antiochos von Askalon (in synkretistischer Form) vertritt, verwarf diesen Schluss und insistierte, dass Güter, die Missbrauch zulassen und zum Nachteil gereichen können, gleichwohl veritable Güter sind,46 allerdings Güter ohne jede Einschränkung nur in der Hand des sittlich Tüchtigen. Die (bloß) naturgemäßen Güter (τὰ φύσει ἀγαθά) werden durch ihn und nur durch ihn geadelt, und sie kommen ihm nach Gesichtspunkten der Gerechtigkeit auch zu.47 Umgekehrt glänzt der Wert der sittlichen Haltung auch dann, wenn der Mensch, der sie besitzt, in seiner Aktivität behindert oder von

42 Vgl. AA XIX, R. 6837, S. 176: »Epikur sah bloß auf den Wert des Zustandes, er wusste nichts vom inneren Werte der Person. Zeno gestand nicht den Wert des Zustandes, sondern erkannte als das wahre Gut bloß den Wert der Person. Dieses Philosophie stieg über die Natur des Menschen, jene unter dieselbe.« Vgl. AA XIX, R. 6880, S. 190, Z. 19–21: »Epikur erniedrigte die Würde der Tugend zu sehr, Zeno erhob sie zu sehr. Jener machte die Prinzipien der Tugend sensitiv, dieser die der Glückseligkeit intellektuell.« 43 Vgl. Platon, Euthydemos 280 e3–281 e5; Menon 87 e3–88 e2. 44 Vgl. SVF (= Stoicorum Veterum Fragmenta, ed. von Arnim) III, 117 = DL (= Diogenes Laertius) VII, 103; SVF III, 122 = SE (= Sextus Empiricus) Adv. Math. XI, 61; SVF III, 123 = Plutarch, Stoic. rep. 1048 CD, Cicero, Tusc. disp. V, 45. 45 Cicero, De finibus III, 3; vgl. dazu Forschner, Maximilian 2018, 177–196. 46 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik (= NE) V, 2, 1129 b1–6; Eudemische Ethik (= EE) VII, 3, 1248 b27–34; Magna Moralia (= MM) I, 2, 1183 b28–35. 47 Vgl. dazu v. a. EE VIII, 3, insbesondere 1249 a4–9.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 101

08.11.2021 16:20:39

102

IV. Guter Wille und Hass der ­Vernunft: Zum e­ rsten ­Abschnitt der Grund­legungsschrift

Schicksalsschlägen heimgesucht wird.48 Kants Formel vom höchsten Gut und seine Erläuterung der These vom guten Willen scheinen prima facie auf dieser Herkunftslinie zu liegen. Jedenfalls steht Kant mit seiner Eingangsidee »von dem absoluten Werte des bloßen Willens, ohne einigen Nutzen bei Schätzung desselben in Anschlag zu bringen«,49 »auf demselben Boden wie die Ethik der Vergangenheit« (Klaus Reich), und zwar in der Linie einer Tradition, mit der er sich seit 1767 intensiv beschäftigt, und die ihn nachhaltig beeinflusst hat.50 Platon kritisiert im Phaidon Menschen mit »sklavischer Tugend (ἀρετὴ ἀνδραποδώδης)«, die tugendgemäß handeln im Kalkül für ein Gut jenseits der Tugend.51 Die mittlere Stoa präzisiert und differenziert den Begriff des Nutzens in Relation zum Wohl und Heil der Seele und in Bezug auf ein starkes, erfolgreiches und behagliches Leben,52 und trennt den Wert der Tugend von jedem funktionalen Begründungszusammenhang zu Letzterem,53 zu Erhaltung, Steigerung und Wohlbefinden eines bloß »naturgemäßen« Lebens (κατὰ φύσιν βίος) im Unterschied zum sittlich guten Leben (ὁμολογούμενος βίος) ab.54 Kant hält sich genau an den von Panaitios/Cicero vorgegebenen Begriff des »physischen« Nutzens,55 wenn er bei der Schätzung der Güte des Willens keinerlei Nutzen dieses Willens 48 Vgl. NE I, 11, 1100 b19–22: »Gleichwohl scheint auch in diesen das sittlich Schöne durch, wenn jemand viele schwere Schicksalsschläge gelassen trägt.« Vgl. dazu Kant, GMS IV, 394, Z. 18–26: »Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen […] und nur der gute Wille […] übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, was seinen vollen Wert in sich selbst hat.« 49 GMS IV, 394, Z. 32–34. 50 Vgl. dazu Reich, Klaus 1935. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung von Kants Position bis zur Grundlegungsschrift von 1785 wurde, wie Reich jedenfalls im Umriss einleuchtend nachwies, Moses Mendelssohns Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele (1767) und Christian Garves Anmerkungen zu Ciceros Buch über die Pflichten (1783). Allerdings ist Kants »reife« Position, wie gezeigt, ähnlich stark von säkularisierten Gedanken eines platonisch-augustinisch geprägten Christentums beeinflusst. Und dies wird in Reichs nachgerade klassisch gewordener Abhandlung in keiner Weise deutlich. 51 Phaidon 68 b–69 c. Von hierher dürfte Kants Rede von der Vernunft als »Dienerin der Neigungen« stammen. 52 Commodum et iucunditas vitae, Cicero, wohl im Anschluss an Panaitios, in: De officiis I, 9; II, 11; III, 7 ff. 53 Vgl. Cicero, De officiis III, 12. 54 SVF III, 126 = DL VII, 105. 55 Die klassische Stelle De officiis I, 9 lautet: Tum autem aut anquirunt aut consultant ad vitae commoditatem iucunditatemque, ad facultates rerum atque copias, ad opes, ad potentiam, quibus et se possint iuvare et suos, conducat id necne, de quo deliberant; quae deliberatio omnis in rationem utilitatis cadit.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 102

08.11.2021 16:20:39

2. Zwei Begründungen für die Ausgangsthese

103

in Anschlag gebracht wissen will. Und auch ein Teil der Abschlussformel, nach der der gute Wille »das höchste Gut, und zu allem Übrigen, selbst allem Verlangen nach Glückseligkeit die Bedingung sein« muss,56 hat – sieht man von Kants (religiös imprägnierter) Verwendung des Wortes »Glückseligkeit« einmal ab – seine Vorlage bei Panaitios/Cicero: Es gelte, so heißt es dort, mit der Tugend stets zusammenzustimmen; die übrigen Dinge aber, die (bloß) naturgemäß seien, so und dann auszuwählen, dass und wenn sie der Tugend nicht widerstreiten.57 Die zweite Begründung der Ausgangsthese verläuft indirekt: auf dem Weg einer Widerlegung der Grundthese jener Position, der die Ausgangsthese »befremdlich« erscheint. Auch hier findet Kant Position und Vertreter der Position in Ciceros De officiis vorgezeichnet: Es sind diejenigen, »die das zu Erstrebende an Vergnügen oder Schmerzfreiheit messen«.58 Gedacht ist hier an Aristipp von Kyrene und seine Anhänger, die die Sinnenlust (ἡδονή) zum Lebensziel erklären und zwischen Zuständen der Lust, des Schmerzes und der Schmerzfreiheit (ἀλυπία) unterscheiden; und an Epikur und seine Schüler, die im Ruf stehen, ebenfalls die Lust der Sinnlichkeit zu verabsolutieren, aber das höchste Vergnügen mit der Schmerzfreiheit gleichsetzen. Genau an diese Autoren denkt auch Kant, wenn man der Vorlesungsnachschrift Powalski bezüglich Aristipp59 und der Vorlesungsnachschrift Collins bezüglich Epikur60 vertrauen darf. Ihnen gesellt er, wie bereits gesagt, von den Neueren La Mettrie, Helvétius und Mandeville hinzu.61 Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang, wie Kant die Gegenposition beschreibt: Sie setze die Absicht der Natur beim Menschen als einem Wesen, das Vernunft und einen Willen hat, »in seine Erhaltung, sein Wohlergehen, mit einem Worte seine Glückseligkeit«.62 Kant schließt sich also in der Verwendung des Ausdrucks »Glückseligkeit« den Vertretern des bloß »naturgemäßen Le56 GMS IV, 396, Z. 25–26. 57 Cicero, De officiis III, 13: cum virtute congruere semper, cetera autem, quae secundum naturam essent, ita legere, si ea virtuti non repugnarent. 58 De officiis III, 12: Quodsi is esset Panaetius, qui virtutem propterea colendam diceret, quod ea efficiens utilitatis esset, ut ii, qui res expetendas vel voluptate vel indolentia metiuntur liceret ei dicere utilitatem aliquando cum honestate pugnare. 59 Praktische Philosophie Powalski 100, Z. 2–14. 60 Moralphilosophie Collins 253, Z. 13–14; 276, Z. 19–27. 61 Bei Aristipp glaubt er offensichtlich auch die Diagnose vom Scheincharakter der übli­ chen Moralurteile vorgeprägt, die die Neueren so zynisch stellen. Vgl. Praktische Philosophie ­Powalski 100. 62 GMS IV, 395, Z. 8–9.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 103

08.11.2021 16:20:39

104

IV. Guter Wille und Hass der ­Vernunft: Zum e­ rsten ­Abschnitt der Grund­legungsschrift

bens« bzw. des Prinzips des physischen Gefühls an. Die Formeln, mit denen er hier seinen eigenen Begriff des Glücks definitionsartig zum Ausdruck bringt, sind genau jene, mit denen er das Ideal Aristipps, Epikurs und der genannten Neueren beschreibt, nämlich als »Befriedigung der gesamten vereinigten Neigungen«.63 Kants pointierte Eudaimonismus-Kritik steht im Gefolge von Ciceros Aristipp- und Epikurkritik. Sie richtet sich gezielt gegen die zeitgenössischen Vertreter des Hedonismus, die das Lebensziel in ein Maximum und Optimum sinnlichen Vergnügens setzen. Diese Kritik ist zu unterscheiden von seiner Auseinandersetzung mit den Eudaimonia-Konzepten, wie sie von der altakademisch-peripatetischen und der stoischen Philosophie vertreten wurden.64 Die Stellung Kants zu deren Verständnis von Glück lässt sich, übrigens ganz im Sinn der Alten, nur dem entnehmen, was er unter dem Titel des höchsten Guts verstanden wissen will. Die Abschlusspassage der zweiten Begründung gibt hierüber andeutungsweise Auskunft.65 Das zentrale Motiv dieser zweiten Argumentation für die These vom absoluten Wert des guten Willens kann Kant gleichfalls der gegen die Sinnenlust als Telos gerichteten antiken Philosophietradition entnehmen. Es ist der Gedanke, dass die natürliche Ausstattung des Menschen mit Sprach- und Vernunftfähigkeit ihm eine Lebensweise als sein wahres Ziel vorgibt, die wesentlich in einer selbstzweckhaften Aktualisierung dieser Fähigkeit besteht. Platon äußert in der Politeia66 zustimmend den am Modell von Werkzeugen, Organismen und arbeitsteiligen Gesellschaften orientierten Gedanken, »[…] ob nicht das eines jeden ἔργον (Funktion, Aufgabe, Leistung) wäre, das ein jedes entweder allein oder doch unter allen am besten verrichten kann«.67 Aristoteles verwendet dieses sogenannte Ergon-Argument für seine Bestim63 Vgl. etwa AA XIX, 109, Refl. Nr. 6611; Moralphilosophie Collins 275, Z. 20; 276, Z. 26. Am genauesten entspricht dem kantischen Begriff wohl derjenige, der Aristipp und den Kyrenaikern nachgesagt wird: DL II, 87: »Glück sei die Summe aus den einzelnen Vergnügungen, zu denen auch die vergangenen und die künftigen hinzugezählt werden.« 64 Kant ist sich der nötigen Unterscheidung im Begriff des Vergnügens wohl bewusst; vgl. etwa AA XIX, R. 6881, S. 190: »Man muss niemals sagen, dass man seinen Zweck in Vergnügen setzt: sondern das, was uns unmittelbar vergnügt, ist unser Zweck, weil das Vergnügen nur das Verhältnis eines Zwecks zu unserm Gefühl ist. Das Wohlgefallen an der Regelmäßigkeit der Freiheit ist intellektuell. Daher ist der Zweck jederzeit nicht selbstsüchtig, wenn der Zweck nicht unser eigner veränderter Zustand der Sinne ist.« 65 GMS IV, 396, Z. 14–37. 66 352 d–353 e. 67 353 a.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 104

08.11.2021 16:20:40

2. Zwei Begründungen für die Ausgangsthese

105

mung des höchsten (menschlichen) Guts im Sinn einer spezifischen Leistung des Menschen als Menschen.68 Der stoischen Naturteleologie war es dann selbstverständlich, dass der menschliche Geist als das Göttliche in uns69 gemäß einer im Vergleich zu den Tieren »vollkommeneren Vorgabe« der Natur70 auf eine gelungene Lebensweise verweist,71 die nicht wie bei den Tieren Erhaltung und Wohlergehen der physischen Existenz zu ihrem Primärziel hat.72 Die These vom absoluten Wert des guten Willens ist allerdings vor dem Verdacht nicht sicher, dass diesem Gedanken »bloß hochfliegende Phantasterei insgeheim zum Grunde liege«.73 Mit »hochfliegender Phantasterei« kann, wie der Anfang des zweiten Abschnitts der Grundlegungsschrift zeigt,74 zweierlei gemeint sein: Einmal die resignative Überzeugung, dass die menschliche Natur zwar edel genug sei, sich selbst einen so großartigen Maßstab des Verhaltens zu setzen, aber zugleich zu schwach, ihn zu befolgen;75 zum anderen die ­zynischere Meinung des »Feindes der Tugend«, dass die Idee des guten Willens als Prinzip der Sittlichkeit ein »bloßes Hirngespinst einer durch Eigendünkel sich selbst übersteigenden menschlichen Einbildung« darstelle.76 Beide Interpretationen verbindet die Überzeugung, dass der Anspruch, den Menschen mit der Idee eines guten Willens stellen, illusionär ist, dass letztlich in Begriffen der Sinnlichkeit und des empirischen Daseins zu definierende Neigungen menschliches Verhal68 Vgl. NE I, 6; EE II, 1. 69 Vgl. Cicero, De officiis III, 44. 70 DL VII, 85: τελειοτέρα προστασία; vgl. dazu Kants Rede von der »Idee von einer andern und viel würdigern Absicht ihrer Existenz« (GMS IV, 396, Z. 10). 71 Vgl. Cicero, De finibus III, 23: atque ut membra nobis ita data sunt, ut ad quandam rationem vivendi data esse appareant, sic appetitio animi, quae ὁρμή Graece vocatur, non ad quodvis genus vitae, sed ad quandam formam vivendi videtur data, itemque et ratio et perfecta ratio. 72 Noch ein zweites klassisches Motiv scheint in unserem (unter anderem gegen La Mettrie gerichteten) Kanttext eine Rolle zu spielen. Platon lässt im Phaidon (99 a–d) Sokrates beklagen, dass die Vorsokratik mit ihrer mechanistischen Erklärung der Dinge aus Elementen nicht gezeigt habe, warum es für die Dinge am besten ist, zu sein, wie sie sind. Das Alterswerk der Nomoi wendet diese Kritik auch gegen Demokrits Atomismus und seine mechanistische Theorie der Verursachung (889 b). 73 GMS IV, 394, Z. 36–37. 74 GMS IV, 406 ff. 75 GMS IV, 406. 76 GMS IV, 407, Z. 17–18. Praktische Philosophie Powalski 100, Z. 16–17: »[La Mettrie] hält in seinem Buch alles für Blendwerk, die Tugend und das Gewissen«; »Alles, sagte Aristipp, ist ein bloßer Schein, und nur das Angenehme und Unangenehme ist etwas Beständiges«; AA XIX, R. 6620, S. 114, Z. 4–5: »Wir machen unser Vergnügen schmackhafter, wenn wir es unter edleren Absichten verdecken«.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 105

08.11.2021 16:20:40

106

IV. Guter Wille und Hass der ­Vernunft: Zum e­ rsten ­Abschnitt der Grund­legungsschrift

ten bestimmen, und dass die naturgegebene Funktion der Vernunft, zusätzlich zu und anstelle von animalischen Instinkten, in der Besorgung des Interesses der Neigungen besteht.77 Gegen diese Funktionsbestimmung menschlicher Vernunft wendet Kant nun ein Argument,78 das sich in der Analyse folgendermaßen gliedern und erläutern lässt: (a) Lebewesen sind von Natur für den Vollzug einer artspezifischen Lebensweise zweckmäßig veranlagt und ausgestattet.79 (b) Diese Lebensweise ist ein Funktionszusammenhang, zu dem die einzelnen Glieder und Fähigkeiten eines Organismus arbeitsteilig zusammenwirken. (c) Die Zweckmäßigkeit der Einrichtung besteht einmal darin, dass die verschiedenen Glieder und Fähigkeiten jeweils optimal auf das Erbringen einer bestimmten Teilfunktion ausgerichtet sind. (d) Sie besteht zum anderen darin, dass sie zum Zusammenwirken organisiert sind und im richtigen Zusammenwirken eine Gesamtfunktion optimal erbringen. (e) Aus Eigenart und Organisation der Glieder lassen sich ihre Teilfunktionen und die Gesamtfunktion bestimmen. (f) Tiere sind in ihrer Organisation auf (Selbst- und Art-)Erhaltung und Wohlergehen, das heißt auf die Befriedigung ihrer Neigungen (und nichts weiter) ausgerichtet. Die Steuerung ihres zielorientierten Verhaltens erfolgt über Instinkte und erfahrungsgestützte Assoziationsmechanismen. (g) Der Mensch hat Vernunft und einen Willen, Fähigkeiten, die sein Verhalten leiten können und angesichts mangelhafter oder fehlender Instinkte auch bestimmen müssen.80 77 Vgl. dazu etwa AA XIX, R. 6637, S. 121, ,Z. 28–122, Z. 2: »[System der Moral] aus notwendigen und natürlichen Gründen, aber der bloß eigenliebigen Neigungen: Mandeville, Helvétius.« 78 GMS IV, 395, Z. 4–396, Z. 24. 79 Dies gilt für die Specimina einer Species im Allgemeinen, nicht für jedes einzelne Specimen. 80 Vgl. AA XIX, R. 6859, S. 182: »In der Moral bedürfen wir keinen anderen Begriff von Freiheit, als dass unsere Handlungen der Erfahrung gemäß nicht am Faden des Instinkts fortlaufen, sondern Reflexionen des Verstandes sich unter die Triebfedern einmischen. Dadurch wird ein Mangel des Zusammenhangs, weil der Instinkt, wo er allein herrscht, Regeln […] hat, der Verstand aber, der sich selbst nicht Regeln vorschreibt, wenn er den Mangel des Instinkts ausfüllt, alles unregelmäßig macht. Freiheit also vom Instinkt erfordert Regelmäßigkeit im praktischen Gebrauch des Verstandes.« Vgl. GMS IV, 396, Z. 18–20.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 106

08.11.2021 16:20:40

2. Zwei Begründungen für die Ausgangsthese

107

(h) Vernunft als Leitungsinstanz menschlichen Verhaltens ist weder im naturwüchsigen noch im kultivierten Zustand ein zum »Entwurf der Glückseligkeit und der Mittel, dazu zu gelangen«,81 besonders geeignetes, gar tierischem Instinkt überlegenes »Werkzeug«. Ja, Vernunft wird für dieses Ziel umso unzweckmäßiger, je mehr man sie dahingehend ausbildet und einsetzt. (i) Vernunft ist indessen als Naturanlage notwendiges, als (richtig) kultivierte Vernunft zureichendes »Werkzeug«, einen »an sich selbst guten Willen hervorzubringen«.82 (j) Das Zivilisationsphänomen der »Misologie«, zu der eine falsche Zweckbestimmung der Vernunft führt, lässt sich plausibel als ein Symptom interpretieren, in dem die abgedrängte Idee eines würdigeren Ziels sich Ausdruck verschafft. Aus den Sätzen (a) bis (h) lässt sich das entscheidende Resultat ziehen, dass man sie nicht alle akzeptieren und zugleich die naturgegebene Funktion der Vernunft (primär) in der Besorgung des Interesses der Neigungen setzen kann. Kant will offensichtlich mit diesem Argument in der Position von La Mettrie, Helvétius und Mandeville einen Selbstwiderspruch aufdecken. Die Sätze (i) und (j) scheinen hingegen in Verbindung mit den Sätzen (a) bis (h) für die Wahrheit der Ausgangsthese zu sprechen. Wenn allerdings die Hervorbringung eines guten Willens zugegebenermaßen »Glückseligkeit, wenigstens in diesem Leben auf mancherlei Weise einschränke[n], ja sie selbst unter Nichts herabbringen« kann,83 dann stellt sich erneut die Frage, ob der Mensch mit seiner naturgegebenen Animalität und ihrem Ziel und seiner naturgegebenen Vernunftanlage und ihrem Ziel noch als ein im Ganzen zweckmäßig eingerichtetes Wesen interpretierbar ist. Die Antwort auf diese Frage, auf die der Streit der gegensätzlichen Positionen zusteuert, gibt Kant mit seiner Theorie des höchsten Guts, die in unserem Abschnitt jedoch nur angedeutet werden kann, weil sie auf popularphilosophischer Ebene nicht mehr adäquat zu behandeln ist, sondern einer strengen Metaphysik der Sitten bedarf.

81 GMS IV, 395, Z. 24–25. 82 GMS IV, 396, Z. 21–22. 83 Ebd., Z. 30–31.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 107

08.11.2021 16:20:40

108

IV. Guter Wille und Hass der ­Vernunft: Zum e­ rsten ­Abschnitt der Grund­legungsschrift

Zu meiner Rekonstruktion des zweiten Arguments drei Bemerkungen: (a) Der Grundsatz von der Zweckmäßigkeit der Lebewesen, den Kant vergleichsweise kategorisch aufstellt,84 wird sowohl von Vertretern traditioneller Teleologie als auch von »modernen«, einer mechanistischen Anthropologie verpflichteten Autoren wie La Mettrie und Helvétius geteilt.85 Stark traditionell konnotierte Ausdrücke wie »Naturabsicht«, »Vorsorge der Natur«, »Weisheit der Natur« etc. sind Teil einer façon de parler, die von beiden Richtungen gepflegt wird. Für La Mettrie ist der Mensch wie jedes Lebewesen zu verstehen als Funktionssystem nach Art einer Maschine mit einem »am meisten angemessenen« Beziehungsgefüge »schicklicher« Glieder und ihrer Teilfunktionen. Die spezifische Leistung dieses Systems, auf die es, bei Mensch und Tier in gleicher Weise,86 von Natur hingeordnet ist, sieht La Mettrie in Erhaltung und Glück, dieses verstanden als angenehmes Erleben der sensibilité physique. La Mettrie zieht die Linien seiner physiologischen Anthropologie selbst in die Antike zurück. In seiner Abhandlung Le système d’Epicure stellt er sich in die naturphilosophische Tradition des antiken Atomismus und Hedonismus. Seine moralphilosophische Hauptschrift L’Anti-Sénèque ou Discours sur le bonheur87 distanziert sich vom intellektualistischen Moralismus der Stoa und propagiert das reflexionslose Glück eines leiblich-sinnlichen sentiment de l’existence. Wenn Kant von Misologie spricht,88 dann denkt er mit Sicherheit auch und vor allem an La Mettries Discours sur le bonheur und seine Maxime, tout corps zu sein. In der Vorstellung vom glücklichen Tier (bête heureuse) verbindet sich La Mettrie und mit ihm der Materialismus des 18. Jahrhunderts mit Ideen der zeitgenössischen kulturkritischen homme sauvage-Literatur, wobei auch hier (seit Montaigne)89 auf antike Vorstellungen bei Lukrez und Vergil (Georgica III) zurückgegriffen wird, die Tier und »primitiven« Menschen für glücklicher

84 GMS IV, 395, Z. 4–6. 85 Über philosophische Herkunft und Prinzipien der neuzeitlichen mechanistischen Anthro­ pologie informiert Baruzzi, Arno 1973. 86 Vgl. etwa La Mettrie, Der Mensch eine Maschine, frz.-dt., Leipzig 1965, 95. 87 Erstmals 1748 unter dem Titel Traité de la vie heureuse, par Sénèque, avec un discours du traducteur sur le même sujet in Potsdam veröffentlicht. Neudruck: L’Anti-Sénèque ou le Souverain Bien, Potsdam 1750; der erstgenannte Titel findet sich als Überschrift in den Oeuvres philosophiques, Amsterdam 1774, Bd. II, 93–190. 88 GMS IV, 395, Z. 33. 89 Kant selbst ist ein passionierter Montaigne-Leser.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 108

08.11.2021 16:20:40

2. Zwei Begründungen für die Ausgangsthese

109

als den Zivilisierten halten.90 Dieser wird, so lautet der »misologische« Vorwurf, insbesondere durch Reflexions- und Gewissenskultur um den Genuss seiner Animalität gebracht.91 (b) Kant gibt im ersten Abschnitt keine hinreichende Erläuterung und Begründung der These, dass »die Vernunft dazu nicht tauglich genug ist, um den Willen in Ansehung der Gegenstände desselben und der Befriedigung aller unserer Bedürfnisse […] sicher zu leiten«.92 Der zivilisationskritische Topos, dass der die Ebene »des gemeinen Luxus« erreichende Fortschritt in der Entwicklung von Handwerk, Fachkunde und Wissenschaft zum Zweck des Lebensgenusses eine mindestens ebenso gewichtige Zunahme an unerwünschten Nebenfolgen, an Abhängigkeiten und neuen Bedürfnissen begleitet,93 reicht hierfür nicht zu. Kant spielt offensichtlich auf Analysen an, die ein Hobbes, ein La Mettrie, ein Helvétius und Rousseau geliefert hatten, die die Auswirkungen des Geistes des Menschen auf seine Sinnlichkeit und deren Erleben betreffen und die seine These stützen, dass man sich von der »Glückseligkeit keinen bestimmten und sicheren Begriff machen kann«.94 Er rechnet mit der Anerkennung des für sein Argument so entscheidenden Satzes (h) auch durch die Gegenpartei. (c) Der sprachliche Zusammenhang des Textabschnitts, in dem Kant von »Misologie« spricht,95 erinnert eindeutig an Rousseau und den Titel seines 1. Discours (1750).96 Das Wort selbst und mit ihm verbundene Gedanken dürfte Kant allerdings Platons Phaidon entnommen haben.97 Mισολογία, das heißt Hass und Verachtung des Logos, der Argumente, der rationalen Argumentation und Reflexion, wird dort als größtes Übel bezeichnet, das einen Menschen befallen kann. Sie entspringe der Enttäuschung nach vorschnellem, auf fehlen90 Dieser Gedanke kann sich übrigens nicht zu Recht auf Epikur berufen. Der »Primitive«, wie Lukrez ihn romantisierend denkt, hätte kein epikureisches Leben führen können. Dieser bedarf der minimalen Güter und Sicherheiten einer Polis. Vgl. dazu Long, Anthony A. 1986, 287. 91 »La réflexion est souvent presque un remord«, La Mettrie, L’Anti-Sénèque […], in: Oeuvres philosophiques, 1774, Bd. II, 105, zitiert nach Baruzzi, Arno 1968, 61. 92 GMS IV, 396, Z. 14–16. 93 GMS IV, 395, Z. 28–30; 20–22. 94 GMS IV, 399, Z. 12–14. 95 GMS IV, 395, Z. 28–30. 96 Die preisgekrönte Antwort auf die Preisfrage der Akademie von Dijon: Le rétablissement des sciences et des arts a-t-il contribué à épurer les moeurs? 97 Moses Mendelssohn, Phaedon, in: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe Berlin 1932, Faksimile-Neudruck, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, Bd. III, 1, 86 übersetzt μισολογία mit »Vernunfthass« und ihre Vertreter mit »Vernunfthasser«.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 109

08.11.2021 16:20:40

110

IV. Guter Wille und Hass der ­Vernunft: Zum e­ rsten ­Abschnitt der Grund­legungsschrift

der Fachkunde (ἄνευ τέχνης) ruhendem Vertrauen in die Kraft der Vernunft und münde in eine Flucht in die Sinnlichkeit.98 Damit beraube sie den Menschen des Zugangs zur Wahrheit, der Möglichkeit des Wissens vom wahrhaft Seienden und dadurch auch des eigentlichen Selbstseins.99 Ein Liebhaber des Leibes (φιλοσώματος) werde Opfer der Illusion, nichts sei real außer dem Physischen und nichts erstrebenswert außer dem sinnlichen Vergnügen, während diese »scheinhaften« Dinge doch weder erkennbar noch wahrhaft wirklich und wertvoll seien.100 Dass derartiger Hass auf die (eigene) Vernunft ein sicheres Indiz für eine verfehlte Interpretation unserer Naturbestimmung darstellt, ist ein zentraler Gedanke der Stoa, der sich aus Prämissen ihrer Oikeiosis-Lehre ergibt:101 Die göttliche Allnatur habe alle Lebewesen vom Augenblick der Geburt an mit Selbstliebe ausgestattet; bei keinem Tier finde man Selbstentfremdung und Selbsthass.102 Und im Leben des Menschen entsprächen den verschiedenen Stufen seiner natürlichen Entwicklung Aspekte seiner Verfassung (σύστασις, constitutio), auf die sich naturgemäß seine Selbstliebe zentriert, wobei die voraufgehenden Stufen von dieser Selbstliebe integriert und relativiert, aber nicht negiert würden. Im erwachsenen mündigen Menschen zentriere sich die Selbstliebe naturgemäß auf jenen Teil seines Selbst, der ihn zum Menschen macht,103 seine Vernunft und sein vernünftiges Wollen.104

98 Phaidon 89 d1–4; vgl. 89 c2–9; zu dieser Stelle Plato, Phaedo, Translation with Notes by David Gallop, Oxford 1975, 153 ff. 99 Phaidon 90 d6–7. 100 Vgl. Phaidon 64 c–69 e; 80 c–84 b; zur Gegenüberstellung der philosophischen und philosomatischen Lebensform in Platons Phaidon, die Kant offensichtlich stark beeinflusst hat, vgl. Gosling, J. C. B. und Taylor, C. C. W. 1982, 83–95. 101 Zur stoischen Oikeiosislehre vgl. die klassischen Stellen DL VII, 85 f.; Cicero, De finibus III, 16 ff.; 20 f.; 62 ff.; hierzu Forschner, Maximilian 2018, 163–176. Vermutlich ist Kant allerdings in unserem Abschnitt, durch La Mettries Anti-Seneca angestoßen, an Senecas Version in Ep. 121 der Ad Lucilium Epistulae Morales orientiert. 102 Vgl. Seneca, Ep. 121, 24: Sed in nullo deprendens vilitatem sui, ne neglegentiam quidem. 103 Vgl. Seneca, Ep. 121, 14: […] ea enim parte sibi carus est homo qua homo est. 104 Dass Kant mit diesem Konzept der Selbstliebe (Philautie) durchaus vertraut war, zeigen die Vorlesungsnachschriften. »Das Principium aller Moral ist die Selbstliebe. Die Selbstliebe ist zwiefach 1. des Wohlwollens 2. des Wohlgefallens. Nach der Selbstliebe des Wohlwollens trachtet ein jeder Mensch, aber tue was deinem Wohlgefallen gemäß ist, heißt, das deinen Beifall verdient, und diese heißt die intellektuale Selbstliebe. Die intellektuale Selbstliebe besteht in dem rechten Gebrauch unsrer freien Handlungen.« Praktische Philosophie Powalski 131, Z. 6–12; vgl. Moralphilosophie Collins 357 ff.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 110

08.11.2021 16:20:40

2. Zwei Begründungen für die Ausgangsthese

111

Wenn Kant in diesem Zusammenhang ganz offensichtlich Rousseau ins Spiel bringt, dann hat dies seinen guten Grund. Kant versteht Rousseaus Position als »feinen« Kynismus.105 Rousseaus feiner Kynismus stellt ein Gegengewicht zum groben Hedonismus La Mettries dar.106 Mit diesem teilt Rousseau die Skepsis gegenüber den »ruhmredigen Hochpreisungen der Vorteile«, die sich viele Vertreter der Aufklärung107 von den Leistungen der Vernunft für das Glück der Menschen versprechen. Mit diesem träumt er von Gesundheit und Unmittelbarkeit, vom reflexionslosen Glück des homme sauvage.108 Aber Rousseau bleibt bei diesem Traum nicht stehen und macht seinen Inhalt nicht zum Programm. Vielmehr sieht er, hier mehr der stoischen Tradition verpflichtet, in der Veränderung der menschlichen Natur durch die Entwicklung seiner Vernunft einen Hinweis auf veränderte Möglichkeiten und Aufgaben des Selbstseins, zu denen wesentlich Sittlichkeit und Moralität gehören.109 Der Fehler Rousseaus liegt in der Sicht Kants anderswo: Er überschätze, als Anhänger des kynischen Ideals der Einfalt, Genügsamkeit und Unschuld,110 Umfang und Kraft der natürlich-keimhaften Anlage des Menschen zum guten Leben;111 und er unterschätze die erforderliche positive Rolle der Kultivierung und Zivilisie-

105 Vgl. Moralphilosophie Collins 248, Z. 40: »Rousseau, der feine Diogenes«. 106 Der auch für Kant eher in die Linie Aristipps als Epikurs zu stellen ist, vgl. AA XIX, R. 6894, S. 197, Z. 11–13. 107 Besonders markant etwa Anne Robert JacquesTurgot mit seiner Fortschrittstheorie. Vgl. dazu Rohbeck, Johannes 1987. 108 Voilà les funestes garands que la pluspart de nos maux sont notre propre ouvrage, et que nous les aurions presque tous évités, en conservant la manière de vivre simple, uniforme et solitaire qui nous etoit prescrite par la Nature. Si elle nous a distinés à être sains, j’ose presque assurer, que l’état de réflexion est un état contre Nature, et que l’homme qui médite est un animal dépravé. 2. Discours, ed. Pléiade vol. III, 138. Vgl. dazu Kant, AA VI, 318; VIII, 26; XV, 778. 109 Zu den verschiedenen Zielbestimmungen des Menschseins entsprechend dem Stand der Entwicklung bei Rousseau vgl. v. a. Émile, 1. und 5. Buch, sowie Forschner, Maximilian 1977, 34 ff., 63 ff., 185 ff. 110 Vgl. GMS IV, 404 f.: »Es ist eine herrliche Sache um die Unschuld, nur es ist auch wiederum sehr schlimm, dass sie sich nicht wohl bewahren lässt und leicht verführt wird.« Zum kynischen Ideal vgl. AA XIX, R. 6829 und 6831, S. 174; Praktische Philosophie Powalski 102, Z. 20–25; 30–39; 103, Z. 33–36; Moralphilosophie Collins 248, Z. 13–249, Z. 29. 111 Vgl. hierzu AA XIX, R. 6906, S. 202; Rel. VI, 20.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 111

08.11.2021 16:20:40

112

IV. Guter Wille und Hass der ­Vernunft: Zum e­ rsten ­Abschnitt der Grund­legungsschrift

rung (in Form von Kunst und Wissenschaft,112 staatlichem Recht und Erziehung113) zur Hervorbringung eines guten Willens.114 Entsprechend utopisch seien seine Theorien einer möglichen Synthese von Moralität und Glückseligkeit des Menschen in dieser Welt:115 in der Fortführung kynisch-stoischer Gedanken im Émile, in der Aktualisierung von Platons Politeia im Contrat Social.

3. D  er Mensch als im Ganzen zweckmäßig ­eingerichtetes Wesen Mit der Wendung »wenigstens in diesem Leben«116 deutet Kant sein eigenes Konzept des höchsten Guts an und damit seine Antwort auf die Frage, inwiefern der Mensch bei seiner Sicht der Funktion von Vernunft noch als ein im Ganzen zweckmäßig eingerichtetes Wesen verstanden werden kann. Der gute Wille als supremum bonum und Bedingung des Gutseins aller anderen Güter stellt kein Ziel dar, das »in diesem Leben« bzw. »in dieser Welt« nach Art einer notwendigen oder gar notwendigen und zureichenden Bedingung auch mit der Erfüllung der Ziele unserer sinnlichen Existenz verbunden wäre. Die »Glückseligkeit und Zufriedenheit des Lebens«,117 die durch eine optimale Befriedigung unserer Neigungen bewirkt werden könnte, und die Zufriedenheit, die das Bewusstsein eigener Moralität begleitet, sind Gefühle unterschiedlicher Art und Herkunft;118 und unsere Erfahrungswelt ist so beschaffen, dass kein gesetzlicher Zusammenhang zwischen beiden Zuständen

112 »Darin fehlt er [sc. Rousseau, M. F.] sehr, wenn er vom Schaden der Wissenschaften redet. Kein wahrer Gelehrte wird diese stolze Sprache führen. Die Sprache der wahren Vernunft ist demütig […]. Die Wissenschaften sind principia der Verbesserung der Moralität. Um die moralischen Begriffe einzusehn, gehört Erkenntnis und erläuterte Begriffe. Ausgebreitete Wissenschaften veredeln den Menschen, und die Liebe zur Wissenschaft vertilgt viele widrige Neigung. Hume sagt: Es ist kein Gelehrter, der nicht wenigstens ein ehrlicher Mann sein sollte« (Moralphilosophie Collins 462, Z. 23–33). 113 Vgl. AA XIX, R. 6906, S. 202, Z. 8–11: »Imgleichen muss der Mensch diszipliniert werden und die Wildheit weggenommen werden. Das Wohlverhalten der Menschen ist also was Erzwungenes, und die Natur desselben ist demselben nicht gemäß.« 114 Vgl. GMS IV, 396, Z. 28–30. 115 Vgl. AA XVI, 63. 116 GMS IV, 396, Z. 30. 117 GMS IV, 396, Z. 6–7. 118 Ebd. Z. 34.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 112

08.11.2021 16:20:40

3. Der Mensch als im Ganzen zweckmäßig e­ ingerichtetes Wesen

113

und ihren Ursachen feststellbar ist.119 Der Fehler der Alten bestand nach Kant genau darin, dass sie, wenngleich in unterschiedlicher Weise, einen solchen Zusammenhang behaupteten. Epikureismus und Stoa bezogen dabei Extrempositionen. »Dem Epikureer waren besondere Gesetze der Sittlichkeit, dem Stoiker besondere Gesetze der Klugheit entbehrlich«;120 denn dem einen war »die Tugend eine notwendige Form der Mittel zur Glückseligkeit«, dem anderen »die Glückseligkeit eine notwendige Folge der Tugend«.121 Aber auch nach der altakademisch-peripatetischen Position, die moralische und außermoralische Tüchtigkeit präzise unterscheidet und in ihrem Lebensideal der Kalokagathie verbindet, kommt der Mensch (in dieser Welt) nur durch sittliche Tugend zu seinem Glück. Sieht man, wie Kant dies tut, im höchsten Gut (für den einzelnen Menschen) ein aus zwei unabhängigen, gleichwohl korrespondierenden Elementen zusammengesetztes Ganzes, physischem Wohlbefinden und moralischem Wohlverhalten, dann wird es nach Erfahrungsgesichtspunkten zu einem bloßen »Gedankending (ens rationis)«.122 Dass damit der teleologische Gedanke einer zweckmäßigen Einrichtung des Menschen für sein Leben in dieser Welt noch nicht völlig verabschiedet ist, unterstreicht die in den Reflexionen der 70er Jahre wiederholte Überzeugung, dass Tugend bei allgemeiner Ausübung auch glücklich machen würde.123 Der Irrtum Epikurs und der Stoa bestand »nur« darin, zu glauben, sie mache glücklich »auch denn, wenn man sie allein ausübt«.124 119 Am deutlichsten zieht den Trennungsstrich die späte Reflexion 7314, AA XIX, S. 310 f.: »Einwurf: Der Mensch kann nicht glücklich sein, ohne wenn er sich selbst wegen seines Charakters Beifall geben kann. Er hat dieses aber nur alsdann nicht, wenn er in der Moralität einen absoluten Wert sieht. Wenn er hierauf nicht Rücksicht nimmt, wenn ihm das Wohlbefinden aus physischer Empfindung genug ist, so kann er glücklich sein, ohne sich im Mindesten um die Übereinstimmung seines Verhaltens mit der Moral zu bekümmern, davon er nur den äußeren Schein oder die Beobachtung nach dem Buchstaben, als eine von den Regeln der Klugheit benützt.« 120 AA XIX, R. 6611, S. 109, Z. 12–14. 121 AA XIX, R. 6601, S. 104, Z. 11–13. 122 AA XIX, R. 6876, S. 188, Z. 21–24: »Die Natur der Dinge aber enthält keine notwendige Verbindung zwischen Wohlverhalten und Wohlbefinden, und also ist das höchste Gut ein bloßes Gedankenwesen.« 123 AA XIX, R. 7202, S. 277, Z. 29–31: »Es ist wahr, die Tugend hat den Vorzug, dass sie aus dem, was Natur darbietet, die größte Wohlfahrt zuwege bringen würde.« XIX, R. 7196, S. 270, Z. 4–5: »Die Tugend würde glücklich machen, wenn sie allgemein ausgeführt würde.« Allerdings muss dabei die vom Menschen unabhängige und nicht kontrollierbare Seite der Natur auch »mitspielen«. 124 AA XIX, R. 6794, S. 163, Z. 7.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 113

08.11.2021 16:20:40

114

IV. Guter Wille und Hass der ­Vernunft: Zum e­ rsten ­Abschnitt der Grund­legungsschrift

Im Blick auf die erfahrungsmäßig höchst zufällige Korrespondenz von Moralität und Glück bei Individuen drängt uns allerdings unparteiische Vernunft zum glaubenden und hoffenden Ausblick in eine »andere (intellektuale) Welt […], wo die Glückseligkeit genau mit der Sittlichkeit zusammenstimmt: Himmel und Hölle«.125 In diesem Sinn bekennt Kant sich eindeutig, wie wir gesehen haben, zum Ideal des christlichen Evangeliums, wie er es versteht.126 Wie sehr Kants philosophische Vorstellungen einem säkularisierten platonisch-augustinisch gefärbten Christentum verpflichtet sind, mag ein abschließender Hinweis zum Verständnis seiner Verwendung des Wortes »Selbstliebe« in unserem Text zeigen.127 Wenn Kant in den kritischen Schriften Glückseligkeit in Begriffen der Sinnlichkeit bzw. der Neigungen definiert, der »Privatabsicht des Menschen« zuordnet128 und diese auf Selbstliebe gründet, die zur Selbstsucht pervertiert, wenn sie exklusiv wird und andere nur instrumentalisiert, dann verwendet er das Wort »Selbstliebe« nicht im Sinn der aristotelischen φιλαυτία oder der stoischen οἰκείωσις, sondern des augustinischen amor sui.129 Es ist dies ein Prinzip des Strebens des Menschen, das auf den Genuss seiner eigenen endlichempirischen Existenz gerichtet ist und zur Verabsolutierung dieses Ziels neigt, eine unheilvolle Verabsolutierung, aus der nur der amor dei zu befreien vermag. Dieser Begriff des amor sui wurde von Autoren wie La Mettrie und Helvétius in polemischer Absicht von seinem Gegenbegriff gelöst, auf sich selbst gestellt und mit positiver Wertung versehen.130 Kant hat ihn bei diesen Autoren vorgefunden, übernommen, aber wieder in seinen alten Kontext zurückgebunden. Diese Beobachtung fügt sich genau zur Interpretation des dialektischen Streits, der in der Grundlegungsschrift im ersten Abschnitt ausgetragen wird.

125 AA XIX, R. 6838, S. 176, Z. 18–20. 126 AA XIX, R. 7060, S. 238–239. 127 Vgl. etwa GMS IV, 407, Z. 9. 128 GMS IV, 396, Z. 13. 129 Sc. und des Rousseau’schen amour propre. 130 »Ein einziges Prinzip belehrt den Menschen, seine physische Sensibilität (sensibilité physique). Dieses Prinzip ruft in ihm das Verlangen nach Lust und den Abscheu von Schmerz hervor. Aus diesen beiden Gefühlen, die dem Menschen ständig gleichermaßen bewusst sind, bildet sich das, was man die Selbstliebe (amour de soi) nennt. Die Selbstliebe erzeugt das Verlangen nach Glück.« Helvétius, De l’homme IV, 22, zitiert nach Eric Voegelin und Peter Leuschner, Helvétius, in: Baruzzi, Arno (Hg.) 1968, 80.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 114

08.11.2021 16:20:40

V. K  ants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen »Die Fragen: ob die Welt einen Anfang oder irgendeine Grenze ihrer Ausdehnung im Raume habe, ob es irgendwo und vielleicht in meinem denkenden Selbst eine unteilbare und unzerstörliche Einheit, oder nichts als das Teilbare und Vergängliche gebe, ob ich in meinen Handlungen frei, oder, wie andere W ­ esen, an dem Faden der Natur und des Schicksals geleitet sei, ob es endlich eine oberste Weltursache gebe, oder die Naturdinge und deren Ordnung den letzten Gegenstand ausmachen, bei dem wir in allen unseren Betrachtungen stehenbleiben müssen: das sind Fragen, um deren Auflösung der Mathematiker gerne seine ganze Wissenschaft dahingäbe; denn diese kann ihm doch in Ansehung der höchsten und angelegensten Zwecke der Menschheit keine Befriedigung verschaffen.« Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Dialektik, A 463/B 491

1. Ü  ber die natürliche Antithetik der rationalen Kosmologie Kants Weg zu seiner Theorie der Freiheit führt über die Entwicklung und Auflösung eines Widerstreits kosmologischer Thesen, einer »Antinomie« transzendentaler Ideen. Die Antinomie, das heißt der endogene Widerstreit von Ideen der reinen Vernunft, ist für Kant ein solcher der cosmologia rationalis, der philosophischen Prinzipienwissenschaft von der Welt.1 Beide widerstreitende Thesenpaare, die ich im Folgenden behandle, sind also kosmologischer 1 Sc. der transzendentalphilosophisch noch ungeläuterten philosophischen Kosmologie. Der Versuch, Aussagen über die Welt (der Erfahrung) im Ganzen zu machen, führt in Widersprüche, die nur durch Vernunftkritik und die erkenntniskritische Position des transzendentalen Idealismus zu beheben sind. Es ist die kosmologische Antinomie, die Kant »zur Entwicklung einer vernunftkritisch abgesicherten Metaphysik nötigt« (Falkenburg, Brigitte 2000, 261).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 115

08.11.2021 16:20:40

116

V. Kants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen

Art, haben zu tun mit dem Erkenntnisbemühen unserer Vernunft bezüglich der erfahrbaren (äußeren, raum-zeitlichen) Welt. Doch sie sind von eminenter anthropologischer und ethischer Tragweite. Ja, sie sind es, die Kant »zur Entwicklung einer vernunftkritisch abgesicherten Metaphysik [nötigen]« (Falkenburg). Was Vernunft in ihnen mit gedanklichen Mitteln anstrebt, ist, wie Kant es in transzendental-kritischer Sprache formuliert, »die unbedingte Einheit der objektiven Bedingungen in der Erscheinung«.2 Gemeint ist mit dieser Formel nichts weniger als die Form des Totalverständnisses einer bestimmten oder aber aller Erfahrungsgegebenheit.3 Insofern menschliches Verhalten eine unter anderen Erfahrungsgegebenheiten in der Welt darstellt, ist natürlich auch dieses vom Problem der Antinomie betroffen. Wir haben es hier mit der von der (hellenistischen) Antike bis heute aktuellen Determinismusfrage zu tun. Kants Behandlung und Lösung dieser Frage ist beispielhaft; es lohnt, auch im Blick auf gegenwärtige Diskussionen, sich mit ihr eingehend zu beschäftigen. Beim Bemühen, ein vorliegendes Phänomen äußerer Erfahrung der Form nach von seinen Gründen her vollständig zu verstehen, gerät die Vernunft nach Kant in ihrer natürlichen, direkt auf die Objekte gerichteten Einstellung »von selbst, und zwar unvermeidlich« in »eine ganz natürliche Antithetik«.4 Dies deshalb, weil die menschenmögliche »Verstandeseinheit in Erfahrungsbegriffen« und die von uns erstrebte »Vernunfteinheit in bloßen Ideen« bezüglich der Erfahrungswirklichkeit nicht harmonieren und nicht harmonieren können.5 Verstand und Vernunft6 stimmen beim Streben nach kosmologischer ­Erkenntnis nicht überein. Denn, so Kant, unser Vernunftanspruch ist ein Anspruch nach vollständiger Erkenntnis. Er geht notwendig über das hinaus, was das verstandesmäßige Begreifen des in äußerer empirischer Anschauung ­Gegebenen zu leisten und zu bieten vermag. Ist nämlich im Verstehen einer Gegebenheit die erzielte Einheit in der Erkenntnis ihrer objektiven Bedingungen der Vernunft adäquat, so ist sie für den Verstand »zu groß«; ist sie dagegen dem Verstand angemessen, so ist sie für den Vernunftanspruch »zu klein«.7 2 KrV A 406/B 433. 3 Zu den epistemologischen, logischen und semantischen Aspekten der kosmologischen Antinomie vgl. Falkenburg, Brigitte 2000, 177–261. 4 KrV A 407/B 433 f. 5 KrV A 422/B 450. 6 Sc. im Sinne von Kants kritischer Unterscheidung von Verstand und Vernunft als verschie­ denen Vermögen menschlicher Vernunft. 7 KrV A 485–490/B 513–518.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 116

08.11.2021 16:20:40

1. Über die natürliche Antithetik der rationalen Kosmologie

117

Was ist nun der Grund dafür, dass im Rahmen einer cosmologia rationalis immer wieder mit ähnlicher Plausibilität, ja mit dem Eindruck wissenschaftlicher und philosophischer Seriosität widersprüchliche Behauptungen vorgetragen werden und Anerkennung finden? Kant meint den Grund darin zu finden, dass die theoretische, auf die Beantwortung kosmologischer Fragen gerichtete »Vernunft eigentlich gar keinen Begriff erzeuge, sondern allenfalls nur den Verstandesbegriff von den unvermeidlichen Einschränkungen einer möglichen Erfahrung frei mache und ihn also über die Grenzen des Empirischen, doch aber in Verknüpfung mit demselben zu erweitern suche«.8

Mit anderen Worten: Mit unserer Vernunft suchen wir immer wieder Welthaft-Empirisches dadurch vollständig zu verstehen, dass wir im Ausgang von Empirischem und empirisch Gesichertem die Grenzen möglicher empirischer Erkenntnis überschreiten und mit reinen Vernunftschlüssen so etwas wie Totalitäts- bzw. Abschlussbehauptungen wagen, die empirisch nicht einlösbar sind. Der Eindruck begründeter Thesen, den unsere Vernunft genau dadurch erzeugt, ist nicht einseitig, sondern allemal zweiseitig: Das rationale Bemühen um die »absolute Totalität in der Synthesis der Erscheinungen«9 treibt – in epistemisch realistischer Einstellung – zu jeder kosmologischen These zwangsläufig auch die zugehörige Gegenthese hervor. Dies geschieht allerdings nicht ohne jeden Sinn. Immerhin werde unsere Vernunft durch dieses Erzeugen von Widersprüchlichem vor dem »Schlummer einer eingebildeten Überzeugung«10 bewahrt, gerate aber über dem immerwährenden Kampf der ungeprüften und ungebändigten antithetischen »Weltbegriffe« in die Versuchung, »sich entweder einer skeptischen Hoffnungslosigkeit zu überlassen, oder einen dogmatischen Trotz anzunehmen und den Kopf steif auf gewisse Behauptungen zu setzen, ohne den Gründen des Gegenteils Gehör und Gerechtigkeit wider­fahren zu lassen«.11 Dieser (nach wie vor aktuellen) Versuchung nachzugeben würde nun freilich bei beiden Optionen den »Tod einer gesunden Philosophie« bedeuten. In beiden Fällen wäre es ein selbstverschuldeter Tod; beim »unkritischen« Aus-

8 KrV A 409/B 435 f. 9 KrV A 407/B 434. 10 Ebd. 11 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 117

08.11.2021 16:20:40

118

V. Kants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen

weg aus der Antithese, beim Rückzug in die Skepsis, könnte man immerhin noch von einer »Euthanasie der reinen Vernunft« sprechen.12 Kants transzendental-kritische Diagnose der Genesis des antithetischen kosmologischen Scheins und seine transzendendental-therapeutische Anweisung für eine Gesundung der menschlichen Vernunft mit dem Ziel ihres Einklangs und Einverständnisses mit sich selbst ist systematisch ausgerichtet. Sie orientiert sich an seiner Urteils- und Kategorienlehre. Die Antithesenpaare der Antinomie entsprechen Ideen, die den leitenden Gesichtspunkten der Quantität und Qualität, der Relation und Modalität eines Urteils entsprechen. Und die Ideen sind jene von den Einschränkungen auf mögliche Erfahrung losgelösten, aber auf ein prinzipielles Totalverständnis einer oder aller Erfahrungsgegebenheit zielenden reinen Verstandesbegriffe, »welche eine Reihe in der Synthesis des Mannigfaltigen notwendig bei sich führen«,13 genauer: eine zurück- bzw. aufsteigende Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten. Die ersten beiden widerstreitenden Thesenpaare, die sogenannten mathematischen, betreffen die Ideen der absoluten Vollständigkeit der Zusammensetzung des gegebenen Ganzen aller Erscheinungen und der absoluten Vollständigkeit der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung. Sie beziehen sich auf die kategorialen Urteilsgesichtspunkte der Quantität und Qualität einer äußeren Gegebenheit überhaupt. Es geht hier um den »Begriff des Universums oder der Welt im Ganzen von Raum und Zeit« und den »Atombegriff im ursprünglichen Wortsinn einer unteilbaren materiellen Substanz«14 und um widersprüchliche Aussagen zu diesen Begriffen. Die zweiten beiden widerstreitenden Thesenpaare, die sogenannten dynamischen, betreffen die Ideen der absoluten Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung und der absoluten Vollständigkeit der Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen in der Erscheinung.15 Sie beziehen sich auf die kategorialen Gesichtspunkte der Relation und Modalität. Ausgangspunkt widersprüchlicher Thesen sind hier »der Begriff einer schlechthin unhintergehbaren Spontanwirkung, die eine Kausalkette in der Natur initiiert; und […] der Begriff eines absolut notwendigen ­Daseinsgrunds innerhalb oder außerhalb der Erscheinungswelt«.16 Während 12 Ebd. 13 KrV A 415/B 442. 14 Falkenburg, Brigitte 2000, 187. 15 Vgl. KrV A 415/B 443. 16 Falkenburg, Brigitte 2000, 187.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 118

08.11.2021 16:20:40

2. Die zwei dynamischen Thesenpaare

119

es bei den ersten beiden lediglich um strukturelle Bedingungsverhältnisse des räumlichen Nebeneinanders und zeitlichen Nacheinanders der äußeren Erfahrungsgegenstände geht, geht es bei den zweiten um Abhängigkeitsverhältnisse dieser Gegenstände in ihrem Dasein. Nur die zweiten Paare sind für unseren Kontext von Belang. Denn diese beiden dynamischen widerstreitenden Thesenpaare berühren und eröffnen Problemfelder moralphilosophischer und rationaltheologischer Art, insofern im einen Fall auch die Möglichkeit menschlicher Freiheit und Verantwortung im Handeln und im anderen Fall Gott als möglicher Kandidat für ein schlechthin notwendiges Wesen innerhalb oder außerhalb der Welt zur Debatte stehen. Doch beide dynamischen Thesenpaare sind solche kosmologischer Art und entspringen einer wesentlich theoretischen Perspektive der Vernunft. Ich befasse mich zunächst mit einer erläuternden Darstellung des 3. und 4. Widerstreits der Antinomie der reinen Vernunft im Ganzen und gehe dann auf die Auflösung der Antinomie, detaillierter auf die des dritten, um vieles kürzer auf die des vierten Widerstreits ein.

2. Die zwei dynamischen Thesenpaare 2.1 Der dritte Widerstreit der Antinomie der reinen Vernunft 2.1.1 Die Argumentation für die Thesis: Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit Der dritte Widerstreit betrifft die Wirkursächlichkeit und gehört in den Kontext der Kategorie der Relation. Er folgt aus einer unkritischen, überschwänglichen Verwendung der Kategorie der Kausalität. Genauer: Er ergibt sich, wenn der Form nach eine vollständige kausale Erklärung der Entstehung einer Begebenheit versucht und schließlich beansprucht wird und wenn im Zuge der argumentativen Einlösung dieses Anspruchs die erkenntnissichernde Bindung der Kausalrelation bezüglich beider Relata an mögliche Erfahrung gelöst und auf der Ursachenseite aufgehoben wird. Es geht im vollständigen kausalen Begreifen eines gewordenen Zustands von Dingen um das Ganze der Reihe der Bedingungen, die zu diesem Zustand führten. Wenn man die Phänomene der Welt ursächlich ableiten bzw. kausal erklären will, so gilt es, grundsätzlich zwei Möglichkeiten hinsichtlich der Art des Erwir-

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 119

08.11.2021 16:20:40

120

V. Kants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen

kens bzw. Erwirktwerdens von Dingen bzw. Geschehnissen ins Auge zu fassen, nämlich die »Kausalität nach Gesetzen der Natur« und die »Kausalität durch Freiheit«.17 Im dritten Widerstreit der Antinomie der reinen Vernunft behauptet die Thesis, dass bei der kausalen Erklärung »der Erscheinungen der Welt insgesamt« beide Erwirkungsarten in Ansatz zu bringen und zu berücksichtigen sind. Die Antithesis behauptet dagegen abweisend, dass »Kausalität durch Freiheit« etwas Chimärisches, ein leeres Gedankending ist; dass mit dieser Vorstellung demnach nichts erklärt, dass mit ihr vielmehr die Einheit der Erfahrungswirklichkeit und ihrer Erkenntnis aufgelöst wird. Und sie behauptet entgegen der Thesis positiv, dass alles in der Welt nach Gesetzen der Natur geschieht.18 In der Erfahrungswelt, das heißt in der unseren Sinnen zugänglichen und mit dem Verstand zu begreifenden Welt, haben Kausalerklärungen die zeitliche Abfolge von etwas nach Naturgesetzen zum Inhalt. Und was hier als Ursache einer gewordenen Wirkung bezeichnet und erkannt wird, ist seinerseits etwas Entstandenes, das als Wirkung einer voraufgehenden Ursache zu verstehen ist; und so a parte ante ins Endlose. Im derartigen Regressus zu den kausalen Bedingungen eines gegebenen und gewordenen Bedingten stößt man nicht auf einen ersten Anfang des Erwirkens von etwas, auf ein erstes Glied der regressiven Reihe der Ursache-Wirkungs-Kette. Dementsprechend ist auf diesem Weg weder das Ganze der Reihe der Bedingungen noch ein erstes und ursprüngliches Glied der Reihe der Bedingungen einer Gegebenheit zu fassen. Folglich ist so auch kein vollständiges Begreifen der Genesis eines entstandenen und zu erklärenden Phänomens möglich. Nun bedeutet die Totalvorstellung »Welt« im Sinne von Natur ein dynamisches Ganzes, in Kants Worten »den Inbegriff der Erscheinungen, sofern diese, vermöge eines innern Prinzips der Kausalität durchgängig zusammenhängen«.19 Unter »Erscheinung« ist hier ein Phänomen, eine Erfahrungsgegebenheit zu verstehen. Und mit »Ursache« meinen wir eine, ja (singularisch gesprochen) die zureichende bzw. vollständige kausale Bedingung dessen, was geschieht und als Begebenheit ins Auge gefasst wird. Wenn nun etwas tatsächlich geschieht, so ist evidentermaßen zu unterstellen, dass sämtliche seiner Bedingungen erfüllt sind, sonst würde es nicht ge17 KrV A 444/B 472. 18 Vgl. KrV A 444 f./B 473 f. 19 KrV A 418 Anm./B 446 Anm.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 120

08.11.2021 16:20:40

2. Die zwei dynamischen Thesenpaare

121

schehen. Die Idee von »Welt« bzw. »Natur«, verstanden als »Einheit des Daseins der Erscheinungen«,20 schließt ein, dass für jede Begebenheit in ihr die regressive Bedingungsreihe geschlossen ist, also »einen ersten Anfang«21 hat bzw. eine »absolute Totalität«22 ausmacht. Doch genau dies ist mit dem Versuch einer Erklärung der Begebenheiten durch Kausalität »nach bloßen Gesetzen der Natur«23 epistemisch nicht zu erreichen. Diese Erklärungsart bietet »überhaupt keine Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der voneinander abstammenden Ursachen«.24 Sie muss auf der Bedingungsseite eine offene, anfanglose Reihe unterstellen. Und dies besagt: Die naiv verobjektivierende Totalitätsvorstellung einer Welt, die die Bedingungen des Entstehens, Sichveränderns und Vergehens von Dingen, des Eintretens und Entschwindens von Geschehnissen nur nach dem Konzept der Naturkausalität erklärt und verstanden wissen will, ist in sich widersprüchlich. Der Widerspruch, so ein reines Vernunftargument, lässt sich für die Weltidee nur beheben, wenn man neben der Naturkausalität, die allemal ein erwirktes Wirken, ein bewegtes (Sich-)Bewegen darstellt, auch eine andere Form von Kausalität in Ansatz bringt, nämlich die Möglichkeit eines nichterwirkten Wirkens, einer Erstursächlicheit, »d. i. eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit, ohne welche selbst im Laufe der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen niemals vollständig ist«.25 So der Argumentationsgang für die Thesis des dritten Widerstreits der transzendentalen Ideen. Transzendentale bzw. kosmologische Freiheit meint dabei ein spontanes, ein unverursachtes Erwirken von Wirkungen. Wie solches möglich sein soll, so die Anmerkung zur Thesis, sei a priori genauso unklar wie das verursachte Erwirken von Wirkungen der Naturkausalität, nämlich dies, »dass auf einen Zustand in einem Zeitpunkte ein entgegengesetzter im andern folgen könne«;26 Letzteres könnten wir über die Bestimmung von Naturkräften verschiedener materieller Träger immer nur empirisch feststellen. Ähnlich müssten wir, so ist wohl der

20 21 22 23 24 25 26

KrV A 419/B 447. KrV A 446/B 474. KrV A 416/B 444. KrV A 444/B 472. KrV A 446/B 474. KrV A 446/B 474. KrV A 207 f./B 252.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 121

08.11.2021 16:20:40

122

V. Kants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen

Hinweis der Anmerkung zu ergänzen, auch für die Reflexion auf transzendentale Freiheit einen Anhalt in der Erfahrung haben. Transzendentale Freiheit ist zunächst im Sinne der Thesis eine theoretischkosmologische Idee. Sie beinhaltet den Gedanken einer Spontan- bzw. Erstursache der Weltreihe, das heißt einer Erstursache, in der alle Bedingungsreihen der verschiedenen Dinge, Zustände und Geschehnisse in der Welt ihr Anfangsglied und ihr ursprüngliches, erstes Erwirkungsprinzip haben. Historisch denkt Kant dabei unmittelbar an Isaac Newtons Schöpfungskonzept. Nach diesem hat Gott die Welt (spontan) aus Nichts in einen unendlichen leeren Raum-Zeit-Behälter hinein erschaffen. Gottes unverursachtes Schöpfungswirken bildet danach den absoluten (zeitlichen) Anfang und kausalen Grund der Weltreihe (und aller verschiedenen Kausalketten in ihr). Diese Annahme »eines ersten Anfangs einer Reihe von Erscheinungen aus Freiheit«27 ist der Thesis der dritten Antinomie, wie gezeigt, »zur Begreiflichkeit eines Ursprungs der Welt erforderlich«.28 Der kosmologische Nachweis, dass Kausalität aus Freiheit kein bloßes Gedankending, ja zu einer widerspruchsfreien Totalitätsvorstellung »Welt« erforderlich scheint, »erlaubt« nun im Rahmen der Thesis auch den Gedanken, erstursächliches, spontanes Erwirken auch innerhalb des Weltverlaufs als reale Möglichkeit ins Auge zu fassen.29 Damit schlägt Kant die Brücke vom kosmologischen bzw. transzendendentalen zum nun ganz und gar ins Zentrum rückenden anthropologischen Freiheitsbegriff, zu dem jedenfalls, was an diesem transzendental bzw. kosmologisch ist: zum Gedanken der Fähigkeit bestimmter (dem Schöpfergott analoger) Substanzen in der Welt zu spontaner, »unbedingter Kausalität«.30 Diese Fähigkeit zu »unbedingter Kausalität« ist hier natürlich nicht im Sinne der Rede »vom absolut ersten Anfange der Zeit nach, sondern der Kausalität nach«31 zu verstehen, nicht also im Sinn eines zeitlichen, sondern im Sinn eines dynamischen Beginns. Das Wirken von Menschen – sie (und nur sie) sind im Rahmen unserer Erfahrungswirklichkeit Kandidaten für den Begriff der erwähnten möglichen Substanzen – erfolgt wie das aller relativen (d. h. entstehenden und vergehenden) Weltsubstanzen in einem 27 28 29 30 31

KrV A 448/B 476. Ebd. Vgl. dazu Al-Azm, Sadiq Jalal 1972, 92–103. Dadurch, dass der Mensch in eine gewisse Analogie zu Gott gesetzt wird. KrV A 448/B 476. KrV A 450/B 478.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 122

08.11.2021 16:20:40

2. Die zwei dynamischen Thesenpaare

123

raum-zeitlichen Kontinuum und besitzt in diesem jeweils seine unmittelbaren Voraussetzungen. Doch sofern es als (dynamisch) frei zu denken ist, ist dieses Wirken nicht das notwendige Ergebnis aus Naturgesetzen und erfüllten Randbedingungen, sondern erfolgt »ohne den notwendig bestimmenden Einfluss der Naturursachen«,32 obgleich es stets auf einen voraufgehenden Zustand der Dinge bruchlos folgt und mit diesem in der Zeitordnung auch über Naturursachen bruchlos verbunden ist.

2.1.2 Die Argumentation für die Antithesis: Es gibt nur Naturkausalität Genau dem widerspricht die Antithesis des dritten Widerstreits. »Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.«33 Es ist dies die Position eines metaphysisch-naturalistischen Prädeterminismus, der nach Kant die »Allvermögenheit der Natur (transzendentale Physiokratie)« behauptet.34 Ihren »Beweis« findet sie in dem Gedanken, dass die Idee einer unbedingten, einer absolut spontanen Wirksamkeit im Rahmen der kausalen Ereigniskette der Naturordnung nicht haltbar ist. Die realistische Physik der Zeit pflegt ein mechanistisch-deterministisches oder dynamistischdeterministisches Weltbild. Und Kants eigene kritische Analytik hatte in der Zweiten Analogie der Erfahrung den Grundsatz erwiesen, dass »alle Veränderungen […] nach dem Gesetze der Verknüpfung von Ursache und Wirkung« geschehen.35 Natur ist zu verstehen als ein universaler Zusammenhang nach Gesetzen. Aller Wechsel der Phänomene erfolgt nach dem Kausalprinzip. Dieses sichert die Einheit des Weltgeschehens und Weltlaufs und mit ihr die Einheit unserer Erfahrungswirklichkeit. Würde die Geltung des Kausalprinzips durch den Ansatz einer Kausalität aus Freiheit relativiert, zerbräche diese Einheit und damit auch die Möglichkeit einer rationalen Erklärung der Abfolge der Phänomene. Natur als Weltgeschehen verlöre ihren Ordnungscharakter und nähme partiell und unvorsehbar Züge des regellos Chaotischen, Bruchstückhaften und prinzipiell Unerklärlichen an. Nach der Ersten Analogie der Erfahrung beharrt die Substanz in der Natur und nach der Zweiten Analogie ist das Geschehen in ihr einheitlich kausalgesetzlich zu fassen. Und beides, so die Antithesis, läßt sich sehr wohl als sempitern, das heißt als zeitlich anfangs- und 32 Ebd. 33 KrV A 445/B 473. 34 KrV A 449/B 477. 35 KrV B 232.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 123

08.11.2021 16:20:41

124

V. Kants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen

endlos denken. Der Gedanke eines dynamischen Erstanfangs der Erscheinungen (den der schöpfungsgläubige Newton in Ansatz brachte) erweckt in diesem Zusammenhang nur den Eindruck einer faulen Ausflucht, um der »Einbildung einen Ruhepunkt [zu] verschaffen«.36 Die letzten Elemente der Welt, so bereits die Ontologie des antiken (mechanistischen) Atomismus, haben immer existiert und werden immer existieren; dies muss im Sinne der Einheit der Erfahrung angenommen werden. Ebenso bereitet auch die Annahme keine Schwierigkeit, dass der Wechsel ihrer Zustände, die Reihe ihrer Änderungen immer so geschehen ist, wie er geschieht. Es besteht kein Anlass, nach einem dynamischen Erstanfang Ausschau zu halten.37 Der Gedanke einer Loslösung des Wirkens bestimmter Substanzen von den Gesetzen der Natur innerhalb des Weltlaufs wäre gleichbedeutend mit einer Befreiung des Wirkens dieser Substanzen »vom Leitfaden aller Regeln«.38 Man könnte allerdings im Sinne eines Regelhaften der Abfolge und damit im Sinne der Verwendung der Kausalitätskategorie überhaupt bei diesen Sub­ stanzen auch an Gesetze der Kausalität aus Freiheit denken. Doch die Einführung von Gesetzen der Freiheit, nach denen diese Substanzen im Weltlauf wirken, würde die Gesetze dieser Wirksamkeit (nach wissenschaftlich seriösem Gesichtspunkt) wiederum zu nichts weiter als zu bestimmten Naturgesetzen machen, eben zu Gesetzen, nach denen diese Substanzen (unter bestimmten Bedingungen) aufgrund ihrer besonderen Natur wirken. Wie immer man es wendet, der Gedanke der Thesis, neben der Naturkausalität eine Kausalität aus Freiheit zur Erklärung der Welt und des Weltgeschehens ins Spiel zu bringen, ist ein unsinniger Gedanke. So die Argumentation für die Antithesis. Historisch gesehen stehen hinter den Argumenten für die Antithese die ­Argumente, die Gottfried Wilhelm Leibniz gegen den Newtonianer ­Samuel Clarke in der berühmten Leibniz-Clarke-Kontroverse ins Feld geführt hat: Die Annahme der Möglichkeit absolut spontanen Wirkens verstoße gegen das Prinzip des zureichenden Grundes, löse den Gedanken der Naturordnung auf und zerbreche die Kohärenz der Erfahrung und der Welt. Jedes Vorkommnis, so auch die Wahl Gottes und die Wahl von Menschen, müsse bezogen sein auf eine Reihe von Bedingungen, die die Wahl und das entsprechende Handeln erklärbar und 36 KrV A 449/B 477. 37 Ebd. 38 KrV A 447/B 475.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 124

08.11.2021 16:20:41

2. Die zwei dynamischen Thesenpaare

125

zurechenbar machen. Nicht nur Naturverläufe, auch göttliche und menschliche Entscheidungen unterlägen dem Prinzip vom zureichenden Grunde.39

2.2 Der vierte Widerstreit der Antinomie der reinen Vernunft. ­Erläuterung der Antithesen und der jeweiligen Argumente Der vierte Widerstreit der transzendentalen Ideen handelt vom Problem eines kosmologischen ens originarium et necessarium, das Kant als »schlechthin notwendiges Wesen, (es sei die Welt selbst, oder etwas in der Welt, oder die Weltursache)« versteht.40 Die Thesis behauptet, dass ein solches Wesen zur Welt, womit »das Ganze der Erscheinungen« gemeint ist, gehört, während die Antithesis eben dieses bestreitet.41 Die Thematik erinnert an traditionelle rationaltheologische Fragestellungen, an den kosmologischen Gottesbeweis, nach dem die durch Erfahrung belegten Wirkursachen in der Welt, die causae secundae, in einer causa prima gründen, an christlich-theologische Kontingenzbetrachtungen, die von der Zufälligkeit des Geschaffenen auf die Existenz eines notwendigen Wesens weisen, oder an pantheistische Spekulationen stoischer Provenienz, die alle scheinbare Kontingenz des sinnlich Erfahrbaren in die kausal-teleologische Notwendigkeit der einen göttlichen Weltseele und Weltvernunft auflösen. Dieser Diskussionskontext ist zwar bei Kant noch präsent, doch geht es ihm im vierten Widerstreit primär um ein kosmologisches, nicht um ein theologisches Problem, das erst im nächsten Teil der Transzendentalen Dialektik der KrV zur ­Debatte steht. Es geht im vierten Widerstreit der Antinomie um widersprüchliche Thesen bezüglich der Existenzweise dessen, wodurch alles im Dasein Abhängige, alles Faktische und nur Bedingt-Notwendige als seiner letzten Bedingung gründet. Die Thesis setzt als letzte Bedingung alles bedingten Daseins ein notwendiges Wesen an, das als Teil oder als Ursache oder als alles gestaltendes Prinzip zu »der Welt gehört«.42 Die Antithesis spricht zwar von der einen Möglichkeit eines notwendigen Wesens »außer der Welt«, weist aber diese Möglichkeit gerade deswegen als widersprüchlich zurück, weil es aufgrund seiner kausalen 39 40 41 42

Al-Azm, Sadiq Jalal 1972, 103–111. KrV A 488/B 516. KrV A 452 f./B 480 f. KrV A 452/B 480.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 125

08.11.2021 16:20:41

126

V. Kants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen

Funktion »in den Inbegriff der Erscheinungen, d. i. in die Welt gehören« würde.43 Die traditionelle christlich-theologische Fragestellung zielte auf ein welttranszendentes, der vierte Widerstreit in seiner Thesis zielt eher auf ein weltimmanentes Unbedingtes, jedenfalls auf ein Unbedingtes, das im Rahmen der Welt im Ganzen einen unbedingten Grund bedingten Daseins bietet. Der Kern der Frage, die den Widerstreit provoziert, besteht nach Kants eigenen Worten in der Alternative, »ob es irgendein gänzlich unbedingt und an sich notwendiges Wesen gebe, oder ob alles seinem Dasein nach bedingt und mithin äußerlich abhängend und an sich zufällig sei«.44 Die Frage entspringt systematisch dem kategorialen Gesichtspunkt der ­Modalität eines Urteils, bezogen auf die Welt und die Phänomene bzw. den Grund der Gegebenheiten in ihr: Ob etwas und was in bzw. an ihr möglich, wirklich oder notwendig ist und als solches zu gelten hat. Kant sieht in diesem vierten Widerstreit im Vergleich zu den anderen einen seltsamen Kontrast,45 »dass nämlich aus eben demselben Beweisgrunde, woraus in der Thesis das Dasein eines Urwesens geschlossen wurde, in der Antithesis das Nichtsein desselben und zwar mit derselben Schärfe geschlossen wird«. Die Differenz resultiere aus einer jeweils einseitig fixierten Perspektive, mit der die Vernunft ein und denselben Beweisgrund betrachte: Der Beweis der Thesis steige »von dem Bedingten in der Erscheinung zum Unbedingten im Begriffe« auf, indem es das Unbedingte »als notwendige Bedingung der absoluten Totalität der Reihe ansieht«.46 Damit werde nur auf die absolute Totalität der Reihe der Bedingungen gesehen, deren eine Bedingung die andere in der Zeit bestimmt. Der Beweis der Antithesis blicke dagegen nur auf »die Zufälligkeit alles dessen, was in der Zeitreihe bestimmt ist […], wodurch denn alles Unbedingte, und alle absolute Notwendigkeit gänzlich wegfällt«.47 Thesis wie Antithesis argumentieren auf der Ebene der Erscheinungen, das heißt der Erfahrungsgegebenheiten, und beziehen sich auf die Erfahrung der Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen in der Erfahrungswelt. Und sie vollziehen dann einen im Ergebnis antithetischen Vernunftschluss von der Erfahrungswelt aus. 43 44 45 46 47

KrV A 453; 455/B 481; 483. KrV A 481/B 509. KrV A 459/B 487. KrV A 456/B 484. KrV A 459; 461/B 487, 489.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 126

08.11.2021 16:20:41

2. Die zwei dynamischen Thesenpaare

127

Die Anmerkung zur Thesis betont die Unterscheidung empirischer Zufälligkeit, das heißt der Abhängigkeit einer Veränderung in der Welt von empirisch bestimmenden Ursachen, und Zufälligkeit im reinen Sinn der Kategorie, nach dem zufällig das ist, dessen kontradiktorisches Gegenteil möglich ist.48 Aus empirischer Zufälligkeit, so das Argument für die Thesis, könne nicht auf ontologisch-intelligible Zufälligkeit geschlossen werden. Denn was empirisch zufällig erscheint, könne sich aus dem Wechsel der Bestimmungen einer Sub­ stanz nach empirisch erfassbaren Naturgesetzen ergeben, deren hypothetische Notwendigkeit ihrerseits in einem absolut notwendigen, nach Gesetzen wirkenden Wesen verankert ist; sei dies »die Welt selbst« (wie bei den pantheistischen Stoikern), sei dies ein »Urwesen« außerhalb der Welt (wie bei christlichen Kosmologen à la Newton), ein ens necessarium, das für empirisch-kausale Bedingungsketten des Daseins als unbedingter Grund fungiert oder einen unbedingten zeitlichen Anfang bedingten Daseins setzt. Und ein solches absolut notwendiges Wesen sei im Sinne der absoluten Totalität der Reihe der Bedingungen alles Bedingten in Ansatz zu bringen. Die Anmerkung zur Antithesis spricht sogleich die Schwierigkeiten an, die sich auftun, wenn man sich »auf bloße Begriffe vom notwendigen Dasein eines Dinges überhaupt« stützt.49 In der Tat mag man den Sinn des Begriffs ontologischer Notwendigkeit überhaupt bezweifeln, alle Rede von Notwendigkeit auf die wie auch immer begründete hypothetische bzw. relationale Notwendigkeit naturgesetzlicher Daseinszusammenhänge beschränkt sehen bzw. die Rede von »notwendig« lediglich im Bereich formallogischer Zusammenhänge oder mathematischer Sachverhalte situiert wissen. Schließlich können wir ja wohl alles, was existiert, für sich genommen widerspruchsfrei auch als nichtexistent denken.50 Dieser Einwand spricht aus begrifflichen Gründen nicht nur gegen die ontologische Notwendigkeit eines materiell gedachten weltimmanenten Prinzips aller voneinander abhängigen Daseinsphänomene. Er macht auch den Kern der Kritik am traditionellen ontologischen Gottesbeweis aus.51 Die Rede von einem ens originarium et necessarium wäre danach aus rein begrifflichen Gründen problematisch.

48 49 50 51

KrV A 459/B 487. KrV A 457/B 485. Vgl. Kreimendahl, Lothar 1998, 413–446, S. 441 f. Vgl. dazu KrV A 592/B 620; A 602/B 630.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 127

08.11.2021 16:20:41

128

V. Kants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen

Doch darum geht es im vierten Widerstreit nicht. Die Anmerkung zur Antithesis verdeutlicht vielmehr die genuin kosmologische Problematik, aus der empirischen Kausalverbindung eines gegebenen Daseins mit einer regressiven Reihe von Bedingungen eine Bedingung zu erschließen, deren Dasein, sei es in der Welt, sei es außerhalb der Welt, unbedingt und notwendig ist.52 Die Behauptung, alles bedingte und abhängige Dasein setze eine vollständige Reihe der Bedingungen voraus, und damit eine Reihe, die entweder zwar kein unbedingtes letztes Glied enthält, aber als ganze unbedingt ist, oder in ihrem obersten Glied bei einem unbedingten, notwendigen »Urwesen« endet, ist im Sinne der Antithesis ein Sophisma. Die erste Alternative, nämlich die, dass eine (anfangs- und endlose) Reihe von Begebenheiten, deren sämtliche Teile kontingent sind, im Ganzen als notwendig betrachtet werden könne, sei absurd. Der zweite Gedanke, der die Existenz eines seinerseits unbedingten letzten Gliedes der regressiven Bedingungskette vertritt, verletze das Gesetz kausaler Abhängigkeit im Bereich der Erfahrungswelt.53 Was man vielmehr behaupten könne und müsse, sei dies, dass man, weil man im Regressus empirischer Bedingungen niemals zu einer empirisch unbedingten Bedingung gelangt, deshalb nicht einfach vom empirischen Begriff der Zufälligkeit bzw. Abhängigkeit abgehen und zur reinen Kategorie des Zufälligen übergehen darf, eines Zufälligen, das allem Weltlichen und von anderem Weltlichen Abhängigen anhaftet, und das in seiner Abhängigkeit ein notwendiges Wesen innerhalb oder außerhalb der Welt als seinen Grund fordere. Und ein Vernunftschluss von »Welt überhaupt« als etwas insgesamt Kontingentem auf ein ens necessarium, ein solcher Schritt wäre »ganz widerrechtlich«.54 Somit bleibe als vernünftiges Resümee nur die Antithesis: »Es existiert überall kein schlechthin notwendiges Wesen weder in der Welt, noch außer der Welt als ihre Ursache.«55 Dies zur Erläuterung der Antinomie der dynamischen Ideen. Es gilt nun, ihre Auflösung zu erklären.

3. Die Welt als Produkt des Geistes Mit ihren kosmologischen Ideen berührt die menschliche Vernunft nach Kant Fragen, »um deren Auflösung der Mathematiker gerne seine ganze Wis52 53 54 55

Vgl. KrV A 457/B 485. Vgl. Al-Azm, Sadiq Jalal 1972, 131 f. KrV A 458/B 486. KrV A 453/B 481.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 128

08.11.2021 16:20:41

3. Die Welt als Produkt des Geistes

129

senschaft dahingäbe«, weil sie die »höchsten und angelegensten Zwecke der Menschheit betreffen«.56 Im Widerstreit der Ideen sind wir deshalb nicht desinteressiert, sondern neigen bereits in ihrem Ursprung zur Parteilichkeit. Im »Dogmatismus« der reinen Vernunft, der jeweils für die Thesis der widersprechenden Behauptungen Partei ergreift und den Kant mit der Tradition des Platonismus in Verbindung bringt, bekunde sich das praktische Interesse einer guten Gesinnung: »Dass die Welt einen Anfang habe, dass mein denkendes Selbst einfacher und daher unverweslicher Natur, dass dieses zugleich in seinen willkürlichen Handlungen frei und über den Naturzwang erhoben sei, und dass endlich die ganze Ordnung der Dinge, welche die Welt ausmachen, von einem Urwesen abstamme, von welchem alles seine Einheit und zweckmäßige Verknüpfung entlehnt: das sind so viel Grundsteine der Moral und Religion. Die Antithesis raubt uns all diese Stützen, oder scheint wenigstens sie uns zu rauben.«57

In der jeweiligen Thesis bekunde sich aber auch ein theoretisches und architektonisches Interesse am Abschluss und System von Erkenntnissen und ein populäres Interesse an einem festen Punkt und Ruheplatz, während die Eitelkeit und Bequemlichkeit des Geistes in uns an der jeweiligen Antithesis, mit ihrem »Principium des reinen Empirismus«, dem »endlosen Aufsteigen vom Bedingten zur Bedingung, jederzeit mit einem Fuße in der Luft, gar kein Wohlgefallen finden kann«.58 Auf der anderen Seite kommt die Parteinahme für die Antithesen, die Kant mit der Tradition des empiristischen Epikureismus verbindet, dem nüchternen und wissbegierigen Interesse unserer Vernunft entgegen, auf dem eigenen Boden des Verstandes, dem Feld möglicher Erfahrung, zu bleiben und dort sichere und fassliche Erkenntnisse zu gewinnen, diese ohne Ende zu erweitern und im Blick auf Totalitätsansprüche der Erkenntnis Mäßigung und Bescheidenheit im Behaupten zu üben. Allerdings tendieren wir in dieser Einstellung dazu, mit dem »Principium des reinen Empirismus« selbst dem Fehler der Unbescheidenheit zu verfallen, wenn wir dasjenige dogmatisch verneinen, was über die 56 KrV A 463 f./B 491 f. 57 KrV A 466/B 494. 58 KrV A 466 f./B 494 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 129

08.11.2021 16:20:41

130

V. Kants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen

Sphäre menschenmöglicher Erfahrung hinausgeht, eine bereits zu Kants Zeit beobachtbare und im modernen szientistischen Tatsachenpositivismus immer häufiger wahrzunehmende Tendenz. Könnte sich schließlich ein Mensch hier von allem Interesse lossagen, so würde er, in radikaler Skepsis gegenüber Thesen und Antithesen, »in einem unaufhörlich schwankenden Zustande sein«,59 einem Zustand theoretischer Unentschiedenheit, den er freilich, wie Kant im Chor von vielen meint, allemal suspendieren muss, wenn es zum Tun und Handeln kommt.60 Eine in metaphysischem Dogmatismus, in dogmatischem Empirismus oder unentschiedener Skepsis verfangene, sich selbst gegenüber unkritische Vernunft wird ihren vorgängigen Interessen oder dem Druck der Praxis erliegen und das Ziel einer allseits überzeugenden Auflösung der kosmologischen Fragen verfehlen. Auflösbar nämlich müssen sie sein. Fragen nach empirischen Eigenschaften von Gegenständen mögen fürs Erste oder auf längere Sicht oder gar für uns Menschen immer unbeantwortbar bleiben. Fragen hingegen, die einen durch reine Vernunft gegebenen Gegenstand betreffen, sind, so Kant, grundsätzlich auch durch reine Vernunft beantwortbar. Denn Vernunftgegenstände, das heißt Ideen, sind »ein bloßes Geschöpf der Vernunft«, und Probleme, die allein in Selbstgeschaffenem liegen, müssen auch »aus der Idee allein aufgelöset werden können«.61 Die »schlechthin unbedingte Totalität der Synthesis der Erscheinungen«62 ist ja in transzendental-kritischer Perspektive als Vorstellung allein in unseren und durch unsere Gedanken gegeben, ist als Idee ein bloßes Gedankenprodukt, von dem wir jedoch irrigerweise meinen, es handle sich um etwas, was jenseits unserer Gedanken als Welt oder in der Welt im Ganzen existiert. Wenn wir mit diesem Gedanken in Probleme geraten, dann »dürfen wir nicht die Schuld auf die Sache schieben«, die sich uns angeblich verbirgt bzw. uns verwirrt, sondern müssen den Ursprung in uns selbst, in der Dialektik unseres Denkens suchen.63

59 KrV A 474/B 502. 60 Zur Frage der »Lebbarkeit« radikaler Skepsis vgl. dagegen Vogt, Katja M. 1998; zu Kants Rezeption der Skepsis und seiner skeptischen Methode im Kontext des Antinomienproblems vgl. Santozki, Ulrike 2006, 117–126; ferner auch Marquard, Odo 21999. 61 KrV A 479/B 507. 62 KrV A 481/B 509. 63 KrV A 482/B 510.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 130

08.11.2021 16:20:41

3. Die Welt als Produkt des Geistes

131

Die »schlechthin unbedingte Totalität der Synthesis der Erscheinungen« ist eine Vorstellung, die durch keine empirische Erkenntnis realisierbar ist. Sie ist zur zufriedenstellenden Erklärung irgendeiner Gegebenheit jedoch auch nicht erforderlich; denn »die Erscheinungen verlangen nur erklärt zu werden, soweit ihre Erklärungsbedingungen in der Wahrnehmung gegeben sind«64 oder gegeben werden können. Die Totalitätsvorstellung »Welt« ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung, ist »bloße Idee und Gedankending«.65 Kant erklärt sarkastisch: »Denn euer Gegenstand ist bloß in eurem Gehirne.«66 Nach ihm beruht »die ganze Antinomie der reinen Vernunft« in ihren widerstreitenden Ideen »auf dem dialektischen Argumente: Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben gegeben; nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben, folglich etc.«.67 Was nach Kant an diesem Argument »klar und unzweifelhaft gewiss« ist und durch keinerlei transzendentale Kritik eingeschränkt oder gar aufgehoben werden kann, ist dies, dass »uns eben dadurch ein Regressus in der Reihe der Bedingungen zu demselben aufgegeben sei«.68 Die Weltidee eignet sich nicht als Gegenstand einlösbarer theoretischer Behauptungen; sie hat vielmehr eine forschungspraktische Funktion: Sie dient dazu, unsere empirische Welterforschung unablässig in Gang zu halten und weiterzutreiben. Ein Zweites sollte uns ähnlich klar sein: Wenn wir die Synthesis des Bedingten mit seiner Bedingung rein logisch betrachten und entsprechend der L ­ ogik umstandslos auch unsere Ontologie konstruieren (wie dies die realistisch-­ rationalistische Metaphysik getan hat), dann gilt: Wenn das Bedingte gegeben ist, dann sind auch alle seine Bedingungen gegeben bzw. als gegeben und erfüllt vorausgesetzt. Die formale Logik abstrahiert indessen von aller Epistemologie. Rein logisch und logisch-ontologisch geht es um den Verstand, »welcher die Dinge vorstellt, wie sie sind, ohne darauf zu achten, ob und wie wir zur Erkenntnis derselben gelangen können«.69 Habe ich es dagegen mit Erscheinungen (im transzendentental-idealistischen Sinn) zu tun, so geht es um etwas, was als Erscheinung lediglich im Aktus und durch den Aktus des Wahrnehmens bzw. Wahrgenommenwerdens und Wahrgenommenseins existiert. Und 64 65 66 67 68 69

KrV A 483/B 511 f. KrV A 489/B 518. KrV A 484/B 512. KrV A 497/B 525. KrV A 497/B 526, Hervorh. M. F. KrV A 498/B 526 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 131

08.11.2021 16:20:41

132

V. Kants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen

die Synthesis der Erkenntnis der Bedingung einer Erscheinung und der Bedingung ihrer Bedingung etc. kann nur auf dem Weg eines fortgesetzten empirischen Rückgangs von Bedingung zu Bedingung in der Ebene der Erscheinung erfolgen. Im sukzessiven Erkenntnis-Regressus ist sein synthetisches Objekt nur dadurch gegeben, dass man den Regressus wirklich vollzieht und vollzogen hat. Das besagt aber: Die Welt als (jeweiliger) Inbegriff der Erscheinungen und des Zusammenhangs der Erscheinungen existiert »weder als ein an sich unendliches noch als ein an sich endliches Ganzes. Sie ist nur im empirischen Regressus der Reihe der Erscheinungen, und für sich selbst gar nicht anzutreffen. Daher, wenn diese jederzeit bedingt ist, so ist sie niemals ganz gegeben, und die Welt ist also kein unbedingtes Ganzes, existiert also auch nicht als ein solches, weder mit unendlicher, noch endlicher Größe.«70

In transzendental-kritischer Perspektive entsteht die Antinomie nicht. Wir setzen vielmehr – in der Weltbetrachtung von der »Normalität« der Einstellung des Realismus und der Evidenz formaler Logik verführt – aufgrund einer natürlichen Täuschung der Vernunft im Obersatz die Bedingungen und »ihre Reihe gleichsam unbesehen voraus, wenn etwas als bedingt gegeben ist, weil dieses nichts andres als die logische Forderung ist, vollständige Prämissen zu einem gegebenen Schlusssatze anzunehmen«.71 In der Logik und in einer ganz nach Maßgabe der Logik (und eines unbefragten epistemischen Realismus) kon­ struierten Ontologie spielen die Zeitordnung, der epistemologische Begriff der Sukzession und der Art der Gegebenheit von etwas keine Rolle. Der dialektische Schein der Antinomie entsteht nach Kant also dadurch, »dass man die Idee der absoluten Totalität, welche nur als eine Bedingung der Dinge an sich selbst gilt, auf Erscheinungen angewandt hat, die nur in der Vorstellung und, wenn sie eine Reihe ausmachen, im sukzessiven Regressus, sonst aber gar nicht existieren«.72 Ist der Grund dieser natürlichen, in Common sense und Logik verwurzelten Täuschung einmal erkannt, dann leuchtet nach Kant auch die positive Funktion der kosmologischen Idee der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten ein: nämlich ihre regulative Funktion als 70 KrV A 505/B 533. 71 KrV A 500/B 528. 72 KrV A 506/B 534.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 132

08.11.2021 16:20:41

4. Über die transzendentale Idee einer Kausalität aus Freiheit

133

»Grundsatz der größtmöglichen Fortsetzung und Erweiterung der Erfahrung, nach welchem keine empirische Grenze für absolute Grenze gelten muss, also ein Principium der Vernunft, welches, als Regel, postuliert, was von uns im R ­ egressus geschehen soll, und nicht antizipiert, was im Objekte vor allem ­Regressus an sich gegeben ist«.73

Kurz gesagt: Als regulatives Prinzip gebietet der kosmologische Grundsatz uns Menschen als Sinnen- und Verstandeswesen »den größtmöglichen Verstandesgebrauch in der Erfahrung«74 und erlaubt uns niemals, hier »bei einem Schlechthin-Unbedingten stehenzubleiben«.75

4. Ü  ber die transzendentale Idee einer Kausalität aus Freiheit Der dritte Widerstreit der Antinomie entspringt dem Gedanken zweier möglicher Formen von Kausalität, der Kausalität nach der Natur und der Kausalität aus Freiheit. Da im Rückgang zu den Bedingungen eines Bedingten nach der Naturkausalität keine absolute Totalität der Bedingungen im K ­ ausalverhältnisse herauszubekommen ist, so schafft sich die Vernunft die Idee von einer Spontaneität, die von selbst anheben könne zu handeln.76 Nach diesem ersten, ganz in der kosmologischen Problematik verankerten Hinweis Kants bringt ein theoretisches Problem, nämlich die Unmöglichkeit der Totalerklärung eines gegebenen Phänomens nach dem Konzept der Naturkausalität, die Vernunft auf die Idee einer Kausalität aus Freiheit. Ein zweiter Hinweis ist anthropologischer Provenienz und ambivalenter als der erste. Wir unterscheiden im Alltag sowohl theoretisch als auch praktisch ganz selbstverständlich tierisches Verhalten von menschlichem Handeln. Vermögensprinzip des Tuns ist hier die Willkür (über die anorganische Dinge und Pflanzen nicht verfügen). Die schulphilosophische Begrifflichkeit, deren sich Kant bedient, spricht bei Tieren in diesem Zusammenhang von einem arbitrium sensitivum et brutum, beim (mündigen) Menschen von einem a­ rbitrium 73 74 75 76

KrV A 509/B 537. KrV A 516/B 544. KrV A 509/B 537. KrV A 533/B 561.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 133

08.11.2021 16:20:41

134

V. Kants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen

sensitivum et liberum. Tierisches Verhalten wird danach durch Bewegursachen der Sinnlichkeit »nezessitiert«, das heißt, es läßt sich nach dem Konzept der Naturkausalität über kausale Wenn-dann-Relationen problemlos erklären. Beim (mündigen) Menschen, der in seinem Verhalten seinen Verstand gebraucht, liegen die Dinge etwas anders. »Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil die Sinnlichkeit ihre Handlung nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen.«77

Kant spricht hier von Selbstbestimmung und von »Freiheit nur im praktischen Verstande«;78 er will sie allerdings vom Gedanken transzendentaler Freiheit genau unterschieden wissen.79 Er bringt mit der »Freiheit nur im praktischen Verstande« eine schlichte anthropologische Erfahrung zum Ausdruck: die Tatsache, dass wir Menschen nicht unmittelbar und unausweichlich über Instinkte, frühe Prägungen und thesaurierte Sinneserfahrung durch empfindungsbesetzte Wahrnehmungen in unserem Verhalten bestimmt werden wie die übrigen Tiere, sondern ein Vermögen haben, »durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entfernte(re) Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehren zu überwinden«.80 Derartige im Rahmen einer Sprach- und Handlungsgemeinschaft erfahrbare Freiheit, nämlich die des praktischen Überlegens, des Sichentschließens, des Handelns nach Gründen, die des unentschlossenen Zögerns, des Starkbleibens (und Schwachwerdens) etc., all diese Freiheitsphänomene sind Äußerungen unserer »Freiheit nur im praktischen Verstande«, die zur evidenten menschlichen Lebens- und Erfahrungwirklichkeit gehören. Die Freiheit der Kontrolle unmittelbarer Antriebe, deren Gebrauch wir Menschen (mit der Sprache) lernen müssen, und die nicht alle Menschen unter allen Lebensumständen besitzen, die Fähigkeit, nach Gründen und allgemeinen Gesichtspunkten seine Willkür zum Handeln zu bestimmen, diese »praktische« Freiheit des Menschen erkennen wir, so Kant, »durch Erfahrung, als eine von den Naturursachen, nämlich eine Kausali77 78 79 80

KrV A 534/B 562. KrV A 801/B 829. KrV A 803/B 831. KrV A 802/B 830.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 134

08.11.2021 16:20:41

4. Über die transzendentale Idee einer Kausalität aus Freiheit

135

tät der Vernunft in Bestimmung des Willens«,81 die wir (als für den sprachfähigen Menschen spezifische Naturkausalität) bei der Erklärung menschlichen Verhaltens ganz selbstverständlich ins Spiel bringen. Nun ist die durch Erfahrung erkannte praktische Freiheit kein eindeutiges Phänomen. Es kommt darauf an, worauf sie zielt und welchem Gesetz sie letztlich folgt. Sie kann naturalistisch oder nichtnaturalistisch verstanden werden. Kant spricht hier denn auch von ihr als »einer von den Naturursachen«, weil sie der Natur des Menschen als eines animal rationale entspringt und, wie alles im Bereich der Erfahrung Gegebene, in ihren Wirkungen unter Regeln gefasst werden kann. Die causae impulsivae, die die Willkür zum Wirken bestimmen, können naturale Bedürfnisse und stimuli (Bewegursachen, Antriebe) oder (wie nur beim Menschen) sprachlich vermittelte Motive (Bewegungsgründe) sein. Und die Motive mögen unmittelbar oder aufgrund von Überlegung handlungswirksam werden. Die Frage ist, ob letztlich alle unsere Motive und die Art, wie wir sie bilden, wie wir mit ihnen umgehen und durch sie handeln, nicht ihrerseits durch (vielleicht uns bislang und bis auf weiteres oder gar für immer undurchsichtige) Vorgaben der Natur bestimmt sind; in Kants Worten: ob »die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernter(er) wirkender Ursachen nicht wiederum Natur sein möge«.82

Ein dezidierter Naturalist wird und muss diese Frage bejahen. Er wird auch die Möglichkeit transzendentaler Freiheit bestreiten, nämlich die Wahrheit des Gedankens, dass »in unserer Willkür eine Kausalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluss etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen«.83 Denn »transzendentale Freiheit [fordert] eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Kausalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt«.84 Mit menschlicher Vernunft, die uns 81 82 83 84

KrV A 803/B 831, Hervorh. M. F. KrV A 803/B 831. KrV A 534/B 562. KrV A 803/B 831, Hervorh. M. F.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 135

08.11.2021 16:20:41

136

V. Kants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen

nicht auf die Gegenwart fixiert, die konkrete Alternativen bedenkt, die, wenn auch vage und unbestimmt, uns den Horizont des Ganzen unseres Lebens eröffnet, und uns sehen lehrt, »was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert, d. i. gut und nützlich ist«,85 verbinden wir fraglos die praktische Fähigkeit freier Entscheidung und mit ihr die Fähigkeit, »eine Reihe von Erscheinungen selbst anzufangen«. Fraglich ist (und bleibt) in rein theoretischer Hinsicht dagegen, ob wir mit ihr die Fähigkeit besitzen, eine Reihe von Erscheinungen »ganz von selbst« anzufangen. Sie und nur sie würde der Idee transzendentaler Freiheit entsprechen. Sie hätte freilich in der Ordnung der Natur bzw. der Erfahrungswelt (als Inbegriff empirisch-kausal zusammenhängender Erscheinungen) keinen Platz. Sie müsste allerdings in Anspruch nehmen, wer moralische Gesetze nichtnaturalistisch als »Produkte der reinen Vernunft« versteht, als »reine praktische Gesetze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist, und die nicht empirisch bedingt, sondern schlechthin gebieten«.86 Wer den Vernunftanspruch der Moralität so versteht, muss mit ihm auch den anthropologischen Gedanken eines Subjekts verbinden, das zur zeitlosen Ordnung praktischer Vernunftideen in einem zeitlosen bzw. jederzeit unmittelbaren Verhältnis möglicher Befolgung steht, und das in die Erscheinungswelt wirkt, ja das in der Erscheinungswelt als eine substantia phaenomenon und damit als ein empirisches Kraftzentrum neben anderen fungiert, doch in der Bestimmung seiner Willkür zur Wirksamkeit ihrer Kräfte nicht durch ihm natural vorgegebene Faktoren, wie auch immer vermittelt, »nezessitiert« wird.

5. Naturkausalität und transzendentale ­Freiheitskausalität als Betrachtungsweisen Der Schlüssel zur Lösung der Antinomie zwischen dem Gedanken möglicher Erstursächlichkeit bezüglich der Entstehung der Welt bzw. bestimmter Phänomene in der Welt und dem Gedanken universal gültiger Naturkausalität liegt für Kant in der transzendental-idealistischen Unterscheidung von phänomenaler und noumenaler Dimension der Wirklichkeit. Die Frage, wie es zu denken sei, dass in den Geschehnissen unserer Erfahrungswelt möglicherwei85 KrV A 802/B 830. 86 KrV A 800/B 828.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 136

08.11.2021 16:20:41

5. Naturkausalität und transzendentale ­Freiheitskausalität als Betrachtungsweisen

137

se Naturkausalität und Freiheitskausalität zusammenspielen,87 zentriert sich dann auf die Frage, »ob es ein richtig disjunktiver Satz sei, dass eine jede Wirkung in der Welt entweder aus Natur oder aus Freiheit entspringen müsse, oder ob nicht vielmehr beides in verschiedener Beziehung zugleich stattfinden könne«.88 Die Schwierigkeit eines adäquaten Verständnisses von Kants Beantwortung der Frage ergibt sich wesentlich daraus, dass seine Formulierung primär eine Aussage über den modus essendi einer Wirkung (als Natur oder Freiheitsprodukt) nahelegt, während für ihn in Wahrheit primär der modus cognoscendi zur Debatte steht: Ob eine jede Wirkung in der Welt entweder aus Natur oder aus Freiheit entsprungen gedacht werden müsse. Kants Antwort auf diese Frage geht dahin, dass beides in verschiedener Beziehung zugleich stattfinden, das heißt, dass ein und dieselbe Wirkung in der Welt (der Erscheinung) möglicherweise sowohl als Wirkung nach der Kausalität der Natur als auch als Wirkung nach der Kausalität aus Freiheit angesehen werden könne. Die Verwendung des Konzepts der einen Art von Kausalität betrifft dann lediglich die Erscheinungen, die bloßen wahrnehmungsgestützten Vorstellungen von etwas, insofern sie in der Reihe der Erscheinungen nach empirischen Gesetzen zusammenhängen. Die Verwendung der anderen betrifft den noumenalen Grund der Erscheinungen, den transzendentalen Gegenstand, der als »intelligible Ursache« nicht durch Erscheinungen bestimmt ist, »obzwar ihre Wirkungen erscheinen, und sie durch andere Erscheinungen bestimmt werden können«.89 So mag es ein Wesen geben, das zwar auch Erscheinung und Gegenstand der Wahrnehmung ist, an sich selbst aber ein Vermögen besitzt, das nicht sinnlich fassbar ist, durch das es gleichwohl Erscheinungen bewirkt, so dass wir »die Kausalität dieses Wesens auf zwei Seiten betrachten, als intelligibel nach ihrer Handlung als eines Dinges an sich selbst, und als sensibel nach den Wirkungen derselben als einer Erscheinung in der Sinnenwelt«.90 Entsprechend würden wir uns einen empirischen und einen intellektuellen Begriff von der Kausalität dieses Wesens machen und beide Begriffe in Bezug auf ein und dieselbe Wirkung (als Erscheinung) verwenden können.

87 88 89 90

Vgl. dazu v. a. Schmucker, Josef 1990. KrV A 536/B 564. KrV A 537/B 565. KrV A 538/B 566.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 137

08.11.2021 16:20:41

138

V. Kants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen

Eine Gleichförmigkeit der Abfolge von verschiedenartigen Phänomenen ist Voraussetzung dafür, dass wir nicht nur sagen können, etwas folge auf etwas, sondern etwas erfolge aus etwas. Eine Gleichförmigkeit im Erscheinenden ist also Voraussetzung dafür, etwas als Wirkung einer Ursache zu betrachten. Kausalität ist demnach ein Erwirken von etwas nach Regeln bzw. Gesetzen. Ohne Regularität des Wirkens bzw. der Äußerungen kann man keine Wirkung einem Träger, einer »Ursache«, einem Subjekt des Wirkens zuordnen. Entsprechend der Unterscheidung von empirisch bestimmbarer und intelligibler Kausalität eines Wesens muss diesem Wesen deshalb in dispositionaler Hinsicht ein empirischer ebenso wie ein intelligibler Charakter zukommen. Denn von »Charakter« sprechen wir im Blick auf feste Dispositionen des Verhaltens, des bestimmten Wirkens eines Gegenstandes unter bestimmten gegebenen Bedingungen bzw. Umständen. Das Verhältnis von empirischem und intelligiblem Charakter entspricht dem von empirischem und transzendentalem Subjekt. Dabei ist das Verhältnis beider so zu denken, dass sich der transzendentale Gegenstand in dem, was er – für uns erkennbar – ist, als Erscheinung in Raum und Zeit erkennbar darstellt. Kant spricht davon, der empirische Charakter sei »das sinnliche Schema«,91 »das sinnliche Zeichen«92 des intelligiblen. Der intelligible Charakter müsse deshalb dem »empirischen Charakter gemäß gedacht werden«,93 sei dieser doch »die Erscheinung des intelligiblen«,94 und der intelligible »die transzendentale Ursache von jenem«.95 Der empirische Charakter eines Menschen (seine Sinnesart) ist durch seinen intelligiblen Charakter (seine Denkungsart) bestimmt: »Die letztere kennen wir aber nicht, sondern bezeichnen sie durch Erscheinungen, welche eigentlich nur die Sinnesart (empirischen Charakter) unmittelbar zu erkennen geben.«96 Sinnliches Schema, Zeichen, Erscheinung eines intelligiblen Charakters meint Ausgangs-, Anhalts- und Bezugspunkt einer Reflexion, die vom Erfahrbaren zum intelligiblen Grund hindenkt, ohne diesen epistemisch klar, präzise und eindeutig fassen zu können. Erkennen können wir nur den manifesten, den empirischen Charakter eines Menschen, »welcher nichts anderes ist 91 92 93 94 95 96

KrV A 553/B 581. KrV A 546/B 574. KrV A 540/B 568. KrV A 541/B 569. KrV A 546/B 574. KrV A 551/B 579.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 138

08.11.2021 16:20:41

5. Naturkausalität und transzendentale ­Freiheitskausalität als Betrachtungsweisen

139

als eine gewisse Kausalität seiner Vernunft, sofern diese an ihren Wirkungen in der Erscheinung eine Regel zeigt, darnach man die Vernunftgründe und die Handlungen derselben nach ihrer Art und ihren Graden abnehmen und die subjektiven Prinzipien seiner Willkür beurteilen kann«.97 Dieser unser empirischer Charakter, komplexes Ergebnis einer Natur-, Sozialisations- und (Selbst-)Bildungsgeschichte, ist nur Schema und Zeichen, nicht aber ein Abbild des intelligiblen Charakters. »Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.«98

Gleichwohl unterstellen wir, wenn und insofern wir jemanden für seine Tat zur Verantwortung ziehen und (im moralischen Sinn) tadeln, diesen Jemand (für die Zeit seiner Mündigkeit) als ein den Natur- und Zeitbedingungen enthobenes, als solches unbegreifliches, doch im transzendentalen Sinn freies Subjekt; so dass wir seine Tat »als gänzlich unbedingt in Ansehung des vorigen Zustandes ansehen, als ob der Täter damit eine Reihe von Folgen ganz von selbst anhebe. Dieser Tadel gründet sich auf ein Gesetz der Vernunft, wobei man diese als eine Ursache ansieht, welche das Verhalten des Menschen unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen anders habe bestimmen können und sollen. Und zwar sieht man die Kausalität der Vernunft nicht etwa bloß wie Konkurrenz, sondern an sich selbst als vollständig an, wenngleich die sinnlichen Triebfedern gar nicht dafür, sondern wohl gar dawider wären.«99

Verstehen wir Kants Lösung des dritten Widerstreits der Antinomie, nun ganz auf den Menschen und sein Verhalten bezogen, im Sinne zweier regulativer Ideen, die widerspruchsfrei auf ein und dasselbe Phänomen referieren können, 97 KrV A 549/B 577. 98 KrV A 551/B 579 Anm. 99 KrV A 555/B 583.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 139

08.11.2021 16:20:41

140

V. Kants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen

so ergibt sich folgendes Bild: Wenn wir in theoretischer Absicht den Menschen und sein Tun beobachten und erklären wollen, dann besteht, wie für alle Welterfahrung, die Aufgabe darin, unter dem leitenden, für eine einheitliche theoretische Welterfahrung konstitutiven Grundsatz der Naturkausalität die Ursachen für alles Geschehen in empirischen Zustands- und Verlaufsgesetzen und empirisch eruierbaren Randbedingungen zu suchen. Das Tun des Menschen hat danach den »prädeterminierten« Charakter eines konsequenten Resultats aus Vorgängigem. Der Gedanke an transzendentale Freiheit ist hier fehl am Platz. Menschliche Handlungen gehören, empirisch-szientifisch gesehen, als phänomenale Vorkommnisse in eine Ursachenkette, »als ob [sie] an sich unendlich wäre […]«.100 Geht es dagegen um die sittliche Beurteilung des Tuns, dann besteht die Aufgabe darin, das empirisch fassbare Tun auf reine, zeit­ lose Vernunftideen zu beziehen und ein Subjekt zu unterstellen, das unabhängig von seinem unter Zeitbedingungen stehenden, durch Natur, Gesellschaft und Geschichte geprägten empirischen Charakter die Möglichkeit spontaner Selbstbestimmung und Wirkabsicht im Sinne des Gesollten besitzt.101 Hier ist die Handlung so zu betrachten, »als ob [sie] schlechthin (durch eine intelligible Ursache) angefangen würde«.102 Theoretisch wird diese doppelte Betrachtungsweise möglich durch den Gedanken zweier möglicher Formen von Kausalität, die auf ein und denselben Gegenstand als Erscheinung zutreffen, der einen Form, die nur auf der Ebene des Phänomenalen spielt, und in der das Auftreten einer Erscheinung als Akt dieses Gegenstandes empirisch-gesetzliches Ergebnis voraufgehender Erscheinungen ist, der anderen Form, in der eine Erscheinung als raum-zeitlich situierte Äußerung eines zu denkenden, aber für uns letztlich unerkennbaren Grundes der Erscheinung zu verstehen ist, eines Grundes, der in unmittelbarer theoretischer und praktischer Beziehung zu Ideen bzw. Vernunftgesetzen steht. Dieses ganz andersartige, nichtzeitliche kausale Verhältnis des noumenalen Grundes eines Objekts zu seiner raumzeitlichen Erscheinung und Äußerung im Sinne transzendentaler Freiheit zu deuten, legt sich allerdings nur beim Menschen nahe:

100 KrV B 713. 101 Vgl. dazu Heimsoeth, Heinz 1967, 342 f. 102 KrV B 713; vgl. Bojanowski, Jochen 2006, 183.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 140

08.11.2021 16:20:41

5. Naturkausalität und transzendentale ­Freiheitskausalität als Betrachtungsweisen

141

»Wir bemerken denselben [sc. den empirischen Charakter, M. F.] durch Kräfte und Vermögen, die er [sc. der Mensch, M. F.] in seinen Wirkungen äußert. Bei der leblosen oder bloß tierisch belebten Natur finden wir keinen Grund, irgendein Vermögen uns anders als bloß sinnlich bedingt zu denken. Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich eines Teils Phänomen, andern Teils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibeler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann. Wir nennen dieses Vermögen Verstand und Vernunft; vornehmlich wird Letztere ganz eigentlich und vorzüglicherweise von allen empirisch bedingten Kräften unterschieden, da sie ihre Gegenstände bloß nach Ideen erwägt und den Verstand darnach bestimmt, der dann von seinen (zwar auch reinen) Begriffen einen empirischen Gebrauch macht.«103

Das propositionale Selbstverhältnis, das Bewusstsein seiner selbst als eines Wesens, das als ein und dasselbe all seine Vorstellungen denkend begleiten kann, als eines Wesens, das sich in diesem Denken als spontan tätiges Wesen erfasst und sich zur Beurteilung von Sachverhalten auf ideale Ziele und Normen bezieht, all dieses ist Anhalt genug, im Menschen im Unterschied zum Tier einen Kandidaten für transzendentale Freiheit zu sehen. Allerdings ist mit dem Wissen um sich selbst als eines Verstandes- und Vernunftwesens keine veritable Erkenntnis über die substantielle Beschaffenheit dieses Selbst, dieses »bloß intelligiblen Gegenstandes« verbunden.104 Die mit Gewissheit erfassbaren Funktionen von Verstand und Vernunft sind rein formaler Natur. Ob menschliches Verstandes- und Vernunftvermögen bei aller Spontaneitätsgewissheit und bei allem »Erwägen ihrer Gegenstände bloß nach Ideen« nicht doch unausweichlich von einer höheren Macht bestimmt wird oder gar lediglich das Geschäft der Natur betreibt, bleibt theoretisch eine offene Frage. Allerdings weist Kant bereits in der KrV den Weg zu einer Beantwortung dieser theoretisch noch offenen Frage,105 nämlich über die Evi103 KrV A 546 f./B 574. 104 Vgl. KrV A 338/B 396; A 405/B 432. 105 Vgl. etwa KrV A 555/B 583.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 141

08.11.2021 16:20:41

142

V. Kants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen

denz des Bewusstseins, auf unbedingte Weise moralisch verpflichtet zu sein. Erst auf ihrer Basis können, ja müssen wir unserer Vernunft das Vermögen zu wahrer praktischer Autonomie und eine zu allen Naturkräften völlig heterogene Kraft zuschreiben, in die Natur und ihr Kräftespiel nach reinen Vernunftgesichtspunkten hineinzuwirken und damit Reihen von Erscheinungen »ganz von selbst anzufangen«.

6. Die Lösung des Determinismusproblems Die theoretische Perspektive ist die der Naturwissenschaft; sie ist als solche in ihrem Bereich »autonom«. Ihre methodische Leitvorstellung ist, wie auch immer im Einzelnen einlösbar, die eines naturkausalen Determinismus. Vieles von dem, was Kant in der Auflösung des dritten Widerstreits zum empirischen Charakter sagt, klingt deterministisch, weil in primär theoretischer Einstellung gesagt. Dabei gilt es allerdings, das für den Begriff der Natur überhaupt kon­ stitutive Kausalprinzip, das Kant in der Zweiten Analogie der Erfahrung formuliert, von den empirischen Kausalgesetzen, und diese wiederum vom Gedanken eines geschlossenen Systems aller empirischen Kausalgesetze zu unterscheiden. Letzteren Gedanken führt Kant explizit erst in der Kritik der Urteilskraft aus. Mit diesem und nur mit diesem ist der Gedanke eines universalen naturkausalen Determinismus verbunden, nach dem die besonderen Kausalgesetze eine geschlossene systematische Ordnung ausmachen und jedes Einzelereignis sich mit Notwendigkeit aus dem systematischen Zusammenspiel der Naturkräfte ergibt. Es handelt sich dabei um eine Idee, eine Totalitätsvorstellung, die objektiv-realistisch verstanden den Gedanken der Natur als Werk einer höchsten Vernunft voraussetzt106 und historisch gesehen in der pantheistischen Naturphilosophie der Stoa ihre Quelle hat.107 Dieser Gedanke läßt sich in trans­ zendentaler Reflexion nur in einem Als-ob-Sinn der Betrachtung108 und als

106 Vgl. KdU V, 180. 107 Vgl. dazu Forschner, Maximilian 2018, 93–161. 108 Dahingehend, dass »die besonderen empirischen Gesetze […] nach einer solchen Einheit betrachtet werden müssen, als ob […] ein Verstand (wenngleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte« (KdU V, 180).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 142

08.11.2021 16:20:41

6. Die Lösung des Determinismusproblems

143

methodischer Fluchtpunkt einer Maxime unablässiger, auf Vollständigkeit der Erklärung bedachter, systematisierender empirischer Forschung rechtfertigen. Im Rahmen des Gedankens einer das Einzelne aus der (für uns Menschen hyperbolischen) Totalitätsperspektive bestimmenden Urteilskraft steht der (häufig missverstandene) Satz: »[S]o sind alle Handlungen des Menschen in der Erscheinung aus seinem empirischen Charakter und den mitwirkenden Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt; und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erforschen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewissheit vorhersagen und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als notwendig erkennen könnten. In Ansehung dieses empirischen Charakters gibt es keine Freiheit.«109

In moralisch-praktischer Perspektive kann die Erscheinungswirklichkeit dagegen nicht als vorgängig deterministisch bestimmt unterstellt werden. Besondere Wirkungen, nämlich Handlungen von Menschen, müssen hier der Möglichkeit nach auf transzendentale Freiheit bezogen und damit als Wirkungen auf der Erscheinungsebene so betrachtet werden können, dass sie nicht notwendiges Resultat von empirischen Antezedensdaten und bestimmten Naturgesetzen sind, sondern Ausdruck der Fähigkeit des Subjekts, eine Reihe von Erscheinungen ganz von selbst zu beginnen, obgleich sie als Wirkungen in Raum und Zeit im Rahmen der Naturgesetzlichkeit geschehen, die die Vernunft aber im Sinn ihrer »eigene[n] Ordnung nach Ideen« in dieses Geschehen »hineinpasst«.110 Das Naturgeschehen muss dann natürlich so gedacht werden, dass es Spielräume enthält, in die die Vernunft einer Person ihre Wirkungen »hineinpassen« kann. Wie Kant sich das gedacht hat, mögen signifikante Reflexionen aus der Zeit der Niederschrift der KrV belegen: »Nun sind die Handlungen durch Sinnlichkeit großenteils veranlasst, aber nicht gänzlich bestimmt; denn die Vernunft muss ein Komplement der Zulänglichkeit geben. Die Vernunft zieht die Sinnlichkeit allmählich im Habitus, erregt Trieb-

109 KrV A 549 f./B 577 f. 110 Vgl. KrV A 548/B 576.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 143

08.11.2021 16:20:41

144

V. Kants Weg zur Theorie der Freiheit: Die Antinomie der dynamischen Ideen

federn und bildet daher einen Charakter, der aber selbst der Freiheit beizumessen ist und selbst in den Erscheinungen nicht hinreichend gegründet.«111 »[Es] ist bei frei handelnden Wesen ein beständiger Einfluss intellektueller Gründe, da das Gegenteil der Erscheinung möglich ist. Aber die Handlung oder ihr Gegenteil wird so unter den Erscheinungen gegründet sein, dass nur das Moment der Bestimmung intellektuell ist. Dieses aber kann in der empirischen Erklärung nicht gebraucht werden, weil es nicht wahrgenommen wird. Denn von dem Intellektuellen bis zur bestimmten Handlung ist eine unendliche Zwischenreihe von Triebfedern, deren Zusammenhang mit dem gegebenen Zustande nur nach allgemeinen Gesetzen der Möglichkeit kann erkannt werden.«112 »Die Schwierigkeit wegen der Freiheit ist: wie eine (schlechthin) erste Handlung möglich sei, die nicht durch eine vorhergehende determiniert ist. Denn das Letztere wird zur Einheit der Erscheinungen erfordert, sofern sie eine Erfahrungsregel geben soll. Wenn wir aber die Vernunfthandlungen nicht unter die Erscheinungen zählen (Vernunftprinzip) und die Bestimmung durch dieselbe zur Handlung vermittelst der Triebfedern nach Gesetzen der Sinnlichkeit (­Assoziation, Gewohnheit): so ist alles qvoad sensum notwendig und kann nach Gesetzen der Erscheinung erklärt werden. Es kann aber nicht vorherbestimmt werden, weil die Vernunft ein principium ist, welches nicht erscheint, also nicht unter den Erscheinungen gegeben ist. Daher können die Ursachen und deren Beziehung auf Handlung nach Gesetzen der Sinnlichkeit a posteriori wohl erkannt werden, die Bestimmung derselben zum actu aber nicht. Dieser Zusammenhang der Handlungen nach Gesetzen der Erscheinung ohne Bestimmtheit durch dieselbe ist eine notwendige Voraussetzung praktischer Regeln der Vernunft, welche an sich selbst die Ursache einer Regelmäßigkeit der Erscheinungen sind, weil sie nur vermittelst der Sinnlichkeit zu Handlungen übergehen. In den Erscheinungen ist kein hiatus vor dem Verstand, aber diese lassen sich a priori, d. i. vom absolut Ersten an, auch nicht bestimmen.«113

111 AA XVIII, R. 5611, S. 252. 112 AA XVIII, R. 5616, S. 255. 113 AA XVIII, R. 5619, S. 267 f. Hervorh. M. F.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 144

08.11.2021 16:20:41

7. Die Auflösung des vierten Widerstreits der Antinomie

145

7. D  ie Auflösung des vierten Widerstreits der Antinomie Die Auflösung des vierten Widerstreits der Antinomie ist im Vergleich zum Abschnitt über die Auflösung des dritten von asketischer Kürze. Diese ist möglich auch aufgrund des in der Auflösung des dritten bereits Geleisteten. Der vierte Widersstreit handelt von der Abhängigkeit alles Veränderlichen im Dasein, von der nachweislichen Reihe von Abhängigkeiten und dem vertretenen und negierten Gedanken eines ens necessarium als dynamischem Anfangs- und Ursprungsglied dieser Reihe. Die den Widerstreit auflösende Antwort Kants lautet: Auf der Ebene der Erscheinungen, auf der wir uns objektiv-erkennend bewegen, begegnen wir nur abhängigem und damit (ontologisch) zufälligem Dasein. Der empirisch bestimmbare gesetzliche Zusammenhang von Abhängigem drückt hier immer nur hypothetische Notwendigkeit aus. Und im Regressus vom Bedingten zu den Bedingungen führt kein Weg zu Unbedingtem. Das Verlangen der Vernunft nach einer Totalität der Reihe kann hier nur in ein Postulat endlosen Forschens nach weiteren Daseinsbedingungen eines Bedingten umgemünzt werden. Gleichwohl erlaubt uns die Unterscheidung zwischen phänomenaler und noumenaler Wirklichkeitsebene, die noumenale als Grund der phänomenalen zu denken und in der noumenalen ein ens necessarium als Daseinsgrund des ontologisch Kontingenten anzunehmen. Diese Annahme ist jedoch ein Gedanke, dessen Wahrheit möglich, aber auf der Erscheinungsebene als objektive Erkenntnis nicht einlösbar ist. Dass alles, was sich als Daseiendes zeigt, in seinem Dasein durch anderes bedingt und damit kontingent ist, das wissen wir. Der Gedanke der Möglichkeit der Abhängigkeit alles Kontingenten von einem ens necessarium et originarium gibt indessen Anlass zur Reflexion; Anlass nämlich für die reflektierende Urteilskraft, anhand bestimmter Erscheinungen, die wir als schön, als zweckmäßig oder erhaben erfahren, darüber nachzudenken, ob sie nicht vom Dasein eines ens necessarium Anzeige geben.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 145

08.11.2021 16:20:41

VI. K  ants kritisches ­Freiheitsverständnis »Der Begriff der Freiheit ist ein reiner Vernunftbegriff, der eben darum für die theoretische Philosophie transzendent, d. i. ein solcher ist, dem kein angemessenes Beispiel in irgendeiner möglichen Erfahrung gegeben werden kann, welcher also keinen Gegenstand einer uns möglichen theoretischen Erkenntnis ausmacht und schlechterdings nicht für ein konstitutives, sondern lediglich als regulatives und zwar nur bloß negatives Prinzip der spekulativen Vernunft gelten kann, im praktischen Gebrauch derselben aber seine Realität durch praktische Grundsätze beweiset, die als Gesetze eine Kausalität der reinen Vernunft, unabhängig von allen empirischen Bedingungen (dem Sinnlichen überhaupt) die Willkür zu bestimmen, und einen reinen Willen in uns beweisen, in welchem die sittlichen Begriffe und Gesetze ihren Ursprung haben.« Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung, VI, 221

1. F reiheit als Ausgangs- und Schlusspunkt der kritischen Philosophie Kant formuliert in einer unscheinbaren Anmerkung der späten Religionsschrift1 das gravierendste Problem einer bruchlosen Verbindung seiner theoretischen Metaphysik (der Erfahrungserkenntnis) mit seiner praktischen Metaphysik (den Implikationen unseres sittlichen Bewusstseins). Die eine scheint den strikten Determinismus bzw. Prädeterminismus2 zum unausweichlichen Ergebnis, 1 »[W]ie der Prädeterminism, nach welchem willkürliche Handlungen als Begebenheiten ihre bestimmenden Gründe in der vorhergehenden Zeit haben […], mit der Freiheit, nach welcher die Handlung sowohl als ihr Gegenteil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjekts sein muss, zusammen bestehen könne: das ists, was man einsehen will und nie einsehen wird« (Rel. VI, 49 f. Anm.). 2 Kant spricht nicht von »Determinismus«, sondern von »Prädeterminismus«, weil hier in den Erklärungen der Zeitfaktor eine wesentliche Rolle spielt.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 146

08.11.2021 16:20:41

1. Freiheit als Ausgangs- und Schlusspunkt der kritischen Philosophie

147

die andere die Freiheit menschlicher Willkür zur ehernen Voraussetzung zu haben. In diesem Problem zentriert sich seine Auseinandersetzung mit dem Naturalismus. Es stellt sich dadurch, dass es in verschiedenen Kontexten menschlicher Praxis durchaus als vernünftig gilt, ein und denselben Gegenstand, nämlich »willkürliche Handlungen«, als prädeterminiert und als frei anzusehen. Wir sind geneigt bzw. gehalten, in manchen Einstellungen oder Situationen menschliches Verhalten naturgesetzlich zu erklären. Wir sind geneigt bzw. gehalten, in anderen Einstellungen oder Situationen menschliches Verhalten moralisch oder rechtlich zu beurteilen. Wenn wir es erklären, scheinen wir dies in einer prädeterministischen Perspektive zu tun, wenn wir es beurteilen, scheinen wir zu unterstellen, dass »die Handlung sowohl als ihr Gegenteil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjekts sein muss«.3 Der scheinbare Widerspruch menschlicher Vernunft in der Beantwortung der Prädeterminismusfrage bildet für Kant nach eigenem Bekunden4 den Ausgangspunkt, seine Auflösung den Schlusspunkt der kritischen Philosophie überhaupt. Kant sieht in diesem in Wissenschaft und Philosophie bislang unaufgelösten Widerspruch einen Skandal. Der Skandal betrifft Ansehen und Stellung der Vernunft gegenüber Tendenzen der Skepsis und des Irrationalismus. Er glaubt, diesen Skandal durch eine sorgfältige Überprüfung der Leistungsfähigkeit, der Möglichkeiten und Grenzen unserer Vernunft beheben zu können. Noch nicht in der Kritik der reinen Vernunft, wohl aber bereits in der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft spricht Kant vom glücklichen Abschluss dieses seines Kritik-Unternehmens; spricht er davon, dass nunmehr die Realität des Begriffs der Freiheit »durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist«.5 Doch bereits in der KrV und der GMS ist von der Ver-

3 Rel. VI, 49 f. Anm. 4 In einem Brief an Christian Garve vom 21. September 1798. Kant sieht sich hier veranlasst, falschen Darstellungen seines philosophischen Weges entgegenzutreten: »Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, die Unsterblichkeit etc. ist der Punkt gewesen von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r. V.: ›Die Welt hat einen Anfang –: sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten: Es ist Freiheit im Menschen,  – gegen den: es ist keine Freiheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendigkeit‹; diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb, um das Skandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben« (AA XII, 257). Über den eigenen philosophischen Entwicklungsgang gibt es allerdings auch etwas anders lautende Selbstauskünfte. 5 KpV V, 3 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 147

08.11.2021 16:20:41

148

VI. Kants kritisches ­Freiheitsverständnis

teidigung der Möglichkeit der Freiheit die Rede, ist davon die Rede, dass man den Vertretern des Prädeterminismus und Leugnern der Freiheit zeigen kann, »dass der vermeintlich von ihnen darin entdeckte Widerspruch nirgend anders liege als darin, dass, da sie, um das Naturgesetz in Ansehung menschlicher Handlungen geltend zu machen, den Menschen notwendig als Erscheinung betrachten mussten, und nun, da man von ihnen fordert, dass sie ihn als Intelligenz auch als Ding an sich selbst denken sollten, sie ihn immer auch da noch als Erscheinung betrachten, wo denn freilich die Absonderung seiner Kausalität (d. i. seines Willens) von allen Naturgesetzen der Sinnenwelt in einem und demselben Subjekte im Widerspruch stehen würde, welcher aber wegfällt, wenn sie sich besinnen […], dass hinter den Erscheinungen doch die Sachen an sich selbst (obzwar verborgen) zugrunde liegen, von deren Wirkungsgesetzen man nicht verlangen kann, dass sie mit denen einerlei sein sollten, unter denen ihre Erscheinungen stehen«.6

Der Widerstreit von Freiheit und Prädeterminismus bildet den Anfang, der Nachweis der Möglichkeit und schließlich der Realität unserer (transzendentalen) Freiheit den Abschluss der kritischen Philosophie. Die Frage nach Kants Freiheitsverständnis führt in den Kernbereich seines philosophischen Interesses.

2. Über die verschiedenen Bedeutungen von »Freiheit« Kant spricht von »Freiheit« in unterschiedlicher und wechselnder Bedeutung. Blickt man auf eine größere Menge einschlägiger Texte aus verschiedenen Zeiten, dann glaubt man folgende Unterscheidungen als wesentlich festhalten zu können: Da ist einmal die Spontaneität des Verstandes gegenüber der Rezeptivität der Sinnlichkeit bzw. die »Freiheit zu denken […], ohne welche es keine Vernunft gibt«.7 In Bezug auf die für Erfahrungserkenntnis konstitutiven Gesetze ist, wenngleich selten, von einer Autonomie des Verstandes die Rede.8 6 GMS IV, 459. 7 Ebd., 14. 8 Etwa: »Alle durch Erfahrung erkannte Gesetze gehören zur Heteronomie, die aber, durch welche Erfahrung überhaupt möglich ist, zur Autonomie« (AA XVIII, R. 5608, S. 250).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 148

08.11.2021 16:20:41

3. Freiheit als Spontaneität des Denkens

149

Da ist zum anderen die Freiheit des Willens, ein »Vermögen des denkenden Wesens, seiner jedesmaligen Ideenlage gemäß zu handeln«.9 In Bezug auf sie ist von Autonomie als einer Eigenschaft des Willens die Rede. Quer zu dieser einigermaßen eingängigen und leicht verständlichen Unterscheidung steht eine andere, schwerer verständliche, aber nicht minder wichtige. Kant spricht abwechselnd von transzendentaler bzw. kosmologischer oder spekulativer Freiheit und meint damit ein Vermögen, »eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen«.10 Und er kontrastiert in der KrV diese transzendentale Freiheit der psychologischen Freiheit bzw. der »Freiheit im praktischen Verstande«, worunter er »die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit« verstanden wissen möchte.11 Über die Beziehung von transzendentaler zu praktischer Freiheit scheint Kant sich nun prima facie merkwürdig inkonsistent zu äußern. Die »Aufhebung der transzendentalen Freiheit [würde] zugleich alle praktische Freiheit vertilgen«, so heißt es im Kapitel über die Auflösung der kosmologischen Ideen der KrV.12 »Die Frage wegen der transzendentalen Freiheit betrifft bloß das spekulative Wissen, welche wir als ganz gleichgültig beiseitesetzen können, wenn es um das Praktische zu tun ist«, heißt es in der Methodenlehre der KrV.13 Und in der Rezension von Schulz’s Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre von 1783 lautet der entsprechende Satz: »Der praktische Begriff der Freiheit hat in der Tat mit dem spekulativen, der den Metaphysikern gänzlich überlassen bleibt, gar nichts zu tun.«14 Wie diese Äußerungen zusammenstimmen, diese Frage zu beantworten überlässt Kant in nicht geringem Ausmaß der Schar seiner Interpreten.

3. Freiheit als Spontaneität des Denkens Im weitesten Sinn bedeutet für Kant Freiheit das Vermögen eines Subjekts zu selbstbewusster rationaler Aktivität. Im Denken und Urteilen schreiben wir ganz selbstverständlich das Tun uns selbst als Autoren des Tuns zu. Der Ge9 Recension von Schulz’s Versuch, AA VIII, 13. 10 KrV A 534/B 562. 11 Ebd. 12 KrV A 534/B 562. 13 KrV A 803 f./B 832 f. 14 Ebd. AA VIII, 13.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 149

08.11.2021 16:20:42

150

VI. Kants kritisches ­Freiheitsverständnis

danke wäre, jedenfalls dem common sense entsprechend, völlig abwegig, dass »es« bzw. »die Natur« in uns denkt. Dieser Begriff von Freiheit im Sinne der Autorschaft des Subjekts und der Spontaneität seiner Verstandes- und Vernunftleistung umfasst die Tätigkeit des theoretischen Erkennens, des Bildens von Ideen und des praktischen Überlegens und steht im Gegensatz zu einer Theorie, die menschliches Erkennen und Denken tierischem Erkennen anzugleichen, die Differenz zwischen Sinnlichkeit und Verstand bzw. Vernunft zu nivellieren und alle kognitiven Leistungen über naturale Rezeptions- und Assoziationsmechanismen zu erklären versucht.15 Den »ideologischen« Hintergrund von Kants Ringen um ein adäquates Verständnis menschlicher Freiheit bildet die Auseinandersetzung mit dem Naturalismus, der ihm in Gestalt des zeitgenössischen englischen Empirismus und französischen Materialismus begegnet, und den er, als metaphysisches Konzept, in Analogie zu einer nationalökonomischen Theorie seiner Zeit, mit dem Ausdruck »transzendentale Physiokratie« belegt.16 Der Leitgedanke des Naturalismus besagt damals wie heute, dass das materielle Substrat der Wirklichkeit aus seiner eigenen Dynamik und Gesetzlichkeit heraus alle Dinge hervorbringt, und dass die Prozesse der Welt sämtlich der Naturkausalität unterworfen sind und nach der Gesetzlichkeit eines naturalen Ursachen-Netzes verlaufen.17 Kant war zeitlebens zutiefst davon überzeugt, dass die Weltsicht des Naturalismus letztlich darauf hinausläuft, »den Menschen abzulegen«.18 Die transzendentalphilosophische Erkenntnistheorie im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft geht von der strikten Unterscheidung einer naturkausalen Erklärung von einer geltungs- und begründungstheoretischen Interpretation menschlichen Erkennens aus.19 In unseren Erkenntnisakten, in denen wir Geltungsansprüche erheben, setzen wir deshalb als selbstverständlich voraus,

15 Wie dies einige Vertreter der aktuellen Hirnforschung tun. 16 Vgl. KrV A 449/B 477. 17 Vgl. zum gegenwärtigen Verständnis des Naturalismus: Kanitscheider, Bernulf 2003, 33– 34; ders. 1979; Goebel, Bernd 2003, 23–37. 18 Recension von Schulz’s Versuch, AA VIII, 13. 19 Vgl. AA XIII, R 5441, S. 182: »[D]er Verstand […] ist frei und eine reine Selbsttätigkeit, die durch nichts anderes als sich selbst bestimmt ist. Ohne diese ursprüngliche und unwandelbare Spontaneität würden wir nichts a priori erkennen; denn wir wären zu allem bestimmt, und unsere Gedanken selbst ständen unter empirischen Gesetzen.«

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 150

08.11.2021 16:20:42

3. Freiheit als Spontaneität des Denkens

151

»dass der Verstand nach objektiven Gründen, die jederzeit gültig sind, sein Urteil zu bestimmen das Vermögen habe und nicht unter dem Mechanism der bloß subjektiv bestimmenden Ursachen, die sich in der Folge ändern können, stehe; mithin [nimmt] er immer Freiheit zu denken an, ohne welche es keine Vernunft gibt«.20

Kants Erkenntnistheorie zielt nicht auf eine naturkausale Erklärung menschlichen Erkennens, sondern möchte das vorgängige normative Bedingungsgefüge klären, das erfüllt sein muss, wann immer legitimerweise ein bestimmter epistemischer Geltungsanspruch erhoben wird. Und in Bezug auf die geistigen Vollzüge menschlichen Bewusstseins im Sinne und im Rahmen dieses normativen Bedingungsgefüges ist von der Spontaneität des Denkens im Unterschied zur Rezeptivität der Sinnlichkeit die Rede. Diese Spontaneität des Denkens ist in ihrer Anerkennung und Bindung an zeitlose objektive Kriterien für ihre Geltungsansprüche notwendigerweise als frei gedacht. Doch menschliche Erkenntnisse sind Leistungen empirischer Wesen. Wie ein Mensch generell seiner Natur nach als erkennendes Wesen beschaffen ist, was ein Mensch erfahrungsgemäß diesbezüglich kann und nicht kann, findet deshalb in einer transzendentalen Analyse der Bedingungen möglicher Erkenntnis seine Berücksichtigung und Würdigung. Aber es findet sie aus der Perspektive von Teilnehmern einer gemeinsamen Sprache mit normativen Regeln, in und mit der Gegebenes verstanden, geprüft und beurteilt wird. Kant orientiert sich an jedermann zugänglichen Erfahrungen, die wir mit uns als erkennende Wesen machen, und benützt diese Erfahrungen zur Formulierung des transzendentalen Verständnisses des Bedingungsgefüges menschlicher Erkenntnis. Wir sind uns im begrifflichen Denken, wir sind uns im Urteilen über etwas als fundamentalem Akt begrifflichen Denkens dessen (jedenfalls implizit) bewusst, dass dieser Akt nicht etwas uns Widerfahrendes und mit uns Geschehendes ist, sondern dass es sich um etwas handelt, was wir selbst tun. Begriffliches Denken ist nicht etwas, was sich »dem Menschen durch den Sinn aufdringt«; es handelt sich vielmehr um Verbindungen, um Vorstellungen von Vorstellungen, die er selbst bildet und vollzieht.21 20 Recension von Schulz’s Versuch, AA VIII, 14. 21 KrV B 129 ff.: »[U]nter allen Vorstellungen [ist] die Verbindung die einzige […], die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Aktus seiner Selbsttätigkeit ist« (KrV B 130).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 151

08.11.2021 16:20:42

152

VI. Kants kritisches ­Freiheitsverständnis

Freiheit als Spontaneität des Denkens besagt also: Wir sind uns in sinnlicher Wahrnehmung als erfahrbare und erklärbare Naturwesen vorgegeben. Wir wissen uns (jedenfalls implizit) im Selbstbewusstsein des Denkens, in den Abstraktions- und Synthesisleistungen des begrifflichen Erfassens und Urteilens als spontane, selbsttätige, nicht durch Vorgängiges und Gegebenes bestimmte, sondern uns Vorgängiges und Gegebenes verständlich machende Wesen. Und wir bilden uns als Vernunftwesen »eigenmächtig« Ideen von einer Ordnung der Dinge und unserer Lebenswelt, die nicht der Fall ist, von der wir aber wünschten, dass sie der Fall sei, oder auch fordern, dass sie durch unser Tun verwirklicht werde.

4. Transzendentale und praktische Freiheit 4. 1 Transzendentale Freiheit als mögliche Antwort auf ein zweifaches Problem Freiheit im weitesten Sinn ist für Kant das Vermögen einer Substanz, näherhin eines Subjekts, zu selbstbewusster rationaler Aktivität. Rationale Aktivität umfasst die Tätigkeiten des Erkennens und urteilsbestimmten Handelns. Mit »Freiheit« im engeren Sinn bezieht Kant sich auf eine mögliche Ursache von etwas, »was geschieht«, »was in der Zeit entspringt«, was zuvor nicht war, auf eine mögliche Ursache von »Weltbegebenheiten«. Freiheit im engeren Sinn meint also eine Form, zeitlich fassbare Wirkungen hervorzubringen.22 Kant hat ein eigenartiges Verständnis von Kausalität,23 das einerseits der am handelnden Subjekt orientierten Tradition der Substanzmetaphysik verpflichtet ist, das sich andererseits von David Humes Regularitätsmodell einer bloßen Ereignis- bzw. Zustandsabfolge inspirieren lässt, und das beide Ansätze zu vermitteln trachtet. Ganz im Sinne Humes formuliert Kant, Kausalität nach der Natur sei »die Verknüpfung eines Zustands mit einem vorigen in der Sinnenwelt, worauf jener nach einer Regel folgt«,24 und interpretiert sie als Be22 Vgl. KrV A 532/B 560. 23 Vgl. dazu Willaschek, Marcus 1992, 34–40; ferner Forschner, Maximilian 1974, 163–179. 24 KrV A 532/B 560.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 152

08.11.2021 16:20:42

4. Transzendentale und praktische Freiheit

153

dingungsverhältnis der Abfolge von verschiedenen Zuständen nach Gesetzen. Ganz im Sinne der Tradition lautet dagegen der systematisch bedeutsame Satz: »Diese Kausalität führt auf den Begriff der Handlung, diese auf den Begriff der Kraft, und dadurch auf den Begriff der Substanz.«25 Kant denkt Substanz als einheitlichen Träger eines Kräftepotentials, das sich in den verschiedenen Attributen äußert.26 Das Wirken einer in äußerer Erfahrung gegebenen Substanz denken wir nach Kant in Analogie zu uns selbst und unseren eigenen Handlungen, mit denen wir durch unsere Vermögen und Kräfte in der Welt etwas bewirken.27 Erfahrbar sind für uns immer nur »Äußerungen« und »Wirkungen« einer inneren, nur gedachten »Potenz« der Sub­ stanz im Beharren, der Abfolge und den Wirkungen der sinnlich zugänglichen Akzidentien. »Was ihr innerlich zukomme, suche ich in allen Teilen des Raumes, den sie einnimmt, und in allen Wirkungen, die sie ausübt, und die freilich immer nur Erscheinungen äußerer Sinne sein können.«28 Durch Erfahrung in kausaler Erklärung erkennbar ist immer nur etwas, das über Ereigniskausalität nach Sukzessionsgesetzen miteinander verbunden ist. Kraft ist »die Kausalität einer Substanz«,29 die phänomenal »sich als Wirkung hervortut«.30 Von Wirkungen sprechen wir in Bezug auf Veränderungen. Änderungen von Attributen sind Wirkungen, die von Kräften von Substanzen hervorgebracht werden; näherhin so, dass die Kräfte von Substanzen auf an­ dere Substanzen einwirkten und dadurch eine Änderung ihrer Eigenschaften und Relationen hervorrufen. Mit »Handlung« bezeichnet Kant ganz generell nichts anderes als dies, dass eine Substanz eine Wirkung hervorbringt. Und die Handlung einer Sub­ stanz erfolgt auf der Basis eines Vermögens, das durch einen »Bestimmungsgrund« zum Wirken gebracht wird. Und Kant bezeichnet sowohl die Substanz, die ­etwas bewirkt, als auch den Bestimmungsgrund, der das Vermögen einer ­Substanz zum Wirken bringt, als Ursache.

25 KrV A 204/B 249. 26 Zu Kants Begriff der Substanz vgl. Hahmann, Andree 2009. 27 Vgl. AA XVII, R. 4412, S. 537: »[D]ies Verhältnis der Ursache ziehen wir aus unseren eignen Handlungen und applizieren es auf das, was beständig in den Erscheinungen äußerer Dinge ist.« 28 KrV A 277 f./B 333 f. 29 KrV A 648/B 676. 30 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 153

08.11.2021 16:20:42

154

VI. Kants kritisches ­Freiheitsverständnis

In Bezug auf Wirkungen als »Weltbegebenheiten« hält Kant nun, wie bereits gezeigt, im Sinne einer vollständigen Disjunktion, »zweierlei Kausalität« für denkbar, »entweder nach der Natur, oder aus Freiheit«.31 Dabei ist Kausalität nach der Natur als Ereigniskausalität und Kausalität aus Freiheit nach dem Modell der Substanzkausalität bzw. der Akteurskausalität gedacht. Kausalität nach der Natur »ist die Verknüpfung eines Zustands mit einem vorigen in der Sinnenwelt, worauf jener nach einer Regel folgt«.32 Gemeint ist eine als regulär bzw. gesetzlich unterstellte Abfolge von Erscheinungen. Ursache und Wirkung spielen hier auf derselben Ebene: der Welt, die uns über die Sinne zugänglich ist. Die Regel, die eine bestimmte Ursache mit einer bestimmten Wirkung verbindet, und die uns davon sprechen lässt, nicht nur, dass das eine auf das andere folgt, sondern dass es sich aus ihm ergibt, ist ein Gesetz, das uns durch Erfahrung der Wirksamkeit von Substanzen bekannt wird, eine Erfahrung, die uns sagt, welche Wirkungen ein Gegenstand einer bestimmten Art unter äußeren Umständen einer bestimmten Art zeitigt. Auf dieser Ebene und in diesem Verständnis von Kausalität ist jede »Weltbegebenheit« Ergebnis und Konsequenz von Vorausgehendem nach vorgegebenen und von uns empirisch zu erkennenden Gesetzen der Natur. Und eine »Weltbegebenheit« zu erkennen heißt eben, sie aus den relevanten Gesetzen und Randbedingungen abzuleiten. Kants Konzept der Kausalität nach der Natur umfasst den physischen ebenso wie den empirisch-psychischen Bereich. Psychisches, ganz allgemein gesagt Empfindungen und Vorstellungen, sind Äußerungen von Kräften bestimmter natürlicher Substanzen und spielen die Rolle von Bestimmungsgründen des Wirkens bestimmter natürlicher Substanzen. Gäbe es keine andere Kausalität als »nach Gesetzen der Natur«, und bildeten diese Gesetze, wie die Naturforschung sich als Leitidee vorgibt, ein geschlossenes System, »so setzt alles, was

31 KrV A 532/B 560. 32 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 154

08.11.2021 16:20:42

4. Transzendentale und praktische Freiheit

155

geschieht, einen vorigen Zustand voraus, auf den es unausbleiblich nach einer Regel folgt«.33 Zwei Dinge sind es, die Kant diesen Gedanken anstößig erscheinen lassen und unsere Vernunft zum Ansatz einer zweiten Form von Kausalität motivieren, ein epistemisches und ein moralisches Skandalon: das epistemische Skandalon, dass »auf solche Weise keine absolute Totalität der Bedingungen im Kausalverhältnisse herauszubekommen ist«;34 das moralische Skandalon, dass eine solche Sicht und Lage der Dinge »alle praktische Freiheit vertilgen« würde.35 Jede »Weltbegebenheit« als Vorkommnis in der Zeit ist Folge eines Inbegriffs von Gesetzen und Randbedingungen, hat eine Ursache, die in der Zeit begonnen hat zu wirken, die somit selber eine Weltbegebenheit darstellt, die verursacht ist und so ins End- bzw. Anfangslose. Dies besagt, dass über diese Form der Kausalität keine vollständige Erklärung einer Weltbegebenheit möglich ist, obgleich wir, nach dem Vernunftprinzip des zureichenden Grundes, im Verständnis einer Weltbegebenheit als etwas Bedingtem und Gegebenem die Vollständigkeit der Reihe seiner Bedingungen als gegeben bzw. erfüllt voraussetzen müssen.36 Eine solche Vollständigkeit scheint nur denkbar über den Gedanken eines »unbedingt Bewegenden«, der die Reihe der Bedingungen nach oben hin, nach ihrem Ursprung abschließt. Aus ihrem Verlangen also nach vollständiger Erkenntnis von Bedingtem »schafft sich die Vernunft die Idee von einer Spontaneität, die von selbst anheben könne zu handeln, ohne dass eine andere Ursache vorangeschickt werden dürfe, sie wiederum nach dem Gesetze der Kausalverknüpfung zur Handlung zu be33 KrV A 444/B 472, Hervorh. M. F. Kants Begriff der Natur als eines (geschlossenen) Systems von (besonderen) Kausalgesetzen ist im regulativen Sinn theoretischer Forschungsorientierung zu lesen. Es handelt sich hier um die Idee der »Vollkommenheit der Erkenntnis der Gegenstände« (KrV B 693 f.) bzw. den Vernunftbegriff der »Vollständigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis« (Jochen Bojanowski). Kants Zweite Analogie (der Erfahrung) und seine Rede vom »allgemeinen Gesetze der Naturnotwendigkeit« in der KrV ist nicht im Sinne des Gedankens eines objektiven Determinismus im Bereich der Erscheinungen zu verstehen; vgl. KrV A 674/B 675; A 675/B 703. Zum Determinismus-Problem bei Kant und zur Diskussion des Themas in der Kant-Literatur vgl. Ertl, Wolfgang 2001, 79–96, v. a. 86–91; Bojanowski, Jochen 2006; Gerlach, Stefan 2010. 34 KrV B 533/B 561. 35 KrV A 534/B 562. Hier ist »praktisch« im starken kantischen Sinn von »moralisch-praktisch« gemeint. 36 Vgl. KrV A 446/B 474.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 155

08.11.2021 16:20:42

156

VI. Kants kritisches ­Freiheitsverständnis

stimmen«.37 Diese Idee eines seinerseits unbedingt wirkenden »Bewegers« ist von der Vernunft in Betrachtung der Weltbegebenheiten gefordert und gleichwohl über einer in der Zeit erfolgenden Betrachtung der Weltbegebenheiten nicht als Erkenntnis einlösbar. Kant hält es für »überaus merkwürdig«, dass auf diesen Begriff der »Freiheit im kosmologischen Verstande« bzw. auf diese »transzendentale Idee der Freiheit« sich der psychologische bzw. praktische Freiheitsbegriff gründet.38 Dabei scheint ihm auf den ersten Blick die Erläuterung des Zusammenhangs der beiden Freiheitsbegriffe nicht allzu schwer zu fallen: Wir verstehen uns selbst und andere in dem, was wir gerade sind und wirken, auch, aber nicht nur als natürliche »Weltbegebenheit«, die jeweils einen vorigen Zustand voraussetzt, auf den sie nach Regeln der Natur folgt, und die selbst wiederum nach Regeln der Natur Wirkungen zeitigt. Wir fordern uns selbst und andere zu einem Verhalten auf, das zwar »unter Naturbedingungen möglich sein [muss]«,39 das aber nicht durch diese prädeterminiert ist. Wir gehen, wenn wir eine Weltbegebenheit erklären wollen, von einem lückenlosen Gesetzessystem aus, das die Abfolge der Phänomene in objektiver Weise bestimmt, und nach dem die Vorgänge in der Welt unausweichlich geschehen. Wir unterstellen, wenn wir uns selbst nicht bloß beobachten und erklären, sondern als in der Welt klug und verantwortlich handelnde Subjekte verstehen, dass weder der künftige Weltverlauf noch wir selbst als in ihm situierte und wirkende Wesen aufgrund von Vorgängigem durch ein naturales Gesetzessystem unausweichlich prädeterminiert sind. Ja, selbst »[d]er entschlossenste Fatalist, der er ist, solange er sich der bloßen Spekulation ergibt, [muss] dennoch, sobald es ihm um Weisheit und Pflicht zu tun ist, jederzeit so handeln, als ob er frei wäre«.40 Gerade in unserer moralischen und rechtlichen Praxis des Vorwurfs und des Tadels setzen wir nach Kant41 voraus, »dass, obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen, und seine Ursache in der Erscheinung also nicht so bestimmend war, dass nicht in unserer Willkür eine Kausalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen 37 KrV A 533/B 561. 38 Ebd. 39 KrV A 548/B 576. 40 Recension von Schulz’s Versuch, AA VIII, 13. 41 Vgl. dazu v. a. KrV A 554 f./B 582 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 156

08.11.2021 16:20:42

4. Transzendentale und praktische Freiheit

157

und selbst wider ihre Gewalt und Einfluss etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen«.42

»Transzendentale Freiheit« wäre das Prädikat eines Wesens, das negativ gesehen wirken könnte in »Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen« und das positiv gesehen ein Vermögen hätte, »eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen«.43 Und diese transzendentale Freiheit ist nach dem Modell der Substanzkausalität gedacht. Dabei ist die Substanz über ihre phänomenalen Attribute mit den phänomenalen Attributen anderer Substanzen naturkausal verwoben. Die Unabhängigkeit eines Wesens »von empirischen Bedingungen« ist also im Falle des Menschen nicht uneingeschränkt zu sehen, sondern nur auf ihn als intelligible Substanz zu beziehen, deren Äußerungen als phänomenale Substanz in erfahrbaren Attributen mit den phänomenalen Attributen anderer Substanzen im Bereich der Erscheinung zusammenwirken bzw. von ihnen kausal abhängen. Ja mehr noch: Was bezüglich einer intelligiblen (menschlichen) Substanz als Kausalität aus Freiheit zu denken ist, tritt im empirischen Charakter eines Menschen wie bei nichtmenschlichen Substanzen auch als empirisch erfassbare Gesetzlichkeit seines Verhaltens in Erscheinung.

4. 2 Transzendentale Freiheit, praktische Freiheit und ­transzendentaler Idealismus Was in uns Natur44 und was in uns als bloß »tierische« Natur am Werk ist, nennt Kant im anthropologisch-praktischen Kontext bevorzugt Sinnlichkeit. Und »Freiheit im praktischen Verstande« meint nach dem Sprachgebrauch der KrV »die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit«.45 Dass wir Menschen uns in dieser Hinsicht »von Natur« von den Tieren unterscheiden, dass wir uns von den unmittelbaren Impulsen unserer Sinnlichkeit (im Blick auf mittel- und langfristige bzw. abstrakte Interessen) 42 43 44 45

KrV A 534/B 562. Vgl. KrV A 553 f./B 582 f. »Natur« im Sinne der transzendentalen Analytik verstanden. KrV A 534/B 562; vgl. KrV A 801 f./B 829 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 157

08.11.2021 16:20:42

158

VI. Kants kritisches ­Freiheitsverständnis

distanzieren, dass wir uns zu ihnen verhalten können, stand für Kant nie in Frage.46 Was also soll merkwürdig sein am Zusammenhang von transzendentaler und praktischer Freiheit? Merkwürdig scheint in der Tat, dass praktische Freiheit, wie wir sie beim Menschen kennen, eine Form von Kausalität sein soll, deren Wirkungen im Rahmen der Weltbegebenheiten der Kausalität nach einen veritablen Anfang darstellen und gleichwohl an Vorgängiges kausal anschließen, das heißt »in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt« sein sollen.47 Lösbar erscheint Kant dieses Problem nur durch die Figur des transzendentalen Idealismus, durch die Figur eines Perspektivismus, der ein und denselben Gegenstand als über seine Attribute sinnlich zugängliches, erklärbares und verständliches Phänomen in Raum und Zeit, als Erscheinung interpretiert und zugleich als »Ding an sich selbst betrachtet«, das heißt unabhängig von den gegenstandskonstitutiven Bedingungen unserer sinnlich-geistigen Erkenntnisweise von Gegebenem zu denken erlaubt.48 Nur so wird es möglich, sich von der Kausalität dieses Gegenstandes einen empirischen und einen bloß gedachten Begriff zu machen, ihm eine bedingte und eine unbedingte Form von Kausalität zuzusprechen. Dabei wäre dann der Prädeterminismus die regulative Idee der forschenden und erklärenden Betrachtung des Menschen als eines Objekts der (wissenschaftlichen) Erfahrung, und der Gedanke der Freiheit als Erstursächlichkeit die regulative Idee des (moralisch) prüfenden, beurteilenden und handelnden Umgangs des Menschen mit sich und anderen Menschen als verantwortlichen Personen.

46 Vgl. Bojanowski, Jochen 2006, 4–17, der hier von »relativer« Freiheit spricht, die auch von naturalistischen bzw. kompatibilistischen Freiheitstheoretikern nicht bestritten wird. Im Unterschied zu dieser im Grunde unkontroversen Freiheit gehe es Kant um die Klärung einer »absoluten Dimension« menschlicher Freiheit. 47 Vgl. KrV A/450 B 478. 48 Der Idee der (absoluten) Freiheit menschlichen Handelns kommt ebenso wie der Idee vollständiger Prädetermination menschlichen Verhaltens in der Beurteilung menschlicher Akte nur eine regulative Funktion zu. Wenn wir Handlungen nach Gesichtspunkten der Moral, d. h. nach praktischen Vernunft-Prinzipien, betrachten, betrachten wir sie so, »als ob wir nicht ein Objekt der Sinne, sondern des reinen Verstandes vor uns hätten, wo die Bedingungen nicht mehr in der Reihe der Erscheinungen, sondern außer derselben gesetzt werden können, und die Reihe der Zustände angesehen werden kann, als ob sie schlechthin (durch eine intelligible Ursache) angefangen würde« (KrV A 685/B 713).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 158

08.11.2021 16:20:42

4. Transzendentale und praktische Freiheit

159

4.3 Praktische Freiheit als Tatsache Diese antinaturalistische Figur des transzendentalen Idealismus und mit ihr die Möglichkeit einer natural unbedingten Form von Kausalität im Weltgeschehen ins Spiel zu bringen, gibt nur der Mensch Anlass. Denn nur er ist sich einesteils ein durch die Sinne zugängliches Naturphänomen, andererseits aber, als Wesen mit Verstandes- und Vernunftleistungen, ein »intelligibler«, ein bloß gedanklich fassbarer Gegenstand. Für Kant ist es vor allem das Vernunftvermögen, das von allen empirisch-bedingten, das heißt in ihrer Wirksamkeit von sinnlichen Eindrücken abhängigen Kräften des Menschen, verschieden ist. Denn Vernunft »folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen, sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hineinpasst, und nach denen sie sogar Handlungen für notwendig erklärt, die doch nicht geschehen sind und vielleicht nicht geschehen werden«.49

Ähnlich der Freiheit des Denkvermögens ist für Kant auch die Freiheit des Handelns in gewisser Weise »durch Erfahrung« beweisbar.50 Dabei handelt es sich um eine durch Reflexion vermittelte alltägliche Erfahrung, die jedermann kennt, die aber nicht ohne weiteres wissenschaftlich (im strengen Sinn) fassbar ist: Wir wissen im Rahmen eines sprachlichen Selbstverständnisses, was 49 KrV A 548/B 576. 50 Vgl. KrV A 802/B 830. Kant rechnet diesen Beweis der empirischen Psychologie zu; vgl. AA XXVIII, 269: »Da wir aber in der empirischen Psychologie die praktische Freiheit erwiesen haben […].« In der Einleitung in die MdS formuliert Kant präzise definitorische Bestimmungen. »Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objekte angetroffen wird, heißt ein Vermögen nach Belieben zu tun oder zu lassen. Sofern es mit dem Bewusstsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden ist, heißt es Willkür; ist es aber damit nicht verbunden, so heißt der Aktus desselben ein Wunsch. Das Begehrungsvermögen, dessen innerer Bestimmungsgrund, folglich selbst das Belieben in der Vernunft des Subjekts angetroffen wird, heißt der Wille […]. Die Willkür, die durch reine Vernunft bestimmt werden kann, heißt die freie Willkür. Die, welche nur durch Neigung (sinnlichen Antrieb, stimulus) bestimmbar ist, würde tierische Willkür (arbitrium brutum) sein. Die menschliche Willkür ist dagegen eine solche, welche durch Antriebe zwar affiziert, aber nicht bestimmt wird, und ist also für sich (ohne erworbene Fertigkeit der Vernunft) nicht rein, kann aber doch zu Handlungen aus reinem Willen bestimmt werden« (AA VI, 213).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 159

08.11.2021 16:20:42

160

VI. Kants kritisches ­Freiheitsverständnis

es heißt, etwas bewusst willkürlich, gewissermaßen ohne Anlass und Grund, zu tun, und können uns das Gemeinte problemlos durch eigenes Tun demonstrieren. »Wenn ich jetzt (zum Beispiel) völlig frei, und ohne den notwendig bestimmenden Einfluss der Naturursachen, von meinem Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit, samt deren natürlichen Folgen ins Unendliche, eine neue Reihe schlechthin an […].«51 Und wir wissen ferner, was es heißt, aufgrund einer praktischen Überlegung, nach Gesichtspunkten der Klugheit, der Moral, des Rechts zu handeln; nicht dem Reiz einer Wahrnehmung zu erliegen und dem Druck einer Empfindung zu entsprechen, sondern unser Verhalten »durch Bewegursachen (zu bestimmen), welche nur von der Vernunft vorgestellt werden«.52 Auf dieser Form und diesem Verständnis von Freiheit basiert unsere alltägliche Praxis der Zurechnung (imputatio) von Handlungen und des Verantwortlichmachens.53 Ob jemand unmittelbaren sinnlichen Antrieben ausgeliefert ist oder sein Verhalten nach Gesichtspunkten des Verstandes und der Vernunft ausrichten kann, lässt sich, aus der Perspektive des sprachfähigen Teilnehmers und Betrachters des sprachlich vermittelten menschlichen Lebens und Zusammenlebens, (im weiten Sinn) empirisch feststellen und überprüfen.54

4.4 Transzendentale Freiheit als offenes theoretisches Problem Wenn wir praktische Freiheit durch Erfahrung erkennen und wenn, wie Kant erklärt, praktische Freiheit transzendentale Freiheit »voraussetzt«55 bzw. nur ein Fall transzendentaler Freiheit ist, was hindert dann noch daran, als gesi51 KrV A 450/B 478. 52 KrV A 802/B 830. 53 Kant verwendet allerdings einen starken Begriff von Zurechnung; er bindet ihn an die »Anlage zur Persönlichkeit« (Rel. VI, 26). Zu Kants Begriff der Zurechnung vgl. Byrd, Sharon B./Hruschka, Joachim 2010, 290–293. 54 »Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung, als eine von den Naturursachen, nämlich eine Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens« (KrV A 803/B 831). Wir Menschen können unser Wollen ohne Zweifel zweckrational bestimmen. Die entscheidende Frage ist, ob wir an letztlich naturgegebene Zwecke gebunden sind, und unsere Vernunft auf die Rolle einer »Dienerin der Neigungen« festgelegt ist. Eine Dienerin kann zwar sehr wohl einen klugen und starken, gegen äußere und innere Zwänge widerständigen Willen haben; doch ihr Wille hat allemal einen Herrn, ihr Wille ist nicht autonom. 55 Vgl. KrV A 534/B 562.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 160

08.11.2021 16:20:42

4. Transzendentale und praktische Freiheit

161

chert zu behaupten, dass wir auch in transzendentalem Sinne frei sind? Die Freiheit unserer sinnlich zwar »affizierten«, aber nicht »nezessitierten« Willkür zeigt doch, dass wir in der Lage sind, »unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe« in der Erfahrungswelt »eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen«.56 Nun, sie zeigt das nur mit einer gewissen, wenngleich wesentlichen Einschränkung. Sie beweist zwar, dass wir im Unterschied zum Tier mit Hilfe von Verstand (und Vernunft) in der Lage sind, »durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entfernete(re) Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden«.57 Wir sind in aller Regel nicht der Augenblickswahrnehmung und unmittelbaren Empfindung ausgeliefert; wir können in unseren Aktionen mittel- und langfristig planen und überlegt bzw. zweckrational handeln. Doch diese kausale Funktion der Vernunft in der Regulierung der Ausbildung und des Einsatzes unserer empirischen Kräfte beweist noch nicht unsere transzendentale Freiheit. »Ob (aber) die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernterer wirkender Ursachen nicht wiederum Natur sein möge«,58 das ist mit der durch besagte Erfahrung erkennbaren kausalen Funktion der Vernunft nicht entschieden. Der Gedanke transzendentaler Freiheit fordert nach Kant »eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Kausalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt«.59 Kants (praktische) Freiheitstheorie ist verstanden, wenn wir diese Formel verstanden haben. Die »objektiven Gesetze der Freiheit«, die unsere Vernunft uns für unser Handeln in der Welt vorgibt, und »welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich nie geschieht«,60 sind nach eigener Auskunft teils »pragmatische Gesetze des freien Verhaltens, zur Erreichung der uns von den Sinnen empfohlenen Zwe-

56 Vgl. ebd. 57 KrV A 802/B 830. Dass wir eine Wirksamkeit unserer Vernunft in der Bestimmung unseres Wollens und Handelns beanspruchen, bekundet sich am klarsten in den Imperativen, »welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben« (KrV A 547/B 575). 58 KrV A 803/B 831. 59 KrV A 803/B 831, Hervorh. M. F. 60 KrV A 802/B 830.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 161

08.11.2021 16:20:42

162

VI. Kants kritisches ­Freiheitsverständnis

cke«, teils »reine praktische Gesetze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist, und die nicht empirisch bedingt, sondern schlechthin gebieten«.61 Wie uns dieser Passus eindeutig zu verstehen gibt, schließt die Möglichkeit beider Arten von Vernunftgesetzen, der pragmatischen, auf unser Glück bedachten, und der praktischen, moralitätsbezogenen, unsere Fähigkeit ein, »eine Reihe von Erscheinungen anzufangen«. Doch im Blick auf die pragmatischen Gesetze bzw. Regeln der auf die eigene Glückseligkeit zielenden Klugheit kann von einer »Unabhängigkeit der Vernunft von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt« nicht uneingeschränkt die Rede sein. Zwar ist Glückseligkeit des Menschen ihrer Form nach eine Totalitäts-, und darin eine Vernunftvorstellung. Doch als endliche und bedürftige sinnliche Vernunftwesen können wir gar nicht anders als auf unser Glück aus zu sein. Darin, dass wir uns unser Glück zum Lebensziel setzen, sind wir nicht souverän, sondern von der Natur abhängig und an Naturvorgaben gebunden. Und die Inhalte der menschlichen Glücksidee sind wesentlich geprägt durch die Erfahrungen, die wir mit unserem Lebenstrieb, den mit ihm verbundenen Empfindungen, Gefühlen und Impulsen und den Möglichkeiten des sinnlich Angenehmen und Unangenehmen, des Vorteilhaften und Abträglichen machen. Das ist anders bei (kategorisch gebietenden) moralischen Gesetzen. Sie sind in Kants Verständnis »Produkte der reinen Vernunft«.62 In ihrer Funktion der moralischen Gesetzgebung handelt menschliche Vernunft völlig unabhängig von den Ansprüchen der Sinnlichkeit. Gleichwohl könnte sie als moralisch-praktische Vernunft noch in anderer Weise empirisch bedingt und von Naturvorgaben abhängig sein. Es könnte ja sein, dass »die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung«, aber nicht »Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung« für uns sind und sein können.63 Reine Vernunft könnte zwar im Menschen gesetzgebend, aber als reine Vernunft nicht, jedenfalls nicht für sich allein, handlungswirksam sein. Es könnte sein, dass Vernunft im Menschen ihre moralische Gesetzgebung mit einer Perspektive der Belohnung und Bestrafung (auch und gerade in Begriffen der Sinnlichkeit), also mit der Aussicht auf eigenes Glück oder Leid verbinden 61 KrV A 800/B 828. 62 Ebd. 63 KrV A 813/B 841.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 162

08.11.2021 16:20:42

4. Transzendentale und praktische Freiheit

163

muss, um praktisch werden, um die sinnlich affizierte, aber freie Willkür des Menschen zum entsprechenden moralischen Entschluss und Handeln bestimmen zu können. Und es könnte auch sein, dass sie in ihrer praktischen Wirksamkeit wesentlich auf die Unterstützung naturaler impulsiver oder aversiver Gefühle und Strebungen wie Sozialtrieb, Mitleid, Aggressionshemmung etc. angewiesen ist und bleibt. Doch Kant hatte wohl noch einen anderen, einen tieferen Grund im Auge für seine These, dass transzendentale Freiheit im theoretischen Rahmen »ein Problem bleibt« und nicht als bewiesen gelten kann.64 Er besteht darin, dass die durch Erfahrung in Teilnehmer- und Beobachterperspektive belegbare praktische Freiheit grundsätzlich im Zuge einer unwiderlegbaren metaphysischen Spekulation theoretisch überholt und in Frage gestellt werden kann, sei es in Richtung eines theologischen Fatalismus, sei es in Richtung eines verabsolutierten Naturalismus.65 Die Gedanken, nach denen wir unser Verhalten ausrichten, einschließlich des Spontaneitätsbewusstseins in der Bildung der Gedanken und in der Bestimmung unseres Verhaltens nach Gedanken, könnten sich, wie Kant sich in der KpV dann ausdrückt, dem Plan und der Einrichtung eines »obersten Meister(s) aller Kunstwerke« verdanken66

64 KrV A 803/B 831. Transzendentale Freiheit ist ebensowenig ein Erfahrungsbegriff wie Naturnotwendigkeit. »Aber dieser Begriff von einer Natur wird durch Erfahrung bestätigt und muss selbst unvermeidlich vorausgesetzt werden, wenn Erfahrung, d. i. nach allgemeinen Gesetzen zusammenhängende Erkenntnis der Gegenstände der Sinne möglich sein soll. Daher ist Freiheit nur eine Idee der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist, Natur aber ein Verstandesbegriff, der seine Realität an Beispielen der Erfahrung beweist und notwendig beweisen muss« (GMS IV, 455). 65 Kant spricht davon, das fatum stoicum (in dem er die theologische und die naturalistische Seite des Determinismusgedankens verbunden weiß) sei weder beweisbar noch widerlegbar; wir können es nur im Praktischen nicht zugestehen. Das empirische Bewusstsein, »dass wir durch keine Ursache zu unseren Handlungen determiniert werden«, sei praktisch hinreichend, aber nicht in spekulativer Hinsicht (AA XXVIII [Metaphysik L1 Heinze], 270). Weder christlicher Prädestinationslehre (die Kant nicht explizit benennt) noch stoischer Pronoia- und Heimarmenelehre, die beide der Spekulation zuzurechnen sind, können wir sinnvollerweise Einfluss auf unser praktisches Selbstverständnis gewähren: »Werde ich wohl um dieser Vorherbestimmung willen in Ansehung der Absichten des Lebens gleichgültig sein oder anders verfahren? Es ist ein anderes zu spekulieren und praktisch zu denken; jenes zum Erklären, dieses zum Handeln« (AA XVII, R. 4223, S. 463). 66 KpV V 101.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 163

08.11.2021 16:20:42

164

VI. Kants kritisches ­Freiheitsverständnis

oder, wie Kant gelegentlich in Erwägung zieht, einem geheimen Mechanismus der Natur.67 Sehen wir von dem seit Platons Nomoi, aber auch zu Kants Zeit noch ernsthaft erwogenen Konzept des theologischen Fatalismus ab. Der zu Kants Zeit ebenso wie heute vertretene Naturalismus sucht nach empirischen Ursachen der Entwicklung und des Gebrauchs unserer Vernunft. Er unterstellt dabei genau dies, dass »das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernterer wirkender Ursachen« wiederum Natur ist.68 Was sich aus der Teilnehmer- und Beobachterperspektive praktischer Freiheit als spontane Lenkung und Gestaltung von Natur nach Ideen und ihrer eigenständigen logisch-semantischen Ordnung darstellt, könnte aus einer darüberliegenden externen Perspektive betrachtet sich als Ergebnis der Wirksamkeit von Kräften nach Gesetzen der Natur erweisen. Und die Teilnehmer- und Beobachterperspektive praktischer Freiheit theoretisch zu verlassen zugunsten einer externen, naturalistischen bzw. szientistischen Perspektive scheint keineswegs absurd zu sein, und zwar deshalb, weil praktische Freiheit im adäquaten Selbstverständnis, das heißt nach Kant im Selbstverständnis unbedingten Verpflichtetseins, transzendentale Freiheit voraussetzt, die »dem Naturgesetze, mithin aller Erfahrung, zuwider zu sein scheint«.69 Der erfolgreiche Versuch, die kausale Funktion unserer sich selbst spontan und erstursächlich erscheinenden Vernunft in der Gestaltung von Natur und Gesellschaft ihrerseits als Geschehen nach Gesetzen der Natur zu erweisen, würde dann praktische Freiheit in gewisser Weise, das heißt hinsichtlich ihrer absoluten Dimension tatsächlich aufheben: Sie würde ihrem internen Selbst67 Genau diese mögliche und rein theoretisch nicht zu widerlegende metaphysische Spekulation hat Kant im Auge, wenn er seinen Begriff (absoluter) praktischer Freiheit als von dem spekulativen Freiheitsbegriff der Metaphysiker (gänzlich) unabhängig verstanden wissen möchte: Im aktuellen Bewusstsein, unbedingt zu etwas moralisch verpflichtet zu sein, ist für den sich moralisch Verstehenden und Handelnden die Prädeterminismus- oder Prädestinationsfrage ohne jeden Belang: »Der praktische Begriff der Freiheit hat in der Tat mit dem spekulativen, der den Metaphysikern gänzlich überlassen bleibt, gar nichts zu tun. Denn woher mir ursprünglich der Zustand, in welchem ich jetzt handeln soll, gekommen sei, kann mir gänzlich gleichgültig sein; ich frage nur, was ich nun zu tun habe, und da ist die Freiheit eine notwendige praktische Voraussetzung und eine Idee, unter der ich allein Gebote der Vernunft als gültig ansehen kann« (Rezension von Schulz’s Versuch, AA VIII, 13). Der Weg zur (nicht theoretisch, sondern praktisch gewissen) Erkenntnis nicht nur der Möglichkeit, sondern der objektiven Realität transzendentaler Freiheit führt über das Bewusstsein, absolut moralisch verpflichtet zu sein. 68 KrV A 803/B 831. 69 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 164

08.11.2021 16:20:42

4. Transzendentale und praktische Freiheit

165

verständnis aus der externen Perspektive den Charakter der Projektion und der Illusion verleihen: »weil wir, was geschieht, nur erklären können, indem wir es von einer Ursache nach Gesetzen der Natur ableiten; wobei wir jedoch die Willkür nicht als frei denken würden«.70 Das von Kant Gemeinte lässt sich am Beispiel eines heute durchaus verbreiteten philosophischen Verständnisses von Moralität illustrieren.71 Der australische Philosoph John Leslie Mackie skizziert und vertritt in der Nachfolge Humes, Darwins und Freuds in seinem einflussreichen Buch Ethics. Inventing Right and Wrong72 den Gedanken einer evolutionistischen Erklärung der inzwischen weithin anerkannten Einstellung der Moralität mit den entsprechenden Vorstellungen von Tugend und Recht. Menschliche Gruppen, in denen diese Einstellungen mit ihren objektivistischen Projektionen von Werten und praktischen Gesetzen Wurzel fassten und sich über vererbte psychologische Neigungen oder gesellschaftlich vermittelte Traditionen verfestigten, setzen sich über die Jahrtausende im biologisch-sozialen Kampf ums Dasein durch.73 Das biologische Naturgesetz der Selektion wirkt hinter dem Rücken der sich moralisch verstehenden Akteure. Kant hält den metaphysischen Streit zwischen Vertretern transzendentaler Freiheit und konsequentem Naturalismus einerseits für »eine bloß spekulative Frage, die wir, solange als unsere Absicht aufs Tun oder Lassen gerichtet ist, beiseitesetzen können«.74 Für die Praxis, so scheint es, könnte der relative Freiheitsbegriff, der in Teilnehmer- und Beobachterperspektive unter Menschen empirisch bestätigt wird, genügen. Wir können und müssen im praktischen Alltag nach Gesichtspunkten der Klugheit, der Moralität und des Rechts handeln und uns untereinander behandeln, als ob wir frei sind. Andererseits kann das offene spekulative Problem im Blick auf ein adäquates Selbstverständnis natürlicher Vernunftwesen auf Dauer nicht ungelöst bleiben. Solange der Naturalismus eine ernsthafte theoretische Option darstellt, leben wir, so Kant, in der Gefahr einer Schizophrenie der Vernunft, bleibt das adäquate praktische

70 MdS VI, 380 Anm., Hervorh. M. F. 71 Ähnliche Gedanken ließen sich gegenwärtig bei Autoren aus dem Bereich der Hirnforschung belegen. 72 Mackie, John L.1977; dt. Mackie, John L 1981. 73 Mackie, John L.1977, 11–115; dt. Mackie, John L 1981, 139–144. 74 KrV A 803/B 831.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 165

08.11.2021 16:20:42

166

VI. Kants kritisches ­Freiheitsverständnis

Selbstverständnis und mit ihm die Moralität selbst angesichts des »Abgrunds des Skeptizismus«75 ernsthaft gefährdet.

5. Freiheit als Autonomie des Willens. Die Verteidigung und der sogenannte Beweis transzendentaler Freiheit Wie löst Kant das spekulative Problem nach dem Erscheinen der KrV? In der GMS von 178576 stellt Kant noch einmal nachdrücklich klar, dass es keine empirisch-wissenschaftliche Möglichkeit gebe, zu erklären, »wie Freiheit möglich sei. Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgendeiner möglichen Erfahrung gegeben werden kann. Freiheit aber ist eine bloße Idee, deren objektive Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgendeiner möglichen Erfahrung dargetan werden kann.«77

Wie Freiheit möglich ist, lässt sich also im Rahmen eines stringenten, wissenschaftlich haltbaren Erfahrungsbegriffs nicht erklären. Dass Freiheit möglich ist, lässt sich jedoch sehr wohl gegen Einwürfe verteidigen. Den Vertretern eines universellen Naturdeterminismus, die die Möglichkeit von Freiheit leugnen, lässt sich entgegnen, dass sie den Menschen ausschließlich als Erscheinung betrachten, während der Nachweis der nichtempirischen Bedingungen unseres empirischen Erkennens und das Bewusstsein der Spontaneität unserer Vernunft uns befähigt und berechtigt, unser Selbst auch als Intelligenz und Ding an sich selbst mit eigener Kausalität anzusehen, und das empirische Begehrungsvermögen des Menschen in der Erscheinung von seinem Willen zu unterscheiden, das heißt von einem Vermögen, »sich zum Handeln als Intelligenz, mithin nach Gesetzen der Vernunft unabhängig von Naturinstinkten zu bestimmen«.78 75 KpV V, 3. 76 Vgl. dazu Höffe, Otfried 42010; Schönecker, Dieter/Wood, Allen W. 42011; Klemme, Heiner F. 2017; Ludwig, Bernd 2020. 77 GMS IV, 459. 78 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 166

08.11.2021 16:20:42

5. Freiheit als Autonomie des Willens. Die Verteidigung und der sogenannte Beweis transzendentaler Freiheit

167

Die epistemologische und ontologische Position des transzendentalen Idealismus mit seiner Unterscheidung der Ebene von Dingen an sich selbst betrachtet und der Ebene der Erscheinungen, das heißt der Art und Weise, wie sich die Dinge im Rahmen raum-zeitlicher Phänomenalität und Verlaufsgesetzlichkeit für uns Menschen zeigen, diese Position des transzendentalen Idealismus eröffnet eine Sicht, nach der zwischen Determinismus und Freiheit kein Widerspruch besteht. Kant versucht in der GMS eine Antwort auf das theoretisch offene Problem transzendentaler Freiheit zu geben, indem »die praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt hineindenkt«, ohne dabei ihre Grenzen in Richtung einer schlechten Metaphysik zu überschreiten.79 Ausgangspunkt ist ihm die Evidenz des Spontaneitätsbewusstseins der Vernunft des Menschen, das »Bewusstsein seiner selbst als Intelligenz, d. i. als unabhängig im Vernunftgebrauch von sinnlichen Eindrücken«,80 als Intelligenz, die sich mit ihren Ideen »in eine andere Ordnung der Dinge [setzt]«.81 Er gewinnt damit einen »Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht, außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken«, und in ihm die Bestätigung des Bewusstseins »seiner Selbst als Intelligenz, mithin als vernünftige und durch Vernunft tätige, d. i. frei wirkende Ursache«.82 Er entdeckt darin »das eigentliche Selbst« des Menschen als Mitglied einer »Verstandeswelt«, deren praktische »Gesetze ihn unmittelbar und kategorisch angehen«,83 insofern er ein vernünftiges Sinnenwesen ist und sein Vernünftigsein in Raum und Zeit zu verwirklichen hat. 1788, in der KpV, fällt die Antwort nun, sowohl in ihrem Argumentationsweg als auch in ihrem Resultat, deutlich anders aus. Er geht hier nicht von der ihrer selbst unmittelbar bewussten Selbsttätigkeit der Vernunft aus, »die unter dem Namen der Ideen eine so reine Spontaneität zeigt, dass sie dadurch weit über alles, was ihm Sinnlichkeit nur liefern kann, hinausgeht«, um sich, als vernünftiges Subjekt, »zur intelligiblen Welt gehörig« und »frei wirkende Ursache« zu denken, »unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, nicht empi-

79 GMS IV, 458. 80 GMS IV, 457. 81 Ebd. 82 GMS IV, 458. 83 GMS IV, 457.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 167

08.11.2021 16:20:42

168

VI. Kants kritisches ­Freiheitsverständnis

risch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sind«.84 Jetzt und von nun an wird die Evidenz des Bewusstseins, auf unbedingte Weise moralisch verpflichtet zu sein, zum fundamentum inconcussum und Ausgangspunkt der Argumentation.85 Ja, wie die Religionsschrift in einer Anmerkung betont: »Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es als ein solches durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen: und doch ist dieses Gesetz das Einzige, was uns der Unabhängigkeit unsrer Willkür von der Bestimmung durch alle andern Triebfedern (unsrer Freiheit) und hiemit zugleich der Zurechnungsfähigkeit aller Handlungen bewusst macht.«86

Kant äußert in der Vorrede seiner Kritik der praktischen Vernunft von 1788 ganz unmissverständlich seinen Anspruch, mit diesem Werk das noch offene metaphysische Problem gelöst zu haben.87 Nach diesem Bekunden erschien ihm die Argumentation in seiner Grundlegungsschrift von 1785 jedenfalls unzureichend, hatte er das Problem in dieser Schrift also noch nicht überzeugend gelöst. Das Spontaneitätsbewusstsein der Vernunft trägt nicht weit genug. Was da nun in der KpV genau geleistet sein soll, ist allerdings nicht auf den ersten Blick ersichtlich und bereitet der Interpretation auch einige Schwierigkeit. Die selbstgestellte Aufgabe jedenfalls besteht (nach wie vor) in dem Nachweis, dass wir Menschen grundsätzlich in der Lage sind, allein nach Gesichtspunkten der Vernunft, völlig unabhängig von Zielvorgaben der Natur, unser Wollen und Verhalten zu bestimmen.88 Dass jemand tatsächlich etwas kann, beweist er nicht dadurch, dass er sagt, was er kann, sondern dadurch, dass er es, für sich selbst und für andere ersichtlich, tut. Das gilt auch für unsere Vernunft und ihre Kausalität. »[W]enn sie als reine Vernunft wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein,

84 GMS IV, 452. 85 Über den Anstoß zur Änderung der Argumentation informiert ausführlich und pointiert Ludwig, Bernd 2010, 595–628. 86 Rel. VI, 26. 87 KpV V, 3. 88 »Hier ist also die erste Frage: ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange, oder ob sie nur als empirisch-bedingte ein Bestimmungsgrund desselben sein könne« (KpV V, 13).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 168

08.11.2021 16:20:42

5. Freiheit als Autonomie des Willens. Die Verteidigung und der sogenannte Beweis transzendentaler Freiheit

169

ist vergeblich.«89 Wie aber soll dies gehen? Unserem eigenen und fremdem Tun in der Welt sehen wir nicht zuverlässig an, ob in ihm reine Vernunft wirklich praktisch ist. Die letzten Facetten der tatsächlichen Motivation, die »Tiefen seines Herzens« bleiben dem Menschen als einem sinnlichen Vernunftwesen verborgen.90 Der Beweis der objektiven Realität transzendentaler Freiheit durch die Tat kann also nicht, jedenfalls nicht in vollgültiger Weise, in Form einer beispielhaften Handlung aus reiner Vernunft in der Erfahrungswelt, auch nicht in der der Selbsterfahrung erbracht werden. Die Vorrede der KpV macht denn auch klar, dass der eigentliche Beweis nicht über Beispiele zu erbringen, sondern dass die objektive Realität des Begriffs der Freiheit »durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist«.91 Kants Beweis, der das in der KrV und der GMS noch offene Problem löst, kann so gesehen nur in dem Nachweis zu suchen und zu finden sein, dass das allgemein bei mündigen, sich moralisch verstehenden Menschen unterstellte sittliche Bewusstsein nicht nur das moralische Gesetz als ein unableitbares »Faktum« bzw. »Produkt reiner Vernunft« enthält, sondern dass es auch die Kraft reiner Vernunft belegt, im Menschen die allemal zureichende Triebfeder des Vorsatzes und der Ausübung entsprechender Handlungen zu liefern. Nun betonen systematisch zentrale Stellen der KpV, dass praktische Vernunft der theoretisch bloß denkbaren und empirisch nicht fassbaren transzendentalen Freiheit objektive Realität verschafft, indem sie sie »durch ein Faktum bestätigt«.92 Die Bedeutung, in der Kant hier von einem »Faktum der Vernunft« spricht, beschäftigt die Interpreten.93 Kant spricht vom Bewusstsein des moralischen Gesetzes als einem »Faktum der Vernunft«, weil es sich weder aus Erfahrungsdaten erklären94 noch aus Vernunftdaten erschließen lässt, »sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt«.95 Es ist also ein empirisch unerklärbares und theoretisch unableitbares Faktum, das 89 KpV V, 3. 90 Vgl. KpV V, 47; MdS VI, 392: »Denn es ist dem Menschen nicht möglich, so in die Tiefe seines eigenen Herzens einzuschauen, dass er jemals von der Reinigkeit seiner moralischen Absicht und der Lauterkeit seiner Gesinnung auch nur in einer Handlung völlig gewiss sein könnte; wenn er gleich über die Legalität derselben gar nicht zweifelhaft ist.« 91 KpV V, 3. 92 Vgl. KpV V, 6. 93 Zu Kants Verwendung des Ausdrucks »Faktum« vgl. Willaschek, Marcus 1992, 177–183; Kaufmann, Matthias 2007, 227–245. 94 KpV V, 43. 95 KpV V, 31.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 169

08.11.2021 16:20:42

170

VI. Kants kritisches ­Freiheitsverständnis

im Menschen als einem sinnlichen Vernunftwesen so etwas wie »schlagenden« Evidenzcharakter besitzt. Doch nicht nur dies motiviert seine Rede von einem Faktum. Kant hat auch die ursprüngliche Bedeutung von »Faktum« im Sinne von Tat bzw. Ergebnis einer Handlung im Auge: Das Bewusstsein des moralischen Gesetzes ist Ergebnis bzw. Ausdruck unserer praktisch werdenden, das heißt gesetzgebenden, die Gesetzgebung anerkennenden und so das Wollen bestimmenden reinen Vernunft.96 »[R]eine, an sich praktische Vernunft ist hier unmittelbar gesetzgebend.«97 »Reine Vernunft ist für sich allein praktisch, und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen.«98 Kant hält das moralische Gesetz für etwas, das ›apodiktisch gewiss gegeben‹ 99 ist. Umgekehrt dienen Sinn und Geltung des moralischen Gesetzes zur Begründung der objektiven Realität transzendentaler Freiheit, da es nicht bloß deren Möglichkeit, »sondern die Wirklichkeit an Wesen beweiset, die dies Gesetz als für sie verbindend erkennen«.100 Das Bewusstsein des moralischen Gesetzes stellt keine bloß theoretische, sondern auch und vor allem eine praktische Gewissheit dar. Es schließt seine praktische Anerkennung ein, dahingehend, dass wir hier nicht nur um etwas objektiv Gültiges wissen, sondern dass wir dieses auch wollen,101 dass wir jedenfalls wissen, dass der Vollzug des Gesetzes,

96 Vgl. Willaschek, Marcus 1992, 177–183; Bojanowski, Jochen 2006, 60–64. 97 KpV V, 31. 98 Ebd. Da die »Materie« des Wollens dem Menschen als einem sinnlichen Vernunftwesen immer über seine Wahrnehmung und Erfahrung »gegeben« ist und sein muss, versteht es sich von selbst, dass das Gesetz, das reine praktische Vernunft ihm gibt, ein rein formales ist und sein muss, das ihm seine welthaften Vorhaben zu beurteilen und zu wählen ermöglicht. 99 KpV V, 47. 100 Ebd. 101 Diese Anerkennung und dieses Wollen ist in dem, was Kant »das gemeine sittliche Bewusstsein« bzw. »den praktischen Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft« (GMS IV, 454) nennt, nicht total, sondern, wie die Religionsschrift erläutern wird, eingeschränkt, weil mit einem (erfahrungsgemäß und plausiblerweise bei allen Menschen als sinnlichen Vernunftwesen vorauszusetzenden) »Hang zum Bösen« verbunden. Wir sind, als Menschen, weder völlig gleichgültig gegenüber dem moralischen Gesetz unserer reinen praktischen Vernunft, noch rebellieren wir auf satanische Weise gegen es; wir erkennen es an, aber nicht auf ungeteilte und durchdringende Weise; wir neigen zu einem Vorbehalt für Fälle ernsthafter Konflikte mit den Ansprüchen unserer Sinnlichkeit. Gegen diese (unausrottbare) Prädisposition hilft für die Praxis nur eine kontinuierliche Stärkung des moralischen Gefühls der Achtung vor dem Gesetz.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 170

08.11.2021 16:20:42

5. Freiheit als Autonomie des Willens. Die Verteidigung und der sogenannte Beweis transzendentaler Freiheit

171

durch das es das objektiv absolut Gute gibt und wir selbst unbedingten Wert haben, der Letztgrund all unseres vernünftigen Wollens ist.102 Im Bewusstsein des moralischen Gesetzes erweist sich reine Vernunft demnach bereits in zweifacher Hinsicht als praktisch: Sie gibt unserem Begehren nicht nur ein Gesetz vor; sie bestimmt auch bereits durch die Anerkennung des Gesetzes in gewisser Weise unser Wollen. Nur weil Letzteres der Fall ist, kann Kant in der Vorrede der KpV davon sprechen, dass durch dieses Bewusstsein die objektive Realität der transzendentalen Freiheit »durch die Tat« bewiesen ist. Wir erweisen uns selbst praktisch als transzendental freie Subjekte, indem wir moralische Subjekte sein, uns damit einen absoluten Wert geben wollen und entsprechend zu handeln versuchen, und zwar im Bewusstsein der »Pflicht: welche eine moralische Nötigung durch seine eigene gesetzgebende Vernunft ist, insofern diese sich zu einer das Gesetz ausführenden Gewalt kon­ stituiert«.103 Indem praktische Vernunft unser Wollen, und unser Wollen unser Handeln bestimmt, wird transzendentale Freiheit, wie Kant in der KdU dann erklärt, zu einer im Selbstbewusstsein erfahrbaren Tatsache.104 Was Kant das Bewusstsein des moralischen Gesetzes nennt und mit schlagender Evidenz verbindet, ist nur dadurch möglich, dass man die Position der Moralität bereits innehat, dass man, grundsätzlich jedenfalls, moralisch sein, sich als moralisches Subjekt verstehen und behandelt sehen und von allen Naturgegenständen und der sie bestimmenden Form von Kausalität unterschieden wissen

102 Der hierfür relevante Passus in der GMS lautet: »So viel ist nur gewiss: dass es [sc. das Sittengesetz, M. F.] nicht darum für uns Gültigkeit hat, weil es interessiert (denn das ist Heteronomie und Abhängigkeit der praktischen Vernunft von Sinnlichkeit, nämlich einem zum Grunde liegenden Gefühl, wobei sie niemals sittlich gesetzgebend sein könnte), sondern dass es interessiert, weil es für uns als Menschen gilt, da es aus unserem Willen als Intelligenz, mithin aus unserem eigentlichen Selbst entsprungen ist; was aber zur bloßen Erscheinung gehört, wird von der Vernunft notwendig der Beschaffenheit der Sache an sich selbst untergeordnet« (GMS IV, 460 f.) 103 MdS VI, 405. 104 »Was aber sehr merkwürdig ist, so findet sich sogar eine Vernunftidee […] unter den Tatsachen; und das ist die Idee der Freiheit, deren Realität als einer besonderen Art von Kausalität […] sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und diesen gemäß in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung dartun lässt. – Die einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Tatsache ist und unter die scibilia gerechnet werden muss« (KdU § 91, V, 468).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 171

08.11.2021 16:20:43

172

VI. Kants kritisches ­Freiheitsverständnis

will.105 Wir sind transzendental frei dadurch, dass wir transzendental frei sein und verstanden werden wollen. Selbst der ärgste Bösewicht, so Kant bereits in der GMS, dem man Beispiele großartiger, widerstrebenden Neigungen abgerungener Redlichkeit vorlegt, wünschte wohl, auch so gesinnt zu sein, nicht deshalb, weil er »von jenem Wunsche […] Vergnügung der Begierden […], sondern nur einen größeren inneren Wert seiner Person erwarten kann«.106

6. D  as Gefühl der Achtung vor dem Gesetz als principium executionis Die Frage ist, wie reine Vernunft sich im Bewusstsein des moralischen Gesetzes »als ausübende Gewalt konstituiert«. Wir Menschen sind sinnliche Vernunftwesen, die nicht schon dadurch, dass sie das moralische Gesetz anerkennen, als sinnliche Vernunftwesen auch diesem Gesetz entsprechend handeln.107 Die Interessen unserer empirischen Natur konvergieren nicht eo ipso mit den Ansprüchen reiner Vernunft. Nun enthält das moralische Gesetz die Forderung, dass »der objektive Bestimmungsgrund jederzeit und ganz allein zugleich der subjektiv hinreichende Bestimmungsgrund der Handlung sein müsse«.108 Das Bewusstsein, moralisch verpflichtet zu sein, muss also auch zum hinreichenden Motiv unseres Wirkens in der Welt werden können, wenn sich reine Vernunft im Menschen »als ausübende Gewalt konstituiert«. Nur wenn dies möglich ist, handelt es sich beim moralischen Gesetz um eine sinnvolle Vorstellung und bei seiner Anerkennung um einen sinnvollen Akt (für den Menschen). Kants abschließende Aufgabe im Rahmen seines Beweises, dass im Menschen »reine Vernunft praktisch sei«, besteht also darin, »sorgfältig zu bestimmen, auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde, und was, indem sie es ist, mit dem menschlichen Begehrungsvermögen als Wirkung jenes Be-

105 »Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligibelen Welt und wird nur sofern von ihm als Sollen gedacht, als es sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet« (GMS IV, 455). 106 GMS IV, 454. 107 »Die Anerkennung des moralischen Gesetzes […] ist das Bewusstsein einer Tätigkeit der praktischen Vernunft aus objektiven Gründen, die bloß darum nicht ihre Wirkung in Handlungen äußert, weil subjektive Ursachen (pathologische) sie hindern« (KpV V, 79). 108 KpV V, 72.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 172

08.11.2021 16:20:43

6. Das Gefühl der Achtung vor dem Gesetz als principium executionis

173

stimmungsgrundes auf dasselbe vorgehe«.109 Der Sache nach sind es die lust-/ unlustbesetzten moralischen Gefühle, die das moralische Handeln der Menschen motivieren.110 Moralische Gefühle können zu genuin moralischem Handeln jedoch nur motivieren, wenn sie »nicht empirischen Ursprungs«, sondern »durch einen intellektuellen Grund gewirkt« sind.111 Denn moralisch sind wir und moralisch handeln wir nur, wenn wir nicht aus letztlich von der Natur vorgegebenen (und vielleicht auch kultivierten) Impulsen und Motiven, sondern wenn wir allein um der Vernunft und ihres Gesetzes willen handeln.112 Kant findet nun im Gefühl der Achtung, der Achtung vor dem moralischen Gesetz und in ihm der Achtung vor Personen und ihrer Würde das Gefühl, über das reine Vernunft im Menschen als Sinnenwesen praktisch wird und werden kann. Die Vernunftposition der Moralität hat im Menschen als vernünftigem Sinnenwesen eine Gefühlsdisposition zur Folge, die sich als Gefühl der Achtung bekundet und als Kausalfaktor im empirischen Motivationsgeschehen sichtbar und wirksam wird. Das moralische Gefühl der Achtung ist zwar ein sinnliches, ein allemal physisches, kein intellektuelles,113 jedoch von seinem Ursprung her kein naturales Phänomen.114 Es ist von allen naturalen, auch bei Tieren beobachtbaren Phänomenen kategorial verschieden. Man muss schon die Position der Moralität innehaben, sich als moralisches Subjekt im Miteinander vernunftfähiger Wesen verstehen, um Achtung vor dem Gesetz als genuin moralisches Gefühl mit den entsprechenden emotiven Aspekten der moralischen Selbst- und Fremdschätzung, des Gewissens und der (praktischen) Nächstenliebe zu empfinden. Dieses Gefühl dient denn auch nicht, wie ›Empiristen der praktischen Vernunft‹ meinen, »zur Beurteilung der Handlungen, oder wohl gar zur Gründung des objektiven Sittengesetzes selbst, sondern bloß zur Triebfeder, um dieses in sich zur Maxime zu machen«.115

109 KpV V, 72. 110 Vgl. MdS VI, 399. 111 KpV V, 73. 112 Dieser kritischen Position geht ein langes Ringen Kants um die richtige Verhältnisbestimmung von Vernunft und Gefühl, insbesondere in der Auseinandersetzung mit der Philosophie von Francis Hutcheson, voraus. Vgl. dazu Forschner, Maximilian 1974, 79 ff. 113 MdS VI, 377; vgl. KpV V, 75. 114 KpV V, 76. 115 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 173

08.11.2021 16:20:43

174

VI. Kants kritisches ­Freiheitsverständnis

Das durch die Position der Moralität gegebene, mehr oder weniger ausgeprägte Gefühl der Achtung bedarf der Förderung und Pflege. Und es motiviert uns zur Kultur auch der moral-analogen Gefühle und Impulse, die bereits unsere sinnliche (soziale) Natur mit sich bringt. Die Kultur emotiver Kräfte ist nötig, wenn sich das moralitätsfähige Subjekt in Konfliktsituationen mit entgegenstrebenden naturbedingten Neigungen praktisch bewähren soll. Umgekehrt bietet das Gefühl der Achtung für Kant aber auch die empirische Gewähr, dass wir im transzendentalen Sinne frei sind, dass wir als Menschen jedenfalls grundsätzlich in der Lage sind, alle nach Gesetzen der Natur vorhandenen, gegebenenfalls widerstrebenden Neigungen zugunsten dessen außer Kraft zu setzen, was das moralische Gesetz zu tun kategorisch gebietet. Selbst wenn mir weder an mir selbst noch an anderen ein schlagendes Beispiel der Realisierung des moralischen Gesetzes begegnet zu sein scheint, so macht uns das gefühlsbesetzte Bewusstsein dieses Gesetzes doch im Grundsätzlichen unmissverständlich klar, dass wir können, was wir sollen, dass wir im transzendentalen Sinne frei sind: Man frage, so Kant, einen Menschen, ob, »wenn sein Fürst ihm unter Androhung [der…] Todesstrafe zumutete, ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es tun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; dass es ihm aber möglich sei, muss er ohne Bedenken einräumen. Er urteilt also, dass er etwas kann, darum weil er sich bewusst ist, dass er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.«116

Im moralischen Gefühl der Achtung vor dem Gesetz manifestiert sich für Kant auf signifikante Weise die Wirkung der intelligiblen auf die empirische Seite der menschlichen Person, insofern diese Person eine moralische Position (wie eingeschränkt oder uneingeschränkt auch immer) bezogen hat. Es liegt in diesem Zusammenhang nahe, sich auch mit Kants theoretischem und praktischnormativem Problem der Anwendung einer praktischen Gesetzlichkeit, die für vernünftige Wesen überhaupt gelten soll, auf den Menschen (als sinnlich-vernünftiges Weltwesen) eingehender und systematischer zu befassen. 116 KpV V, 30.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 174

08.11.2021 16:20:43

VII. R  eine Morallehre und ­Anthropologie »[W]ir werden oft die besondere Natur des Menschen, die nur durch Erfahrung erkannt wird, zum Gegenstande nehmen müssen, um an ihr die Folgerungen aus den allgemeinen moralischen Prinzipien zu zeigen, ohne dass jedoch dadurch der Reinigkeit der Letzteren etwas benommen, noch ihr Ursprung a priori dadurch zweifelhaft gemacht wird. – Das will so viel sagen als: Eine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden.« Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung II, AA VI, 217

1. R  eine Moral, Metaphysik der Sitten, empirische Anthropologie (a) Kants Grundlegung einer transzendentalen Metaphysik der Moral orientiert sich an der »gemeinen Idee« eines guten Willens. Der gute Wille, so formuliert Kant in engem Anschluss an die stoische Tradition,1 sei das, was allein »ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden«.2 Die reine ­Morallehre soll allerdings »die Idee und die Prinzipien eines möglichen reinen Willens untersuchen und nicht die Handlungen und Bedingungen des menschlichen Wollens überhaupt, welche größtenteils aus der Psychologie geschöpft werden«.3 Diese von Kant erstmals ins Werk gesetzte strenge Trennung von »reiner Morallehre« bzw. transzendentaler Metaphysik praktischer Vernunft und 1 Die Nähe der kantischen zur stoischen Ethik wird deutlich zu Beginn der GMS. Kant teilt mit der Stoa den Grundsatz, dass gut im uneingeschränkten Sinn nur das sittlich Gute (μόνον τὸ καλὸν ἀγαθόν) ist. Was für Kant der gute Wille, ist für die Stoa die rechte Vernunft (λόγος ὀρθός), die zum Handeln drängt, während unter das Gleichgültige (τὰ ἀδιάφορα) all das fällt, was dem vernünftigen Streben in irgendeiner Weise vorgegeben ist, was wir gut oder schlecht gebrauchen können und was uns zum Wohl oder Leid gereichen kann. Vgl. dazu Forschner, Maximilian 2018, 183–197. 2 GMS IV, 393. 3 GMS IV, 390 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 175

08.11.2021 16:20:43

176

VII. Reine Morallehre und ­Anthropologie

Anthropologie hat zur Folge, dass in der Grundlegungsschrift und in der Kritik der praktischen Vernunft zentrale Themen der überkommenen philosophia practica generalis nicht mehr behandelt werden. Pointiert formuliert könnte man sagen, Kant habe mit den genannten Schriften keine Ethik (des menschlichen Lebens) geschrieben, sondern sich lediglich mit transzendental-metaphysischen Prinzipienfragen dieser philosophischen Disziplin beschäftigt. Und in der Tat findet sich von Kants Ethik weit mehr in seiner Metaphysik der Sitten als in der GMS und der KpV. Ob und wie es Kant gelingt, »eine reine Moralphilosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert wäre«,4 soll uns hier nicht beschäftigen. Eine metaphysische Morallehre für »vernünftige Wesen überhaupt«, die auch für den Menschen als Menschen praktische Bedeutung haben soll, kommt jedenfalls, das weiß auch Kant, weder ohne eine anthropologische Grundbegrifflichkeit noch ohne eine auf generalisierender praktisch-pragmatischer Lebenserfahrung basierende Menschenkunde aus. Die reine Morallehre darf nach Kant zwar nicht auf Anthropologie gegründet, aber sie kann bzw. muss auf sie angewandt werden. (b) Die Verbindung von reiner Morallehre und Anthropologie leistet die Metaphysik der Sitten. Das Konzept einer Metaphysik der (menschlichen) Sitten betrifft die Prinzipien der Anwendung des Grundsatzes bzw. der Grundsätze des sittlichen Lebens vernünftiger Wesen überhaupt auf die besondere Natur des Menschen und setzt somit eine gewisse Kenntnis der Natur des Menschen voraus.5 Diese Kenntnis zu vermitteln kann nicht Sache einer reinen Morallehre sein. Sie ist im kantischen Aufbau des Systems der Psychologie bzw. der Anthropologie zugewiesen.6 Wie jede mit Dingen und Vorgängen in der Welt befasste Wissenschaft hat Anthropologie für Kant einen rationalen und einen empirischen Teil. Der Begriff einer rationalen Anthropologie bedeutet nun nicht, ihre Grundbegriffe und Grundsätze würden gebildet und gerechtfertigt ohne Rekurs auf die Fakten menschlichen Lebens. Die besondere Natur des Menschen, so Kant, wird nur durch Erfahrung erkannt.7 Es bedeutet indessen, dass es hier nicht um empirische Forschung geht. 4 GMS IV, 389. 5 Vgl. Frierson, Patrick 2003. 6 Vgl. dazu Jacobs, Brian/Kain, Patrick (Hgg.) 2003; Sturm, Thomas 2009; Louden, Robert B. 2000; ders. 2011. 7 Vgl. MdS VI, 217.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 176

08.11.2021 16:20:43

1. Reine Moral, Metaphysik der Sitten, empirische Anthropologie

177

Was es heißt, den rationalen Teil einer bestimmten erfahrungsbezogenen Wissenschaft, das heißt einer speziellen Metaphysik, zu erarbeiten, hat Kant in der KrV angedeutet und in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft für die Physik (seiner Zeit) ausgeführt. Aus der Erfahrung genommen wird hier »nichts weiter als was nötig ist, um ein Objekt, teils des äußeren, teils des inneren Sinnes zu geben«.8 Eine spezielle Metaphysik also »beschäftigt sich mit einer besonderen Natur dieser oder jener Dinge, von denen ein empirischer Begriff gegeben ist, doch so, dass außer dem, was in diesem Begriff liegt, kein anderes empirisches Prinzip zur Erkenntnis derselben gebraucht wird«.9 Jede Erfahrungswissenschaft setzt ganz allgemein gesprochen dadurch, dass sie sich einen bestimmten Untersuchungsbereich vorgibt, eine Begrifflichkeit voraus, die die eindeutige Identifizierung ihres Bereichs und der erfahrbaren Gegenstände als Gegenstände dieses Bereichs ermöglicht. Eine empirische Anthropologie, die faktische menschliche Anlagen, Dispositionen und Verhaltensweisen erforscht, setzt einen Begriff vom Menschen voraus, der es ihr erlaubt, genuin menschliche Attribute von jenen anderer belebter oder nichtbelebter Entitäten zu unterscheiden und zu strukturieren. Unter einer speziellen Metaphysik versteht Kant nichts anderes als die (Erfassung, Erläuterung, Verbindung und) »vollständige Zergliederung«10 dieser für eine bestimmte Wissenschaft kon­ stitutiven Grundbegrifflichkeit und das Aufstellen von Grundsätzen, die allein aus den terminologischen Grundbestimmungen sich ergeben. Dieses nicht-empirische, analytische und synthetische Verfahren mit gegebenen Begriffen ist zu unterscheiden von der vorgängigen, auf theoretische und praktische Erfahrung gestützten Bildung und Rechtfertigung dieser ­Begriffe. Der philosophischen Anthropologie in pragmatisch-praktischer Hinsicht werden diese Begriffe durch die vorgängige alltägliche sprachlich vermittelte Lebenspraxis und deren Selbstverständnis sowie durch Stand und Tradition diesbezüglicher wissenschaftlicher Forschung und philosophischer Reflexion angeboten. Eine praktische Philosophie, die für menschliches Leben etwas aussagt, empfiehlt und fordert, bedarf einer anthropologischen Begrifflichkeit, deren Darstellungs-, Unterscheidungs- und Strukturierungsleistung durch reflexive Analyse

8 KrV A 848/B 876. 9 MAN IV, 469 f. 10 MAN IV, 472.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 177

08.11.2021 16:20:43

178

VII. Reine Morallehre und ­Anthropologie

und ­Synthese zwar geklärt, kritisiert, präzisiert und systematisiert, aber nicht konstruiert wird. (c) Nun lässt sich Kant diese Begrifflichkeit überwiegend nicht von der Sprache des Alltags, sondern von der schulischen psychologia rationalis,11 aber auch, wie etwa in seiner Erkenntnis-12 oder Glückstheorie, vom philosophischen Empirismus und Sensualismus seiner Zeit vorgeben.13 Außerdem verzichtet er weitgehend auf ihre analytische Diskussion. Der wichtige Einleitungsabschnitt der MdS »Von dem Verhältnisse der Vermögen des menschlichen Gemüts zu den Sittengesetzen« begnügt sich mit rein definitorischen Feststellungen anthropologischer Grundbegriffe (wie Leben, Begehrungsvermögen, Lust/Unlust, Gefühl, Begierde, Neigung, Interesse, Willkür, Wille), die überwiegend von der rationalistischen14 und empiristischen Aufklärungsphilosophie übernommen sind. (d) Ferner scheint Kant die eigene systematische Verhältnisbestimmung von reiner Morallehre für vernünftige Wesen überhaupt, Metaphysik der (menschlichen) Sitten und empirischer Anthropologie nicht immer genau zu beachten. An manchen Stellen etwa, in denen von der Anwendung der reinen Morallehre auf den Menschen die Rede ist, wird der zweite Teil der praktischen Philosophie übersprungen und der Anwendungsschritt zudem so verstanden, als sei er lediglich der einer durch Empirie geübten Urteilskraft, die besondere Fälle unter generelle apriorische praktische Gesetze zu subsumieren vermag.15

11 Als Vorlage besonders wichtig ist hier Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysica, 1739 in erster, 1750 in dritter Auflage erschienen. 12 Was etwa die »niederen« Erkenntnisvermögen betrifft. 13 Vgl. dazu Brandt, Reinhard 1999. 14 Besonders deutlich scheint der rationalistische Hintergrund in der Eingangsdefinition durch: »Begehrungsvermögen ist das Vermögen eines Wesens, durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein. Das Vermögen eines Wesens, seinen Vorstellungen gemäß zu handeln, heißt das Leben« (MdS, Einleitung, VI, 211). 15 »[…] alle Moralphilosophie beruht gänzlich auf ihrem reinen Teil, und, auf den Menschen angewandt, entlehnt sie nicht das Mindeste von der Kenntnis desselben (Anthropologie), sondern gibt ihm als vernünftigem Wesen Gesetze a priori, die freilich noch durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft erfordern, um teils zu unterscheiden, in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben, teils ihnen Eingang in den Willen des Menschen zu verschaffen.« GMS IV, 389; vgl. MdS VI, 217 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 178

08.11.2021 16:20:43

2. Ein a priori gültiges praktisches Gesetz

179

2. Ein a priori gültiges praktisches Gesetz Diese Unklarheit hat Folgen. Sie betrifft vor allem den für Kants Ethik zentralen Begriff eines a priori gültigen allgemeinen praktischen Gesetzes. (a) Sicher scheint, dass Kant darunter einmal einen Grundsatz verstanden wissen will, der »für den Willen jeden vernünftigen Wesens gültig« ist.16 Kant rechnet im Sinn der Tradition und des Geists seiner Zeit bei »vernünftigen Wesen« mit Gott, Engeln und Menschen. Was mit einem allgemeinen praktischen Gesetz gesagt ist, bezieht sich also auch auf den Menschen, und zwar, falls es sich bei ihm um ein endliches, sinnliches Vernunftwesen handelt, in Gestalt einer unbedingten Forderung. Ein solcher Grundsatz, in der reinen Morallehre aufgestellt, ist nicht situationsbezogen formuliert, derart, dass er ein bestimmtes Wollen relativ zu bestimmten Situationsbedingungen beschreiben oder vorschreiben würde. Er soll vielmehr für jedes Vernunftwesen in allen erdenklichen Situationen gelten. Würde er situationsbezogen formuliert, liefe er Gefahr, auch für mögliche nicht-menschliche Vernunft­ wesen etwas zu sagen, was für sie irrelevant oder unzutreffend sein könnte. Er bringt so die in jeder Hinsicht situationsunabhängige Struktur vernünftigen Wollens überhaupt zum Ausdruck: Das Prinzip einer universalen Gesetzlichkeit des Wollens, das die uneingeschränkte wechselseitige Anerkennung aller Vernunftwesen als Vernunftwesen zum Inhalt individuellen Wollens macht. Denn vernünftiges Wollen will die Möglichkeit und Wirklichkeit vernünftigen Wollens, wer immer sein Träger und was immer sein Gegenstand sein mag. (b) Sicher scheint zum Zweiten, dass Kant unter einem a priori gültigen allgemeinen praktischen Gesetz nicht nur das formale Prinzip vernünftigen Wollens überhaupt verstanden wissen will, sondern auch Gesetze, die sich aus der Anwendung des Prinzips auf faktisch-generelle Situationsbedingungen menschlichen Lebens ergeben. In diese Gesetze geht die anthropologische Grundbegrifflichkeit ein, ohne sie deshalb zu Gesetzen zu machen, die ihre Verbindlichkeit faktischen Gegebenheiten verdanken. Es sind kategorische Imperative für den Menschen als Menschen. Die Kenntnis dessen, was diese Gesetze bedeuten, welchen jederzeit möglichen oder wirklichen Gegebenheiten menschlichen Lebens und menschlicher Praxis sie nach dem Maßstab und in 16 KpV V, 19.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 179

08.11.2021 16:20:43

180

VII. Reine Morallehre und ­Anthropologie

Anwendung des formalen Grundprinzips eine verbindliche Ordnung verleihen, ist durch Erfahrung vermittelt. Was es heißt und impliziert, aus Mitleid, aus Neid, aus Rachsucht zu handeln, in menschlichen Angelegenheiten maßvoll, tapfer, gerecht, hilfsbereit, großzügig zu sein, sein Leben am Ziel sinnlicher Lust, gesellschaftlich-politischer Anerkennung und Macht oder theoretischer Erkenntnis zu orientieren, lebensfroh, schwermütig oder des Lebens überdrüssig zu sein – derartige elementare Bestimmungen menschlichen Fühlens, Strebens und Handelns sind unbestimmt-allgemein jedermann vertraut, der menschliches Leben im Sinn des Wortes »Lebenserfahrung« kennengelernt hat und auszulegen versteht. Das Problematische an Kants Philosophie sittlicher Praxis in diesem Zusammenhang ist: Er hat, im Ausgang vom Faktum (überzeugender) neuzeitlicher Physik, die Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Naturerfahrung transzendental rekonstruiert bzw. zu rekonstruieren versucht. Er hat nicht im Ausgang vom hochkomplexen Faktum menschlicher Lebenserfahrung und ihrer Sprache »durch vollständige Zergliederung« die Voraussetzungen und Grundelemente einer praktisch-pragmatischen Anthropologie aufgedeckt, sondern sich weitgehend mit philosophisch stilisierten definitorischen Feststellungen begnügt.17 (c) Die von Kant unter dem Titel »Tugendpflichten« formulierten a priori gültigen allgemeinen praktischen Gesetze sind solche der Anwendung des reinen Moralprinzips auf Grundbestimmungen der conditio humana überhaupt und der durch sie vorgegebenen Möglichkeiten. Sie verwenden somit auch Begriffe und Sätze, deren Bedeutung und Realitätsbezug nicht a priori erfasst oder konstruiert ist. Sie beziehen sich auf Tatsachen und Möglichkeiten des

17 Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn Kants philosophische Autorität, die in Fragen der Moralbegründung nach wie vor ungebrochen ist, in Fragen aktueller philosophischer Anthropologie, zumal in der Theorie des Geistes, des Wollens, Fühlens und Handelns, im Vergleich etwa zu jener von Aristoteles eine eher nachgeordnete Rolle spielt.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 180

08.11.2021 16:20:43

2. Ein a priori gültiges praktisches Gesetz

181

Menschen als eines »vernünftigen Naturwesens«:18 auf Tatsachen und Möglichkeiten der Motivierung menschlichen Strebens, auf Arten des Fühlens, auf Möglichkeiten und Grenzen gegenseitiger Beeinträchtigung und Hilfe, auf das Verhältnis des Menschen zu sich selbst als Naturwesen, Kulturwesen und sittliches Wesen etc. (d) Die Situationsbedingungen, die diese Gesetze enthalten, sind hochgenerell in dem Sinne, als sie für jeden Menschen jederzeit zutreffen bzw. zutreffen können: die Situation von Bedürftigkeit überhaupt, die Situation der Kultivierungsmöglichkeit, die Situation äußerer Bedrohung, die Situation physischen Schmerzes etc. Was diese Gesetze gebieten, ist gleichfalls hochgenerell: Sich selbst zu erhalten und zu kultivieren versuchen, auf praktische Verständigung bedacht sein, das Glück der Mitmenschen zu befördern trachten etc. Kennzeichnend für diese Gesetze ist, dass sie im Unterschied zum Moralprinzip über den reinen Begriff eines praktischen Gesetzes für vernünftige Wesen überhaupt bereits Inhaltliches und Unterschiedliches besagen, dass sie menschliches Leben überhaupt durch Angabe elementar-allgemeiner Situationsmerkmale gliedern und diese mit elementar-allgemeinen Strebensrichtungen bzw. Zielen verbinden. Sie beziehen sich jedoch nicht, wie etwa bestimmte Rechtsgesetze, moralische Regeln und Sitten, auf bestimmte Situationstypen und definierbare Handlungstypen, sondern auf elementar-materiale Grund­ sätze bewussten Strebens, die in jeder Situation und in jeder Handlung im Spiel sein können. In diesem Sinn erklärt Kant: »Die Ethik gibt nicht Gesetze für

18 MdS, Einleitung zur Tugendlehre, VI, 379. Kants Anthropologie formuliert Tatsachen wie: »Glückseligkeit […] zu suchen, ist der menschlichen Natur unvermeidlich« (MdS VI, 387); der Mensch sei unvermögend, »nach irgendeinem Grundsatz mit völliger Gewissheit zu bestimmen, was ihn wahrhaft glücklich machen werde« (GMS IV, 418); die »Antriebe der Natur enthalten […] Hindernisse der Pflichtvollziehung im Gemüt des Menschen« (MdS Einleitung zur Tugendlehre I, VI, 380) etc. Wie ambivalent sich Kant über den theoretischen Status derartiger genereller Aussagen über den Menschen ausdrückt, zeigt eine Stelle der GMS, die erklärt, die »Absicht auf Glückseligkeit« könne »man sicher und a priori bei jedem Menschen voraussetzen […], weil sie zu seinem Wesen gehört« (GMS IV, 415 f.). Das »und a priori« ist ein Zusatz der zweiten Auflage, und für »Wesen« steht in der ersten Auflage »Natur«. Kant trifft hier also Wesensaussagen über den Menschen. Wie er zur Erfassung seines Wesens gelangt, sagt er nicht; »a priori« kann hier ja wohl nur bedeuten, dass die Aussage in der Definition des Menschen enthalten ist. Die Definition selbst aber ist zu verstehen als eine feststellende Definition über ein empirisch gegebenes Phänomen, die nur durch (Wesenserfassung anhand von) Erfahrung gerechtfertigt werden kann.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 181

08.11.2021 16:20:43

182

VII. Reine Morallehre und ­Anthropologie

die Handlungen (denn das tut das Jus), sondern für die Maximen der Handlungen.«19 (e) Kant ist sich ganz offensichtlich im Klaren darüber, dass diese Gesetze in dem, was zu wollen sie gebieten, die Sphäre konkreten Handelns nicht erreichen. Sie können nicht bestimmt angeben, »wie und wieviel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden soll«.20 Die Gesetze verpflichten zu etwas unbedingt, das heißt, sie schreiben der Willkür ein Ziel (in Kants Terminologie einen »Zweck«) vor, dem sie unter keinerlei ihr vorgegebenen Bedingungen entgegenstreben darf, will sie sich als moralisch guter Wille erweisen. Zweck, so Kant, »ist ein Gegenstand der Willkür (eines vernünftigen Wesens), durch dessen Vorstellung diese zu einer Handlung, diesen Gegenstand hervorzubringen, bestimmt wird«.21 Doch die in den genannten Gesetzen gebotenen Ziele sind so allgemeine und abstrakt gesehen keineswegs in irgendeiner Hinsicht sich ausschließende Sachverhalte (Selbsterhaltung, Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Kultivierung etc.), dass sich ihnen ohne Rekurs auf gegebene unterschiedliche Situationsbedingungen kein bestimmtes Handlungsschema im Unterschied zu einem anderen als »Mittel« zuordnen lässt. Ferner sind die in ihnen enthaltenen Situationsmerkmale nicht so, dass sie für menschliche Handlungssituationen eine Grundklassifikation ermöglichen. Die Merkmale klassifizieren nicht verschiedene Situationstypen, sondern Umstände, die auf jede menschliche Handlungssituation zugleich zutreffen können: In jeder Situation kann es zugleich der Fall sein, dass andere meiner Hilfe bedürfen, dass ich als sprachfähiges Wesen angesprochen bin, dass die Möglichkeit zur Bildung oder Vernachlässigung meiner Talente besteht, dass ich des Lebens überdrüssig bin etc. So gesehen sind die hier thematisierten apriorischen 19 MdS, Einleitung zur Tugendlehre, VI, 388. Zum kantischen Begriff der (praktischen) Maxime vgl. Bittner, Rüdiger 1974, 485–498; Bubner, Rüdiger 1976, 185–201; Höffe, Otfried 1979, 86–102; McCarty, Richard R. 2006, 65–83; Schwartz, Maria 2006. Ein konsensfähiges Ergebnis dieser Studien dürfte sein: Praktische Maximen sind subjektive (nicht eo ipso bewusste, doch irgendwie frei gewählte) materiale Grundsätze, in denen sich die persönliche philosophy of life zentriert. Ob nur oberste materiale Grundsätze Maximen zu nennen sind oder auch solche mit engerem Anwendungsbereich, ist im Blick auf Kants Sprachgebrauch schwer entscheidbar. Jedenfalls sieht das Verfahren der Verallgemeinerung einer Maxime vor, zunächst zu einer gegebenen subjektiven Handlungsregel den allgemeinsten Grundsatz zu suchen und ihn dann als ein objektives, allgemeingültiges Gesetz zu denken. 20 MdS, Einleitung zur Tugendlehre, VI, 390 (Hervorh. M. F.). 21 MdS, Einleitung zur Tugendlehre, VI, 381; vgl. KdU § 82, V, 426. Zur Kritik des kantischen Zweckbegriffs vgl. Ebert, Theodor 1977, 21–39.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 182

08.11.2021 16:20:43

2. Ein a priori gültiges praktisches Gesetz

183

Gesetze nicht zu verstehen als verschiedene praktische Grundsätze, die je eine bestimmte Verbindung objektiv bestimmbarer Situationstypen mit objektiv bestimmbaren Handlungsschemata und Zieltypen zum Inhalt haben. Vielmehr handelt es sich um unterscheidbare Gesichtspunkte, um »moralische Reflexionsbegriffe«,22 die bei der sittlichen Beurteilung jeder Handlungssituation, Handlungsregel und Handlung unbedingt zu berücksichtigen sind. Mit der Formulierung der kantischen Tugendpflichten ist die Ebene noch nicht erreicht, die auf dem Gebiet bewussten Strebens dem Gebiet praktischpolitischer Gesetze und Sitten oder bestimmter moralischer Handlungsregeln entsprechen würde. Sie schreiben nicht das unbedingte Wollen der Aktualisierung eines bestimmten Handlungsschemas relativ zu einer gegebenen Situation vor, die in der Formulierung des Gesetzes als Typus angegeben ist. Sie enthalten noch keinerlei bestimmte Handlungsregeln23 oder gar konkrete Handlungsanweisungen. (f) Das von Kant angesprochene Problem der Anwendung24 dieser apriorischen praktischen Gesetze betrifft dann zunächst nicht die Fähigkeit, einen Einzelfall unter ein bestimmtes gegebenes Schema zu subsumieren, sondern die Fähigkeit, im Blick auf die apriorischen Gesetze und auf eine bestimmte gesellschaftlich-geschichtliche Situation allererst bestimmte Regeln zu bilden oder bereits gegebene Regeln zu beurteilen. Um in der Analogie zu bleiben: Die von Kant geforderte »durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft« ist nicht nur und nicht primär die des Bürgers, des Politikers, des Richters in einer bestehenden rechtlich-politischen Gemeinschaft, sondern allererst die des Gesetzgebers. Oder, um eine andere Analogie zu bemühen: Das Problem der Anwendung einer Tugendpflicht auf eine gegebene Situation ist zunächst nicht vergleichbar dem Problem der Anwendung bestimmter Kausalgesetze auf ein konkretes Phänomen der Natur, sondern dem der Auffindung bestimmter Kausalgesetze für Klassen von Phänomenen nach Maßgabe des Prinzips der Kausalität überhaupt.

22 Zu diesem von Kant selbst verwendeten Terminus vgl. MdS VI, 442. 23 Zum Begriff der Handlungsregel vgl. Rawls, John 1955, 3–32; Bubner, Rüdiger 1976, 175– 184. 24 Vgl. GMS IV, 389; MdS VI, 217 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 183

08.11.2021 16:20:43

184

VII. Reine Morallehre und ­Anthropologie

3. Z  um Verhältnis der Tugendpflichten: Der Ausschluss moralischer Tragik (a) Die Tugendpflichten sind in Anwendung des Moralprinzips auf die conditio humana überhaupt und nicht im Blick auf bestimmte Situationstypen formuliert. Die Handlungsziele, die in der Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit, zur Nächstenliebe, zur Ausbildung von Talenten etc. enthalten sind, sind verbindlich jederzeit und für jedermann wie gegenüber jedermann, dessen Leben die elementaren Merkmale »menschliches Leben« trägt. Sie betreffen jedenfalls nur Wesen, die bedürftig sind, die lügen, die sich selbst vernachlässigen, die des Lebens überdrüssig werden können etc. (b) Über das Verhältnis der in den Tugendpflichten angesprochenen Ziele untereinander lässt sich aus reiner Vernunft im Blick auf die abstrakt definitorisch bestimmte conditio humana nichts ausmachen, derart etwa, dass die Wahrhaftigkeit der Nächstenliebe übergeordnet oder nachgeordnet wäre. Abstrakt gesehen, in einem idealen »Reich der Zwecke« bzw. in der Typik einer idealen Natur, taucht das Problem ihrer Rangfolge und Kompatibilität wohl nicht auf. Sind doch die entsprechenden Maximen ebenso wie die Maxime der Gleichbehandlung dieser Ziele im strikten Sinn verallgemeinerungsfähig. Im abstrakten Gefüge a priori gültiger praktischer Gesetze im Sinne von Tugendpflichten des Menschen kann es keine Hierarchie und keine Widersprüche geben. Mögliche Beschränkungen ihrer handlungsbestimmenden Funktion ergeben sich erst im Blick auf die konkrete Situation. Jedermann verpflichtende Maximen geben nicht zu verstehen, »wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zwecke, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle«. Insofern es sich um a priori gültige Gesetze handeln soll, ist allerdings die Möglichkeit von Ausnahmen zu den Maximen ausgeschlossen. Der »Spielraum (latitudo)«,25 den die Maximen dem Handeln eröffnen, ist nicht so zu verstehen, dass er an seinen Grenzen durchlässig wäre.26 So ist beispielsweise nach Kant niemals ein Handeln erlaubt, dessen Beschreibung mit den generellen Bestimmungen des Sachverhalts »Wahrhaftigkeit« bzw. »Nächstenliebe« 25 MdS VI, 390. 26 »Es wird aber unter einer weiten Pflicht nicht eine Erlaubnis zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen, sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere (z. B. die allgemeine Menschenliebe durch die Elternliebe) verstanden« (MdS, Einleitung zur Tugendlehre, VI, 390).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 184

08.11.2021 16:20:43

3. Zum Verhältnis der Tugendpflichten: Der Ausschluss moralischer Tragik

185

bzw. »Kultivierung« bzw. »Selbsterhaltung« Unvereinbares oder Abträgliches enthält. Geboten ist stets, dass das, was wir im Rahmen eines Handlungsspielraums mit unserem Handeln konkret erreichen wollen und erwartbar erreichen können, keinem abstrakten Zweck einer Tugendpflicht widerspricht. Ob dieser rationalistische Ansatz, der keine objektive Tragik einräumt, den sittlichen Anforderungen der Würde und des Elends des Menschen in allen Lebenslagen entspricht und entsprechen kann, wird zu prüfen sein. (c) Handeln in einem sittlichen Spielraum bedeutet für den Menschen stets, unter mehreren möglichen und erlaubten Alternativen eine zu ergreifen und andere (oft unwiederbringliche) auszuschließen. Hier ist (nicht nur für Aristoteles, sondern auch für Kant) das genuine Feld situationsbezogener sittlichpraktischer Vernunft des Menschen, der φρόνησις, die stets auf Erfahrungswissen theoretischer und praktischer Art sich stützen muss. Sie vermittelt das Moralprinzip und die Tugendpflichten mit jenen Bedingungen und Gründen des Handelns, die nur eine reflektierende und bestimmende Urteilskraft zu erfassen vermag. (d) Die Frage ist, ob auf der Ebene bestimmter Grundsätze und Handlungsregeln, die die in der Welt tätige menschliche Vernunft relativ zu vergleichbaren bestimmten Situationen bildet, in Erwägung zieht und anwendet, noch Gesetze formulierbar sind, die, gleich den Grundsätzen einer speziellen Metaphysik, im Bereich menschlichen Handelns ausnahmslos Geltung beanspruchen können. Derartige Gesetze müssten als Maximen bestimmte Situationstypen mit bestimmten Zielsetzungen, als Handlungsregeln bestimmte Situationstypen mit bestimmten Handlungsschemata verbinden. Sie hätten die Form: Wenn immer eine Situation mit den Merkmalen a1-an gegeben ist, bin ich verpflichtet, x zu tun bzw. zu versuchen, x zu erreichen (wobei x ein bestimmtes Handlungsschema bzw. einen bestimmten Zieltypus meint). Nun nennt Kant (in Konsequenz des eben unter Punkt b Gesagten) tatsächlich Pflichten, die diese Struktur in einer Hinsicht erfüllen. Und zwar sind es nicht solche, die »gebieten, sich einen gewissen Gegenstand der Willkür zum Zweck zu machen«, sondern solche, »welche dem Menschen in Ansehung des Zwecks seiner Natur verbieten, demselben zuwider zu handeln«.27 Es sind dies das ausnahmslos bindende Verbot des Suizids und das ausnahmslos bindende Verbot der Lüge. Ungleich den ebenso strikten Verboten des Geizes, der Feig27 Vgl. MdS VI, 419; vgl. 422 ff.; 429 ff.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 185

08.11.2021 16:20:43

186

VII. Reine Morallehre und ­Anthropologie

heit, der Unmäßigkeit, der Lieblosigkeit, der Selbstvernachlässigung etc. lassen diese apriorischen Verbote nicht ebenso unbestimmt, worin genau für eine bestimmte Person in ihrer Situation die Art von konkreter Zielsetzung und Handlung jeweils liegt, die durch die normative Vorgabe verboten ist. Im einen Fall ist es die bestimmte Form (sc. die Nichtvereinbarkeit dessen, was man sagt, mit dem, was man denkt), im anderen Fall die Bestimmtheit der Absicht (sc. die Zerstörung des eigenen Lebens), die Lüge und Suizid als situationsunabhängig und gleichwohl präzise definierbares Tun erscheinen lassen. Während die positiv formulierten Tugendpflichten und ein Teil ihrer Negationen nur einen allgemeinen Grundriss für bestimmte Zieltypen und Handlungsschemata vorgeben, deren nähere Regelbestimmung und konkrete Aktualisierung nach den gegebenen Umständen variieren und den ­Interpretations- und Beurteilungsleistungen der erfahrungsbezogenen Urteilskraft überantwortet bleiben und bleiben müssen, scheint hier ein Handlungsschema bzw. eine Absicht verboten zu sein, bei denen kein Spielraum und damit auch nicht das Problem einer variablen Regelbestimmung und Aktualisierung dessen, was man nicht beabsichtigen und tun darf, besteht. Andererseits hat Kant diese strikten Verbote nicht an das Vorliegen bestimmter Situationstypen gebunden. Suizid und Lüge sind, so Kant, für jedermann jederzeit verboten.28 Insofern erfüllen diese Verbotsgesetze nicht genau die hier diskutierte Struktur eines Gesetzes, das ausnahmslos relativ zu einem bestimmten Situationstypus eine bestimmte Verhaltensweise gebietet bzw. verbietet. Überflüssig ist deshalb auch eine durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft, die zu beurteilen und entscheiden hätte, »in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben«. Wer niemals lügen darf oder soll, braucht in concreto nicht zu überlegen und beurteilen, ob und wie dieses Gesetz anzuwenden ist. Er muss allenfalls überlegen, wie er sich geschickt und ohne Lüge einer veritablen Not- oder Konfliktsituation entledigen kann. (e) In der Literatur wenig Beachtung findet der Umstand, dass Kant mit derartigen bestimmten a priori gültigen praktischen Verboten den Rahmen der überkommenen, jedenfalls der antiken ethischen Tugend- und Lastertheorien zu sprengen scheint. Mag die Entdeckung der formalen Struktur aller Sittlichkeit, eine gewisse Präzisierung des Kriteriums der Verallgemeinerungsfähig28 Vgl. dazu Kants Schrift von 1797 Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, AA VIII, 423–430. Hier führt Kant beispielhaft aus, was in den Abschnitten »Kasuistische Fragen« der MdS meist undiskutiert bleibt. Insofern verdient diese Schrift besondere Beachtung.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 186

08.11.2021 16:20:43

3. Zum Verhältnis der Tugendpflichten: Der Ausschluss moralischer Tragik

187

keit der Maximen, die begrifflich scharfe Fassung des Gedankens moralischer Autonomie Kants eigene große Leistung sein, eine Leistung, die gleichwohl die Ethiken der antiken Schulen29 im Prinzipiellen weiterführt und, wenn auch mit einigen Modifikationen und Transformationen auf beiden Seiten, mit diesen zur Synthese gebracht werden könnte. Mit dem unbedingten Verbot von Lüge und Selbsttötung scheint Kant eine Grenze zu überschreiten, die die philosophische Ethik der Formulierung und Begründung praktischer Gesetze jedenfalls in der (paganen) Antike gezogen hat. Für Platon etwa30 bringen bestimmte generelle Anweisungen menschlichen Strebens und Verhaltens, im Unterschied zu Sätzen der Mathematik, keine strikt allgemeingültigen Zusammenhänge zum Ausdruck, von denen es keine Ausnahmen gäbe. Die möglichen Inzidentien menschlicher Handlungssituationen seien zu mannigfaltig, als dass man für sie bestimmte Gesetze mit strenger Allgemeingültigkeit formulieren und begründen könnte.31 Für Aristoteles besteht die der praktischen Philosophie angemessene Aufgabe neben der präzisen Bestimmung und »epagogischen«32 Begründung der rein formalen Merkmale von Glück zwar in der exakten Erfassung grundrissartiger materialer Orientierungen von allgemeiner Geltung für den Menschen als Menschen und Bürger.33 Aber diese seine Tugend-, Güter- und Institutionenlehre sieht nicht Gesetze vor, die in jedem Fall eindeutig zu bestimmen erlauben, welche Entscheidung richtig oder jedenfalls unrichtig ist. Bestimmte Handlungsregeln, so Aristoteles, gelten meistens (ὡς ἐπὶ τὸ πολύ), aber nicht immer. Und bestimmte Handlungsregeln sind nur formulierbar und begründbar auf der Basis von situationsbezogenen Erfahrungen, die die verantwortlich miteinander Handelnden in einer bestimmten Sprach- und Handlungsgemeinschaft mit ihren Sitten und Institutionen gemacht haben und machen. In Problem- und Konfliktlagen des Handelns gilt es allemal, die konkrete Situation genau zu prüfen (τὸν καιρὸν σκοπεῖν). Strikte Verbotsnormen sind mit gewisser Zurückhaltung zu behandeln. »Vielleicht (ἴσως)«, so Aristoteles bewusst vorsichtig, »gibt es eini-

29 Gemeint sind Akademie, Peripatos und Stoa. 30 Vgl. Politikos 293e–297b; sowie Ricken, Friedo 2008, 187–192. 31 Vgl. dazu Fritz, Kurt von 1961, 628 f. 32 Zu Epagogê als eigenartiger Form der Induktion bei Aristoteles vgl. Fritz, Kurt von 1964. 33 Zum Problem des »exakten Forschens (τὸ ἀκριβὲς ἐπιζητεῖν)« gegenüber dem »umrisshaften Bestimmen (τύπῳ περιλαβεῖν)« vgl. Nikomachische Ethik I, 3, 1094b13 ff.; II, 2, 1104a1 ff.; II, 7, 1107b14 ff.; Höffe, Otfried 1971, 2. Teil; Forschner, Maximilian 1987, 41–62.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 187

08.11.2021 16:20:43

188

VII. Reine Morallehre und ­Anthropologie

ges, wozu man sich nicht zwingen lassen darf, sondern eher Schrecklichstes erleidend den Tod auf sich nehmen muss«.34 In der Stoa steht an ihrem Beginn eine erbitterte Auseinandersetzung um Möglichkeit und Grenzen einer definiten materialen Güter- und Sittenlehre. Dem kynisierenden Ariston von Chios ist die Präzisierung der Einsicht zu danken, dass uneingeschränkte sittliche Gebote lediglich die weitgehend formale Struktur einer sittlichen Gesinnung, nicht aber bestimmte Handlungsanweisungen beinhalten können.35 Er scheint eine radikale Situationsethik vertreten zu haben. Die »orthodoxe« Stoa wollte ihm gegenüber der überkommenen materialen Güter- und Sittenlehre ein wenn auch begrenztes Recht eingeräumt sehen.36 Sie unterschied zwischen bestimmten Zweckempfehlungen und Handlungsregeln, die meistens passen (καθήκοντα ἄνευ περιστάσεως), und solchen, die in Ausnahmesituationen gelten (καθήκοντα περιστατικά), wobei letztere in der relativen Einmaligkeit einer extremen Situation bis zu konträren Gegensätzen dessen gehen können, was normalerweise in der Welt zu verfolgen als sittlich erstrebenswert bzw. moralisch geboten erscheint. Die Unterscheidungen der Stoa wurden für die pagane Folgezeit wegweisend. Das Christentum hat diese Tradition dann modifiziert und etwa den Suizid aufgrund des Gedankens des Obereigentums des Schöpfergottes über das menschliche Leben einem strikten Verbot unterworfen. Im strikten Verbot, nicht aber in seiner Begründung folgt Kant dieser Tradition. Vor einiger Zeit wurde denn auch auf einen genuin neuzeitlichen Aspekt der beiden kantischen Verbotsgesetze aufmerksam gemacht: Das unbedingte Suizidverbot und das unbedingte Lügeverbot seien Erhaltungsgrundsätze (des animalischen und zugleich moralischen Selbsts einerseits, des lediglich moralischen Selbsts andererseits), die im Kontext der spezifisch neuzeitlichen Idee der Selbsterhaltung des Seienden (in Antithese zu teleologischer Überanstrengung und theonomer Fremdbestimmung) zu lesen seien.37 Wie dem auch sei. Von der Frage nach dem geistes­ geschichtlichen Hintergrund38 ist die systematische Frage zu trennen, ob Kants 34 Nikom. Eth. III, 1, 1110a26 f. 35 Vgl. dazu die wenigen erhaltenen Fragmente und Testimonien in Stoicorum Veterum Fragmenta (ed. von Arnim) Bd. I, Nr. 351–403. Bei Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos, XI, 63 findet sich die Kernthese Aristons: Was es in der Welt handelnd vorzuziehen und zu meiden gilt, steht nicht von Natur aus fest, sondern hängt von den jeweiligen situativen Umständen ab. 36 Vgl. dazu Forschner, Maximilian 2018, 177–191; 206–216. 37 Vgl. Ebeling, Hans 1979; Sommer, Manfred 1977. 38 Vgl. dazu Róisin, Healy 2006.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 188

08.11.2021 16:20:43

4. Zu Kants strikten Verboten von Lüge und Selbsttötung

189

Begründung trägt, oder ob Kant mit der Aufstellung und Begründung dieser strikten, ausnahmslosen Verbote nicht die Möglichkeiten einer rationalen Ethik für Menschen etwas überanstrengt.

4. Z  u Kants strikten Verboten von Lüge und Selbsttötung Für Kant ist die Lüge »die größte Verletzung der Pflicht gegen sich selbst«;39 wer lügt, begibt sich seiner Menschenwürde, verzichtet auf seine »Persönlichkeit«.40 Und Suizid bedeutet für ihn, »das Subjekt der Sittlichkeit in seiner Person zernichten«, »die Sittlichkeit selbst, ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen«.41 Die Beurteilung dieser strikten kantischen Verbote ist umstritten. Für die eine Seite zeugen sie von »um alles Menschenglück unbekümmerten Wahrsprüchen einer transzendentalen Vernunft«.42 Von anderer Seite wird ihre »Ableitung« aus dem kategorischen Imperativ als zwingend behauptet43 oder versucht, ihre Plausibilität im Durchgang durch ein (scheiterndes) Verfahren der Verallgemeinerung gegenteiliger Maximen zu stützen.44 Nun liegt es, wenn Kants Argumentation nicht so recht überzeugen mag, nicht so sehr an der mangelnden logischen Stringenz ihrer Struktur als vielmehr an der umstrittenen Plausibilität ihrer Prämissen. Die Auseinandersetzung mit Kant in dieser Frage wird erschwert durch den Umstand, dass in seiner Ethik keine explizite, prägnante und detaillierte Analyse der menschlichen Handlungssituation vorliegt. (a) Der kategorische Imperativ (in seiner allgemeinsten Formulierung) gebietet, nur nach derjenigen Maxime zu handeln, von der man (vernünftigerweise) wollen kann, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.45 Er formuliert das Prinzip sittlicher Autonomie, »die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens

39 MdS, Tugendlehre VI, 429; vgl. AA VIII, 422. 40 MdS, VI, 429. 41 MdS, VI, 423. 42 Patzig, Günther 1971, 61. 43 So Ebeling, Hans 1979, 63 ff. u. ö. 44 So Ebbinghaus, Julius 1968; vgl. auch Höffe, Otfried 1979, 102 ff.; Geismann, Georg/Oberer, Hariolf (Hgg.) 1986; Sedgwick, Sally 1991, 42–62; Wittwer, Héctor 2001, 180–209. 45 Vgl. GMS IV, 421.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 189

08.11.2021 16:20:43

190

VII. Reine Morallehre und ­Anthropologie

als eines allgemein gesetzgebenden Willens«.46 Er unterstellt implizit, dass es mehrere Arten von Vernunftwesen geben mag. Als Imperativ unterstellt er ferner, dass seine Adressaten Subjekte sind, die vernünftig sein können, aber nicht von selbst immer schon vernünftig sind. Dies trifft jedenfalls auf den Menschen zu. Da die Anweisung des Imperativs für Maximen jeder Art gilt, sieht sie von den unterschiedlichen Situationsbezügen und Zielsetzungen der Maximen ab. Sie besagt dann lediglich, in seinen Grundsätzen der Lebensführung der eigenen Person, nur weil sie es ist, keine Vorzugsstellung einzuräumen, sondern sie wie Grundsätze zu betrachten, nach denen jedermann handeln darf bzw. soll bzw. in einem Reich völlig vernünftiger Wesen von selbst handeln würde. Die Plausibilität des kategorischen Imperativs als Ausdruck der formalen Struktur sittlichen Wollens lebt denn auch von dem Gedanken, dass es ein selbstverständliches Merkmal von Vernunft ist, nach von jedermann anerkennbaren Gesetzen zu handeln, die jeden in gleicher Weise binden und freisetzen.47 Wenn immer wir moralisch argumentieren, verwenden wir das Prinzip der Gleichheit: Was eine beliebige Person P (nicht) tun sollte, das sollte auch jede andere Person (nicht) tun, die sich in den gleichen Umständen wie P befindet. (b) Nun liegt das zentrale Problem des Prüfverfahrens der Verallgemeinerung subjektiver Maximen zu allgemeinen Gesetzen nicht so sehr darin, sie als jedermann verbindend zu denken und zu wollen. Die Anerkennung des Prinzips der Gleichheit qualifiziert eine Überlegung, ein Argument, einen Grundsatz überhaupt erst als ethisch. Ungleich schwieriger ist die Beantwortung der Frage, inwiefern und wie nach Kants Gedanken einer verobjektivierenden Verallgemeinerung der Maxime die Situationsbedingungen der Anwendung betroffen werden, die in den Maximen enthalten sind. (a1) Der kategorische Imperativ enthält das Gebot, in seinen Maximen sich selbst ebenso wie jeden anderen relativ zu gleichen Umständen gleich zu behandeln und als gleich handelnd zu denken und zu wollen. Er ist somit nur unter der Voraussetzung der Vergleichbarkeit von Handlungssituationen verschiedener Subjekte sinnvoll. Maximen, deren Handlungs- und Zielvorgaben an das Vorliegen von Situationsbedingungen gebunden sind, die auf die Einmaligkeit einer individuellen Situation abstellen, sind einer Verallgemeinerung 46 GMS IV, 431. 47 Kant hat diesen Gedanken von Rousseau übernommen und ihn von der politisch-rechtlichen Ebene auf die Ebene der Moralität übertragen. Vgl. dazu Forschner, Maximilian 1977, 117 ff.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 190

08.11.2021 16:20:43

4. Zu Kants strikten Verboten von Lüge und Selbsttötung

191

unzugänglich. Sie scheiden von vornherein als Kandidaten einer ethischen Reflexion aus. Nun ist indes Vergleichbarkeit von Handlungssituationen bereits analytisch durch das gefordert, was Kant unter Maximen im engeren Sinn offensichtlich verstanden wissen will: oberste Grundsätze der Lebensführung, in welchen sich die subjektive Vorstellung eines guten Lebens ausdrückt und gliedert.48 Sie beziehen sich auf elementar-allgemeine Bereiche, Aspekte und Ziele menschlichen Lebens und enthalten anthropologische Situationskonstanten, die man bei jedem Menschen aufgrund seiner Natur als Mensch als jederzeit gegeben oder möglich voraussetzen kann. (b1) Maximen enthalten nach Kant eine allgemeine Bestimmung des Willens, »die mehrere praktische Regeln unter sich hat«.49 Die praktischen Regeln sind Regeln der Besonderung einer Maxime für bestimmte häufiger oder weniger häufig auftretende Situationstypen. Ihr Geltungs- und Anwendungsbereich ist auf das Vorliegen bestimmter Umstände beschränkt. Die Rückführung subjektiv-praktischer Regeln auf ihre zugrundeliegende Maxime bedeutet, aus der Beschreibung der Situationsmerkmale, die eine bestimmte Regel als Bedingung ihrer Anwendung enthält, das Besondere zu eliminieren, derart, dass nur noch elementar-allgemeine Gattungsmerkmale der Situationstypen übrigbleiben. Kants kategorischer Imperativ als Beurteilungsprinzip von Maximen setzt eine solche Reduktion bestimmter subjektiv-praktischer Regeln voraus. Erst dann sind sie mit einem allgemeinen Naturgesetz (und nicht mehr, wie die bestimmten Regeln, mit einem speziellen Naturgesetz) vergleichbar. Die Vielzahl bestimmter subjektiver Regeln wird auf wenige elementare materiale Grundsätze zurückgeführt. Dass Kant eine derartige Reduktion bestimmter subjektiver Regeln verlangt und vorführt, wird an seinen Beispieldiskussionen sichtbar. So wird im Selbsttötungsbeispiel aus der besonderen Situation eines »bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsenen Lebensüberdrusses« durch abstrahierende Verallgemeinerung zunächst die elementar-allgemeine Situation der Perspektive eines Menschen, dem »das Leben bei seiner längern Frist mehr Übel droht als es Annehmlichkeit verspricht«50. Im letzten Schritt spricht Kant ganz generell dann nur noch von »Empfindung« und meint damit die Empfindung von Lust und Unlust. Sie habe, so Kant, die »Bestimmung […], zur Beförderung des Le48 Vgl. Bittner, Rüdiger 1974, 488 ff. 49 KpV V, 35. 50 GMS IV, 421 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 191

08.11.2021 16:20:43

192

VII. Reine Morallehre und ­Anthropologie

bens anzutreiben«.51 Das objektivierende Prüfverfahren schließlich ergibt: Ein Naturgesetz, das dieselbe Empfindung zum Lebensantrieb wie zur Lebenszerstörung benützt, würde sich selbst aufheben. Eine Maxime also, die eine negative Lust-Unlust-Bilanz bzw. enorme Unlust zum Grund der Selbsttötung macht, ist nicht als allgemeines Naturgesetz denkbar.52 Im Beispiel der Lüge und des vorsätzlich falschen Versprechens wird aus bestimmten Situationstypen extremer Not und Bedrohung (für sich oder Nahestehende)53 die Situation von jedermann, »nachdem er in Not zu sein glaubt«.54 (c1) Es ist klar, dass durch die bloße Angabe von obersten Gattungsmerkmalen der bestimmte in Frage stehende Situationstypus nicht mehr in seinem Wesen bzw. seiner Eigenart beschrieben wird. Die spezifische Differenz etwa eines Typus einer Notsituation gegenüber dem einer anderen bleibt ausgeklammert. Gleichwohl scheint Kants Gedanke auf dieser Ebene der Argumentation nicht einfach abwegig zu sein: Eine praktische Regel, die für einen bestimmten Situationstypus ein bestimmtes Handlungsschema mit bestimmter Zielrichtung formuliert, darf keinen Widerspruch zu dem enthalten, was eine Maxime will und besagt, die den entsprechenden Situationstypus lediglich nach obersten Gattungsmerkmalen in Rechnung stellt. Mit dem Gedanken erforderlicher Besonderungen elementarer Grundsätze im Blick auf näher bestimmte Umstände ist jedenfalls nicht der Gedanke erforderlicher Ausnahmen von den Grundsätzen verbunden. Und, so Kant, eine unsittliche Absicht bzw. eine unsittliche Handlung trägt immer das Merkmal einer Ausnahme an sich, sei es, dass man einer im Allgemeinen anerkannten Maxime im Einzelfall zuwider handelt, sei es, dass man eine bestimmte Regel bzw. einen Grundsatz lediglich als für sich selbst gültig beansprucht. Der übliche Verweis auf besondere Umstände dient dann nur der Verschleierung subjektiv-willkürlicher Tendenzen,

51 GMS IV, 422. Dies kann man sowohl von der Lust- als auch von der Schmerz- bzw. Unlustempfindung sagen. Kant denkt hier wohl eher an die Unlustempfindung. 52 Kant wechselt hier in seiner Situationsbeschreibung aus einer Situation, in der nur ein mit Sprache und Verstand begabtes Sinnenwesen sich befinden kann, in eine generelle Situation der Lust-Unlust-Empfindung, die alle Sinnenwesen betreffen kann. Diese metabasis eis allo genos stärkt nicht gerade die Überzeugungskraft seiner Argumentation. 53 Im Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (AA VIII, 423–430) ist es die Situation eines von einem Mörder verfolgten Freundes, dem man durch eine Lüge helfen könnte. 54 GMS IV, 422.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 192

08.11.2021 16:20:44

4. Zu Kants strikten Verboten von Lüge und Selbsttötung

193

»für uns oder (auch nur für dieses Mal) zum Vorteil unserer Neigung davon eine Ausnahme zu machen«.55 (c) Die Frage ist, ob Kant mit seinem Schema der Verallgemeinerung der möglichen, sittlich relevanten Komplexität von menschlichen Handlungssituationen und Handlungscharakteren gerecht wird. Nun ist es wohl nicht so, dass er von der irrigen Voraussetzung ausginge, »es sei eine Handlung unter Menschen durch einen ihrer Charaktere schon voll bestimmt«.56 Er ist sich der Aspekte sehr wohl bewusst, nach denen »eine Handlung zwar vielleicht einerseits eine Lüge, aber andererseits der einzige Weg, einen Menschen zu retten«,57 ist. Wovon Kant überzeugt ist, ist vielmehr dies: Keine bestimmte Zielsetzung und Handlung ist sittlich erlaubt oder gar geboten, die nach einer treffenden und adäquaten Beschreibung irgendeine Eigenschaft aufweist, die mit einem der in den Tugendpflichten formulierten allgemeinen Zwecke unvereinbar ist. Es ist die Plausibilität dieser Grundüberzeugung, die Zweifel erwecken mag. Sie scheint von einer wohlgeordneten moralischen Welt der Anforderungen auszugehen und einen Quietismus der reinen Seele zu privilegieren, der unseren intuitiven Anschauungen von sittlichen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsverpflichtungen in bestimmten Situationen widerspricht.58 Wir glauben, in Situationen, in denen wir handeln müssen und etwas zuhöchst moralisch Gutes nur durch unser Handeln realisiert werden kann, eine dabei unvermeidliche Verletzung einer moralischen Norm (von nach den besonderen Umständen geringerem Gewicht) in Kauf nehmen zu dürfen oder auch zu müssen. Diese Entscheidung für eine Verletzung einer moralischen Norm zugunsten eines höheren Guts auf subjektive Willkür oder auf Neigung zurückzuführen, ist unbegründet. (a1) Pflichtmaximen, so Kant, können in der Anwendung sich einschränken:59 Einmal so, dass eine gegebene Situation isoliert betrachtet die Voraussetzungen der Anwendung verschiedener Regeln derselben Maxime erfüllt, 55 GMS IV, 424. 56 So Patzig, Günther 1971, 59. 57 Patzig, Günther, ebd., 59; vgl. dazu Kant, MdS VI, 430 zur Lüge: »Es kann auch bloß Leichtsinn, oder gar Gutmütigkeit die Ursache davon sein, ja selbst ein wirklich guter Zweck dadurch beabsichtigt werden.« 58 Dass sich Kants Kerngedanke auch an der christlichen Tradition radikaler Nächstenliebe reiben würde, zeigt seine Konsequenz für extreme Not- und Konfliktsituationen: »Mit Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse), anderer ihre zu befördern, würde eine an sich selbst widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetz machte« (MdS VI, 393). 59 Vgl. MdS VI, 390.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 193

08.11.2021 16:20:44

194

VII. Reine Morallehre und ­Anthropologie

aber die vorhandenen Möglichkeiten in den konkreten Umständen dem Handelnden nicht die Befolgung aller Regeln erlauben. So kann die Maxime der Nächstenliebe, die die Regeln der Gattenliebe, Elternliebe, Kinderliebe, Freundesliebe, Bürgersolidarität etc. unter sich hat, mit einer Situation konfrontiert werden, in der mehrere aus verschiedenen Kreisen meiner Hilfe bedürfen, aber nicht allen von mir geholfen werden kann. (b1) Pflichtmaximen können zum anderen so sich einschränken, dass eine Situation in abstracto die Anwendung von Regeln verschiedener Maximen erfüllt, aber in concreto nur die Möglichkeit besteht, die Regel(n) einer Maxime zu befolgen. So kann das eigene Leben in Gefahr sein und das eines Mitmenschen und für mich nur die Möglichkeit bestehen, eines von beiden zu retten. (c1) Pflichtmaximen können schließlich so sich einschränken, dass in einer gegebenen Situation die Befolgung der Regel(n) einer Maxime nur durch die Verletzung der Regel(n) einer anderen möglich erscheint. So mag etwa ein Freund nur durch eine Lüge meinerseits vor seiner ungerechten Vernichtung zu retten sein. Genau genommen ist in solchem Fall nicht mehr von Einschränkung zu sprechen. Allein in einer Situation dieser dritten Beschreibung liegt der Fall einer sogenannten Pflichtenkollision im strikten Sinn vor. Nur hier ist es sinnvoll, auf außergewöhnliche Umstände zu verweisen. Und die praktische Antwort auf derartige extreme Situationen, die eine bestimmte Norm (wie etwa das Lüge- oder das Suizidverbot) zugunsten einer anderen verletzt, muss nichts mit privater Willkür und persönlicher Neigung zu tun haben. Während in Situationen der ersten und zweiten Art (der Fall eines sog. Wertkonflikts) die Frage darin besteht, welche der verpflichtenden Regeln bzw. welche der Maximen in concreto anzuwenden und zu befolgen ist,60 ist die Frage in Situationen der dritten Art, ob und wie überhaupt gehandelt werden soll, wenn Handeln hier unausweichlich bedeutet, auch eine (Regel einer) Pflichtmaxime zu verletzen. Kant plädiert in derartigen Situationen für das Nichthandeln bzw. das Beachten einer moralischen Verbotsnorm. Wir tendieren nach intuitivem Verständnis für das Handeln, wenn die Verletzung einer moralischen Norm nach den besonderen Umständen von geringerem Gewicht ist. (d) Ein Plädoyer für das Handeln (und Verletzen einer ad hoc geringer bewerteten Norm) in derartigen Situationen hat zur Voraussetzung, dass das Prinzip der Verallgemeinerung von Maximen nur im Sinne des Prinzips der 60 Vgl. GMS IV, 389; MdS VI, 217 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 194

08.11.2021 16:20:44

4. Zu Kants strikten Verboten von Lüge und Selbsttötung

195

Gleichheit als ausnahmsloses moralisches Gesetz anerkannt wird. Dagegen bedarf eine rational unterscheidende Gewichtung der moralischen und unmoralischen Eigenschaften einer Handlung des Rekurses auf das Spezifische eines Situationstypus, auf dessen Besonderheit bzw. Wesen. Wer Lüge oder absichtliche Selbsttötung unter besonderen Umständen für moralisch erlaubt oder gar geboten hält, beruft sich nicht und kann sich nicht auf vermeintliche Not überhaupt oder überhandnehmende Unlustempfindung überhaupt und das in derart beschriebenen Umständen im Allgemeinen als geboten und erstrebenswert Begründbare berufen. Er rekurriert auf die Besonderheit (keineswegs Einmaligkeit und individuelle Personbezogenheit) von Umständen als Handlungsgründen, die den Aspekt der Verletzung einer im Allgemeinen verpflichtenden Regel gegenüber dem Aspekt der Befolgung einer anderen als geringfügig(er) erscheinen lassen.61 Für das Handeln und gegen das Nichthandeln in derartigen Konfliktsituationen spricht, dass auch das Nichthandeln als Handeln zu gelten hat, wenn ein Geschehen durch unser mögliches Eingreifen erwartbar anders verlaufen würde, als es ohne es tatsächlich verläuft. Gewiss ist bezüglich eines Geschehens die Unterscheidung zwischen hauptursächlichem Tun, nebenursächlicher Mitwirkung und bloßer Unterlassung von Bedeutung für die Zurechnung und das Zusprechen von Schuld und Verantwortung. Gleichwohl bleibt Unterlassung eine Form verantwortlichen Tuns. So gesehen hat Kants Unterscheidung zwischen Nichtanwendung einer Pflichtmaxime und der Verletzung einer Pflichtmaxime in solchen Situationen etwas Künstliches an sich, das heißt, es ist ein Unterschied mehr in der Beschreibung als in der Sache bzw. in der Sache lediglich dem Grade nach. Wer einem unverschuldet in extreme Not geratenen Menschen nicht hilft, weil diese seine Hilfe nur durch eine Lüge gegenüber einem Schurken möglich wäre, der wendet die Pflichtmaxime aktiver Nächstenliebe nicht nur nicht an, 61 Wer einen unschuldigen Freund in einer extremen Notsituation nur durch eine Lüge vor seinen kriminellen Häschern zu schützen vermag – wir hoffen, dass er geschickt lügt und mit seiner Lüge Erfolg hat, und wünschen, dass jedermann in vergleichbarer Situation dasselbe tut. Ob diese Maxime verallgemeinerungsfähig ist oder der Gedanke einer Praxis generell anerkannter derartiger Notlüge sich selbst aufhebt, ist dann weder eine logische noch eine moralische, sondern eine empirisch-pragmatische Frage: Es wird darauf ankommen, ob und wie jemand in solcher Situation das Sprachspiel der Lüge, das gewiss nur möglich ist im Rahmen einer allgemeinen Wahrhaftigkeitserwartung, beherrscht, und ob der Angesprochene sich täuschen lässt. Jedenfalls kamen und kommen Fälle vor, in denen es gelingt.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 195

08.11.2021 16:20:44

196

VII. Reine Morallehre und ­Anthropologie

sondern er verletzt sie auch, wenngleich anders, das heißt weniger stark als jener, der aktiv zu seiner Notlage beiträgt. Allgemeiner gesprochen: Es kann Situationen geben, in denen man, wie immer man handelt oder nicht handelt, gegen einen der in den Tugendpflichten gebotenen allgemeinen Zwecke in concreto verstößt und verstoßen muss. Es gilt, entsprechend der Besonderheit der Situation abzuwägen, welcher Verstoß geringer wiegt. Kant leugnet implizit die Möglichkeit von Handlungssituationen, in denen man unausweichlich in gewisser Hinsicht schuldig wird. Er verweist den Aspekt des Tragischen aus dem Bereich der Moralität. In seiner Welt reiner Vernunft, doch eben auch in seiner Welt angewandter praktischer Vernunft herrscht eine prästabilierte Harmonie moralischer Erlaubnisse und Verpflichtungen; in beiden Bereichen »ist eine Kollision von Pflichten und Verbindlichkeiten gar nicht denkbar (obligationes non colliduntur)«,62 weil jeweils der stärkere Verpflichtungsgrund den Anspruch behält und die entgegenstehenden Gründe nach Gesichtspunkten praktischer Urteilskraft nicht zum Tragen kommen. Dies setzt nicht nur die Annahme eines jederzeit gegebenen wesentlichen Unterschieds und einer eindeutigen objektiven Unterscheidbarkeit von Nichtanwendung und Verletzung einer Pflichtmaxime voraus, sondern auch die Annahme, dass in moralischen Konfliktsituationen jederzeit die Nichtanwendung einer Pflichtmaxime und infolgedessen das Nichthandeln besser ist als das Handeln, wenn dieses unvermeidlich mit der Verletzung einer Pflichtmaxime verbunden ist. Diese Position widerspricht der (jedenfalls heute verbreiteten) »gemeinen« Auffassung von Moralität, die Kant für seine Zeit doch nur auf den Begriff bringen und nicht korrigieren wollte: In moralischen Konfliktsituationen plädieren heute jedenfalls viele nicht allemal für das Nichthandeln (im skizzierten Sinn), sondern für Handeln oder Nichthandeln nach Maßgabe der auf dem Spiel stehenden berechtigten Interessen der von unserem Handeln oder Nichthandeln ersichtlich und gravierend Betroffenen.63 Dies bedeutet, dass Moralität in unmittelbaren und unauflöslichen Zusammenhang mit dem Leid und 62 MdS VI, 224. 63 Zum Begriff des »berechtigten Interesses« vgl. Patzig, Günther 1978, v. a. 11 ff. Die philosophische Behandlung veritabler moralischer Konfliktsituationen macht die Trennlinie zwischen kantischer und utilitaristischer Ethik deutlich. Eine für viele heute überzeugende Lösung solcher Situationen kommt indessen kaum umhin, neben kantischen auch utilitaristische Gesichtspunkte ernsthaft in Betracht zu ziehen.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 196

08.11.2021 16:20:44

4. Zu Kants strikten Verboten von Lüge und Selbsttötung

197

Glück menschlichen Lebens gesetzt wird. Privilegiert wird die Maxime, im Miteinanderleben Leid zu verhüten, zu beheben, zu vermindern.64 Zwar ist es auch für Kant eine Tugendpflicht, für das Wohl anderer Sorge zu tragen, doch er privilegiert im Konfliktfall ganz eindeutig das strikte Verbot der Lüge bzw. das des Suizids, weil Lüge jenseits aller Aspekte des Wohls, des Nutzens und Schadens für (sich und) andere für ihn »Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde« bedeutet65 und Suizid, ebenfalls jenseits der genannten Aspekte, »das Subjekt der Sittlichkeit in seiner Person zernichtet«.66 Die gegenwärtig dominante moralische Privilegierung des Aspekts von Glück und Leid in dieser Welt widerstrebt dem kantischen rationalistischen Ansatz einer reinen Moral für vernünftige Wesen überhaupt. Im Rahmen dieses Ansatzes spielen Bedürftigkeit, Verletzbarkeit, Leid und Glückssuche eine nachgeordnete Rolle. In der Anwendung der reinen Morallehre auf die besondere Natur des Menschen wird die Sorge um menschliches Wohl dann zu einer Pflichtmaxime, die, abstrakt gesehen, anderen Pflichtmaximen nebengeordnet ist, doch in Konfliktsituationen allemal hinter der Selbsterhaltung der weltlosintelligiblen Würde des moralischen Subjekts zurückzustehen hat. Der anthropologisch aufgelöste enge Zusammenhang von Glück bzw. Leid und Moralität des Menschen wird über die Ideen persönlicher Unsterblichkeit und eines ausgleichenden Gottes postulatorisch wiederhergestellt. Kants Plädoyer für einen »Quietismus der reinen Seele« in moralischen Konfliktsituationen ist nur vor diesem metaphysischen Hintergrund verständlich und annehmbar. Wem der reine Vernunftglaube an die definitive Erstellung der Entsprechung von Moralität und Glück »in einer anderen Welt« nicht mehr plausibel und tragfähig erscheint, der kann sich in Fragen des Zusammenhangs von Ethik und Anthropologie wohl nur noch begrenzt an Kant orientieren. Es gilt, sich eingehender mit Kants Konzept eines reinen Vernunftglaubens zu beschäftigen. 64 Kant privilegiert recht eindeutig die Maxime der Vermeidung der Lüge (unter allen Umständen), vgl. MdS VI, 429 ff. Dies scheint auch konsequent in einer Ethik, die ihren Ausgang von einer Theorie des Denkens und Verhaltens vernünftiger Wesen überhaupt in einer vollkommen vernünftig gedachten Welt nimmt. Dieser Ausgang erweist sich als problematisch, wenn das Interesse sich auf die Frage konzentriert, was vernünftigerweise zu tun ist, wenn Zustände unvernünftig sind, durch Schweigen oder wahrhaftige Rede sich nicht ändern lassen und der Glaube an eine »jenseitige« Wiederherstellung der Harmonie bzw. an eine metaphysisch begründete, im Ganzen vernünftige Weltordnung geschwunden ist. 65 MdS VI, 429. 66 MdS VI, 423.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 197

08.11.2021 16:20:44

VIII. Über Vernunftglauben und Handlungsmotivation »Es ist notwendig, dass unser ganzer Lebenswandel sittlichen Maximen untergeordnet werde; es ist aber zugleich unmöglich, dass dieses geschehe, wenn die Vernunft nicht mit dem moralischen Gesetze, welches eine bloße Idee ist, eine wirkende Ursache verknüpft, welche dem Verhalten nach demselben einen unseren höchsten Zwecken genau entsprechenden Ausgang, es sei in diesem, oder einem anderen Leben, bestimmt. Ohne also einen Gott, und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft a priori bestimmt und notwendig ist, erfüllen.« Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Methodenlehre, A 812 f./B 840 f.

»Der Unterschied der Religion von der Moral ist nicht material, sondern bloß formal, d. i. eine Gesetzgebung der Vernunft, um der Moral durch die aus dieser selbst erzeugte Idee von Gott auf den menschlichen Willen zur Erfüllung aller seiner Pflichten Einfluss zu geben.« Immanuel Kant, Streit der Fakultäten, AA VII, 36

1. D  as »System der Sittlichkeit« und das »System der Glückseligkeit« Es gibt in der Kantforschung eingefahrene Interpretationsdogmen, die stets wiederholt und nicht in Frage gestellt werden. Zu ihnen gehört die Auffassung, dass Kants (kritische) Ethik ausschließlich die Achtung vor dem Gesetz als authentisches Motiv moralisch guten Handelns kennt. Eindeutige Bemerkungen Kants zur Motivationsrolle des Vernunftglaubens in der Kritik der reinen Vernunft werden, wenn sie denn zur Kenntnis gelangen, vorkritischen Beständen seiner moralphilosophischen Ansichten um 1781 zugeordnet, obgleich Kant of-

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 198

08.11.2021 16:20:44

1. Das »System der Sittlichkeit« und das »System der Glückseligkeit«

199

fensichtlich keinen Anlass sah, diese Bemerkungen in der zweiten Auflage der KrV zu ändern. Spätere ähnlich eindeutige Bemerkungen finden so gut wie keine Beachtung. Ich möchte dieses Interpretationsdogma mit der These herausfordern, dass Kants (kritische) Ethik von ihrer frühen Konzeption bis zuletzt eine zwiefältige Triebfeder moralischen Handelns in Ansatz bringt. Die leitende Frage des Folgenden lautet dementsprechend: Inwiefern ist nicht nur das Gefühl der Achtung vor dem (kategorisch gebietenden) moralischen Gesetz, sondern auch die im reinen Vernunftglauben gegebene Hoffnung auf das höchste Gut nach Kant notwendiges (und beides im Verein notwendiges und zureichendes) Motiv vernünftigen menschlichen Handelns?1 Ein zweites Interpretationsdogma, das hier in Frage gestellt werden soll, betrifft die zentrale Idee der Autonomie: Die unbedingte Geltung des Sittengesetzes verdanke sich der Selbstgesetzgebung menschlicher Vernunft; der objektive Sinn des kategorischen Imperativs für den Menschen sei demnach unabhängig vom reinen Vernunftglauben; dieser betreffe nur die subjektive Motivation. So eine vorherrschende Interpretationsmeinung, der allerdings Kants ausdrückliche Aussagen widersprechen, Moralität führe unausbleiblich zur Religion,2 ja, das moralische Gesetz wäre »an sich falsch«, wenn das höchste Gut unmöglich

1 Es scheint mir signifikant zu sein, dass in einem verbreiteten deutschsprachigen Sammelkommentar zur KpV: Reihe Klassiker Auslegen, Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (Hg. Otfried Höffe), Berlin 2002,22011 in den im Übrigen sehr klaren und überzeugenden einschlägigen Kapiteln 8 (Nico Scarano, Moralisches Handeln. Zum dritten Hauptstück von Kants Kritik der praktischen Vernunft) und 11 (Friedo Ricken, Die Postulate der reinen praktischen Vernunft) die (unverzichtbare) Motivationsrolle der Hoffnung auf die Realisierung des höchsten Guts überhaupt nicht erwähnt wird. 2 Vgl. Rel. VI, 8 Anm.; dazu Dörflinger, Bernd 2004.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 199

08.11.2021 16:20:44

200

VIII. Über Vernunftglauben und Handlungsmotivation

wäre.3 Was an sich falsch wäre, wäre der kategorische Anspruch des Gesetzes an den Menschen, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften auf die Verwirklichung des höchsten Gutes hinzuwirken. Und dieser Anspruch ergibt sich genau dadurch, dass reine Vernunft im Menschen als einem sinnengebundenen Weltwesen in einer über seine Sinne und seinen Verstand zugänglichen, von ihr abhängigen und auf sie gerichteten Natur wirksam wird und werden soll. Wir Menschen sollen und wollen als vernünftige Wesen moralisch sein. Wir wollen als endliche, bedürftige, verletzbare vernünftige Sinnenwesen auch glücklich sein. Wir wollen indessen auch, insofern wir die Vorliebe für uns selbst übersteigen und aus einer Perspektive unparteilicher Vernunft heraus urteilen, dass jeder und nur der glücklich ist, der es nach Gesichtspunkten seiner Würdigkeit, das heißt nach moralischen Gesichtspunkten (der Gerechtigkeit), zu sein verdient. Das Ziel praktischer Vernunft, das also, was ein vernünftiges Wesen in der Welt durch sein Tun und Lassen bewirken möchte und realisiert sehen will, »das höchste Gut«, ist die Verbindung und Entsprechung von Tugend und Glück. Mit diesem Gedanken schließt Kant in gewisser Weise an die ethische Tradition der Griechen an. Er bezeugt diesen Anschluss mit Nachdruck in der Kritik der praktischen Vernunft. Die Ethiken der großen hellenistischen Schu3 KpV V, 114, Hervorh. M. F. Was »an sich« falsch ist, muss nicht in der Sicht von jemandem, d. h. »für ihn«, als falsch gelten. Der Anspruch des moralischen Gesetzes entspringt nach Kant einer Selbstverpflichtung unserer reinen Vernunft, ist nicht durch einen göttlichen Gesetzgeber oder eine materiale Zielvorgabe begründet. Die Achtung vor dem moralischen Gesetz mag so gesehen für jemanden lebendig sein und bleiben, auch wenn ihm der Glaube an einen Gott und die Hoffnung auf die Verwirklichung des höchsten Guts fehlt oder abhandenkommt. Für Kant ist Spinoza hierfür ein sprechendes Beispiel. Ich verstehe, was Kant in der KdU sagt, in diesem Sinne, und nicht als Revision dessen, was er in der KpV erklärt. »Gesetzt also, ein Mensch überredete sich, teils durch die Schwäche aller so sehr gepriesenen spekulativen Argumente, teils durch manche in der Natur und Sittenwelt ihm vorkommenden Unregelmäßigkeiten bewogen von dem Satze: es ist kein Gott; so würde er doch in seinen eigenen Augen ein Nichtswürdiger sein, wenn er darum die Gesetze der Pflicht für bloß eingebildet, ungültig, unverbindlich halten und ungescheut zu übertreten beschließen wollte« (KdU V, 451; zu Spinoza ebd. V, 452). Für Kant kann also auch ein Atheist das moralische Gesetz achten und aus moralischer Gesinnung gut handeln, insofern er nur Tugend um ihrer selbst willen und über alles liebt. Dessen Theorie der Moralität wird indessen,wenn er konsequent denkt, anders aussehen als die des Vernunftgläubigen. Sie wird mit anderen Prämissen arbeiten; sie wird vielleicht dem Element möglicher objektiv tragischer moralischer Konfliktsituationen einen Platz einräumen und konsequenterweise zu anderen Ergebnissen kommen als Kant bezüglich dessen, was in concreto geboten, verboten oder erlaubt ist. Kants Rigorismus in Fragen des Suizids und der Lüge etwa sind, wie gezeigt, nur vor dem Hintergrund seiner besonderen Metaphysik der Moral, seines Verständnisses von Moralität in Verbindung mit dem Vernunftglauben verständlich.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 200

08.11.2021 16:20:44

1. Das »System der Sittlichkeit« und das »System der Glückseligkeit«

201

len sind Glückstheorien. Die Stoiker und die Epikureer hatten den Gedanken der Übereinstimmung von Tugend und Glück auf die philosophische Spitze getrieben. Der stoische Weise ist in seinem Leben vollendet tugendhaft und im Besitz und Bewusstsein seiner Tugend vollendet glücklich. Der epikureische Weise realisiert sein Ziel vollkommenen Lebensgenusses auf dem Weg und im Bewusstsein des unverzichtbaren Mittels der Tugend. Kant sieht ganz richtig: »Der Begriff der Tugend lag nach dem Epikureer schon in der Maxime seine eigene Glückseligkeit zu befördern; das Gefühl der Glückseligkeit war dagegen dem Stoiker schon im Bewusstsein seiner Tugend enthalten.«4 Dem Stoiker sind der Mensch, seine Lebenswelt und Erfahrungswirklichkeit nach philosophischer Einsicht so beschaffen, dass der Vollzug der Normen und Regeln der Tugend mit dem Vollzug eines glücklichen Lebens in eins fällt. Dem Epiku­reer sind der Mensch und die Welt so beschaffen, dass zu den notwendigen und zureichenden Regeln des glücklichen Lebensvollzugs erfahrungsgemäß auch jene der Tugend gehören. Dem Stoiker ist, wie Kant treffend bemerkt, Tugend »das ganze höchste Gut und Glückseligkeit nur das Bewusstsein des Besitzes desselben als zum Zustand des Subjekts gehörig«; dem Epikureer dagegen ist »Glückseligkeit das ganze höchste Gut und Tugend nur die Form der Maxime sich um sie zu bewerben […]«.5 Bereits lange vor der Niederschrift und Veröffentlichung der KpV benennt Kant, wie wir gesehen haben, in einer Reflexion des handschriftlichen Nachlasses, worin er den Kern des Irrtums der hellenistischen Schulen sieht: »Der Fehler der philosophischen Sekten war der, dass sie die Moral von der Religion unabhängig machen wollten (dass sie die Glückseligkeit in Verbindung mit Moral von der Natur erwarteten […]); die Natur der Dinge aber enthält keine notwendige Verbindung zwischen Wohlverhalten und Wohlbefinden, und also ist das höchste Gut ein bloßes Gedankenwesen.«6

Bei den Griechen ist dieses »Gedankenwesen«, davon ist Kant überzeugt, eine reine Chimäre, bei ihm wird es zur glaubensgestützten, praxisrelevanten Idee.

4 KpV V, 112. 5 Ebd. 6 AA XIX, R. 6872, S. 187.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 201

08.11.2021 16:20:44

202

VIII. Über Vernunftglauben und Handlungsmotivation

Was Kant von den Griechen entscheidend trennt, ist die dem Alltagsverstand geläufige und durch das Christentum bestärkte Einsicht, dass »Glückseligkeit und Sittlichkeit zwei spezifisch ganz verschiedene Elemente des höchsten Guts« und »die Maximen der Tugend und die der eigenen Glückseligkeit in Ansehung ihres obersten praktischen Prinzips ganz ungleichartig sind«.7 Zwar ist auch für Kant, wie markante Reflexionen des handschriftlichen Nachlasses der 70er und frühen 80er Jahre zeigen, die Moralität eines Menschen die formale Bedingung a priori seiner Glückseligkeit.8 Er spricht davon, dass die Materie menschlicher Glückseligkeit sinnlich, die Form derselben intellektuell sei,9 wobei das moralische Gefühl eine Vermittlungsfunktion innehat.10 Moralität verleiht über das moralische Gefühl der (bescheidenen) Selbstzufriedenheit allen Elementen des Erlebens des Lebens in der Vielfalt und dem Wechsel seiner Aktivitäten und Widerfahrnisse eine für die Glückseligkeit erforderliche einheitsstiftende Form. Dies allerdings nur, wenn Moralität unbedingt und über alles geschätzt wird. Die Einstellung der Moralität, der feste Wille, moralisch sein zu wollen, was auch immer geschehen möge, völlig unabhängig »von der Absicht auf eigene Glückseligkeit«,11 ist »die Bedingung a priori, unter der man allein der Glückseligkeit fähig sein kann«.12 Nur das Bewusstsein, sich mit zunehmender Festigkeit und Konstanz um Moralität bemüht zu haben, gibt dem Menschen ein Wohlgefallen an seinem Dasein im Ganzen, vermittelt ihm die erforderliche »apperceptio iucunda primitiva«,13 die widerfahrnisunabhängige emotive Grundverfassung für eine mögliche empirische Glückseligkeit. Moralität wird zur Form empirischen Glücks allerdings nur, wenn man die Position der Moralität bezogen hat. Und sie ist dann als Form natürlich nicht alles, ist eben nur Form; sie bedarf der materiellen Füllung. Und diese hat für den Menschen (wie beim Erkennen die Wahrnehmung) in wesentlicher Hinsicht unverfügbaren Widerfahrnischarakter. Menschliches Glück besteht nicht allein in der auf einer moralischen Lebenseinstellung basierenden 7 KpV V, 112. 8 Vgl. AA XIX, R. 7202, S. 279 Z. 23–25. Dort erklärt Kant, die Gesetze der Freiheit müssten »unabhängig von der Absicht auf eigene Glückseligkeit gleichwohl die formale Bedingung derselben a priori enthalten«. 9 AA XIX, R. 7202, S. 276, Z. 18–19. 10 Vgl. AA XIX, R. 7255, S. 295, Z. 23–26. 11 AA XIX, R. 7202, S. 279, Z. 23–24. 12 Ebd., Z. 3–4. 13 AA XIX,. R. 7202, S. 278, Z. 4–5.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 202

08.11.2021 16:20:44

1. Das »System der Sittlichkeit« und das »System der Glückseligkeit«

203

­ ähigkeit, »auch ohne Lebensannehmlichkeiten zufrieden zu sein und glückF lich zu machen«;14 menschliches Glück besteht vielmehr in einer Verbindung von Wohlgefallen und Wohlbefinden. Und das Wohlbefinden ist im materialen Bestand nicht selbstgewirkt. Wer nach dem moralischen Gesetz handelt, hat keinerlei Gewähr, sich dadurch glücklich zu machen. In seinem Wohlbefinden ist der Mensch nicht so sehr von seiner moralischen Einstellung und den entsprechenden Handlungen als von der Natur und den gesellschaftlich-geschichtlichen Umständen seiner Lebenssituation abhängig, von Instanzen, die nicht in seiner Hand sind und (jedenfalls für uns erkennbar) nicht moralischen Normen gehorchen. Als sittlich handelndes Wesen wirkt der einzelne Mensch zwar in die Natur, die Gesellschaft und Geschichte hinein, aber er ist nicht deren Ursache. Und andererseits, was ebenso zu beachten wichtig ist, gibt uns Natur nicht moralische Ziele und Normen vor. Natur bestimmt wesentlich unser Streben nach Wohlbefinden und Glück. Das moralische Gesetz indessen gebietet »durch Bestimmungsgründe, die von der Natur und der Übereinstimmung derselben zu unserem Begehrungsvermögen (als Triebfedern) ganz unabhängig sein sollen«.15 Wer demnach Moralität um seines Glücks willen bejaht und erstrebt, naturalisiert sie und verfehlt und pervertiert so gesehen ihr Wesen. Unser moralisches Selbstverständnis, so Kant gegen eine lange ethische Tradition, lässt sich nicht glückstheoretisch begründen. Wir wissen, dass der moralische Anspruch uns unbedingt verpflichtet. Auch wenn wir etwa in extremer Zwangs- und Notlage einen unschuldigen Menschen verraten haben – wir wissen genau, dass wir es niemals hätten tun dürfen.16 Die Erfüllung des absoluten Anspruchs der Moralität kann unter Umständen die Inkaufnahme des Verlusts aller Güter des Lebens, ja das Opfer des eigenen Lebens bedeuten. Ein solcher absoluter Anspruch kann nicht, so ein ganz zentrales Argument Kants, in der Natur, in der natürlichen und kulturell überformten Vorgabe naturaler Strebensziele und den erfahrungsgestützten Regeln ihrer Realisierung gründen. Der Anspruch der Moralität ist nicht identisch mit dem Anspruch der Beachtung von Klugheitsregeln zum Zwecke der individuellen, ja auch nicht der kollektiven Lebenserhaltung, Lebenssteigerung und Lebensfreude. Der Anspruch der Moralität ist nur als Gesetzgebung unserer reinen, das heißt von 14 AA XIX, R. 7205, S. 278, Z 29–30. 15 KpV V, 124. 16 KpV V, 30.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 203

08.11.2021 16:20:44

204

VIII. Über Vernunftglauben und Handlungsmotivation

­ aturalen Trieben und sinnlicher Erfahrung unabhängigen praktischen Vern nunft für den Gebrauch unserer eigenen Freiheit verständlich zu machen. Es geht in ihm um ein kategorisches »Du sollst«, in dem sich der (sowohl erhebende wie demütigende) Anspruch unserer eigenen nichtempirischen Vernunft an unser naturverhaftetes Leben und unser sinnengebundenes, irrtumsanfälliges, verführbares, diesem empirischen Leben dienendes Klugsein zu Wort meldet. Die Anlage zur Moralität und die Realisierung dieser Anlage in vernunftbestimmtem Handeln ist in Kants Augen dasjenige, was einer ansonsten wertfreien, gleichgültigen Welt Sinn verleiht. Das Einzige, was uneingeschränkt gut genannt zu werden verdient, ist nicht der Verstand, die geschickte und kluge Verstandeseinsicht, und die durch sie entwickelten Fachkunden und Künste, sondern das freie, durch reine Vernunft bestimmte Auf-etwas-aus-Sein, ein guter Wille.17 Doch der gute Wille eines Einzelnen oder Einzelner kann nicht bewirken, dass die Weltordnung gut ist. Das ist eine triviale Wahrheit. Die Antwort auf die in die Gegenrichtung weisende Frage ist indessen weit weniger manifest: Kann ein einzelner guter Wille bzw. die Rechtschaffenheit Einzelner noch als sinnvoll gelten, »wenngleich andere diesem Gesetze sich nicht gemäß verhielten«,18 ja, wenn auch die sittlich Guten »allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes gleich den übrigen Tieren der Erde unterworfen sein und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesamt […] verschlingt«,19 wenn das höchste Gut, wenn diese Idee der reinen Vernunft, dass »das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich« verbunden ist,20 keine Chance in der Wirklichkeit hätte? Mit dieser Frage ist nicht nur die subjektive Motivations-, sondern auch die objektive Sinn­frage verbunden. Kann von unbedingter Verpflichtung des moralischen Gesetzes ernsthaft noch die Rede sein, wenn sich der, der es befolgt, als der Dumme erweist? Was ist, um es plakativ zu sagen, für den Einzelnen zu denken und zu tun objektiv vernünftig, wenn er definitiv damit zu rechnen hätte, dass die Welt gottlos und die Menschenwelt im Grunde heillos ist und bleibt? Kants Antwort auf diese Frage scheint mir nicht leicht fassbar, doch gleichwohl zur Eindeutigkeit hin klärbar zu sein.

17 Vgl. GMS IV, 393. 18 KrV A 810/B 888. 19 KdU V, 452. 20 KrV A 809/B 837.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 204

08.11.2021 16:20:44

2. Moralisches Selbstverständnis und reiner Vernunftglaube

205

2. M  oralisches Selbstverständnis und reiner Vernunftglaube Eine unscheinbare Fußnote der Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift enthält die markante Bemerkung: »Alle Menschen könnten hieran auch genug haben, wenn sie (wie sie sollten) sich bloß an die Vorschrift der reinen Vernunft im Gesetz hielten. Was brauchen sie den Ausgang ihres moralischen Tuns und Lassens zu wissen, den der Weltlauf herbeiführen wird? Für sie ists genug, dass sie ihre Pflicht tun; es mag nun auch mit dem irdischen Leben alles aus sein und wohl gar selbst in diesem Glückseligkeit und Würdigkeit vielleicht niemals zusammentreffen.«21

Doch diese Antwort, so Kant, würde den Ansprüchen der menschlichen Vernunft (und wohl auch der Vernunft aller andern Weltwesen) nicht gerecht. Denn der Mensch ist kein reines Vernunftwesen. Er ist auch ein leibliches, bedürftiges und verletzbares, an die materielle Welt gebundenes Wesen. Als Ausweg böte sich einmal die epikureische Lösung an, den Anspruch der Moralität dem Ziel individuellen irdischen Lebensgenusses anzupassen, in Kants Augen damit aber auch den Kern der Moralität zu zerstören. Die andere »Lösung« bestünde in einem allein auf die Erfüllung des moralischen Gesetzes bedachten und verpflichteten Heroismus der Tugend, der wie ein Juwel inmitten einer Wüste von Wertlosem und Sinnwidrigem glänzt, aber auch Züge der Torheit an sich hätte. Und dies, ein »Dupe der Tugend« zu sein, ist für Kant ein inakzeptabler, ja empörender Gedanke.22 Kants Antwort geht dahin, dass eine heroische Sisyphus-Rolle der Moralität nicht haltbar ist, dass der kategorische Vernunftanspruch der Moralität im Menschen sich mit Annahmen verbinden muss, die ihr die Perspektive eines sinnvollen Ganzen der Wirklichkeit bieten. Und diese theoretischen Annahmen, die der Selbsterhaltung einer sich im Kern moralisch verstehenden menschlichen Vernunft dienen, bilden den Inhalt des kantischen Vernunftglaubens. Dieser Vernunftglaube ist in Kants Sicht der des gemeinen Mannes und des gesunden Menschenverstandes.23 Er 21 Rel. VI, 7. 22 Vgl. AA XIX, R. 7059, S. 237 f. 23 Vgl. Ricken, Friedo 2003, 193–206.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 205

08.11.2021 16:20:44

206

VIII. Über Vernunftglauben und Handlungsmotivation

ist unabhängig von professioneller Philosophie.24 Das moralische Gesetz, genauer, das allgemeine Bewusstsein, auf eine unbedingte Weise moralisch verpflichtet zu sein, enthält vielmehr den Grund und den Kanon der Annahme von metaphysischen Existenzaussagen, die die menschliche Vernunft, auch die professionelle Philosophie zwar unabweislich beschäftigen, die in der Perspektive theoretisch-spekulativer Vernunft aber weder beweisbar noch widerlegbar sind: Ich muss das Bestehen bestimmter Sachverhalte annehmen, mein eigenes Freisein, die Existenz eines allmächtigen, allwissenden und gerechten Gottes als Welturheber und Richter, die Unsterblichkeit meiner Seele, um mein moralisches Selbstverständnis sinnvoll erscheinen zu lassen, auf Dauer zu stellen und ihm Wirksamkeit zu verleihen. Ohne diese Annahmen bricht das von Kant identifizierte und analysierte moralische Selbstverständnis des normalsinnigen Menschen in sich zusammen. Jedenfalls kann es nicht auf Dauer in der Welt praktisch wirksam werden. »So werde ich unausbleiblich ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben glauben, und ich bin sicher, dass diesen Glauben nichts wankend machen könne, weil dadurch meine sittlichen Grundsätze selbst umgestürzt werden würden, denen ich nicht entsagen kann, ohne in meinen eigenen Augen verabscheuungswürdig zu sein.«25

Menschliches Handeln als vernunftgeleitetes Tun und Hervorbringen von Wirkungen in der Welt ist strukturell durch zwei wesentliche Faktoren gekennzeichnet: durch seine Orientierung an praktischen Grundsätzen, Gesetzen und Regeln, die es zu vollziehen und durch seine Orientierung an Zielen in der Welt, die es als Vorhaben bzw. Absichten bzw. Zwecke durch das Tun zu verwirklichen gilt. Menschliches Handeln ist allemal regelgeleitet und zielorientiert. Und insofern es sich um verantwortliches Tun handelt, haben die Grundsätze, Regeln und Ziele stets auch subjektiven Charakter, sind sie durch das handeln-

24 Die Inhalte des Vernunftglaubens sind »der gemeinen Menschenvernunft ebenso begreiflich […] als den Philosophen, und dies so sehr, dass die Letzteren durch die Erstere sich zu orientieren genötigt sind, damit sie sich nicht ins Überschwängliche verlaufen« (Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, 301). 25 KrV A 828/B 856. Die theoretischen Annahmen der Metaphysik (in praktischer Absicht) sind sinnstiftend und gehen so gesehen nicht in ihrer Motivationsrolle für sittliches Handeln auf.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 206

08.11.2021 16:20:44

2. Moralisches Selbstverständnis und reiner Vernunftglaube

207

de Subjekt gesetzt oder akzeptiert. Was den Grundsatz- bzw. Regelaspekt des Handelns betrifft, so impliziert ein objektiv guter menschlicher Wille, dass das objektive Gesetz praktischer Vernunft zur subjektiven Maxime aller Maximen des Subjekts wird. Kant erklärt den zweiten Faktor, die Orientierung an zu verwirklichenden Zielen, aus der Natureigenschaft des Menschen im Sinne einer der »unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen und seines […] praktischen Vernunftvermögens […], sich zu allen Handlungen noch außer dem Gesetz noch einen Zweck denken zu müssen«.26 Das Wollen des Menschen (als eines Weltwesens) zielt über den Einsatz seiner Vermögen und Kräfte auf Wirkungen in der Welt. Dies gilt Kant systematisch als Einschränkung gegenüber der traditionellen Vorstellung eines in sich vollendeten göttlichen Geistes, in dem Einsicht, Wollen und Vollbringen eins sind, dessen Wollen eo ipso das Gewollte verwirklicht und völlig autark sich im Wohlgefallen an sich selbst erschöpft. Menschliches Wollen dagegen schafft nicht (wie gedachtes göttliches Wollen) allein durch sein Wollen bereits das Gewollte und ist nicht allein schon im Wollen sich selbst genug. Menschliches Wollen ist vielmehr auf ihm Äußeres und auf Entäußerung angewiesen und zielt über den Einsatz seiner Kräfte auf Wirkungen in der Welt. Das heißt aber auch, was in der Kantliteratur nicht selten übersehen wird, dass das Freiheitsgesetz als das Gesetz des Handelns aller Vernunftwesen im moralischen Bewusstsein des Menschen nicht nur die Form eines (rein formalen) kategorischen Imperativs annimmt, sondern sich um die Objekt- und Zielbestimmung moralischer Einstellung und moralischen Tuns erweitert und nur durch deren Benennung den vollständigen objektiven Orientierungsmaßstab und Bestimmungsgrund im Grundsätzlichen bildet. Vernünftiges Wollen ist prinzipiengeleitet und einheitsstiftend und bildet deshalb eine Regel aller Regeln und einen (unbedingten) Endzweck aller Zwecke. Die Regel aller Regeln ist, was Kant das (formale) Freiheitsgesetz bzw. den kategorischen Imperativ nennt. Der Endzweck des moralischen Bewusstseins des Menschen ist, was Kant das höchste (abgeleitete) Gut nennt, die moralische Vollkommenheit (die Tugend) des Menschen und die dieser entsprechende Glückseligkeit. Das ist es, was wir wollen und was wir durch unser Tun und Lassen in der Welt bewirkt sehen wollen, wenn wir als Menschen im Vollsinn des Wortes vernünftig sind. Wesentlich ist, dass die Orientierung am Endzweck zum vollen objektiven wie subjektiven Bestimmungsgrund eines moralisch gu26 Rel. VI, 7.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 207

08.11.2021 16:20:44

208

VIII. Über Vernunftglauben und Handlungsmotivation

ten menschlichen Willens gehört, dass also die Antwort »weil dieses Tun der Verwirklichung des Endzwecks dient« genauso unverzichtbar zur überzeugenden Letztantwort einer moralischen Frage nach der Rechtheit des Handelns gehört wie die Antwort »weil die Maxime dieses meines Tuns verallgemeinerungsfähig ist«. Genau dieses sagt Kant in der Religionsschrift auf seine Weise: »An diesem Zwecke nun, wenn er gleich durch die bloße Vernunft ihm vorgelegt wird, sucht der Mensch etwas, was er lieben kann; das Gesetz also, was ihm bloß Achtung einflößt, ob es zwar jenes als Bedürfnis nicht anerkennt, erweitert sich doch zum Behuf desselben zur Aufnehmung des moralischen Endzwecks der Vernunft unter seine Bestimmungsgründe, das ist: der Satz: mache das höchste in der Welt mögliche Gut zu deinem Endzweck ist ein synthetischer Satz a priori, der durch das moralische Gesetz selber eingeführt wird.«27

Zwei Dinge sind es, die mit der Zielausrichtung des moralischen Bewusstseins verbunden sind und hier besondere Beachtung verdienen. Das eine betrifft die epistemischen Einstellungen, das andere die emotive Seite des moralischen Bewusstseins. Mit den epistemischen Einstellungen ist gemeint, dass die Zielorientierung des moralischen Bewusstseins notwendig zum Vernunftglauben (an Gott, Tugend und Unsterblichkeit) und zur Interpretation der moralischen Gesetze als göttlicher Gebote führt. »Wenn nun aber die strengste Beobachtung der moralischen Gesetze als Ursache der Herbeiführung des höchsten Guts (als Zwecks) gedacht werden soll: so muss, weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken, ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht, d. i. die Moral führt unausbleiblich zur Religion.«28

Mit dem emotiven Aspekt ist gemeint, dass genuin moralisches zielorientiertes Handeln in der Welt nicht nur, wie Kant fälschlicherweise häufig verstanden wird, durch einen, sondern durch zwei vernünftige und vernunftgewirkte Emo27 Rel. VI, 7, Hervorhebung M. F. Es geht bei dieser apriorischen »Synthesis« um die Anwen­ dung eines reinen (formalen)Vernunftgesetzes auf den Menschen als moralitätsfähiges und bedürftiges, auf sein Glück bedachtes Weltwesen. 28 Rel. VI, 7 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 208

08.11.2021 16:20:44

2. Moralisches Selbstverständnis und reiner Vernunftglaube

209

tionen motiviert ist: Genuin moralisches Handeln geschieht aus Achtung vor dem moralischen Gesetz und aus Liebe zum Endzweck bzw. in der gläubigen, zuversichtlichen Hoffnung auf die letztendliche Realisierung des Endzwecks. Für Kant impliziert bereits der Begriff des Zwecks eine subjektiv-emotive Ausrichtung des Subjekts auf einen Gegenstand: »Zweck ist jederzeit der Gegenstand einer Zuneigung, das ist, einer unmittelbaren Begierde zum Besitz einer Sache vermittelst seiner Handlung, so wie das Gesetz (das praktisch gebietet) ein Gegenstand der Achtung ist. Ein objektiver Zweck (d. i. derjenige, den wir haben sollen) ist der, welcher uns von der bloßen Vernunft als ein solcher aufgegeben wird.«29

Und das höchste Gut zu bewirken bzw. an seiner Realisierung mitzuwirken, ist uns von der bloßen Vernunft aufgegeben. Die Zielausrichtung des moralischen Bewusstseins betrifft sowohl die objektive Verbindlichkeit moralischer Gesetze (d. h. ihre praktische Wahrheit) als auch die subjektive Motivation zu moralischem Handeln. »Gott also und ein künftiges Leben, sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen«, heißt es in der KrV.30 »Da nun die Beförderung des höchsten Guts […] ein a priori notwendiges Objekt unseres Willens ist und mit dem moralischen Gesetz unzertrennlich zusammenhängt, so muss die Unmöglichkeit des Ersteren auch die Falschheit des Zweiten beweisen. Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muss auch das moralische Gesetz, welches gebietet dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein«,

so heißt es in der KpV.31

29 Rel. VI, 6. 30 KrV A 811/B 839. 31 KpV V, 114. Wenn Habermas, Jürgen 1991, 125 meint, »[n]achmetaphysisches Denken unterscheidet sich von der Religion dadurch, dass es den Sinn des Unbedingten rettet ohne Rekurs auf Gott und ein Absolutes«, so zeigt demgegenüber Kant, dass der Unbedingtheitsanspruch von Moralität, so wie er sie versteht, ohne die vernunftreligiöse Perspektive wohl kaum zu halten ist.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 209

08.11.2021 16:20:44

210

VIII. Über Vernunftglauben und Handlungsmotivation

Es ist also schlicht abwegig, in diesem Punkt einen systematischen Bruch zwischen der KrV und der KpV konstruieren zu wollen. Reflexionen des handschriftlichen Nachlasses werden noch deutlicher: »Die moralischen Gesetze haben wohl das principium obligandi in sich, aber obligieren nicht ohne Religion, weil sie nicht durch ihre Natur Verheißung der Glückseligkeit bei sich führen.«32 Die Religion ihrerseits ist allerdings, und dies ist wichtig, nicht Grund und nicht Inhalt einer Pflicht: Der Wille eines gebietenden Gottes und die Aussicht auf Lohn und Strafe in der »anderen Welt« sind nicht der Grund dafür, dass wir Pflichten haben und uns verpflichtet wissen. Der Anspruch der Vernunft ist hier ganz und gar autonom und autokratisch. Und Religion, dies ist ebenso wichtig, ist nicht Gegenstand einer Pflicht: Wir sind nicht ­verpflichtet, die metaphysischen Existenzaussagen der Postulate (Gott und Unsterblichkeit betreffend) für wahr zu halten. Die Inhalte der Vernunftreligion sind vielmehr eine Hoffnung und Zuversicht gebende Zusage, eine Verheißung der Vernunft, wenn wir uns, im Sinne der Vernunft, auf unbedingte Weise moralisch verpflichtet wissen. Vernunft bietet uns mit ihnen ein Gegengewicht gegen die verständliche Furcht des Glücksverlusts, die mit der Einlösung unserer Pflichten verbunden sein mag: »Die Verheißung obligiert nicht, sie benimmt nur die Ausrede der Selbstliebe, welche ein Recht hat, alles mit seiner Glückseligkeit als einstimmig zu fordern.«33 Und die (vernünftige) Selbstliebe besitzt freilich dieses Recht, wenn das Selbst sich der Glückseligkeit würdig erweist.34 Die Verbindlichkeit, der objektiv unbedingte Verpflichtungscharakter eines moralischen Gesetzes, so Kants klare Auskunft, würde sich aufheben, wenn seine Befolgung mit einem definitiven Glücks­verlust dessen verbunden wäre, der es befolgt: »Wäre kein Gott, so würden alle unsere Pflichten schwinden, weil eine Ungereimtheit im Ganzen wäre, nach welcher das Wohlbefinden nicht mit dem Wohlverhalten stimmete, und diese Ungereimtheit würde die andere entschuldigen. Ich soll gerecht gegen andere sein; aber wer sichert mir mein Recht?«35

32 AA XIX, R. 7279, S. 301. 33 AA XIX, R. 7108, S. 250. 34 Dies gilt im Blick auf vollendete Tugendhaftigkeit bei gleichzeitiger Glücksbedürftigkeit. Bei einem allemal moralisch unvollkommenen Menschen kann nicht eigentlich von einem »(einklagbaren) Recht« auf Glückseligkeit die Rede sein. 35 AA XIX, R. 6674, S. 130.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 210

08.11.2021 16:20:44

2. Moralisches Selbstverständnis und reiner Vernunftglaube

211

»Wen[n] der rechtschaffene Man[n] unglücklich und der lasterhafte glücklich ist, so ist der Mensch nicht unvollkommen, sondern die Ordnung der Natur.«36 Nicht ganz so klar scheint die Auskunft zu sein, die Kant zur Motivationsrolle des praktischen Ziels der moralischen Gesinnung und des aus ihr sich ergebenden Vernunftglaubens gibt. Ohne einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, so heißt es im eingangs angeführten Zitat der KrV,37 wären die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung. Ohne die Hoffnungsperspektive der definitiven Verwirk­ lichung des höchsten Guts durch Gott könnte reine Vernunft im Menschen als einem Weltwesen also nicht praktisch werden; so lautet die Auskunft der KrV. Dem scheint nun der programmatische Satz zu widersprechen, mit dem Kant die Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift beginnt: »Die Moral, sofern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines anderen Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten.«38

Nach dieser Aussage scheinen in Kants späterem Konzept die angenommenen Wahrheiten des Vernunftglaubens weder die Erkennbarkeit und Verbindlichkeit des moralischen Anspruchs zu berühren noch eine Motivationsrolle im moralischen Handeln zu spielen. Dieser Anschein verstärkt sich durch Kants weitere Bemerkung: »Denn da ihre [sc. der Vernunft, M. F.] Gesetze durch die bloße Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der darnach zu nehmenden Maximen, als oberster (selbst unbedingter) Bedingung aller Zwecke, verbinden: so bedarf sie überhaupt gar keines materialen Bestimmungsgrundes der freien Willkür, das ist 36 AA XIX, R. 6590, S. 98. 37 KrV A 813/B 841. 38 Rel. VI, 3. Allerdings gilt es, die einschränkende Klausel des Satzes zu beachten: Die Aussage bezieht sich nicht auf den Menschen als Menschen, sondern auf den Menschen als transzendental freies Wesen, das sich durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindet.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 211

08.11.2021 16:20:44

212

VIII. Über Vernunftglauben und Handlungsmotivation

keines Zwecks, weder um, was Pflicht sei, zu erkennen, noch dazu, dass sie ausgeübt werde, anzutreiben: sondern sie kann gar wohl und soll, wenn es auf Pflicht ankommt, von allen Zwecken abstrahieren.«39

Dieser Bemerkung entspricht der Sachverhalt, dass Kant in der KpV im Zusammenhang der Frage, »auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde«,40 lediglich das durch reine Vernunft bewirkte Gefühl der Achtung nennt, »welches dem Einflusse des Gesetzes auf den Willen beförderlich ist«.41 Das moralische Gesetz, so Kant an dieser Stelle in ausgesprochen gewundenen und dunklen Worten, sei formaler Bestimmungsgrund der Handlung durch reine praktische Vernunft, aber auch materialer, wenngleich nur objektiver Bestimmungsgrund der Gegenstände der Handlung unter dem Namen des Guten und Bösen. Das mag besagen, das Gesetz (im Vollsinn des Wortes) biete dem Menschen den (notwendigen und zureichenden) Vernunftgrund dafür, warum er etwas tun soll, ebenso wie den vollen Vernunftgrund dafür, was er zu tun hat. Unklar ist hier noch, ob mit dem Gesetz lediglich der kategorische Imperativ angesprochen oder auch die Zielvorgabe des höchsten Guts mitgemeint ist. Die Vorrede der Religionsschrift spricht davon, die Moral bedürfe zum Rechthandeln keines Zwecks, aus der Moral gehe jedoch unumgänglich ein Zweck hervor, und zwar »eine Idee von einem Objekte, welches die formale Bedingung aller Zwecke, wie wir sie haben sollen (die Pflicht), und zugleich alles damit zusammenhängende Bedingte aller derjenigen Zwecke, die wir haben (die jener ihrer Beobachtung angemessne Glückseligkeit) zusammen vereinigt in sich enthält, das ist, die Idee eines höchsten Guts in der Welt«.42

Die KpV erklärt interessanterweise, dass dieses höchste Gut nicht bloß das Objekt, sondern zugleich auch der Bestimmungsgrund des reinen Willens sei:

39 Rel. VI, 3, f. 40 KpV V, 74. 41 KpV V, 75. 42 Rel. VI, 5.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 212

08.11.2021 16:20:44

3. Die Motivationsstruktur moralischen Handelns

213

»Es versteht sich aber von selbst, dass, wenn im Begriffe des höchsten Guts das moralische Gesetz als oberste Bedingung, schon mit eingeschlossen ist, als denn das höchste Gut nicht bloß Objekt, sondern auch sein Begriff, und die Vorstellung der durch unsere praktische Vernunft möglichen Existenz desselben zugleich der Bestimmungsgrund des reinen Willens sei.«43

Das muss wohl heißen: Wer etwas im Vollsinn des Wortes vernünftigerweise will, will dies, weil es Bestandteil des höchsten Guts ist oder zum höchsten Gut führt. Dieser moralische Endzweck, das höchste Gut, enthält neben dem Ziel der moralischen Vollkommenheit das Ziel der Erfüllung des oben erwähnten Glücksanspruchs des Glückswürdigen. Zur Möglichkeit dieses Zweckes müssen wir einen Gott annehmen, der die Möglichkeit unserer moralischen Vervollkommnung in Verbindung mit der entsprechenden Glückseligkeit sicherzustellen vermag. Und diese Idee, so Kant nun allerdings auch in der Religionsschrift »ist (praktisch betrachtet) doch nicht leer: weil sie unserm natürlichen Bedürfnisse zu allem unserm Tun und Lassen im Ganzen genommen irgendeinen Endzweck, der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann, zu denken abhilft, welches sonst ein Hindernis der moralischen Entschließung sein würde«. 44

3. Die Motivationsstruktur moralischen Handelns Die Achtung vor dem Gesetz ist subjektiver moralischer Bestimmungsgrund der Willkür, ist Triebfeder, ist Motiv, weil sie als vernunftgewirktes Gefühl dem Einfluss des Gesetzes auf den menschlichen Willen förderlich ist. Die Hoffnung auf Gott als Garanten der Möglichkeit der Verwirklichung einer gerechten Weltordnung ist gleichfalls ein Folgephänomen reiner Vernunft in ihrer Anwendung auf den Menschen. Ergibt sie sich doch aus einem Zweck, »welchen sich zu machen, schon sittliche Grundsätze voraussetzt«.45 Nur der, der 43 KpV V, 109 f. 44 Rel. VI, 5. Hervorhebung M. F. 45 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 213

08.11.2021 16:20:44

214

VIII. Über Vernunftglauben und Handlungsmotivation

dem Gesetz der Moralität entsprechen will, hat den Vernunftglauben im Sinne eines subjektiv zureichenden Fürwahrhaltens der Postulate. Dieser Glaube entspricht einem natürlichen Bedürfnis menschlicher Vernunft im Blick auf den Sinn eines praktischen Gesetzes, das man verstehen und befolgen möchte. Doch er hat zweifellos auch einen handlungsmotivierenden Gefühlsaspekt. Er ist als Glaube auch zuversichtliche Hoffnung und als solche Triebfeder. Ihre kausale Funktion besteht nach Kant darin, Hindernisse der moralischen Entschließung zu beseitigen. Sie ist in dieser Funktion unverzichtbarer Bestandteil bzw. Voraussetzung einer dem moralischen Gesetz entsprechenden subjektiven Gesinnung zur praktischen Beförderung des höchsten Guts in der Welt. Gewiss, so Kant, die Pflicht des Menschen gründet sich nicht auf die Vernunftpostulate, sondern auf das für sich selbst apodiktisch gewisse moralische Gesetz »und ist, sofern, keiner anderweitigen Unterstützung durch theoretische Meinung von der inneren Beschaffenheit der Dinge, der geheimen Abzweckung der Weltordnung, oder eines ihr vorstehenden Regierers bedürftig, um uns auf das Vollkommenste zu unbedingt-gesetzmäßigen Handlungen zu verbinden. Aber der subjektive Effekt dieses Gesetzes, nämlich die ihm angemessene und durch dasselbe auch notwendige Gesinnung, das praktisch mögliche höchste Gut zu befördern, setzt doch wenigstens voraus, dass das Letztere möglich sei, widrigenfalls es praktisch-unmöglich wäre, dem Objekte eines Begriffes nachzustreben, welcher im Grunde leer und ohne Objekt wäre.«46

Warum aber ist diese vernunftgewirkte Hoffnung, die ein wesentlicher Bestandteil der moralischen Gesinnung ist, für Kant in der KrV eine Triebfeder des Vorsatzes und der Ausübung, während er ihr in der KpV implizit und in der Religionsschrift explizit diesen Namen und mit ihm wohl auch diese ­Rolle abzusprechen scheint? Der Grund scheint mir kein sachlich-systematischer, sondern ein argumentationsstrategischer zu sein. Kant denkt in der KrV nicht anders als in den späteren moralphilosophischen Schriften. Das belegt schon das an den Anfang dieses Kapitels gestellte Zitat aus der späten Schrift über den Streit der Fakultäten. Doch er wollte in den auf die KrV folgenden kritischen moralphilosophischen Schriften auf jeden Fall das Missverständnis ver46 KpV V, 142 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 214

08.11.2021 16:20:44

3. Die Motivationsstruktur moralischen Handelns

215

mieden wissen, über die Lehre vom höchsten Gut und reinen Vernunftglauben einem pathologischen, natural bedingten Motiv moralischer Einstellung und moralischen Handelns das Wort zu reden. Moralität ist für Kant so zu verstehen, dass sie auf keinen Fall im Subjekt durch sein sinnlich bedingtes Glücksverlangen motiviert erscheinen darf. Der durch das moralische Gesetz dem Menschen vorgezeichnete Endzweck »muss auch die Reinigkeit der Absicht beweisen [können]«.47 Der Zweck ist »in der Ausübung (nexu effectivo) zwar das Letzte, in der Vorstellung aber und der Absicht (nexu finali) das Erste«.48 Wenn nun in der Absicht die Hoffnung auf die Möglichkeit nicht nur der eigenen Vervollkommnung, sondern auch, damit verbunden und an diese Bedingung geknüpft, der eigenen Glückseligkeit enthalten ist, liegt die Gefahr des Missverständnisses nahe, dass die letztere Hoffnung, die in der Naturordnung die erste ist, irgendwie als motivierende Bedingung der ersten verstanden wird. Diese Gefahr gilt es zu vermeiden. Dies erklärt, warum Kant in der KpV und in der Religionsschrift nur die kognitive und willentliche, nicht aber die emotive Seite des reinen Vernunftglaubens betont. Dieser besteht für ihn, wie eine systematisch bedeutende Stelle der KpV verdeutlicht, in einem (festen) Fürwahrhalten theoretisch unbeweisbarer Sätze, die die Möglichkeit der Realisierung eines Zwecks verständlich machen, der dem Menschen durch reine praktische Vernunft, allein durch seinen vernünftigen (ganz und gar unparteilichen) Willen vorgezeichnet ist. Die Annahme Gottes ist für die theoretische Vernunft, »als Erklärungsgrund betrachtet, Hypothese, in Beziehung aber auf die Verständlichkeit eines uns durchs moralische Gesetz aufgegebenen Objekts (des höchsten Guts), mithin eines Bedürfnisses in praktischer Absicht, Glaube, und zwar reiner Vernunftglaube […], weil bloß reine Vernunft (sowohl ihrem theoretischen als praktischen Gebrauche nach) die Quelle ist, daraus er entspringt«.49

Der reine Vernunftglaube hat indessen selbstverständlich auch einen emotiven Aspekt. Er schließt, als Gegengewicht zur Furcht des Glücksverlusts, die Hoffnung auf das endgültige Glück des Rechtschaffenen ein. Er spielt, wie die Religionsschrift selbst erklärt, im Zusammenhang der »moralischen Entschlie47 Rel. VI, 7. 48 Ebd. 49 KpV V, 126.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 215

08.11.2021 16:20:45

216

VIII. Über Vernunftglauben und Handlungsmotivation

ßung« des Rechtschaffenen eine kausale Rolle. Ohne die Perspektive, die der Vernunftglaube eröffnet, bestünde für die Verwirklichung der moralischen Einstellung im Handeln in der Welt ein kaum überwindbares Hindernis. Der Gutgesonnene würde Moralität bewundern, aber sein Bemühen um die Selbstund Weltgestaltung im Sinne der Moralität verlöre mit der Perspektive möglichen Erfolgs nicht nur den theoretischen Plausibilitätsrahmen, sondern auch an praktischer Motivationskraft. Der Rechtschaffene wird und darf also diese Hoffnung haben. Ja, sie gehört unabdingbar zur Vernunft seiner Position unbedingter Rechtschaffenheit, die etwas in der Welt bewirken will. Sie verleiht seiner praktischen Einstellung Sinn; sie motiviert sein Wirken in der Welt. Im Streit der Fakultäten, einer Schrift, in der Kant wohl weniger befürchtete, missverstanden zu werden, spricht er von der Motivationsrolle des Vernunftglaubens in genau den gleichen Wendungen, mit denen er in der KpV das Gefühl der Achtung einführt. Der Unterschied der Religion von der Moral, so heißt es da, »ist bloß formal, d. i. eine Gesetzgebung der Vernunft, um der Moral durch die aus ihr erzeugte Idee von Gott auf den menschlichen Willen zur Erfüllung aller seiner Pflichten Einfluss zu geben«.50 Aber diese im Vernunftglauben enthaltene Hoffnung auf das Glück der Rechtschaffenen als Handlungsmotiv des Rechtschaffenen ist für Kant so zu denken, dass sie dem Rechtschaffenen keine Naturvorgabe, sondern eine Folge seiner Rechtschaffenheit ist und nicht zum Motiv seiner Rechtschaffenheit, sondern zur Realisierung seiner Rechtschaffenheit in Handlungen in der Welt dient. Um der Klarheit dieses Gedankens willen vermeidet er es in den späten moralphilosophischen Schriften, sie Triebfeder zu nennen, was sie systematisch gesehen neben dem Gefühl der Achtung in präzise bestimmbarer Weise zweifellos ist. Kant hat, dies belegen die Reflexionen des handschriftlichen Nachlasses, mit der Antwort auf die Frage nach der Motivationsstruktur moralischen Handelns und der Rolle des Vernunftglaubens in dieser Struktur über Jahre gerungen. Dabei geht es ihm ab den 70er Jahren vor allem um die Wahrung der »Reinigkeit der Absicht« im Zusammenhang der Bestimmung des Endzwecks, in dem der Mensch als vernünftiges Weltwesen etwas sucht, suchen darf und finden muss, »was er lieben kann«.51 Als vernünftiges Weltwesen ist der Mensch 50 AA VII, 36. 51 Rel. VI, 7.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 216

08.11.2021 16:20:45

3. Die Motivationsstruktur moralischen Handelns

217

von Natur und unaufgebbar auf sein eigenes Glück bedacht. »Eigene Glückseligkeit ist der subjektive Endzweck vernünftiger Weltwesen (den jedes derselben vermöge seiner von sinnlichen Gegenständen abhängigen Natur hat), und von dem es ungereimt wäre, zu sagen: dass man ihn haben solle«,52 von dem es aber, so ist Kant hier zu ergänzen, genauso ungereimt wäre zu sagen, dass man von ihm absehen, dass man ihn nicht haben solle. Moralität ist das objektive praktische Gesetz und kann von einem vernünftigen Weltwesen subjektiv zur Disposition uneingeschränkter Tugendliebe entwickelt werden. Diese impliziert, dass man sich selbst als vernünftiges Weltwesen nur unter der Bedingung objektiver moralischer Vollkommenheit liebt und gefällt. Der subjektive Endzweck eigener Glückseligkeit wird dabei nicht eliminiert, sondern ins Objektive transformiert. Er wird dadurch zum Bestandteil des objektiven, vernünftigen Endzwecks, dass er der Bedingung der Moralität unterstellt wird: Man will glücklich sein, aber man will nur glücklich sein, insofern man glücklich zu sein verdient. Und man will all jene und nur jene, die es verdienen, definitiv glücklich sehen. Das eigene Glücksverlangen wird im moralischen Wollen dem Urteil einer unparteilichen Vernunft ein- und untergeordnet. Allerdings muss dann dieses Wollen, um ein vernünftiger Wille zu sein, auch eine realistische Erwartungsperspektive besitzen für die Möglichkeit eines Glücks all derer, die glücklich zu sein verdienen. Diese Perspektive wirkt handlungsmotivierend auf der Basis und im Rahmen eines moralischen Bewusstseins eines Menschen, der sich mit dem Einsatz seiner Kräfte um die Verwirklichung des Endzwecks bemüht. Ihre handlungsmotivierende Rolle ist aber nicht so zu verstehen, als würde Tugend um des zu erwartenden Glücks willen geliebt. Das Gesetz wird in vernünftiger Gesinnung vielmehr als verbindlicher Ausdruck der Vernunft geachtet und Tugend um ihrer selbst willen geliebt. Achtung vor dem Gesetz und Tugendliebe sind die positiven subjektiven Bewegungsgründe moralischen Handelns. Sie konstituieren, auf den Zustand des Akteurs bezogen, den moralischen Wert einer Handlung. Die Glückserwartungsperspektive wirkt nicht »positiv« motivierend bei der Annahme des Gesetzes und dem Vollzug tugendhafter Handlungen. Diese müssen vielmehr für sich selbst motivieren. Es wirkt allerdings »negativ« bzw. »ausgleichend« motivierend in dem Sinne, als es ein Motivationshindernis beseitigt, nämlich die Furcht des auf Moralität bedachten Menschen vor definiti52 Rel. VI, 6.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 217

08.11.2021 16:20:45

218

VIII. Über Vernunftglauben und Handlungsmotivation

vem eigenem Glücksverlust. In diesem und nur in diesem Sinne bestehen die motivationalen Bedingungen der Befolgung moralischer Gebote sowohl in der Achtung vor dem Gesetz und der Tugendliebe als auch »in der Übereinstimmung mit unserem Verlangen zur Glückseligkeit«.53 Wenn Kant vom »subjektiven Bewegungsgrund« moralischen Handelns spricht, dann meint er häufig nur den positiven, jenen, der für das Subjekt den moralischen Wert des Handelns konstituiert, so etwa in folgender Reflexion: »Die Erwartung der Belohnungen vermindert nur dann den moralischen Wert, wenn diese den Bewegungsgrund enthalten, nicht aber, wenn sie nur dazu dienen, die Hindernis der Moralität in der Furcht vor dem Verlust aller Glückseligkeit aufzuheben.«54 Dieser Sprachgebrauch entspricht jenem der KpV und der Religionsschrift. Kant ist mit dieser Redeweise vor allem darauf bedacht, sein Konzept der mit dem Vernunftglauben verbundenen Tugendliebe vom »System des feinsten Eigennutzes« abzugrenzen, das historisch mit dem Namen Epikurs verbunden ist. »Das System des feinsten Eigennutzes ist darin von dem Lehrbegriff der sich selbst genugsamen Tugend unterschieden, dass diese die Tugend an sich selbst liebt und darum nicht umhin kann, einen allsehenden Richter ihrer Reinigkeit und ihre Belohnung zu hoffen. Die Tugendliebe ist der Hoffnung glücklich zu sein, und diese gibt ihr Stärke, dem Unangenehmen, was mit ihr verbunden ist, zu widerstehen. Dagegen im ersteren System ist die Hoffnung der Glückseligkeit womöglich ein Grund der Tugend, eigentlich ein Grund kluger Handlungen, die eben dieselbe Wirkung, aber nicht aus denselben principiis leisten.«55

Dagegen nennt Kant die mit dem Vernunftglauben verbundene Glückserwartung des Glückswürdigen in den Reflexionen häufig Triebfeder, wenn es ihm darauf ankommt, sein System der »sich selbst genugsamen Tugend« vom chimärischen, auf bloßer »gravitätischer« Einbildung beruhenden Ideal stoischer Weisheit abzugrenzen und mit dem eines recht verstandenen Christentums zu identifizieren. Dies ist auch der Sprachgebrauch der KrV.

53 AA XIX, R. 7097, S. 248. 54 AA XIX, R. 7281, S. 301. 55 AA XIX, R. 6606, S. 106.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 218

08.11.2021 16:20:45

3. Die Motivationsstruktur moralischen Handelns

219

»Epikur wollte der Tugend die Triebfeder geben und nahm ihr den inneren Wert. Zeno wollte der Tugend einen inneren Wert geben und nahm ihr die Triebfeder. Nur Christus gibt ihr den innern Wert und auch die Triebfeder […]. Die Triebfeder aus der andern Welt ist auch schon an sich selbst der Entsagung auf allen Vorteil gleich […] die andere Welt ist ein notwendig moralisches Ideal. Ohne dieses ist die moralische Gesetzgebung ohne Regierung. Sie allein geht auf den innern Wert der Handlungen. Durch die gehoffte Belohnung der andern Welt wird die Tugend uneigennützig und hat doch eine Stütze und Zuflucht. Die Triebfeder ist den Sinnen so weit als möglich entzogen.«56

Kants Kernproblem in der Frage nach dem höchsten Gut ist nicht so sehr das der Griechen, die eine Antwort suchten auf die Frage, wie es möglich ist, im Vertrauen auf die Kraft der Vernunft auch ohne Einstimmung des Schicksals glücklich zu sein. Kants Kernproblem ist, wie er selbst wiederholt zu verstehen gibt,57 das des alttestamentlichen Hiob, der das Leid des Gerechten ernst nimmt, und den der die Moralität in ihrem Grund erschütternde Zweifel an einer gerechten Weltordnung bedrängt.58 Diesem fundamentalen Zweifel werden, in völlig säkularisierter philosophischer Form, in Kants Ethik aus Gründen der Selbsterhaltung der Vernunft ein reiner Vernunftglaube und mit ihm die Kardinaltugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Tugendliebe entgegengesetzt. »Man nennt Vorliebe […] den Wunsch, sich selbst oder […] andern glücklich zu sehen ohne Beziehung auf das Urteil, ob man dieser Gückseligkeit würdig sei. Wer ohne Vorliebe […] urteilt, urteilt unparteiisch […]. Aber ohnerachtet alles eigenliebigen und unablässigen Wunsches können wir doch das Vernunfturteil nicht unterdrücken, dass zwar die Begierde zur Glückseligkeit natürlich vor dem Wunsche es [sc. der Glückseligkeit würdig, M. F.] zu sein vorhergehe, gleichwohl das Letztere vor dem Ersteren in dem Urteil der Vernunft vorhergehen müsse: dass die erste Frage sein muss, ob die Person gut sei, und die zweite nur: ob 56 AA XIX, R. 6838, S. 176. 57 Mit Nachdruck in AA XIX, R. 8089, S. 632 f.; vgl. AA XIX, R. 7314, S. 310 f. 58 Das Problem war der paganen Antike freilich durchaus bekannt: Ut enim nec domus nec res publica ratione quadam et disciplina dissignata videatur, si in ea nec recte factis praemia extent ulla nec supplicia peccatis, sic mundi divina in homines moderatio profecto nulla est, si in ea discrimen nullum est bonorum et malorum (Cicero, De natura deorum III, 85).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 219

08.11.2021 16:20:45

220

VIII. Über Vernunftglauben und Handlungsmotivation

ihr Zustand gut und glücklich sei. Wir würden eine Welt verachten und eine Regierung der Welt, worin es anders geordnet wäre. Die Würdigkeit glücklich zu sein ist zwar nicht unser unmittelbarer Wunsch, aber die erste und unnachlassliche Kondition, unter welcher die Vernunft ihn billigt. Es scheint aber auch, als wenn die Vernunft uns in diesem Gebot auch etwas verspreche. Nämlich dass man hoffen könne glücklich zu sein, wenn man sich nur so verhält, dass man derselben nicht unwürdig ist. Denn da der ohne Zweifel ein Tor […] sein würde, welcher sich eigensinnig einer Regel unterwürfe, ob er gleich wüsste, dass er seinen Zweck viel besser erreichen würde, wenn er gelegentlich Ausnahmen davon machte: so würde folgen, dass man wohl auch ein Dupe […] der Tugend sein könne: ein unausstehlicher und ungereimter Gedanke.«59

59 AA XIX, R. 7059, S. 237 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 220

08.11.2021 16:20:45

IX. Die Theorie des radikal ­Bösen im Menschen »Quilibet praesumitur malus, donec securitatem dederit oppositi.« Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 42, VI, 307

»[N]ur die Höllenfahrt des Selbsterkenntnisses bahnt den Weg zur Vergötterung.« Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre § 14, VI, 441

Kants Anthropologie ist ganz wesentlich durch seine Theorie vom radikal Bösen im Menschen geprägt. Er steht mit dieser Lehre ideengeschichtlich über die deutsche Schulphilosophie, die frühneuzeitliche Spätscholastik und die mittelalterliche Scholastik in einer Tradition, die bis in die (spätere) Antike zurückreicht. Gemeint ist mit dieser Tradition die christlich-theologische Lehre vom vitium bzw. peccatum originale, von der Ur- und Erbsünde. Um die Eigenart von Kants Theorie verstehen sowie ihre anthropologische und ethische Bedeutung würdigen zu können, scheint mir ein vergleichender Blick in dieses christlich-theologische Lehrstück unerlässlich zu sein.1 Kant selbst nimmt an verschiedenen Stellen seiner Schrift explizit und implizit auf diese theologische Lehre Bezug.2 Seine Theorie des radikal Bösen im Menschen, so meine erste These, übersetzt diese Lehre in eine völlig säkulare philosophische Anthro­ pologie3 und setzt sich dabei zugleich mit philosophischen Anthropologien ins Verhältnis, die ganz wesentlich die Rechtsphilosophie und politische Philo1 Über das Verhältnis Kants zur theologischen Diskussion seiner eigenen Zeit informiert Bohatec, Josef 1938; wichtige Hintergrundinformationen enthält auch das Buch von Reboul, Olivier 1971; historische und systematische Einblicke in die Verhältnisbestimmung von Vernunftreligion und christlichem Offenbarungsglauben bietet Hoping, Helmut 1990, ferner Fischer, Norbert/Sirovátka, Jakub (Hgg.) 2015. 2 Er nennt den Hang zum Bösen im Sinne einer intelligiblen Tat explizit peccatum originarium (Rel. VI, 31). 3 Über die weitere philosophische Theoriegeschichte des radikal Bösen vgl. Schulte, Christoph 21991.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 221

08.11.2021 16:20:45

222

IX. Die Theorie des radikal ­Bösen im Menschen

sophie der Neuzeit bestimmen, insbesondere mit der der Stoa, der von Thomas Hobbes und der von Jean-Jacques Rousseau. Und seine Theorie, so meine zweite (dem Großteil der Interpreten widersprechende) These, erweist sich als in sich völlig konsistent, wenn man die verschiedenen Perspektiven beachtet, unter denen Kant vom menschlichen »Hang zum Bösen« spricht. Kant formuliert im ersten Kapitel des »ersten Stücks« seiner Religionsschrift4 zunächst kurz und prägnant seine Lehre »Von der ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur«.5 Er nimmt mit dieser Lehre die scholastische, im Grunde der stoischen Philosophie entstammende Theorie der natürlichen Ausstattung,6 der natürlichen Neigungen (inclinationes naturales) und des natürlichen Gesetzes (lex naturalis) auf,7 wie sie etwa bei Thomas von Aquin8 in der Quaestio 94 seines Gesetzestraktats9 im Zentrum steht. Er modifiziert diese Lehre im Sinne seiner spezifischen Aufklärungsanthropologie, das heißt insbesondere unter Gesichtspunkten des Primats der praktischen Vernunft und der sittlichen Autonomie.

1. Die Anlagen des Menschen Mit der Stoa und gegen Rousseaus anthropologische (Hypo-)These vom ursprünglichen homme solitaire sieht Kant die menschliche Natur in der Anlage »für die Tierheit des Menschen, als eines lebenden« Wesens mit ihrem Prinzip »mechanischer Selbstliebe« auf Selbsterhaltung, Fortpflanzung, B ­ rutpflege und Gesellschaft bezogen.10 Der Mensch ist von Natur, anders als Rousseau 4 Zur Interpretation der einzelnen Abschnitte der Religionsschrift vgl. Höffe, Otfried (Hg.) 2010a. 5 Rel. VI, 26 ff. 6 Die Stoa spricht von den natürlichen Anlagen (αἱ κατὰ φύσιν κατασκευαί) und den ihnen eigenen Impulsen (αἱ κατὰ φύσιν ὰφορμαί) und Betätigungen (ἐνεργήματα) eines Lebewesens. Der Begriff der Anlage bzw. Ausstattung (κατασκευή) bringt dabei die naturteleologische Überzeugung zum Ausdruck, dass sie das Werk eines zweck- und zielgerichtet verfahrenden schöpferischen Prinzips sind, und dass das Lebewesen mit diesen Anlagen seine spezifische Form des Lebens bestmöglich realisieren kann (vgl. Diogenes Laertius VII, 89; Panaitios Frgm. 14 [van Straaten]; Cicero, De off. I, 1–14; Epiktet, Diss. 4,1,51; Mark Aurel IX, 41; Clemens v. Alexandria, Stromata 129,1). Vgl. dazu Lorenz, Manuel 2020, 131; 170. 7 Vgl. dazu Forschner, Maximilian 1998, Kap. I–III. 8 Vgl. dazu Forschner, Maximilian 2006, 122–139. 9 Summa theologiae I–IIae, quaestiones 90–108. 10 Vgl. Rel. VI, 26.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 222

08.11.2021 16:20:45

1. Die Anlagen des Menschen

223

meint, kein Einzelgänger, sondern ein Gruppentier. Und »mechanisch« ist ­diese Selbstliebe, weil die ihr entspringenden Verhaltensimpulse und Verhaltensweisen ganz in der instinktiven Triebausstattung, der Wahrnehmung, der unwillentlichen Wahrnehmungserinnerung und Wahrnehmungsassozia­ tion und den entsprechenden Empfindungen gründen. Sprachlich wirkt hier bei Kant die mechanistische Biologie der frühen Neuzeit nach. In der zweiten Anlage des Menschen, der für »die Menschheit desselben, als eines lebenden und zugleich vernünftigen Wesens«, bringt Kant genuin neuzeitliche Gesichtspunkte zur Geltung. Er weist Rousseaus generelle Denunzierung des Prinzips dieser Anlage, der »vergleichenden Selbstliebe«, zurück. Er spricht der durch Sprache und Vernunft vermittelten Neigung des Menschen, »sich in der Meinung anderer einen Wert zu verschaffen«,11 gegen Rousseau ihren kulturanthropologischen Sinn zu. Ohne diese natürliche Neigung würde der Mensch die Möglichkeiten seiner Lebensweise auf Dauer unterbieten und keinen Impuls zur Entwicklung jener Potentiale des Handelns und Erlebens des Lebens entwickeln, die ihn essentiell über das Tierreich hinausheben. Doch gegen Hobbes will Kant dieser Anlage ihre natürliche Unschuld zurückgeben. Der mit ihr verbundene Wetteifer, so Kant, schließt »an sich die Wechselliebe nicht aus«. Und die natürliche Neigung, sich in der Meinung anderer einen Wert zu verschaffen, sucht »ursprünglich bloß den der Gleichheit«.12 Der Mensch ist nicht von Natur der Feind des Menschen. Aus den Händen der Natur, darin ist Kant gegen Hobbes mit Rousseau sich einig, geht der Mensch als ein im vormoralischen Sinne gutes, das heißt als unschuldiges Wesen hervor. Und mit der Sprachfähigkeit und Geselligkeit, die beide zu seinen natürlichen Anlagen gehören, ist die Suche nach Anerkennung und ein Wetteifer um sie verbunden. Rousseau sucht im status socialis jedoch die natürliche Wechsel11 Rel. VI, 27. 12 Ebd. Sharon Anderson-Gold 2001 sieht zu Recht bei Kant »a strong connection between evil and our social condition« (p. 36); sie hat auch recht, wenn sie den Grund des Hangs zum Bösen mit dem Prinzip der vergleichenden Selbstliebe in enge Verbindung bringt (ebd.), doch sie hat nicht recht, wenn sie die der vergleichenden Selbstliebe immanente Neigung, sich in den Augen anderer einen Wert zu verschaffen, bereits zur korrupten Form der Selbstliebe rechnet (»This desire clearly springs from our rational-moral nature, but also from a reason, that measures and compares. In its corrupt form this desire becomes an inclination ›to acquire worth in the opinion of others‹«, ebd.). Zustimmen kann man ihr hingegen wieder, wenn sie erklärt: »This propensity to evil is identified with the principle of self-love not insofar as the self is an animal being with physical needs but insofar as the self is a social being that seeks the recognition of others yet refuses to acknowledge the intrinsic value of others« (p. 39).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 223

08.11.2021 16:20:45

224

IX. Die Theorie des radikal ­Bösen im Menschen

liebe ohne Vergleich und Konkurrenz, ja mit dem Ziel der Transparenz, der Identifikation und Verschmelzung.13 Für Kant hingegen ist der Mensch ein gesellig-ungeselliges Wesen,14 dessen natürliches Bestreben auf Wahrung der Selbständigkeit und (im Verein mit der dritten Anlage) auf gegenseitige Anerkennung nach Gesichtspunkten der Gleichheit gerichtet ist. Die dritte Anlage, jene für die Persönlichkeit, entspricht der stoischen Theo­ rie der natürlichen zielhaften Ausrichtung des Menschen auf eine Lebensweise, in der der Mensch nur noch sein Vernünftigsein absolut liebt und die naturgemäßen Güter des Lebens nur noch bedingterweise erstrebt.15 Mit ihr distanziert Kant sich völlig von Hobbes. Und dass sich bei Rousseau Äquivalentes findet, scheint mir zweifelhaft zu sein. Die Stoa dagegen ist hier eindeutig. Kant buchstabiert allerdings diese Anlage nicht in stoischer Begrifflichkeit, obgleich er mit dieser von seiner Cicero- und Seneca-Lektüre her vertraut ist,16 und zwar schlicht deshalb, weil er mit dieser Anlage nicht, wie die Stoa, eine Glückstheorie verbunden sehen wollte. Unter Anlagen versteht Kant das, was Natur im Wesentlichen an Vorgaben leistet und leisten muss, damit ein natürliches Wesen ein Mensch im Vollsinn des Wortes sein kann.17 Und ein Mensch im Vollsinn des Wortes kann ein solches Wesen für Kant nur sein, wenn es in der Lage ist, allein nach Gesichtspunkten und Motiven der Vernunft und des (im Kern moralisch verstandenen) Vernünftigseins sein Verhalten zu bestimmen, in Kants Worten, wenn es »die Empfänglichkeit für das moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür« besitzt.18 Von dieser Anlage, die den Menschen erst eigentlich zu einem moralitätsfähigen Wesen (im kantischen Sinn) macht, wissen wir nur durch das moralische Gesetz. Wäre dieses Gesetz nicht im allgemeinen sittlichen Bewusstsein gegeben, so würden wir uns eine solche Anlage auch nicht zuschreiben und zuschreiben können. Die Anlagen sind ursprüngliche, das Wesen des Menschen ­konstituierende Anlagen zum Guten bzw. zur Grundlegung und Beförderung des Guten. Darin

13 Vgl. dazu Forschner, Maximilian 1977, 148 ff.; sowie Starobinski, Jean 1971. 14 Vgl. dazu v. a. Kants Essay Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Vierter Satz, AA VIII, 20 ff. 15 Vgl. dazu Forschner, Maximilian 2008; ders. 2018, 163–176. 16 Vgl. dazu Forschner, Maximilian 1989, 42010, 66–82. 17 Vgl. Rel. VI, 28. 18 Rel. VI, 27.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 224

08.11.2021 16:20:45

1. Die Anlagen des Menschen

225

weiß Kant sich mit der Stoa einig. Sie gipfeln in der Anlage zur Persönlichkeit. Und sie geben der Persönlichkeit, die ihr Verhalten allein nach Gesichtspunkten der Vernunft bestimmt, in grobem Umriss die Inhalte vor, die es im Handeln in der Welt zu verfolgen gilt. Denn den Kanon der Beurteilung der Anlagen zur Tierheit und zur Menschheit mit ihren natürlichen Zielen im Blick auf »die Bestimmung des Menschen« liefert für Kant die Anlage zur Persönlichkeit. Kant verbindet nun mit dieser Theorie der Anlagen zum Guten eine Lehre »Von dem Hange zum Bösen in der menschlichen Natur«.19 Auch darin scheint er der Tradition der Stoa zu folgen. Waren die Stoiker doch der Überzeugung, dass so gut wie alle Menschen trotz natürlich guter Anlagen de facto Toren sind und mehr oder weniger zu Irrtum und sittlicher Verfehlung neigen. Mehr noch scheint er mit seinem Ansatz, wenngleich dann nicht in der Art der Interpretation, der anthropologischen Tradition des Christentums und dessen Erbsündelehre zu entsprechen. Der Hang zum Bösen, so Kant, mache aus den ursprünglich guten Anlagen für die Tierheit und Menschheit Dispositionen zu Lastern der Natur und Kultur. Und er gebe unserer Willkür die Tendenz, in ihren Maximen die Ordnung der Triebfedern der Selbstliebe und der Achtung vor dem Gesetz zu verkehren. Nicht von den Lastern »der Rohigkeit der Natur«, nämlich der »Völlerei, der Wollust und der wilden Gesetzlosigkeit (im Verhältnisse zu anderen Menschen)«, die die Anlage »für die Tierheit des Menschen als eines lebenden Wesens« verderben, wohl aber von den »Lastern der Kultur«, die die Anlage für die Menschheit mit ihrem Prinzip vergleichender Selbstliebe depravieren, scheint Kant, im Gefolge von Hobbes und Rousseau, so etwas wie eine Naturgeschichte ihrer Entstehung anzubieten, wenn er erklärt: Die Neigung, »sich in der Meinung anderer einen Wert zu verschaffen; und zwar ursprünglich bloß den der Gleichheit; keinem über sich Überlegenheit zu verstatten, [ist] mit einer beständigen Besorgnis verbunden, dass andere darnach streben möchten; woraus nachgerade eine ungerechte Begierde entspringt, sie sich über andere zu erwerben«.20

19 Rel. VI, 28–32. 20 Rel. VI, 27, Hervorh. M. F.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 225

08.11.2021 16:20:45

226

IX. Die Theorie des radikal ­Bösen im Menschen

Doch Kant beugt sogleich Missverständnissen vor mit der Bemerkung, dass die ›zivilisatorischen‹ Laster der Eifersucht, der Nebenbuhlerei, des Neides, der Undankbarkeit, der Schadenfreude etc. auf Neigungen basieren, die »eigentlich doch nicht aus der Natur als ihrer Wurzel von selbst entsprießen; sondern bei der besorgten Bewerbung anderer zu einer uns verhassten Überlegenheit über uns Neigungen sind, sich der Sicherheit halber diese über andere als Vorbauungsmittel selbst zu verschaffen: da die Natur doch die Idee eines solchen Wetteifers (der an sich die Wechselliebe nicht ausschließt) nur als Triebfeder zur Kultur brauchen wollte«.21

Für diese pervertierten Neigungen sind wir, als Gattung und als Einzelne, selbst verantwortlich. Wir haben gesehen: Das »gemeine« Bewusstsein des moralischen Gesetzes verweist den Menschen auf seine Freiheit. Denn ein kategorisches Sollen ist nur sinnvoll, wenn auch seine Befolgung möglich ist. Was heißt es und wie kommt es dann, dass in so gut wie allen Menschen das Bewusstsein des moralischen Gesetzes vorhanden und seine Autorität auch in gewisser Weise anerkannt ist, doch es gleichwohl von so gut wie allen Menschen nicht immer befolgt wird? Eine noch einigermaßen kryptische, gleichwohl auf der Linie der ethischen Tradition liegende Antwort auf diese Frage gibt Kant in der KpV: »Die Anerkennung des moralischen Gesetzes […] ist das Bewusstsein einer Tätigkeit der praktischen Vernunft aus objektiven Gründen, die bloß darum nicht ihre Wirkung in Handlungen äußert, weil subjektive Ursachen (pathologische) sie hindern.«22 Gemeint ist damit zumindest Folgendes: Wir Menschen sind sinnliche Vernunftwesen, die nicht schon dadurch, dass sie das moralische Gesetz anerkennen, als sinnliche Vernunftwesen auch diesem Gesetz entsprechend handeln. Dem moralischen Gesetz als objektivem sittlichem Bestimmungsgrund des Wollens stehen, wie Kant sagt, subjektive pathologische Ursachen entgegen, wenn, trotz grundsätzlicher Anerkennung, das moralische Gesetz durch uns nicht handlungswirksam wird. Die Interessen unserer empirischen, sinnengebundenen (vorgegebenen) Natur konvergieren nicht eo ipso mit den Ansprüchen reiner Vernunft; sie können diesen entgegenstehen. 21 Ebd., Hervorh. M. F. 22 KpV V, 79.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 226

08.11.2021 16:20:45

2. Die Rede vom »angeborenen« Hang zum Bösen

227

Nun enthält das moralische Gesetz die Forderung, dass »der objektive Bestimmungsgrund jederzeit und ganz allein zugleich der subjektiv hinreichende Bestimmungsgrund der Handlung sein müsse«.23 Der Grund der Nichtbefolgung des moralischen Gesetzes, obgleich es grundsätzlich anerkannt ist, liegt also darin, dass es nicht immer die kausale Rolle des subjektiv hinreichenden Motivs des Handelns spielt. Nun ist verantwortliches menschliches Handeln nach Kant von Maximen geleitet. Maximen sind die subjektiven Bestimmungsgründe des Handelns, die obersten Grundsätze, von denen wir uns im Leben leiten lassen. Der Defekt hat demnach mit unseren Maximen zu tun; und für Maximen als subjektiv anerkannte bzw. gewählte Grundsätze des Selbstverständnisses und der Lebensführung sind wir verantwortlich. Wie also sieht es bei grundsätzlicher Anerkennung und gleichwohl nicht durchgängiger Befolgung des moralischen Gesetzes mit unseren Maximen aus, und wie steht es dabei mit unserer Freiheit? Genau auf diese Fragen versucht Kant in der Religionsschrift von 1793 mit seiner Theorie des radikal Bösen eine Antwort zu geben.

2. Die Rede vom »angeborenen« Hang zum Bösen Kant stellt zu Beginn des Abschnittes III des ersten Teils der Religionsschrift resümierend klar, in welchem Sinn er davon spricht, dass der Mensch von Natur böse sei: »Er ist sich des Gesetzes bewusst und hat doch die gelegentliche Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen.«24 Zu verstehen sei die Annahme dieses sein Tun und Lassen leitenden Grundsatzes als »Tat ›vor‹ aller Tat«, das heißt als »intelligible Tat, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar«,25 die seinem erfahrbaren Handeln in der Zeit zugrunde liegt. Die Aussage soll von allen Menschen, vom Menschen »in seiner Gattung betrachtet«26 gelten. Der »Hang zum Bösen« soll allerdings nicht einen Bestandteil der Definition des Wesens und damit eine ›objektiv notwen­ dige‹ Qualität des Menschen bezeichnen. Was zum Wesen, »zur Möglichkeit 23 KpV V, 72. 24 Rel. VI, 32. 25 Ebd. 26 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 227

08.11.2021 16:20:45

228

IX. Die Theorie des radikal ­Bösen im Menschen

der menschlichen Natur« gehört,27 hat Kant ja zuvor mit den Anlagen zur Tierheit, zur Menschheit und zur Persönlichkeit im Abschnitt I bereits benannt und erklärt. Man wäre also auch im Vollsinn des Wortes Mensch, wenn man diesen Hang zum Bösen nicht hätte. Er ist so gesehen ein ›objektiv zufälliges‹ Merkmal. Doch er sei ›empirisch-allgemein‹ ausnahmslos bei allen Menschen vorhanden, wenngleich er, als genuin moralische Qualität, in der Freiheit des Menschen gründen muss und ihm deshalb zuzurechnen ist. »Natürlich«, ja »angeboren« nenne er ihn, weil er bereits »vor allem in der Erfahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit […] zum Grunde gelegt wird und so als mit der Geburt zugleich im Menschen vorhanden vorgestellt wird«28 und »nicht ausgerottet werden kann«,29 »radikal«, weil er als der »subjektive oberste Grund aller Maximen mit der Menschheit selbst […] verwebt und darin gleichsam gewurzelt ist«30 derart, »dass kein Grund ist, einen Menschen davon auszunehmen«,31 und einen Hang, also eine dispositionale Eigenschaft (ein peccatum in potentia),32 im Vergleich zu den entsprechenden manifesten Akten in der Zeit.33 Beglaubigt wird das Dasein dieses generellen Hanges zum Bösen durch die schlagende »Erfahrung an den Taten der Menschen«, die Kant »den förmlichen Beweis ersparen« sollen.34 Den neuzeitlichen Mythos von der »natürlichen Gutartigkeit der menschlichen Natur«,35 den Mythos vom guten Wilden (bon sauvage) im Naturzustand dementieren für Kant Reise- und Erfahrungsberichte aus den Ländern der Neuen Welt, die eine generelle Verbreitung der »Laster der Rohigkeit«36 deutlich vor Augen führen. Den gegenteiligen Mythos vom guten Menschen im zivilisierten Zustand zerstört für Kant eine lange und überzeugende »melancholische Litanei von Anklagen der Menschheit«,37 die die offenen oder unter dem Schein von Tugend verborgenen »Laster[n]

27 Rel. VI, 28. 28 Rel. VI, 22, Hervorh. M. F. 29 Rel. VI, 31. 30 Rel. VI, 32. 31 Rel. VI, 25. 32 Rel. VI, 40. 33 Vgl. Rel. VI, 31. 34 Rel. VI, 33. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 228

08.11.2021 16:20:45

2. Die Rede vom »angeborenen« Hang zum Bösen

229

der Kultur und Zivilisierung«38 benennen, die den zivilisierten Europäer kennzeichnen. Und schließlich belegen die Staaten in der Verbindung beider Zustände im »äußeren Völkerzustand« in bitterer Deutlichkeit ein allgemeines Verhalten, das »noch kein Philosoph mit der Moral hat in Einstimmung bringen« können.39 Dass im Menschen ein genereller Hang zum Bösen vorhanden ist, belegt für Kant also eindeutig die Erfahrung.40 Wenn er allerdings erklärt, dass diese Tendenz zur Verkehrung der Ordnung der Triebfedern in unseren Maximen bereits »vor allem in der Erfahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit […] zum Grunde gelegt wird und so als mit der Geburt zugleich im Menschen vorhanden vorgestellt wird«,41 »dass kein Grund ist, einen Menschen davon auszunehmen«42 und dass »er nicht ausgerottet werden kann«,43 dann machen seine Formulierungen deutlich: Die Rede vom » Hang zum Bösen«, der allen Menschen eignet, ist keine schlichte empirische Aussage, sondern ein wohlbegründetes anthropologisches Interpretament. Es gibt keinen Grund, einen Menschen davon auszunehmen, weil alle Erfahrung dafür spricht, dass Menschen vom Beginn des Gebrauchs ihrer Freiheit an die Tendenz haben, zumindest in harten Konfliktsituationen eher der Neigung als der Pflicht zu folgen. Und es gibt keinen Grund, einen Menschen davon auszunehmen, weil wir in praktischer Hinsicht gut daran tun, ja nach dem strengen »Urteile der Vernunft«44 sogar genötigt sind, in unserem Selbstverhältnis und in unserem Verhältnis zu anderen Menschen mit diesem Hang jederzeit zu rechnen und uns entsprechend zu verhalten.45 Dass der Mensch einen »angeborenen« Hang zum Bösen hat, ist für Kant also einerseits eine Aussage, die sich empirischer Generalisierung verdankt und mit empirischen Erklärungen und Beurteilungen verbunden ist. Es ist andererseits eine Aussage, die in praktisch-pragmatischer Hinsicht getroffen wird; und 38 Ebd. 39 Rel. VI, 34. 40 Nicht zuletzt auch die Selbstwahrnehmung; vgl. MdS, Rechtslehre § 42 AA VI, 307. 41 Rel. VI, 22, Hervorh. M. F. 42 Rel. VI, 25. 43 Rel. VI, 31. 44 Rel. VI, 24. 45 Rel. VI, 25. Kant nennt in seinen Vorlesungen zum Naturrecht (1784) die Vermutung des Schlechten im Menschen denn auch ein »Prinzip der Moral« (Feyerabend AA XXVII. 2. 2., S. 1340, Z. 10–12) bzw. eine »Regel der Klugheit« (Feyerabend AA XXVII. 2. 2., S. 1354, Z. 29–30). Vgl. dazu Byrd, B. Sharon./Hruschka, Joachim 2010, 190–193.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 229

08.11.2021 16:20:45

230

IX. Die Theorie des radikal ­Bösen im Menschen

beides zusammen ist gemeint, wenn Kant diese Aussage als Ergebnis der »anthropologischen Nachforschung« verstanden wissen möchte.46

3. G  rund und Beschaffenheit des Hangs zum Bösen im Menschen Die Frage nach dem Dasein, die Frage also, ob es diesen generellen Hang zum Bösen beim Menschen gibt, ist für Kant relativ leicht und eindeutig beantwortbar, auch wenn zeitgenössische Philosophen und vornehmlich Pädagogen der »heroischen«, aller Erfahrung widersprechenden Meinung anhängen, dass aufgrund einer guten Naturanlage des Menschen (mit Hilfe der Aufklärung und der Reform der Institutionen) »die Welt […] vom Schlechten zum Besseren, unaufhörlich […] fortrücke«.47 Die »eigentliche Beschaffenheit« des Hangs zum Bösen und der »Grund des Widerstreits«48 der menschlichen Willkür gegen das moralische Gesetz sind dagegen weit schwieriger zu erklären und zu fassen, sofern der Sachverhalt nicht überhaupt als letztlich unerforschlich zu gelten hat. Die Untersuchung und Beantwortung der Fragen nach Grund und Beschaffenheit des menschlichen Hangs zum Bösen kann jedenfalls nicht auf dem Erfahrungsweg, sondern muss auf apriorische Weise über eine Analyse der Begriffe und ihrer möglichen Beziehungen erfolgen, da die im Spiel befindlichen Begriffe und ihre Beziehungen (»die freie Willkür«, »das moralische Gesetz als Triebfeder«) im Wesentlichen »rein intellektuell« sind. Grund und Beschaffenheit des menschlich Bösen müssen »aus dem Begriffe des Bösen, sofern es nach Gesetzen der Freiheit (der Verbindlichkeit und Zurechnungsfähigkeit) möglich ist, a priori erkannt werden«.49 46 Stangneth, Bettina 2000, 72 hat meines Erachtens recht, wenn sie die Rede vom »Hang zum Bösen« im Rahmen der »anthropologischen Nachforschung« epistemologisch der reflektierenden Urteilskraft zuordnet: »Die anthropologische Charakteristik kommt aber erst durch das Vermögen der reflektierenden Urteilskraft überhaupt in den Blick, die nach einer Regel fragt, die es erlaubt, das Verhalten des Menschen im tatsächlichen Handeln aus einer Einheit zu denken.« Unter diesem Aspekt hat der Begriff eine regulative Funktion zum Verständnis von Erfahrungsgegebenheiten. 47 Rel. VI, 20. 48 Rel. VI, 25. 49 Rel. VI, 35.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 230

08.11.2021 16:20:45

3. Grund und Beschaffenheit des Hangs zum Bösen im Menschen

231

Was in gnostisch oder neuplatonisch-christlich geprägtem Moralverständnis zwar eine Rolle gespielt hat, was Kant allerdings sehr schnell ausschließen kann, ist dies, dass der Grund des Bösen »in der Sinnlichkeit des Menschen und den daraus entspringenden natürlichen Neigungen« gesetzt wird.50 Naturanlagen mit entsprechenden zielgerichteten Neigungen sind schuldlos, ja sind, wie Kant zuvor ganz im Sinne der stoisch-christlichen Lehre von den inclinationes naturales geklärt hat,51 Anlagen zum Guten, zumindest etwas, woran sich »die moralische Gesinnung in ihrer Kraft beweisen kann«, bzw. »was zur Tugend die Gelegenheit« gibt.52 Wenn vom Bösen hier die Rede ist, dann ist keine Natureigenschaft, sondern eine moralische Eigenschaft angesprochen, etwas, was im Menschen »als einem frei handelnden Wesen angetroffen wird« und was »als selbst verschuldet ihm muss zugerechnet werden können«.53 Was Kant ähnlich schnell und eindeutig ausschließen zu können meint, ist zum Zweiten dies, dass der Grund des Bösen »in einer Verderbnis der moralisch-gesetzgebenden Vernunft gesetzt« wird,54 durch die »der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder […] erhoben« würde.55 Er begründet dies mit einem zweigliedrigen Argument. Zum einen sei Freiheit zu verstehen als eine von zwei möglichen Formen von Kausalität und Kausalität allemal als eine nach Gesetzen erfolgende Wirksamkeit. Ein vernunftfähiges, frei handelndes Subjekt handelt als solches nicht nach Naturgesetzen. Würde es die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes, des Gesetzes der Freiheit für sich (bei Gelegenheit) negieren, dann müsste man es »als eine ohne alle Gesetze wirkende Ursache denken […], welches sich widerspricht«.56 Das Argument basiert auf dem Satz vom zureichenden Grunde, nach dem alles, was in der Welt geschieht, sei dies nach Naturursachen, sei dies nach Vernunftgesichtspunkten, gesetzlich bestimmt ist. Das zweite Argument hat zum Verstehenshintergrund die traditionelle christlich-mythologisch-apokryphe Vorstellung von Luzifer als »einem Geiste von ursprünglich erhabenerer Bestimmung«, »dem die Versuchung des Flei-

50 Rel. VI, 34. 51 Vgl. dazu Forschner, Maximilian, 1998, 50–68 sowie Forschner, Maximilian 2008. 52 Rel. VI, 35. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 231

08.11.2021 16:20:45

232

IX. Die Theorie des radikal ­Bösen im Menschen

sches nicht zur Milderung seiner Schuld angerechnet werden kann«,57 der (nach seinem Fall) als Widerpart Gottes das Böse um des Bösen willen will, der einen schlechthin bösen Willen besitzt, während das Streben des Menschen immer nur ein Streben unter dem Gesichtspunkt des (tatsächlich oder vermeintlich) Guten (ein Streben sub specie boni) ist und sein kann.58 Was dieses sein Streben sub specie boni zu einem bösen Streben macht, ist, wie Kant formuliert, die Verkehrung der »sittliche[n] Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen«.59 Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Sinnenwesen. Als einem solchen eignet ihm von Natur eine zweifache Motivationsmöglichkeit seines Verhaltens. Kraft »seiner moralischen Anlage« drängt sich ihm das moralische Gesetz bzw. die Achtung vor dem moralischen Gesetz »unwiderstehlich« als Triebfeder auf; »vermöge seiner gleichfalls schuldlosen Naturanlage« hängt er auch »an den Triebfedern der Sinnlichkeit«.60 Diese natürlichen Triebfedern bestimmen nicht von selbst freies menschliches Verhalten. Sie tun dies nur, insofern sie der Mensch zu wirksamen Grundsätzen seines Verhaltens (zu Maximen) macht bzw., wie Kant sich ausdrückt, in seine Maximen »aufnimmt«.61 Doch beide nimmt die menschliche Willkür als die eines vernunftbegabten Sinnenwesens »natürlicherweise« in ihre Maximen auf. Nun können sie freilich in der Maximenordnung des Menschen nicht einfach nebeneinander bestehen, da die auf das empirische Dasein gerichtete Selbstliebe als Prinzip der Triebfedern der Sinnlichkeit und die Achtung vor dem Gesetz als Prinzip der Moralität heterogene Prinzipien sind und im Blick auf konkrete Entscheidungssituationen Unvereinbares zu tun nahelegen und erfordern können. Es bedarf also der grundsätzlichen Über- und Unterordnung beider Prinzipien. Die sittliche Ordnung verlangt, dass das moralische Gesetz und die Achtung vor dem Gesetz zur obersten Maxime, zur Maxime aller Maximen gemacht wird. Der Mensch wird böse dadurch, dass er dagegen »die Triebfedern der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht«.62 Der Mensch wird und ist also böse nicht dadurch, dass er auf satani-

57 Rel. VI, 44. 58 Vgl. Rel. VI, 35. 59 Rel. VI, 36. 60 Ebd. 61 Rel. VI, 24. 62 Rel. VI, 36.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 232

08.11.2021 16:20:45

3. Grund und Beschaffenheit des Hangs zum Bösen im Menschen

233

sche Weise gegen das moralische Gesetz rebelliert.63 Er ist böse dadurch, dass er dem Gesetz folgt, insoweit dies mit der Selbstliebe übereinstimmt, und die Ausnahme für sich in Anspruch nimmt, wenn die Forderung des moralischen Gesetzes den Anliegen seiner Selbstliebe entgegensteht. Und die Selbstliebe, (der augustinische amor sui) liebt in dieser Verkehrung der Priorität das leiblich-irdische Dasein und seine Güter über alles. Damit ist das Wesen der Beschaffenheit des Bösen im Wollen des Menschen im Grunde erklärt. Gleichwohl gilt es zu seinem näheren Verständnis noch Verschiedenes zu beachten: (a) »Bei dieser Umkehrung der Triebfedern durch seine Maxime, wider die sittliche Ordnung, können die Handlungen dennoch wohl so gesetzmäßig ausfallen, als ob sie aus echten Grundsätzen entsprungen wären […], da dann der empirische Charakter gut, der intelligible aber immer noch böse ist.«64 Der Mensch kann mit einiger Fertigkeit, Konsequenz und Konstanz moralgemäßes Verhalten in den Dienst der Selbstliebe und ihres Ziels der Glücksbesorgung stellen. Sein Verhalten kann demnach (in aller Regel) gut, die Maxime seiner Maximen, das heißt seine Gesinnung, gleichwohl schlecht sein. (b) Da das moralische Gesetz sich ihm ›unwiderstehlich‹ aufdrängt, neigt der Mensch, der der Selbstliebe nachgeht, um der Gewissensruhe und Selbstbeschönigung willen einerseits dazu, »sich in der Deutung des moralischen Gesetzes zum Nachteil desselben selbst zu belügen«,65 und versucht andererseits, »sich wegen seiner guten oder bösen Gesinnungen selbst zu betrügen«66 und anderen etwas vorzumachen, was, »(indem es die moralische Urteilskraft in Ansehung dessen, wofür man einen Menschen halten solle, verstimmt und die Zurechnung innerlich und äußerlich ganz ungewiss macht) den faulen Fleck unserer Gattung ausmacht«.67 (c) Zwar kann der Mensch sich mit einigem Erfolg bemühen, die wahre ›Denkungsart in seinem Innern aufzudecken‹68 und ihre tatsächliche Stärke zu erproben. Gleichwohl bleibt seine Selbst- und Fremdbeurteilung an »den Men-

63 Ebd. 64 Rel. VI, 36 f. 65 Rel. VI, 42 Anm. 66 Rel. VI, 38. 67 Ebd. 68 Vgl. ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 233

08.11.2021 16:20:45

234

IX. Die Theorie des radikal ­Bösen im Menschen

schen in der Erscheinung, d. i. wie ihn uns die Erfahrung kennen lässt«,69 gebunden und kann nicht zu untrüglicher Überzeugung gelangen, »weil die Tiefe des Herzens (der subjektive erste Grund seiner Maximen) ihm selbst unerforschlich ist«.70 So gesehen ist auch beim besten Menschen nicht auszuschließen, dass er sich über die Lauterkeit und Stärke seiner Gesinnung täuscht, dass er im Grunde böse ist, dass seine Tugend ihren Preis hat,71 dass Umstände eintreten können, in denen sich auch bei ihm erweist, dass die Maxime der Selbstliebe die eigentlich stärkere ist.

4. Von der Konversion des Menschen zum Guten Der Abschnitt IV fragt nach dem »Ursprung des Bösen in der menschlichen Natur«. Kant unterscheidet den Vernunftursprung vom Zeitursprung. Die Frage nach dem Zeitursprung behandelt das menschlich Böse, die Verkehrung der Maximenordnung, als eine »Begebenheit« in der Zeit und sucht die Antwort in einer empirischen Kausalgeschichte, die erklärt, wie es zu dieser Begebenheit gekommen ist oder kommt. Dies wäre der Versuch, die Begebenheit über Kausalgesetze und Randbedingungen aus ›vorhergehenden Zuständen abzuleiten‹.72 Dies hieße aber, das menschlich Böse auf Naturursachen zu beziehen und nicht als Ausdruck von Freiheit zu behandeln. Wo es um moralisch Qualifiziertes geht, da zielt die Ursprungsfrage dagegen nicht auf Ursachen (causae), sondern auf Gründe (rationes), auf »Vernunftvorstellungen«, die ein Subjekt zum Gebrauch seiner Freiheit bestimmen. Wenn wir das Verhalten eines Menschen nicht erklären, sondern beurteilen, wenn wir den Menschen für sein schlechtes Tun verantwortlich machen, wenn wir ihm dieses Tun oder Lassen »zurechnen«, dann betrachten wir seine Handlung als einen »ursprünglichen Gebrauch seiner Willkür« und den Menschen so, als ob er »unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie geraten wäre«.73 Das heißt: Wir nehmen ihn und den Grund seines Tuns aus der (zeitlichen) Naturordnung und ihren Kausalgeschichten heraus und versetzen sie 69 Rel. VI, 25 Anm. 70 Rel. VI, 51. 71 Vgl. Rel. VI, 38 f. 72 Vgl. Rel. VI, 39. 73 Rel. VI, 41.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 234

08.11.2021 16:20:45

4. Von der Konversion des Menschen zum Guten

235

in eine normative, eine intelligible Ordnung, in der das Subjekt und sein Tun jeweils zeitlos und unmittelbar auf Forderungen des Gesetzes bezogen und ihnen unterstellt sind. Genau dies ist gemeint, wenn Kant vom Ursprung des Bösen als einer »intelligible[n] Tat, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar«,74 spricht. Die Frage nun, warum der Mensch, obgleich er von Natur zum Guten prädisponiert ist, ganz generell, wie man sieht, die Maximenordnung zu verkehren tendiert, lässt sich nicht definitiv beantworten, weil als Grund für die Annahme einer bösen Maxime wiederum nur auf eine zugrundeliegende böse Maxime im Menschen verwiesen werden könnte und die Frage nach dem Vernunftursprung ohne die Möglichkeit einer Letztantwort ins Endlose fortzusetzen ist. »Das Böse hat nur aus dem Moralisch-Bösen (nicht den bloßen Schranken unserer Natur) entspringen können […]; für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne.«75 Dasselbe gilt nun allerdings auch für die Umkehrung, genauer gesagt für die Beantwortung der Frage, wie eine Konversion des Bösen zum Guten möglich sein soll. »Wie es nun möglich sei, dass ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache, das übersteigt alle unsere Begriffe; denn wie kann ein böser Baum gute Früchte bringen?«76 Dass dies gleichwohl möglich sein muss, wissen wir auf der Basis des »Faktums der Vernunft«, das heißt des Bewusstseins des moralischen Gesetzes. Wir wissen uns unbedingt zur Moralität verpflichtet. Und eine solche Verpflichtung wäre ohne entsprechendes Können unsinnig, nach dem bekannten Grundsatz, dass keine Verpflichtung zu etwas besteht, was man nicht leisten kann (ultra posse nemo obligatur). »Denn ungeachtet jenes Abfalls erschallt doch das Gebot: wir sollen bessere Menschen werden, unvermindert in unserer Seele; folglich müssen wir es auch können.«77 Kant hält es letztlich für unerforschlich, warum der Mensch seine Maximenordnung in die eine oder die andere Richtung wendet. Wo im Grund eine »freie Wahl« steht,78 findet die Warumfrage für eine Antwort keinen sicheren Halt. Gleichwohl gibt er eine umrisshafte Er-

74 Rel. VI, 31. 75 Rel. VI, 43. 76 Rel. VI, 44 f. 77 Rel. VI, 45. 78 Rel. VI, 44.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 235

08.11.2021 16:20:45

236

IX. Die Theorie des radikal ­Bösen im Menschen

klärung und Anweisung dafür, wie die Umkehr des bösen Menschen zum guten (von ihm selbst) zu denken und zu leisten ist. Voraussetzung für die Möglichkeit einer Umkehr ist, dass der Mensch nicht satanisch böse ist, dass die Anlage zum Guten in ihm nicht vollkommen zerstört ist, dass »ein Keim des Guten in seiner ganzen Reinigkeit übrig geblieben, nicht vertilgt oder verderbt werden konnte«.79 Dieser Keim des Guten ist durch den Hang zum Bösen niedergehalten, überdeckt und verunreinigt. Grundlegend ist also die Freilegung und Reinigung dieses Keims, der von Kant verstanden wird als »die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür«.80 Für den Gedanken der Möglichkeit des Weges zum Guten ist Kants anthropologische Kernthese von entscheidender Bedeutung, dass der Mensch Glied und Bürger zweier Welten, der sensiblen, zeitlichen und der intelligiblen, nur mit Verstand und Vernunft fassbaren zeitlosen Welt ist. Entsprechend wichtig sind die Unterscheidungen zwischen dem Menschen in der Erscheinung und dem Menschen als intelligibles Subjekt, zwischen seiner Sinnesart und seiner Denkungsart, seinem empirischen und seinem intelligiblen Charakter, seiner erfahrbaren und seiner intelligiblen Tugend, seinen zeitlichen Akten und der intelligiblen Tat. Auf der intelligiblen Ebene ist dies, wie jemand, der böse ist, »von selbst ein guter Mensch werde«,81 nur über den Schritt einer radikalen Umkehr der Gesinnung, einer »Revolution für die Denkungsart«,82 »durch eine einzige unwandelbare Entschließung«83 zu verstehen. Der Mensch in der Erscheinung dagegen wird gut nur über zeitliche (und zeitraubende) Prozesse der Disziplinierung und Kultivierung seiner Gefühle, Neigungen und Verhaltensweisen entsprechend den Forderungen der Moralität, über »die allmähliche Reform […] für die Sinnesart«.84 Doch diese Reform der Sinnesart, diese »Besserung der Sitten« muss ihrerseits im Zeitlichen von der pädagogischen Praxis der »Erweckung sittlicher Gesinnungen«85 angestoßen und begleitet sein, da der

79 Rel. VI, 45. 80 Rel. VI, 27. 81 Rel. VI, 47. 82 Ebd. 83 Rel. VI, 47 f. 84 Rel. VI, 47. 85 Rel. VI, 50.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 236

08.11.2021 16:20:45

5. Die Perspektiven der Betrachtung und der Beurteilung

237

Mensch besser werden kann nur auf einem Weg, »der ihm von einer im Grunde gebesserten Gesinnung angewiesen wird«.86 Wie ist dies zu verstehen? Kant denkt den menschlichen Hang zum Bösen in einer intelligiblen Tat begründet, die die sittliche Ordnung der Maximen verkehrt. Er denkt die Umkehr als Revolution der Gesinnung, als gleichfalls intelligible Tat, die die sittliche Ordnung der Maximen wiederherstellt. Zugleich spricht er davon, der Hang zum Bösen sei (durch den Menschen) »unvertilgbar«. Möglich sei dem Menschen nur, ihn in einem zeitlichen Prozess der Reform der Sinnes- und Denkungsart zu überwiegen. Die Frage ist: Wie kann im Menschen eine gute Gesinnung mit einem Hang zum Bösen zugleich vorhanden sein? Ehe man Kant Widersprüche in seiner Theorie vorwirft, gilt es die Perspektiven zu beachten. Im Intelligiblen, das heißt in der reinen »Idee der Vernunft«, ist die Veränderung des Menschen zum Guten als einmalige unwandelbare Revolution zu denken; »für die Beurteilung der Menschen aber, die sich und die Stärke ihrer Maximen nur nach der Oberhand, die sie über die Sinnlichkeit in der Zeit gewinnen, schätzen können, ist sie nur als ein immer fortdauerndes Streben zum Besseren, mithin als allmählige Reform des Hanges zum Bösen als verkehrter Denkungsart anzusehen«.87

5. Die Perspektiven der Betrachtung und der Beurteilung Das zuletzt Gesagte macht deutlich, dass Kant aus verschiedenen Perspektiven von diesem Hang zum Bösen spricht: aus der gedanklichen Perspektive der Beurteilung aus reiner Vernunft, wie sie idealiter Gott zur Verfügung steht,88 und aus der Perspektive empirischer Erklärung oder Beurteilung in praktischer Hinsicht, wie sie realiter dem Menschen zukommt. Und es sollte damit auch klar sein, dass in der Nichtbeachtung der jeweiligen Perspektive und des Wech-

86 Rel. VI, 51. 87 Rel. VI, 48, Hervorh. M. F. Zum Reform-Begriff in der Aufklärung und bei Kant vgl. Schlüter, Gisela 2020. 88 Die in defizienter, theoretisch zurückhaltender Weise aber auch dem Menschen möglich ist.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 237

08.11.2021 16:20:45

238

IX. Die Theorie des radikal ­Bösen im Menschen

sels der Perspektiven die Schwierigkeiten einer konsistenten Interpretation von Kants Aussagen zu diesem Hang liegen.89 Kant spricht einerseits vom Laster und von der Tugend »an sich in der Idee der Vernunft« und von der Beurteilung des Menschen »auf der Waage der reinen Vernunft (vor einem göttlichen Gericht)«; und er spricht andererseits vom »Menschen in der Erscheinung, d. i. wie ihn uns die Erfahrung kennen lässt« und wie er »nach empirischem Maßstabe (von einem menschlichen Richter) beurteilt« wird.90 Kant spricht einerseits vom Erfassen des »Dasein[s] dieses Hanges zum Bösen in der menschlichen Natur durch Erfahrungsbeweise«, und er spricht andererseits von der rein apriorischen Entwicklung des Begriffs des Bösen, »sofern es nach Gesetzen der Freiheit (der Verbindlichkeit und Zurechnungsfähigkeit) möglich ist«.91 Er spricht einerseits von der Betrachtungsweise einer jeden bösen Handlung, »wenn man den Vernunftursprung derselben sucht«,92 und er spricht andererseits von der (sc. erklärenden) Ableitung einer Handlung »von irgendeinem vorhergehenden Zustande […], wenn die böse Handlung als Begebenheit in der Welt auf ihre Naturursache bezogen wird«.93 Er unterscheidet zwischen den moralischen Geboten, wie sie lauten und sich dem Menschen kategorisch stellen, und der Art und Weise, von welcher Einstellung wir zu uns selbst und zu anderen auszugehen haben, um ihre Befolgung einzuüben: »Der Satz vom angeborenen Bösen ist in der moralischen Dogmatik von gar keinem Gebrauch: denn die Vorschriften derselben enthalten eben dieselben Pflichten und bleiben auch in derselben Kraft, ob ein angeborener Hang zur 89 Man wird, denke ich, Kants Anliegen und seiner methodologischen Raffinesse nicht gerecht, wenn man die Verschiedenheit der Perspektiven und der ihnen entsprechenden Aussagen zugunsten einer Perspektive und der entsprechenden Aussage korrigieren möchte. Diese Intention sehe ich in der Interpretation von Kants Lehre durch Allison, Henry E. 1990, chap. 8 und 9 gegeben: »It argues that in spite of Kant’s tendency to present it as an empirical generalization, this doctrine is best understood as a postulate of morally practical reason« (p.146). Die gegenteilige Intention sehe ich in der These von Klemme, Heiner F. 1999, 125–151, dass eine »strikt moralphilosophische Interpretation«der kantischen Aussagen zum radikal Bösen zu keinem widerspruchsfreien Ergebnis führt. Mit der Betonung des religionsphilosophischen Kontexts (mit dem Konzept einer Tugendgemeinschaft) der kantischen Lehre ist Klemme zweifellos im Recht. 90 Rel. VI, 25 Anm. 91 Rel. VI, 35. 92 Rel. VI, 41. 93 Rel. VI, 39 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 238

08.11.2021 16:20:45

5. Die Perspektiven der Betrachtung und der Beurteilung

239

Übertretung in uns sei oder nicht. In der moralischen Aszetik aber will dieser Satz mehr, aber doch nicht mehr sagen als: wir können in der sittlichen Ausbildung der anerschaffenen moralischen Anlage zum Guten nicht von einer uns natürlichen Unschuld den Anfang machen, sondern müssen von der Voraussetzung einer Bösartigkeit der Willkür in Annehmung ihrer Maximen der ursprünglichen sittlichen Anlage zuwider anheben und, weil der Hang dazu unvertilgbar ist, mit der unablässigen Gegenwirkung gegen denselben.«94

»Im Urteile der Vernunft« werden die Fragen, so Kant, »nach der rigoristischen Entscheidungsart« beantwortet.95 Da gilt die »für die Moral wichtige[n] Bemerkung: die Freiheit der Willkür ist von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, dass sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat.«96 Im apriorischen Blick auf die Einheit und Spontaneität des Subjekts, die Einheit der Vernunft und die Einheit des Gesetzes ist die Gesinnung, das heißt die Maxime der Maximen der Person und damit die Person selbst, entweder gut oder böse.97 »Im Urteile der Vernunft« lässt »sich aus einigen, ja aus einer einzigen mit Bewusstsein bösen Handlung a priori auf eine böse zum Grunde liegende Maxime und aus dieser auf einen in dem Subjekt allgemein liegenden Grund aller besondern moralisch bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist, schließen.«98 »Im Urteile der Vernunft« hat dieser allgemeine subjektive Grund als Hang zum Bösen die Form einer Maxime der Maximen, ist also von uns selbst angenommen und zu verantworten, ist unsere eigene intelligible Tat, die jeder in die Sinne fallenden Tat zugrunde liegt, »bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar«.99 Im rein Intelligiblen macht die Differenz zwischen Disposition und Akt keinen Sinn. Kant wechselt denn auch den Titel des Abschnitts II des ersten Teils der Religionsschrift »Von dem Hange zum Bösen in

94 Rel. VI, 50. 95 Rel. VI, 23. Die klarste und überzeugendste (argumentative) Darstellung von Kants Theorie des Bösen unter diesem Gesichtspunkt scheint mir z. Zt. die Arbeit von Bojanowski, Jochen 2006, 262–286 zu bieten. 96 Rel. VI, 23 f. 97 Vgl. Rel. VI, 24. 98 Rel. VI, 20. 99 Rel. VI, 31.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 239

08.11.2021 16:20:46

240

IX. Die Theorie des radikal ­Bösen im Menschen

der menschlichen Natur«100 konsequenterweise im Abschnitt III in den Satz: »Der Mensch ist von Natur böse«.101 Im »Urteile der Vernunft« sind Gebrechlichkeit, Unlauterkeit und Bösartigkeit nur verschiedene Erscheinungsformen des Hangs zum Bösen, des »unvorsätzlichen« Selbstbetrugs oder des bewussten (und selbstwidersprüchlichen) Eigendünkels im Blick auf die subjektive Einstellung der Person zum moralischen Gesetz und dem Bewusstsein der objektiven Forderung des moralischen Gesetzes an sie.102 Im »Urteil der Vernunft« ist die Perversion der Anlagen zum Guten durch den Hang zum Bösen möglich, weil sie wirklich ist, aber auch unerklärlich, weil sie in jedem Fall eine intelligible Freiheitstat ist.103 Doch ebenso möglich (und als Freiheitstat unerklärlich) muss die moralische »Wiedergeburt«, das heißt die Revolution der schlechten in eine gute Gesinnung sein, weil sie uns durch das moralische Gesetz bedingungslos geboten ist.104 Wenn Kant davon spricht, dass der Hang zum Bösen »unvertilgbar«, aber überwindbar ist, so muss dies im »Urteile der Vernunft« heißen, dass wir uns »des Feindes in uns« entäußern, dass wir uns von ihm distanzieren, dass wir uns zu ihm in ein freies Verhältnis setzen, dass wir ihn besiegen können, allerdings wohl wissend, dass er (für uns in der Zeit) nicht vernichtet ist und (jederzeit) wieder erstarken kann. Im »Urteil der Vernunft« spielt der Hang zum Bösen für die »moralische Dogmatik« denn auch keine Rolle. Das heißt, bezüglich jeder Pflicht ist in abstrakter Betrachtung »nach der Idee« jede mündige Person jederzeit so zu beurteilen, als ob sie ihr entsprechend unmittelbar zu handeln befähigt ist. Und eine »jede böse Handlung muss, wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie geraten wäre«.105 Eine jede Handlung eines verantwortlichen Menschen muss in dieser Perspektive »immer als ein

100 Rel. VI, 28. 101 Rel. VI, 32. 102 Sie markieren sämtlich einen »subjektiven Vorbehalt gegen die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes«; so treffend Stangneth, Bettina 2000, 62. 103 MdS VI, 380 Fn: »Das Phänomen nun: dass der Mensch auf diesem Scheidewege […] mehr Hang zeigt der Neigung als dem Gesetz Gehör zu geben, zu erklären ist unmöglich: weil wir, was geschieht, nur erklären können, indem wir es von einer Ursache nach Gesetzen der Natur ableiten; wobei wir aber die Willkür nicht als frei denken würden.« 104 Dass transzendentale, im Empirischen sich auswirkende Freiheit kein unsinniger Gedanke ist, hat Kant im Antinomiekapitel der KrV geklärt. 105 Rel. VI, 41.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 240

08.11.2021 16:20:46

5. Die Perspektiven der Betrachtung und der Beurteilung

241

ursprünglicher Gebrauch seiner Willkür beurteilt werden«.106 Und genau dies tun wir und meinen wir, wenn wir jemandem allein »im Urteil der Vernunft« sein Tun moralisch oder rechtlich »zurechnen«. In empirisch-praktischer Perspektive der Betrachtung und Beurteilung des Menschen,107 in der Perspektive des »menschlichen Richters« und in der Perspektive der Aszetik im Blick auf die sittliche Bildung des Menschen stellen sich die Dinge anders dar. In empirisch erklärender Perspektive bedeutet zunächst dieser Hang zum Bösen »nichts weiter, als dass, wenn wir uns auf die Erklärung des Bösen seinem Zeitanfange nach einlassen wollen, wir bei jeder vorsetzlichen Übertretung die Ursachen in einer vorigen Zeit unsers Lebens bis zurück in diejenige, wo der Vernunftgebrauch noch nicht entwickelt war, mithin bis zu einem Hange (als natürliche Grundlage) zum Bösen, welcher darum angeboren heißt, die Quelle des Bösen verfolgen müssten«.108

Hier hätte »Hang« die Bedeutung nicht einer eigenverantwortlichen Disposition, sondern einer naturalen »Prädisposition zum Begehren eines Genusses, der, wenn das Subjekt die Erfahrung davon gemacht haben wird, Neigung dazu hervorbringt«,109 so wie in Kants Beispiel »rohe Menschen«, die noch keine Erfahrung mit Alkoholischem gemacht haben, eine Prädisposition zur Abhängigkeit von berauschenden Getränken haben. Wir würden heute von Vererbung bzw. genetischer (Vor)programmierung sprechen. Einem solchen »Hang zum Bösen« gilt Kants eigenartiger Satz, »dass er zwar angeboren sein kann, aber doch nicht als solcher vorgestellt werden darf«.110 Das besagt wohl: Was in rein theoretischer Erklärungsperspektive eine plausible Annahme sein mag, darf in der reinen Vernunftperspektive moralischer Beurteilung keinen argumentativen Platz beanspruchen, da in ihrem Horizont Böses seinem Begriff nach nicht auf Natur (oder Gesellschaft) zurückführbar, sondern nur als Wirkung einer Kausalität aus Freiheit zu denken ist. 106 Ebd. 107 Vgl. Rel. VI, 39 Anm. 108 Rel. VI, 43. 109 Rel. VI, 28 Anm. 110 Rel. VI, 29.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 241

08.11.2021 16:20:46

242

IX. Die Theorie des radikal ­Bösen im Menschen

In empirisch beurteilender Perspektive ist nicht der apriorische Grundsatz der »rein intellektuellen« Beurteilung leitend, nach dem die Maxime der Maximen und damit die Person jederzeit entweder gut oder böse ist. Und in empirisch beurteilender Perspektive unterstellen wir nicht allenthalben einen Hang zum Bösen vor allem Gebrauch der Freiheit. In empirischer Beurteilung gehen wir selbstverständlich von der moralischen Unschuld des Säuglings und Kleinkindes, von der moralischen »Indifferenz vor aller Ausbildung«,111 aber natürlich auch von mehr oder weniger guten und schlechten vererbten »Anlagen« aus. Und im Blick auf die in die Sinne fallenden Handlungen der Menschen stellen wir in der Regel »ein Positives der Mischung, teils gut, teils böse zu sein«, fest.112 Die »Beurteilung der Moralität des Menschen in der Erscheinung«113 muss sich ohnehin an der grundsätzlich feststellbaren äußeren Recht­ heit des Handelns orientieren. Die Maxime der Maximen, die einen mündigen Menschen jeweils leitet, seine Gesinnung sowie ihre Stärke oder Schwäche lässt sich, weil im Noumenalen situiert, wofür Phänomenales nur ein Zeichen und Hinweis ist, durch Fremd- und Selbstbeobachtung und durch Interpretation der Beobachtungsdaten niemals eindeutig und endgültig klären. Der »Reinigkeit der moralischen Absicht«, der »Lauterkeit der Gesinnung« und der unüberwindbaren Stärke seiner guten Maximenordnung kann sich ein Mensch »weder durch unmittelbares Bewusstsein noch durch den Beweis seines bis dahin geführten Lebenswandels«114 jemals völlig gewiss sein. Die »Tiefe des Herzens« ist dem Menschen »unerforschlich«.115 »Die eigentliche Moralität der Handlungen […] bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit […] zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.«116 111 Rel. VI, 39 Anm. 112 Ebd. 113 Ebd. 114 Rel. VI, 51. 115 Ebd. 116 KrV A 551/B 579 Fn; vgl. MdS VI, 392; Rel. VI, 38.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 242

08.11.2021 16:20:46

5. Die Perspektiven der Betrachtung und der Beurteilung

243

In empirisch beurteilender Perspektive stellen die Stufen der Gebrechlichkeit, der Unlauterkeit und der Bösartigkeit des Herzens wichtige, ja wesentliche Unterscheidungen dar. In ihr erscheint es möglich, dass die Gesinnung bereits gut und »das Fleisch noch schwach« und dass die Unlauterkeit des Herzens dem Menschen (vielleicht sogar schuldlos)117 nicht bewusst ist. Einzig die »mit Bewusstsein böse Handlung« ist ein sicheres Indiz für das Vorliegen einer verdorbenen Gesinnung. Der moralischen Aszetik geht es um die sittliche Ausbildung »des Menschen in der Erscheinung«, und zwar im Blick auf seinen empirischen und intelligiblen Charakter. In ihr muss die reine Vernunftperspektive mit der empirisch erklärenden und empirisch beurteilenden Perspektive in praktisch-pragmatischer Absicht sich verbinden. Sie muss mit der »Idee der Menschheit« und dem Gedanken der Erhabenheit der moralischen Bestimmung des Menschen118 die Anlage zur Persönlichkeit und mit ihr die Gesinnung des Menschen ansprechen, um das Gefühl der Achtung vor dem Gesetz gegenüber den Ansprüchen der Sinnlichkeit zu stärken und ihn zu einer (nachhaltigen) Revolution der Gesinnung zu motivieren. Sie muss andererseits die Sinnesart des Menschen, das heißt die Art, den Zusammenhang und die Kraft seiner Neigungen, nach erfahrungsgestützten Klugheitsregeln über Gewöhnungs- und Belehrungsprozesse in und mit der Zeit so formen, dass sie sich dem Gesetz der Vernunft fügen, seine Befolgung im Handeln unterstützen, ihr jedenfalls möglichst wenig Hindernisse entgegensetzen.119 Die Form der Nötigung und des »Selbstzwangs« wird Moralität allerdings auch beim Menschen mit bestem empirischem Charakter in Situationen eines gravierenden Konflikts zwischen Pflicht und Neigung immer haben. 117 Diese Möglichkeit ergibt sich, wenn Menschen, wie Kant in der GMS (IV, 407) erklärt, auch »bei der schärfsten Selbstprüfung« nicht völlig sicher sein können, »dass wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe unter der bloßen Vorspiegelung« der Moralität vorliegt. 118 Vgl. Rel. VI, 50. 119 Marcus Willaschek hat sicher recht, wenn er meint, dass ein guter intelligibler Charakter sich in einem »durchgängig ›legalen‹ empirischen Charakter« manifestiert. Doch ich denke nicht, dass er recht hat, wenn er meint, dass das Ideal eines »durchgängig ›legalen‹ empirischen Charakters« mit dem Vorliegen eines ›radikal guten‹ intelligiblen Charakters zusammenfällt (1992, 163) und dass »die ›allmählige Reform‹ einfach darin (besteht), von nun an überhaupt keine gesetzwidrigen Handlungen mehr zu vollziehen« (ebd., 162). Letzteres ist sicher ein Bestandteil der Reform; doch diese besteht auch in einer schrittweisen Disziplinierung und Kultivierung der Neigungen und in einer kontinuierlichen Weckung und Stärkung des moralischen Gefühls der Achtung vor dem Gesetz. Ferner ist es sehr wohl denkbar, dass jemand (etwa im Blick auf himmlischen Lohn und Strafe) sich aller gesetzwidrigen Handlungen enthält und gleichwohl (nach Kant) keinen guten intelligiblen Charakter besitzt.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 243

08.11.2021 16:20:46

244

IX. Die Theorie des radikal ­Bösen im Menschen

6. K  ants Begriff des »Hangs zum Bösen« und die christliche Erbsünde Immanuel Kant steht ideengeschichtlich mit seiner Lehre vom radikal Bösen im Menschen in der Tradition der christlich-theologischen Lehre vom vitium bzw. peccatum originale, von der Ur- und Erbsünde. Um die Eigenart von Kants Theorie des menschlich Bösen adäquat zu verstehen, ist ein vergleichender Blick in dieses christlich-theologische Lehrstück unerlässlich.120 Kant selbst nimmt an verschiedenen Stellen seiner Schrift explizit und implizit auf diese theologische Lehre Bezug121 und verwendet ihre Geschichten und Metaphern. Doch er übersetzt sie in eine völlig säkulare philosophische Anthropologie und Moralphilosophie. Im Abschnitt IV referiert Kant auf seine Weise »die Vorstellungsart, deren sich die Schrift bedient, den Ursprung des Bösen als einen Anfang desselben in der Menschengattung zu schildern«.122 Das Alte Testament berichtet bekanntlich im Buch Genesis vom Ursprungszustand des Menschen, vom Sündenfall des ersten Menschenpaars und vom Verlust des Paradieses. Es betont in verschiedenen seiner Schriften die generelle Sündhaftigkeit des Menschen und den allgemeinen Hang zur Sünde, aber es kennt keine Erbsündelehre. Den Ursprung für die Entwicklung einer solchen Lehre bietet erst ein neutestamentlicher Autor und Text, nämlich der Apostel Paulus in einem Passus seines Briefs an die Römer (Röm 5, 8–21). Dieser Abschnitt enthält in Vers 5, 19123 den Gedanken, dass das fundamentale Sündersein und der Tod aller auf Adam allein zurückgeht,124 lässt aber offen, »in welcher Weise die Sündigkeit der einzelnen Menschen mit der Adamssünde verknüpft ist«.125 Eine falsche Vulgata-Übersetzung von Vers 5, 12126 begründet den Gedanken, in Adam hätten alle Menschen gesündigt, eine 120 Über das Verhältnis Kants zur theologischen Diskussion seiner eigenen Zeit informiert Bohatec, Josef 1938; wichtige Hintergrundinformationen enthält auch das Buch von Reboul, Olivier 1971. 121 Er nennt den Hang zum Bösen im Sinne einer intelligiblen Tat explizit peccatum originarium (Rel.VI, 31). 122 Rel. VI, 41 f. 123 Der Vers lautet: »Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die Vielen in den Zustand der Sünde versetzt worden waren, so werden auch durch den Gehorsam des Einen die Vielen zu Gerechten gemacht werden.« 124 Vgl. Kuss, Otto 1963, 241–275; vgl. ferner Schmaus, Michael 1969, 387; 389. 125 Schmaus, Michael 1969, 391. 126 Die richtige Übersetzung des Griechischen ἒφ` ᾧ πάντες ἥμαρτον wurde erst durch Humanisten der frühen Neuzeit getroffen; sie lautet: »deshalb, weil alle gesündigt haben«.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 244

08.11.2021 16:20:46

6. Kants Begriff des »Hangs zum Bösen« und die christliche Erbsünde

245

Formel, die in der christlichen Dogmatik bis in die frühe Neuzeit kanonisch gewirkt hat, und die auf seine Weise auch noch Kant in unserem Passus verwendet (»Dass wir es täglich ebenso machen, mithin ›in Adam alle gesündigt haben‹ und noch sündigen, ist aus dem Obigen klar«).127 Der wichtigste spätantike Autor für die theologische Entwicklung der christlichen Erbsündelehre im Anschluss an Paulus ist Augustinus von Hippo. Er zeichnet auch für die biologischen und sexuellen Konnotationen des Begriffs verantwortlich. Das Konzil von Karthago (418 n. Chr.), das zweite Konzil von Orange (529 n. Chr.) und das Konzil von Trient (1546 n. Chr.) betonen im Blick auf die Einheit der Menschen als Gattung und die Abstammung aller Menschen von Adam den Kollektiv- und Vererbungscharakter von Sündhaftigkeit und Schuld, aus der der einzelne Mensch (nur) durch die Erlösungstat Christi in der Taufe gnadenhaft gelöst und befreit wird. Die Auseinandersetzung zwischen Katholizismus und reformierter christlicher Theologie im ausgehenden Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit betraf nicht den generellen Sünderstatus der Unerlösten und den Erbcharakter dieser Sündhaftigkeit und Schuld, sondern die Frage, »wie die Tragweite der Erbsünde zu verstehen«,128 das heißt, wie stark die ursprünglich gute Natur des Menschen durch sie verdorben und wie stark die mögliche oder notwendige Mitwirkung des Menschen bei seiner Rückkehr ins Heil zu denken sei. Der die gesamte Gattung betreffende Charakter der Erbsünde findet bei Kant sein philosophisches Echo in der Betonung der Allgemeinheit des Hangs des Menschen zum Bösen ebenso wie in der Bestimmung der Pflicht zur Gründung einer Tugendgemeinschaft (einer »Kirche«) als Gattungspflicht.129 Die Frage nach der Gnadenhaftigkeit oder dem Leistungscharakter des Gesinnungswandels und siegreichen Kampfes gegen den Hang zum Bösen beantwortet Kant unter praktisch-pragmatischer Rücksicht durch die (»pelagianische«) Betonung dessen, was »in unserer Hand ist«, nämlich die durch uns, durch jeden Einzelnen zu leistende Revolution der Denkungsart und Reform der Sinnesart und die der Gattung aufgetragene Errichtung einer wahren sichtbaren Kirche.130 Die Hoffnung auf göttlichen Beistand kann für den Menschen nicht Motiv dafür sein, die 127 Rel. VI, 42, Hervorh. M. F. 128 Schmaus, Michael 1969, 398. 129 Vgl. Rel. VI, 97. 130 Schulte, Christoph 21991, 116 hat recht, wenn er meint, Kant erweise sich »trotz seines Beharrens auf der Allgemeinheit des radikalen Bösen als moralphilosophischer ›Pelagianer‹«. Dabei sollte man allerdings bedenken, dass der Begriff des Pelagianismus nicht so ganz eindeutig ist.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 245

08.11.2021 16:20:46

246

IX. Die Theorie des radikal ­Bösen im Menschen

Position der Moralität zu beziehen (und seine Kräfte dahingehend einzusetzen); sie kann nur, hinsichtlich des Genügens seiner Kräfte, deren Folge sein. Leitend ist für Kant der Grundsatz, »dass ein jeder so viel, als in seinen Kräften ist, tun müsse, um ein besserer Mensch zu werden; und nur alsdann, wenn er sein angeborenes Pfund nicht vergraben (Lucä XIX, 12–16), wenn er die ursprüngliche Anlage zum Guten benutzt hat, er hoffen könne, was nicht in seinem Vermögen ist, werde durch höhere Mitwirkung ergänzt werden.«131 Die christliche Tradition betont die Einheit der Sünde in der Wurzel und die durch sie begründete Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit jedes Einzelnen, einschließlich der Neugeborenen und kleinen Kinder. Doch sie betont auch den wesentlich kollektiv-korporativen Charakter dieser Sündhaftigkeit, nämlich dies, dass diese Ur- und Erbsünde nicht auf einer persönlichen Entscheidung jedes Einzelnen beruht, dass es sich also nicht um eine freiwillige und verantwortliche Tat handelt, sondern um einen Zustand der Sündhaftigkeit, der im Nichterlösten jeder persönlichen Zielsetzung, Entscheidung und Handlung vorausliegt und diese sündhaft macht. Dies ist für die genaue Unterscheidung wichtig: Kant verabschiedet den Gedanken einer (wie auch immer) vererbten, die Menschheit als Gattung betreffenden korporativen Sündhaftigkeit und kollektiven Schuld. Er lehnt die christliche Erbsündelehre in ihrer traditionellen Gestalt nachdrücklich ab: »Wie nun aber auch der Ursprung des moralischen Bösen im Menschen beschaffen sein mag, so ist doch unter allen Vorstellungsarten von der Verbreitung und Fortsetzung desselben durch alle Glieder unserer Gattung und in allen Zeugungen die unschicklichste: es sich als durch Anerbung von den ersten Eltern auf uns gekommen vorzustellen.«132

Er verankert das Prinzip des (moralisch) Bösen ebenso wie des (moralisch) Guten substantiell in der Freiheit jedes Einzelnen,133 dies freilich so, dass auch die Sozialität des Menschen als Voraussetzung der Bösartigkeit ebenso wie der

131 Rel. VI, 52. 132 Rel. VI, 40. 133 Über den weiteren Zusammenhang der Theodizeethematik und des Bösen bzw. des Übels informiert Neiman, Susan 2002. »If Enlightenment is the courage to think for oneself, it’s also the courage to assume responsibility for the world into which one is thrown« (ebd., 4).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 246

08.11.2021 16:20:46

6. Kants Begriff des »Hangs zum Bösen« und die christliche Erbsünde

247

Tugendhaftigkeit des Menschen mit Nachdruck zur Sprache und zur Geltung kommt. Eine theologische Erklärung des Zustands vererbter kollektiver Sündhaftigkeit, die in der christlichen Tradition kanonischen Charakter besitzt und in ihrer Terminologie für die kantische philosophische Lehre systematisch anschluss- und vergleichsfähig ist, bietet Thomas von Aquin. Nach Thomas ordnet die göttliche Vernunft das Verhalten der Geschöpfe über verschiedene den Geschöpfen entsprechend ihrer Art eingegebene natürliche Neigungen (inclinationes naturales). Der Mensch besitzt natürliche Neigungen zur Selbst- und Arterhaltung, zur sprachlich vermittelten Gemeinschaft und zur neigungsbezogenen ebenso wie zur interesselosen Erkenntnis. Das natürliche Gesetz, das Gesetz seiner ihm von Gott gegebenen besonderen Verfassung, besagt, dass er, auf der Basis und nach den Zielvorgaben seiner natürlichen Neigungen, der Vernunft entsprechend handle.134 Nun muss man nach christlich-theologischer Anthropologie bezüglich der Befolgung des natürlichen Gesetzes gattungsgeschichtlich zwischen ursprünglichem Zustand, Unheilszustand und durch Christus möglichem Heilszustand des Menschen unterscheiden. »Im ursprünglichen Zustand war dieses Gesetz derart wirksam, dass sich im Verhalten des Menschen nichts einschleichen konnte, was außervernünftig oder widervernünftig war. Als der Mensch sich aber von Gott abwandte, verfiel er in den Zustand, dass er dem Impuls der Sinnlichkeit entsprechend getrieben wird; und dies trifft jeden Einzelnen auch auf besondere Weise, je mehr er von der Vernunft sich entfernt haben wird; so dass sich der Mensch in gewisser Weise den wilden Tieren angleicht, die vom Impuls der Sinnlichkeit getrieben werden.«135

134 Summa theologiae, pars I–IIae, quaestio 91 articulus 6 corpus articuli: Est ergo hominis lex, quam sortitur ex ordinatione divina secundum propriam conditionem, ut secundum rationem operetur. 135 S. theol. I–IIae, qu. 91 a. 6 co.: Quae quidem lex fuit tam valida in primo statu, ut nihil vel praeter rationem vel contra rationem posset subrepere homini. Sed dum homo a Deo recessit, incurrit in hoc quod feratur secundum impetum sensualitatis: et unicuique etiam particulariter hoc contingit, quanto magis a ratione recesserit: ut sic quodammodo bestiis assimiletur, quae sensualitatis impetu feruntur[…].

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 247

08.11.2021 16:20:46

248

IX. Die Theorie des radikal ­Bösen im Menschen

Fomes, der »Zunder«, die Neigung der Sinnlichkeit in ihrer vom Bezug zur rechten Vernunft und von der selbstverständlichen Prägung und Leitung durch rechte Vernunft gelösten Form, erfüllt im Unterschied zum wilden Tier im Menschen allerdings nicht den Begriff des (natürlichen) Gesetzes, sondern der Abweichung vom Gesetz der Vernunft (der deviatio a lege rationis). Da die Menschen nach der Sünde Adams und vor der Erlösungstat Christi dieser Neigung generell unterworfen und in ihrem Denken und Tun mehr oder weniger häufig und stark ausgeliefert sind, hat diese Neigung so etwas wie Gesetzescharakter, doch weder den eines deskriptiven noch den eines präskriptiven natürlichen Gesetzes, sondern den einer Strebensweise, zu der man durch göttliches Strafgesetz degradiert wurde. »Doch insofern der Mensch durch göttliche Gerechtigkeit der ursprünglichen Rechtschaffenheit und Stärke der Vernunft entblößt wird, erfüllt der ihn leitende Impuls der Sinnlichkeit selbst den Begriff des Gesetzes, insofern er Strafcharakter hat und aus dem göttlichen Gesetz folgt, das den Menschen der ihm eigenen Würde beraubt.«136

Zwei Dinge sind es, die nach Thomas den Status der Sündhaftigkeit und des Unheils des Menschen in seinem Wesen ausmachen: der Verlust der ursprünglichen spontanen Rechtschaffenheit (der iustitia originalis) und der Verlust der ursprünglichen durchdringenden Vernunftstärke (der vigor rationis), und, diesem Verlust entsprechend, eine faktisch-generelle Orientierungsund Motivationsdominanz der Sinnlichkeit, der concupiscentia,137 wobei unter c­ oncupiscentia als Strebens- und Verhaltensprinzip des Unerlösten in der paulinisch-augustinischen Terminologietradition das uneingeschränkte Bestreben zur Erhaltung und Steigerung des eigenen empirischen Daseins und des Genusses dieses Daseins in all seinen Schattierungen zu verstehen ist. Der generelle Zustand selbst, eine (verglichen mit dem ursprünglich idealen Paradieseszustand) Verdorbenheit (corruptio) der menschlichen Natur, ist durch die göttliche Strafgerechtigkeit verfügt. Er wirkt sich in der persönlichen, vom 136 S. theol. I–IIae qu. 91 a. 6 co.: Sed inquantum per divinam iustitiam homo destituitur originali iustitia et vigore rationis, ipse impetus sensualitatis qui eum ducit, habet rationem legis, inquantum est poenalis et ex lege divina consequens, hominem destituente propria dignitate. 137 Vgl. Thomas von Aquin, Scriptum super quattuor libros sententiarum, In librum II Sententiarum distinctio 30 quaestio 1 articulus 3, sowie Scheffczyk, Leo 2002, Sp. 2120.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 248

08.11.2021 16:20:46

6. Kants Begriff des »Hangs zum Bösen« und die christliche Erbsünde

249

Einzelnen zu verantwortenden Sündhaftigkeit unterschiedlich und umso gravierender aus, je mehr dieser sich von der (rechten) Vernunft entfernt. Die Abweichung vom Gesetz der Vernunft mag unterschiedlich sein; doch was dem Handeln des der Erbsünde Verhafteten grundsätzlich fehlt, ist seine gottgefällige Heilswirksamkeit. Diese wird erst ermöglicht durch die gnadenhafte Teilhabe an den Wirkungen der Erlösungstat Christi, die Erbsünde und Erbschuld tilgen. Der Unerlöste ist gekennzeichnet durch Konkupiszenz, das heißt durch einen verabsolutierten Selbstbezug, der ihn, als Menschen, an sein empirisch-zeitliches Dasein und die Güter dieses Daseins fesselt und dem Tod verfallen sein lässt. Nun ist zwischen der vernunftwidrigen Konkupiszenz des noch mit der Erbsünde Behafteten und dem unmittelbaren sinnlichen Begehren des durch die Taufe »Wiedergeborenen«, zu dem dieser in ein Verhältnis tritt und das er als Person und freies Subjekt nicht vollkommen »einholen« kann, zu unterscheiden. Auch Letzteres wird, insofern es der rechten Vernunft widerstrebt und im Menschen in diesem Leben »unvertilgbar« ist, in den christlich-dogmatischen Texten concupiscentia genannt. Und von dieser müsste in säkular-anthropologischem Sinn auch bei Kant die Rede sein, wenn er »im Urteile der Vernunft« an den nichtgetilgten, aber niedergehaltenen und stets zu bekämpfenden Hang zum Bösen im »Wiedergeborenen« denkt, im Unterschied zum Hang zum Bösen beim Menschen schlechter Gesinnung. Und in der Tat enthalten für Kant, in welchem Zustand des Menschseins auch immer, »die Antriebe der Natur […] Hindernisse der Pflichtvollziehung im Gemüt des Menschen und (zum Teil mächtig) widerstrebende Kräfte, die also zu bekämpfen und durch die Vernunft nicht erst künftig, sondern gleich jetzt (zugleich mit dem Gedanken) zu besiegen er sich vermögend urteilen muss«.138 Der »Hang zum Bösen« im Sinne einer Disposition spontanen, »unwillentlichen«, der ­recta ratio widerstrebenden sinnlichen Begehrens ist vom Hang zum Bösen als einer Disposition zu unterscheiden, die diesem Begehren und Bestreben in welcher Form auch immer bejahend entgegenkommt.139 In letzterem Sinn ist vom (verantwortlichen und schuldhaften) 138 MdS VI, 380. 139 Kants Hang zum Bösen, der sich einer intelligiblen Tat verdankt, ist unter-, ja, wie ich meine, fehlbestimmt, wenn man ihn lediglich im Sinne »der subjektiven Bedingung der Empfänglichkeit für Pflichtwidriges« bzw. im Sinne der »Verfaßtheit (Konstitution) des Menschen als Gattungswesen, überhaupt versucht oder in Versuchung gebracht werden zu können« versteht, wie Klar, Samuel 2007, 40 dies tut. Besonders deutlich wird dies an Kants Bestimmung des »Heiligen des Evangelii«, der zwar als der Versuchung ausgesetzt, nicht aber mit einem verantwortlichen Hang zum Bösen behaftet zu denken ist.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 249

08.11.2021 16:20:46

250

IX. Die Theorie des radikal ­Bösen im Menschen

Vorliegen eines aktuellen Hangs zum Bösen bei Kant eindeutig dann die Rede, wenn »der Mensch auf diesem Scheidewege […] mehr Hang zeigt der Neigung als dem Gesetz Gehör zu geben«.140 Der Grund des Bösen kann jedenfalls nicht in der Sinnlichkeit des Menschen als solcher, er muss in seiner Freiheit liegen, die seine Gesinnung bestimmt.141 Er kann aber auch nicht einfach mit der Freiheit der Willkür zum Guten wie zum Bösen, mit der bloßen Möglichkeit, »sündigen zu können«, identifiziert werden.142

7. Menschliche Tugend ist Tugend im Kampfe Thomas von Aquins Theorie wurde durch die Erbsünde-Canones des Konzils von Trient143 für den Katholizismus festgeschrieben. Was uns an diesen interessiert, ist ein Passus des Kanons 5, der seinen deutlichen Vergleichspunkt in Kants Theorie des Bösen hat. Er lautet: »Dass aber in den Getauften die Begierlichkeit (concupiscentia) oder der ›Zündstoff‹ (fomes) zurückbleibt, das bekennt und weiß die heilige Kirchenversammlung. Da sie aber für den Kampf zurückgelassen ist, kann sie denen, die nicht zu140 MdS VI, 380 Anm. 141 Vgl. Rel. VI, 34. Manche Interpreten sehen in der Freiheit zum Bösen der Religionsschrift eine Revision des kantischen Verständnisses von Freiheit (als Autonomie), wie es in der GMS und der KpV expliziert wird (so etwa Klar, Samuel 2007, Kap. 3). Dabei hat Kant bei der Ineinssetzung von Freiheit und Autonomie einen emphatisch normativen Freiheitsbegriff im Auge, der selbstverständlich nicht ausschließt, dass heteronomes Handeln des Menschen ebenso freies und verantwortliches Handeln ist. Letzteres basiert, wie bereits in der KrV hinreichend deutlich gemacht ist, auf dem arbitrium sensitivum liberum des Menschen, der die anthropologische Bedingung der Moralitätsfähigkeit des Menschen darstellt (vgl. dazu Schulte, Christoph 21991, 52 ff.). Einen Gegensatz zwischen dem normativen Freiheitsbegriff von GMS und KpV gegenüber der Religionsschrift konstruieren insbesondere vom Neuplatonismus geprägte Kantinterpreten, denen die anthropologische, moralisch unqualifizierte Freiheit des Menschen zum Guten wie zum Bösen nicht diesen Namen verdient. Kant verwendet, wie gezeigt, in seinem kritischen Oeuvre (meist problem- und kontextbezogen) den Freiheitsbegriff in verschiedener und hochdifferenzierter Bedeutung. Die Revisionsthese weist überzeugend die Arbeit von Bojanowski, Jochen 2006 zurück. 142 Eine Tendenz zu dieser Identifikation liegt, wenn ich es recht sehe, bei Fischer, Norbert 1988, 18–43 vor, wenn er schreibt, »der Mensch [wäre] auf Grund der […] bloßen Möglichkeit, gesetzwidrige Maximen anzunehmen, allgemein als böse gedacht«, bzw. dass der Mensch »durch die selbstzugezogene Möglichkeit des Bösen selbst böse genannt werden kann« (40). 143 Sessio V, 17. Iunii 1546: Decretum super peccato originali. Der lateinische Text in: Henricus Denzinger et Johannes Bapt. Umberg S. J. 1932, Nr. 787–792, S. 281–283.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 250

08.11.2021 16:20:46

7. Menschliche Tugend ist Tugend im Kampfe

251

stimmen, sondern mannhaft durch Christi Jesu Gnade Widerstand leisten, nicht schaden. Vielmehr: ›Wer recht kämpft, wird gekrönt werden‹ (2 Tim 2, 5). Wenn der Apostel diese Begierde gelegentlich Sünde nennt (Röm 6, 12 ff.), so erklärt die heilige Kirchenversammlung, dass die katholische Kirche ihre Benennung als Sünde niemals so verstanden hat, dass sie in den Wiedergeborenen wirklich und eigentlich Sünde war, sondern weil sie aus der Sünde stammt und zur Sünde geneigt macht« (Hervorh. M. F.).144

Tugend ist auch für Kant Tugend im Kampfe. Der Hang zum Bösen ist auch nach ihm untilgbar, aber überwindbar, solange und insofern wir Menschen freie sinnliche Wesen sind. Zwischen dem Hang zum Bösen im Menschen schlechter Gesinnung und dem Hang zum Bösen im Menschen guter Gesinnung ist deshalb, auch wenn Kant dies nicht deutlich genug tut, aus reiner Vernunftperspektive genau zu unterscheiden. Im Menschen, der die Revolution der Denkungsart (»durch eine einzige unwandelbare Entschließung«145) erfolgreich vollzogen hat, ist dieser Hang nicht mehr als intelligible Tat, sondern als unauslöschliche Tatfolge und demnach nur noch als permanente Herausforderung und Versuchung zur Verfehlung zu denken. Die Versuchung zur Verfehlung und damit zur Verkehrung der prinzipiellen Triebfederordnung in den Maximen durch Ansprüche unserer Sinnlichkeit bleibt in der Tat auch nach erfolgreicher Revolution der Gesinnung bestehen. Und der Hang zum Bösen im Sinne der Versuchung selbst kann auch für Kant, nach gelungener Revolution, nur noch als Tatfolge, nicht mehr als intelligible Tat zu denken sein, insofern und solange wir nicht »zustimmen«, das heißt, solange wir den Impuls der Sinnlichkeit nicht (wieder) zur höchsten Triebfeder unseres Handelns in unserer Gesinnung machen. Böse und schuldig werden wir nur, wenn wir der Versuchung vernunftwidriger Sinnlichkeit nachgeben. Und Sinnlichkeit, das Prinzip empirischer Selbstliebe, wird auch für Kant im eigentlichen Sinn vernunftwidrig nur, wenn sie in uns, in vernünftigen Sinnenwesen, die Rolle 144 Manere autem in baptizatis concupiscentiam vel fomitem, haec sancta Synodus fatetur et sentit; quae cum ad agonem relicta sit, nocere non consentientibus et viriliter per Christi Jesu gratiam repugnantibus non valet. Quin immo qui legitime certaverit, coronabitur (2 Tim 2,5). Hanc concupiscentiam, quam aliquando Apostolus peccatum (Rom 6,12 sqq) appellat, sancta Synodus declarat, Ecclesiam catholicam nunquam intellexisse, peccatum appellari, quod vere et proprie in renatis peccatum sit, sed quia ex peccato est et ad peccatum inclinat. Denzinger a. a. O. 283, vgl. Schmaus, Michael 1969, 397 f. 145 Rel. VI, 47 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 251

08.11.2021 16:20:46

252

IX. Die Theorie des radikal ­Bösen im Menschen

des unser Handeln bestimmenden Motivs aller Motive spielt. Thomas würde mit Augustinus sagen, dass da der amor sui stärker ist als der amor dei. Und Kant wird entsprechend sagen, dass die Neigung stärker ist als die Achtung vor dem Gesetz, dass indessen dieses Stärkersein der Neigung sich der freien und schuldhaften Verkehrung der Hierarchie der Triebfedern in unseren Maximen verdankt. Das Christentum kennt »in diesem Leben« keine Heilsgewissheit. Und auch bei Kant greift nachhaltig der Gedanke, dass wir bezüglich des wahren Zustands der Gesinnung, über ihre Reinheit und Stärke kein klares und sicheres Wissen haben und haben können. Deshalb gilt für ihn aus der Per­spektive empirischer Fremd- und Selbstbeurteilung ebenso wie aus der Perspektive der Pädagogik und Aszetik der Satz vom simul iustus et peccator; von den »zwei Seelen in unserer Brust«, die im jederzeit möglichen Kampf miteinander liegen, der wohl im Sieg über den Hang zum Bösen, aber nicht mit seiner definitiven Vernichtung in diesem Leben enden kann. Deshalb spricht er nicht nur von der Revolution der Gesinnung, sondern auch von der »allmählige[n] Reform des Hanges zum Bösen als verkehrter Denkungsart«.146 Deshalb spricht er von der Kultivierung der Anlage zum Guten, die »allmählig in die Denkungsart über[geht]«.147 Der Weg zur Tugend als virtus noumenon bedarf in der Tat einer nachhaltigen Revolution in der Gesinnung (von der man nie wissen kann, ob sie tatsächlich gelungen ist), aber eben auch einer Reform des empirischen Charakters, des allmählichen Erwerbs einer Tugend (als virtus phaenomenon), die »einigen eine lange Gewohnheit (in Beobachtung des Gesetzes) [heißt], durch die der Mensch vom Hang zum Laster durch allmählige Reformen seines Verhaltens und Befestigung seiner Maximen in einen entgegengesetzten Hang übergekommen ist«.148 Wir haben gesehen: Kants Anthropologie geht davon aus, dass jeder Mensch »von Natur« mit Anlagen zum Guten ebenso wie mit einem selbstverschuldeten Hang zum Bösen versehen ist. Sie unterstellt ferner, dass der Mensch, als Mensch unter Menschen, nach aller Erfahrung »von Natur« dem Verderben seiner sittlichen Anlage ausgeliefert ist. Mechanische und vergleichende Selbstliebe des Einzelnen pervertieren, wie Kant sich ausdrückt, »nachgerade natürlicherweise« zur Selbstsucht, wenn sie sich der Selbstsucht Einzelner oder Grup146 Rel. VI, 48, Hervorh. M. F. 147 Ebd. 148 Rel. VI, 47.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 252

08.11.2021 16:20:46

7. Menschliche Tugend ist Tugend im Kampfe

253

pen von Menschen gegenübersehen; die mechanische schon durch das bloße Beispiel, die vergleichende aufgrund der ihr entspringenden Neigung, »keinem über sich Überlegenheit zu verstatten, mit einer beständigen Besorgnis verbunden, dass andere darnach streben möchten; woraus nachgerade die ungerechte Begierde entspringt, sie sich über andere zu erwerben«.149 Der Einzelne unter vielen braucht einen politisch-bürgerlichen Rechtszustand, um angesichts der Gefahr eines Kampfes aller gegen alle rechtlichen Halt und Schutz zu gewinnen. Die Idee des Rechts wird ergänzt und vollendet durch die Idee der Moralität. Wie einer Rechtsgemeinschaft, so bedarf der Einzelne auch einer Tugendgemeinschaft, einer moralisch-bürgerlichen Gemeinschaft, um in ihrem Rahmen den Hang zum Bösen zu überwinden, um sich in ihrem integrierenden, haltgebenden, korrigierenden und schützenden Rahmen als moralisches Wesen zu entwickeln und zu erhalten. Zwar kann man die Position der Moralität nur selbst beziehen, aber niemand hat die Chance, sie im Leben auch nur annähernd zu verwirklichen, wenn er nicht von einer in moralischen Dingen einmütigen, erfahrbaren, öffentlichen Gemeinschaft getragen ist. Und für die Verwirklichung des höchsten Guts auf Erden kann man nicht erfolgreich als isoliertes moralisches Wesen arbeiten. Die Verwirklichung von Moralität und moralisch akzeptablen Zuständen auf Erden ist für Kant ganz wesentlich eine Gemeinschaftsaufgabe.150 Ein derartiges öffentlich-moralisches Gemeinwesen nennt er, im Unterschied zu einem politisch-bürgerlichen Gemeinwesen, eine Kirche. Eine Kirche dient der Ermöglichung und Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Gutes: der Würdigkeit, glücklich zu sein, und der Entsprechung von Würdigkeit und Glückseligkeit im Leben.

149 Rel. VI, 27. 150 Es erstaunt, dass der von Kant thematisierte Zusammenhang des Bösen mit der Sozialität des Menschen und der Zusammenhang sittlicher Regeneration und Bildung mit einer Tugendgemeinschaft (Kirche) erst in neueren Publikationen zur gebührenden Geltung gebracht wird. Noch in den 90er Jahren, etwa in der Studie von Michalson, Gordon E. 1990, fällt dieser Zusammenhang völlig aus dem Blickfeld.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 253

08.11.2021 16:20:46

X. Kant über Glauben, Meinen und Wissen »Ich musste […] das Wissen aufheben um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatismus der Metaphysik, d. i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist.« Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede B XXX

»Da aber also die sittliche Vorschrift [sc. den Endzweck zu befördern, M. F.] zugleich meine Maxime ist […], so werde ich unausbleiblich ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben glauben, und ich bin sicher, dass diesen Glauben nichts wankend machen könnte, weil dadurch meine sittlichen Grundsätze selbst umgestürzt werden würden, denen ich nicht entsagen kann, ohne in meinen eigenen Augen verabscheuungswürdig zu sein.« Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Methodenlehre A 828/B 856

Was meint Kant genau, wenn er, im Zusammenhang der Metaphysik, das Wissen um des Glaubens willen aufgehoben haben möchte? Was meint er mit dem Unglauben als veritablen Feind der Moralität? Das Folgende soll von Kants Bestimmung des Glaubens handeln im Unterschied zum Meinen und Wissen. Die Konzentration gilt allerdings dem Glauben, weil sein Verständnis des Meinens sich weitgehend von selbst versteht und eine eingehende Erläuterung von Kants Wissensbegriff, der in den drei großen Kritiken, insbesondere aber in der transzendentalen Ästhetik und Analytik der KrV entfaltet wird, den Rahmen dieser Studie sprengen würde. Dabei sollen zunächst im Kontext einer Erläuterung der entsprechenden Abschnitte (der Methodenlehre) der KrV und der KdU Kants Unterscheidungen bezüglich der epistemischen Einstellung des Glaubens vorgestellt und erklärt werden.1 In einem späteren Schritt (Kap. XII) sollen dann im Kontext einer Erläuterung des entsprechenden Abschnitts der Religionsschrift seine Gedanken zur notwendigen Verankerung dessen, was er 1

Vgl. dazu v. a. auch Heimsoeth, Heinz 1971, 776–788.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 254

08.11.2021 16:20:46

1. Die Unterscheidung von Glauben, Meinen und Wissen

255

reinen Vernunftglauben nennt, in einer Glaubensgemeinschaft (einer Kirche) erläutert werden.2

1. D  ie Unterscheidung von Glauben, Meinen und Wissen Glauben ist für Kant eine Form des Überzeugtseins von etwas, das sich vom Wissen, aber auch vom bloßen Meinen unterscheidet: »Meinen ist ein mit Bewusstsein sowohl subjektiv als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das Letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es Glaube.«3 Von Wissen ist dagegen die Rede, wenn das Fürwahrhalten subjektiv und objektiv zureichend ist. Die terminologische Bestimmung dessen, was Kant unter Glauben versteht, findet sich im dritten Abschnitt des »Kanon[s] der reinen Vernunft« im Rahmen der »Methodenlehre« der KrV.4 Dieser Abschnitt handelt »Vom Meinen, Wissen und Glauben«. Glauben ist danach neben Meinen und Wissen eine Form des Fürwahrhaltens (von Sätzen), eine kognitiv-propositionale Einstellung, die episodischen oder habituellen Charakter haben kann und von Kant diesbezüglich neutral als »eine Begebenheit in unserem Verstande«5 beschrieben wird. Meinen, Glauben und Wissen, so Kant, sind zu verstehen als Stufen des Überzeugtseins von etwas mit dem Meinen als unterster und dem Wissen als oberster Stufe. Dabei soll von Überzeugtsein generell dann die Rede sein, wenn die kognitive Einstellung ihre Gründe (auch) in der objektiven Sachlage hat und in allgemeinen Zügen des menschlichen Subjekts gründet, während ein Fürwahrhalten von etwas, das lediglich »in der besonderen Beschaffenheit des Subjekts seinen Grund [hat]«, als bloße Überredung zu gelten hat, die ein »trügliches Fürwahr-

2 Vgl. dazu v. a. auch Ricken, Friedo/Marty, François (Hgg.) 1992; Palmquist, Steven R. 2000; Fischer, Norbert (Hg.), 2004. 3 KrV A 822/B 850; sc. »objektiv unzureichend« in theoretisch-epistemischer Hinsicht. 4 A 820–831/B 848–859. 5 KrV A 820/B 848.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 255

08.11.2021 16:20:46

256

X. Kant über Glauben, Meinen und Wissen

halten« und »ein bloßer Schein« ist, »weil der Grund des Urteils, welcher lediglich im Subjekte liegt, für objektiv gehalten wird«.6 In der Kritik der Urteilskraft liefert Kant eine Präzisierung des eben Gesagten im Blick auf das Überzeugtsein durch Beweise; sie ist für seinen Glaubensbegriff und seinen »ethikotheologischen« Gottesbeweis von entscheidender Bedeutung: »Ein Beweis aber, der auf Überzeugung angelegt ist, kann wiederum zwiefacher Art sein, entweder ein solcher, der, was der Gegenstand an sich sei, oder was er für uns (Menschen überhaupt) nach den uns notwendigen Vernunftprinzipien seiner Beurteilung sei […], ausmachen soll. Im ersteren Falle ist er auf hinreichende Prinzipien für die bestimmende, im zweiten bloß für die reflektierende Urteilskraft gegründet. Im letztern Falle kann er, auf bloß theoretischen Prinzipien beruhend, niemals auf Überzeugung wirken; legt er aber ein praktisches Vernunftprinzip zum Grunde (welches mithin allgemein und notwendig gilt), so darf er wohl auf eine in reiner praktischer Absicht hinreichende, d. i. moralische, Überzeugung Anspruch machen.«7

Kant bewegt sich mit diesen Unterscheidungen in einer schulphilosophischen Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Diese Tradition gliederte nicht nur die Formen des Fürwahrhaltens, sondern die möglichen kognitiv-propositionalen Einstellungen des Menschen überhaupt. Sie brachte dementsprechend mehr Stufen als Kant in Ansatz. Sie beginnt mit der untersten Stufe des Zweifelns (dubitare), setzt zwischen dem Zweifeln und dem Meinen (opinari) noch das Vermuten (suspicare) an, und differenziert schließlich das Wissen in intuitives (intelligere) und diskursiv gewonnenes Wissen (scire).8 Die mittelalterlichen und spätscholastischen Traktate über den Begriff des Glaubens und die Verhältnisbestimmung von Zweifeln, Meinen, Glauben und Wissen waren (angesichts des säkularen und religiösen Gewichts der Unterscheidungen) hochdifferenziert.9

6 KrV A 820 f./B 848 f. Zur wesentlichen Differenz von Überredung und Überzeugung vgl. auch: Was heißt: Sich im Denken orientieren?, AA VIII, 140 f.; sowie KdU § 90, V, 461 ff. 7 KdU V, 462 f. 8 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae II–II, qu. 2 a. 1 co. 9 Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, qu. 14; Summa theologiae II–IIae, qu. 1–16; Francisco de Suárez, Tractatus de fide theologica in 24 disputationes, Opera Omnia ed. C. Berton, Paris 1858, Bd. 12.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 256

08.11.2021 16:20:46

2. Das Aufklärungskonzept von Glauben

257

Kant dagegen findet die genannten epistemischen Begriffe über ihre definitionsartige Bestimmung hinaus kaum noch der Erläuterung bedürftig: »Das Fürwahrhalten, oder die subjektive Gültigkeit des Urteils, in Beziehung auf die Überzeugung (welche zugleich objektiv gilt) hat folgende drei Stufen: Meinen, Glauben und Wissen. Meinen ist ein mit Bewusstsein sowohl subjektiv als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das Letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es Glauben. Endlich heißt das sowohl subjektiv als objektiv zureichende Fürwahrhalten Wissen. Die subjektive Zulänglichkeit heißt Überzeugung (für mich selbst), die objektive, Gewissheit (für jedermann). Ich werde mich bei der Erläuterung so fasslicher Begriffe nicht aufhalten.«10

2. Das Aufklärungskonzept von Glauben Ein Fürwahrhalten ist für Kant »objektiv zureichend«, wenn es so begründet ist, dass »es für jedermann gültig ist, sofern er nur Vernunft hat«.11 Das Subjekt kann (und muss) versuchen, »die bloße Privatgültigkeit des Urteils, d. i. etwas in ihm, was bloße Überredung ist, zu entdecken«, indem es das Urteil und die Gründe, die für es gültig sind, am Verstand anderer erprobt und dadurch in Erfahrung bringt, »ob sie auf fremde Vernunft eben dieselbe Wirkung tun, als auf die unsrige«.12 Die Feststellung eines generellen Dissenses zu unserem Urteil deckt dessen bloße »Privatgültigkeit« auf. Die Feststellung eines generellen Konsenses sichert indessen nicht seine objektive Gültigkeit; dazu ist auch seine Übereinstimmung mit der »Beschaffenheit des Objekts«13 erforderlich. Andererseits lässt sich das Vorliegen eines trügerischen Fürwahrhaltens am besten dadurch erhärten (und beseitigen), dass man erklären kann, wie jemand dazu kommt, etwas für wahr zu halten, »ohne dazu die Beschaffenheit eines Objektes nötig zu haben«.14 Ein trügerisches Fürwahrhalten bleibt allerdings nach seiner derartigen erklärenden »Entlarvung« gleichwohl eine stete Versuchung, 10 KrV A 822/B 850. 11 KrV A 820/B 848. 12 KrV A 821/B 849. 13 Ebd. 14 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 257

08.11.2021 16:20:46

258

X. Kant über Glauben, Meinen und Wissen

wenn die Ursache des aufgedeckten Scheins in seiner Geltung nicht auf ein Individuum oder eine Gruppe beschränkt ist, sondern »wenn die subjektive Ursache des Scheins unserer Natur anhängt«.15 Von dieser Form des Scheins handelt Kant in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft. Das »objektiv zureichend« des Fürwahrhaltens, das im Wissen gegeben ist und im Glauben fehlt, meint »theoretisch objektiv zureichend«, näherhin: auf (Unwiderlegbarkeit und) zwingender intuitiver oder diskursiver Einsicht in den für wahr gehaltenen Sachverhalt beruhend. Ein objektiv zureichendes Fürwahrhalten ist, insofern seine Gründe von jemandem eingesehen bzw. nachvollzogen werden, für diesen eo ipso auch subjektiv zureichend und deshalb im strengen Sinn des Wortes »mitteilbar« für jedermann, »sofern er nur Vernunft hat«. Die mittelalterlich-scholastische Tradition hatte die propositionale Einstellung des Zweifelns als Fluktuieren des Verstandes zwischen den Teilen einer Kontradiktion bestimmt, wenn ihm die Gründe für eine Entscheidung fehlen oder gleichgewichtig für oder gegen die Teile zu sprechen scheinen. Sie sprach von der Einstellung des Vermutens, wenn er aufgrund leichter Hinweise einer Seite zuneigt, und sie sprach von der Einstellung des Meinens, wenn der Verstand zwar der einen Seite einer Alternative anhängt, aber zugleich noch (mehr oder weniger explizit) befürchtet, das Gegenteil könne wahr sein.16 Kant folgt dieser Tradition, wenn er das Meinen als »ein mit Bewusstsein sowohl subjektiv als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten« bestimmt.17 Er geht konform mit dieser Tradition aber auch mit seinem Gedanken: »Es kann überall bloß in praktischer Beziehung das theoretisch unzureichende Fürwahrhalten Glauben genannt werden.«18 Denn, so die Tradition, es gebe Dinge, die halten wir für wahr nicht aufgrund eigener zwingender Einsicht, sondern weil wir es in der einen oder anderen Hinsicht gut, angemessen oder nützlich finden, sie für wahr zu halten. Dann sei es nicht das dem Verstand eigene Objekt, nämlich der einleuchtende Sachverhalt, sondern eine dem Verstand äußere Instanz, der Wille, der den Verstand zu einer Überzeugung bringt.19 Kant geht auch einig mit dieser Tradition darin, den Begriff der Gewissheit nach der für sie hauptverantwortlichen Instanz des Verstandes oder des Willens zu differenzieren und 15 Ebd. 16 Vgl. Thomas von Aquin S. theol. II–II, qu. 2 a. 1 co. 17 KrV A 822/B 850. 18 KrV A 823/B 851, Hervorh. M. F. 19 Vgl. Thomas, Quaestiones disp. de veritate, qu. 14.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 258

08.11.2021 16:20:46

2. Das Aufklärungskonzept von Glauben

259

zwischen »logischer« und »moralischer Gewissheit« zu unterscheiden.20 Er ist schließlich auch einig mit der Tradition darin, zwischen Glauben und Meinen bzw. Vermuten einen Artunterschied zu sehen. Im eigentlichen Sinn, so Kant, kann nur der moralische Vernunftglaube als Glaube bezeichnet werden. Der Begriff des Glaubens ist dem Begriff des Wissens entgegengesetzt. Was man auf empirische oder nichtempirische Weise weiß oder wissen kann, ist eigentlich nicht Gegenstand des Glaubens. Es ist, falls man in diesem Bereich etwas annimmt, ohne es zu wissen, Gegenstand des Vermutens oder Meinens.21 Worin Kant von der Tradition abzuweichen scheint, ist, dass er die moralische Gewissheit lediglich als »auf subjektiven Gründen (der moralischen Gesinnung)« beruhend beschreibt.22 So kann ich nach Kant »nicht einmal sagen: es ist moralisch gewiss, dass ein Gott sei usw., sondern ich bin moralisch gewiss usw.«.23 Glauben ist so gesehen wesentlich im existentiell-moralischen Selbstverständnis des Einzelnen verankert.24 Andererseits bezieht sich die moralische Gesinnung auf ein praktisches Vernunftprinzip, das notwendig und allgemein gilt, so dass die aus ihr sich notwendig ergebenden theoretischen Annahmen in der moralischen Überzeugung zu Recht den Anspruch objektiver (praktischer) Realität erheben.25 Für die Tradition ist Meinen eine zweistellige (X meint dies oder jenes) und Glauben eine dreistellige Relation (X glaubt jemandem etwas), ist Glauben im Unterschied zum Meinen an die überzeugende Autorität eines anderen bzw. anderer Personen gebunden und, im Falle der im religiösen Glauben wirksamen Autorität Gottes, als völliges Überzeugtsein von etwas bestimmt.26 Kants (aufklärungsorientiertes) Verständnis von Glauben erfolgt dagegen ausschließlich im Horizont der ›Autorität‹ der (überpersönlichen) Vernunft und der mit ihr gegebenen oder durch sie legitimierten theoretischen und praktischen Interessen. Insbesondere basiert der reine Vernunftglaube auf der (unerschütterlichen) Gewissheit des moralischen Selbstverständnisses. Gleichwohl ist für ihn 20 KrV A 829/B 857. 21 Vgl. Logik, AA IX, 68 ff.; Was heißt: Sich im Denken orientieren?, AA VIII, 140 f. 22 KrV A 829/B 857. 23 Ebd. 24 Vgl. dazu die großangelegte zweibändige Kant-Studie von Langthaler, Rudolf 2014, insbesondere Bd. 2, der eine existentialanthropologische Lesart der Postulatenlehre bietet. 25 Die moralische Gesinnung ist auf ein »apodiktisch gewisses Prinzip a priori« bezogen. Begriffe von Gott, der Welt und der menschlichen Seele, die sich aus dieser Einstellung konsequenterweise ergeben, besitzen »objektive Realität […] wenigstens für den praktischen Gebrauch der Vernunft« (KdU V, 468). 26 Vgl. Thomas v. Aquin, Qu. de veritate, qu. 14 a. 1 co.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 259

08.11.2021 16:20:46

260

X. Kant über Glauben, Meinen und Wissen

(empirisch-pragmatisch gesehen) die Entstehung, Erhaltung und Stärkung des persönlichen moralischen Vernunftglaubens, wie zu zeigen sein wird, auf eine öffentliche Tugendgemeinschaft, auf eine Kirche angewiesen. Kant zieht eine scharfe Grenze zwischen dem im moralischen Selbstverständnis begründeten reinen Vernunftglauben und einem »Glauben« an historische Sachverhalte. Signifikant ist in diesem Zusammenhang, dass er den historischen »Glauben« als uneigentliches Glauben bezeichnet und dem empirischen Meinen und möglichen empirischen Wissen gleichsetzt. »Der sogenannte historische Glauben kann daher eigentlich auch nicht Glaube genannt und als solcher dem Wissen entgegengesetzt werden, da er selbst ein Wissen sein kann. Das Fürwahrhalten auf ein Zeugnis ist weder dem Grade noch der Art nach vom Fürwahrhalten durch eigene Erfahrung unterschieden.«27 »Wir können mit derselben Gewissheit eine empirische Wahrheit auf das Zeugnis anderer annehmen, als wenn wir durch Facta der eigenen Erfahrung dazu gelangt wären. Bei der erstern Art des empirischen Wissens ist etwas Trügliches, aber auch bei der letztern. Das historische oder mittelbare empirische Wissen beruht auf der Zuverlässigkeit der Zeugnisse. Zu den Erfordernissen eines unverwerflichen Zeugen gehört: Authentizität (Tüchtigkeit) und Integrität.«28

3. Glaube und Interesse Kant unterscheidet entsprechend dem im Spiel befindlichen Interesse des Menschen zwischen einem pragmatischen, doktrinalen und moralischen Glauben, wobei nur letzterer (moralische) Gewissheit beanspruchen kann. 27 Logik, AA IX, 68 f. »Denn ob von uns gleich, was wir nur von der Erfahrung anderer durch Zeugnis lernen können, geglaubt werden muss, so ist es darum doch noch nicht an sich Glaubenssache; denn bei jener Zeugen einem war es doch eigene Erfahrung und Tatsache, oder wird als solche vorausgesetzt. Zudem muss es möglich sein, durch diesen Weg (des historischen Glaubens) zum Wissen zu gelangen; und die Objekte der Geschichte und Geographie, wie alles überhaupt, was zu wissen nach der Beschaffenheit unserer Erkenntnisvermögen wenigstens möglich ist, gehören nicht zu Glaubenssachen, sondern zu Tatsachen. Nur Gegenstände der reinen Vernunft können allenfalls Glaubenssachen sein, aber nicht als Gegenstände der bloßen reinen spekulativen Vernunft« (KdU § 91, V, 469). 28 Logik, AA IX, 72 Anm.; vgl. Was heißt: sich im Denken orientieren?, AA VIII, 140 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 260

08.11.2021 16:20:47

3. Glaube und Interesse

261

Ein pragmatischer Glaube ist (als Annahme über Bedingungen seiner Realisierung) auf einen faktischen oder beliebigen gegebenen Zweck, der moralische Glaube ist auf einen notwendigen Vernunftzweck bezogen. Der pragmatische Glaube ist zufällig, vom kontingenten Wissensstand des den gegebenen Zweck verfolgenden Menschen abhängig und im Blick auf dessen implizites oder explizites Bewusstsein der Kontingenz seines Wissensstandes mit impliziter oder expliziter »Besorgnis des Irrtums« verbunden, wenn er »gar keine anderen Bedingungen weiß, unter denen der Zweck zu erreichen wäre«.29 So liegt etwa dem Handeln eines Arztes bezüglich der Diagnose einer Krankheit und der zu ergreifenden therapeutischen Schritte häufig neben Faktoren des Wissens auch ein erheblicher Bestand an pragmatischem Glauben zugrunde. Doch dies gilt mehr oder weniger ausgeprägt für all unser Alltagshandeln. Der Grad der Ernsthaftigkeit und subjektiven Festigkeit dieses Glaubens lässt sich nach Kant daran erproben, was und wie viel wir auf seine Richtigkeit zu verwetten bereit wären.30 Vom pragmatischen ist der doktrinale Glaube dahingehend unterschieden, dass es in letzterem nicht um Praxis, sondern um Theorie geht, zwar nicht um Theorie im Dienst der verstandesmäßigen Erklärung der Erscheinungen, sondern um Theorie, die die Wirklichkeit insgesamt als vernünftiges Ganzes und als zweckmäßige Einheit zu verstehen trachtet. Die Gegenstände (qua Sachverhalte) eines doktrinalen Glaubens sind so, dass wir auf ihr Bestehen oder Nichtbestehen keinen Einfluss haben und dass wir sie nicht mit Mitteln der Erfahrung zureichend erfassen können, dass sie auch keine notwendigen Voraus­ setzungen der Erklärung der Erscheinungen darstellen, dass sie indessen Bestandteile eines mehr oder weniger theoretisch plausiblen Weltbildes sind und als Ideen einen Leitfaden bieten »in der Nachforschung der Natur«, um in ihr Zweckmäßiges und Vernünftiges zu entdecken. Kants Beispiele für einen derart theoretisch doktrinalen Glauben sind in der KrV die Annahme von Einwohnern anderer Planeten,31 die Annahme eines weisen Welturhebers, der alles nach den weisesten Zwecken geordnet habe,32 und die Annahme (über die Art) des künftigen Lebens der menschlichen See-

29 30 31 32

KrV A 824/B 852. Vgl.KrV A 824 f.,/B 852 f. A 825/B 853. A 826/B 854.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 261

08.11.2021 16:20:47

262

X. Kant über Glauben, Meinen und Wissen

le.33 Der Versuch, die Wirklichkeit insgesamt als vernünftig geordnet zu verstehen, kann auf zweckmäßig Erscheinendes verweisen, wird allerdings stets auch durch Phänomene herausgefordert, die dem Gedanken einer zweckmäßigen Einheit widersprechen bzw. zu widersprechen scheinen.34 Insgesamt kennzeichnet Kant den doktrinalen Glauben als einen Glauben, »den die Theologie der Natur (Physikotheologie) notwendig allerwärts bewirken muss«,35 der aber »etwas Wankendes in sich [hat]«, da man »oft durch Schwierigkeiten, die sich in der Spekulation vorfinden, aus demselben gesetzt [wird], ob man zwar unausbleiblich dazu immer wieder zurückkehrt«.36 Was eine teleologische und theologische Metaphysiktradition als begründbares Wissen beanspruchte, verweist Kant in theoretischer Hinsicht in den Bereich des doktrinalen Glaubens. Ein Glaube hingegen, den unter einer bestimmten Voraussetzung nichts wankend machen kann, ist der moralische Glaube bzw. der reine Vernunftglaube. Dieser Glaube ist ein festes Fürwahrhalten metaphysischer, theoretisch für uns nicht erkennbarer Sachverhalte, die die einzigen für uns erkennbaren zureichenden Bedingungen für die Realisierbarkeit des höchsten (abgeleiteten) Guts darstellen, »nämlich, dass ein Gott und eine künftige Welt sei«.37 Vernunft fordert von uns das uneingeschränkte Bemühen um eigene moralische Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit. Unparteiliche Vernunft erwartet und verlangt (nach Gesichtspunkten der Gerechtigkeit) aber auch, dass der, der des Glückes bedürftig und würdig ist, entsprechend seiner moralischen Vollkommenheit des Glückes teilhaftig wird. Durch moralische Gesinnung und moralisches Handeln allein kann der bedürftige, verletzbare, von Natur- und Mitmenschen abhängige Mensch indessen nicht glücklich werden. Die moralischen Gesetze und die Gesetze der Natur sind »ungleichartig« und sichern im Rahmen menschlicher Lebens- und Erfahrungswirklichkeit keine (von der Vernunft geforderte) Entsprechung von Moralität und Glück. Auch der mehr oder weniger gerechte Rechtszustand politisch organisierter Gesellschaften vermag nicht das Glück des moralisch Guten zu gewährleisten.

33 34 35 36 37

A 827/B 855. Vgl. dazu auch den § 85 der KdU V, 436–442: Von der Physikotheologie. A 827/B 855. A 827 f./B 855 f. A 828/B 856.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 262

08.11.2021 16:20:47

3. Glaube und Interesse

263

»Da aber die Verbindlichkeit aus dem moralischen Gesetze für jedes besonderen Gebrauch der Freiheit gültig bleibt, wenngleich andere diesem Gesetze sich nicht gemäß verhielten, so ist weder aus der Natur der Dinge der Welt, noch der Kausalität der Handlungen selbst und ihrem Verhältnisse zur Sittlichkeit bestimmt, wie sich ihre Folgen zur Glückseligkeit verhalten werden, und die angeführte notwendige Verknüpfung der Hoffnung, glücklich zu sein, mit dem unablässigen Bestreben, sich der Glückseligkeit würdig zu machen, kann durch die Vernunft nicht erkannt werden, wenn man bloß Natur zum Grunde legt, sondern darf nur gehofft werden, wenn eine höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet, zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird. Ich nenne die Idee einer solchen Intelligenz, in welcher der moralisch vollkommenste Wille, mit der höchsten Seligkeit verbunden, die Ursache aller Glückseligkeit in der Welt ist, sofern sie mit der Sittlichkeit (als der Würdigkeit glücklich zu sein) in genauem Verhältnis steht, das Ideal des höchsten Guts. Also kann die reine Vernunft nur in dem Ideal des höchsten ursprünglichen Guts den Grund der praktisch notwendigen Verknüpfung beider Elemente des höchsten abgeleiteten Gutes, nämlich einer intelligiblen, d. i. moralischen Welt, antreffen. Da wir uns nun notwendigerweise durch die Vernunft, als zu einer solchen Welt gehörig, vorstellen müssen, obgleich die Sinne uns nichts als eine Welt von Erscheinungen darstellen, so werden wir jene als eine Folge unseres Verhaltens in der Sinnenwelt, da uns diese eine solche Verknüpfung nicht darbietet, als eine für uns künftige Welt annehmen müssen. Gott also und ein künftiges Leben sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen.«38

Dieser Glaube ist reiner Vernunftglaube, »weil bloß reine Vernunft (sowohl ihrem theoretischen als praktischen Gebrauche nach) die Quelle ist, daraus er 38 A 810 f./B 838 f. Kant nimmt diese Argumentation in den § 86 (Von der Ethikotheologie) und § 87 (Von dem moralischen Beweise des Daseins Gottes) der KdU wieder auf: Das »höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt […] ist Glückseligkeit: unter der objektiven Bedingung der Einstimmung des Menschen mit dem Gesetze der Sittlichkeit, als der Würdigkeit glücklich zu sein«. Der »Begriff von der praktischen Notwendigkeit dieses Endzwecks« durch die Anwendung unserer Kräfte stimmt nicht »mit dem theoretischen Begriffe von der physischen Möglichkeit der Bewirkung desselben zusammen […]. Folglich müssen wir eine moralische Weltursache (einen Welturheber) annehmen, um uns gemäß dem moralischen Gesetze einen Endzweck vorzusetzen; und soweit als das Letztere notwendig ist, soweit (d. i. in demselben Grade und aus demselben Grunde) ist auch das Erstere notwendig anzunehmen: nämlich es sei ein Gott« (AA V, 450).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 263

08.11.2021 16:20:47

264

X. Kant über Glauben, Meinen und Wissen

entspringt«.39 Er ist ein Akt der theoretischen Vernunft, die mit ihm (im Unterschied zum doktrinalen Glauben) einem Bedürfnis der Vernunft in praktischer Absicht entspricht, nämlich dem Bedürfnis, uns die Realisierbarkeit eines durchs moralische Gesetz vorgegebenen Ziels verständlich zu machen.40 Er stellt kein Gebot dar (»Ein Glaube […], der geboten wird, ist ein Unding«).41 Vielmehr wird theoretische Vernunft durch ein freies (moralisches) Interesse zum Fürwahrhalten, zur Wahl einer spekulativen Möglichkeit bewogen, die allein den (allgemeinen) subjektiven Bedingungen unserer Vernunft entspricht. Sie entspricht den subjektiven Bedingungen unserer Vernunft, weil sie und nur sie unserem moralischen Selbstverständnis und unserer moralischen Praxis dienlich ist. »Allein die Art, wie wir uns diese Möglichkeit [sc. des höchsten abgeleiteten Guts, M. F.] vorstellen sollen, ob nach allgemeinen Naturgesetzen ohne einen der Natur vorstehenden weisen Urheber oder nur unter dessen Voraussetzung, das kann die Vernunft objektiv nicht entscheiden. Hier tritt nun eine subjektive Bedingung der Vernunft ein: die einzige ihr theoretisch mögliche, zugleich der Moralität (die unter einem objektiven Gesetze der Vernunft steht) allein zuträgliche Art, sich die genaue Zusammenstimmung des Reichs der Natur mit dem Reich der Sitten als Bedingung der Möglichkeit des höchsten Guts zu denken. Da nun die Beförderung desselben und also die Voraussetzung seiner Möglichkeit objektiv (aber nur der praktischen Vernunft zu Folge) notwendig ist, zugleich aber die Art, auf welche Weise wir es uns als möglich denken wollen, in unserer Wahl steht, in welcher aber ein freies Interesse der reinen praktischen Vernunft für die Annehmung eines weisen Welturhebers entscheidet: so ist das Prinzip, was unser Urteil hierin bestimmt, zwar subjektiv als Bedürfnis, aber auch zugleich als Beförderungsmittel dessen, was objektiv (praktisch) notwendig ist, der Grund einer Maxime des Fürwahrhaltens in moralischer Absicht, d. i. ein reiner praktischer Vernunftglaube.«42

Dieser Glaube kann uns nicht zur Annahme einer moralischen Gesinnung motivieren; die Gesinnung wäre dann nicht moralisch. Dieser Glaube ist viel39 KpV V, 126. 40 Ebd. 41 KpV V, 144. 42 KpV V, 145 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 264

08.11.2021 16:20:47

3. Glaube und Interesse

265

mehr »auf die Voraussetzung moralischer Gesinnungen [ge]gründet«.43 Er ist bei Gegebenheit dieser Voraussetzung subjektiv »schlechthin und für jedermann zureichend« und »ein notwendiger Glaube«,44 da ich einerseits »ganz gewiss [weiß], dass niemand andere Bedingungen kenne, die auf dieselbe Einheit der Zwecke unter dem moralischen Gesetz führe«, da andererseits im Falle des Wankens und Einstürzens des Glaubens an ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben »dadurch meine sittlichen Grundsätze selbst umgestürzt werden würden, denen ich nicht entsagen kann, ohne in meinen eigenen Augen verabscheuungswürdig zu sein«.45 Kant weiß also sehr genau darum, dass sein Verständnis von Moralität ganz wesentlich mit dem reinen praktischen Vernunftglauben verbunden ist und selbstillusionären Charakter annähme, wenn dieser Glaube definitiv in sich zusammenfiele. Man müsste dann »das moralische Gesetz selbst als bloße Täuschung unserer Vernunft in praktischer Rücksicht annehmen«.46 Ein naturalistisches Verständnis der Moral wäre schließlich die vernünftige Option. Es greift also systematisch entschieden zu kurz, wer dem kantischen Vernunftglauben lediglich eine Motivationsrolle bei der Befolgung des Sittengesetzes zugestehen möchte.47 Diese Motivationsrolle des reinen Vernunftglaubens für ein endliches vernünftiges Sinnenwesen freilich ist unbestritten. Ohne die im moralischen Glau43 KrV A 829/B 857. 44 KrV A 824/B 852. 45 KrV A 828/B 856. 46 KdU § 91, V, 471 Anm. Wie nicht selten, setzt Kant wichtige Gedanken in Anmerkungen bzw. Fußnoten, so auch diesen: »Allein die Absicht, den Endzweck aller vernünftigen Wesen (Glückseligkeit, soweit sie einstimmig mit der Pflicht möglich ist) zu befördern, ist doch eben durch das Gesetz der Pflicht auferlegt. Aber die spekulative Vernunft sieht die Ausführbarkeit derselben (weder von Seiten unseres eigenen physischen Vermögens, noch der Mitwirkung der Natur) gar nicht ein; vielmehr muss sie aus solchen Ursachen, soviel wir vernünftiger Weise urteilen können, einen solchen Erfolg unseres Wohlverhaltens von der bloßen Natur (in uns und außer uns), ohne Gott und Unsterblichkeit anzunehmen, für eine unbegründete und nichtige, wenngleich wohlgemeinte Erwartung halten und, wenn sie von diesem Urteile völlige Gewissheit haben könnte, das moralische Gesetz selbst als bloße Täuschung unserer Vernunft in praktischer Rücksicht ansehen. Da aber die spekulative Vernunft sich völlig überzeugt, dass das Letztere nie geschehen kann, dagegen aber jene Ideen, deren Gegenstand über die Natur hinaus liegt, ohne Widerspruch gedacht werden können: so wird sie für ihr eigenes praktisches Gesetz und die dadurch auferlegte Aufgabe, also in moralischer Rücksicht, jene Ideen als real anerkennen müssen, um nicht mit sich selbst in Widerspruch zu kommen« (KdU § 91, V, 471 Anm.). 47 So etwa Habermas, Jürgen 2019, II, 298–374; für ihn »[f]ührt Kant den Vernunftglauben in der Absicht ein, die Motivationsschwäche der abstrakten Vernunftmoral auszugleichen und ›der moralischen Denkungsart‹ eine ›feste Beharrlichkeit‹ zu sichern« (S. 352).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 265

08.11.2021 16:20:47

266

X. Kant über Glauben, Meinen und Wissen

ben gegebene Hoffnung auf das höchste Gut wären »die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausführung«.48 Die auf dem moralischen Glauben basierende (natürliche) Religion (d. h. die Erkenntnis meiner Pflichten als göttlicher Gebote) hat die unverzichtbare subjektive Funktion, »der Moral durch die aus dieser erzeugte Idee von Gott auf den menschlichen Willen zur Erfüllung aller seiner Pflichten Einfluss zu geben«.49 Die Perspektive des Vernunftglaubens wirkt allerdings nicht »positiv« motivierend beim Entschluss zum Vollzug tugendhafter Handlungen; sie wirkt vielmehr »negativ« bzw. kompensatorisch motivierend in dem Sinne, dass sie ein Motivationshindernis beseitigt, nämlich die Furcht des endlichen vernünftigen Weltwesens (des vernünftigen und bedürftigen Menschen) vor endgültigem Glücksverlust; das Fehlen der Perspektive eines vernünftigen Endziels für all unser Tun und Lassen wäre »ein Hindernis der moralischen Entschließung«.50 Dem reinen Vernunftglauben, der auf einer moralischen Gesinnung basiert, entspricht, im Falle des Fehlens dieser Gesinnung und eines freien Interesses, ein »negativer« Glaube aufgrund eines unaufhebbaren nichtfreien, eines naturalen Interesses: »Es ist aber kein Mensch bei diesen Fragen frei von allem Interesse. Denn ob er gleich von dem moralischen durch den Mangel guter Gesinnungen getrennt sein möchte: so bleibt doch auch in diesem Fall genug übrig, um zu machen, dass er ein göttliches Dasein und eine Zukunft fürchte. Denn hierzu wird nicht mehr erfordert, als dass er wenigstens keine Gewissheit vorschützen könne, dass kein solches Wesen und kein künftig Leben anzutreffen sei, wozu, weil es durch bloße Vernunft, mithin apodiktisch bewiesen werden müsste, er die Unmöglichkeit von beiden darzutun haben würde, welches gewiss kein vernünftiger Mensch übernehmen kann. Das würde ein negativer Glaube sein, der zwar nicht Moralität und gute Gesinnungen, aber doch das Analogon derselben bewirken, nämlich den Ausbruch der bösen mächtig zurückhalten könnte.«51 48 KrV A 813/B 841. Ohne den Vernunftglauben »hat die moralische Denkungsart bei dem Verstoß gegen die Aufforderung der theoretischen Vernunft zum Beweise (der Möglichkeit des Objekts der Moralität) keine feste Beharrlichkeit, sondern schwankt zwischen praktischen Geboten und theoretischen Zweifeln« (KdU § 91, V, 472). 49 Streit der Fakultäten, AA VII, 36. 50 Rel. VI, 5. 51 KrV A 830/B 858.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 266

08.11.2021 16:20:47

4. Vernunftglaube, Religion und Offenbarungsglaube

267

4. Vernunftglaube, Religion und Offenbarungsglaube Kant sieht den reinen praktischen Vernunftglauben in einer analytischen Beziehung zur (natürlichen) Religion. Diese ist »(subjektiv betrachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttliche Gebote«.52 »Erkenntnis« meint hier Verständnis und Anerkennung. Unsere Pflichten als Gebote Gottes aufzufassen drückt ein »freies assertorisches Glauben« aus,53 eine Zuversicht nämlich, dass unser praktisches Bemühen um das höchste Gut letztendlich nicht vergeblich sein wird,54 sondern in der Macht eines weisen, guten und gerechten Gottes seine definitive Erfolgsgewähr besitzt: Das höchste Gut, moralische Vollkommenheit in Verbindung mit Glückseligkeit, läßt sich mit Gottes Hilfe verwirklichen.55 Kants Verständnis von (natürlicher) Religion, die nichts weiter ist als »eine religiöse Gesinnung bei allen unseren pflichtmäßigen Handlungen«,56 verwahrt sich gegen die irrige Vorstellung, »als sei Religion der Inbegriff besonderer, auf Gott unmittelbar bezogener Pflichten«.57 Was der »freie assertorische Glauben«58 von uns zu tun verlangt, ist nicht mehr und nicht weniger als die Erfüllung der »ethisch-bürgerlichen Menschenpflichten (von Menschen gegen Menschen)«.59 Dem reinen praktischen Vernunftglauben, der allein in der Vernunft gründet, kontrastiert der Offenbarungsglaube, der sich auf eine besondere historische Selbstmitteilung Gottes an die Menschen beruft, die über bestimmte, durch Wunder beglaubigte »heilige« Personen und Schriften erfolgt, die Gründung einer (sichtbaren) Kirche nach sich zieht, der autorisierten Bewahrer und 52 Rel. VI, 153. 53 Ebd., 154 Anm. 54 »Der Glaube (schlechthin so genannt) ist ein Vertrauen zu der Erreichung einer Absicht, deren Beförderung Pflicht, die Möglichkeit der Ausführung derselben aber für uns nicht einzusehen ist« (KdU § 91, V, 472). 55 Das Ziel unseres Handelns aus Pflicht in der Welt ist das Bewirken des höchsten Guts. »Diese gebotene Wirkung zusamt den einzigen für uns denkbaren Bedingungen ihrer Möglichkeit, nämlich dem Dasein Gottes und der Seelen-Unsterblichkeit, sind Glaubenssachen (res fidei) und zwar die einzigen unter allen Gegenständen, die so genannt werden können« (KdU § 91, V, 469). 56 Rel. VI, 154 Anm. 57 Ebd. 58 »Denn da sie als Glaubenssachen sich nicht (gleich den Tatsachen) auf theoretische Beweise gründen können. So ist es ein freies Fürwahrhalten und auch nur als ein solches mit der Moralität eines Subjekts vereinbar« (KdU § 91, V, 469 Anm.). 59 Rel. VI, 154 Anm.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 267

08.11.2021 16:20:47

268

X. Kant über Glauben, Meinen und Wissen

Ausleger der Offenbarungslehre bedarf, und, im Sinne eines statutarischen Kirchenglaubens, das Annehmen und Bekennen bestimmter Dogmen und die praktische Befolgung bestimmter Kult- und Ritualgesetze verlangt.60 Es ist, so Kant, de facto aufgrund der menschlichen Natur kaum zu vermeiden, dass der reine Vernunftglaube von einem Offenbarungsglauben seinen historischen Ausgang nimmt. Damit ein Offenbarungsglaube kein knechtischer und des Menschen unwürdiger Glaube ist, »muss die allgemeine Menschenvernunft in einer natürlichen Religion […] für das oberste gebietende Prinzip anerkannt und geehrt, die Offenbarungslehre aber, worauf eine Kirche gegründet wird, und die der gelehrten Ausleger und Aufbewahrer bedarf, als bloßes, aber höchst schätzbares Mittel, um der Ersteren Fasslichkeit, selbst für die Unwissenden, Ausbreitung und Beharrlichkeit zu geben, geliebt und kultiviert werden«.61

Offenbarungsglaube und Offenbarungslehre, die auf historisch gemeinte Personen, Geschichten und deren Urkunden verpflichtet sind und diese (wunderbaren und wunderbar beurkundeten) Geschichten als verbindliche Gründungsgeschichte einer besonderen religiösen Gemeinschaft, einer bestimmten Kirche mit besonderer religiöser Praxis verstehen, haben für Kant, wie zu zeigen sein wird, ihren Grund in einer »Schwäche der menschlichen Natur«. Sie haben nur eine »Vehikel-«, eine Einführungs- und Vermittlungsfunktion für den reinen Vernunftglauben und die rein natürliche Religion (der guten Gesinnung), die für viele Menschen, jedenfalls für viele zu bestimmten Zeiten, zu abstrakt und gedankenlastig wären, um fassbar und lebenspraktisch wirksam zu sein.

60 Vgl. Rel VI, 156; 163 u. ö. 61 Rel. VI, 165.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 268

08.11.2021 16:20:47

XI. Kants Gottesbild in der Religionsschrift »Wenn man Gott vor der Moralität erkennen will, so legt man ihm nicht mora­ lische Vollkommenheiten bei. Daher kann Religion böse Sitten hervorbringen […]. Eine Frömmigkeit, die vor der Sittlichkeit anfängt, ist ihr oft entgegen.« Immanuel Kant AA XIX, R. 6499, 35

»Es klingt zwar bedenklich, ist aber keineswegs verwerflich, zu sagen: dass ein jeder Mensch sich einen Gott mache, je nach moralischen Begriffen […] sich einen solchen selbst machen müsse.« Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, VI, 168 Anm.

1. D  ie Gottesidee – ein Bedürfnis der menschlichen Vernunft Kants praktische Philosophie ist nicht in der Religion, vielmehr ist die Religion nach ihm in der praktischen Philosophie begründet. Das kritisch aufgeklärte Selbstverständnis der theoretischen Vernunft eröffnet nach Kant die Möglichkeit, das kritisch aufgeklärte Selbstverständnis der praktischen Vernunft zeigt die Notwendigkeit eines Gottesbezugs für das menschliche Subjekt. Der Glaube an Gott und das Setzen auf Gott ist für Kant ein wesentliches Element der Struktur kritischer Selbsterfassung, Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung menschlicher Vernunft.1 Kants Religionsphilosophie ist in seiner Moralphilosophie begründet; seine Religionsphilosophie ist demnach nicht theologisch fundiert, ist nicht von einem vorgängigen Gottesbegriff abgeleitet. Vielmehr führt ihn das moralische Selbstverständnis zu Gott. Religion ist Bestandteil der wahren moralischen Gesinnung, so wie Kant sie versteht. Entsprechend prägt das moralische Selbstverständnis das Gottesbild und dient als reale Basis ebenso wie als Kanon der 1

Vgl. dazu Dierksmeier, Claus 1998, 1–15.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 269

08.11.2021 16:20:47

270

XI. Kants Gottesbild in der Religionsschrift

Beurteilung religiöser Auffassungen, Einstellungen und Handlungsweisen. Insofern wir nach Kant von einer Erkenntnis des Daseins und der Eigenschaften Gottes sprechen können, handelt es sich um eine Erkenntnis Gottes nicht mit theoretisch-spekulativ-objektivem Geltungsanspruch, sondern allein zum »moralischen Gebrauche der Vernunft in subjektiver Absicht«,2 das heißt näherhin um eine Erkenntnis, die ein bestimmtes moralisch-praktisches Bedürfnis der menschlichen Vernunft erfüllt. Das mag nach alter, schon in Zeiten der Vorsokratik und antiken Sophistik artikulierter und in der europäischen Aufklärung erneuerter Theorie interessegeleiteter und bedürfnisgebundener Projektion klingen: Der Mensch schafft sich Gott nach seinem Bedürfnis, Interesse und Bilde. Kant ist sich dieser aufklärerischen Konnotation sehr wohl bewusst. Er glaubt ihren skeptischen, ja gelegentlich ideologiekritisch-denunziatorischen Impuls zu entkräften mit der Berufung auf die Grunderfahrung des kategorischen Anspruchs des Sittengesetzes, die jedem mündigen Menschen eignet. Der korrekten Interpretation dieses nach ihm dem Menschen unzweifelhaft vorgegebenen »Faktums der Vernunft«3 und seiner Implikationen verdankt das Bild, das der Mensch sich von Gott unumgänglich macht, seine objektive Gültigkeit. »Es klingt zwar bedenklich, ist aber keineswegs verwerflich, zu sagen: dass ein jeder Mensch sich einen Gott mache, je nach moralischen Begriffen […] sich einen solchen selbst machen müsse […].«4 Sind die moralischen Begriffe korrekt, dann ist dieses Entwerfen und Machen des Bildes keine bloße, keine willkürliche, keine fiktionale Konstruktion, sondern besitzt im Ergebnis objektiv-praktische Realität. Allerdings beansprucht dieses objektive Bild nicht, Gott darzustellen, wie er seinem Wesen nach an ihm selbst beschaffen ist, sondern nur, ihn nach dem Aspekt zu zeichnen, der für unser moralisches Selbstverständnis und unsere moralische Lebenspraxis von Bedeutung ist. »Es liegt uns nicht sowohl daran zu wissen, was Gott an sich selbst (seine Natur) sei, sondern was er für uns als moralische Wesen sei; wiewohl wir zum Behuf dieser Beziehung die göttliche Naturbeschaffenheit so denken und annehmen müssen, als es zu diesem Verhältnisse in der ganzen zur Ausführung

2 KdU V, 482. 3 KpV V, 31. 4 Rel. VI, 168 Anm.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 270

08.11.2021 16:20:47

1. Die Gottesidee – ein Bedürfnis der menschlichen Vernunft

271

seines Willens erforderlichen Vollkommenheit nötig ist (z. B. als eines unveränderlichen, allwissenden, allmächtigen etc. Wesens), und ohne diese Beziehung nichts an ihm erkennen können.«5

Kant verabschiedet mit diesem Ansatz die theoretisch-metaphysische Theologie der Tradition in ihrer ontologischen, kosmologischen und physiko-theologischen Argumentationsversion.6 Er begründet die philosophische Theologie neu im Rahmen einer Metaphysik der Moral. Die Kehrseite dieses Neuansatzes ist, dass die Argumentation unausweichlich zirkulären Charakter hat: Die Argumentation für das Dasein und für die Attribute Gottes setzt ein moralisches Selbstverständnis im Sinne Kants voraus und dient ihrerseits wiederum der erforderlichen Stützung dieses Selbstverständnisses. Auch dieser zirkulären Struktur seiner neuen philosophischen Theologie ist Kant sich voll und ganz bewusst: Einerseits soll gelten: Die Idee eines höchsten Gutes der Welt und mit ihr notwendig verbunden die Idee Gottes »geht aus der Moral hervor und ist nicht die Grundlage derselben; ein Zweck, welchen sich zu machen schon sittliche Grundsätze voraussetzt«.7 Und andererseits soll gelten: »[A]ber diese Idee ist (praktisch betrachtet) doch nicht leer: weil sie unserm natürlichen Bedürfnisse zu allem unserm Tun und Lassen im Ganzen genommen irgendeinen Endzweck, der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann, zu denken abhilft, welches sonst ein Hindernis der moralischen Entschließung sein würde.«8

Ihre volle Überzeugungskraft gewinnt die neue philosophische Theologie in praktischer Absicht für Kant dadurch, dass über sie die offenen, theoretisch unlösbaren Probleme der theoretischen Metaphysik, deren wesentliche Gegenstände »der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein« können,9 ihre Lösung erfahren, dass durch sie und nur durch sie das theoretische Weltbild und das praktische Selbstverständnis in eine stimmige Synthese gebracht werden können. Erst im Rahmen einer Metaphysik der Moral wird das höchste Wesen zu 5 Rel. VI, 139. 6 Vgl. Weischedel, Wilhelm 1971, 194–201. 7 Rel. VI, 5. 8 Ebd. 9 KrV A X.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 271

08.11.2021 16:20:47

272

XI. Kants Gottesbild in der Religionsschrift

einem Begriff, welcher einerseits »die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönet«,10 und durch den andererseits »allein der Verbindung der Zweckmäßigkeit aus Freiheit mit der Zweckmäßigkeit der Natur, deren wir gar nicht entbehren können, objektiv praktische Realität verschafft werden kann«.11

2. D  ie Reinheit der Gesinnung und der Blick auf die Folgen Manche moderne (deontologische) Rekonstruktion der kantischen Ethik glaubt, ohne deren Gottesbezug auskommen zu können. Sie scheint auch einen gewissen Anhalt in Kants Texten selbst, nicht zuletzt in seiner Religionsschrift zu finden. Der bereits zitierte Anfang der Vorrede zur ersten Auflage dieser Schrift dient hierfür als willkommener Beleg: »Die Moral, sofern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten.«12

Und die moralischen Gesetze, so die Auskunft der zweiten hochbedeutsamen Anmerkung ebendieser Vorrede, gebieten, »wenn es auf eine besondere Handlung ankommt«, eine Pflicht schlechthin, »ohne uns einen Zweck (und Endzweck) vorzulegen und aufzugeben, der etwa die Empfehlung derselben und die Triebfeder zur Erfüllung unserer Pflicht ausmachen müsste. Alle Menschen könnten hieran auch genug haben, wenn sie (wie sie sollten) sich bloß an die Vorschrift der reinen Vernunft im Gesetz hielten. Was brauchen sie den Ausgang ihres moralischen Tuns und Lassens zu wissen, den der Weltlauf herbeiführen wird? Für sie ists genug, dass sie ihre Pflicht tun; es mag nun auch mit dem irdischen Leben alles aus sein.«13 10 KrV A 641/B 669. 11 Rel. VI, 5. 12 Rel. VI, 3. 13 Rel. VI, 7 Anm.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 272

08.11.2021 16:20:47

2. Die Reinheit der Gesinnung und der Blick auf die Folgen

273

Die merklichen Einschränkungen, die Kant in beiden Zitaten macht, kann man leicht übersehen, wenn ein bestimmtes partikuläres bzw. ideologisches Inte­ resse das Verständnis leitet. Gleichwohl liegt dieser areligiösen, strikt deontologischen und strikt formalistischen Auffassung der kantischen Ethik ein zweifaches grobes Missverständnis zugrunde. Zum einen wird im Grundsätzlichen verkannt, dass Kant nicht nur Gesinnungs-, sondern auch Zweckethiker ist; Kant spricht in seiner Tugendlehre von Zwecken, die zugleich Pflicht sind. Und zum anderen wird im Besonderen verkannt, dass das Gebot der Abstraktion vom handlungsexternen Erfolg des Tuns im Kontext der zu erkennenden konkreten Pflicht und der moralisch wertvollen Motivation zur konkreten Pflichterfüllung keineswegs die genuin menschliche Frage entkräftet und als unberechtigt erscheinen lässt, welche Folgen die Pflichterfüllung Einzelner für das Leben der Einzelnen und den Weltverlauf im Ganzen im Rahmen einer Weltordnung haben, haben können und haben sollten.14 Die gebotene Abstraktion in concreto schließt keineswegs eine Zumutung der Gleichgültigkeit gegenüber dem »Weltverlauf« im Ganzen und dem einzelnen Lebensschicksal im Besonderen ein; »denn es kann der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserm Rechthandeln herauskomme«.15 Der Blick auf die Folgen und den Erfolg, der allem absichtlichen menschlichen Handeln eignet, darf nur nicht so sein, dass er die Reinheit der moralischen Gesinnung desavouiert. Zum Ersten: Zwar trifft zu: Reine praktische Vernunft leitet, verbindet und motiviert den sich moralisch verstehenden Menschen unbedingt und absolut. Kant glaubt, in der »bloße[n] Form der Gesetzmäßigkeit der darnach zu nehmenden Maximen«16 das notwendige und hinreichende Kriterium mora­ lischer Identifikation, Unterscheidung und Motivation und die unbedingte Bedingung aller welthaften Zwecksetzung gefunden zu haben. »Die Moral« bedarf somit keines vorgängigen »Zwecks, weder um, was Pflicht sei, zu erkennen, noch dazu, dass sie ausgeübt werde, anzutreiben: sondern sie kann gar wohl und soll, wenn es auf Pflicht ankommt, von allen Zwecken abstrahie14 Ganz abgesehen davon, dass die im Voraus zu erkennende Vergeblichkeit bzw. Erfolglosigkeit eines bestimmten Tuns (bezogen auf die Beförderung des Glücks oder die Behebung des Leids anderer) dieses Tun auch nach Kant niemals zur Pflicht machen kann. 15 Rel. VI, 5. 16 Rel. VI, 3.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 273

08.11.2021 16:20:47

274

XI. Kants Gottesbild in der Religionsschrift

ren«.17 Doch was hier von Kant angesprochen ist, ist lediglich die reine Form der moralischen Gesinnung. Was noch ausgespart bleibt, ist die Anwendung der Form der moralischen Gesinnung auf die Materie der menschlichen Lebens- und Handlungswirklichkeit. Und die Anwendung der Vernunftform der Moralität auf die Materie menschlicher Lebensempfindung, Lebenserwartung und Lebensführung drückt sich, so Kant, in bestimmten Gefühlen (der Achtung und der Hoffnung) und, für unseren Zusammenhang relevant, in (erlaubten und) unbedingt verpflichtenden Zwecksetzungen aus. Aus der Einstellung der Moralität gehen notwendige praktische, unbedingt verpflichtende Zwecksetzungen für den Menschen als ein endliches vernünftiges Weltwesen hervor. Danach »ist der Mensch sowohl sich selbst als andern Zweck«;18 danach sind eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit Zwecke, die zugleich Pflicht sind.19 Zum Zweiten: Die Anwendung der Vernunftform der Moralität auf die menschliche Lebenswirklichkeit drückt sich nicht nur in (erlaubten und) unbedingt verpflichtenden Zwecksetzungen, sondern auch, was das Zusammenspiel von Eigenverantwortlichem und Unverfügbarem betrifft, in einer bestimmten den Gesamtsinn einfordernden Zielerwartung des Menschen aus. Menschliches Leben, Streben und Handeln vollzieht sich eo ipso als Kausalität in der Welt mit zeitlichen Perspektiven und Wirkungen, als Kausalität, in der Gesinnung und Tat, Handlung und Erfolg der Handlung sowohl zusammengehören als auch verschiedene, zum Teil auch zeitlich wie sachlich dissoziierte Dinge sind. Mit allem, was wir in reiner oder unreiner Gesinnung um seiner selbst oder anderer Dinge willen tun, wirken wir in die Welt, erzielen wir Wirkungen und bewirken wir Folgen in der Welt. Der vorgängige Blick auf das, was unmittelbar, mittelbar und im Ganzen durch unser Tun bewirkt wird und bewirkt werden soll im Sinne des Absehbaren, Gebotenen oder Gewünschten, gehört wesentlich zum menschlichen Handeln; »ohne alle Zweckbeziehung kann gar keine Willensbestimmung im Menschen stattfinden, weil sie nicht ohne alle Wirkung sein kann«.20

17 Rel. VI, 3 f. 18 MdS VI, 395. 19 Vgl. MdS VI, 391–94. 20 Rel. VI, 4.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 274

08.11.2021 16:20:47

3. Zweckvorstellung und Bestimmungsgrund des reinen Willens

275

3. Z  weckvorstellung und Bestimmungsgrund des reinen Willens Unter Zweck versteht Kant in handlungstheoretischem Zusammenhang einen »Gegenstand der Willkür (eines vernünftigen Wesens), durch dessen Vorstellung diese zu einer Handlung diesen Gegenstand hervorzubringen bestimmt wird«.21 Eine Zweckvorstellung als Bestimmungsgrund des Auf-etwas-ausSeins, insofern sie etwas anderes als die Aktualität vernünftiger Freiheit des Subjekts zum Inhalt hat, macht das Wollen des Subjekts unter einer bestimmten Voraussetzung zu einem fremdbestimmten, derart, »dass, wenn man vor dem moralischen Gesetze irgendein Objekt unter dem Namen eines Guten als Bestimmungsgrund des Willens annimmt und von ihm dann das oberste praktische Prinzip ableitet, dieses alsdann jederzeit Heteronomie hervorbringen und das moralische Prinzip verdrängen würde«.22

Kants Ethik ist personalistisch. Schlechthin vernünftiger und als solcher unbedingt verpflichtender Bestimmungsgrund der Willkür eines freien Wesens kann nur das moralische Gesetz als Ausdruck der vernünftigen Freiheit des Subjekts, darf nicht der welthafte Zweck sein. Doch die derart durch reine Vernunft zum Handeln bestimmte Willkür des Menschen (als eines Weltwesens) sieht in ihrer Absicht auf die Welt vernünftiger- und damit notwendigerweise auch auf das welthafte Ziel und die weltlichen Folgen der Handlung und muss die durch die Handlung voraussehbar bewirkten Folgen seines Tuns in eine vernünftige Zweck- und Zielvorstellung integrieren und bejahen können.23 Nun spielt die Zweckvorstellung ihrem Begriffe nach auch und wesentlich die Rolle eines Bestimmungsgrundes der Willkür zum Handeln. Eine die Autonomie und damit die Moralität des Subjekts sichernde Verbindung beider Momente (sc. des Gesetzes der Freiheit und des Zwecks) kann und muss darin bestehen, dass in der uns leitenden und motivierenden Zweckvorstellung die Erfüllung des moralischen Gesetzes als unbedingte Bedingung aller Zweckset-

21 MdS VI, 381. 22 KpV V, 109. 23 Vgl. Rel. VI, 4.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 275

08.11.2021 16:20:47

276

XI. Kants Gottesbild in der Religionsschrift

zung, Zweckverfolgung und Zielerwartung enthalten ist. Und genau diese Bedingung erfüllt der kantische Begriff des höchsten Guts. »Es versteht sich aber von selbst, dass, wenn im Begriffe des höchsten Guts das moralische Gesetz als oberste Bedingung schon mit eingeschlossen ist, alsdann das höchste Gut nicht bloß Objekt, sondern auch sein Begriff und die Vorstellung der durch unsere praktische Vernunft möglichen Existenz desselben zugleich der Bestimmungsgrund des reinen Willens sei: weil alsdann in der Tat das in diesem Begriffe schon eingeschlossene und mitgedachte moralische Gesetz und kein anderer Gegenstand nach dem Prinzip der Autonomie den Willen bestimmt.«24

Zwischen Willensbestimmung und Zweck als (intendiertem) Erfolg des Handelns ist genau zu unterscheiden. Die Willensbestimmung in Beziehung auf einen intendierten, sei es verpflichtenden, sei es lediglich gewollten Zweck liegt unmittelbar bei uns, ebenso der Entschluss als Versuch des Einsatzes aller Kräfte zu seiner Realisierung. Und durch die Willensbestimmung gestalten wir uns eo ipso selbst. Doch der Zweck als gezielt bewirkter Sachverhalt in der Welt, als welthafter Erfolg der Handlung hängt nicht nur von uns, sondern auch von der Natur und den gesellschaftlich-geschichtlichen Umständen der Handlung ab. Das erwartbare Ergebnis, zu dem wir durch unser Tun lediglich beisteuern und beisteuern können, muss, damit unser Tun zielgerichtet und im Einzelnen wie im Ganzen sinnvoll ist, so gedacht werden können, dass wir, wie Kant sagt, »damit wenigstens zusammen […] stimmen«.25

4. H  öchstes ursprüngliches und höchstes abgeleitetes Gut Kant sieht in der Pflicht »die formale Bedingung aller Zwecke, wie wir sie haben sollen«.26 Sie gliedert sich in Anwendung auf die menschliche Lebenswirklichkeit in die Tugendpflichten der Sorge um eigene Vollkommenheit und fremde 24 KpV V, 109 f. 25 Rel. VI, 5. 26 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 276

08.11.2021 16:20:47

4. Höchstes ursprüngliches und höchstes abgeleitetes Gut

277

Glückseligkeit. Er versteht unter Glückseligkeit den »Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht«.27 Glückseligkeit als Endziel zu erstreben ist dem Menschen natürlich, ja als endlichem und bedürftigem Wesen unvermeidlich. Was er, als vernünftiges und freies Wesen, dagegen willentlich und verantwortlich kann und muss, ist dies, sein natürliches und unvermeidliches Glücksverlangen unter die Bedingung seiner Pflichterfüllung zu stellen, das heißt auch in Bezug auf sich selbst als vernünftiges Sinnenwesen die Perspektive und Einstellung der Unparteilichkeit einzunehmen und selbst nur glücklich sein zu wollen, wenn man selbst auch glücklich zu sein verdient. Was reine Vernunft ferner nach dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit fordert und erwartet, ist dies, dass jeder, der seine Pflicht erfüllt, der des Glücks bedürftig und durch seine Pflichterfüllung des Glückes würdig ist, letztendlich auch glücklich wird. Kant sieht in dieser Verbindung, in diesem »genauen Ebenmaße« von Sittlichkeit und Glückseligkeit das höchste Gut.28 In Gott, so seine durchaus der Tradition entsprechende leitende Idee, sind Sittlichkeit und Glückseligkeit in vollkommener Weise realisiert und verbunden. Kant spricht deshalb vom ursprünglichen bzw. unabhängigen höchsten Gut, wie es in Gott als Wirklichkeit gedacht ist. Und er spricht vom abgeleiteten bzw. abhängigen höchsten Gut, wie es dem endlichen vernünftigen Weltwesen und so auch dem Menschen als vernünftiger Endzweck seines Strebens vor Augen steht.29 Ja, er sieht in der Verwirklichung von Sittlichkeit und der Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit den einzig vernünftigen Grund einer Weltschöpfung überhaupt. Wessen Streben durch praktische Vernunft geleitet ist, so Kant im Blick auf eine hypothetische intelligible Wahlsituation, der »würde auch wollen, dass eine Welt überhaupt existiere, weil das moralische Gesetz will, dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde«.30 In einer intelligiblen, will sagen moralisch völlig stimmigen Weltordnung wäre nun jener, der das moralische Gesetz erfüllt, auch der Urheber seiner eigenen Glückseligkeit und wären alle bedürftigen Subjekte, die das moralische Gesetz erfüllen, füreinander auch die Urheber wechselseitig bedingter Glückseligkeit; »ein solches System der mit der Moralität verbundenen proportio27 KpV V, 124. 28 Vgl. KrV A 814/B 842. 29 Vgl. KrV B 838 f.; Orientieren, AA VIII, 139. 30 Rel. VI, 5.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 277

08.11.2021 16:20:47

278

XI. Kants Gottesbild in der Religionsschrift

nierten Glückseligkeit« ist für Kant aus der Perspektive praktischer Vernunft ein notwendiger Gedanke.31 Doch es ist ein Gedanke, dessen Einlösung im phänomenalen Bereich, in der menschlichen Lebenswirklichkeit, nicht gegeben und nicht zu erwarten ist, und dies einfach deshalb, weil menschliche »Vernunft zwar in Ansehung der Freiheit überhaupt, aber nicht in Ansehung der gesamten Natur Kausalität hat, und moralische Vernunftprinzipien zwar freie Handlungen, aber nicht Naturgesetze hervorbringen können«.32 Was von der Natur gilt, gilt in erheblichem Maße auch für die vom Menschen mitgestaltete gesellschaftlich-geschichtliche Welt, in der naturale und natural bedingte Mechanismen eine erhebliche Rolle spielen. Und in einer Gesellschaft, die nicht nur, oder jedenfalls nicht überwiegend aus moralisch wohlgesinnten und klugen Menschen besteht, schlägt Moralität nicht selten zum Nachteil dessen aus, der sie verwirklicht. Die Verwirklichung des höchsten Guts erfordert ein »System wohlgesinnter Menschen […], wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe«.33 Was nach Naturgesetzen geschieht und was nach Freiheitsgesetzen sich vollzieht, harmoniert prinzipiell gedacht und erfahrungsmäßig bestätigt nicht von selbst. Das »höchste sittliche Gut [wird] durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt«.34 So gesehen ist das »System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit« weder »durch die pünktlichste Beobachtung der moralischen Gesetze«35 noch »nach Gesetzen der Sinnenwelt«36 zu erwarten.37 Dem moralisch Guten geht es in der menschlichen Lebenswirklichkeit nicht eo ipso gut; und dem moralisch Schlechten geht es hier nicht eo ipso schlecht.

31 Vgl. KrV B 837; 841; vgl. Rel. VI, 97 f. 32 KrV A 808/B 835. 33 Rel. VI, 98. 34 Rel. VI, 97. 35 KpV V, 113 f. 36 KpV V, 119. 37 Vgl. Hsüeh-chu, Maria Chang 1999, 210.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 278

08.11.2021 16:20:47

5. Achtung vor dem Gesetz und Liebe des Endzwecks

279

5. Achtung vor dem Gesetz und Liebe des Endzwecks Die Sorge um unsere eigene Vollkommenheit und um fremde Glückseligkeit liegen in unserer Hand. Gehen wir dieser Sorge nach, dann befördern wir, soviel an uns liegt, das höchste Gut. Doch von der Verwirklichung des von der Vernunft geforderten proportionierten Systems von Vollkommenheit und Glückseligkeit sind wir damit weit entfernt. Gleichwohl hat die menschliche Moral »auf einen solchen Zweck eine notwendige Beziehung«.38 Worin der Modus dieser Beziehung nach Kant näherhin besteht, ist nun nicht leicht zu klären. Der genannte Zweck stellt die Synthesis aller Zwecke dar, wie wir sie haben sollen, und derjenigen Zwecke, die wir unumgänglich haben.39 Kant bekräftigt, dass es sich um einen Zweck handelt, »welchen zu haben schon sittliche Grundsätze voraussetzt« und dass »das moralische Gesetz will, dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde«.40 Die Religionsschrift macht ferner deutlich, dass es zwar der Moral nicht gleichgültig, dass es aber keine zusätzliche ihrer Pflichten ist, sich diesen Endzweck zu setzen, »wozu zusammenzustimmen, zwar die Zahl ihrer Pflichten nicht vermehrt, aber doch ihnen einen besondern Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke verschafft«.41 Und sie macht deutlich, dass die Annahme der Möglichkeit und Wirklichkeit des höchsten Guts »über den Begriff der Pflicht, den die Moral enthält […], hinausgeht«.42 Noch in der KpV betont Kant: »Das moralische Gesetz gebietet, mir das höchste mögliche Gut in einer Welt zum letzten Gegenstand alles Verhaltens zu machen.«43 Diese Formulierung ist etwas verkürzt und (wohl auch) missverständlich, weil sie so verstanden werden könnte, als würde dem Menschen paradoxerweise kategorisch eine Zielvorgabe seines Verhaltens geboten, die er aus eigener Kraft gar nicht einlösen kann.44 Die Religionsschrift formuliert deshalb entschieden differenzierter:

38 Rel. VI, 4. 39 Vgl. Rel. VI, 4. 40 Rel. VI, 5. 41 Ebd. 42 Rel. VI, 6 Anm. 43 KpV V, 129, Hervorh. M. F. 44 So versteht sie etwa Sala, Giovanni B. 1990; ders. 1991, 295–304; ders. 1993, 182–207.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 279

08.11.2021 16:20:47

280

XI. Kants Gottesbild in der Religionsschrift

»An diesem Zwecke nun, wenn er gleich durch die bloße Vernunft ihm vorgelegt wird, sucht der Mensch etwas, was er lieben kann; das Gesetz also, was ihm bloß Achtung einflößt, ob es zwar jenes als Bedürfnis nicht anerkennt, erweitert sich doch zum Behuf desselben zu Aufnehmung des moralischen Endzwecks der Vernunft unter seine Bestimmungsgründe, das ist, der Satz: mache das höchste in der Welt mögliche Gut zu deinem Endzweck! ist ein synthetischer Satz a priori, der durch das moralische Gesetz selber eingeführt wird, und wodurch gleichwohl die praktische Vernunft sich über das Letztere erweitert.«45

Wenn die praktische Vernunft sich mit der Vorgabe dieses Endzwecks über das moralische Gesetz erweitert, so ist damit auch gesagt, dass es sich um ein Ziel handelt, auf das der vernünftige Mensch alle Folgenabwägungen und Folgenerwartungen seines Handelns ausrichtet, von dem er aber weiß, dass er zu seiner Verwirklichung beisteuern, dass er es aber nicht aus eigener Kraft (vollständig) realisieren kann. Dieser Endzweck als Ziel allen Verhaltens hilft einem »natürlichen Bedürfnis« des Menschen ab. Dieses natürliche Bedürfnis gründet in seiner Endlichkeit und seinem Verlangen nach Glückseligkeit. Dieses Verlangen hat als solches mit Moralität nichts zu tun. Doch aus dem natürlichen wird ein vernünftiges, vor der Vernunft gerechtfertigtes (objektives) Bedürfnis, wenn das Verlangen des Menschen nach Glück sich mit seiner Würdigkeit, glücklich zu sein, als Bedingung verbindet. Das natürliche Bedürfnis nach Glückseligkeit wird in das Vernunftbedürfnis nach Gerechtigkeit integriert. So gesehen hat der Mensch, der die Position der Moralität bezogen hat, ein »moralisch gewirktes Bedürfnis […], zu seinen Pflichten sich noch einen Endzweck, als den Erfolg derselben, zu denken«.46

45 Rel. VI, 7 Anm. 46 Rel. VI, 6, Hervorh. M. F.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 280

08.11.2021 16:20:47

6. Gott als Bedingung der Möglichkeit des höchsten (abgeleiteten) Guts

281

6. Gott als Bedingung der Möglichkeit des höchsten (abgeleiteten) Guts Müsste der Mensch annehmen, dass diesem Bedürfnis die Weltordnung nicht entspricht, so wäre dies, wie Kant schreibt, »ein Hindernis der moralischen Entschließung«.47 Diese Formel scheint mir mit Bedacht gewählt. Der Entschluss markiert eine Differenz zum bloßen Bejahen, Wünschen oder Bewundern eines zielhaften Sachverhalts. Der Entschluss markiert den Abschluss einer genuin praktischen Überlegung und den Beginn des Einsatzes der Kräfte zur Realisierung dessen, was man erreichen will. Der Einsatz der Kräfte zur Realisierung von etwas, das man zwar wünscht und uneingeschränkt bejaht, an dessen Realisierungsmöglichkeit man aber nicht glaubt und nicht glauben kann, ist für ein vernünftiges Sinnenwesen unsinnig und unzumutbar. Hielte man den Endzweck für utopisch, dann wäre die Position der Moralität in ihrer kausalen Motivationskraft der Weltgestaltung gehemmt. Die Achtung vor dem Gesetz würde welt- und wirkungslos, sie würde sich nicht zu einer effizienten Triebfeder des praktischen Einsatzes entfalten, sie würde zu einem praktisch unwirksamen Gefühl verkümmern. Die »herrlichen Ideen der Sittlichkeit« würden, wie es die KrV formuliert, »zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung«.48 Wäre das höchste Gut eine bloße Ideal- und Wunschvorstellung ohne Realitätsbezug, dann müsste der moralisch tätige Mensch sich als weltfremder Idealist verstehen und könnte von anderen als liebenswerter, aber auch dummer Phantast verstanden werden. Die Gottesvorstellung erst gibt dem Begriff des höchsten Guts objektiv-praktische Realität. »Nun bedarf die Vernunft, ein solches abhängiges höchstes Gut und zum Behuf  desselben eine oberste Intelligenz als höchstes unabhängiges Gut anzu­ nehmen: zwar nicht um davon das verbindende Ansehen des moralischen Gesetzes, oder die Triebfeder zu ihrer Beobachtung abzuleiten […]; sondern nur um dem Begriffe vom höchsten Gut objektive Realität zu geben, d. i. zu verhindern, dass es zusamt der ganzen Sittlichkeit nicht bloß für ein bloßes Ideal

47 Rel. VI, 5. 48 KrV B 840 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 281

08.11.2021 16:20:47

282

XI. Kants Gottesbild in der Religionsschrift

gehalten werde, wenn dasjenige nirgend existierte, dessen Idee die Moralität unzertrennlich ­begleitet.«49

Das moralische Gesetz gebietet dem Menschen, sich in der Welt für die Verwirklichung des höchsten Gutes einzusetzen. Um für die Verwirklichung sinnvollerweise seine Kräfte einzusetzen, muss er die Erreichung des Ziels grundsätzlich für möglich halten. Der Gedanke der Realisierbarkeit des Ziels ist an den Gedanken gebunden, dass es eine der Natur und der menschlichen Freiheitsleistung übergeordnete Instanz gibt, die die definitive Verbindung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit gewährleistet. Da das moralische Gesetz will, dass wir als Menschen, als zeitliche Weltwesen, diesem Gesetz entsprechend in der Welt tätig und wirksam sind, erweitert es sich zur »Idee eines höchsten Guts in der Welt, zu dessen Möglichkeit wir ein höheres, moralisches, heiligstes und allvermögendes Wesen annehmen müssen, das allein beide Elemente desselben vereinigen kann«.50 Kant kennzeichnet dieses »annehmen müssen« theoretisch als lediglich »problematisches Annehmen« und praktisch als »ein dieser ihrer Endabsicht Effekt verheissendes […], mithin freies assertorisches Glauben«, keineswegs 49 Orientieren, AA VIII, 139. Kant ist terminologisch nicht konsistent in der Beschreibung der Motivationsrolle, die die Annahme der objektiven Realität der Idee des höchsten Guts spielt. Dem § 87 der KdU entsprechend schwächt derjenige die Motivationskraft der Achtung vor dem Gesetz, der die Realisierung des Endzwecks für unmöglich hält (V, 452). Die Idee von Gott als moralischem Gesetzgeber, Erhalter und Richter ist nicht das Bewusstsein einer Pflicht gegenüber Gott. Als »Erkenntnis aller unserer Pflichten als (instar) göttlicher Gebote« ist die Religionspflicht vielmehr »Pflicht des Menschen gegen sich selbst«, da »diese Idee ganz aus unserer eigenen Vernunft hervorgeht […], es sei in theoretischer Absicht, um sich die Zweckmäßigkeit im Weltganzen zu erklären, oder auch um zur Triebfeder in unserem Verhalten zu dienen« (MdS VI, 443 f.). In der Regel reserviert Kant den Ausdruck »Triebfeder« im genuin moralischen Wollen und Tun jedoch für die Achtung vor dem moralischen Gesetz und umschreibt die Motivationsrolle der Gottesidee dahingehend, dass sie Hindernisse der moralischen Entschließung beseitigt bzw. auf die moralischen Entschließungen Einfluss hat; vgl. etwa die späte Preisschrift: »Dies ist nun ein Argument, das Dasein Gottes, als eines moralischen Wesens, für die Vernunft des Menschen, sofern sie moralisch-praktisch ist, d. i. zur Annehmung desselben hinreichend zu beweisen, und eine Theorie des Übersinnlichen aber nur als praktisch-dogmatischen Überschritt zu demselben zu begründen, also eigentlich nicht ein Beweis von seinem Dasein schlechthin (simpliciter), sondern nur in gewisser Rücksicht (secundum quid), nämlich auf den Endzweck, den der moralische Mensch hat, und haben soll bezogen, mithin bloß der Vernunftmäßigkeit, ein solches anzunehmen, wo dann der Mensch befugt ist, einer Idee, die er, moralischen Prinzipien gemäß, sich selbst macht, gleich als ob er sie von einem gegebenen Gegenstande hergenommen, auf seine Entschließungen Einfluss zu verstatten« (AA XX, 305). 50 Rel. VI, 5.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 282

08.11.2021 16:20:47

6. Gott als Bedingung der Möglichkeit des höchsten (abgeleiteten) Guts

283

als Gegenstand einer Pflicht.51 Die (positive) Triebfeder, das Motiv moralisch wertvollen Handelns in der Welt ist einzig und allein die Achtung vor dem Gesetz. Doch dieses Motiv wird kraftlos, wird unwirksam, verkümmert zum bloßen Wunsch, wenn das in der Welt handelnde endliche Subjekt das Ziel seiner moralischen Einstellung für unrealistisch hält und halten muss. Es geht bei der Annahme Gottes als Garanten der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts, es geht bei der Religion im Sinne eines Verständnisses aller menschlichen Pflichten als göttlicher Gebote im Wortsinne um die Kraft und Wirksamkeit der moralischen Einstellung, um den Einfluss der Moral auf das menschliche Wollen. Die vernunftreligiöse Einstellung ist fundiert in der moralischen Einstellung und verhilft der moralischen Einstellung zur Wirksamkeit. Der Unterschied der Religion von der Moral ist so gesehen »bloß formal, d. i. eine Gesetzgebung der Vernunft, um der Moral durch die aus dieser selbst erzeugte Idee von Gott auf den menschlichen Willen zur Erfüllung aller seiner Pflichten Einfluss zu geben«.52 Doch es geht dabei nicht nur um die Motivationskraft. Kant benennt d ­ iese Annahme zugunsten eines moralisch gewirkten Bedürfnisses menschlicher Vernunft andernorts mit dem Ausdruck »Postulat« (als Inhalt eines reinen Vernunftglaubens). Er erklärt, dass er unter einem »Postulat der reinen praktischen Vernunft einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz verstehe, sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt«.53 Ein Postulat ist also erstens ein theoretischer, kein praktischer Satz; das heißt, es ist ein Satz, der etwas als wahr behauptet und anzunehmen beansprucht, nicht ein Satz, der etwas zu tun und zu bewirken gebietet. Theoretische Sätze behaupten im Modus des Möglichen, Faktischen oder Notwendigen die Existenz sowie Eigenschaften und Zusammenhänge von Dingen, Zuständen und Vorgängen. Es ist zum Zweiten ein Satz, der nicht theoretisch, das heißt über Begriffsanalyse, über logisch gültige Argumente oder durch Erfahrungsbelege als zutreffend erweisbar ist. Es ist zum Dritten ein Satz, den wir als wahr voraussetzen und annehmen müssen, wenn das, was ein a priori unbedingt gebietendes Gesetz von uns zu tun verlangt, für uns als sinnvolle praktische Anforderung zu denken sein soll. Falls wir das Wort »Beweis« im Zusam51 Rel. VI, 153 f. Anm. 52 Streit der Fakultäten, AA VII, 36. 53 KpV V, 122.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 283

08.11.2021 16:20:47

284

XI. Kants Gottesbild in der Religionsschrift

menhang dieses Begriffs des Postulats verwenden möchten, dann haben wir es mit einem Beweis der Existenz und der Eigenschaften Gottes aus der praktischen Anforderung des sittlichen Selbstverständnisses des Menschen heraus zu tun. »Der Satz: es ist ein Gott, mithin es ist ein höchstes Gut in der Welt [..]. ist ein synthetischer Satz a priori«,54 ein theoretischer Satz, der aus der Moral hervorgeht und fest für wahr gehalten wird, »ob er gleich nur in praktischer Beziehung angenommen wird«,55 dies freilich notwendigerweise, weil die Annahme seines Zutreffens für die Sinnhaftigkeit eines moralischen Selbstverständnisses, einer moralischen Existenz und Lebenspraxis des Menschen unverzichtbar ist. Wir müssen in unserem moralischen Selbstverständnis aus Gründen der Unparteilichkeit und der zu prüfenden und zu sichernden praktischen Objek­ tivität unserer Einstellungen und Absichten auf das »Zusammenstimmen mit der bloßen Idee eines moralischen Gesetzgebers aller Menschen« achten.56 Das ergibt sich bereits analytisch aus dem Begriff der Pflicht. Wir haben jedoch auch zwingenden moralischen Grund zu glauben, dass dieser moralische Gesetzgeber und Richter aller Menschen nicht lediglich eine »bloße« Idee ist, sondern auch »außer uns« existiert. »Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll.«57

7. Die Konstruktion des Wesens Gottes aus der Moral Kant entwickelt ein reines »Vernunftsystem der Religion«, und dies nicht in spekulativ- theoretischer, sondern in moralisch-praktischer Absicht.58 Eigentliche Religion, so Kant, findet »als Vernunftbegriff a priori […] nur in dieser Beziehung statt«.59 Die »zur Religionslehre gezählten Geheimnisse […] von der göttlichen Natur«, wie sie die Katechismen lehren, müssen »in moralische 54 Rel. VI, 6 Anm. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Rel. VI, 6, Hervorh. M. F. 58 Rel. VI, 12. 59 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 284

08.11.2021 16:20:48

7. Die Konstruktion des Wesens Gottes aus der Moral

285

Begriffe verwandelt« bzw. in Beziehung zu moralischen Begriffen gebracht werden.60 Wir haben gesehen: Praktische Vernunft bzw., wie Kant sagt, das moralische Gesetz muss »die Existenz Gottes, als zur Möglichkeit des höchsten Guts […] notwendig gehörig, postulieren«.61 Die Möglichkeit des höchsten Guts bildet nun auch Bezugspunkt und Anhalt zur Konstruktion des Wesens Gottes bzw. genauer: der in praktischer Hinsicht für uns wesentlichen Attribute Gottes. Soll dieser doch Subjekt der Wirklichkeit und Garant der Verwirklichung des höchsten Guts sein. Gott wird also entsprechend den Ideen und Forderungen der praktischen Vernunft gedacht, als ein Wesen, in dem das höchste Gut auf ursprüngliche und vollendete Weise wirklich ist und das den Grund der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts für endliche Vernunftwesen darstellt. Er ist die höchste, die moralischen Gesetze vollziehende Ursache, als solche das majestätische Prinzip der Weltordnung und in ihrer Majestät für endliche Vernunftwesen Gegenstand der Anbetung.62 Als jene Instanz, durch die »allein der Verbindung der Zweckmäßigkeit aus Freiheit mit der Zweckmäßigkeit der Natur […] objektiv praktische Realität verschafft werden kann«,63 ist sie als »ein allvermögendes moralisches Wesen« zu denken,64 und dies in der dreifachen Funktion des Weltschöpfers, Weltherrschers und Weltrichters, »in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich Endzweck des Menschen sein kann und soll«.65 Kant bezeichnet diese Idee Gottes als »eine Aufgabe für unsere praktische Vernunft«. Sie hat dementsprechend das und nur das zum Inhalt, »was er für uns als moralische Wesen« bedeutet: »Diesem Bedürfnisse der praktischen Vernunft gemäß ist nun der allgemeine wahre Religionsglaube der Glaube an Gott 1) als den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, d. i. moralisch als heiligen Gesetzgeber, 2) an ihn, den Erhalter des menschlichen Geschlechts, als gütigen Regierer und moralischen

60 Rel. VI, 14. 61 Rel. VI, 124. 62 Rel. VI, 7. 63 Rel. VI, 5. 64 Rel. VI, 8 Anm. 65 Rel. VI, 6.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 285

08.11.2021 16:20:48

286

XI. Kants Gottesbild in der Religionsschrift

Versorger desselben, 3) an ihn, den Verwalter seiner eignen heiligen Gesetze, d. i. als gerechten Richter.«66

Diese dreifache Funktion Gottes entspricht (für Kant) nicht nur dem Inhalt des christlichen Dogmas, sie muss als Inhalt des »allgemeinen wahren Religionsglaubens« gelten, der sich bereits, wenngleich in verzerrter Form, in altorientalischen, speziell hinduistischen pluralen Göttervorstellungen Ausdruck verschafft habe.67 Gleichwohl besitzt das, was Kant als völlig säkularen »allgemeinen wahren Religionsglauben« konstruiert, seine primäre offenbarungstheologische Entsprechung im Christentum. Es sind im Wesentlichen die christlichen Dogmen, die er in der Religionsschrift in »rein moralische Begriffe verwandelt«68 bzw. aufgrund moralischer Begriffe zurückweist.

8. Gott als Dreifaltiger und Schöpfer Die Vernunftidee Gottes hat das und nur das zum Inhalt, »was er für uns als moralische Wesen« bedeutet.69 Ein Kerndogma des Christentums ist das der Trinität, des einen Gottes in drei Personen. Kant setzt dieses Dogma in Beziehung zum Lebensziel endlicher Vernunftwesen, näherhin zur moralischen Vollkommenheit, die in der Liebe des Gesetzes besteht, und formuliert dieser Idee gemäß als einen Glaubenssatz des reinen Vernunftglaubens: »›Gott ist die Liebe‹; in ihm kann man den Liebenden (mit der Liebe des moralischen Wohlgefallens an Menschen, sofern sie seinem heiligen Gesetze adäquat sind), den Vater; ferner in ihm, sofern er sich in seiner alles erhaltenden Idee, dem von ihm selbst gezeugten und geliebten Urbilde der Menschheit, darstellt, seinen Sohn; endlich auch, sofern er dieses Wohlgefallen auf die Bedingung der Übereinstimmung der Menschen mit der Bedingung jener Liebe des Wohlgefallens einschränkt und dadurch als auf Weisheit gegründete Liebe beweist, den heiligen Geist verehren; eigentlich aber nicht in so vielfacher Persönlichkeit anrufen (denn das würde eine Verschiedenheit der Wesen andeuten, er ist aber 66 Rel. VI, 139. 67 Vgl. Rel. VI, 19. 68 Rel. VI, 14. 69 Rel. VI, 139.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 286

08.11.2021 16:20:48

8. Gott als Dreifaltiger und Schöpfer

287

immer nur ein einiger Gegenstand), wohl aber im Namen des von ihm selbst über alles verehrten, geliebten Gegenstandes, mit dem es Wunsch und zugleich Pflicht ist, in moralischer Vereinigung zu stehen.«70

Die Vernunftidee Gottes ist, da die Vernunft eine ist, strikt monotheistisch. Sie kann am christlichen Trinitätsdogma nur das als vernünftig rekonstruieren, worin Gott und das endliche vernünftige Geschöpf in seiner Vollkommenheit konvergieren. Gott wird trinitarisch gedacht nicht als er selbst, sondern nur hinsichtlich seiner unterscheidbaren intentionalen Objekte, mit denen der vollkommene Mensch sich seinerseits identifiziert.71 In Kants Theorie der Weltschöpfung verbinden sich schöpfungstheologische mit trinitätstheologischen und christologischen Aspekten. Dabei ist die Per­ spektive der praktischen Vernunft leitend. Nicht die gloria Dei formalis externa, nicht der hoheitliche Glanz und die ehrfürchtige Verehrung Gottes ist demgemäß Sinn und Zweck alles Geschaffenen – Gott ist nicht aus einer Untertänigkeitsund Abhängigkeitsperspektive als ein Potentat zu denken, der sich in seinem Glanz und seiner Allmacht darstellen möchte und gottesdienstlich gefeiert werden will – Sinn und Zweck der Schöpfung ist die Verwirklichung des höchsten Guts durch vernünftige Weltwesen. Ein vernünftiger, gar ein heiliger Wille »würde auch wollen, dass eine Welt überhaupt existiere, weil das moralische Gesetz will, dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde«.72 »Das, was allein eine Welt zum Gegenstande des göttlichen Ratschlusses und zum Zweck der Schöpfung machen kann, ist die Menschheit (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit, wovon als oberster Bedingung die Glückseligkeit die unmittelbare Folge in dem Willen des höchsten Wesens ist.«73 70 Rel. VI, 145 ff. 71 Kants Trinitätslehre ist unitaristisch. Er war sich der Brisanz seiner diesbezüglichen Aussagen wohl bewusst. Zu seiner Zeit und in seinem religiösen Milieu war das Schicksal des Humanisten, Arztes und Theologen Michael Servet noch allgemein bekannt. Er und seine theologischen Schriften wurden 1553 auf energisches Betreiben von Johannes Calvin in Genf auf dem Scheiterhaufen öffentlich als ketzerisch verbrannt. Dies deshalb, weil er die Trinität nicht substanzontologisch, sondern die drei göttlichen Personen im ursprünglichen Sinn des Wortes persona als Rollen verstanden wissen wollte, die der wesentlich eine Gott gegenüber sich und seiner Schöpfung spielt. 72 Rel. VI, 5. 73 Rel. VI, 60.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 287

08.11.2021 16:20:48

288

XI. Kants Gottesbild in der Religionsschrift

Was Gott mit seiner Schöpfung will, ist nichts anderes als das, was der vernünftige Mensch sich als Endzweck seines eigenen Daseins denkt. Und Kant formuliert nun die Idee des Zwecks der Schöpfung in (neu)platonisch-trinitätstheologischer Metaphorik als von Ewigkeit in Gott gezeugter Idee, durch die und um deren Verwirklichung willen alles geschaffen wurde. »Dieser allein Gott wohlgefällige Mensch ›ist in ihm von Ewigkeit her‹; die Idee desselben geht von seinem Wesen aus; er ist sofern kein erschaffenes Ding, sondern sein eingeborener Sohn, ›das Wort (das Werde!), durch welches alle Dinge sind, und ohne das nichts existiert, was gemacht ist‹«.74 Kants Anthropologie und Ethik sind personalistisch, seine Ethik ist eine Theorie der Freiheit. Dies steht quer zur Vorstellung vom Menschen als etwas Geschaffenem bzw. Gemachtem. Lässt sich die Idee des vollkommenen Menschseins metaphorisch als von Ewigkeit in Gott gezeugter Sohn denken, so bereitet die Vorstellung des geschaffenen und zur moralischen Vollkommenheit bestimmten Menschen Probleme. Ist es doch »für unsere Vernunft schlechterdings unbegreiflich, wie Wesen zum freien Gebrauch ihrer Kräfte erschaffen sein sollen: weil wir nach dem Prinzip der Kausalität einem Wesen, das als hervorgebracht angenommen wird, keinen anderen innern Grund seiner Handlungen beilegen können als denjenigen, welchen die hervorbringende Ursache in dasselbe gelegt hat, durch welchen (mithin durch eine äußere Ursache) dann auch jede Handlung desselben bestimmt, mithin dieses Wesen selbst nicht frei sein würde«.75

Die Idee einer göttlichen Gesetzgebung, die sich an freie Wesen wendet, ist mit der Idee einer Schöpfung eben dieser Wesen, die als etwas ganz und gar Gemachtes kausal (außen-)determiniert wären, nicht zu vereinbaren. Die erste Idee ist wesentlicher Bestandteil unseres sittlichen Selbstverständnisses, die zweite Idee (vom Menschen als etwas Geschaffenem) bleibt, wie Kant sagt, »für

74 Rel. VI, 60. 75 Rel. VI, 142.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 288

08.11.2021 16:20:48

9. Gott als Gesetzgeber, Regierer und Richter

289

die Spekulation […] ein undurchdringliches Geheimnis«.76 Dies ist, was »die zweite Idee« betrifft, eine sehr vorsichtige Formulierung, die sich vermutlich der Gefahr staatlicher Zensur verdankt. Kant, der zwar kein Kirchgänger, wohl aber mit der Heiligen Schrift vertraut war, hatte mit einiger Sicherheit, als er dies schrieb, den berühmten, für sein Konzept höchst anstößigen Passus aus dem Römerbrief des Apostels Paulus (Röm 9, 20–21) vor Augen: »O Mensch, wer bist du denn, der du mit Gott streitest? Sage nicht das Gebilde (τὸ πλάσμα) dem Bildner: Was hast du mich so gemacht? Oder hat nicht der Töpfer die Macht über den Ton, um aus derselben Masse ein Gerät sei es zur Ehre, sei es zur Unehre zu machen?«

9. Gott als Gesetzgeber, Regierer und Richter Der Zweck der Schöpfung bestimmt auch das Bild von Gott als heiligem Gesetzgeber, gütigem Regierer und gerechtem Richter. Dabei ist dem Hang des Menschen zu begegnen, »sich die Gottheit wie ein menschliches Oberhaupt zu denken«, mit der für die religiöse Einstellung und Praxis unheilvollen Folge, »in einen anthropomorphistischen Frohnglauben auszuarten«.77 Gottes Gesetzgebung ist demnach weder als «nachsichtlich (indulgent) für die Schwäche der Menschen noch despotisch und bloß nach seinem unbeschränkten Recht gebietend«, seine Gesetze sind »nicht als willkürliche, mit unseren Begriffen der Sittlichkeit gar nicht verwandte, sondern als auf Heiligkeit des Menschen bezogene Gesetze vor[zu]stellen«.78 Gottes Güte besteht nicht »in einem unbedingten Wohlwollen gegen seine Geschöpfe«; sie ist vielmehr an die »moralische Beschaffenheit« der Menschen gebunden, »dadurch sie ihm wohlgefallen können«, wobei sie als entgegenkommende Güte die Anstrengung des Men76 Rel. VI, 143. Vermutlich schwingt bei Kant hier auch der Locke’sche Gedanke mit, dass, wer etwas macht, eben dadurch Eigentümer des Gemachten wird. Den Menschen als Eigentum eines anderen, und sei es eines Gottes zu denken, scheint problematisch zu sein. Im § 28 der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten hat Kant indessen keine Bedenken bei der Anwendung des Schöpfungsbegriffs auf den Menschen, wenn »in moralisch-praktischer, mithin nichtsinnlicher Absicht die reine Kategorie [sc. der Kausalität, M. F.] (ohne ein ihr untergelegtes Schema) im Schöpfungsbegriffe gebraucht wird« (MdS VI, 280 f. Anm.). Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Jakub Sirovátka. 77 Rel. VI, 141 f. 78 Rel. VI, 141.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 289

08.11.2021 16:20:48

290

XI. Kants Gottesbild in der Religionsschrift

schen würdigt »und ihr Unvermögen, dieser Bedingung von selbst Genüge zu tun, nur alsdann ergänzt«.79 Ähnlich ist schließlich Gottes Gerechtigkeit »nicht als gütig und abbittlich« ausgeübt zu denken, aber auch nicht so, dass sie den Menschen mit der Anforderung der Heiligkeit überfordert und eo ipso ins Unrecht setzt, »sondern nur als Einschränkung der Güte auf die Bedingung der Übereinstimmung der Menschen mit dem heiligen Gesetze, soweit sie als Menschenkinder der Anforderung des Letztern gemäß sein könnten«.80 Der christlich-theologische Gedanke einer stellvertretenden »Genugtuung« vor Gott durch das Selbstopfer seines gottmenschlichen Sohnes ist nach Gesichtspunkten der Vernunft schwer nachvollziehbar. Was ein Mensch verantwortlich tut, ist ihm und nur ihm zuzurechnen. »Es kann ihn also, soviel die Vernunft einsieht, kein andrer durch das Übermaß seines Wohlverhaltens und durch sein Verdienst vertreten.«81 Die christliche Erlösungstheologie, so Kant, ist hochspekulativ und »allenfalls bloß für den theoretischen Begriff notwendig; wir können uns die Entsündigung nicht anders begreiflich machen«.82 Inhalt eines den Menschen seligmachenden Glaubens kann sie nicht sein. Und von praktischer Relevanz ist sie auch nicht. Vielmehr können wir, wenn überhaupt, dann »sicher nicht anders hoffen, der Zueignung eines fremden genugtuenden Verdienstes und so der Seligkeit teilhaftig zu werden, als wenn wir uns dazu durch unsere Bestrebung in Befolgung jeder Menschenpflicht qualifizieren«.83 Unverständlich, ja geradezu abwegig erscheint im Rahmen der Vernunftreligion der paulinisch-augustinische (und jansenistische) Gedanke der absoluten und selektiv gewährten Geschenkhaftigkeit des Heils durch einen heiligmachenden Glauben, ein Gedanke, »wo denn alles selbst mit der moralischen Beschaffenheit des Menschen zuletzt auf einen unbedingten Ratschluss Gottes hinausläuft: ›Er erbarmt sich, welches er will, und verstocket, welchen er will‹, welches, nach dem Buchstaben genommen, der salto mortale der menschlichen Vernunft ist«.84 79 Ebd. 80 Ebd. 81 Rel. VI. 143. 82 Rel. VI, 118. 83 Ebd. 84 Rel. VI, 121. Vgl. dazu Fischer, Norbert (Hg.) 2012. Kant macht hier klar, dass ein wörtliches Verständnis dieses biblischen Satzes der Vernunftreligion diametral entgegensteht, dass es aber wohl auch erheblicher kreativer Interpretationsanstrengung bedürfte, diesem Satz einen »vernunftreligiös« noch annehmbaren Sinn abzugewinnen.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 290

08.11.2021 16:20:48

9. Gott als Gesetzgeber, Regierer und Richter

291

Klar ist für die aufgeklärte Vernunftreligion: Die »Beherrschung und Regierung der höchsten Weisheit über vernünftige Wesen verfährt mit ihnen nach dem Prinzip der Freiheit, und was sie Gutes oder Böses treffen soll, das sollen sie sich selbst zuzuschreiben haben«.85 Was wir in moralischer Hinsicht sicher wissen, ist dies, »dass ein jeder so viel, als in seinen Kräften ist, tun müsse, um ein besserer Mensch zu werden«. Und worauf wir, wenn die Welt denn vernünftig geordnet ist, zuversichtlich hoffen dürfen, ist dies, dass, »was nicht in seinem Vermögen ist, […] durch höhere Mitwirkung ergänzt [werde]«.86 Ein vernünftiger Mensch orientiert demnach sein Verhalten am Grundsatz, dass es »nicht wesentlich und also nicht jedermann notwendig [ist], zu wissen, was Gott zu seiner Seligkeit tue, oder getan habe; […] aber wohl, was er selbst zu tun habe, um dieses Beistandes würdig zu werden«.87 Die wahre Vernunftreligion trägt die Überzeugung, dass ein moralisch guter Lebenswandel, dass die Erfüllung der »ethisch-bürgerlichen Menschenpflichten« alles ist, was Gott von uns verlangt,88 und dass Gott als »ein Herzenskündiger«, der »auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden« durchschaut und jedem zukommen lässt, »was seine Taten wert sind«,89 der schuldlosen Unvollkommenheit aufhilft und, was die gemeinschaftliche Bewirkung des höchsten Guts betrifft, »die für sich unzulänglichen Kräfte der Einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt«.90 Übernatürliches mag man »als etwas Unbegreifliches einräumen«, soweit man ihm weder zur Welterklärung noch bezüglich des eigenen Verhaltens Relevanz zuspricht. Doch wir können es »weder zum theoretischen noch praktischen Gebrauch in unsere Maxime aufnehmen«.91 Wer dies gleichwohl tut, verfällt theoretisch oder praktisch dem religiösen Wahn, der, wie Kant klassifizierend feststellt, in Formen der Schwärmerei, des Aberglaubens, des Illuminatismus oder der Thaumaturgie in Erscheinung tritt.92 Als der höchsten die moralischen Gesetze vollziehenden Ursache spricht Kant Gott schließlich auch die Funktion des Richters zu. Er identifiziert diese Funktion mit dem heiligen Geist, »durch welchen die Liebe Gottes als Selig85 Rel. VI, 79. 86 Rel. VI, 52. 87 Ebd. 88 Vgl. Rel. VI, 103; 154 Anm. 89 Rel. VI, 99. 90 Rel. VI, 98 91 Rel. VI, 53. 92 Vgl. Rel. VI, 53.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 291

08.11.2021 16:20:48

292

XI. Kants Gottesbild in der Religionsschrift

machers (eigentlich unsere dieser gemäße Gegenliebe) mit der Gottesfurcht vor ihm als Gesetzgeber […] vereinigt wird«.93 Der »Richter aus Liebe« spricht das »würdig oder nicht-würdig« und sondert die Seinen aus, der »Richter aus Gerechtigkeit« spricht das »schuldig oder unschuldig« und spricht frei oder verdammt.94 Nur »unter der Voraussetzung der gänzlichen Herzensänderung [lässt] sich für den mit Schuld beladenen Menschen vor der himmlischen Gerechtigkeit Lossprechung denken«.95 Der göttliche Gerichtshof ist das Gewissen des Menschen, was gerichtet wird, ist seine Gesinnung, die, insofern sie böse ist, »eine Unendlichkeit von Verletzungen des Gesetzes, mithin der Schuld bei sich führt«96 und die, insofern sie eine Revolution zum Guten vollzieht, als moralische Sinnesänderung jene Schmerzen enthält, »die der neue, gutgesinnte Mensch als von ihm (in anderer Beziehung) verschuldete und als solche Strafen ansehen kann, wodurch der göttlichen Gerechtigkeit ein Genüge geschieht«.97 Im Gewissen weiß sich der Mensch vor einem göttlichen Gericht; der heilige Geist ist »der eigentliche Richter der Menschen (vor ihrem Gewissen)«.98 Doch genaugenommen ist das Gewissen99 ein Selbstverhältnis unserer Vernunft; im Gewissen richtet »die Vernunft sich selbst, ob sie auch wirklich jene [sc. die moralische] Beurteilung der Handlungen mit aller Behutsamkeit (ob sie recht oder unrecht sind) übernommen habe, und stellt den Menschen wider oder für sich selbst zum Zeugen auf, dass dieses geschehen oder nicht geschehen sei«.100

93 Rel. VI, 145 Anm. 94 Rel. VI, 146. Was Kant unter »Verdammung« näherhin verstanden wissen möchte, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen; auf jeden Fall ist damit völliger Glücksverlust gemeint. 95 Rel. VI, 76. 96 Rel. VI, 72. 97 Rel. VI, 73 f. 98 Rel. VI, 145 Anm. 99 Vgl. dazu Di Giulio, Sara; Frigo, Alberto (Hgg.) 2020. 100 Rel. VI, 186.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 292

08.11.2021 16:20:48

XII. Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie »[Der Unterschied der Religion von der Moral] ist bloß formal, d. i. eine Gesetzgebung der Vernunft, um der Moral durch die aus dieser selbst erzeugte Idee von Gott auf den menschlichen Willen zur Erfüllung aller seiner Pflichten Einfluss zu geben. Darum ist sie aber auch nur eine einzige, und es gibt nicht verschiedene Religionen, aber wohl verschiedene Glaubensarten an göttliche Offenbarung und deren statutarische Lehren, die nicht aus der Vernunft entspringen können, d. i. verschiedene Formen der sinnlichen Vorstellungsart des göttlichen Willens, um ihm Einfluss auf die Gemüter zu verschaffen, unter denen das Christentum, soviel wir wissen, die schicklichste Form ist.« Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, AA VII, 36

»Die erhabene, nie völlig erreichbare Idee eines ethischen gemeinen Wesens verkleinert sich sehr unter menschlichen Händen, nämlich zu einer Anstalt, die allenfalls nur die Form desselben rein vorzustellen vermögend, was aber die Mittel betrifft, ein solches Ganze zu errichten, unter Bedingungen der sinnlichen Menschennatur sehr eingeschränkt ist. Wie kann man aber erwarten, dass aus so krummem Holze etwas völlig Gerades gezimmert werde?« Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, 100

1. P  raktische Vernunftbegriffe und mögliche Anschauung Menschliche Erkenntnis entspringt, dies hat Kant gegenüber der rationalistischen Schulphilosophie seiner Zeit mit Nachdruck betont, zwei unterschiedlichen Vermögen, dem Anschauen und dem Denken. Martin Heidegger hat in seiner Option für das Unvordenkliche geglaubt, aus Kants Texten ein Wertungsübergewicht der Anschauung gegenüber der begrifflichen Erfassung ei-

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 293

08.11.2021 16:20:48

294

XII. Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie

nes Gegenstandes herauslesen zu können.1 Nur wenige Kantinterpreten sind ihm in diesem Urteil über den Primat der Anschauung gefolgt. Anschauen und Denken haben im menschlichen Erkennen gleiches Gewicht. Klar ist, dass wir uns nach Kants Theorie im Anschauen direkt auf einen Einzelgegenstand beziehen, im Denken dagegen einen Gegenstand mittelbar zu erfassen versuchen, über ein Merkmal, das »mehreren Dingen gemein sein kann«.2 Klar ist auch, dass Kant menschliches Erkennen von Wirklichem als ein gelungenes Zusammenspiel von Anschauen und Begreifen durch seine Stellung zwischen der schöpferischen Intuition Gottes und der rezeptiven Wahrnehmung des Tieres verständlich macht. Im Unterschied zur als kreativ gedachten Anschauung Gottes3 ist menschliche Anschauung begrenzt, in ihrer Form vorgegeben und ihrem Inhalt nach auf Gegebenes verwiesen. Im Unterschied zur situativen Wahrnehmungsgebundenheit tierischen Erfassens erlaubt dem Menschen das Denken eine distanzierende Verobjektivierung der Situation, die Erfassung von etwas als Fall eines Allgemeinen, die Einordnung eines Gegebenen in einen Gesamtzusammenhang. Als erkennendes Wesen steht der Mensch (metaphysisch gesehen) zwischen Tier und Gott. Im Denken sind wir frei; wir können mit Vorstellungen beliebig spielen.4 Doch um denkend etwas zu erkennen, sind wir auf unsere Anschauung verwiesen. Ein Begriff als Leistung unseres Denkens hat nur dann objektive Realität, wenn er auf eine uns mögliche Anschauungsgegebenheit bezogen ist.5 Ein von der Bindung an die Anschauung sich lösendes Denken lässt den Bezug zur Wirklichkeit hinter sich und verliert sich im bloßen Spiel der Vorstellungen. Gleichwohl löst sich unser Denken von der Bindung an Anschauung, auch ohne mit seinen Vorstellungen bloß zu spielen. Wir bilden Begriffe, mit denen 1 Im Ausgang von der Stelle KrV A 19/B 33: »Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, es ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselben unmittelbar bezieht und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung.« Vgl. Heidegger, Martin 1950. 2 KrV A 320/B 376 f. 3 Sie bringt das Einzelne ebenso wie das Ganze im Akt des Anschauens kreativ hervor (zum intuitus originarius vgl. KrV B 72; 139; 145). 4 Vgl. KrV A 155/B 194. 5 Ebd.: »Wenn eine Erkenntnis objektive Realität haben, d. i. sich auf einen Gegenstand beziehen und in demselben Bedeutung und Sinn haben soll, so muss der Gegenstand auf irgendeine Art gegeben werden können. Ohne das sind die Begriffe leer, und man hat dadurch zwar gedacht, in der Tat aber durch dieses Denken nicht erkannt, sondern bloß mit Vorstellungen gespielt.«

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 294

08.11.2021 16:20:48

1. Praktische Vernunftbegriffe und mögliche Anschauung

295

wir den Bereich möglicher Anschauungsgegebenheit verlassen, Begriffe, die gleichwohl nicht frei erdichtet oder als leere Hirngespinste zu bezeichnen sind. Es sind dies einerseits reine theoretische Vernunftbegriffe, die auf »die Vollständigkeit, d. i. kollektive Einheit der ganzen möglichen Erfahrung, und dadurch über jede gegebene Erfahrung hinaus[gehen]«.6 Sie haben, so Kant, eine sinnvolle, ja unverzichtbare epistemische Funktion: Sie brechen die Anmaßung unseres Verstandes, seine Welt verstandener Anschauungen zu verabsolutieren. Sie treiben ferner die empirische Forschung nach einem Prinzip unerreichbarer Vollständigkeit dauerhaft voran.7 Es sind dies andererseits reine praktische Vernunftbegriffe, mit denen wir uns, im Gegenzug zu der uns zugänglichen und verständlichen Erfahrungswelt, eine ganz eigene Ordnung nach Ideen bilden, die Ideen einer moralischen Welt,8 die als Vernunftprinzipien unser Verhalten in der Erfahrungswelt leiten sollen. Nun haben diese reinen praktischen Vernunftbegriffe in ihrem Verhältnis zur möglichen Anschauung einen eigenartigen Status: Als ideative und normative Ideen greifen sie über den Bereich möglicher Erfahrung hinaus. Andererseits langen sie in unsere Erfahrungswelt hinein, indem sie auch, zwar nicht in theoretischer, wohl aber in praktischer Absicht »Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung [enthalten], nämlich solcher Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten«.9 Praktische Vernunftbegriffe müssen einen (für das moralitätsfähige Subjekt in gewisser Weise auch theoretisch relevanten) Bezug zu möglicher Anschauung beinhalten, wenn wir mit ihnen Gegebenheiten in der Erfahrungswelt sollen erfassen können, die dem entsprechen, was sie uns erfahrungsunabhängig in der Welt der Erfahrung zu verwirklichen gebieten. Der vernünftige Gebrauch der Verstandesbegriffe ist erfahrungs- bzw. anschauungsimmanent. Einem Verstandesbegriff muss, wie Kant sich ausdrückt, eine korrespondierende Anschauung unterlegt bzw. der ihm korrespondierende Gegenstand jederzeit in der Anschauung gegeben werden können, damit er objektive Realität besitzt und zu Erkenntnissen über die Wirklichkeit führen

6 7 8 9

Prolegomena § 40 AA IV, 328. Vgl. KdU Vorrede, V, 167 f. KrV A 548/B 576. KrV A 807/B 835.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 295

08.11.2021 16:20:48

296

XII. Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie

kann.10 Der Gebrauch der Ideen, der Vernunftbegriffe ist in gewisser Weise anschauungs- bzw. erfahrungstranszendent. Dies besagt, eine Idee ist eine Vorstellung, die keine Entsprechung bzw. keine vollständige oder adäquate Entsprechung in einer Anschauungsgegebenheit hat und haben kann. An einer Vernunftidee, so Kant, erreicht »die Einbildungskraft mit ihren Anschauungen den gegebenen Begriff nicht«.11 Die Nichtentsprechung des Gegenstandes, den der Vernunftbegriff vorstellt, in einer uns möglichen Anschauung, kann sich auf die Art des Gegenstandes oder den Grad des Gegenstandes beziehen.12 Für die erste Möglichkeit führt Kant als Beispiel den Begriff der Freiheit, für die zweite den Begriff der Tugend an. Dies besagt wohl: Das mit »Freiheit« Gemeinte hat der Art nach keine Entsprechung in Gegebenheiten im Rahmen der Anschauungsformen von Raum und Zeit. Das mit »Tugend« Gemeinte ist ein nichtgraduierbares Optimum, von dem wir in der Erfahrung immer nur ein Mehr oder Weniger feststellen können. Begriffe bedürfen der entsprechenden Anschauung, um ihnen objektive Rea­ lität, doch Begriffe bedürfen bereits der Anschauung, um ihnen auch nur im bestimmten Maße Fasslichkeit und Verständlichkeit zu verleihen. Und dies ist für das Folgende von besonderer Bedeutung.

2. D  ie verschiedenen Weisen der Veranschaulichung von Begriffen Kant unterscheidet in der Kritik der Urteilskraft (§ 59) eine dreifache Weise der Veranschaulichung von Begriffen: die exemplarische, die schematische und die symbolische. Die ersten beiden sind direkte, die letzte ist eine indirekte Form der Veranschaulichung eines Begriffs. Über ein Beispiel erfolgt sie, so Kant, wenn es sich um einen empirischen Begriff handelt.13 Ein Schema sei die einem reinen Verstandesbegriff (einer Kategorie) entsprechende nichtempirische Anschauungsform. Die symbolische Veranschaulichung sei den Vernunftbegriffen reserviert, denen keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann. Die 10 Vgl. KdU § 57 Anm. I, V, 342. 11 KdU § 57 Anm. I, V, 343. 12 Vgl. ebd. 13 Kant spricht hier auch vom Demonstrieren im Sinne des bloßen Darstellens eines Begriffs (KdU § 57, Anm. I, V, 342).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 296

08.11.2021 16:20:48

2. Die verschiedenen Weisen der Veranschaulichung von Begriffen

297

symbolische arbeite mit dem Verfahren der Analogie. In ihr verrichte die Urteilskraft ein doppeltes Geschäft: »erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung, und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden«.14 Die symbolische Veranschaulichung spielt auf der theoretischen und der praktischen Ebene des Vernunftgebrauchs eine je eigene, besondere Rolle, je nachdem, ob sich das Symbol theoretisch auf einen intelligiblen Gegenstand bezieht, der menschlicher Erkenntnis prinzipiell verschlossen ist, oder theoretisch und praktisch auf einen intelligiblen Gegenstand, den es in unserer Erfahrungswelt zu verwirklichen gilt. Für die Fasslichkeit theoretischer Vernunftbegriffe (etwa des Gottesbegriffs), deren Gegenstand sich der Art nach jeder direkten Darstellung in Raum und Zeit entzieht, die für unser praktisches Selbstverständnis gleichwohl unverzichtbar sind, ist die symbolische Veranschaulichung in ihrer Besonderheit von erheblichem Gewicht. Es ist etwas anderes und hat eine andere Funktion, sich die praktische Vernunftidee eines Staates, und etwas anderes, sich die theoretische Idee Gottes in praktischer Absicht symbolisch zu veranschaulichen. Kants im § 59 der KdU gegebene Gliederung der Veranschaulichung von Begriffen ist nicht vollständig und bedarf für das Folgende auch (im Sinne Kants) der Ergänzung. So können nicht nur empirische, sondern auch nichtempirische Begriffe über Beispiele, durch den Verweis auf Gegebenes, veranschaulicht werden, etwa ein geometrischer Begriff anhand einer Zeichnung oder ein moralischer Begriff anhand einer historischen Person. Allerdings kann hier empirisch Gegebenes dem nichtempirischen Begriff dem Grade nach niemals vollständig entsprechen bzw. es kann nicht festgestellt werden, dass es ihm vollständig entspricht. Und neben nichtempirischen Anschauungsformen reiner Verstandesbegriffe bildet unsere Einbildungskraft natürlich auch Schemata empirischer Begriffe (etwa das Schema eines Hundes), mit denen wir 14 KdU § 59, V, 352: Was mit der »bloße[n] Regel der Reflexion« und mit »Symbol« gemeint ist, verdeutlicht im Beispiel der Fortgang des Zitats: »So wird ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird, in beiden Fällen aber nur symbolisch vorgestellt. Denn zwischen einem despotischen Staate und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen den Regeln, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren. Dies Geschäft ist bis jetzt noch wenig auseinandergesetzt worden, so sehr es auch eine tiefere Untersuchung verdient.«

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 297

08.11.2021 16:20:48

298

XII. Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie

aufgrund wiederholter empirischer Anschauung Gleichartiges skizzenhaft und monogrammartig anschaulich zusammenfassen und antizipieren. Nicht nur, aber vor allem für praktische Vernunftbegriffe ist eine Form der Veranschaulichung wichtig, die Kant Idealbildung nennt. Unter einem Ideal versteht er eine Idee, »nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d. i. als ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares, oder gar bestimmtes Ding«.15 Das Ideal ist die fiktive Konkretisierung und Individuierung eines Abstraktums, näherhin die Vorstellung eines Einzelgegenstands, der ein Prädikat oder ein Bündel von Prädikaten im Status der Vollkommenheit besitzt und als maßgebendes Urbild aller Nachbildung in der Erscheinung fungiert.16 Wir arbeiten im Bereich des Moralischen mit Idealen, das heißt dort, wo die reine Vernunft durch ideative Begriffe das Richtmaß unseres Handelns in der Erscheinung setzt.17 So ist etwa die Figur des stoischen Weisen ein Ideal, ein Mensch bloß in Gedanken, »der mit der Idee der Weisheit völlig kongruiert«, in der Funktion eines Urbildes zur durchgängigen Bestimmung des Nachbildes.18 Eine derartige, abstrakte Tugendbegriffe individuierende und personifizierende Idealbildung ist, Kant betont es mit Nachdruck, für die menschliche Praxis »ein unentbehrliches Richtmaß der Vernunft«,19 »womit wir uns vergleichen, beurteilen, und dadurch uns bessern, obgleich es niemals erreichen können«.20 Die Idealbildung dient der Veranschaulichung eines Vernunftbegriffs. Kant lässt es in der KrV offen, ob überhaupt und welche Form von Anschaulichkeit ein

15 KrV A 568/B 596. 16 Kant erinnert explizit an Platons bzw. an das (durch Augustinus umgeprägte) platonische Verständnis von Idee, natürlich ohne dessen Gedanken der Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung für den Menschen zu übernehmen: »Was uns ein Ideal ist, war dem Plato eine Idee des göttlichen Verstandes, ein einzelner Gegenstand der reinen Anschauung desselben, das Vollkommenste einer jeden Art möglicher Wesen und der Urgrund aller Nachbilder in der Erscheinung« (KrV A 568/B 596). 17 Moralische Ideale unterscheiden sich von ästhetisch-künstlerischen Idealen darin, dass sie auf bestimmten Begriffen beruhen und bestimmte Regeln der Beurteilung und Befolgung hergeben, während sich über den ästhetischen »Geschöpfen der Einbildungskraft niemand erklären und einen verständlichen Begriff geben kann«, so dass sie auch »keine der Erklärung und Prüfung fähige Regel abgeben« (KrV A 570/B 598 f.). Technische Ideale gleichen in vielem den moralischen, unterscheiden sich jedoch von letzteren wesentlich darin, dass ihre Nachbildung in der Erscheinung eindeutiger beurteilbar ist. Zum Ganzen vgl. Kulenkampff, Jens 1978. 18 KrV A 569/B 597. 19 Ebd. 20 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 298

08.11.2021 16:20:48

2. Die verschiedenen Weisen der Veranschaulichung von Begriffen

299

moralisches Ideal über die bloße, noch allemal abstrakte Personifizierung moralischer Vollkommenheitsprädikate hinaus zulässt. Er warnt ganz eindeutig vor fiktionaler Ausgestaltung, vor einer weiteren Konkretisierung des Ideals durch die produktive Einbildungskraft. Er warnt davor, moralischen Idealen literarisch in Romanen konkrete Gestalt und Geschichte zu geben, da dadurch »das Gute, das in der Idee liegt, selbst verdächtig und einer bloßen Erdichtung ähnlich [gemacht]« würde.21 Rein Fiktionales, Romanhaftes, so Kants Argument, wird für die Praxis von mündigen Menschen nicht ernst genommen und desavouiert die praktisch-objektive Realität der Idee. Kant sagt in der KrV nichts zur Möglichkeit eines historischen Beispiels menschlicher Vollkommenheit.22 Der eben zitierte Passus legt als kantischen Gedanken nahe, dass wir ­Ideale zur Orientierung, zur Beurteilung und Nachahmung brauchen, dass wir sie aber niemals erreichen, das heißt durch die eigene Lebensführung in unserer Erfahrungswelt adäquat exemplifizieren können. Die KdU spricht, wie gesagt, von der Tugend als einem dem Grade nach indemonstrablen Begriff.23 Damit dürfte in erster Linie gemeint sein, dass wir dem Ideal in der menschlichen Praxis nicht vollkommen gerecht werden können, und nicht, oder erst in zweiter Linie, dass wir, selbst wenn ein Mensch dieses Ideal vollkommen erfüllte, dies (in der Sphäre der Erscheinung) nicht abschließend erkennen und beurteilen könnten. Andererseits fordert praktische Vernunft von uns den Einsatz all unserer Kräfte mit dem Ziel einer vollkommenen Verwirklichung von Moralität. Der Sinn dieser Forderung verlangt das Bestehen der grundsätzlichen Möglichkeit des Gegebenseins eines vollkommenen Menschen und der vollkommenen menschlichen Gemeinschaft in der Erfahrung. Wie passt das zusammen? In diese systematische Problemstelle rückt Kants Religionsphilosophie ein, und zwar mit zwei bekannten, doch auf ihre systematische Rolle hin wenig untersuchten Lehrstücken, mit der Lehre vom »Heiligen des Evangelii« als historischem Beispiel des Ideals moralischer Vollkommenheit des Menschen und 21 KrV A 570/B 598. Mag sein, dass er hier (auch) an die lange Tradition von phantastischen christlichen Heiligenlegenden denkt, wie sie etwa in der verbreiteten mittelalterlichen Legenda aurea des Jacobus de Voragine vorlagen. 22 Wir wissen, dass die großen stoischen Schulhäupter es vermieden haben, sich selbst als Weise zu bezeichnen. Allerdings neigten sie wohl dazu, ihr Ideal im Leben des Sokrates historisch annähernd verwirklicht zu sehen. Die Debatte der neuzeitlichen Aufklärung um das wahre Weisheitsideal konzentrierte sich auf die Alternative Sokrates versus Jesus. 23 KdU § 57, Anm. I, V, 343.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 299

08.11.2021 16:20:48

300

XII. Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie

mit der Lehre von der wahren sichtbaren Kirche als erfahrbarer Repräsentantin des Ideals der unsichtbaren Kirche. Und beide Lehrstücke enthalten, wie sich zeigen lässt, erhebliches argumentatives religionsphilosophisches Aufklärungspotential für kontroverse, politisch durchaus brisante Positionen und Debatten in der Gegenwart.

3. D  as Ideal moralischer Vollkommenheit des Menschen Ich komme zunächst zum ersten Lehrstück. Kants zweites Kapitel der Religionsschrift handelt »Von dem Kampf des guten Prinzips mit dem bösen um die Herrschaft über den Menschen«. Im ersten Abschnitt ist von der »personifizierten Idee des guten Prinzips« die Rede, zunächst abstrakt, dann konkret. Kant arbeitet mit der platonischen Figur von Urbild und Abbild. Ausgangspunkt der Reflexion ist der Gedanke der Weltschöpfung, und dies im Rahmen des kantischen Gesamtprojekts, den Sinn (unseres Verständnisses) des Ganzen der Wirklichkeit vom moralischen Selbstverständnis des Menschen aus zu rekonstruieren. Dabei wird die Postulatenlehre der KpV von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit in der Religionsschrift als argumentativ gesichert vorausgesetzt. Was (nach Gesichtspunkten reiner Vernunft) Gott allein zur Erschaffung einer Welt bewegen und deshalb der Zweck der Schöpfung sein kann, ist die Verwirklichung des höchsten Guts (außerhalb seiner selbst).24 Und dies kann nichts anderes sein als »die Menschheit (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit, wovon als oberster Bedingung die Glückseligkeit die unmittelbare Folge in dem Willen des höchsten Wesens ist«.25 Alles andere ist, wie es ist und geschieht, so zu denken, dass es auf dieses Ziel hingeordnet ist. Kant rekonstruiert nun das Ideal der moralischen Vollkommenheit im Sinne eines Urbilds, das das Verhältnis Gottes zu seiner Schöpfung ebenso wie das menschliche Bemühen um praktische Vernunft leitet, und zwar in engem 24 Hier wirkt zweifellos bei Kant die alte scholastische Lehre nach, dass Gott bzw. das Gute überfließt und sich mitzuteilen tendiert (bonum est diffusivum sui). 25 Rel. VI, 60.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 300

08.11.2021 16:20:48

3. Das Ideal moralischer Vollkommenheit des Menschen

301

Anschluss an den vom (Mittel-)Platonismus und seiner Logosspekulation geprägten Prolog des Johannesevangeliums. Den Kern der Rekonstruktion bildet die Identifikation des Ideals moralischer Vollkommenheit mit dem göttlichen Wort und Sohn. Die Rekonstruktion erfolgt nach zwei leitenden Gesichtspunkten, die der christlich-theologischen Tradition als Grunddogmen vertraut sind. Sie betreffen die beiden zentralen johanneischen Gedanken, dass das Wort (der Logos) bei Gott ist, als sein von Ewigkeit erzeugter Sohn, und dass das Wort Fleisch geworden ist, dass es die Menschennatur angenommen hat, um uns zum Heil zu führen. Die kantische Rekonstruktion stellt eine radikale Säkularisierung dieser christlichen Dogmen dar. Für Kants personalistische Vernunftmetaphysik ist erstens wesentlich, dass der Mensch in seiner Bestimmung als vernünftiges Weltwesen sich von allem bloß Dinghaften und Gemachten unterscheidet und Verwandtschaft mit dem Göttlichen bekundet; deshalb die (symbolische) Kennzeichnung des göttlichen Urbilds als ›eingeborenen Sohn‹: »Dieser allein Gott wohlgefällige Mensch ›ist in ihm von Ewigkeit her‹; die Idee desselben geht von seinem Wesen aus; er ist sofern kein erschaffenes Ding, sondern sein eingeborner Sohn; ›das Wort (das Werde!), durch welches alle andre Dinge sind, und ohne das nichts existiert, was gemacht ist‹«.26

Für Kants Anthropologie ist zweitens wesentlich, dass das Ideal der moralischen Vollkommenheit in uns ist, dass es uns als Ideal unserer eigenen Vernunft einerseits kategorisch verpflichtet, dass aber andererseits auf der Basis der Erfahrung, die wir generell mit den Verhaltenstendenzen des Menschen unter Menschen machen, nicht verständlich wird, wie der Mensch von sich aus dazu kommt, sich ein solches Ideal zur verpflichtenden Nachahmung vorzulegen. Er ist, wie das erste Kapitel der Religionsschrift zu erläutern versucht, als Mensch unter Menschen mit einem unausrottbaren Hang zum Bösen, zur Verabsolutierung seines sinnlich-empirischen Daseins versehen, den er selbst zu verantworten hat und sich zurechnen muss. So gesehen ist nicht zu begreifen, wie die menschliche Natur für die Idee der moralischen Vollkommenheit »auch nur habe empfänglich sein können«,27 geschweige denn sie sich selbst habe vorge26 Ebd. 27 Rel. VI, 61.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 301

08.11.2021 16:20:48

302

XII. Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie

ben können. Deshalb, so Kant, ist es sinnvoll, sich (symbolisch) die uns selbst kategorisch verpflichtende Idealbildung als von Gott ausgehend, in Begriffen der Herabkunft des Urbilds vom Himmel, der Annahme der Menschheit, der »Fleischwerdung« und Selbsterniedrigung des Sohnes Gottes verständlich zu machen. Und das Ideal moralischer Vollkommenheit kann drittens unter Bedingungen des Menschseins nur als gute Gesinnung und völlig untadelige Bewährung unter wenn auch noch so bedrängenden Anfechtungen empirischer Selbstliebe gedacht werden, als vollendete »Tugend im Kampfe«: »Das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit (mithin einer moralischen Vollkommenheit, so wie sie an einem von Bedürfnissen und Neigungen abhängigen Weltwesen möglich ist) können wir uns nicht anders denken, als unter der Idee eines Menschen, der nicht allein alle Menschenpflicht selbst auszuüben, zugleich auch durch Lehre und Beispiel das Gute in größtmöglichem Umfange um sich auszubreiten, sondern auch, obgleich durch die größten Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum schmählichsten Tode um des Weltbesten willen und selbst für seine Feinde zu übernehmen bereitwillig wäre. – Denn der Mensch kann sich keinen Begriff von dem Grade und der Stärke einer Kraft, dergleichen die einer moralischen Gesinnung ist, machen, als wenn er sie mit Hindernissen ringend und unter den größtmöglichen Anfechtungen dennoch überwindend sich vorstellt.«28

Der Mensch weiß sich einerseits der Idee moralischer Vollkommenheit verpflichtet. Er weiß sich andererseits mit einem unausrottbaren, selbst zu verantwortenden Hang zum Bösen versehen. Er weiß, dass er so gesehen niemals völlig schuldfrei wird und deshalb des Ideals der Heiligkeit eigentlich unwürdig ist. Die Brücke zwischen diesen divergierenden Erkenntnissen stellt ein praktischer Glaube dar, die Hoffnung und Zuversicht, durch eine Revolution der Gesinnung den Hang zum Bösen zu besiegen und im Sinne des Urbilds in kontinuierlicher zeitlicher Praxis den Kampf mit den Anfechtungen der Selbstliebe ohne Schwäche und Rückfall (und mit Gottes entgegenkommender Hilfe) untadelig bestehen zu können.29 28 Ebd. 29 Rel. VI, 61 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 302

08.11.2021 16:20:48

3. Das Ideal moralischer Vollkommenheit des Menschen

303

Was die objektive Realität dieser praktischen Idee betrifft, so steht und fällt sie mit der Vernunft der Moralität.30 Wer sich zu ihr absolut verpflichtet weiß, weiß auch, dass es ihm grundsätzlich möglich sein muss, ihrem Anspruch zu entsprechen. Wäre dies nicht möglich, machte auch ihr kategorischer Anspruch keinen Sinn. Man muss also nicht in Geschichte und Gegenwart nach einem Menschen suchen, der durch sein Leben demonstriert, dass das Ideal moralischer Vollkommenheit im genannten Sinn nicht eine Chimäre, sondern etwas vom Menschen in der Zeit Realisierbares darstellt. Das Ideal, das wir uns symbolisch über die genannten Theologumena fasslich machen, ist eine Vorgabe unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft. »Es bedarf also keines Beispiels der Erfahrung, um die Idee eines Gott moralisch wohlgefälligen Menschen für uns zum Vorbilde zu machen; sie liegt als ein solches schon in unsrer Vernunft.«31 Doch andererseits gilt: Wenn praktische Vernunft von uns verlangt, uns in der Praxis unseres zeitlichen Lebens als moralisch untadelig zu erweisen, dann »muss auch eine Erfahrung möglich sein, in der das Beispiel von einem solchen Menschen gegeben werde (soweit als man von einer äußeren Erfahrung überhaupt Beweistümer der innern sittlichen Gesinnung erwarten und verlangen kann)«.32 Man sollte also nicht Romane zur Konkretisierung des moralischen Ideals schreiben, man kann aber sehr wohl in der Geschichte nach Menschen suchen, die dem moralischen Ideal des Menschseins entsprechen. Die diesbezügliche Kontroverse der Zeit um die historische Exemplifizierung des Ideals vollkommenen Menschseins bezog sich auf die Alternative »Sokrates oder Jesus«. Kant sieht (mit Rousseau und gegen die »Enzyklopädisten«) nun im Jesus der Evangelien einen Menschen, von dem, wie er meint, die Historie, oder jedenfalls die allgemeine, nicht mit guten Gründen bezweifel­bare Meinung sagt, dass er »durch Lehre, Lebenswandel und Leiden das Beispiel eines Gott wohlgefälligen Menschen an sich gegeben […] [und] durch alles dieses ein unabsehlich großes moralisches Gute in der Welt durch eine Revolution im Menschengeschlecht hervorgebracht« habe.33 Wir beurteilen die historische Person Jesus so, indem wir das Bild, das die Zeugnisse von seinem zeitlichen Dasein zeichnen, am Ideal des gottgefälligen Menschen in uns messen.

30 Bzw. dem Ineinsfall von praktischer Vernunft und Moralität. 31 Rel. VI, 62. 32 Rel. VI, 63. 33 Ebd.; vgl. Rel. VI, 158.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 303

08.11.2021 16:20:48

304

XII. Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie

Kant diskutiert in diesem Zusammenhang die Frage, ob es Sinn macht, dem Menschen Jesus übernatürliche Attribute, wie etwa ein übernatürliches Erzeugtsein, und mit diesem Attribut eine »angeborne unveränderliche Reinigkeit des Willens« zuzusprechen.34 Er lehnt dies aus praktischen Gründen ab, weil damit der historische Jesus seiner Funktion eines »Beispiels der Nachahmung« für uns verlustig ginge.35 Es »würde die Erhebung eines solchen Heiligen über alle Gebrechlichkeit der menschlichen Natur der praktischen Anwendung der Idee desselben auf unsere Nachfolge nach allem, was wir einzusehen vermögen, eher im Wege sein«.36 Gebrechlichkeit stellt für Kant im ersten Teil der Religionsschrift im Unterschied zur Unlauterkeit und Bösartigkeit die mildeste Form des bösen Herzens dar. Er bestimmt sie dort als »die Schwäche des menschlichen Herzens in Befolgung genommener Maximen überhaupt«.37 In einer Anmerkung zur zweiten Auflage scheint Kant im zweiten Teil über diese Frage etwas anders zu sprechen: »Eine vom angebornen Hang zum Bösen freie Person so als möglich sich zu denken, dass man sie von einer jungfräulichen Mutter gebären lässt, ist eine Idee der sich zu einem schwer zu erklärenden und doch auch nicht abzuleugnenden, gleichsam moralischen Instinkt bequemenden Vernunft.« Gleichwohl möchte er diese theoretisch schwierige, in praktischer Hinsicht sinnvolle Idee auch jetzt lediglich »als Symbol der sich selbst über die Versuchung zum Bösen erhebenden (diesem siegreich widerstehenden) Menschheit uns zum Muster« vorgestellt wissen.38 Die beiden prima facie inkonsistenten Passagen scheinen mir nur dann miteinander vereinbar zu sein, wenn Kant in ihnen von »Gebrechlichkeit« in unterschiedlicher Bedeutung spricht: einmal (in Bezug auf Jesus) von Gebrechlichkeit im Sinn einer bloß möglichen Schwäche, die die Versuchung sinnvoll und ihr Bestehen im menschlichen Sinn tugendhaft macht; zum anderen (in Bezug auf uns »normale« Menschen) von »Gebrechlichkeit« im Sinne eines uns zugezogenen Hangs zur Schwäche, der das bereits Schwachgewordensein voraussetzt. Ob man also die Gebrechlichkeit zur unverdorbenen, aber verführbaren menschlichen Natur oder zum selbstverschuldeten bösen Hang der 34 Rel. VI, 64. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Rel. VI, 29. 38 Rel. VI, 80 Anm.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 304

08.11.2021 16:20:48

3. Das Ideal moralischer Vollkommenheit des Menschen

305

menschlichen Natur rechnet – Kant plädiert jedenfalls dafür, den historischen Jesus, wenn er denn ein passendes Beispiel der Nachahmung sein soll, so zu denken, dass auch er (wie alle Menschen) gegen die Möglichkeit anzukämpfen hatte, im konkreten Handeln einer guten Maxime untreu zu werden. Die Behandlung und Beantwortung dieses Problems hat grundsätzliche Bedeutung für die Frage nach dem Erfordernis und der Angemessenheit der Versinnlichung von Übersinnlichem. Kants reiner Vernunftglaube beinhaltet theoretische Annahmen in praktischer Absicht: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit und, wie wir sahen, auch die Idee der vollkommenen Menschheit als Gottes Sohn. Kant weiß um die Beschränktheit der menschlichen Vernunft, die nicht anders kann, als sich übersinnliche Prädikate (symbolisch) nur über eine Analogie mit Naturwesen, als sich ideal-moralische Prädikate nicht anders als auf menschliche Weise vorzustellen.39 Er spricht hier vom »Schematismus der Analogie«. Und Schematisieren heißt hier nichts weiter als einen Begriff des Übersinnlichen »durch Analogie mit etwas Sinnlichem fasslich machen«.40 Derartiges Schematisieren über Analogien aus dem Bereich unserer Erfahrungswelt ist für unsere theoretische Rede vom Göttlichen in praktischer Absicht unverzichtbar. Die Rede bleibt inadäquat und gleichwohl gültig. Kriterien ihrer Korrektheit sind theoretische Stimmigkeit und moralisch-praktische Eignung. Ein Grundfehler wäre es indessen, die Analogie nicht zu reflektieren, das Schema direkt und nicht als bloßen Vergleich, als bloßes Bild, als Metapher zu verstehen; oder aus dem Umstand, dass wir subjektiv zur Fasslichkeit eines auf Übersinnliches bezogenen Begriffs für unser Denken eines Schemas (der Analogie) bedürfen, zu schließen, dass dieses Schema auch dem Gegenstand selbst als Prädikat zukommen müsse. Den Schematismus der Analogie, so Kant, »in einen Schematism der Objektbestimmung (zur Erweiterung unserer Erkenntnis) zu verwandeln, ist Anthropomorphism, der in moralischer Absicht (in der Religion) von den nachteiligsten Folgen ist«.41 Kant gibt in einer bedeutsamen Fußnote, der dieses Zitat entnommen ist, zwei Beispiele für einen Schematismus der Analogie, deren Reflexionsform allerdings der Verdeutlichung bedarf, um ihr Aufklärungspotential sichtbar zu machen. Im Rahmen der Religion, das heißt der Betrachtung unserer Pflich39 Vgl. Rel. VI, 64 f. Anm. 40 Rel. VI, 65. 41 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 305

08.11.2021 16:20:48

306

XII. Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie

ten gegenüber den Menschen als göttlicher Gebote, ist es unter dem Gesichtspunkt der Verpflichtung zu eigenem moralischem Tun und der Bestärkung in diesem Tun unerlässlich, sich ein Bild von der unermesslichen Liebe Gottes zu machen. Das Johannesevangelium verwendet zur Veranschaulichung des Begriffs dieser unermesslichen göttlichen Liebe als Schema der Analogie das Bild vom Vater, der seinen einzigen Sohn zur Rettung von Personen hingibt, von Personen, die nicht einmal die Gewähr bieten, sich ihrerseits gut und dankbar zu verhalten. Die direkte Verwendung dieses Schemas zur Erweiterung unserer Erkenntnis von Gott (wie sie de facto bei Unaufgeklärten nicht selten geschieht) würde zu theoretisch absurden und moralisch abwegigen Konsequenzen führen. Können wir uns doch »durch die Vernunft keinen Begriff davon machen, wie ein allgenugsames Wesen etwas von dem, was zu seiner Seligkeit gehört, aufopfern und sich seines Besitzes berauben könne«,42 ganz zu schweigen von Aspekten väterlicher Grausamkeit, die eine direkte Verwendung des Bildes als Vorbild für unser Handeln hätte. Ähnliches gilt für das zweite Beispiel. Wir schätzen unsere Freiheit zum Guten wie zum Schlechten trotz unseres Hangs zum Bösen höher als das unschuldige, durch seine Natur geleitete Streben des Tieres. Ja, wir machen uns den immensen Wert unserer sich im Kampf bewährenden Freiheit fasslich, indem wir den Vergleich mit dem unschuldigen Tier auf die unschuldigen Engel im Himmel übertragen. Nicht zur objektiven Bestimmung der hierarchischen Stufe der Engel, wohl aber zur subjektiven Bestärkung im Kampf mit dem Bösen macht der Schematismus der Analogie hier guten Sinn: »So legt ein philosophischer Dichter dem Menschen, sofern er einen Hang zum Bösen in sich zu bekämpfen hat, selbst darum, wenn er ihn nur zu überwältigen weiß, einen höheren Rang auf der moralischen Stufenleiter der Wesen bei, als selbst den Himmelsbewohnern, die vermöge der Heiligkeit ihrer Natur über alle mögliche Verleitung weggesetzt sind. (Die Welt mit ihren Mängeln – ist besser als ein Reich von willenlosen Engeln. Haller).«43

42 Ebd. 43 Ebd. Kant hielt den Schweizer Arzt, Naturforscher und Poeten Albrecht von Haller (1708– 1777) für einen der größten Dichter seiner Zeit.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 306

08.11.2021 16:20:48

4. Die Lehre von der wahren sichtbaren Kirche

307

4. Die Lehre von der wahren sichtbaren Kirche Ich komme zum zweiten Lehrstück. Kants Anthropologie geht davon aus, dass der Mensch von Natur mit einer Anlage zum Guten ebenso wie mit einem (als selbstverschuldet zu beurteilenden) Hang zum Bösen versehen ist.44 Sie unterstellt ferner, dass der Mensch, aufgrund dieses Hangs und als Mensch unter Menschen, von Natur der kaum zu bestehenden Gefahr des Verderbens seiner moralischen Anlage ausgesetzt ist. Der Einzelne unter vielen braucht einen politisch-bürgerlichen Rechtszustand, um angesichts der Gefahr eines Kampfes aller gegen alle rechtlichen Halt und Schutz zu gewinnen.45 Die Idee des Rechts wird ergänzt und vollendet durch die Idee der Moralität. Wie einer Rechtsgemeinschaft, so bedarf der Einzelne auch einer Tugendgemeinschaft, einer moralisch-bürgerlichen Gemeinschaft, um sich in ihrem integrierenden, haltgebenden und schützenden Rahmen als moralisches Wesen zu entwickeln und zu erhalten. Zwar kann man die Position der Moralität nur selbst beziehen, aber niemand hat die Chance, sie im Leben auch nur annähernd zu verwirklichen, wenn er nicht von einer in moralischen Dingen einmütigen, erfahrbaren, in ihren Tugendvorstellungen öffentlichen Gemeinschaft getragen ist. Und für die Verwirklichung des höchsten Guts auf Erden kann man nicht erfolgreich als isoliertes Wesen arbeiten. Die Verwirklichung von Moralität und moralisch akzeptablen Zuständen ist für Kant ganz wesentlich eine Gemeinschaftsaufgabe. Ein derartiges öffentlich-moralisches Gemeinwesen nennt er, im Unterschied zu einem politisch-bürgerlichen Gemeinwesen, eine Kirche. Unter Kirche versteht Kant ein »ethisches gemeines Wesen unter der göttlichen moralischen Gesetzgebung«.46 Eine Kirche dient (unter Menschen unverzichtbar) der Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Gutes: der moralischen Vervollkommnung der Menschen, das heißt ihrer Würdigkeit, glücklich zu sein, und der Entsprechung von Würdigkeit und Glückseligkeit im Leben. Die Errichtung und Ausbreitung einer Kirche ist ein Gebot der Vernunft: Wie den rechtlichen, so gilt es auch den moralischen Naturzustand zu verlassen.47 Gleichwohl unterscheidet sich das Gebot in rechtlicher von dem in 44 Vgl. Rel. VI, 19–53. 45 Vgl. MdS, Rechtslehre § 44, VI, 312 f. 46 Rel. VI, 101. 47 Vgl. Rel. VI, 94.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 307

08.11.2021 16:20:48

308

XII. Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie

moralischer Hinsicht. Die Verwirklichung der Rechtsidee geschieht auf Erden sinnvollerweise im Plural, in Form vieler einzelner Staaten und (nicht der Auflösung, sondern) der Föderation der Einzelstaaten zu einer weltumspannenden Rechtsgemeinschaft.48 Einen Staat im Sinne eines Rechtszustandes kann eine partikulare Gruppe von Menschen realisieren. Die Idee der Moralität beansprucht und verbindet alle Menschen dagegen in gleicher und unmittelbarer Weise. Entsprechend impliziert die Idee einer (wahren) Kirche ihrem Wesen und Ziel nach Universalität. Ihre Werte und Normen übersteigen ihrem Wesen nach alle staatlichen Gesetze und Grenzen. Sie ist auf die volle, unterschiedslose, direkte Mitgliedschaft aller Menschen ausgerichtet.

4.1 Sichtbare und unsichtbare Kirche Kant unterscheidet die unsichtbare Kirche im Sinne einer platonischen Vernunftidee von der (wahren) sichtbaren Kirche als einer erfahrbaren, öffentlichen Vereinigung von Menschen zu einer moralischen Gemeinschaft, die dieser Idee entspricht.49 Die Errichtung einer (sichtbaren) Kirche ist eine moralische Pflicht, allerdings nicht eine vom Einzelnen allein oder auch von einer partikulären Gruppe erfüllbare und zu erfüllende, sondern eine Gattungspflicht.50 Das Ideal hat unmittelbar ein Ganzes aller Menschen als »allgemeine Republik nach Tugendgesetzen« zum Inhalt51 und unterscheidet sich darin wesentlich von einer politischen Gemeinschaft. Die Vernunftidee der wahren Kirche ist die von Gott als einem moralischen Weltherrscher und den Menschen als einem Volk Gottes unter moralischen, in der vernünftigen Freiheit jedes Einzelnen gründenden moralischen Gesetzen.52 Die sichtbare Kirche bedarf der öffentlichen (moralischen) Gesetze, die die Gemeinschaft konstituieren und erhalten und das Leben aller Mitglieder moralisch orientieren und regulieren und die als öffentliche der Vernunftkritik im Forum der Öffentlichkeit ausgesetzt sind. Und sie bedarf einer Obrigkeit,

48 Vgl. dazu Ertl, Wolfgang 2020. 49 Vgl. Rel. VI, 101. 50 Rel. VI, 97. 51 Rel. VI, 98. 52 Rel. VI, 98 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 308

08.11.2021 16:20:48

4. Die Lehre von der wahren sichtbaren Kirche

309

die sich als Diener der Gesetze und Verwalter der Geschäfte des unsichtbaren Oberhaupts versteht und als solche verstanden werden kann.53 Moralisch gesehen vermag nur der reine Vernunft- bzw. Religionsglaube eine wahre sichtbare Kirche zu gründen; doch »natürlicherweise«, so Kant, geht leider der Kirchenglaube dem reinen Religionsglauben vorher.54 Es ist, wie Kant sich ausdrückt, »eine besondere Schwäche der menschlichen Natur daran schuld, dass auf jenen reinen Glauben niemals so viel gerechnet werden kann, als er wohl verdient, nämlich eine Kirche auf ihn allein zu gründen«.55 Was besagt dies? Menschen, so ist Kant wohl zu verstehen, neigen nun einmal (sc. aufgrund ihres Hangs zum Bösen) de facto nicht dazu, sich allein um der Verwirklichung einer abstrakten Vernunftidee willen zu einer öffentlichen Gemeinschaft Gleichgesinnter zusammenzuschließen. Sich moralisch verstehende und durch das Verständnis von Moralität als göttliches Gebot geprägte menschliche Gemeinschaften entstehen, wie man weiß, durch die Initiativ-, Führungsund Weisungskraft ungewöhnlich charismatischer Persönlichkeiten und durch die gemeinschaftsstiftende Kraft einer verbindenden, kontinuierlich erinnerten Ursprungsgeschichte. Und sie treten nicht in die Welt als rein über die Idee gemeinschaftlicher Verwirklichung der Moralität konstituierte Gemeinschaften. Die Menschen neigen, durch das Beispiel irdischer Herrscher verführt, ganz allgemein zu der Annahme, dass verwirklichte Moralität nicht alles sein kann, was ein Gott von ihnen zu leisten verlangt. Sie suchen nach einem besonderen Gottesdienst, der in Handlungen des Rituals, des Gebetes, des Kultes, des Opfers besteht, in Handlungen, die für sich genommen mit Moralität nichts zu tun haben. Und sie verlangen nach einer besonderen göttlich-herrscherlichen Anordnung dieses besonderen Dienstes. Weder die von Gott legitimierte Autorität einer Gründungsfigur noch die Authentizität ihrer besonderen Weisungen lassen sich durch reine Vernunft erfassen. Dafür muss immer die Erfahrung einer die Vernunft übersteigenden besonderen Offenbarung in Anspruch genommen werden. So gesehen geht die Konstitution einer jeden sichtbaren Kirche de facto von einer überragenden, sich in ihrem Wissens- und Weisungsanspruch über das durch allgemeine Vernunft Begründbare überhebenden Persönlichkeit und einem historischen Offenbarungsglauben aus.56 53 Rel. VI, 101. 54 Rel. VI, 106. 55 Rel. VI, 101 f. 56 Vgl. Rel. VI, 102 f.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 309

08.11.2021 16:20:49

310

XII. Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie

4.2 Die vielen Kirchen und die eine Kirche Derartige historische Offenbarungs- und Kirchenglauben traten und treten in der Geschichte der Menschheit vielfach, und dies in unterschiedlichen Ausprägungen und Abgrenzungen auf, in markanter Dominanz der jüdische, der christliche und der muslimische. Grundsätzlich kann eine partikuläre Religionsgemeinschaft, die auf die Errichtung eines alle Menschen umfassenden ethischen Ganzen zielt, noch nicht das wahre ethische Gemeinwesen selbst sein und die wahre sichtbare Kirche genannt werden. Denn »jede partiale Gesellschaft [ist] nur eine Vorstellung oder ein Schema […], weil eine jede selbst wiederum im Verhältnis auf andere dieser Art als im ethischen Naturzustande, samt allen Unvollkommenheiten desselben befindlich vorgestellt werden kann […]«.57 Was Kant hier mit der Wendung »nur eine Vorstellung oder ein Schema« meint, ist nicht völlig klar. Die Wendung legt den Gedanken nahe, dass ein partiales öffentliches ethisches Gemeinwesen sich nicht nur dem Grade, sondern auch der Art nach noch von der wahren sichtbaren Kirche unterscheidet. So gesehen konnotiert die Wendung »Schema der Analogie« zum einen: Es gibt Züge in einem partialen ethischen Gemeinwesen, die (wie etwa im Vergleich Staat  – Organismus oder Staat  – Maschine) in Analogie zur wahren (noch zu errichtenden) sichtbaren Kirche gesetzt werden können. Andererseits ist hier vom Ideal und den unzureichenden (Anfangs-)Formen der empirischen Verwirklichung die Rede und der platonische Vorstellungskontext manifest: Platonisch gesprochen sind partikuläre Religionsgemeinschaften »nur Vorstellungen«, das heißt nur defiziente Kopien bzw. Schattenbilder des wahren sichtbaren Bildes und Repräsentanten des (für Kant) unsichtbaren Urbildes. Grundsätzlich kann es eine wahre sichtbare Kirche nicht im Plural geben, da Kirche ihrem normativen Begriff nach die Wirklichkeit »eines absoluten ethischen Ganzen« meint. Gleichwohl führt der Weg zur einen wahren sichtbaren Kirche »leider«, doch »natürlicherweise« und »unvermeidlich« über partikuläre Kirchen. Eine solche partiale Kirche bzw. ein historischer Offenbarungs- und Kirchenglauben mit seiner Bindung an eine Gründerpersönlichkeit, mit seiner gemeinschaftsstiftenden besonderen Ursprungsgeschichte, mit seinen heiligen Schriften, Dogmen, Riten und Statuten kann der Sache nach allerdings Legitimität (im Zusammenhang gemeinschaftlicher Überwindung und Niederhaltung 57 Rel. VI, 96, Hervorh. M. F.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 310

08.11.2021 16:20:49

4. Die Lehre von der wahren sichtbaren Kirche

311

des Hangs zum Bösen) nur für sich beanspruchen, wenn er der einen wahren Religion, der gemeinschaftlichen Verwirklichung des moralischen Gesetzes auf Erden als Mittel dient.58 In diesem Sinne ist es für Kant »natürlich« und »nun also nicht einmal zu ändern«, dass »ein statutarischer Kirchenglaube […] dem reinen Religionsglauben als Vehikel und Mittel der öffentlichen Vereinigung der Menschen zur Beförderung des Letzteren beigegeben« ist.59 Doch die verschiedenen Kirchenglauben sind wohl zu unterscheiden. Kant hält es für möglich, »dass in den mancherlei sich der Verschiedenheit ihrer Glaubensarten wegen voneinander absondernden Kirchen dennoch eine und dieselbe wahre Religion anzutreffen sein kann«.60 Sie ist allerdings nur bzw. erst dann anzutreffen, wenn innerhalb abgesonderter Kirchen sich aufgrund einer »sich erweiternden Denkungsart«61 zwischen historischem Offenbarungs- und statutarischem Kirchenglauben einerseits und reinem Religionsglauben andererseits unterschieden wird, und die Geltungsansprüche des ersteren zugunsten des letzteren relativiert und nur noch im Sinne eines kontingenten Symbols in praktischer Absicht eingelöst werden.62 Entscheidend ist demnach die Einstellungsdifferenzierung der Gläubigen bezüglich dessen, »was die Materie der Verehrung Gottes ausmacht«;63 das Bewusstsein, dass nur die in moralischer Gesinnung geschehende Beobachtung aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote absolute Verbindlichkeit besitzt, während die »Feierlichkeiten, Glaubensbekenntnisse geoffenbarter Gesetze und Beobachtung der zur Form der Kirche […] gehörigen Vorschriften« nicht den eigentlichen Gottesdienst ausmachen, »nicht als den Menschen überhaupt verbindend betrachtet werden« können,64 sondern nur eine historisch zufällige, in der gesellschaftlichgeschichtlich-kulturellen Lage einer Gruppe von Menschen verankerte Hinführungs- und Vermittlungsfunktion besitzen auf dem Weg zur einen wahren sichtbaren Kirche, zur »wirkliche[n] Vereinigung der Menschen zu einem Ganzen, das mit jenem Ideal [sc. der unsichtbaren Kirche, M. F.] zusammenstimmt«.65 58 Vgl. Rel. VI, 104. 59 Rel. VI, 106. 60 Rel. VI, 107 f. 61 Rel. VI, 109. 62 Vgl. Rel. VI, 123 Anm. 63 Rel. VI, 105. 64 Rel. VI, 104. 65 Rel. VI, 101.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 311

08.11.2021 16:20:49

312

XII. Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie

4.3 Der Weg zur wahren Kirche Kant sieht theoretisch, »wenn wir hierüber die menschliche Natur [sc. mit ihrem überwindbaren, aber unausrottbaren Hang zum Bösen, M. F.] befragen, wenig Hoffnung«, das Ziel, »in einer sichtbaren Kirche« die »kirchliche Glaubenseinheit mit der Freiheit in Glaubenssachen zu vereinigen«, je »zustande zu bringen«.66 Gleichwohl betrachtet er, aus »moralischem Interesse«, in praktisch-pragmatischer Absicht, die Geschichte der Religiosität der Menschheit als Fortschrittsgeschichte.67 Sie verläuft von der Stufe des Aberglaubens, Götzendienstes und Priestertums über die Stufe des vielfältigen, abgesonderten, nur zum Teil moralisierten Kirchenglaubens (asymptotisch?) hin zur letzten Stufe der einen sichtbaren Kirche als öffentlicher, erfahrbarer Gemeinschaft aller Menschen unter Tugendgesetzen und zeitlicher »Repräsentantin« der Idee der unsichtbaren Kirche:68 »Der Kirchenglaube geht also in der Bearbeitung der Menschen zu einem ethischen gemeinen Wesen natürlicherweise vor dem reinen Religionsglauben vorher, und Tempel (dem öffentlichen Gottesdienst geweihte Gebäude) waren eher als Kirchen (Versammlungsörter zur Belehrung und Belebung in moralischen Gesinnungen), Priester (geweihte Verwalter frommer Gebräuche) eher als Geistliche (Lehrer der rein moralischen Religion) und sind es mehrenteils auch noch im Range und Werte, den ihnen die große Menge zugesteht.«69

Kant ist sich dessen bewusst, dass »die Idee eines Volkes Gottes« »unter Bedin­ gungen der sinnlichen Menschennatur« als »menschliche Veranstaltung« wohl »nie völlig erreichbar ist«.70 Gleichwohl ist er geneigt, unter bestimmten Bedingungen bereits von der »wahren (sichtbaren) Kirche« im Sinne einer (noch defizienten, aber immerhin) erfahrbaren »Vorstellung« bzw. eines »Schemas (der Analogie)« der wahren sichtbaren Kirche zu sprechen, also von einer Kirche, »welche das (moralische) Reich Gottes auf Erden, so viel es durch Men-

66 Rel. VI, 123 Anm. 67 Zum Fortschrittsgedanken bei Kant vgl. Kleingeld, Pauline 1995. 68 Vgl. Rel. VI, 102. 69 Rel. VI, 106. 70 Rel. VI, 100.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 312

08.11.2021 16:20:49

4. Die Lehre von der wahren sichtbaren Kirche

313

schen geschehen kann, darstellt«.71 Die entscheidende Bedingung für eine derart wahre, obgleich noch streitende, weil noch mit historischen (und damit notwendig kontroversen) Glaubenslehren befasste Kirche72 ist, »dass nämlich, ob sie zwar in zufällige Meinungen geteilt und uneins, doch in Ansehung der wesentlichen Absicht auf solche Grundsätze errichtet ist, welche sie notwendig zur allgemeinen Vereinigung in eine einzige Kirche führen müssen«.73 Wie das so verstandene Schema (der Analogie) der wahren sichtbaren Kirche strukturiert sein muss, macht Kant am Verhältnis von statutarischem, offenbarungsreligiösem Kirchenglauben als bloßem Vehikel zu einem solchen als Wahn deutlich: »Dem Kirchenglauben kann, ohne dass man ihm weder den Dienst aufsagt, noch ihn befehdet, sein nützlicher Einfluss als eines Vehikels erhalten und ihm gleichwohl als einem Wahne von gottesdienstlicher Pflicht aller Einfluss auf den Begriff der eigentlichen […] Religion abgenommen werden und so bei Verschiedenheit statutarischer Glaubensarten Verträglichkeit der Anhänger derselben untereinander durch die Grundsätze der einigen Vernunftreligion, wohin die Lehrer alle jene Satzungen und Observanzen auszulegen haben, gestiftet werden; bis man mit der Zeit vermöge der überhandgenommenen wahren Aufklärung […] mit jedermanns Einstimmung die Form eines erniedrigenden Zwangsmittels gegen eine kirchliche Form, die der Würde einer moralischen Religion angemessen ist, nämlich die eines freien Glaubens, vertauschen kann.«74

4.4 Die christliche als Schema der wahren Kirche In diesem Sinn sieht Kant im Jesus der Evangelien den Stifter des Schemas der wahren sichtbaren Gesamtkirche. Es handelt sich bislang nur um ein Schema (der Analogie) bzw., platonisch gesehen, ein defizientes Abbild, weil die christliche Kirche noch in sich streitet und sich selbst in verschiedene historische Glaubenslehren partikularisiert, und weil sie noch (im moralischen Naturzustandsverhältnis) andere Kirchen mit vergleichbaren historischen Glaubens71 Rel. VI, 101. 72 Rel. VI, 115. 73 Rel. VI, 101, Hervorh. M. F. 74 Rel. VI, 123 Anm.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 313

08.11.2021 16:20:49

314

XII. Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie

lehren neben (und gegen) sich hat. Doch Jesus habe (im Unterschied zu Moses und Mohammed), wie in den neutestamentlichen Schriften für alle nachzulesen sei, öffentlich eine allgemeine, moralische, jedermann fassliche, auf die reine Gesinnung des Herzens gegründete, kurz die natürliche Religion gelehrt, sich entschieden gegen den primär historisch-statutarischen Offenbarungsund Kirchenglauben seiner eigenen Umgebung gewandt und die allgemeine Vernunftreligion zur obersten Bedingung eines jeden Religionsglaubens gemacht. Und er habe aus pragmatischen Gründen noch »gewisse Statuta hinzugefügt […], welche Formen und Observanzen enthalten, die zu Mitteln dienen sollen, eine auf jene Prinzipien zu gründende Kirche zustande zu bringen«.75 Jesus habe durch sein Lehren und Wirken so den Grund der wahren sichtbaren Kirche gelegt und damit »durch alles dieses ein unabsehlich großes moralisches Gute in der Welt durch eine Revolution im Menschengeschlecht hervorgebracht«.76 Was durch Jesu Revolution der religiösen Denkungsart grundgelegt wurde, muss nun über eine Reform der Sinnesart in den verschiedenen Kirchen ins Werk gesetzt werden. Was die sich auf Jesu Lehre und Wirken und die Heilige Schrift berufenden partialen religiösen Gemeinschaften noch davon abhält, die Einheit der (christlichen) Kirche deutlicher sichtbar zu machen, ist für Kant ein Dissens im Unwesentlichen. Dieser Dissens beruhe auf einem allerdings gravierenden Missverständnis, dem Missverständnis, das bestimmte Statuten und Observanzen, die lediglich ein kontingentes Vehikel zur Beförderung der wahren Religion sein können, für den verbindlichen sinnlich-zeitlichen Ausdruck wahrer Religiosität hält. Es fehlt noch am allgemeinen und durchdringenden Bewusstsein, dass alles, was an der christlichen Religion historisch und statutarisch ist, nur provisorischen Charakter hat in seiner Funktion, »die Menschen zur Beförderung des Guten (zu) vereinigen«.77 Das Provisorium muss auf dem Weg allmählicher Reform durch vernünftige Aufklärung kluger Geistlicher (d. h. Glaubens- bzw. Morallehrer) schritt­ weise abgestreift werden, um der allgemeinen Vernunftreligion und einem freien, mündigen Glauben zum Sieg und Triumph zu verhelfen:

75 Rel. VI, 158. 76 Rel. VI, 63. 77 Rel. VI, 121.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 314

08.11.2021 16:20:49

4. Die Lehre von der wahren sichtbaren Kirche

315

»Die Hüllen, unter welchen der Embryo sich zuerst zum Menschen bildete, müssen abgelegt werden, wenn er nun an das Tageslicht treten soll. Das Leitband der heiligen Überlieferung mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, welches zu seiner Zeit gute Dienste tat, wird nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel, wenn er in das Jünglingsalter eintritt.«78

4.5 Das Ideal der wahren sichtbaren Kirche als regulatives Prinzip Die derzeitigen kirchlichen Formen des Christentums bieten nur »Vorstellungen« bzw. Schemata der Analogie für die wahre, zu erarbeitende sichtbare Kirche. Kant fordert »eine kirchliche Form, die der Würde einer moralischen Religion angemessen ist«.79 Doch er gibt uns keinen klaren Hinweis, wie diese Form beschaffen sein soll. Sie habe, als bloße Repräsentantin eines Staates Gottes betrachtet, eigentlich keine Verfassung, die ihren Grundsätzen nach der politischen ähnlich ist; sie sei weder monarchisch noch aristokratisch noch demokratisch. Sie sei noch am besten mit einer Hausgenossenschaft (Familie) unter einem gemeinschaftlichen (wenngleich unsichtbaren) Vater vergleichbar, sofern sein heiliger Sohn (gemeint ist das Ideal der moralisch vollkommenen Menschheit in uns) dessen Willen weiß, dessen Stelle vertritt, allen Gliedern den Willen näher bekannt macht, die daher in ihm den Vater ehren und so untereinander in eine freiwillige, allgemeine und fortdauernde Herzensvereinigung treten.80 Ja, Kant äußert schließlich ernsthafte Zweifel, dass die anvisierte freie »Herzens«-Einheit der wahren sichtbaren Kirche je zustande kommen wird. Wie kann man, so Kant, unter Bedingungen der sinnlichen Menschennatur auch erwarten, »dass aus so krummem Holze etwas völlig Gerades gezimmert werde?«81 »Die kirchliche Glaubenseinheit mit der Freiheit in Glaubenssachen zu vereinigen, ist ein Problem, zu dessen Auflösung die Idee der objektiven Einheit der Vernunftreligion durch das moralische Interesse, welches wir an ihr nehmen, kontinuierlich antreibt, welches aber in einer sichtbaren Kirche zustande zu bringen, wenn wir hierüber die menschliche Natur befragen, wenig Hoffnung 78 Ebd. 79 Rel. VI, 123 Anm. 80 Rel. VI, 102. 81 Rel. VI, 100.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 315

08.11.2021 16:20:49

316

XII. Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie

vorhanden ist. Es ist eine Idee der Vernunft, deren Darstellung in einer ihr angemessenen Anschauung uns unmöglich ist, die aber doch als praktisch-regulatives Prinzip objektive Realität hat, um auf diesen Zweck der Einheit der reinen Vernunft hinzuwirken.« (Rel. VI, 123.)

Der Geschichtsglaube, so Kant in einer resignativ-realistischen Anmerkung der Religionsschrift, verhindert die Einheit und Allgemeinheit der (christlichen) Kirche. Aus seiner »gegenwärtig noch nicht entbehrlichen Hülle« heraus solle man durch Entwicklung des reinen Vernunftglaubens an einem »alle Welt gleich einleuchtenden Religionsglauben« fleißig arbeiten. Aber »nicht dass er [sc. der Geschichts- und Kirchenglaube, M. F.] aufhöre (denn vielleicht mag er als Vehikel immer nützlich und nötig sein), sondern aufhören könne; womit nur die innere Festigkeit des reinen moralischen Glaubens gemeint ist«. (Rel. VI, 135 Anm.) Die Religionsschrift ist unter Bedingungen der Zensur geschrieben; dies gilt es bei der Interpretation zu beachten. Der letzte Satz, der die Möglichkeit einer unausweichlichen und dauerhaften Bindung des reinen Religionsglaubens an unabstreifbare Hüllen und unentbehrliche Vehikel eines (wohl unausweichlich) partikularisierenden, an die Sinnlichkeit des Menschen gebundenen Geschichtsglaubens (platonisch gedacht für die »Vielen«, oder aufgrund des unausrottbaren Hangs zum Bösen für alle?) einräumt, ist ein Zusatz der zweiten Auflage. Hat Kant zuletzt mit dem Gedanken gespielt, die Idee der wahren sichtbaren Kirche der politisch-rechtlichen Idee der Föderation von Republiken anzugleichen? Die Stelle Rel VI, 132 Anm. scheint für diese Vermutung zu sprechen: »Es geht hiermit [sc. mit der Idee der einen sichtbaren Kirche, M. F.] wie mit der politischen Idee eines Staatsrechts, sofern es zugleich auf ein allgemeines und machthabendes Völkerrecht bezogen werden soll. Die Erfahrung spricht uns hierzu alle Hoffnung ab. Es scheint ein Hang in das menschliche Geschlecht (vielleicht absichtlich) gelegt zu sein, dass ein jeder einzelne Staat, wenn es ihm nach Wunsch geht, sich jeden andern zu unterwerfen und eine Universal­ monarchie zu errichten strebe; wenn er aber eine gewisse Größe erreicht hat, sich doch von selbst in kleinere Staaten zersplittere. So hegt eine jede Kirche den stolzen Anspruch eine allgemeine zu werden; so wie sie sich aber ausgebreitet hat und herrschend wird, zeigt sich bald ein Prinzip der Auflösung und Trennung in verschiedene Sekten.«

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 316

08.11.2021 16:20:49

XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich »Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur Schade! dass er kein Gehirn hat.« Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, AA VI, 230

»Das Naturrecht im Zustande einer bürgerlichen Verfassung (d. i. dasjenige, was für die Letztere aus Prinzipien a priori abgeleitet werden kann) kann durch statutarische Gesetze der Letzteren nicht Abbruch leiden […]«. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 1. Teil, 1. Hauptstück, § 9, AA VI, 256

Kants praktische Philosophie, die systematisch die Rechts- und die ­Tugendlehre zu ihren wesentlichen Bestandteilen hat, erklärt angeblich sowohl den theologischen Absolutismus1 als auch das teleologische Naturrecht zu ihren Gegnern. Nicht der souveräne, in natürlicher und übernatürlicher Offenbarung sich bekundende Wille Gottes und nicht das Ziel der Vollendung der menschlichen Natur im Rahmen einer teleologischen Ordnung der Gesamtnatur, sondern menschliche Selbstbestimmung aus reiner Vernunft nach Maßgabe wohlgeordneter Freiheit soll nach Kant die Begründungsbasis aller rechtlichen und moralischen Normen sein. Nun mag Kants Bruch mit dem theologischen Absolutismus (wer auch immer einen solchen je vertreten haben mag) eindeutig und vollkommen sein. Dasselbe lässt sich indessen nicht ohne weiteres von seinem Vernunftrecht gegenüber der Tradition des Naturrechts behaupten. Bei aller Innvoationsrhetorik sollte uns der gewiss gegebene neue grundbegriffliche und begründungstheoretische Rahmen nicht übersehen lassen, wie vieles Kants Vernunftrecht noch mit dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen 1 Vom »theologischen Absolutismus« spricht Wolfgang Kersting in seinen Arbeiten zu Kants Rechtsphilosophie, denen ich Anregungen und Klärungen für mein eigenes Verständnis von Kants Rechtsphilosophie verdanke: Kersting, Wolfgang 1984; ders. 1992, 342–366; ders. 2004.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 317

08.11.2021 16:20:49

318

XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich

Naturrecht verbindet. Und die Aura der Autorität Kants und mancher seiner Interpreten sollte uns auch nicht den kritischen Blick trüben gegenüber dem Anspruch der Leistungsfähigkeit eines vermeintlich rein formalen Vernunftprinzips des Rechts und der Moral. Der folgende Vergleich, in dem das jeweilige Konzept des Eigentums eine hervorgehobene Rolle spielen soll, möchte Gemeinsames und Unterscheidendes, vor allem aber Gemeinsames von Kants Naturrechtskonzept und dem des Thomas von Aquin verdeutlichen. Dabei wird die Selbstverständlichkeit in Frage gestellt, mit der der kantische Ansatz gemeinhin als eindeutiger und markanter Bruch, Neuansatz und signifikanter Fortschritt gegenüber der Tradition behandelt wird.

1. Zu Thomas von Aquins Naturrecht 1.1 Das natürliche Gesetz Grundbegriff der Naturrechtstheorie des Thomas ist der Begriff des natürlichen Gesetzes (lex naturalis). Thomas unterscheidet zwischen ewigem, natürlichem, (positivem) menschlichem und (positivem) göttlichem Gesetz.2 Dabei ist unter Gesetz eine generelle Anordnung der Vernunft, näherhin eine Regel und ein Maßstab des Handelns zu verstehen, durch die jemand zum Handeln oder Unterlassen verpflichtet wird.3 Im Vernunftursprung des Gesetzes sind Thomas und Kant sich einig. Der Begriff des ewigen Gesetzes ist bei Thomas vom (stoisch-christlichen) Gedanken getragen, dass das Universum eine Kosmopolis ist und die gesamte Gemeinschaft des Universums von der göttlichen Vernunft beherrscht und geleitet wird.4 Die Sätze der Vernunft, nach denen Gott über die Welt herrscht, haben den Charakter eines Gesetzes. Und da Gott nicht in einem zeitlichen Horizont situationsbezogen Gesetze beschließt, sondern ein ewiges Konzept besitzt, hat dieses Gesetz den Charakter eines ewigen Gesetzes. Das ewige Ge2 Zum Gesetzestraktat des Thomas von Aquin vgl. Pesch, Otto Hermann 1977; ferner Forsch­ ner, Maximilian 2006, 122–139. 3 Vgl. S. theol. I–II, qu. 90 a. 1 co. Zitiert als Summa theologiae, Pars prima secundae, quaestio 90, articulus 1 corpus. 4 Vgl. S. theol. I–II, qu. 91 a. 1 co.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 318

08.11.2021 16:20:49

1. Zu Thomas von Aquins Naturrecht

319

setz ist das Gesetz der Schöpfungsordnung im Geiste Gottes. Es ist dem Menschen in diesem Leben nicht (in vollem Umfang) einsichtig; der Mensch kann auf Erden nicht die Gedanken Gottes denken. Zwischen ewigem und natürlichem Gesetz ist (anders als in der pantheistischen Stoa) zu unterscheiden. Unter natürlichem Gesetz ist die Art und Weise zu verstehen, wie das ­ewige Gesetz sich in der Schöpfungsordnung realisiert und manifestiert. Diese Mani­ festation und Befolgung des ewigen Gesetzes im Geschaffenen erfolgt hier auf zweifache, genau zu unterscheidende Weise.5 Sie manifestiert und realisiert sich zum einen in der (vom Menschen theoretisch-deskriptiv erfassbaren) gesetzlichen bzw. »regulären« und funktionalen Ordnung des natürlichen Verhaltens der Dinge. Sie manifestiert sich zum anderen in präskriptiven Sätzen der menschlichen Vernunft. Entsprechend dieser Unterscheidung versteht Thomas unter natürlichem Gesetz im engeren und strikten Sinn die Art und Weise, wie sich das ewige Gesetz als praktisches Gesetz im Bewusstsein des Menschen bekundet. Der vom Menschen aus der Schöpfungsordnung erkennbare Weltplan enthält ein Stufenreich immer vollkommener ausgestatteter Wesen. Jeder Stufe und jeder Gattung und Art innerhalb einer Stufe eignet eine bestimmte Art von Sein. Sie drückt sich in der Wesensform (forma bzw. natura) der Dinge aus, die als Prinzip, als Ursprung und Ziel das Gesetz des Seins und Wirkens des Seienden vorgibt. Während anorganisch Seiendes und Organisches bis hinauf zu den Tieren das Gesetz des Weltplans in seiner bestimmten Natur von selbst realisiert, tritt es im (selbstreflexiven) Bewusstsein des Menschen neben spontanen Tendenzen, den sogenannten natürlichen Neigungen (inclinationes naturales), auch als Anspruch auf, in der Form eines von seiner Vernunft erkennbaren und zu interpretierenden natürlichen praktischen Gesetzes, das es zu befolgen gilt. So wird das aus dem ewigen Gesetz sich herleitende Naturgesetz für den Menschen zum praktisch-sittlichen Gesetz, zum Ausdruck der von Gott gewollten, dem Menschen mit einem Anspruch begegnenden und vom Menschen zu befolgenden Ordnung seines Tuns und Lassens in Natur und Menschenwelt. Gleichwohl ist dieses Gesetz nicht im Sinne eines theologischen Absolutismus zu verstehen. 5 Den Unterschied verkennt oder ignoriert, wer, wie etwa Julius Ebbinghaus und in seinem Gefolge viele Kantinterpreten, im Vernunftrecht Kants einen radikalen Bruch gegenüber dem mittelalterlichen (und frühneuzeitlichen) Naturrecht sehen wollen.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 319

08.11.2021 16:20:49

320

XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich

Im Geschaffenen drückt sich der Plan und Wille des Schöpfers aus. In diesem Sinn, so Thomas, haben alle geschaffenen Dinge Anteil am ewigen Gesetz.6 Doch Thomas will (im Unterschied zur alten ulpianschen Formel)7 bei nichtvernünftigen Wesen nur noch im unwesentlichen und übertragenen Sinn von Recht und Gesetz gesprochen wissen. Das Gesetz ist ihm wesentlich ein Gesetz der Vernunft. Natürliches (praktisches) Gesetz ist nur dort gegeben und wirksam, wo die vernünftigen Geschöpfe durch ihre eigene Vernunft (intellectualiter et rationabiliter) am ewigen Gesetz teilnehmen. Nur der Mensch ist auf Erden ein Wesen, das ein (praktisches) Gesetz annimmt (creatura susceptiva legis). Thomas’ prägnanter (nicht immer durchgehaltener) Sprachgebrauch lautet: Essentiell finden sich Gesetze in jenen Vernunftwesen, die praktische Regeln des Verhaltens selbst aufstellen; in Form der Teilhabe finden sich Gesetze in jenen Vernunftwesen, die Gesetze verstehen und befolgen können. Nur noch analog kann man von Gesetzen sprechen, wo Wesen sich ohne Verstand durch natürliche Neigung und Instinkt regulär bzw. gesetzesmäßig verhalten. Vor dem Hintergrund dieser Differenzierungen (die die angebliche Differenz von vormodernem Naturrecht und modernem kritischem Vernunftrecht, vom unterschiedlichen epistemischen Anspruch der Teleologie abgesehen, eher marginal erscheinen lassen) wird erst Thomas’ Definition von natürlichem Gesetz voll verständlich. »Unter allen Geschöpfen«, so heißt es in der Summa theologiae I–II, qu. 91, a. 2 co., »unterliegt das vernunftfähige Geschöpf (creatura rationalis) auf eine vorzüglichere Weise der göttlichen Vorsehung (divina providentia), insofern es nämlich selbst Teilhaber wird der Providenz, indem es für sich selbst und für andere (sc. gedanklich bewusste) Vorsorge trifft (providere): So nimmt es an der ewigen Vernunft selbst teil, durch die es eine natürliche Neigung zum erforderlichen Akt und zum Ziel hat. Und eine derartige Teilnahme am ewigen Gesetz in der rationalen Kreatur wird natürliches Gesetz genannt.«.

Der kantische Gedanke vernünftiger Freiheit als Substanz des natürlichen Rechts ist hier bereits im Kern vorweggenommen.

6 7

Vgl. S. theol. I–II, qu. 91, a. 2 co. Digesta I, 1, 3: ius naturale est, quod natura omnia animalia docuit.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 320

08.11.2021 16:20:49

1. Zu Thomas von Aquins Naturrecht

321

Thomas hält ewiges und natürliches Gesetz streng auseinander und wahrt gleichwohl den engen Zusammenhang. Der Mensch ist Mensch aufgrund einer bestimmten Wesensform. Auch er wird mit einer naturhaften Hinneigung zu seinem wesensgemäßen Ziel und den diesem angemessenen Akten geboren. Nur ist beim Menschen entscheidend, dass er als Vernunftwesen eine natürliche Neigung mitbringt, vernünftig, das heißt nach bewusster Zielvorstellung, nach eigener Überlegung und Entscheidung tätig zu sein.8 Und es gehört zum Wesen der Vernunft, alles ordnen zu wollen, was das Leben des Menschen betrifft und zum Menschsein gehört.9 Der Mensch erkennt sein Wesen und das mit diesem Wesen (im Umriss) vorgegebene Daseinsziel. Auf dem Weg der Erkenntnis seiner Natur durch Vernunft gelangt er auch eo ipso zur Einsicht in die unverbrüchlichen Normen, die sein Handeln zur Realisierung seines Daseinsziels zu leiten haben. (Praktisches) Naturgesetz (lex naturalis) ist also nach Thomas der Inbegriff jener Grundsätze und Regeln, die (a) auf die Erfüllung des der menschlichen Natur gemäßen Endziels hin geordnet sind, die (b) durch die natürliche Vernunft erkannt werden können und die (c) dem Menschen mit dem Anspruch »überpositiver« Verpflichtung bewusst werden. Dieses Naturgesetz vernünftigen Handelns war für den Theologen Thomas im Urzustand vor der Sünde allgemein wirksam derart, dass hier »sich im Menschen nichts außerhalb oder gegen die Vernunft einschleichen konnte«.10 Es hat nach der Störung der Seelenharmonie durch die Sünde nichts an prinzipieller Erkennbarkeit und verpflichtender Bedeutung eingebüßt: Das Gesetz der Natur als Gesetz der natürlichen Vernunft gilt nach wie vor für alles, was durch Vernunft im Menschenleben reguliert werden kann (sub lege rationis continentur omnia ea quae ratione regulari possunt).11 Seine Befolgung wird von Natur gestützt durch eine nach wie vor vorhandene natürliche Neigung zum Guten. Sie wird allerdings nun auch konterkariert durch einen (über die Sünde Adams) gattungsmäßig zugezogenen Hang zum Schlechten. Thomas spricht vom »Gesetz des Zunders« (lex fomitis) im Sinne eines von Gott als entwürdigende Strafe für die Sünde verhängten Impulses des Menschen zur 8 unde cum anima rationalis sit propria forma hominis, naturalis inclinatio inest cuilibet homini ad hoc, quod agat secundum rationem, S. theol. I–II, qu. 94 a. 3, co. 9 ratio est ordinativa omnium quae ad homines spectant, S. theol. I–II, qu. 94 a. 2 ad 3. 10 S. theol. I–II, qu. 91 a. 6 co. 11 S. theol. I–II, qu. 94 a. 2 ad 3.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 321

08.11.2021 16:20:49

322

XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich

nicht der Vernunft entsprechenden Sinnlichkeit, das heißt zur Verabsolutierung des irdischen, sinnlich-empirischen Daseins und seiner Güter.12 Im anthropologischen Gedanken der Anlage zum Guten und des Hangs zum Bösen im Menschen, wenn auch nicht in seiner theologischen bzw. philosophischen Begründung, treffen sich Thomas und Kant. Die sittlichen Grundforderungen qua oberste Prinzipien (principia communia) sind, so Thomas, allen Menschen »ins Herz geschrieben«, können also keinem normalsinnigen erwachsenen Menschen unbekannt sein. Sie sind als Grundprinzipien des Handelns ebenso wie die Grundprinzipien theoretischen Beweisens aus sich selbst einsichtig (per se nota).13 Wie es im Theoretischen ein Prinzip aller Prinzipien, den Begriff des Seins und mit ihm den Satz der Identität und den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch gibt, so gibt es im Praktischen ein derartiges Prinzip: den Begriff des Guten und den entsprechenden Grundsatz: Das Gute ist zu tun, das Schlechte zu meiden.14 Dieses rein formale Prinzip eröffnet dem Menschen den Horizont sittlichen Selbstverständnisses und sittlicher Praxis. Es entspricht der formalen, übergreifenden Gesetzesformel des kategorischen Imperativs des Rechts und der Moral bei Kant. Es ergibt für Thomas in unmittelbarer Anwendung auf die menschliche Natur nächstliegende Folgerungen.15 An diesem Punkt nun scheinen sich Thomas und Kant zu unterscheiden. Während Kant zu glauben scheint, über das rein formale Vernunftprinzip des Rechts und der Moral alle irgendwie gebildeten materialen Maximen und Normen auf ihre Moralität und Rechtlichkeit hin beurteilen zu können, liefert für Thomas die Anwendung des formalen Prinzips auf die teleologisch verstandene menschliche Natur (mit ihren natürlichen Neigungen) höchstgenerelle materiale Vorschriften, die der menschlichen Vernunft evident sind. In diesem systematisch entscheidenden Punkt könnte man Thomas’ T ­ heorie der kantischen (sollte diese denn streng formalistisch gemeint sein) für überlegen halten, zumal Kant implizit das Verfahren des Thomas immer dort in Anspruch nimmt und nehmen muss, wo sein formal verstandenes Kriterium kein eindeutiges Urteil erlaubt. Für Thomas bringen mit der Natur eines Wesens gegebene spontane Tendenzen eine natürliche und naturgemäße Ordnung zum Ausdruck. Thomas 12 S. theol. I–II, qu. 91 a. 6. co. 13 S. theol. I–II, qu. 94, a. 2 co. 14 Ebd. 15 Vgl. S. theol. I–II, qu. 94 a. 4 co.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 322

08.11.2021 16:20:49

1. Zu Thomas von Aquins Naturrecht

323

anerkennt beim Menschen eine natürliche Tendenz zum Erkennen ebenso wie einen natürlichen Erfolg dieser natürlichen Tendenz in einem natürlichen Prinzipienwissen (naturalis conceptio). Und er kennt und anerkennt natürliche Ausrichtungen des Strebens (naturales inclinationes). Dies führt uns zu seiner »Deduktion« des Inhalts des Naturgesetzes. Das Naturgesetz befolgen heißt für Thomas, mit Vernunft den natürlichen menschlichen Neigungen folgen. Der Mensch ist für ihn wie jedes geschaffene Wesen in seinen Vermögen und Tendenzen auf das seiner Natur gemäße Daseinsziel und die seiner Natur entsprechenden Tätigkeiten ausgerichtet. Er besitzt natürliche Neigungen, die dem Guten als Ziel seiner Wesensnatur entsprechen. Diese natürlichen Tendenzen werden von der Vernunft unmittelbar und ohne jede Bildungsvoraussetzung (naturaliter) als Ausdruck einer natürlichen Ordnung verstanden; ihre Ziele machen den Inhalt des natürlichen Gesetzes aus. Denn Vernunft erfasst sie ganz natürlich und spontan als etwas Gutes, das es handelnd zu verfolgen und zu sichern gilt. »Die Ordnung der Vorschriften des natürlichen Gesetzes entspricht der Ordnung der natürlichen Neigungen.«16 Wir haben also einmal ein Zusammenspiel von natürlicher Neigung und Vernunft: Vernunft erkennt und anerkennt das als gut, worauf wir aufgrund unserer Wesensart immer schon aus sind. Auf der anderen Seite sichern unsere Wesensnatur und die mit ihr gegebenen Neigungen nicht die Realisierung des Ziels: Wir sind den natürlichen Inklinationen gegenüber in gewisser Weise frei, wir sind irrtumsfähig, wir sind jedenfalls zum Teil verbildet und verbildbar. Ein Hang zur Verkehrung der Ordnung natürlicher Neigungen scheint mit der menschlichen Natur (in Folge der Ursünde) verwoben. Dies macht die Ziele natürlicher Neigungen und ihre Ordnung beim Menschen zu Sollensvorgaben (praecepta) seiner Vernunft. Und diese Ziele und Sollensvorgaben konstituieren inhaltlich jene axiologischen und deontologischen Selbstverständlichkeiten, ohne deren Anerkennung praktische Argumentation unter Menschen nicht möglich ist. Den elementarsten Grundtrieb teilt der Mensch mit allen selbständigen Dingen (substantiae): das Streben nach Erhaltung seines Seins gemäß seiner Natur. Entsprechend dieser ursprünglichen Neigung gehört zum natürlichen Gesetz alles, was das Leben des Menschen erhält und das Lebensabträgliche verhindert. Den zweiten Grundtrieb teilt der Mensch mit allen Sinnenwesen (animalia): die Verbindung des Männlichen mit dem Weiblichen; die Tendenz 16 S. theol. I–II, qu. 94 a. 2 co.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 323

08.11.2021 16:20:49

324

XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich

zur Aufzucht der Nachkommenschaft und dergleichen. Auf diese Ziele bezieht sich eine zweite Gruppe naturgesetzlicher Vorschriften.17 Eine dritte natürliche Neigung und mit ihr eine natürliche Hinordnung zum Guten ist dem Menschen aufgrund seiner Vernunftnatur eigentümlich: ein natürliches Streben nach Erkenntnis, ein natürliches Streben, nach eigener Erkenntnis zu handeln, und ein natürliches Streben nach einem vernünftigen menschlichen Zusammenleben. Das Ziel des Erkenntnistriebs umfasst das naheliegende Wissen von Alltäglichem und alltäglich Wichtigem ebenso wie die Erkenntnis Gottes und der Prinzipien der Weltordnung. Das Ziel des Sozialtriebs umfasst die wesentlichen Bestimmungen eines sprachlich vermittelten Gemeinschaftslebens. »Und demgemäß gehören zum natürlichen Gesetz die Dinge, die sich auf das so geartete Objekt dieser Neigung beziehen: nämlich dass der Mensch die Unwissenheit meidet, dass er die anderen nicht beleidigt, mit denen er sprachlich verkehren und sich verständigen muss, und anderes derartiges, das sich auf dieses bezieht.«18

1.2 Das positive Gesetz und sein Maßstab Das natürliche Gesetz ist allen Menschen »ins Herz geschrieben«, aber es wird keineswegs von allen Menschen und keineswegs von einzelnen Menschen immer befolgt. Zudem fehlt für seine Übertretung von Natur in diesem Leben die entsprechende Bestrafung. Manche Menschen können nicht über Ermahnung, sondern nur durch Gewalt und Furcht zur Disziplin gebracht und vom Tun des Schlechten abgehalten werden. Das natürliche Gesetz bedarf der Positivierung, um mächtig und effizient zu sein.19 Das positive menschliche Gesetz einer öffentlichen, mit Macht ausgestatteten (natürlichen oder künstlichen) Person dient dem Schutze der Guten und der Zügelung der Bösen durch die Anwendung von Gewalt und die Furcht vor Strafe. Doch menschliches Recht und menschliche Gesetze sind notwendig nicht nur, um schlecht veranlagte und schlecht geratene Menschen zu zügeln, sondern auch, um das hochgene17 Vgl. v. a. Summa contra gentiles (= ScG), III, 122 ff. 18 S. theol. I–II, q. 94 a. 2. 19 Vgl. S. theol I–II, qu. 95 a. 1 co.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 324

08.11.2021 16:20:49

1. Zu Thomas von Aquins Naturrecht

325

relle, unbestimmt-allgemeine Naturgesetz auf die gesellschaftlich-geschichtliche Situation eines Volkes hin auszulegen und fortzubestimmen. Dabei gilt für Thomas der Grundsatz, dass menschliches Gesetz nur in der Auslegung und Fortbestimmung des natürlichen Gesetzes seine Vernunftgrundlage (und Rechtfertigung) besitzt und ein menschliches Gesetz, das dem natürlichen Gesetz widerspricht, kein Gesetz, sondern ein Verderbnis des Gesetzes (legis corruptio) darstellt.20 Das Postulat des Einklangs mit dem natürlichen Gesetz erfüllen Teile des positiven Gesetzes schlicht dadurch, dass sie das aufgrund der Natur der Sache Rechte positiv-gesetzlich fixieren wie etwa das Verbot von Betrug, Diebstahl, Ehebruch, Rufmord, Mord etc.21 Andere Gesetze beziehen ihre Verbindlichkeit nicht aus der Natur der Sache, sondern nur daraus, dass sie Gesetz sind, weil die Sache einer gesetzlichen Regelung bedarf oder sie nahelegt, aber prinzipiell so oder anders geregelt werden kann.22 Dieses positiv Rechtliche im engeren Sinn erfüllt die genannte Bedingung der »Herleitung« vom natürlichen Gesetz, indem es, wie gesagt, das Naturgesetz fortbestimmt bzw. dem Naturgesetz zumindest nicht widerstreitet. Seine Geltung und verbindliche Kraft verdankt es gemeinsamer Übereinkunft bzw. obrigkeitlicher Festsetzung; die Materie als solche kann sittlich-naturgesetzlich gesehen indifferent sein. Doch menschlicher Wille, der auf diese Weise auch etwas sittlich Neutrales zum Rechten und Gerechten machen kann, kann dies nicht, wenn es sich um etwas handelt, was dem natürlich Rechten (ius naturale) widerspricht.23 Im (positiven) menschlichen Gesetz ist also manches geboten, weil es recht und manches recht, weil es geboten ist. Doch niemals gilt, dass etwas einfach deshalb recht ist, weil es eine menschliche Autorität geboten hat.24 Das positive menschliche Gesetz hat zum alles bestimmenden Maßstab die Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist für Thomas die Tugend, die den Menschen im

20 S. theol. I–II, qu. 95 a. 2 co. 21 Auf dieser Ebene der jedermann einsichtigen »Folgerungen« (conclusiones) aus den Prinzipien des natürlichen Gesetzes setzt Thomas übrigens das Völkerrecht (ius gentium) an, vgl. S. theol. I–II, qu. 95 a. 4 co. 22 Auf dieser Ebene der auf die Lebensverhältnisse einer bestimmten politischen Gesellschaft bezogenen Fortbestimmung (particularis determinatio) setzt Thomas das Bürgerliche Recht (ius civile) an, vgl. ebd. 23 Vgl. S. theol. II–II, qu. 57 a. 2 ad 2. 24 Vgl. ebd. ad 3.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 325

08.11.2021 16:20:49

326

XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich

Umgang mit jenen Dingen ordnet, die den anderen Menschen betreffen.25 Sie realisiert sich in einer Person als konstanter Wille, einem jeden Einzelnen sein Recht (suum bzw. ius suum) zukommen zu lassen.26 Unter ius versteht Thomas also das Objekt der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit gliedert sich in iustitia communis bzw. legalis und iustitia particularis. Die iustitia communis bzw. legalis bezieht sich auf den anderen im Allgemeinen, auf das Gemeinwohl (bonum commune), auf das Wohl einer Gruppe, sei es des Hauswesens, des Dorfes, der Stadt, des Staates, der Menschheit und über das jeweilige Gemeinwohl auf das Glied der jeweiligen Gemeinschaft.27 Die iustitia particularis bezieht sich direkt auf den anderen im Einzelnen, näherhin auf die gerechte Verteilung von Gütern und Belastungen im sozialen Leben und den angemessenen Respekt vor jeder anderen Person in den Dingen des Verhaltens, die die andere Person betreffen. Wesentlich ist, dass die iustitia particularis die Ordnung der äußeren Handlungen und der äußeren Gegenstände, die in den Gebrauch der Menschen fallen, zum Inhalt hat.28 In diesem (sehr wichtigen) Punkt deckt sich Thomas’ Auffassung vom Objektbereich (menschlicher) Gerechtigkeit mit dem kantischen Begriff des Rechts. Die Ordnung des Bereichs der Gesinnung ist deshalb nicht Sache des Rechts und des Staates. Um diesem Bereich eine zureichende Ordnung zu verschaffen, hält Thomas neben der natürlichen eine positive göttliche Gesetzgebung für erforderlich; bei Kant soll diese Funktion die Tugendgemeinschaft der Kirche erfüllen. Es geht bei der besonderen Gerechtigkeit also um das richtige Verhältnis der Menschen zueinander in ihrem äußeren Verhalten und im Gebrauch der äußeren Dinge, es geht um die Realisierung der Rechte einer Person unter Personen in der Welt. Dabei ist klar, dass die iustitia communis, die Sorge um das Gemeinwohl, die iustitia particularis, die Sorge um die Rechte der Mitglieder der Gruppe, einschließt. Und das, was das Recht eines jeden ist (quod [ius] suum est), wird bestimmt als das, was jeder Person nach der Gleichheit des Verhältnisses geschuldet ist.29 25 Vgl. S. theol. II–II, qu. 57 a. 1 co. 26 S. theol. II–II, qu. 58 a. 1 co. 27 Vgl. S. theol. II–II, qu. 58 a. 5. 28 S. theol. II–II, qu. 58 a. 8 co.: Et ideo, cum iustitia ordinetur ad alterum, non est circa totam materiam virtutis moralis, sed solum circa exteriores actiones et res secundum quandam rationem obiecti specialem, prout scilicet secundum eas unus homo alteri coordinatur. 29 S. theol. II–II, qu. 58 a. 11 co.: Hoc autem dicitur esse suum unuscuiusque personae quod ei secundum proportionis aequalitatem debetur.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 326

08.11.2021 16:20:49

1. Zu Thomas von Aquins Naturrecht

327

Recht ist, was die Tugend der Gerechtigkeit von einem Menschen anderen Menschen gegenüber zu tun und zu unterlassen verlangt. Und was Gerechtigkeit verlangt, wird durch das natürliche oder das positive Gesetz festgelegt.30 Thomas setzt die Gerechtigkeitsforderung des natürlichen Gesetzes mit dem biblischen Gebot gleich: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.«31 Dieses Gebot verlangt Nichtinstrumentalisierung und Gleichbehandlung. Seine ontologische Begründung findet es in der Gleichheit aller Menschen als Kinder Gottes, als Ebenbilder Gottes, als Personen. Und unter Person versteht Thomas, im Anschluss an Boethius »ein Individuum von rationaler Natur«.32 Dabei liegt das Unterscheidende und Auszeichnende von Personen gegenüber anderen unteilbaren Einzeldingen darin begründet, dass Personen auf der Basis ihrer Vernunftfähigkeit Herren ihres Tuns, also frei handelnde Wesen sind.33

1.3 Die Würde des Menschen und seine Rechte Die Würde (dignitas) des Menschen als Ebenbild Gottes (und damit die Basis aller Rechtsansprüche und Rechtsverpflichtungen) ist für Thomas genauso wie für Kant in seiner Vernunftfähigkeit und Freiheit begründet.34 Thomas bringt dies ganz unmissverständlich in seinem kurzen und prägnanten Prolog zum Ausdruck, den er programmatisch seiner gesamten Lehre vom Menschen (und seinem Weg zu Gott) voranstellt.35 Die auf der Vernunftfähigkeit basierende Freiheit ist es, die dem Menschen Würde, und das heißt »Gutsein seiner selbst wegen (propter seipsum)«,36 in Kants Worten dann eigenen, »innern Wert« verleiht. Aufgrund dieser Würde gibt es Dinge, die unterschiedslos jedem Men-

30 Vgl. Finnis, John 1998, 135. Dem Buch von Finnis verdanke ich Anregungen und Klärungen meines eigenen Verständnisses von Thomas’ Rechtsphilosophie. 31 Matth. 22, 37–39. Vgl. S. theol. I–II, qu. 99 a. 3; qu. 100 a. 3. 32 S. theol. I, qu. 29 a 1 co: Persona est rationalis naturae individua substantia. 33 S. theol. I, qu. 29. a. 1 co.: Sed adhuc quodam specialiori et perfectiori modo invenitur particulare et individuum in substantiis rationalibus, qui habent dominium sui actus, et non solum aguntur, sicut alia, sed per se agunt. 34 Vgl. S. theol. I, qu. 29 a. 3 ad 2. Zum Würdebegriff bei Kant vgl. Sensen, Oliver 2011. 35 S. theol. I–II, Prologus: […] homo factus ad imaginem Dei […]; per imaginem significatur intellectuale et arbitrio liberum et per se potestativum […], secundum quod (homo) et ipse est suorum operum principium. 36 Vgl. In III Sent. d. 35 qu. 1 a. 4 sol. 1c.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 327

08.11.2021 16:20:49

328

XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich

schen geschuldet sind aufgrund dessen, dass er Mensch ist.37 Ein Verstoß gegen dieses Geschuldete ist eine Verletzung natürlicher Rechte. Thomas hat keine explizite Theorie von Menschenrechten entwickelt, aber er gibt Listen von iniuriae, aus denen sich seine Vorstellungen von elementaren Rechten des Menschen als Menschen entnehmen lassen. Er fasst die iniuriae zusammen unter dem Titel der nocumenta quae in personam proximi inferuntur. Er gliedert sie nach Leib und Leben des anderen, nach personaler Verbindung, nach Eigentum und nach Ruf, und nennt als paradigmatische Verstöße homicidium, adulterium, furtum und falsum testimonium.38 Aufschlussreich ist, dass die elementaren Rechte bei Thomas wie bei Kant nicht die Gestalt von Ansprüchen auf positive Leistungen durch andere, sondern die Gestalt von Ansprüchen auf Nichtschädigung durch andere haben. Sie sind als Verbots- bzw. als Unterlassungsnormen (praecepta prohibitiva) formuliert.39 Und die höchste dieser Verbotsnormen lautet: nullo modo licet occidere innocentem.40 Das Leben eines Unschuldigen darf niemals dem (vermeintlichen) Gemeinwohl geopfert werden. Ja, an sich betrachtet darf kein Mensch (absichtlich) getötet werden, weil es in jedem Menschen, auch im Sünder, die Natur (Kant wird sagen: die Menschheit in ihm) zu lieben gilt, die Gott geschaffen hat und die durch die Tötung vernichtet wird. Erlaubt ist (der öffentlichen Person) die (absichtliche) Tötung eines Verbrechers nur im Blick auf das Gemeinwohl, das durch das Vergehen zugrunde gerichtet wird.41 Die Natur (bzw. Gott) hat alle Menschen gleich und frei geschaffen.42 Frei ist, was sui causa ist. Thomas versteht mit dieser Formel genau dasselbe wie Kant mit seiner Formel, der Mensch sei »Zweck an sich selbst«. Sui causa meint, was Prinzip seiner Handlungen und Ziel seiner Handlungen ist, das heißt, was selbst Zwecke setzt, was nicht von ihm äußeren Kräften zum Tun

37 S. theol. II–II, qu. 122 a. 6 co: praecepta pertinentia ad iustitiam proprie dictam, quae indifferenter omnibus debitum reddit, neben anderen Dingen, die man Gott oder bestimmten Menschen aufgrund eines speziellen Gesichtspunkts schuldet (omne debitum quod ex speciali ratione debetur). 38 S. theol. II–II, qu. 122 a. 6 ad 2; vgl. S. theol. I–II, qu. 100 a. 5 co. 39 S. theol. II–II, qu. 122 a. 6 ad 3. 40 S. theol. II–II, qu. 64 a. 6 co. 41 Ebd. 42 In II Sent. d. 44 qu. 1 a. 3 ad 1: natura omnes homines aequales in libertate fecit.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 328

08.11.2021 16:20:49

1. Zu Thomas von Aquins Naturrecht

329

bestimmt wird, und was nicht nur zum Wohl und als Instrument einer anderen Person tätig ist.43 Frei ist, wer ungleich einem Sklaven Herr seiner selbst und Zweck an sich selbst ist.44 Es gibt viele Ungleichheiten zwischen den Personen, solche des Geschlechts, des Alters, der physischen, der charakterlichen, der geistigen Beschaffenheit, der Herkunft, des Standes, der Erfahrung, des Wissens und Könnens. Viele dieser Ungleichheiten geben vernünftige Gründe dafür her, sie in der Bestimmung ihrer sozialen Rolle, in der Zuteilung von Gütern und Belastungen ungleich zu behandeln. Manche geben vernünftige Gründe dafür her, dass Menschen über Menschen herrschen. Aber keiner gibt einen Grund dafür her, dass das Leben und Tun eines Menschen völlig instrumentalisiert wird.45 Das Kind und der Sklave, so Thomas, gehören in gewisser Weise dem Herrn. Beide aber sind auch als Menschen, als etwas für sich und in eigenem Recht Bestehendes, als Personen zu betrachten und zu behandeln.46 Keine wie auch immer begründete Herrschaftsbefugnis von Menschen über Menschen verleiht das Recht über das Leben, die leibliche Unversehrtheit und die geistige Einstellung eines Menschen. Hinsichtlich der elementaren physischen und der elementaren metaphysischen Existenz sind die Menschen frei und gleich. Naturrechtlicher Ausdruck dafür ist in der Sicht des Thomas, dass die Weisungsbefugnis weder der Eltern über die Kinder noch des Herrn über den Sklaven dahin geht, sie zur Heirat oder Nichtheirat oder zu dieser Heirat oder Nichtheirat oder zu dieser oder jener Religion oder Nichtreligion zu zwingen.47 Rechte haben für Thomas, genauso wie für Kant, nur Personen. Alle Dinge, die nicht Personen sind und im Zugriffsbereich des Menschen liegen, können vom Menschen dementsprechend zu seinem Nutzen und Wohl in Besitz genommen, gebraucht und verbraucht werden. Der Mensch (kollektiv gesehen) besitzt ein natürliches Eigentumsrecht (naturale dominium) über die äußeren 43 Vgl. In II Sent. d. 44 qu. 1 a. 3c; S. theol. I, qu. 96 a. 4 co.; ScG III c. 112 n.2; J. Finnis, John 1998, 170 f. 44 Thomas anerkennt die Institution der Sklaverei nur als Folge und Strafe für die Sünde und nur in sehr eingeschränktem Sinn. 45 Vgl. S. theol. I, qu. 96 a. 3 u. a. 4; S. theol. II–II, qu. 57 a. 4 co. 46 Vgl. S. theol. II–II, qu. 57 a. 4 ad 2. 47 Vgl. De Malo qu. 15 a. 2 ad 12; In IV Sent. d. 39 = Supp qu. 59 a. 2 ad 3; S. theol. II–II, qu. 104 a. 5 co.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 329

08.11.2021 16:20:49

330

XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich

Dinge, weil er durch Verstand und Willen die äußeren Dinge zu seinem Wohl gebrauchen kann, die in gewisser Weise (als seinsmäßig weniger Vollkommenes für das Vollkommenere) seinetwegen geschaffen sind. Das natürliche Eigentumsrecht eignet dem Menschen kraft seiner Vernunftfähigkeit und Freiheit, in der die Eigenschaft, Bild Gottes zu sein, besteht.48 Der Mensch gleicht Gott in seiner Herrschafts- und Verfügungsbefugnis über die unter ihm stehenden Dinge. Den traditionellen Naturrechtsgrundsatz, dass von Natur die Erde und die Dinge auf ihr allen Menschen gemeinsam gehören, will Thomas nicht so verstanden wissen, dass das natürliche Recht das Gemeineigentum gebiete und das Privateigentum verbiete. Der Grundsatz besage nur, dass sich die Institution des Privateigentums menschlicher Übereinkunft, also menschlichem Gesetz verdanke.49 Das Recht auf privates Eigentum, so Thomas, ist nicht gegen das Naturrecht, sondern eine von menschlicher Vernunft erfundene Hinzufügung und Fortbestimmung des natürlichen Rechts.50 Allerdings bleibt dieses Recht, anders als bei Kant, zurückgebunden an das Prinzip des ursprünglichen Gemeinbesitzes, an das Prinzip der Gleichheit aller Menschen und an das damit verbundene Prinzip der Nächstenliebe. Thomas plädiert deshalb (nach Klugheitserwägungen) für die Institution des Privateigentums im Sinne einer Aufteilung und Privatisierung der potestas procurandi et dispensandi über äußere Dinge, weil und insofern dies ersichtlich allen zugutekommt. Doch er plädiert zugleich für einen Gebrauch und Verbrauch (usus) der äußeren Dinge nach dem Gesichtspunkt, dass sie nach natürlichem Recht allen Menschen zugewiesen sind (ut communes).51 Beides sind Richtlinien sowohl für das private Verhalten als auch für die öffentliche Gesetzgebung. Die Institution des Privateigentums ist nach Thomas vernünftig, ja (je nach den Umständen der Subsistenzsicherung) notwendig für das menschliche Leben aus drei Gründen: (a) Weil jeder Einzelne zur Sorge um das, was 48 S. theol. II–II, qu. 66 a. 1 co.: Et sic habet homo naturale dominium exteriorum rerum: quia per rationem et voluntatem potest uti rebus exterioribus ad suam utilitatem, quasi propter se factis; semper enim imperfectiora sunt propter perfectiora […]. Hoc autem naturale dominium super ceteras creaturas […] competit homini secundum rationem, in qua imago Dei consistit. 49 S. theol. II–II, qu. 66 a. 2 ad 1: […] quia secundum ius naturale non est distinctio possessionum, sed magis secundum humanum condictum, quod pertinet ad ius positivum. 50 Ebd. 51 S. theol. II–II, qu. 66. a. 2 co.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 330

08.11.2021 16:20:49

1. Zu Thomas von Aquins Naturrecht

331

ihm allein gehört, viel mehr motiviert ist als um das, was vielen oder allen gehört; bei Letzteren flieht er die Mühe und überlässt sie den anderen. (b) Weil die menschlichen Dinge geordneter betrieben und behandelt werden, wenn Einzelne die exklusive Verantwortung für einen bestimmten Bereich tragen. (c) Weil dann die menschlichen Verhältnisse sich friedlicher gestalten, wenn jeder mit dem, was ihm gehört und seiner Verwaltungs- und Verfügungskompetenz untersteht, zufrieden ist. Gleichwohl, so Thomas, darf der Mensch die Dinge, die ihm gehören, nicht so gebrauchen, als seien sie im absoluten Sinne seine eigenen. Er muss sie ut communes gebrauchen, um sie leicht, wenn andere in Not sind, mit diesen zu teilen.52 Das Privateigentum bleibt also gemeinwohlorientiert und auf den Nächsten verpflichtet. Dabei sind hinsichtlich des verpflichtenden iustum wichtige Unterscheidungen zu treffen: (a) zwischen den Ressourcen, die man zum eigenen Überleben und dem seiner Angehörigen unbedingt braucht (sine quo aliquid esse non potest); (b) jenen Ressourcen, ohne die jemand sein Leben nicht seinem Stand, seinem Beruf, seiner Funktion, seinen Aufgaben und Verpflichtungen entsprechend führen kann ([sine quo] non posset vitam transigere convenienter secundum proprium statum et negotia occurrentia); und (c) jenen Ressourcen, die schlicht als Besitz von Überflüssigem (superflua) zu gelten haben.53 Für jenen, der in extremer Notlage ist, sind die Schranken des Privateigentums aufgehoben. Er darf sich, falls niemand ihm freiwillig gibt, von fremdem Gut nehmen, was er zum Überleben braucht.54 Was er zur Behebung seiner aktuellen Not, sei es offen, sei es heimlich, von fremdem Gut nimmt, erfüllt nicht den Tatbestand des Raubs oder Diebstahls.55 Umgekehrt besteht für den Besitzenden die strikte Verpflichtung, dem in extremer Not Befindlichen nicht nur vom Überflüssigen, sondern auch vom Status- und Funktionsentsprechenden zu geben, wenn dadurch seine extreme Notlage behoben wird. Für Situationen, in denen es für beide Gruppen oder Personen ums nackte Überleben geht, gibt es keine generelle Regel des Rechten.56 Die eigentumsrechtliche Aufteilung der Güter durch positives Gesetz hindert also nicht, dass mit diesen Gütern, wenn erforderlich, fremder Not abzu52 Ebd. 53 S. theol. II–II, qu. 32 a. 6. co; vgl. II–II, qu. 32 a. 5 co. 54 Vgl. S. theol. II–II, qu. 32 a. 7 ad 3. 55 Vgl. S. theol. II–II, qu. 66 a. 7 co. 56 Vgl. S. theol. II–II, qu. 31 a. 3 ad 3.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 331

08.11.2021 16:20:49

332

XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich

helfen ist. Nach natürlichem Recht sind deshalb jene Dinge, die manche im Überfluss haben, der Ernährung der Armen geschuldet. Nach positivem Recht ist es dem Urteil des Eigentümers überlassen, welchen der vielen Armen und auf welche Weise er hilft.57

2. Zu Kants Vernunftrecht 2.1 Die natürliche Ordnung der Dinge als Objekt reiner Vernunft Mit seiner Überzeugung, dass es ein objektives, zeitlos gültiges, allen Menschen erkennbares und für alle Menschen verbindliches Prinzip des Rechts gibt, schließt Kant im Formalen bruchlos an das an, was ein Thomas unter lex naturalis verstanden wissen wollte. Inhaltlich geht er allerdings (jedenfalls seinem Bekunden nach)58 nicht mehr den Begründungsweg über natürliche Neigungen und deren von der Vernunft bejahten naturgemäßen Zielen des Menschen, die in jeder praktischen Argumentation als selbstverständliche Ausgangspunkte dienen. Kant glaubt vielmehr, über alle moralisch oder rechtlich gebotenen oder erlaubten Inhalte menschlichen Strebens und Tuns im Prinzip durch ein von reiner Vernunft gesetztes Ordnungsmuster innerer und äußerer Freiheit befinden zu können. Mit dem Satz, dass eine »praktische Philosophie […] nicht Natur, sondern die Freiheit der Willkür zum Objekte hat«,59 soll für Kant vorentschieden sein, dass die Prinzipien der Moral und des Rechts nicht aus der Natur des Menschen zu entwickeln sind. Und mit dem Verständnis von Metaphysik als einem »System der Erkenntnis a priori aus bloßen Begriffen«60 ist für ihn klar, dass seine praktischen Prinzipien sämtlich als apriorische, erfahrungsunabhängige Vernunftsätze auftreten. Gleichwohl müsse eine Metaphysik der Sitten »die besondere Natur des Menschen, die nur durch Erfahrung 57 S. theol. II–II, qu. 66 a. 7 co.; Et ideo res quas aliqui superabundanter habent, ex naturali iure debentur pauperum sustentationi […]. Sed quia multi sunt necessitatem patientes, et non potest ex eadem re omnibus subveniri, committitur arbitrio unuscuiusque dispensatio propriarum rerum, ut ex eis subveniat necessitatem patientibus. 58 Obgleich seine Lehre von den Anlagen der menschlichen Natur (Rel VI, 26 ff.) der Lehre von den inclinationes naturales weitgehend entspricht. 59 MdS Einl. VI, 216. 60 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 332

08.11.2021 16:20:50

2. Zu Kants Vernunftrecht

333

erkannt wird, zum Gegenstand nehmen […], um an ihr die Folgerungen aus den allgemeinen moralischen Prinzipien zu zeigen«.61 Eine Metaphysik der Sitten, und damit auch eine Philosophie des Rechts, so Kant, könne zwar nicht auf Anthropologie gegründet, aber könne bzw. müsse auf sie angewandt werden. Kants Auskünfte über dieses sein Verfahren der Anwendung sind spärlich und einigermaßen kryptisch: Durch die Anwendung apriorischer Grundsätze oder eines apriorischen Prinzips auf die durch Erfahrung erkannte Natur des Menschen sollen sich jedenfalls Folgerungen aufzeigen lassen. Mit »Folgerungen« sind wohl normative Aussagen der Art gemeint, wie sie Kant beispielsweise unter dem Titel »Von dem auf dingliche Art persönlichen Recht« in den §§ 24–30 der Rechtslehre über das Eherecht, das Elternrecht und das Hausherrenrecht entwickelt. Relevante Aussagen über die »besondere Natur des Menschen, die nur durch Erfahrung erkannt wird«, wären hier etwa generelle Fakten über die Geschlechtlichkeit des Menschen, über die Zeugung und Aufzucht von Kindern und über Hilfsdienste, die Menschen anderen Menschen erbringen müssen und zu erbringen geeignet sind. Die Folgerungen sollen sich aus der Anwendung des Rechtsprinzips auf diese generellen Fakten ergeben. Sie stimmen im Ergebnis weitgehend mit den Gedanken des Thomas zu diesen Themen überein. Aber sie stimmen, wie sich zeigen lässt, mit ihm nur deshalb überein, weil Kant neben seinem formal formulierten Rechtsprinzip entgegen manchen seiner Bekundungen nicht nur mit hochgenerellen anthro­ pologischen Fakten, sondern auch mit einer auf das moralische Bewusstsein gestützten teleologischen Beurteilung dieser Fakten arbeitet, die er (zu einem erheblichen Teil jedenfalls noch) mit Thomas von Aquin und der scholastischen Tradition teilt. Ohne diese Gemeinsamkeit könnte man mit bloßer Anwendung seines rein formal verstandenen Rechtsprinzips auf eine rein empirisch gefasste menschliche Natur auch zu ganz anderen Ergebnissen kommen. Der feste Anker dieser Gemeinsamkeit findet sich in Kants Rede von der »Menschheit« und dem »Recht der Menschheit« in seiner eigenen Person oder in der Person eines anderen. Für Kant ist der Mensch als (im weiten Sinn des Wortes) moralisches Wesen der Endzweck der Schöpfung.62 Mit »Menschheit« ist eine Idee, ist der Mensch im Status der Vollkommenheit gemeint.63 Der 61 Ebd., 217. 62 Vgl. KdU V, § 86. 63 Vgl. KrV A 568/B 596;

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 333

08.11.2021 16:20:50

334

XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich

Mensch, so Kant, trägt die Idee der Menschheit »als das Urbild seiner Handlungen in seiner Seele«.64 »Es ist nämlich etwas in uns, was zu bewundern wir niemals aufhören können, wenn wir es einmal ins Auge gefasst haben, und dieses ist zugleich dasjenige, was die Menschheit in der Idee zu einer Würde erhebt, die man am Menschen als Gegenstande der Erfahrung nicht vermuten sollte. Dass wir den moralischen Gesetzen unterworfen und zu deren Beobachtung selbst mit Aufopferung aller ihnen widerstreitenden Lebensannehmlichkeiten durch unsere Vernunft bestimmte Wesen sind, darüber wundert man sich nicht, weil es objektiv in der natürlichen Ordnung der Dinge als Objekte der reinen Vernunft liegt, jenen Gesetzen zu gehorchen (Hervorh. M. F.) […]. Aber dass wir auch das Vermögen dazu haben, der Moral mit unserer sinnlichen Natur so große Opfer zu bringen, dass wir das auch können, wovon wir ganz leicht und klar begreifen, dass wir es sollen, diese Überlegenheit des übersinnlichen Menschen in uns über den sinnlichen, desjenigen, gegen den der letztere (wenn es zum Widerstreit kommt) nichts ist, ob dieser zwar in seinen eigenen Augen alles ist, diese moralische, von der Menschheit unzertrennliche Anlage in uns ist ein Gegenstand der höchsten Bewunderung, die, je länger man dieses wahre (nicht erdachte) Ideal ansieht, nur immer desto höher steigt.«65

Kant kennt und anerkennt mit Thomas eine »natürliche Ordnung der Dinge als Objekt der reinen Vernunft« über einer Ordnung der Dinge, die unser (kausal erklärender) Verstand (allemal noch partikular und unvollkommen) über die Sinne erfasst. Diese natürliche Ordnung der Dinge als Objekt reiner (theoretischer und praktischer) Vernunft erstreckt sich in ihrer Relevanz auf Rechtsund Tugendpflichten des Menschen. Sie vernachlässigt, wer Kants Rechtsprinzip ausschließlich formal verstanden wissen möchte66 und Kants (nicht auf bloß theoretische Erfahrung gestützte) Rede von naturgemäßem und natur-

64 KrV A 318/B 374. 65 Streit d. Fakultäten, AA VII, 58 f. Kant unterscheidet sprachlich nicht immer zwischen Idee und Ideal der Menschheit. Dort, wo er terminologisch genau unterscheidet, ist Jesus, der »Sohn Gottes«, die »personifizierte Idee moralischer Vollkommenheit«, das »Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit« (Rel. VI, 60 f.). Zum Begriff der Würde (des Menschen) bei Kant siehe Sensen, Oliver 2011. 66 So etwa Ebbinghaus, Julius 1988.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 334

08.11.2021 16:20:50

2. Zu Kants Vernunftrecht

335

widrigem Verhalten (etwa im Zusammenhang von Suizid, Selbstverstümmelung oder den crimina carnis contra naturam) als Rückfall in eine typisch naturrechtliche, weil »am Sein orientierte Denkweise« kritisiert.67 Und sie nimmt nicht hinreichend ernst, wem zum Problem wird, wie Kant auf ein rein formales Verständnis des Rechtsprinzips eine Verantwortlichkeit des Menschen gegenüber »der Menschheit in seiner Person« gründen kann.68

2.2 Die Unterscheidung von Recht und Moral Kants praktische Philosophie geht vom Begriff unbedingter moralischer Verpflichtung (obligatio) aus. Dieser Begriff kennzeichne unser sittliches Selbstverständnis. Er lasse sich nicht über den Empfehlungs- oder Aufforderungsmodus von Regeln zur Realisierung persönlichen Glücks oder gesellschaftlicher Wohlfahrt verständlich machen. Wie im Theoretischen die Behauptung notwendiger Geltung von Sätzen über die Natur, so müsse sich auch im Praktischen die Behauptung notwendiger Geltung von Sätzen für menschliche Willkür dem Beitrag reiner, erfahrungsunabhängiger Vernunft zu unserem Selbst- und Weltverständnis verdanken. Kant gliedert Sittlichkeit nach dem Gesichtspunkt äußerer und innerer Freiheit in die Dimensionen der Rechtlichkeit und der Moralität. Der beide Dimensionen umfassende Gesichtspunkt ist, dass wir es mit in reiner Vernunft verankerter Normierung und Regulierung menschlicher Willkür zu tun haben. Und was hier als schlechterdings vernünftig zu gelten hat, muss jedenfalls die formalen Kriterien von Gesetzlichkeit, von Verallgemeinerungsfähigkeit, von Vereinbarkeit, von Gleichbehandlung des in relevanter Hinsicht Gleichen, von Unparteilichkeit erfüllen. Die Unterscheidung von Recht und Moral eröffnet sich durch die anthropologisch fundamentale Differenz eines Innen- und Außenbereichs des Menschen, zwischen dem Mentalbereich seines Denkens, Empfindens, Strebens und Wollens, und einer Außen-Sphäre, einem Bereich des raumzeitlichen Mit-, Neben- und Gegeneinanders, der allen Menschen auf gleiche Weise offen

67 So Geismann, Georg 1974, 34 Anm. 42; vgl. Hüning, Dieter 2004, 359. 68 Vgl. Kühl, Kristian 1999, 121; vgl. ders. 1991, v. a. 170–176.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 335

08.11.2021 16:20:50

336

XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich

und zugänglich ist, den man mit anderen teilt, und in dem man sich gegenseitig sein lassen, unterstützen, beeinträchtigen und vernichten kann. Der Begriff des Rechts, so Kant ganz ähnlich wie Thomas, bezieht sich nur auf die Regulierung menschlichen Verhaltens in dieser äußeren, allgemein zugänglichen Sphäre. Der Begriff der Moralität schließt das exklusive Selbstverhältnis zu Gedanken, Wünschen, Absichten, Gefühlen und Impulsen ein. Der Begriff der Moralität ist umfassend; er nimmt in gewisser Weise auch das Recht in sich auf: Es kann kein Rechtsgebot sein, sich moralisch zu verhalten; aber es ist ein moralisches, nicht nur ein rechtliches Gebot, dem Recht zu entsprechen. Unter Pflicht ist nach Kant eine Handlung zu verstehen, die als objektiv notwendig gedacht wird. Alle Pflichten gehören bloß darum, weil sie Pflichten sind, zur Ethik. Aber nicht alle Pflichten resultieren aus einer ethischen bzw. moralischen Gesetzgebung. Zwischen ethischer und juridischer Gesetzgebung ist streng zu unterscheiden: »Diejenige, welche eine Handlung zur Pflicht, und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht, ist ethisch. Diejenige aber, welche das Letztere nicht im Gesetze mit einschließt, mithin auch eine andere Triebfeder, als die Idee der Pflicht selbst, zulässt, ist juridisch.«69 Moralisch gute Handlungen erfolgen aus Pflicht, das heißt um der Pflicht willen. Rechtlich korrekt kann man auch aus anderen Motiven sein. Moralität hat die notwendige Form von Autonomie; das heißt, moralisches Verhalten erfolgt nach Gesetzen eigener Vernunft und ist allein durch eigene Vernunftgesichtspunkte hinreichend motiviert. Sie kann strenggenommen nicht durch äußere Gesetzgebung geboten werden; sie lässt sich von außen nur empfehlen bzw. unterstützen. Rechtlichkeit bezieht sich auf das äußere Verhalten, auf den Bereich des Handelns in Raum und Zeit mit anderen lebenden leibhaften Menschen, und ist letztlich über die physisch-psychische Beschaffenheit des Menschen ihrem Wesen nach auch erzwingbar. Sieht man von der besonderen Struktur und Pointierung des kantischen Autonomiebegriffs einmal ab, so besteht bezüglich der prinzipiellen Unterscheidung von Recht und Moral zwischen Thomas und Kant kein nennenswerter Dissens. Die Würde und Selbstzweckhaftigkeit des Menschen resultiert für Kant daraus, dass er sich selbst Zwecke setzen und die selbstgesetzten Zwecke überlegt und nach Gesichtspunkten der Vernunft verfolgen kann. Derselbe Gedanke findet sich bei Thomas. Die Aktualisierung der Würde betrifft die innere und 69 MdS Einl. AA VI, 219.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 336

08.11.2021 16:20:50

2. Zu Kants Vernunftrecht

337

äußere Sphäre der Person. Vernunft sagt uns, dass die äußere Sphäre der Handlungsfreiheit, in der die Menschen sich beeinträchtigen, aber nicht gegenseitig moralisch bestimmen können, gerecht zu verteilen und diese Verteilung zu sichern ist. Auch darüber sind sich beide einig. Während jedoch für Thomas nun neben dem Prinzip der Freiheit und Gleichheit, auf der Basis vernünftiger Bejahung der natürlichen menschlichen Neigung zur Gemeinschaft, auch das Prinzip der Solidarität und des Gemeinschaftlichen in den Vernunftbegriff des Rechts eingeht, will Kant (in sichtlichem Anschluss an Thomas Hobbes), im Ausgang bloß vom Gedanken möglicher Beeinträchtigung der Willkür des Einzelnen in der äußeren Sphäre des Handelns durch den anderen, diesen Begriff allein auf den Gedanken der erzwingbaren Vereinbarkeit der Willkürfreiheit eines jeden mit der jedes anderen nach allgemeinen Gesetzen gegründet wissen. Aus dieser Prämisse speist sich die Evidenz von Kants (liberalem) Vernunftbegriff des Rechts und dem daraus resultierenden Prinzip rechtlicher Normierung des Handelns: »Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.« »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.«70 Kant begründet weder die Moralität noch das Recht funktional über ihre Dienlichkeit für das Glück und das Heil des Einzelnen und für die Wohlfahrt der Gruppe. Doch während Kants Verständnis von Moralität die verpflichtende Sorge um das Glück des anderen einschließt, hat es das Recht für ihn nur mit dem Schutz bzw. der Sicherung der Freiheit zu tun, allerdings (wenn man sein Rechtsprinzip nicht nur formal versteht) mit dem Schutz einer Freiheit, die der »Menschheit im Menschen«, die der Würde des Menschen gerecht wird.71 In Moralität und Recht findet die Würde der Person in ihrem inneren und äußeren Willkürgebrauch ihren Ausdruck, ihre Verwirklichung und ihre Anerkennung. In diesem Sinn sind die Prinzipien der Moral und des Rechts reine Vernunftprinzipien. Dem widerspricht keineswegs der Zwangscharakter des Rechts: Unrecht ist ein Hindernis äußerer Freiheit nach allgemeinen Gesetzen. Zwang, der diesem Hindernis sich entgegenstellt, ist als Beseitigung oder Ver70 MdS Einl. § B Ende u. § C Anfang, AA VI, 230. 71 Zum Würdebegriff bei Kant vgl. Forschner, Maximilian 1998, 91–119.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 337

08.11.2021 16:20:50

338

XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich

hinderung eines Hindernisses der Freiheit je nach den Umständen nicht nur erlaubt, sondern auch geboten. Und die Androhung von Zwangsmaßnahmen überlässt es dem Rechtssubjekt, aus welchem Motiv heraus es sich rechtlich verhält. Rechtspflichten sind Pflichten, die erzwingbar sind. Sie beziehen sich auf die Unterlassung von Rechtsverletzungen bzw. das Einlösen von Schuldigkeiten. Ein Recht haben und in Anspruch nehmen besagt, die Willkür des anderen bzw. anderer in ihrer Äußerung im Handeln auf etwas verpflichten. Diese Befugnis, dem anderen ein Gesetz seines Verhaltens vorzugeben, kann nach Kant nur im fundamentalen Menschenrecht auf Freiheit gründen, das Ausdruck seiner Würde ist: »Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.«72 Das Recht, einen anderen auf ein Verhalten zu verpflichten und dieses Verhalten notfalls zu erzwingen, diese Grundstruktur von Rechtsgesetzen überhaupt lässt sich nach Kant rational nicht auch als rechtliche Verpflichtung zur Hilfe, sondern nur als »Abwehr von Fremdbestimmung«73 begründen. Alle Rechtsgesetze müssen diesem Kriterium genügen. Kant kennt dementsprechend nur ein einziges ursprüngliches Menschenrecht, das Recht auf Freiheit, die mit der Freiheit aller anderen nach einem allgemeinen Gesetz zusammenstimmt; dieses ursprüngliche Recht, das auch die Norm der Gegenseitigkeit, der Symmetrie, der Gleichheit impliziert. Auf dieses ursprüngliche Recht stützen sich andere wesentliche Rechte wie das Recht auf Leben, auf leibliche Unversehrtheit etc. Dies besagt andererseits, dass nach diesem Vernunftprinzip des Rechts sich aus der Bedürfnisnatur des Menschen oder aus irgendwelchen Zielvorstellungen menschlicher Wohlfahrt kein (erzwingbares) Menschenrecht ableiten lässt. Der Not des anderen abzuhelfen ist für Kant eine Tugendpflicht und eine Zielvorgabe der Moral, nicht des Rechts.

72 MdS VI, 237. 73 Kersting, Wolfgang 2004, 49.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 338

08.11.2021 16:20:50

2. Zu Kants Vernunftrecht

339

2.3 Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft Im Blick auf den Gebrauch von Gegenständen in der Welt impliziert das universale Rechtsgesetz ein Vernunftpostulat, das Kant »ein Erlaubnisgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft« nennt, »nämlich allen andern eine Verbindlichkeit aufzulegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände der Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie in unsern Besitz genommen haben«.74 Dieses Vernunftpostulat beinhaltet sowohl Kants Grundlegung des Privateigentums als auch die Begründung des Erfordernisses der Positivierung des Rechts im Staat. Seine Argumentation arbeitet mit folgenden Kerngedanken: (a) Das rechtlich Meine (meum iuris) sind jene von mir verschiedenen ­Dinge, mit denen ich (auf intelligible Weise) so verbunden bin, dass der Gebrauch, den ein anderer ohne meine Einwilligung von ihnen machen möchte, mich lädieren würde.75 (b) Ein Gegenstand meiner Willkür ist etwas, wovon beliebigen Gebrauch zu machen ich physisch in der Lage bin. Gegenstände menschlicher Willkür, die keinen Selbstzweckcharakter haben, von der Möglichkeit beliebigen Gebrauchs auszuschließen, wäre freiheits- und damit rechtswidrig. Die Willkür eines Menschen im Gebrauch von Sachen ist dann rechtlich, wenn sie mit jedermanns äußerer Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmt. Es ist so gesehen »eine Voraussetzung a priori der praktischen Vernunft, einen jeden Gegenstand meiner Willkür als objektiv mögliches Mein oder Dein anzusehen und zu behandeln«.76 (c) Es ist ein Postulat der praktischen Vernunft, das Erforderliche zu tun, um Eigentumsbeziehungen möglich zu machen. Empirische Akte erzeugen kein Recht; sie sind rechtskonstitutiv und rechtsverbindlich nur, wenn sie unter der Idee des Rechts und ihr entsprechend vollzogen werden. Ihr ist die Idee eines »ursprünglich und a priori vereinigten Willen[s]«,77 also einer bürgerlichen Verfassung, eines Staates zugeordnet, der in der Lage ist, dem möglichen Mein oder Dein äußerer Gegenstände nach allgemeinen Gesetzen rechtskräf­ tige Geltung zu verschaffen. 74 75 76 77

MdS Rechtslehre § 2, VI, 247. Ebd., § 1, VI, 245. Ebd., § 2, VI, 246. Ebd., § 16, VI, 267.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 339

08.11.2021 16:20:50

340

XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich

(d) Unter dieser Idee und ihr gemäß wird der empirische Akt der ersten Aneignung von Gegenständen, die man gebrauchen kann und von deren eigenmächtigen Gebrauch man alle anderen ausgeschlossen wissen will, zu einem Akt, der alle zur Zustimmung verpflichtet, die von dieser Besitzergreifung betroffen sind. Er ist von allen, die diesen einseitigen Akt fraglich finden, als verpflichtende Initiative zur Etablierung eines positiven Rechtszustandes zu betrachten, der die Institution des Privateigentums nach der Idee des Rechts durch öffentliche Gesetze anerkennt und wirksam sanktioniert. (e) Das äußere Mein zu beanspruchen ist eine Sache natürlichen Rechts und dem Staate vorgängig. Die »bürgerliche Verfassung ist allein der rechtliche Zustand, durch welchen jedem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt wird«.78 Gleichwohl ist das naturrechtliche Mein, solange seine Bestimmung vom Privaturteil und seine Sicherung von privater Macht abhängt, nur ein »provisorisch-rechtlicher« Besitz gemäß der antizipatorischen Idee des Staates. Er wird zum »peremtorisch-rechtlichen« Besitz erst im Rahmen einer wirklichen bürgerlichen Verfassung, in der ein kollektiv-allgemeiner, machthabender Wille jene Gegenseitigkeit sicherstellt, »das äußere Seine des anderen unangetastet zu lassen«.79 Nun enthalten die §§ 10 und 11 sowie 17 und 18 der Rechtslehre80 eine Ambivalenz bezüglich einer sozialen und einer liberalen Fundierung des Privateigentums. Entsprechend ist unter Interpreten strittig, ob dem Staat in Kants Augen nur die Aufgabe zukommt, das provisorische Eigentum des Naturzustands zu sichern, oder ob er auch die Aufgabe hat, nach Gesichtspunkten der Gleichheit kontinuierlich für eine gerechte Verteilung der Eigentums- und Freiheitschancen zu sorgen.81 Falls Letzteres im Sinne Kants ist, der Staat nach ihm sich also auch um die Realisierungsbedingungen der Freiheit aller zu kümmern hat, dann rückt seine Eigentumstheorie im Ergebnis, allerdings nur im Ergebnis in große Nähe zu jener des Thomas von Aquin.

78 Ebd., § 9, VI, 256. 79 Ebd., § 8, VI, 255. 80 MdS VI, 258–261; 268–271. 81 Vgl. dazu Kühl, Kristian 1999, 119–132; dort auch weitere Literaturhinweise zu dieser Frage.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 340

08.11.2021 16:20:50

2. Zu Kants Vernunftrecht

341

2.4 Das »häusliche« Recht Kant unterscheidet dem Gegenstand nach den Erwerb und rechtlichen Besitz einer körperlichen Sache oder der Leistung eines anderen oder dieser anderen Person selbst, »d. i. den Zustand derselben, sofern ich ein Recht erlange, über denselben zu verfügen (das Commercium mit derselben)«.82 Er gliedert nach dieser Unterscheidung das Privatrecht in Sachenrecht, persönliches Recht und dinglich-persönliches Recht. Von besonderem Interesse ist für unseren Vergleich der dritte Titel, der das »häusliche Recht« beinhaltet, unter dem Kant das Eherecht, das Elternrecht und das Hausherrenrecht versteht. Spielen hier doch eigentumsrechtlich Person und Sache engstens und auf eigentümliche Weise zusammen. Die Eigentümlichkeit der Beziehung bringt Kant zum Ausdruck mit dem Satz: »Dieses Recht ist das des Besitzes eines äußeren Gegenstandes als einer Sache und des Gebrauchs desselben als einer Person.«83 Der Form nach, so Kant, handelt es sich hier um eine Eigentumsbeziehung »gleich als nach einem Sachenrecht«,84 weil der rechtmäßige Besitzer, wenn ihm das Besessene »entläuft, es durch einseitige Willkür in seine Gewalt« zurückgebracht werden kann.85 Der Materie nach, das heißt, welchen Gebrauch man von diesem »Eigentum« machen kann, dagegen gilt, dass »man sich nie als Eigentümer desselben […] betragen [kann]«, weil es niemals »aufhört, eine Person zu sein«.86 Das heißt, es gilt, was immer man hier tut, die »Menschheit in der Person« des anderen zu achten. Kant unterscheidet im Rahmen des häuslichen Rechts drei solcher Beziehungen: »Der Mann erwirbt ein Weib, das Paar erwirbt Kinder und die Familie Gesinde.«87 Ich konzentriere mich hier auf die eheliche Beziehung. Die Ehe versteht Kant als Rechtsinstitut der Geschlechtsgemeinschaft (commercium sexuale), das heißt des »wechselseitige[n] Gebrauch[s], den ein Mensch von eines anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht (usus membrorum et facultatum sexualium alterius)«, »die Verbindung zweier Per-

82 MdS Rechtslehre § 10, VI, 259. 83 Ebd., § 22, VI, 276. 84 Ebd., § 30, VI, 283. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Ebd., § 23, VI, 277.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 341

08.11.2021 16:20:50

342

XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich

sonen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften«.88 Die Erwerbung einer Gattin oder eines Gatten geschieht, so Kant, »nicht facto (durch die Beiwohnung) ohne vorhergehenden Vertrag, auch nicht pacto (durch den bloßen ehelichen Vertrag ohne nachfolgende Beiwohnung), sondern nur lege: d. i. als rechtliche Folge aus der Verbindlichkeit in eine Geschlechtsverbindung nicht anders, als vermittelst des wechselseitigen Besitzes der Personen, als welcher nur durch den gleichfalls wechselseitigen Gebrauch ihrer Geschlechtseigentümlichkeiten seine Wirklichkeit erhält, zu treten«.89

Naturale Voraussetzungen, die zur Gründung eines Hauswesens motivieren, sieht Kant einmal im »Zweck der Natur«, »Kinder zu erzeugen und zu erziehen«, und zum anderen in der Ausrichtung auf die »Lust zum wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtseigenschaften«.90 Die Institution selbst ist zu verstehen als »Gemeinschaft freier Personen, die durch den wechselseitigen Einfluss (der Person des einen auf das andere) nach dem Prinzip der äußeren Freiheit (Kausalität) eine Gesellschaft von Gliedern eines Ganzen (in Gemeinschaft stehender Personen) ausmachen«.91 Dem elementaren Freiheitsrecht des Menschen, den natürlichen Neigungen und Zwecken zu folgen, korrespondiert eine elementare Verpflichtung des Menschen auf »die Menschheit in seiner eigenen Person« und der Person jedes anderen. Und aus dieser Verpflichtung wiederum entspringt »ein Recht (ius personale) beider Geschlechter […], sich als Personen wechselseitig einander auf dingliche Art durch Ehe zu erwerben«.92 In diesem Sinn schließt Kant das Rechtsinstitut der Ehe an die Eigentumstheorie an und versteht die Grundsätze dieses Instituts als Folgerungen der Anwendung des Vernunftprinzips des Rechts auf die menschliche Natur. Aus dieser Anwendung soll sich der monogame und »lebenswierige«, das heißt unauflösliche, nur mit dem Tod eines Partners endende Charakter der Ehe erge-

88 89 90 91 92

Ebd., § 24, VI, 277. Ebd., § 27, VI, 280; vgl. § 22, VI, 276. Ebd., § 24, VI, 277. Ebd., § 22, VI, 276. Ebd., § 28, VI, 280.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 342

08.11.2021 16:20:50

2. Zu Kants Vernunftrecht

343

ben. Den Kern der Begründung bietet Kant im § 25 der Rechtslehre, der hier im Ganzen zitiert zu werden verdient: »Denn der natürliche Gebrauch, den ein Geschlecht von den Geschlechts­ organen des anderen macht, ist ein Genuss, zu dem sich ein Teil dem anderen hingibt. In diesem Akt macht sich ein Mensch selbst zur Sache, welches dem Rechte der Menschheit an seiner eigenen Person widerstreitet. Nur unter der einzigen Bedingung ist dieses möglich, dass, indem die eine Person von der anderen gleich als Sache erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe; denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her. Es ist aber der Erwerb eines Gliedmaßes am Menschen zugleich Erwerbung der ganzen Person, – weil diese eine absolute Einheit ist; – folglich ist die Hingebung und Annehmung eines Geschlechts zum Genuss des andern nicht allein unter der Bedingung der Ehe zulässig, sondern auch allein unter derselben möglich. Dass aber dieses persönliche Recht es doch zugleich auf dingliche Art sei, gründet sich darauf, weil, wenn eines der Eheleute sich verlaufen, oder sich in eines anderen Besitz gegeben hat, das andere es jederzeit und unweigerlich gleich als eine Sache in seine Gewalt zurückzubringen berechtigt ist.«93

Gesetzt, diese Argumentation ist verständlich und schlüssig, so macht sie die Rechtlichkeit der Eheschließung ebenso wie die Rechtlichkeit und Moralität der Akte der Geschlechtsgemeinschaft von der subjektiven Zwecksetzung der Kinderzeugung unabhängig. Dies wird von Kant denn auch explizit vorweg gesagt: »Der Zweck, Kinder zu erzeugen und zu erziehen, mag immer ein Zweck der Natur sein, zu welchem sie die Neigung der Geschlechter gegeneinander einpflanzte; aber dass der Mensch, der sich verehelicht, diesen Zweck sich vorset93 Ebd., § 25, VI, 278. Kant konstruiert die Institution der Ehe als Geschlechts- und Lebensgemeinschaft wohl nach dem Rousseau’schen Modell der Konstitution einer volonté générale: Indem man sich gegenseitig dem anderen für immer verbindlich völlig hingibt, konstituiert sich ein gemeinsames Ich mit einem gemeinsamen Willen, der die elementaren Interessen der Glieder des dadurch entstehenden Ganzen wahrt. Es entsteht durch die Eheschließung eine moralisch-rechtliche Person (vgl. AA XX, 463, 16–21; KdU AA V, 425). Dadurch und nur dadurch wird der Makel der »Selbstverdinglichung« des Menschen in der Hingabe »zum Objekt der Wollust« des anderen aufgehoben und die Freiheit der Person gewahrt (vgl. AA XXVII, 638, 27–37). Vgl. dazu Brandt, Reinhard 2005, 113–131, hier 124 f.; ders., 2010, 140–143.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 343

08.11.2021 16:20:50

344

XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich

zen müsse, wird zur Rechtmäßigkeit dieser seiner Verbindung nicht erfordert; denn sonst würde, wenn das Kinderzeugen aufhört, die Ehe sich zugleich von selbst auflösen.«94

Nichts wird allerdings zur Frage der Rechtlichkeit einer Ehe gesagt, in der die Kinderzeugung positiv ausgeschlossen ist oder wird. Kant sieht offensichtlich das entscheidende Problem, für das die Ehe die Lösung bietet, in dem Sachverhalt, dass der Mensch in sexueller Hingabe sich zur Sache herabwürdigt, sich verdinglicht bzw. verdinglicht wird.95 Diese Verdinglichung und in ihr die Entwürdigung wird nicht dadurch vermieden, dass die Partner freiwillig und zu beiderseitigem Genuss bei der Sache sind. Sie wird nur dadurch vermieden bzw. aufgehoben, dass zwei Partner sich gegenseitig, exklusiv und lebenslang auf die Lebens- und Geschlechtsgemeinschaft rechtlich verpflichten. Nach dem Gesichtspunkt der Gleichheit muss die Verbindung monogam, nach dem Gesichtspunkt der (qualitativen) Identität der Person muss sie monogam und »lebenswierig« sein. So und nur so kann gelebte Sexualität in das integriert werden, was Kant »Persönlichkeit« nennt und freies, sittliches Menschsein bedeutet. Kants Begründung der Ehe ist dem Wortlaut und der Argumentation nach so, dass sie sowohl die Rechts- als auch (jedenfalls zum Teil) die Moralitätsbedingungen für eine Geschlechtsgemeinschaft formuliert. Sie ist aber keineswegs so, dass sie auch einen rechtlichen oder moralischen Grund für das Erfordernis der Geschlechtsdifferenz der Ehepartner bieten würde. Einen solchen Grund könnte ein rein formal verstandenes Vernunftprinzip des Rechts in Anwendung auf eine rein deskriptiv-empirisch verstandene Natur des Menschen auch nicht liefern, selbst wenn uns die Empirie eine überzeugende funktionale Erklärung der menschlichen Sexualität bieten mag. Dazu bedarf Kant im Sinne der Tradition einer teleologisch-normativen Interpretation und Beurteilung der menschlichen Natur und der faktischen Differenz und Neigung ihrer Geschlechter. Kant setzt ganz offensichtlich eine solche Interpretation voraus, indem er über die physisch-biologische Möglichkeit, »seinesgleichen zu erzeugen«, den »natürlichen« gegenseitigen Gebrauch der Geschlechts­organe 94 MdS Rechtslehre, § 24, VI, 277. 95 Genaugenommen meint Kant, dass der Geschlechtsakt eine Sache des »tierischen Instinkts« in uns ist und nur durch die Ehe seiner Unwürdigkeit entledigt werden kann (vgl. AA XX, 463).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 344

08.11.2021 16:20:50

2. Zu Kants Vernunftrecht

345

bestimmt und allen »unnatürlichen« Gebrauch als »Läsion der Menschheit in unserer eigenen Person« bewertet. Der wechselseitige Gebrauch der Geschlechtsorgane ist »entweder ein natürlicher (wodurch seinesgleichen erzeugt werden kann), oder unnatürlicher Gebrauch und dieser entweder an einer Person ebendesselben Geschlechts, oder einem Tiere von einer andern als der Menschen-Gattung; welche Übertretungen der Gesetze, unnatürliche Laster (crimina carnis contra naturam), die auch unnennbar heißen, als Läsion der Menschheit in unserer eigenen Person, durch gar keine Einschränkungen und Ausnahmen wider die gänzliche Verwerfung gerettet werden können«.96

Kants Theorie der Ehe basiert auf seinem Prinzip des Rechts, des Eigentums und der menschlichen Würde, und sie interpretiert und integriert von diesen Gesichtspunkten aus die naturalen Fakten. Zweifellos ist diese Theorie in manchem, ganz ähnlich wie seine kritische Erkenntnistheorie oder seine Theorie über die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft, dem Stand der avanciertesten Philosophie und Wissenschaft seiner Zeit verpflichtet. Zweifellos fallen seine Begründungen zum Teil sehr kurz und vage aus. Und zweifellos sind sie diskussionsbedürftig. Doch Kant argumentiert aus der Perspektive seiner kritischen Moralphilosophie. Das Theoriestück über »Das Recht der häuslichen Gesellschaft« als ein vorkritisches Relikt oder einen Rückfall in überwunden Geglaubtes zu betrachten, scheint mir abwegig zu sein; es ist vielmehr beispielhaft für sein Verständnis des natürlichen Rechts. Dieses mag in vielem der Moderne überholt, gar anstößig erscheinen. Doch Kants Rechtsphilosophie hat ebenso wie seine Moralphilosophie bzw. Tugendlehre ungleich mehr mit dem traditionellen, insbesondere dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Naturrecht gemein, als manche seiner modernen Interpreten zu sehen geneigt sind. Ein rein formales Prinzip des Vernunftrechts in Anwen-

96 MdS Rechtslehre, § 24, VI, 277. »Hier also stoßen wir auf den Begriff des Natürlichen, wobei nicht die mechanische Natur der Physik gemeint sein kann, sondern die Natur der Zwecke. Welche Rolle spielt genau das natürliche Erlaubnisgesetz für das Eherecht? Hier scheint der Zweck der Ehe, den Kant auf der subjektiven Ebene für irrelevant erklärte, auf der objektiven Ebene von genereller Zulässigkeit und Verbot des Gebrauchs der Geschlechtsorgane zurückzukehren, so daß wir von der Tradition, die die Ehe in ihrem Zweck der Kinderzeugung begründete, nicht so fern sind« (Brandt, Reinhard 2005, 126).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 345

08.11.2021 16:20:50

346

XIII. Naturrecht bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant: Ein kritischer Vergleich

dung auf die Fakten einer rein deskriptiv-empirisch verstandenen menschlichen Natur und Geschichte könnte auch unmöglich all jene vernunftrechtlich fundierten rechtlichen »Folgerungen« ergeben, die seiner Form eines sich aufgeklärt verstehenden Geistes noch als selbstverständlich galten. Kant rezipiert seinerzeit noch »Selbstverständliches«, indem er aus moralischer Perspektive naturale Fakten gewohnt teleologisch interpretiert.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 346

08.11.2021 16:20:50

XIV. Zeitliches ­Gericht und ­Endgericht: Zu Kants Theorie der Strafe »Eine jede das Recht eines Menschen kränkende Tat verdient Strafe, wodurch das Verbrechen an dem Täter gerächt (nicht bloß der zugefügte Schade ersetzt) wird.« Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre § 36, AA VI, 460 »Die andere (intellektuale) Welt ist eigentlich die, wo Glückseligkeit genau mit der Sittlichkeit zusammenstimmt: Himmel und Hölle […]. Die andere Welt ist ein notwendig moralisches Ideal.« Immanuel Kant, AA XIX, Reflexion 6838, S. 176

1. Das göttliche Strafgericht Kant gliedert seine Rechtslehre in zwei Teile, in das Privatrecht und das öffentliche Recht. Der zweite Teil wiederum gliedert sich in das Staatsrecht, das Völkerrecht und das Weltbürgerrecht. Innerhalb des Staatsrechts handelt er, im Rahmen einer allgemeinen Anmerkung, im Abschnitt E »Vom Straf- und Begnadigungsrecht«1. Der Ort dieser kurzen Abhandlung ist mit Bedacht gewählt; denn unter Strafe will Kant ein hoheitlich geregeltes Tun, nicht eine auf persönlicher Willkür beruhende reaktive Handlungsweise verstanden wissen. Strafe gibt es so gesehen nur im Rahmen eines rechtlichen Zustandes: »Nun ist aber Strafe nicht ein Akt der Privatautorität des Beleidigten, sondern eines von ihm unterschiedenen Gerichtshofes, der den Gesetzen eines Oberen über alle, die demselben unterworfen sind, Effekt gibt.«2 Kants Sittenlehre unterscheidet zwischen dem moralischen und dem rechtlichen Aspekt menschlichen Handelns, wobei der moralische Aspekt auch den 1 MdS VI, 331–337. 2 MdS Tugendlehre § 36, V, 460.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 347

08.11.2021 16:20:50

348

XIV. Zeitliches ­Gericht und E­ ndgericht: Zu Kants Theorie der Strafe

rechtlichen einschließt, da das Recht, wie Kant sagt, uns auch eine moralische Verbindlichkeit auferlegt:3 Ich bin moralisch verpflichtet, mich rechtlich zu verhalten.4 Der rechtliche Aspekt betrifft nur das äußere, intersubjektiv beobachtbare, überprüfbare, erzwingbare Verhalten, während der moralische Aspekt auch die (unerzwingbare) subjektive Gesinnung umfasst, aus der heraus man handelt, die Gesinnung, deren innersten Kern wir Menschen letztlich nicht zu erkennen in der Lage sind, den, wie Kant immer wieder betont, nur der göttliche »Herzenskenner« treffend zu beurteilen vermag. Entsprechend unterscheidet er zwischen einem menschlichen und einem göttlichen Gerichtshof, zwischen einem menschlichen und einem göttlichen Gesetzgeber, zwischen einem menschlichen bzw. »bürgerlichen« rechtlichen Zustande und einem solchen »nach reinen Vernunftgesetzen«. Es ist Sache des zeitlichen Staates und seiner Institutionen, unser äußeres Verhalten zu regulieren, es (nach objektiven Maßstäben und überprüfbaren Tatbeständen) zu beurteilen und notfalls auch zu bestrafen. Es ist Sache nicht der Menschen und ihres Staates, sondern einzig und allein Gottes, über die Moralität unseres Handelns zu befinden. Dies betrifft nicht zuletzt auch die Strafpraxis. »[U]nd wenn wir die Menschen (wie es in der Ethik notwendig ist) in einem rechtlichen Zustande, aber nach bloßen Vernunftgesetzen (nicht nach bürgerlichen) betrachten, so hat niemand die Befugnis Strafen zu verhängen und von Menschen erlittene Beleidigung zu rächen, als der, welcher auch der oberste moralische Gesetzgeber ist, und dieser allein (nämlich Gott) kann sagen: ›Die Rache ist mein; ich will vergelten‹.«5

Gott wird denn auch, nach den für uns Menschen in praktischer Absicht notwendigen Vernunftprinzipien der Beurteilung der Welt und unseres Daseins in ihr, über die Moralität unseres Handelns urteilen und »Richtersprüche nach der strengsten Beurteilung« fällen.6 Das heißt, er wird nach dem Gesichtspunkt der Würdigkeit und Unwürdigkeit bzw. der Schuld und Unschuld die

3 MdS VI, 230. 4 »Das Rechthandeln mir zur Maxime zu machen, ist eine Forderung, die die Ethik an mich tut« (MdS VI, 231). 5 MdS VI, 460. Kant zitiert Paulus, Röm 12, 19. 6 AA XIX, R. 7060, S. 239.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 348

08.11.2021 16:20:50

1. Das göttliche Strafgericht

349

Guten belohnen und die Bösen bestrafen. Dabei spielen die Güte Gottes und seine Gerechtigkeit bruchlos zusammen: »Gott, als die Liebe betrachtet (in seinem Sohn), richtet die Menschen sofern, als ihnen über ihre Schuldigkeit noch ein Verdienst zustattenkommen kann, und da ist sein Ausspruch: würdig oder nichtwürdig. Er sondert diejenigen als die Seinen aus, denen ein solches noch zugerechnet werden kann. Die Übrigen gehen leer aus. Dagegen ist die Sentenz des Richters nach Gerechtigkeit (des eigentlich so zu nennenden Richters unter dem Namen des heiligen Geistes) über die, denen kein Verdienst zustattenkommen kann: schuldig oder unschuldig, d. i. Verdammung oder Lossprechung.«7

Nur wenn das höchste (abgeleitete) Gut, wenn letztendlich die Entsprechung von Würdigkeit und Glückseligkeit, von Unwürdigkeit und Glücklosigkeit bzw. Elend verwirklicht wird, können wir nach Gesichtspunkten reiner praktischer Vernunft mit der Welt und ihrer Ordnung einverstanden sein. »Wenn der rechtschaffene Mann unglücklich ist und der lasterhafte glücklich ist, so ist der Mensch nicht unvollkommen, sondern die Ordnung der Natur.«8 »Und eine Regierung der Welt würde böse sein, darin nicht alles nach dieser Würdigkeit angeordnet wäre.«9 Es ist für Kant ein entscheidendes Problem der Theodizee, bzw. der über das Weltgeschehen moralisch reflektierenden Urteilskraft, wenn es dem Guten schlecht, nicht zuletzt aber auch, wenn es dem »Bösewicht« in seinem Leben gut ergeht: »Nun gibt es aber noch eine Zweckmäßigkeit in dem Verhältnis der Übel zu dem moralischen Bösen, wenn das Letztere einmal da ist und nicht verhindert werden konnte oder sollte: nämlich in der Verbindung der Übel und Schmerzen als Strafen mit dem Bösen als Verbrechen; und von dieser Zweckmäßigkeit fragt es sich, ob jedem in der Welt hierin sein Recht widerfährt.«10 7 Rel VI, 145 f. Anm. 8 AA XIX, R. 6590, S. 98. 9 AA XIX, R. 6630, S. 118. Vgl. dazu die signifikante Entsprechung des Gedankens bei ­Cicero: Ut enim nec domus nec res publica ratione quadam et disciplina dissignata videatur, si in ea nec recte factis praemia extent ulla nec supplicia peccatis, sic mundi divina in homines moderatio profecto nulla est, si in ea discrimen nullum est bonorum et malorum (Cicero, De natura deorum III, 85). 10 Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, AA VIII, 257.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 349

08.11.2021 16:20:50

350

XIV. Zeitliches ­Gericht und E­ ndgericht: Zu Kants Theorie der Strafe

Ja, »[w]ir glauben die Spuren einer weisen Zweckbeziehung auch am Bösen wahrzunehmen, wenn wir nur sehen, dass der frevelhafte Bösewicht nicht eher stirbt, als bis er die wohlverschuldete Strafe seiner Untaten erlitten hat.«11 Kant glaubt sich hier im vollen Einklang mit »der frühesten Aufkeimung des menschlichen Vernunftvermögens«: »Sobald die Menschen über Recht und Unrecht zu reflektieren anfingen, in einer Zeit, wo sie über die Zweckmäßigkeit der Natur noch gleichgültig wegsahen, sie nützten, ohne sich dabei etwas anderes als den gewohnten Lauf der Natur zu denken, musste sich das Urteil unvermeidlich einfinden: dass es im Ausgange nimmermehr einerlei sein könne, ob ein Mensch sich redlich oder falsch, billig oder gewalttätig verhalten habe, wenn er gleich bis an sein Lebensende, wenigstens sichtbarlich, für seine Tugenden kein Glück, oder für seine Verbrechen keine Strafe angetroffen habe. Es ist: als ob sie in sich eine Stimme wahrnähmen, es müsse anders zugehen.«12

Kant unterscheidet, im Rahmen der moralisch über das Weltgeschehen reflektierenden Urteilskraft, drei Arten des Zweckwidrigen in der Welt: das moralisch Zweckwidrige bzw. eigentlich Böse (die Sünde), das physisch Zweckwidrige (das Übel, den Schmerz) und »das Missverhältnis der Verbrechen und Strafen in der Welt«.13 Die in moralisch-praktischer Absicht notwendige Idee »eine[r] nach moralischen Gesetzen die Welt beherrschende[n] oberste[n] Ursache«14 verbindet diese mit der Idee »der höchsten Weisheit des Welturhebers« und durch sie mit den Prädikaten der Heiligkeit, der Gütigkeit und der Gerechtigkeit, um auf die Probleme des Zweckwidrigen in der Welt eine befriedigende Antwort zu finden. Es ist nicht die Heiligkeit Gottes als Gesetzgeber bzw. Schöpfer und nicht die Gütigkeit Gottes als Erhalter, es ist »die Gerechtigkeit desselben als Richters in Vergleichung mit dem Übelstande, den das Missverhältnis zwischen der Straflosigkeit des Lasterhaften und ihren Verbrechen in der Welt zu zeigen scheint«,15 die hier in den Augen der Vernunft herausgefordert ist. Denn »[e]ine jede das Recht eines Menschen kränkende Tat verdient 11 12 13 14 15

KdU V, 449. KdU V, 458. Theodizee VIII, 265 f. KdU V, 458. Theodizee VIII, 457.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 350

08.11.2021 16:20:50

1. Das göttliche Strafgericht

351

Strafe, wodurch das Verbrechen an dem Täter gerächt (nicht bloß der zugefügte Schade ersetzt) wird«.16 Nach dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit ist ein zurechenbares Verbrechen praktisch notwendig mit Strafe verbunden, ganz unabhängig von irgendwelchen Zielen, denen die Strafe noch dienen mag. »Auch ist die Strafe in der Ausübung der Gerechtigkeit keineswegs als bloßes Mittel, sondern als Zweck in der gesetzgebenden Weisheit gegründet: die Übertretung wird mit Übeln verbunden, nicht damit ein anderes Gute herauskomme, sondern weil diese Verbindung an sich selbst, d. i. moralisch notwendig und gut ist.«17 Entgegen einer Theologie der Allnachsicht und Allverzeihung von oben und der inständigen Bitte um Allentschuldigung und Allbarmherzigkeit von unten plädiert Kant in seinem Vernunftglauben ganz dezidiert für die Beachtung und Einlösung des Gesichtspunkts göttlicher Gerechtigkeit: »Es ist unverschämt, um Glück oder nur um Straflosigkeit zu bitten, wenn man nicht ein besserer Mensch ist. Der göttliche Wille wird alsdenn nicht als ein heiliger, sondern eigenliebiger und despotischer Wille betrachtet, der keine Gesetze der innern Anständigkeit achtet und bloß den Einschmeichelungen Gehör gibt.«18

Für Kant ist es ein Urteil »selbst des gemeinsten Verstandes«, dass ohne vernünftige Wesen überhaupt, dass »ohne den Menschen die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck sein würde«.19 Doch auch damit, so Kant, »stimmt das gemeinste Urteil der gesunden Menschenvernunft vollkommen zusammen: nämlich dass der Mensch nur als moralisches Wesen ein Endzweck der Schöpfung sein könne […]. Was hilfts, wird man sagen, dass dieser Mensch so viel Talent hat, dass er damit sogar sehr tätig ist und dadurch einen nützlichen Einfluss auf das gemeine Wesen ausübt und also im Verhältnis sowohl auf seine Glücksumstände, als auch auf anderer Nutzen einen großen Wert hat, wenn er keinen guten Willen besitzt? Er ist ein verachtungswürdiges Objekt, wenn man ihn nach seinem Innern betrachtet; und wenn die Schöpfung nicht überall ohne 16 MdS VI, 460. 17 Theodizee VIII, 257 Anm. 18 AA XIX, R. 7093, S. 247. 19 KdU § 86, V, 442.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 351

08.11.2021 16:20:50

352

XIV. Zeitliches ­Gericht und E­ ndgericht: Zu Kants Theorie der Strafe

Endzweck sein soll, so muss er, der als Mensch auch dazugehört, doch als böser Mensch in einer Welt unter moralischen Gesetzen diesen gemäß seines subjektiven Zwecks (der Glückseligkeit) verlustig gehen, als der einzigen Bedingung, unter der seine Existenz mit dem Endzwecke zusammen bestehen kann.«20

2. Das menschliche Strafgericht Kant ist, so die bislang überwiegende Ansicht der Kantinterpreten,21 ein absoluter Vergeltungstheoretiker. Dies wird, was seine Theorie des staatlichen Strafrechts betrifft, von einem, wenn nicht dem derzeit maßgebenden22 Kommentar zu Kants Rechtsphilosophie23 ganz entschieden bestritten:24 Kant stehe in der Tradition von Achenwall; die (primäre) Funktion der Strafgesetze sei die Sicherung individueller Rechte; Vergeltung sei nur ein Mittel zu diesem Zweck und der allerdings entscheidende Maßstab zur Festlegung des Strafmaßes für Rechtsverletzungen. »Die Idee der Vergeltung dient einfach dazu, den Straftäter davor zu schützen, lediglich als Mittel zum Zweck der Abschreckung benützt zu werden. Der Zweck des Strafgesetzes ist für Kant somit Abschreckung, 20 KdU § 86, V, 443. Zu unterscheiden ist, auf der Basis des moralischen Selbstverständnisses, (a) zwischen dem Menschen (allein aufgrund seiner Anlage zur Persönlichkeit) als real existierendem Endzweck der Schöpfung (KrV B 425; A 840/B 868), (b) dem ihm durch seine Vernunft aufgegebenen praktischen Endzweck (die Beförderung des höchsten durch Freiheit möglichen Guts in der Welt) (KdU V, 195 f.; 450) und (c) dem Endzweck der Welt als »Endabsicht Gottes« bezüglich der Schöpfung bzw. als von der praktischen Urteilskraft vorausgesetzten Sinn des Weltganzen (eine den höchsten sittlichen Zwecken angemessene Welt), die einen »allgenugsamen«, verständigen und moralischen Gott zum Urheber hat (KdU V, 441; 477). Vgl. dazu Langthaler, Rudolf 2014, Bd. 1, S. 456: »[D]ie Frage nach einem ›Endzweck der Schöpfung‹ [verweist] einerseits auf die Weltstellung des Menschen als des existierenden Endzwecks der Schöpfung, während der ›praktische Endzweck‹ dieses existierenden ›Endzwecks der Schöpfung‹ einen Bezug auf die Frage nach dem ›letzten Endzweck, warum die Welt und der Mensch selbst da ist‹ voraussetzt, der in seiner ›Unbedingtheit‹ nach Kant freilich kein anderer sein kann als dies, ›dass eine moralische Welt sein soll‹.« 21 Vgl. etwa Oberer, Hariolf 1982, 399–423; Höffe, Otfried 1999, 213–233; Brandt, Reinhard 2010, 148–150. 22 Sämtliche Artikel zum Thema »Strafe« im neuen Kant-Lexikon wurden denn auch von Byrd, B. Sharon verfasst: Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr, Stefano Bacin (Hgg.), Kant-Lexikon, 3 Bde., Berlin/Boston 2015, Bd. 3: Stichworte: Strafarten, Strafe, Strafgerechtigkeit, Strafgesetz, Strafklugheit, Strafrecht, 2187–2193. 23 Byrd, B. Sharon/Hruschka, Joachim 2010. 24 Ebd., p. 270: »In light of Kant’s clarity of position, it is surprising that anyone has ever claimed he is an absolute retributivist for punishment imposed by finite human beings.«

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 352

08.11.2021 16:20:50

2. Das menschliche Strafgericht

353

wobei Vergeltung eine regulatorische Rolle spielt.«25 Nach Byrd/Hruschka spricht Kant dem menschlichen Strafgesetz und seinem Vollzug die Funktion der Vergeltung schlichtweg ab; die »Rache« sei allein Gottes Sache: »If revenging punishments are imposed, they cannot and may not be imposed by human beings. State punishment is not to repay and not for revenge.«26 Bei dieser Behauptung berufen sie sich auf den von mir oben herangezogenen Passus aus der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten (MdS VI, 460 f.); doch der Text kann nicht zum Beleg ihrer starken Behauptung dienen; im Gegenteil. Der Abschnitt beginnt mit dem bereits zitierten generellen Satz: »Eine jede das Recht eines Menschen kränkende Tat verdient Strafe, wodurch das Verbrechen an dem Täter gerächt (nicht bloß der zugefügte Schade ersetzt) wird.«27 Dieser Satz bezieht sich auf jede Art von Vergehen »gegen das Recht eines Menschen« und entsprechend auf jede Strafpraxis, auf die göttliche ebenso wie auf die menschliche. Er ist Ausdruck der Vernunftforderung nach Gerechtigkeit bzw., wie Kant auch sagt, der »Rechtsbegierde«.28 Im nächsten Satz betont Kant, dass Strafe keine Sache persönlicher Willkür, sondern Sache eines Gerichtshofs sei, der den Gesetzen eines Oberen über alle, die ihm unterworfen sind, Effekt verleiht.29 Auch dieser Satz betrifft göttliches ebenso wie menschliches Gericht. Im nächsten Satz erst folgt die Differenzierung nach einem (»bür25 »The retributive idea functions simply to protect a criminal offender from being used merely as a means to the goal of deterrence. The purpose of criminal law for Kant is thus deterrence, with retribution playing a regulatory role« (p. 261). 26 Byrd, B. Sharon/Hruschka, Joachim 2010. p. 270. 27 MdS VI, 460 Z. 23–32. Kant verwendet hier das Wort »Rache« nicht im Sinn einer (heute eindeutig) negativ konnotierten Emotion, sondern schlicht im Sinn der nach der Gerechtigkeit geforderten Vergeltung eines Unrechts. Er spricht das Prädikat ja mit dem Bibelzitat auch Gott zu; bei Paulus Röm 12, 19 steht das Zitat aus 5 Mose (Deuteronomium) 32, 35 (ἐμοὶ ἐκδίκησις, ἐγὼ ἀνταποδώσω, λέγει κύριος) im Zusammenhang der Aufforderung an die Gemeinde in Rom, nicht sich selbst aus Zorn Recht zu verschaffen, sondern die Strafe Gott zu überlassen; Luther übersetzt ἐκδίκησις mit »Rache«; Kant übernimmt dessen Übersetzung. Zu beachten ist allerdings auch der Kontext des Pauluszitats, mit dem Kant sehr wohl vertraut ist. Paulus fordert die Gemeinde auf, der staatlichen Obrigkeit gehorsam zu sein: »Sie ist für dich Gehilfin Gottes (θεοῦ διάκονος) für das Gute. Doch wenn du das Böse tust, dann fürchte dich! Sie trägt das Schwert nicht umsonst; ist sie doch die Gehilfin Gottes, eine Rächerin zur Strafe an dem, der Böses tut« (Röm 13, 4). Kant wird auf seine Weise diese religiös-theologische Aussage philosophisch interpretieren. 28 MdS VI, 460, Z. 20–21. 29 Ebd., Z. 25–28. Der Satz spiegelt Kants Vorstellung von Gewaltenteilung in Gesetzgeber, Justiz und Vollzugsorgane. Gericht und Vollzugsorgane sind dem Gesetz unterworfen und geben dem Gesetz im Einzelfall »Effekt«.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 353

08.11.2021 16:20:50

354

XIV. Zeitliches ­Gericht und E­ ndgericht: Zu Kants Theorie der Strafe

gerlichen«) Reich der Menschen und dem ›reinen Vernunft-Reich‹ Gottes, das heißt die Differenzierung des Vergehens nach seinem rechtlichen und seinem moralischen Aspekt und entsprechend in menschliches und göttliches Gericht, mit der in der Tat wichtigen Einschärfung, dass die moralische Beurteilung und Bestrafung einzig und allein die Sache Gottes sei: »[U]nd wenn wir die Menschen (wie es in der Ethik notwendig ist) in einem rechtlichen Zustande, aber nach bloßen Vernunftgesetzen (nicht nach bürgerlichen) betrachten, so hat niemand die Befugnis Strafen zu verhängen und von Menschen erlittene Beleidigung zu rächen, als der, welcher auch der oberste moralische Gesetzgeber ist, und dieser allein (nämlich Gott) kann sagen: ›Die Rache ist mein; ich will vergelten‹«.30

Der Passus lässt also eindeutig erkennen, dass dem faktischen »bürgerlichen« Staat mit seinem Strafgesetz die rechtliche Funktion zukommt, »das Verbrechen an dem Täter zu rächen«, nicht aber die Funktion, den moralischen Gerichtshof zu spielen und moralische Vergeltung zu üben. Dass der Zweck des Strafgesetzes selbstverständlich auch in der A ­ bschreckung besteht und damit (in seiner intendierten Wirkung) dem staatlichen Zweck der Sicherung individueller Rechte dient, macht dann das Ende dieses Passus deutlich: Der gesamte Abschnitt steht, im Rahmen der Tugendlehre, unter dem Thema der persönlichen »Rachbegierde«.31 Kant plädiert ganz entschieden gegen sie für die Tugend der »Versöhnlichkeit« als »Menschenpflicht«, besteht indessen darauf, diese nicht mit einer »sanften Duldsamkeit der Beleidigungen« zu verwechseln, die eben darin besteht, persönlich auf »harte (rigorosa) Mittel, um der fortgesetzten Beleidigung anderer vorzubeugen«, zu verzichten; »denn das wäre Wegwerfung seiner Rechte unter die Füße anderer und Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst«.32 In diesem eingeschränkten Sinn ist Kant natürlich kein »reiner« bzw. »absoluter« Vergeltungstheoretiker, sondern auch ein Abschreckungstheoretiker. Die In­stitution der Strafe hat für ihn eben die zweifache Funktion der Vergeltung und der Abschreckung, wobei die Funktion der

30 Ebd., Z. 28–34. 31 Ebd., Z. 22. Die persönliche Schadenfreude und Rachbegierde kontrastiert Kant der objektiven »Verbindlichkeit (als Rechtsbegierde)« (MdS VI, 460, Z. 19–22). 32 MdS VI, 461, Z. 2–8.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 354

08.11.2021 16:20:50

2. Das menschliche Strafgericht

355

Abschreckung der in sich geforderten und sinnvollen Vergeltung deutlich nachgeordnet ist und von ihr auch ihr Maß und ihre Begrenzung erhält. Der »kategorische Imperativ« des Strafgesetzes33 bezieht sich also in seinem Vergeltungsaspekt nicht nur auf die Art und den Grad der Bestrafung, sondern auch darauf, dass der »bürgerliche« Staat kategorisch verpflichtet ist, jedes Verbrechen ohne Rücksicht auf besondere Umstände oder das »Ansehen der Person« zu bestrafen; er machte sich sonst »zum Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit«.34 So gilt denn auch: »Das Begnadigungsrecht […] für den Verbrecher, entweder der Milderung oder gänzlichen Erlassung der Strafe, ist wohl unter allen Rechten des Souveräns das schlüpfrigste, um den Glanz seiner Hoheit zu beweisen und dadurch doch im hohen Grade unrecht zu tun.«35 Der kategorische Imperativ, im positiv-rechtlichen Zustand an die staatlichen Instanzen gerichtet, lautet also: Immer dann, wenn ein Verbrechen begangen wurde, soll der verantwortliche Täter dafür (nach Gesetzen) bestraft, das heißt mit einem Übel belegt werden. Nun hat Kant diesen Grundsatz in der Metaphysik der Sitten in der Tat nicht ausformuliert und begründet, sondern offensichtlich nur benützt.36 Die Frage ist, wie er diesen Imperativ, der die Einrichtung und den Vollzug richterlicher Strafe zur unbedingten Pflicht des Staates und seiner Gewalten macht, im Gesamtrahmen seiner praktischen Philosophie zu begründen weiß. »Endlich ist noch etwas in der Idee unserer praktischen Vernunft«, so Kant in der KpV, »welches die Übertretung eines sittlichen Gesetzes begleitet, nämlich ihre Strafwürdigkeit.« Strafe muss, unabhängig von irgendwelcher Ausrichtung auf einen Zweck, »zuvor als Strafe, d. i. als bloßes Übel, für sich selbst gerechtfertigt sein, so dass der Gestrafte, wenn es dabei bliebe, und er auch auf keine sich hinter dieser Härte verbergende Gunst hinaussähe, selbst gestehen muss, es sei ihm 33 MdS VI, 331. 34 MdS VI, 333. 35 MdS VI, 337. 36 Wenn Byrd/Hruschka schreiben, »that Kant sees the purpose of punishment to be securing individual rights through a system of deterrent threats« (p. 269), so ist dies einerseits zweifellos zutreffend, andererseits aber auch einseitig und damit irreführend, da sie den Vergeltungsgedanken im Zweck des Strafgesetzes bei Kant ausgespart wissen möchten. Sie ignorieren, wie zu zeigen ist, den Gesamthorizont der Verwirklichung des höchsten Guts, in dem für Kant auch das (rechts-)staatliche Strafgesetz steht und seine Funktion erfüllt bzw. zu erfüllen hat.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 355

08.11.2021 16:20:50

356

XIV. Zeitliches ­Gericht und E­ ndgericht: Zu Kants Theorie der Strafe

recht geschehen, und sein Los sei seinem Verhalten vollkommen angemessen […]. Also ist Strafe ein physisches Übel, welches, wenn es auch nicht als natürliche Folge mit dem moralisch Bösen verbunden wäre, doch als Folge nach Prinzipien einer sittlichen Gesetzgebung verbunden werden müsste.«37

Sittliche Gesetzgebung umfasst die rechtlichen ebenso wie die moralischen Gesetze. Die Vernunftidee der Strafwürdigkeit verweist auf das moralisch Böse, dessen Folge nach Prinzipien sittlicher Gesetzgebung mit Strafe verbunden sein muss. Kant unterscheidet »richterliche Strafe (poena forensis)« von »natürliche[r] Strafe (poena naturalis), dadurch das Laster sich selbst bestraft«.38 Bei natürlicher Strafe ist von Strafe im uneigentlichen Sinn die Rede; gemeint ist lediglich eine naturkausale (negative) Folge des moralisch Bösen für das Befinden des Täters. Zu denken ist etwa daran, dass Ausschweifung gesundheitlichen Schaden oder Diebstahl, Betrug oder Untreue psychische Belastung für den Täter zur Folge hat oder haben kann. Auf die »natürliche Strafe«, die mit sittlich Bösem als Folge für den Täter verbunden sein mag oder auch nicht, nimmt der Gesetzgeber im Rahmen der Idee sittlicher Ordnung, so Kant, keine Rücksicht.39 Ihn interessiert in diesem Zusammenhang nicht (und hat auch nicht zu interessieren), was die bloße Natur hier bewirkt; denn »alles Verbrechen [ist], auch ohne auf die physischen Folgen in Ansehung des Täters zu sehen, für sich strafbar«, das heißt, alles Verbrechen verwirkt nach Prinzipien sittlicher Ordnung (wenigstens zum Teil) Glückseligkeit.40 Strafwürdigkeit ist also nur die Kehrseite der Glückswürdigkeit im Rahmen der Idee des höchsten Guts: Wie der sittlich Gute des Glückes würdig ist, so macht sich der sittlich Schlechte des Glückes unwürdig. Das Böse im Menschen besteht in der Verkehrung der sittlichen Ordnung seiner Maximen. Im Verbrechen setzt der Mensch durch die Untat sein Glücksverlangen über das Gesetz der Sittlichkeit. Richterliche Strafe als gesetzliche Zufügung eines Übels besteht genau darin, diesem ungeordneten Glücksverlangen nach Maßgabe der Untat Einhalt und seinem möglichen Erfolg Abbruch zu tun.

37 KpV V, 37. 38 MdS VI, 331. 39 Ebd. 40 So wörtlich KpV V, 37.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 356

08.11.2021 16:20:51

2. Das menschliche Strafgericht

357

Das allgemeine Rechtsgesetz besagt: »Handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.«41 Rechtsgesetze sind mit der Befugnis verbunden, ihre Befolgung zu erzwingen. Denn alles, was unrecht ist, »ist ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen: der Zwang aber ist ein Hindernis oder Widerstand, der der Freiheit geschieht. Folglich: wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d. i. recht: mithin ist mit dem Rechte zugleich ein Befugnis, den, der ihm Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft.«42 »Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei.«43

Doch das natürliche bzw. vernünftige Recht des Einzelnen und seine Befugnis, alle anderen zur Beachtung dieses Rechts zu zwingen, bleibt eine schlechte Utopie, solange sein genereller Anspruch und seine Durchsetzung vom Privaturteil und der zufälligen physischen Kraft der Einzelnen abhängt. Die Idee des Gesetzes »eines mit jedermanns Freiheit notwendig zusammenstimmenden wechselseitigen Zwanges unter dem Prinzip der allgemeinen Freiheit«44 ist im Naturzustand nicht realisierbar. Die Einzelnen sind deshalb gehalten, vom status naturae in einen status civilis überzugehen, und durch diesen Übergang im Sinne »reiner, rechtlich-gesetzgebender Vernunft«45 einen vereinten, allgemeinen Willen, damit ein öffentliches Recht und eine monopolisierte öffentliche Gewalt zu etablieren. Dieses öffentliche Recht beinhaltet auch ein Strafgesetz, da die vereinte rechtlich-gesetzgebende Vernunft in ihren positiven Gesetzen sich an Menschen, das heißt an Personen richtet, die grundsätzlich »des Verbrechens fähig sind«.46 Die vernünftige Idee des allgemeinen Rechtsgesetzes

41 MdS VI, 231. 42 Ebd. 43 MdS VI, 232. 44 Ebd. 45 MdS VI, 335. 46 Vgl. ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 357

08.11.2021 16:20:51

358

XIV. Zeitliches ­Gericht und E­ ndgericht: Zu Kants Theorie der Strafe

wird unter Zeitbedingungen im bürgerlichen Rechtsstaat (wenn auch allemal mit Mängeln behaftete) Wirklichkeit. Der so konstituierte Staat hat nun zum einen die Befugnis zu zwingen, um dem Recht des Einzelnen nach einem allgemeinen Gesetz der Kompatibilität der Willkürfreiheiten Geltung zu verschaffen. Doch seine Befugnis zu zwingen ist nicht mit der Befugnis zu strafen einerlei.47 Strafe ist eine Art von Zwang (weil unfreiwilliges Erleiden eines gesetzlich zugefügten Übels);48 doch nicht jeder Zwang ist auch eine Strafe. So mag man Zwang anwenden und Zwangsmittel einsetzen, um gewünschte Taten zu fördern oder ungewünschte zu verhindern oder Güter, die in unrechtmäßige Hände gelangt sind, wieder in die rechtmäßigen zurückzuführen. Im Naturzustand hat denn auch der Einzelne das (wenn auch häufig unwirksame) Recht, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, um sich vor Unrecht zu schützen und um die ihm zu Unrecht geraubten oder vorenthaltenen Güter (wieder) zu beschaffen. Doch er hat nicht das Recht, andere für etwas zu bestrafen.49 Nur im Staat gibt es (unter Menschen) Strafe, und nur der Staat hat die Befugnis zu strafen. Wenn nun »[e]ine jede das Recht eines Menschen kränkende Tat […] Strafe [verdient]«50 und der Staat nicht allein die Befugnis zu strafen hat, sondern auch eine jede das Recht eines Menschen kränkende Tat zu bestrafen gehalten ist, dann hat dies mit Kants Vorstellung des höchsten Guts zu tun: Der Rechtsstaat ist, bezogen auf das äußere Verhalten der Menschen unter zeitlich-empirischen Verhältnissen, die wenn auch allemal mehr oder weniger defiziente Verwirklichung der Idee des (abgeleiteten) höchsten Guts. Er ist, nach dem Gesichtspunkt moralisch reflektierender Urteilskraft, bezogen auf das äußere Verhalten der Menschen, der irdische Sachwalter Gottes für die äußere, die rechtliche Verwirklichung des höchsten Guts. Er ist, wie der von Kant bemühte Apostel Paulus es in seinem Brief an die Römer formuliert, auch in der Bestrafung des Unrechts zuständiger und beauftragter»Diener Gottes (θεοῦ διάκονος) für das

47 Vgl. dazu Kant, Naturrecht Feyerabend, AA XXVII.2.2., S. 1333, Z. 19–21; Byrd/Hruschka 2010, p. 271. 48 »Strafe erleidet jemand nicht, weil er sie, sondern weil er eine strafbare Handlung gewollt hat; denn es ist keine Strafe, wenn einem geschieht, was er will, und es ist unmöglich, gestraft werden zu wollen« (MdS VI, 335). 49 So antwortet Kant auf die Frage »Ob die Befugnis zu strafen in statu naturali sei«, explizit mit »Negatur«. Reflexion 7677, AA XIX, S. 486, Z. 6; Oberer, Hariolf 1982, 408. 50 MdS VI, 460.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 358

08.11.2021 16:20:51

2. Das menschliche Strafgericht

359

Gute«.51 Das Strafgesetz ist so gesehen ein kategorischer Imperativ; der Staat darf im Fall eines Verbrechens um keinen Preis auf seinen rechtlichen Vollzug verzichten; und er darf das Strafgesetz nicht irgendwelchen Gesichtspunkten des Gemeinwohls unterordnen und sich in die »Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre«52 verirren; »denn die Gerechtigkeit hört auf eine zu sein, wenn sie sich für irgendeinen Preis weggibt«.53 Die Manipulation der Strafgerechtigkeit ruiniert, »der Verzicht auf die Strafgerechtigkeit [vernichtet] die äußere Realität des höchsten Guts«.54 Ja, »wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, dass Menschen auf Erden leben«.55 Nach dem Kanttext vollkommen eindeutig und in der Forschung völlig unkontrovers ist der Sachverhalt, dass Kant für die Bestimmung der Art und des Grads der Strafe das Vergeltungsprinzip angewandt wissen will: »Also: was für unverschuldetes Übel du einem anderen im Volk zufügst, das tust du dir selbst an. Beschimpfst du ihn, so beschimpfst du dich selbst; bestiehlst du ihn, so bestiehlst du dich selbst; schlägst du ihn, so schlägst du dich selbst. Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis) […] kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben; alle andere sind hin und her schwankend und können anderer sich einmischenden Rücksichten wegen keine Angemessenheit mit dem Spruch der reinen und strengen Gerechtigkeit enthalten.«56

Es schützt den Straftäter jedenfalls vor jeder staatlichen Instrumentalisierung im Sinne »anderer sich einmischenden Rücksichten«. Allerdings möchte Kant, auch wenn der Wortlaut des eben herangezogenen Zitats dies nahelegen könnte, das Talionsprinzip nicht »nach dem Buchstaben« verstanden wissen. Für viele Übel, die ein verantwortlicher Täter »einem anderen im Volk zufügt«, gibt es kein gleiches Übel, das dem schuldigen Täter als Strafe zugefügt werden könnte. Und gar manche Verbrechen sind so, dass ihre wörtliche Vergeltung die Würde des Menschen verletzen würde, das heißt die Würde »der Menschheit in seiner Person«, die auch dem schlimmsten Ver51 Vgl. Paulus, Röm. 13, 4. 52 MdS VI, 331. 53 MdS VI, 332. 54 Oberer, Hariolf 1982, 409. 55 MdS VI, 332. 56 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 359

08.11.2021 16:20:51

360

XIV. Zeitliches ­Gericht und E­ ndgericht: Zu Kants Theorie der Strafe

brecher nicht abgesprochen werden kann.57 Eine Strafe muss demnach so sein, dass sie von »aller Misshandlung« der Menschheit in seiner Person frei ist.58 Das Talionsprinzip hat vielmehr (allein) »der Form nach«59 dem Gesetzgeber60 als apriorisches Reflexionsprinzip für das Suchen und Festlegen von Art und Grad der Strafe als »verdientem« Äquivalent für das Vergehen zu dienen. Entscheidend ist dabei, dass die Strafe nicht in einem willkürlichen Verhältnis zum Vergehen steht, sondern diesem im Maß entspricht: »Nur dann kann der Verbrecher nicht klagen, dass ihm unrecht geschehe, wenn er seine Übeltat sich selbst über den Hals zieht, und ihm, wenngleich nicht dem Buchstaben, doch dem Geiste des Strafgesetzes gemäß das widerfährt, was er an anderen verbrochen hat.«61 Das Übel der Tat und das Übel der Strafe müssen gleichgewichtig sein; die Strafe als Rechtsfolge hat der Tat zu entsprechen. Nun verwendet Kant das Talionsprinzip in seinen tatbestandsbezogenen Beispielen der Strafzumessung nicht nur »der Form«, sondern auch dem Inhalt nach, wenn er etwa für Mord die Todesstrafe für einzig gerecht und unumgänglich62 oder bei Sexualdelikten die Kastration für passend und angemessen hält.63 Es ist die Art des Vergehens, die ihn hier und in einigen anderen Fällen leitet und wohl, im Sinne des Kompromisses mit damals Üblichem, zum Teil auch verleitet. Verbrechen sind gravierende Vergehen gegen den rechtlichen Gebrauch äußerer Freiheit. In der Konsequenz seines Rechtsprinzips hätte es gelegen, wenn Kant als Strafe für Vergehen nur Geldstrafen (als Reduzierung von Mitteln zum Gebrauch äußerer Freiheit) oder direkt Freiheitsstrafen, das heißt den zeitlich begrenzten oder lebenslangen Entzug von Bereichen des äußeren Freiheitsgebrauchs, vorgesehen hätte.64

57 MdS VI, 362 f. 58 Vgl. MdS VI, 333. 59 MdS VI, 363. 60 Die Strafe muss im Gesetz selbst bestimmt sein; vgl. AA XIX, R. 7995, Z. 8–11. »Kant is not thinking of modern criminal law which often specifies a range of possible punishment and leaves the precise amount for the judge to determine« (Byrd/Hruschka p. 273 Anm.). 61 MdS VI, 363. 62 Vgl. MdS VI, 333 f. 63 Vgl. MdS VI, 363. 64 Vgl. dazu Oberer, Hariolf 1982, 414–419.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 360

08.11.2021 16:20:51

XV. S  chlusswort: Immanuel Kant ein »nachmetaphysischer« Denker? Zu Jürgen Habermas’ Kantinterpretation »Hume und Kant sind auch die ersten Exponenten eines unzweideutig nachmetaphysischen Denkens.« Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie 2019, Bd. I, S. 166

Philosophiehistoriker sind gut beraten, ihrem Gegenstand mit möglichst neutralem Blick und skeptischer Empathie zu begegnen. Ihre Sache ist es nicht, sich einer historischen Gestalt von Philosophie als der einzig und umfassend wahren zu verschreiben und Alternativen, sei es als noch defizitäre Vorstufen zu ihrem wahren Ziel, sei es als Abirrungen vom vermeintlich allein richtigen Weg, zu bewerten. Mag man als Historiker der Geistesgeschichte persönlich eine Philosophie, eine philosophische Lehre oder Position auch für problematisch, für unplausibel oder gar abwegig halten. Es gilt allererst, sie nach ihrem textlichen Bestand historisch-philologisch so genau und logisch-argumentativ so konsistent und stringent wie nur möglich zu erfassen und darzustellen, getreu der altbewährten skeptischen Devise des audiatur et altera pars. Für einen »bloßen« Historiker der Philosophiegeschichte jedenfalls sollte das Ziel der Erklärung und Auslegung auch einer ihm »fremd«, irrig oder einseitig erscheinenden Philosophie zunächst sein, dass selbst ihre überzeugten Anhänger an diesen nichts auszusetzen haben, ja an ihnen womöglich gar bereichernde Belehrung finden können. Nur so und dann, so scheint es, hat eine kritische Sicht, Analyse und Beurteilung einer Philosophie in systematischer Absicht aus interner und externer Perspektive ihre solide, adäquate und faire Basis. Systematische Philosophen mit eigenen festen Überzeugungen, gar mit einem selbstentwickelten Ansatz und System, die sich (auch) mit der Geschichte der Philosophie und ihren klassischen Gestalten bzw. Texten befassen, folgen

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 361

08.11.2021 16:20:51

362

XV. Schlusswort: Immanuel Kant ein »nachmetaphysischer« Denker?

in aller Regel nicht dieser der akademisch-skeptischen Tradition verpflichteten hermeneutischen Maxime des Philosophiehistorikers. Sie sind jedenfalls der starken Versuchung ausgesetzt, aus ihren bevorzugten klassischen Texten das herauszulesen bzw. in sie das hineinzulesen, was ihnen zusagt und sie bestätigt, und die in ihnen ausgemachten Unzulänglichkeiten, Fehler und Mängel in der selbstvertretenen bzw. -entwickelten Lehre korrigiert und im Sinne eines Fortschritts des Geistes behoben zu sehen. Die Geschichte der Kantinterpretation bietet hierfür sprechende Beispiele, vom Deutschen Idealismus angefangen über den Neukantianismus bis in unsere Gegenwart. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die durchaus anspruchsvolle Kantauslegung von Jürgen Habermas, die dieser in seinem jüngsten monumentalen Werk Auch eine Geschichte der Philosophie1 bietet. Ich verweise abschließend in aller Kürze auf ein paar Punkte dieser Interpretation, weil sie sich in vielem mit den von mir in diesem Buch behandelten Themen deckt, und weil ich in manchen Punkten, die mir für ein adäquates Kantverständnis wesentlich erscheinen, zu anderer Ansicht, gegenteiliger Einschätzung und abweichendem Ergebnis gekommen bin als sie. Habermas versteht sich als Vertreter eines »nachmetaphysischen Denkens«. Er möchte neben David Hume auch Immanuel Kant als Pionier eines solchen Denkens verstanden wissen. Für Hume’s Philosophie mag diese Charakterisierung wohl zutreffen. Für Kant erscheint sie schon im Blick auf von ihm selbst gewählte Titel seiner Werke etwas überraschend, ja gar befremdlich. In Wahrheit, so möchte man nach einer langen und intensiven Interpretationsgeschichte dieses Klassikers meinen, ist Kant nicht nur bahnbrechender Theo­ retiker des neuzeitlichen Verständnisses von Wissenschaft. Er ist vor allem, aus beständiger und umfassender Liebe zur Vernunft, nach eigenem Bekunden zeit seines akademischen Lebens passionierter Metaphysiker, auch wenn seine kritische Form von Metaphysik sich von der seiner rationalistischen, auf rein theoretische Lösung metaphysischer Fragen setzenden Vorgänger deutlich unterscheidet. Dies sollten, einmal mehr, auch sämtliche Studien dieses Buches belegt haben. Für Habermas ist die Ausrichtung auf das »höchste Gut« in seiner individuellen und kollektiven Form »ein wunder Punkt der Kantischen Moraltheorie«.2 Für ihn vertritt Kant eine wesentlich deontologische Ethik. Habermas 1 2

Ausführlich in Bd. 2, 2019, 298–374. Habermas, Jürgen 2019, Bd. 2, 309.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 362

08.11.2021 16:20:51

Zu Jürgen Habermas’ Kantinterpretation

363

scheint anzunehmen, dass »mit den Begriffen eines ›höchsten Gutes‹ und eines ›Endzwecks‹ […] eine systematisch fremde, weil teleologische Denkfigur in eine deontologisch angelegte Moraltheorie eingeführt wird«;3 für ihn ist »[i]m Rahmen einer deontologischen Moralphilosophie […] die Einführung dieser aus der Tradition der Güterethiken bekannten teleologischen Grundbegriffe ziemlich überraschend«.4 Nun ist die seit William K. Frankena5 auch im deutschen Sprachbereich nicht selten benützte Typen-Unterscheidung von deontologischer und teleologischer Ethik etwas grob und ursprünglich wohl vom Moralverständnis fideistischer, reformiert-christlicher Theologie6 inspiriert. Sie trägt zu einem differenzierten Verständnis von philosophischen Ethikentwürfen jedenfalls nicht allzuviel bei. Ja, sie ist gar geeignet, ein solches Verständnis eher zu behindern. Dies deshalb, weil, was da als typisch teleologisch und typisch deontologisch gilt, sich vielfach (und unlöslich) verschränkt in allen großen philosophischen Ethiken findet. Alle Sollgeltung wird, mit der Geburt westlicher Philosophie, spätestens seit Platons Euthyphron,7 nicht mehr in der Macht und willkürlichen Vorliebe von Göttern oder eines Gottes, sondern in dem verankert, was als zuhöchst gut geschätzt wird. Und zwischen dem uneingeschränkt Guten und den Gütern des Lebens wird seit dem sokratischen Beginn abendländischer Ethik einigermaßen genau unterschieden.8 Kant bewegt sich, wie ich anhand der Eingangspassage seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zu zeigen versuchte, ganz selbstverständlich in dieser philosophischen Tradition. Eine Gesetzlichkeit praktischer Vernunft »für vernünftige Wesen überhaupt« ist in Anwendung auf den Menschen als in der Welt lebendes und handelndes Wesen ohne eine Zielbestimmung seines Tuns und Lassens für ihn gar nicht denkbar. Sein handschriftlicher Nachlass belegt zudem höchst eindrucksvoll, dass die Bestimmung des höchsten Guts von Beginn (und dann auch bis zum Ende) seines Reflektierens über Themen der praktischen Philosophie eines seiner zentralen Probleme, wenn nicht gar die verbindende systematische Klammer seiner gesamten Metaphysik der Moral und

3 Habermas 2019, Bd. 2, 333. 4 Habermas 2019, Bd. 2, 349. 5 Analytische Ethik. Eine Einführung, München 1972. 6 Oder von der dieser folgenden politischen Theorie im Sinne des hobbesianischen Prinzips: auctoritas, non veritas facit legem. 7 Vgl. dazu Forschner, Maximilian 2013. 8 Vgl. dazu Forschner, Maximilian 2011.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 363

08.11.2021 16:20:51

364

XV. Schlusswort: Immanuel Kant ein »nachmetaphysischer« Denker?

des Rechts darstellt. Selbst seine vielfach kritisierte moralische und rechtliche Vergeltungstheorie der Strafe in der späten Metaphysik der Sitten ist, wie ich am Ende des Buches zeigte, ohne sie nicht zureichend zu verstehen. Erhebliche Zweifel an seiner Eignung und zuverlässigen Führungsfunktion muss denn bereits der Leitfaden der gesamten Habermas’schen Abhandlung wecken: Dass die »Grundbegriffe der verantwortlichen Urheberschaft vernunftgeleiteten Handelns […] aus dem theologischen Erbe der praktischen Philosophie stammen«, und dass, was Hume und Kant betrifft, Hume dieses Erbe wissenschaftlich objektivierend dekonstruiere, während Kant darauf beharre, »die Substanz dieser Grundbegriffe -unter den gleichen Voraussetzungen nachmetaphysischen Denkens- zu rekonstruieren«.9 Es fällt einigermaßen schwer, die Grundbegriffe etwa der aristotelischen Ethik, die über Peripatos und Akademie, zum Teil auch über Epikureismus, Stoa und Neuplatonismus für die gesamte philosophische Ethiktradition eine Pionierfunktion erfüllten, einem theologischen, gar mythologischen bzw. offenbarungstheologischen Erbe bzw. einer wie immer gearteten Transformation dieses Erbes zuzuschreiben. Kant ist in der Frage nach der Bestimmung des höchsten Guts (wie in manch anderem) primär der hellenistischen, von Habermas weitgehend ver-

9 Habermas 2019, Bd. 2, 298. So meint denn Habermas im Blick auf Kant, dass die ursprünglich »als Gnadenwirkung eingeführte Vernunftanlage […] sich gemäß der subjekttheoretischen Deutung dieser praktischen Vernunft in eine Ermächtigung zur Selbstgesetzgebung [verwandelt]«, dass dabei »sich die absolute Geltung, die der göttliche Wille der sakralen Autorität seines Urhebers verdankt, in die Sollgeltung anonymer Gesetze der Vernunft zurück[zieht]«, und dass das endliche Subjekt »diese Anlage aktualisiert, indem es seine Willkür an die selbstgegebenen Gesetze bindet« (Bd. 2, 328). Begriff und Gedanke des Vernunftgesetzes und der ihm entsprechenden Pflicht entstammen indessen, was die philosophischen Quellen betrifft, einigermaßen präzise rekonstruierbar der stoischen Philosophie; Begriff und Gedanke der Autonomie gehörten bereits in nuce zur stoischen Vernunftethik, wie die terminologische Verwendung von αὐτόνομος und αὐτεξούσιος im Sinne absoluter Selbstmächtigkeit und Selbstgesetzlichkeit der Vernunft bzw. des vernünftigen Subjekts etwa bei Epiktet zeigt; vgl. dazu Forschner, Maximilian 2019. Insofern der Mensch sich mit seiner Vernunft, die in der Stoa als »Teilchen Gottes« verstanden wurde, identifiziert und dieser entsprechend denkt und handelt, bedarf es, im Rahmen dieser philosophischen Tradition, keiner eigenen »Ermächtigung zur Autonomie« (Habermas Bd. 2, 326, 328 u. ö.). Die Möglichkeit und (undelegierbare) Aufgabe vernünftiger Selbstbestimmung wurde, wenngleich in deutlich modifizierter Form, auch in der christlichen Übernahme und Transfomation paganer Philosophie in der (schöpfungstheologisch-)anthropologischen These vom Menschen als »Bild Gottes« gewahrt; vgl. dazu etwa den markant »selbstbewussten« Prolog zum Teil I–II der Summa theologiae von Thomas von Aquin und seinen bedeutenden Gesetzestraktat, Summa theologiae I–II, quaestiones 90–108, sowie Kap. XIII dieses Buches.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 364

08.11.2021 16:20:51

Zu Jürgen Habermas’ Kantinterpretation

365

nachlässigten10 philosophischen Tradition verpflichtet.11 Diese hatte gerade nicht »die Frage nach der Stellung und dem Schicksal des Menschen innerhalb des Kosmos oder gegenüber Gott im Hinblick auf ein befreiendes oder erlösendes Telos beantwortet, auf das die Menschen hoffen dürfen«.12 Weder die akademisch-skeptische noch die akademisch-peripatetische noch die stoische noch gar die epikureische Ethik bemühen »die Aussicht auf die rettende Gerechtigkeit einer die Welt im Ganzen ordnenden oder einer höheren, in die Geschichte eingreifenden Macht«.13 Sie setzen, wiewohl allemal im Rahmen einer (irgendwie bergenden) Kosmosvorstellung, so gut wie ausschließlich auf die Bildungsmöglichkeit des Menschen als Menschen (zu einem ihm eigenen, endlichen Ziel). Renaissance, insbesondere aber europäische Aufklärung verhelfen diesem paganen Erbe zu erneuter Aktualität und geistiger Vitalität. Kant bewegt sich in dieser Aufklärungsströmung. Doch er gibt sich mit den wiederbelebten und unter neuzeitlichen Vorzeichen erneuerten Vorschlägen der paganen hellenistischen Schulen nicht zufrieden. Er möchte in der Tat (im Unterschied zu seinen »nachmetaphysischen« englischen und französischen Aufklärungskollegen, doch im expliziten Gefolge Rousseaus) den philosophisch relevanten Beitrag des Christentums, die große Gewichtung »der leidvollen Erfahrung von Armut, Elend und Gewalt, von Unterdrückung und Entwürdigung, Krankheit und Tod«,14 vor allem das Schicksal des ungerecht Leidenden und des vielfach verachteten »einfachen Menschen« in dieser Diskussion nachhaltig berücksichtigt sehen. Er meint mit der christlichen Tradition, dass das hellenistische Weisheitsideal die (Selbst-)Bildungskräfte des Menschen überfordert. Er versteht die (allein in Begriffen der Vernunft und der Moral interpretierte) Lehre Jesu, des »Weisen des Evangelii«, als überzeugendere Antwort auf die Grund-

10 Der Name Cicero, um nur eine der wichtigsten Quellen und Übermittler hellenistischer Philosophie für Kant zu nennen, taucht in den 1738 Seiten des Habermas’schen Werkes überhaupt nicht auf. Der Stoa (der Kaiserzeit) wird immerhin eine ganze Seite (Bd. 1, 529) gewidmet. 11 Vgl. hierzu die eingehende Studie von Santozki, Ulrike 2006, die überzeugend nachweist, dass Kant in der Entwicklung seiner Philosophie (aufgrund seiner schulischen Vorbildung und anhaltenden Lektüregewohnheit) weit mehr dem Vorbild hellenistischer methodischer Diskussionen und systematischer Theoriebildung als dem der klassischen antiken Autoren Platon und Aristoteles folgt. 12 Habermas 2019, Bd. 2, 299 f., Hervorh. M. F. 13 Ebd., 300. 14 Ebd.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 365

08.11.2021 16:20:51

366

XV. Schlusswort: Immanuel Kant ein »nachmetaphysischer« Denker?

frage der hellenistischen Ethiken nach dem höchsten Gut.15 Kant ist freilich durch und durch Philosoph. Er will, ohne jede Berufung auf übernatürlich-religiöse Offenbarungs-, Erlösungs- und Heilswahrheiten, nur klären und geklärt wissen, was im (Theoretischen und) Praktischen als begründbar vernünftig zu gelten hat. Mosaische »deontologische« Gesetzestradition, theologischer Nominalismus und Absolutismus und Luther’sche Sünden-, Rechtfertigungs- und Gnadenlehre16 spielen für die Entwicklung seiner säkularen Moralphilosophie wenn überhaupt, dann jedenfalls nur eine deutlich nachrangige und eher subkutane (Kontrast-)Rolle.17 Seine philosophische Anthropologie mit der Lehre von den Anlagen zum Guten und dem Hang zum Bösen nimmt zwar neben insbesondere stoischen Motiven (der Oikeiosislehre) auch solche der christlichen Erbsündelehre auf, stellt diese jedoch in den Diskussionsrahmen neuzeitlicher philosophischer Anthropologie und, in fundamental kritischer Weise, auf den Boden einer ebenso aufgeklärten wie radikalen Theorie der Freiheit des Willens.18 Sie hat denn auch im Ergebnis, theologisch gesehen, weit mehr eine pelagianische denn eine (spät)augustinische Färbung. Auf das höchste (abgeleitete) Gut, die Verbindung und Entsprechung von Tugend und Glück in der Welt hinzuwirken sind wir, so Kant, moralisch verpflichtet. Doch seine zielhafte Verwirklichung übersteigt die Kräfte des Menschen, da weder die für uns erfahrbare Natur noch die bekannten Verhaltensweisen der Mitmenschen in der Regel den moralisch Guten belohnen und die praktische Perspektive einer kollektiv tugendhaften Menschheit (in einer universalen »Kirche«) sich im phantastisch Utopischen zu verlieren droht. Kant löst das Problem bekanntlich über die Figur des reinen Vernunftglaubens mit den Postulaten 15 Aus der christlich-anthropologischen miseria hominis-Tradition übernimmt Kant den Gedanken der Schwäche, Gebrechlichkeit und, bezogen auf die Ziele des höchsten Guts (d. h. moralische Vollkommenheit und Glück), Hilfsbedürftigkeit des Menschen. 16 Kant spricht in diesem Zusammenhang gar von einem »salto mortale der Vernunft«. Vgl. dazu Fischer, Norbert (Hg.) 2012. 17 Die Namen Moses und Luther finden denn auch (wohl historisch-philologisch mit einigem Recht) keinen Eintrag im neuen dreibändigen Kantlexikon, Willaschek, Marcus u. a. (Hgg.) 2015. Kant hat, was eine reformiert-theologisch begründete Ethik betrifft, sich vor allem mit den Werken von Christian August Crusius auseinandergesetzt. Vgl. dazu Tonelli, Giorgio 1968. 18 Anders Habermas: »Aus der religionsphilosophischen Bearbeitung des ›Bösen‹ geht hervor, dass sich der Begriff der Autonomie nicht nur dem Anschluss an die nominalistische Erneuerung des deontologisch zugespitzten Gesetzesbegriffs, sondern vor allem einer Auseinandersetzung mit Luthers Gnadenlehre und der dahinterstehenden augustinischen Tradition verdankt« (2019, Bd. 2, 326).

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 366

08.11.2021 16:20:51

Zu Jürgen Habermas’ Kantinterpretation

367

der Existenz eines allwissenden, allmächtigen und allgütigen bzw. »allgerechten« Gottes und der Fortexistenz der menschlichen Seele »in einer anderen Welt«: Gott, die im praktischen Vernunftglauben behauptete ursprüngliche Wirklichkeit des höchsten Guts, wird (als gütiger Helfer und gerechter Richter) zum Garanten der realen Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts für den Menschen in der Welt, allerdings einer anderen (sei es »jenseitigen«, sei es »diesseitig sittlich verwandelten«) als derjenigen, die uns in den Grenzen unserer sinnengebundenen Erfahrung in der Zeit (bislang) zugänglich ist. Habermas erscheint es indessen eher abwegig, »dass Kant die praktische Vernunft nicht auf die Begründung des Moralgesetzes beschränkt, sondern mit der Spekulation über einen solchen erfahrungstranszendenten Gegenstand wie das höchste Gut belastet«.19 Denn, so Habermas, eine kognitivistische, abstrakt-egalitär-individualistische Vernunftethik, wie Kant sie entwickelt, sei schlicht mit der Aufgabe überfordert, »die [er] ihr mit einem weitreichenden Interesse der Vernunft an den kumulativen Ergebnissen moralischen Handelns in der Welt aufbürdet«.20 Mit der aller Endlichkeit enthobenen (»anthropomorphen«) Projektionsfigur eines göttlichen Subjekts, der auf dieser hypothetischen Figur basierenden erkenntnistheoretischen Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung (und der eines allmächtigen, allwissenden und allgütigen bzw. allgerechten Willens) unterstelle Kant »inkonsequenterweise immer noch ein Bezugssystem möglicher metaphysischer Erkenntnis, das er doch gerade bestreitet«,21 das seinem im Ansatz nachmetaphysischen Denken freilich die Möglichkeit biete, den nur methodisch-regulativ zu verstehenden Ideen »doch noch einen ontischen Sinn, das heißt Existenz beizulegen«22 und »dem Gläubigen in der zweiten Kritik ein unauffälliges Schlupfloch [zu gewähren, M. F.] für die (wenn auch rational unentscheidbare) Möglichkeit einer religiösen Deutung der Postulate von Gott und Unsterblichkeit«.23 Das wesentliche Defizit im vermeintlich »nachmetaphysischen« Kern von Kants kognitivistisch-individualistischer Vernunftethik sieht Habermas darin, dass sie Phänomen und Aufgabe kollektiv-solidarischen Handelns nicht zu fassen und zu begründen vermag.

19 20 21 22 23

Habermas 2019, Bd. 2, 349. Habermas 2019, Bd. 2, 332. Habermas 2019, Bd. 2, 336 f. Habermas 2019, Bd. 2, 337. Habermas 2019, Bd. 2, 338.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 367

08.11.2021 16:20:51

368

XV. Schlusswort: Immanuel Kant ein »nachmetaphysischer« Denker?

»Der gute Wille kann nur Sache des Individuums sein. Daher kann es eine Pflicht zur solidarischen Beförderung des höchsten Gutes nicht geben. Die Postulatenlehre, die mit dieser Pflicht steht und fällt, verdankt sich einer petitio principii; indem sie etwas zur Pflicht erhebt, was die moralischen Kräfte eines einzelnen übersteigt, impliziert sie bereits die Unzumutbarkeit, die sie dann als die uneingelöste Voraussetzung einer vermeintlich zumutbaren Forderung ausgibt, um damit, nach Maßgabe des Grundsatzes ›ultra posse nemo obligatur‹, den göttlichen Beistand und die Unsterblichkeit der Seele zu rechtfertigen.«24

Nun kennt Kant den Gedanken der Solidarität im Prinzip sehr wohl. Er unterscheidet bekanntlich, was die Tugendpflichten betrifft, die verpflichtende Sorge um eigene Vollkommenheit und die um fremde Glückseligkeit.25 Und »Glückseligkeit« versteht er in seiner kritischen Phase, wenn auch nicht formal, so doch inhaltlich durchaus im empirischen Sinn. Es sind gewiss primär individuenadressierte Pflichten mit einem allerdings auch kollektiven Aspekt. In ihrem Zielcharakter avisieren sie einen Bestzustand, den aus eigenen Kräften zu erreichen der Einzelne, aber auch ein mögliches Kollektiv von Menschen allemal (in Kants durchaus plausibler Sicht) überfordert ist. Kant überantwortet die individuelle wie kollektive Sorge um das Recht dem Staat, seinen Organen und seinen Bürgern,26 die individuelle wie kollektive Sorge um die Tugend der Tugendgemeinschaft (der »Kirche«), ihren »Lehrern« und ihren Gliedern. Es ist ihre Pflicht, im Rahmen ihres Bereichs und ihrer Zuständigkeit auf einen immer gerechteren Rechts- und einen immer besseren moralischen Zustand ihrer Gemeinschaft und damit auf die Realisierung des höchsten Guts hinzuwirken. Was Kants Verständnis des Unbedingtheitsanspruchs von Recht und Moral (den er innerweltlich nicht erklären kann) allerdings impliziert, ist dies, dass allen Menschen entsprechend ihrer Würdigkeit Glück widerfahre, auch und nicht zuletzt all jenen, deren Leben als ungerechtes und schlimmes Opfer im Weltgeschehen anzusehen ist. In der Kritik der praktischen Vernunft formuliert Kant ganz unmissverständlich: »Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so 24 Habermas 2019, Bd. 2, 356. 25 Vgl. MdS AA VI, 375–491. Kant spricht hier, im Rahmen seiner Tugendlehre, von den leitenden Zwecken (eigene Vollkommenheit  – fremde Glückseligkeit), die zu haben und zu verfolgen zugleich Pflicht ist. 26 Zur Thematik des (Rechts-)Friedens zwischen den Staaten vgl. Ertl, Wolfgang 2020.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 368

08.11.2021 16:20:51

Zu Jürgen Habermas’ Kantinterpretation

369

muss auch das moralische Gesetz, welches gebietet, dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.«27 In der Tat, Kant muss dartun, »wie sich der absolute Sollgeltungsanspruch praktischer Gesetze allein aus Vernunft erklärt«;28 und er muss dartun, wie der Mensch als endliches, bedürftiges, sinnengebundenes Vernunftwesen motiviert sein kann, unbedingt gebietenden Gesetzen aus reiner Vernunft zu folgen. Die Erfüllung der ersten Aufgabe ist grundlegender als die der zweiten. In beiderlei Hinsicht ist für Kant der Gedanke der realen Möglichkeit des höchsten Guts und der auf sie gerichtete und setzende Vernunftglaube unverzichtbar. Was die erste Aufgabe betrifft: Kant denkt da wohl radikaler und konsequenter als mancher seiner Interpreten: Das moralische Gesetz (wie Kant es versteht) ist an sich falsch, wenn das höchste Gut als Strebens- und Handlungsziel des Menschen sich durch die Wirklichkeit als schlechte, phantastische Utopie erweist oder erweisen sollte. Dies besagt doch wohl, dass, fände man seine Theorie des höchsten Guts und des Vernunftglaubens gänzlich unplausibel und überholt, dann auch sein Verständnis und seine Theorie der Moralität und ihrer Gesetzlichkeit für den Menschen in ihrem Kern dementiert wäre. Was in Sachen Recht und Moral als vernünftig und verbindlich zu gelten hat, bedürfte dann einer ganz anderen philosophischen Theorie, einer anderen Erklärung und Rechtfertigung, nach Kant einer wohl nicht apriorisch, sondern empirisch (im weiten menschlichen Sinn) fundierten, einer solchen etwa, wie sie, rein innerweltlich, im Ansatz ein Epikur und seine hochdifferenzierte (und noble) Tradition bis herauf zu John Stuart Mill entwickelt haben.29 Gewiss, das sinnliche, doch vernunftgewirkte Gefühl der Achtung vor dem Gesetz und die emotiv-propositionale, zuversichtliche Hoffnung auf die Verwirklichung des höchsten Guts haben im Rahmen von Kants Theorie die Funktion, »die Motivationsschwäche der abstrakten Vernunftmoral auszugleichen«.30 Doch Voraussetzung für dieses Gefühl und diese Erwartung ist für Kant die Anerkennung der unerschütterlichen Evidenz des Bewusstseins, unter unbedingten moralischen Verpflichtungen zu stehen. Die willentliche Affirmation des Gedankens einer unbedingt fordernden reinen, nicht-empirischen Vernunft, die vom Einzelnen im Konfliktfall das Opfer aller seiner empirischen 27 KpV AA V, 114, Hervorh. M. F.; vgl. Habermas 2019, Bd. 2, 350 f. 28 Habermas 2019, Bd. 2, 354. 29 Vgl. dazu Forschner, Maximilian 2009. 30 Habermas 2019, Bd. 2, 352.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 369

08.11.2021 16:20:51

370

XV. Schlusswort: Immanuel Kant ein »nachmetaphysischer« Denker?

Interessen abverlangt, ist es, die von selbst im endlich-sinnlichen Vernunftwesen das genannte Gefühl der Achtung weckt und notwendigerweise die genannte Erwartung des höchsten Guts (im vernunfteigenen Namen der Gerechtigkeit) erzeugt. Wer sich derart als moralisches Subjekt versteht und verstehen will, dem ist es »der beharrliche Grundsatz des Gemüts, das, was zur Möglichkeit des höchsten moralischen Endzwecks als Bedingung vorauszusetzen notwendig ist, wegen der Verbindlichkeit zu demselben als wahr anzunehmen«.31 Gewiss, auch für Kant bestärkt die in praktischer Absicht den Gang der Geschichte reflektierende Urteilskraft die Hoffnung auf einen rechtlichen und moralischen Fortschritt der Menschheit, »die Hoffnung darauf, dass die solidarischen Anstrengungen endlicher Vernunftwesen, trotz aller gegenteiligen Evidenzen etwas zur Besserung der Welt beitragen zu können, nicht eitel sind«.32 Doch für Kant ist dem moralischen Interesse der Vernunft damit ja noch keineswegs Genüge getan. Es verlangt im Namen der Vernunft danach, dass es im gesamten Weltgeschehen letztendlich gerecht zugeht, dass all ihren unverdienten menschlichen Opfern und Leidtragenden, aber auch ihren verantwortlichen Schurken und Verbrechern definitiv ihr »Recht geschehe«. Und diesem Verlangen der Vernunft kann der Philosoph Kant wohl kaum mit einem »methodischen Atheismus des nachmetaphysischen Denkens«33 entsprochen haben wollen.

31 KdU AA V, 471; vgl. Habermas 2019, Bd. 2, 352. 32 Habermas 2019, Bd. 2, 353. 33 Habermas 2019, Bd. 2, 352.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 370

08.11.2021 16:20:51

Literatur Al-Azm, Sadiq Jalal 1972, The Origins of Kant’s Arguments in the Antinomies, Oxford. Allison, Henry E. 1990, Kant’s theory of freedom, Cambridge. Anderson-Gold, Sharon 2001, Unnecessary Evil. History and Moral Progress in the Philosophy of Immanuel Kant, New York. Baruzzi, Arno 1968, La Mettrie, in: Ders. (Hg.), Aufklärung und Materialismus im Frankreich des 18. Jahrhunderts, München, 21–62. Baruzzi, Arno 1973, Mensch und Maschine. Das Denken sub specie machinae, München. Beiser, Frederick C. 1992, Kant’s intellectual development: 1746–1781, in: The Cambridge ­Companion to Kant, ed. Paul Guyer, Cambridge, 26–61. Bittner, Rüdiger 1974, Maximen, in: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses, Mainz 1974 (Hg. G. Funke), Berlin-NewYork, Teil II/2, 485–498. Bohatec, Josef 1938, 21966, Die Religionsphilosophie Kants in der »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, Hamburg; repr. Hildesheim. Bojanowski, Jochen 2006, Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung, Berlin-New York. Brandt, Reinhard 1999, Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Hamburg. Brandt, Reinhard 2005, Kants Eherecht, in: Maximilian Bergengruen, Johannes F. Lehmann, Hubertus Thüring (Hgg.), Sexualität – Recht – Leben. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800, München, 113–131. Brandt, Reinhard 2010, Immanuel Kant – Was bleibt?, Hamburg. Bubner, Rüdiger 1976, Handlung, Sprache und Vernunft, Frankfurt/Main. Byrd, B. Sharon/Hruschka, Joachim 2010, Kant’s Doctrine of Right. A Commentary, Cambridge. Byrd, B. Sharon 2015, Stichworte: Strafarten, Strafe, Strafgerechtigkeit, Strafgesetz, Strafklugheit, Strafrecht, in: Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr, Stefano Bacin (Hgg), Kant-Lexikon, 3 Bde., Berlin-Boston 2015, Bd. 3, 2187–2193. Cramer, Konrad 1985, Nicht-reine synthetische Urteile a priori. Ein Problem der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants, Heidelberg. Cramer, Konrad 1998, Die Einleitung (A1/B1 – A16/B30), in: Klassiker Auslegen, Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Georg Mohr und Marcus Willaschek, Berlin, 57–79. Denzinger, Henricus et Umberg, Johannes Bapt., S. J. 1932, Enchiridion Symbolorum Definitionum et Declarationum de Rebus Fidei et Morum, Editio 18–20, Friburgi ­Brisgoviae, Nr. 787–792, 281–283. Dierksmeier, Claus 1998, Das Noumenon Religion. Eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der praktischen Philosophie Kants, Berlin-New York. Di Giulio, Sara/Frigo, Alberto (Hgg.) 2020, Kasuistik und Theorie des Gewissens. Von Pascal bis Kant, Berlin-Boston. Dörflinger, Bernd 2004, Führt Moral unausbleiblich zur Religion? Überlegungen zu einer These Kants, in: Norbert Fischer (Hg.), Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, Hamburg, 207–223. Düsing, Klaus 1971, Das Problem des höchsten Guts in Kants praktischer Philosophie, in: Kant-Studien 62, 5–42.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 371

08.11.2021 16:20:51

372

Literatur Ebbinghaus, Julius 1968, Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden, Darmstadt. Ebbinghaus, Julius 1988, Die Strafen für Tötung eines Menschen nach Prinzipien einer Rechtsphilosophie der Freiheit, in: Ders., Gesammelte Schriften (hg. v. Georg Geismann u. Hariolf Oberer), Bd. 2: Philosophie der Freiheit, Bonn. Ebeling, Hans 1979, Selbsterhaltung und Selbstbewußtsein, Freiburg-München. Ebert, Theodor 1977, Zweck und Mittel. Zur Klärung einiger Grundbegriffe der Handlungstheorie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Heft 2, 21–39. Ertl, Wolfgang 2001, Das Freiheitsproblem bei Kant. Zwischen Tradition und I­ nnovation, in: Jens Kulenkampff u.Thomas Spitzley (Hgg.), Von der Antike bis zur Gegenwart. ­Erlanger Streifzüge durch die Geschichte der Philosophie, Erlangen-Jena, 79–96. Ertl, Wolfgang 2020, The Guarantee of Perpetual Peace, Cambridge. Falkenburg, Brigitte 2000, Kants Kosmologie. Die wissenschaftliche Revolution der ­Naturphilosophie im 18. Jahrhundert, Frankfurt/Main. Finnis, John 1998, Aquinas, Oxford. Fischer, Norbert 1988, Der formale Grund der bösen Tat. Das Problem der moralischen ­Zurechnung in der Praktischen Philosophie Kants, in: Zeitschrift für philosophische ­Forschung 42, 18–43. Fischer, Norbert (Hg.) 2004, Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, Hamburg. ­ Fischer, Norbert (Hg.) 2012, Die Gnadenlehre als »salto mortale« der Vernunft? N ­ atur, ­Freiheit und Gnade im Spannungsfeld von Augustinus und Kant, Freiburg i. Br. Fischer, Norbert/Sirovátka, Jakub (Hgg.) 2015, Vernunftreligion und Offenbarungs­glaube. Zur Erörterung einer seit Kant verschärften Problematik, Freiburg-Basel-Wien. Forschner, Maximilian 1974, Gesetz und Freiheit. Zum Problem der Autonomie bei I. Kant, München-Salzburg. Forschner, Maximilian 1977, Rousseau, Freiburg-München. Forschner, Maximilian 1986, Synthesis und Handlung bei Aristoteles und Kant, in: G ­ erold Prauss (Hg.), Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, Frankfurt/Main, 82–97. Forschner, Maximilian 1987, Dialektik und Ethik. Zu Begriff und Methode der praktischen Philosophie bei Aristoteles, in: Wilhelm Baumgartner (Hg.), G ­ ewissheit und Gewissen. Festschrift für Franz Wiedmann, Würzburg, 41–61. Forschner, Maximilian 1989, 42010, Guter Wille und Haß der Vernunft, in: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar. Hg. von Otfried Höffe, Frankfurt/ Main, 66–82. Forschner, Maximilian 1998, Über das Handeln im Einklang mit der Natur, Darmstadt. Forschner, Maximilian 2000, Rousseau über religion civile, in: Politik und Politeia. Formen und Probleme politischer Ordnung, hg. von Wolfgang Leidhold, Würzburg, 21–42. Forschner, Maximilian 2006, Thomas von Aquin, München. Forschner, Maximilian 2008, Oikeiosis. Die stoische Theorie der Selbstaneignung, in: Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt, Bernhard Zimmermann (Hgg.), Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik, Berlin-New York, Bd. 1, 169 –192. Forschner, Maximilian 2009, Das Prinzip des größten Glücks. Der noble Utilitarismus John Stuart Mills, in: Hans-Gregor Nissing, Jörn Müller (Hgg.), Grundpositionen ­philosophischer Ethik. Von Aristoteles bis Jürgen Habermas, Darmstadt, 105–122. Forschner, Maximilian, 2011, Stichwort: Das Gute, in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hgg. von Petra Kolmer und Armin G. Wildfeuer, Freiburg-München, Bd. 2, 1132–1144. Forschner, Maximilian 2013, Platon Werke Bd. I 1: Euthyphron. Übersetzung und ­Kommentar, Göttingen.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 372

08.11.2021 16:20:51

Literatur

373

Forschner, Maximilian 2018, Die Philosophie der Stoa. Logik, Physik und Ethik, Darmstadt. Forschner, Maximilian 2019, Prohairesis in der Philosophie Epiktets, in: Dagmar ­Kiesel/ Cleopha Ferrari (Hgg.), Willensfreiheit, Frankfurt/Main, 83–100. Frankena, William K. 1972, Analytische Ethik. Eine Einführung, München. Frierson, Patrick 2003, Freedom and Anthropology in Kant’s Moral Philosophy, ­Cambridge. Fritz, Kurt von 1961, Der Beginn universalwissenschaftlicher Bestrebungen und der­Primat der Griechen II, in: Studium Generale 14, 601–636. Fritz, Kurt von 1964, Epagogê bei Aristoteles. Sitzungsbericht der Bayer. Akad. d. ­Wissenschaften, Philos.-Histor. Klasse, Heft 3, München. Geismann, Georg 1974, Ethik und Herrschaftsordnung. Ein Beitrag zum Problem der ­Legitimation, Tübingen. Geismann, Georg/Oberer, Hariolf (Hgg.) 1986, Kant und das Recht der Lüge, Würzburg. Gerlach, Stefan 2010, Wie ist Freiheit möglich? Eine Untersuchung über das Lösungspotential zum Determinismusproblem in Kants Kritik der reinen Vernunft, Tübingen. Goebel, Bernd 2003, Probleme eines philosophischen Naturalismus, in: Theologie und Philosophie 78, 23–37. Gosling, J. C. B/Taylor, C. C. W. 1982, The Greeks on Pleasure, Oxford. Haag, Johannes 2007, Erfahrung und Gegenstand, Frankfurt/Main Habermas, Jürgen 1991, Texte und Kontexte, Frankfurt/Main. Habermas, Jürgen 2019, Auch eine Geschichte der Philosophie, 2 Bde., Berlin. Hahmann, Andree 2009, Kritische Metaphysik der Substanz, Berlin-New York. Heidegger, Martin 21950, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/Main. Heimsoeth, Heinz 1967, Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der ­reinen Vernunft, Teil 2, Berlin. Heimsoeth, Heinz 1971, Transzendentale Dialektik.Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Vierter Teil: Die Methodenlehre, Berlin-New York. Höffe, Otfried 1971, Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, München-Salzburg. Höffe, Otfried 1979, Ethik und Politik, Frankfurt/Main. Höffe, Otfried 1995, Ein Thema wiedergewinnen. Kant über das Böse, in: Klassiker Auslegen: F. W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, hg. von Otfried Höffe und Annemarie Pieper, Berlin, 11–34. Höffe, Otfried 1999, Vom Straf- und Begnadigungsrecht, in: Klassiker Auslegen: ­Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hg. von Otfried ­Höffe, Berlin, 213– 233. Höffe, Otfried 42010, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt/Main. Höffe, Otfried (Hg.) 2010, Klassiker Auslegen: Immanuel Kant. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Berlin. Hoping, Helmut 1990, Freiheit im Widerspruch. Eine Untersuchung zur Erbsündenlehre im Ausgang von Immanuel Kant, Innsbruck. Hsüeh-chu, Maria Chang 1999, Die Einheit der Wirklichkeit. Kants Gotteslehre in metaphysischer Perspektive, Frankfurt/Main. Hüning, Dieter 2004, Kants Strafrechtstheorie und das jus talionis, in: Aufklärung durch Kritik. Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag, hg. von Dieter Hüning, Karin Michel u. Andreas Thomas, Berlin, 333–360. Jacobs, Brian/Kain, Patrick (Hgg.) 2003, Essays on Kant’s Anthropology, Cambridge. Kanitscheider, Bernulf 1979, Materie – Leben – Geist. Zum Problem der Reduktion der Wissenschaften, Berlin.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 373

08.11.2021 16:20:51

374

Literatur Kanitscheider, Bernulf 2003, Naturalismus, metaphysische Illusionen und der Ort der Seele. Grundzüge einer naturalistischen Philosophie und Ethik, in: zur debatte 1, 33. Jhg., 33–34. Kaufmann, Matthias 2007, Autonomie und das Faktum der Vernunft, in: Jürgen Stolzenberg (Hg.) 2007, Kant in der Gegenwart, Berlin. 227–245. Kersting, Wolfgang 1984, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin. Kersting, Wolfgang 1992, Politics, freedom and order: Kant’s political philosophy, in: The Cambridge Companion to Kant (ed. Paul Guyer), Cambridge, 342–366. Kersting, Wolfgang 2004, Kant über Recht, Paderborn. Klar, Samuel 2007, Moral und Politik bei Kant, Würzburg. Kleingeld, Pauline 1995, Fortschritt und Vernunft. Zur Geschichtsphilosophie Kants, Würzburg. Klemme, Heiner F. 1999, Die Freiheit der Willkür und die Herrschaft des Bösen. Kants Lehre vom radikalen Bösen zwischen Moral, Religion und Recht, in: H. F. Klemme, B. Ludwig, M. Pauen, W. Stark (Hgg.), Aufklärung und Interpretation. Studien zu Kants Philosophie und ihrem Umkreis, Würzburg, 125–151. Klemme, Heiner F. 2017, Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«. Ein systema­tischer Kommentar, Stuttgart. Kreimendahl, Lothar 1998, Die Antinomie der reinen Vernunft, 1. und 2. Abschnitt, in: Georg Mohr und Marcus Willascheck (Hgg.), Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Reihe: Klassiker Auslegen, Berlin, 413–446. Kühl, Kristian 1991, Die Bedeutung der Kantischen Unterscheidungen von Legalität und ­Moralität sowie von Rechts- und Tugendpflichten für das Strafrecht – ein Problemaufriß, in: Heike Jung u. a. (Hgg.), Recht und Moral, Baden-Baden, 139–176. Kühl, Kristian 1999, Von der Art, etwas Äußeres zu erwerben, insbesondere vom Sachenrecht, in: Klassiker Auslegen: Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (Hg. Otfried Höffe), Berlin, 119–132. Kulenkampff, Jens 1978, Kants Logik des ästhetischen Urteils, Frankfurt/Main Kuss, Otto 1963, Sünde und Tod, Erbtod und Erbsünde, in: Der Römerbrief, übersetzt und ­erläutert von Otto Kuss, Erste Lieferung, Regensburg, 241–275. Langthaler, Rudolf 2014, Geschichte, Ethik und Religion im Anschluss an Kant, 2 Bde., Berlin. Long, Anthony A. 1986, Pleasure and Social Utility. The Virtues of Being ­Epicurean, in: Aspects de la Philosophie Hellénistique. Entretiens sur l’Antiquité ­Classique, Bd. 32, Genf, 283–324. Lorenz, Manuel 2020, Von Pflanzen und Pflichten. Zum naturalistischen Ursprung des stoischen kathēkon, Basel. Louden, Robert B. 2000, Kant’s Impure Ethics. From Rational Beings to Human Beings, ­Oxford-New York. Louden, Robert B. 2011, Kant’s Human Being: Essays on His Theory of Human Nature, ­Oxford-New York. Ludwig, Bernd 2010, Die »consequente Denkungsart der speculativen Kritik«. Kants radikale Umgestaltung seiner Freiheitslehre im Jahre 1786 und die Folgen für die Kritische Philosophie als Ganze, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58, Heft 4, 595–628. Ludwig, Bernd 2020, Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer ­Metaphysik der Sitten, Frankfurt/Main. Mackie, John L. 1977, Ethics. Inventing Right and Wrong, Harmondsworth. Mackie, John L. 1981, Ethik. Auf der Suche nach dem Richtigen und Falschen, Stuttgart. Marquard, Odo 21999, Skeptische Methode im Blick auf Kant, Freiburg.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 374

08.11.2021 16:20:51

Literatur

375

McCarty, Richard R. 2006, Maxims in Kant’s Practical Philosophy, in: Journal of the History of Philosophy 44, 65–83. Michalson, Gordon E. 1990, Fallen freedom. Kant on radical evil and moral regeneration, Cambridge. Müller, Olaf 1998, Synonymie und Analytizität: Zwei sinnvolle Begriffe. Eine Auseinander­ setzung mit W. V. O. Quine’s Bedeutungsskepsis, Paderborn. Neiman, Susan 2002, Evil in Modern Thought, Princeton. Newen, Albert/Horvath, Joachim (Hgg.) 2007, Apriorität und Analytizität, Paderborn. Nimtz, Christian 2004, Willard V. O. Quine, Die Unterscheidung zwischen analytischen unnd synthetischen Sätzen, in: Ansgar Beckermann/Dominik Perler (Hgg.) 2004, Klassiker der Philosophie Heute, Stuttgart, 751–770. Oberer, Hariolf 1982, Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre, in: Reinhard Brandt (Hg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung. Symposium Wolfenbüttel 1981, Berlin-New York, 399–423. Palmquist, Steven R. 2000, Kant’s critical religion, Aldershot u. a. Patzig, Günther 1971, Ethik ohne Metaphysik, Göttingen. Patzig, Günther 1976, Immanuel Kant: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?, in: J­ osef Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit II, Göttingen, 9–70. Patzig, Günther 1978, Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen in der Ethik, Göttingen. Pesch, Otto Hermann 1977: Thomas v. Aquin, Das Gesetz. Kommentiert von Otto Hermann Pesch, Graz-Wien-Köln = Bd. 13 der deutsch-lateinischen Ausgabe der Summa theologiae. Prauss, Gerold 31993, Einführung in die Erkenntnistheorie, Darmstadt. Quine, Willard Van Orman 1951, Two Dogmas of Empiricism, in: Philosophical Review 60, 20–43; dt. in: Ders. 1979, Von einem logischen Standpunkt. Neun logisch-philosophische ­Essays, Frankfurt/Main u. a., 27–50. Rahner, Karl 61962, Zum theologischen Begriff der Konkupiszenz, in: Ders., Schriften zur ­Theologie Bd. I, Einsiedeln-Zürich-Köln, 377–414. Rawls, John 1955, Two Concepts of Rules, in: The Philosophical Review 64, 3–32. Reboul, Olivier 1971, Kant et le problème du mal, Montréal. Reich, Klaus 1935, Kant und die Ethik der Griechen, Tübingen. Ricken, Friedo/Marty, François 1992 (Hgg.), Kant über Religion, Stuttgart u. a. Ricken, Friedo 2003, Religionsphilosophie, Stuttgart. Ricken, Friedo 2008, Politikos. Platon Werke Übersetzung und Kommentar, Göttingen. Ricken, Friedo 22011, Die Postulate der reinen praktischen Vernunft, in: Otfried Höffe (Hg.) Klassiker Auslegen: Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Berlin, 163–176. Rohbeck, Johannes 1987, Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/Main-New York. Róisin, Healy 2006, Suicide in Early Modern and Modern Europe, in: The Historical Journal 49/3, 903–919. Sala, Giovanni B. 1990, Kant und die Frage nach Gott. Gottesbeweise und Gottesbeweiskritik in den Schriften Kants, Berlin-New York. Sala, Giovanni B. 1991, Der moralische Gottesbeweis: Entwicklung und Spannungen in der kantischen Fassung, in: Akten des Siebenten Internationalen Kant-Kongresses, 295–304. Sala, Giovanni B. 1993, Wohlverhalten und Wohlergehen. Der moralische Gottesbeweis in den Schriften Kants, in: Theologie und Philosophie 68, 182–207.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 375

08.11.2021 16:20:51

376

Literatur Santozki, Ulrike 2006, Die Bedeutung antiker Theorien für die Genese und Systematik von Kants Philosophie, Berlin-New York. Scarano, Nico 22011, Moralisches Handeln. Zum dritten Hauptstück von Kants Kritik der praktischen Vernunft, in: Otfried Höffe (Hg.), Klassiker Auslegen: Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Berlin, 117–131. Scheffczyk, Leo 2002, Stichwort: Erbsünde, in: Lexikon des Mittelalters Bd. III, München, Sp. 2120. Schlüter, Gisela 2020, The Concept of Reform in Polyglot European Enlightenment, in: ­Susan Richter, Thomas Maissen, Manuela Albertone (Hgg.), Languages of Reform in the ­Eighteenth Century. When Europe Lost Its Fear of Change, New York-London, 29–61. Schmaus, Michael 1969, Der Glaube der Kirche Bd. I, München. Schmucker, Josef 1961, Die Ursprünge der Ethik Kants, Meisenheim. Schmucker, Josef 1990, Das Weltproblem in Kants Kritik der reinen Vernunft. Kommentar und Strukturanalyse des ersten Buches und des zweiten Hauptstücks des zweiten Buches der transzendentalen Dialektik, Bonn. Schönecker, Dieter/Wood, Allen W. 42011, Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«. Ein einführender Kommentar, Paderborn. Schulte, Christoph 21991, radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche, München. Schwartz, Maria 2006, Der Begriff der Maxime bei Kant, Münster. Sedgwick, Sally 1991, On Lying and the Role of Content in Kant’s Ethics, Kant-Studien 82, 42–62. Sensen, Oliver 2011, Kant on Human Dignity, Berlin u. a. Siep, Ludwig 21993, Wozu Metaphysik der Sitten?, in: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, hg. von Otfried Höffe, Frankfurt/Main, 31–44. Sommer, Manfred 1977, Die Selbsterhaltung der Vernunft, Stuttgart. Stangneth, Bettina 2000, Kultur der Aufrichtigkeit. Zum systematischen Ort von Kants »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, Würzburg. Stark, Werner 1993, Nachforschungen zu Briefen und Handschriften Immanuel Kants, Berlin. Starobinski, Jean 1971, La transparence et l’obstacle, Paris. Stolzenberg, Jürgen (Hg.) 2007, Kant in der Gegenwart, Berlin. Sturm, Thomas 2009, Kant und die Wissenschaften vom Menschen, Paderborn. Tonelli, Giorgio 1968, Christian August Crusius, in: The Encyclopedia of Philosophy, ed. Paul Edwards, New York, Bd. 2, 268–271. Tugendhat, Ernst 1984, Probleme der Ethik, Stuttgart. Voegelin, Eric/Leuschner, Peter 1968, Helvétius, in: Arno Baruzzi (Hg.), Aufklärung und ­Materialismus im Frankreich des 18. Jahrhunderts, München, 63–97. Vogt, Katja M. 1998, Skepsis und Lebenspraxis: Das pyrrhonische Leben ohne Meinungen, Freiburg-München. Vorländer, Karl 1963, Einleitung zu: Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Phil. Bibl. Meiner Bd. 38, Hamburg. Weischedel, Wilhelm 1971, Der Gott der Philosophen, Bd. 1, Darmstadt. Willaschek, Marcus 1992, Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, Stuttgart-Weimar. Willaschek, Marcus u. a. (Hgg.) 2015, Kant-Lexikon, 3 Bde., Berlin-Boston. Wittwer, Héctor 2001, Über Kants Verbot der Selbsttötung, in: Kant-Studien 92, 180–209.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 376

08.11.2021 16:20:52

Nachweise Den genannten Kapiteln liegen Erstveröffentlichungen zugrunde. Sie wurden mehr oder weniger stark überarbeitet, zum Teil ergänzt, korrigiert, neu strukturiert und in den thematischen Kontext des vorliegenden Buches integriert: Kap. I: Forschner, Maximilian 2010, Homo naturaliter metaphysicus. Zu Kants »Einleitung« in die »Kritik der reinen Vernunft«, in: Norbert Fischer (Hg.) Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik, Hamburg, 33–48. Kap. II: Forschner, Maximilian 1993, Moralität und Glückseligkeit in Kants Reflexionen, in: Ders., Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant, Darmstadt 107–150. Kap. III: Forschner, Maximilian 1992, Das Ideal des moralischen Glaubens. Religionsphilosophie in Kants Reflexionen, in: Friedo Ricken/François Marty (Hgg.), Kant über Religion, Stuttgart, 83–99 Kap. IV: Forschner, Maximilian 1989, 42010, Guter Wille und Haß der Vernunft, in: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar. Hg. von Otfried Höffe, Frankfurt/Main, 66–82. Kap. V: Forschner, Maximilian 2010, Zur Antinomie der dynamischen Ideen, in: Norbert ­Fischer (Hg.), Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik., Hamburg, 285–312. Kap. VI: Forschner, Maximilian 2004, Freiheit als Schlußstein eines Systems der reinen Vernunft. Transzendentale und praktische Freiheit, in: Norbert Fischer (Hg.), Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, Hamburg, 131–160. Kap. VII: Forschner, Maximilian 1983, Reine Morallehre und Anthropologie. Kritische Überlegungen zum Begriff eines a priori gültigen allgemeinen praktischen Gesetzes bei Kant, in: neue hefte für philosophie, hgg. von Rüdiger Bubner, Konrad Cramer, Reiner Wiehl, 22, 25–44. Kap. VIII, Forschner, Maximilian 2005, Immanuel Kant über Vernunftglaube und Handlungsmotivation, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 59, 327–344. Kap. IX: Forschner Maximilian 2011, Über die verschiedenen Bedeutungen des »Hangs zum Bösen«, in: Otfried Höffe (Hg.) Klassiker Auslegen: Immanuel Kant. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Berlin, 71–90. Kap. IX: Forschner, Maximilian 2012, Der formale Grund des Bösen bei Immanuel Kant, in: Norbert Fischer (Hg.), Die Gnadenlehre als »salto mortale« der Vernunft? Natur, Freiheit und Gnade im Spannungsfeld von Augustinus und Kant, Freiburg i. Br., 268–284. Kap. X: Forschner, Maximilian 2010, Die Stufen des Fürwahrhaltens: »Von Meinen, Glauben und Wissen« – Mit einem Blick auf Kants Auslegung des Verhältnisses von Glaube und Kirche, in: Norbert Fischer (Hg.) Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik, Hamburg, 391–407. Kap. XI: Forschner, Maximilian 2010, Kants Gottesbild in der Religionsschrift, in: Norbert Fischer/Maximilian Forschner (Hgg.), Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants, Freiburg, 109–154. Kap. XII: Forschner, Maximilian 2009, Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie, in: Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, hg. von Heiner F. Klemme, BerlinNew York, 143–164.

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 377

08.11.2021 16:20:52

Namenregister Achenwall, Gottfried  352 Al-Azm, Sadiq Jalal  122, 128 Allison, Henry F.  238 Anderson-Gold, Sharon  223 Antiochos von Askalon  61, 62, 101 Aristipp  63, 99, 103, 104, 105, 111 Ariston von Chios  188 Aristoteles  29, 30, 43, 101, 104, 185, 187, 365 Augustinus  245, 251, 298 Baruzzi, Arno  108, 109, 114 Baumgarten, Alexander Gottlieb 45, 69, 70, 74, 85, 98, 178 Beiser, Frederick C.  19 Bering, Johannes  24 Bittner, Rüdiger  182, 191 Bohatec, Josef  221, 244 Bojanowski, Jochen  41, 140, 155, 158, 170, 239, 250 Brandt, Reinhard  46, 178, 343, 345, 352 Brucker, Johann Jakob  43 Bubner, Rüdiger  183 Büsching, Anton Friedrich  43 Byrd, Sharon B.  160, 229, 352, 353, 355, 358, 360 Calvin, Jean  287 Cicero  15, 56, 61, 62, 77, 88, 97, 101, 102, 103, 104, 105, 110, 219, 222, 224, 349, 365 Clark, Samuel  124 Clemens von Alexandria  222 Cramer, Konrad  24, 40 Crusius, Christian August  48, 49, 52, 74, 366 Darwin, Charles  165 Demokrit 105 Denzinger, Heinrich 250, 251 Dierksmeier, Claus  269 Di Giulio, Sara 292 Diogenes Laertius  63, 101, 222 Dörflinger, Bernd  15, 199

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 378

Düsing, Klaus  99 Ebbinghaus, Julius  189, 319, 334 Ebeling, Hans  188, 189 Ebert, Theodor  182 Epiktet  222, 364 Epikur  62, 76, 83, 99, 100, 101, 103, 104, 108, 109, 111, 113, 218, 219, 369 Ertl, Wolfgang  18, 155, 368 Falkenburg, Brigitte, 14, 115, 116, 118 Finnis, John  327 Fischer, Norbert  221, 250, 255, 290, 366 Formey, Johann Heinrich Samuel  43 Frankena, William K.  363 Freud, Sigmund  165 Frierson, Patrick  176 Frigo, Alberto  292 Fritz, Kurt von  187 Gallop, David  110 Garve, Christian  13, 102, 147 Geismann, Georg  189, 335 Gentzken, Friedrich  43 Gerlach, Stefan 155 Goebel, Bernd  150 Gosling, J. C. B.  110 Goy, Ina  23 Haag, Johannes  32 Habermas, Jürgen  18, 36, 43, 66, 209, 265, 361–370 Hahmann, Andree  153 Haller, Albrecht von  306 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  43 Heidegger, Martin  293, 294 Heimsoeth, Heinz  140, 254 Helvétius, Claude Adrien  62, 63, 99, 103, 106, 107, 108, 109, 114 Hiob  91, 219 Hobbes, Thomas  109, 222, 223, 224, 225, 337, 363

08.11.2021 16:20:52

Namenregister Höffe, Otfried  166, 182, 187, 189, 199, 222, 252 Hoping, Helmut  281 Horvath, Joachim  30 Horaz 97 Hruschka, Joachim  160, 229, 352, 353, 355, 358, 360 Hsüeh-chu, Maria Chang  278 Hüning, Dieter  335 Hume, David  32, 43, 112, 152, 165, 361, 362, 364 Hutcheson, Francis 74, 173 Jacobs, Brian  176 Jacobus de Voragine  299 Jesus (Christus)  16, 83, 87, 88, 90, 91, 92, 93, 219, 245, 247, 247, 248, 249, 299, 303, 313, 314, 334, 365 Kanitscheider, Bernulf  150 Kain, Patrick  176 Kaufmann, Matthias  169 Kersting, Wolfgang 317 Klar, Samuel  249, 250 Kleingeld, Pauline  312 Klemme, Heiner  166, 238 Kreimendahl, Lothar  127 Kühl, Christian  335, 340 Kulenkampff, Jens  298 Kuss, Otto  244 La Mettrie, Julien Offray de  62, 63, 99, 103, 105, 107, 108, 109, 110, 111, 114 Lambert, Johann Heinrich  21, 22 Langthaler, Rudolf  18, 77, 259, 352 Lavater, Johann Caspar  91, 93 Leibniz, Gottfried Wilhelm  124 Leuschner, Peter  114 Locke, John  289 Long, Anthony A.  109 Lorenz, Manuel  222 Louden, Robert B.  176 Ludwig, Bernd  166, 168 Lukrez  108, 109 Luther, Martin  353, 366

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 379

379

Mackie, John L.  165 Mandeville, Bernard  99, 103, 106, 107 Mark Aurel  222 Marquard, Odo  130 Marty, François  255 Marx, Karl  43 McCarty, Richard R.  182 Mendelssohn, Moses  102, 109 Michalson, Gordon E.  253 Mill, John Stuart  43, 369 Mohammed 314 Mohr, Georg  352 Montaigne, Michel de  108 Moses  314, 366 Müller, Olaf  35 Neiman, Susan  246 Newen, Albert  30 Newton, Issac  35, 122, 127 Nimtz, Christian  35 Oberer, Hariolf  189, 352, 358, 359, 360 Palmquist, Steven R.  255 Panaitios von Rhodos  102, 103, 222 Patzig, Günther  24, 35, 43, 189, 193, 196 Paulus (Apostel)  63, 244, 289, 348, 353, 358, 359 Pesch, Otto Hermann  318 Platon  30, 43, 60, 87, 101, 102, 104, 105, 109, 110, 112, 164, 187, 298, 363, 365 Plutarch 101 Prauss, Gerold  26 Quine, Willard Van Orman  35 Rawls, John  183 Reboul, Olivier  221, 244 Reich, Klaus  102 Reinhold, Carl Leonhard  99 Ricken, Friedo  187, 199, 205, 255 Róisin, Healy  188 Rohbeck, Johannes  111 Rousseau, Jean-Jacques  39, 44, 45, 49, 60, 74, 75, 79, 109, 111, 114, 190, 222, 224, 225, 303, 343, 365

08.11.2021 16:20:52

380

Namenregister Sala, Giovanni B.  279 Santotzki, Ulrike  43, 52, 61, 62, 130, 365 Scarano, Nico  199 Scheffczyk, Leo  248 Schlüter, Gisela  18, 237 Schmaus, Michael  244, 245, 251 Schmucker, Joseph  52, 137 Schönecker, Dieter  166 Schütz, Christian Gottfried  23 Schulte, Christoph  221, 245, 250 Schwartz, Maria  182 Sedgwick, Sally  189 Seneca  62, 108, 110, 224 Sensen, Oliver  327, 334 Servet, Michel  287 Sextus Empiricus  101, 188 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper  97 Siep, Ludwig  96 Sirovátka, Jakub  221, 289 Sokrates  94, 95, 105, 299, 303 Sommer, Manfred  188 Spinoza, Baruch de  200 Stangneth, Bettina  230, 240 Stark, Werner  41

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 380

Starobinski, Jean  224 Stolzenberg, Jürgen  352 Sturm, Thomas  176 Suárez, Francisco de  256 Taylor, C. C. W.  110 Thomas von Aquin  39, 222, 247, 250, 251, 256, 258, 259, 317–333, 340, 364 Tonelli, Giorgio  366 Tugendhat, Ernst  43 Turgot, Anne Robert Jacques  111 Umberg, Johannes  250 Vergil  97, 108 Voegelin, Eric  114 Vogt, Katja M.  130 Vorländer, Karl  23, 24 Weischedel, Wilhelm  271 Willaschek, Marcus  23, 152, 169, 170, 243, 352, 366 Wittwer, Héctor  189 Wood, Allen  166 Zenon von Kition  83, 101, 219

08.11.2021 16:20:52

Sachregister Achtung  61, 65, 96, 170, 173 ff., 198 ff., 208 f., 212 f., 216 f., 225, 232, 236, 274, 279 ff., 369 f. Atheismus, Unglaube  13 f., 62, 66, 69, 200, 209, 254, 370. Autonomie  14, 16 f., 140, 142, 148 f., 160, 166, 187, 189, 199, 210, 222, 250, 275, 336, 364, 366 Autorität  259, 309, 325 Begnadigung 355 Charakter, empirischer, intelligibler  138, 142 f., 233, 236, 242 f. Demut  62, 88, 92 f., 112, 204 Deontologisch 362 f., 366 Determinismus  13 f., 116, 123, 140, 142 ff., 146 ff., 155 f., 158, 164, 166 f., 288 Dogmatismus  12, 117, 129 f., 254 Ehe, Eherecht  20, 333, 341–345 Eigentum, Eigentumsrecht  188, 289, 318, 328–332, 341 f., 345 Empirismus  13, 15, 20, 56, 129 f., 150, 178 Endzweck  15, 51, 64 f., 90, 198, 207 ff., 213, 215 ff., 263, 265, 271 f., 279 f.,282, 285, 333, 351 f. Epikureismus  43, 68, 71 f., 74, 77, 80, 82 f., 88, 98, 113, 129, 201, 205, 364 f. Erbsünde  14, 221, 225, 244–250, 366 Erfahrungserkenntnis  27, 31 f., 40, 53 Faktum der Vernunft  169, 235, 270 Fortschritt  230, 312, 318, 362, 370 Gebrechlichkeit  304 f., 366 Gefühl, moralisches  41, 53, 58 f., 69–73, 83, 86 ff., 99, 170, 173, 175, 202 Gemeineigentum 330 Gesinnungsreform, -revolution 236 f., 240, 243, 245, 251, 292, 302 f., 314 Gewissen 105, 292 Gewissheit 67, 258 ff., 266 Hedonismus  57, 62 f., 104, 108, 111 Heiligkeit  62, 82, 87, 89, 93, 289 f., 302, 304

PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 381

Hellenismus  43, 62, 98, 100, 116, 200 f., 364 ff. Heteronomie  148, 171, 275 Hoffnung  16, 38, 43, 51, 55, 80–89, 93, 199 f., 209–220, 245 f., 263, 266, 274, 291, 315, 396 f., 370 Imperativ, kategorischer  189 ff., 199 f., 207, 212,312, 322, 355, 359 Interesse  196, 226, 259, 264, 266, 270, 273, 312, 315, 367, 369 f. Kausalprinzip  33, 123, 142 Konfliktsituation  17, 96, 173 f., 193, 195 ff., 200, 229, 243 Kultur  21, 37, 39, 172, 174, 223, 225 f., 229 Kynismus, kynisch  68, 71, 75, 82, 98, 111 f. Lüge  185 f., 189 ff., 194 f., 197, 200 Materialismus  60 ff., 108, 150 Maxime  182, 184, 190–197, 202, 207 f., 211, 227 f., 235, 239, 242, 252, 273 Menschheit (als Idee)  334 f., 341–345, 360 f. Metaphysik, rationalistische  12, 19, 30, 36 f., 38 f., 131, 362 Naturalismus  13, 120, 123 ff., 135 f., 147, 150, 163 ff., 203, 265 Naturzustand  307, 310, 313, 340, 357 f. Neigung, natürliche  222 f., 231, 247, 319 ff., 324, 332 Neukantianismus  40, 362 Öffentlichkeit 308 Oikeiosis 110, 114, 366 Organon  27 ff., 33 Person, Persönlichkeit  47 f., 197, 224 f., 239, 243, 309, 327, 329, 341, 343 f. Pflichtenkollision 194, 196 Platonismus  90, 96, 98, 129, 302 Positivismus, logischer  35 Postulat  51, 283 f., 366 f., 368 Privateigentum  330, 339 f. Rache  348, 353 f. Rechtsgemeinschaft  253, 307 f., 368

08.11.2021 16:20:52

382

Sachregister Rechtlichkeit  322, 335 f., 343 f. Rechtspflicht 338 Rechtsprinzip  337, 357 Religionswahn  92, 291, 313 Rigorismus  17, 200, 239 Schöpfung  122, 124., 277, 284, 287 ff., 300, 319, 333, 351 Selbsterhaltung  60, 106, 108, 188, 203 ff., 219, 222, 269, 323 Selbstliebe, Eigenliebe  43, 46, 58, 70, 78 ff., 99, 110, 112, 114,  210, 222 f., 225, 232 ff., 243, 251 f., 302 Selbsttötung  185 f., 189 ff., 194, 197, 200 Selbstzufriedenheit  56–61, 75, 94, 112, 202 Sinn, moralischer  53, 58 Skepsis  20, 39, 43, 117 f., 130, 147, 166. Solidarität  50, 60, 368, 370 Stoa, stoisch  43, 61 ff., 68, 71–77, 82 f., 88, 90, 98, 100, 102, 105, 108, 110, 113, 125, 127, 142, 163, 188, 201, 218, 222–225, 298 f., 318 f., 364 f. Theodizee  246, 349 ff. Tragik, tragisch  17, 184 ff., 196, 200 Transzendentalphilosophie  22, 25, 28, 40, 44

Tugendgemeinschaft  253, 260, 307, 312, 326, 368 Tugendpflicht  183, 185, 197, 338 Unsterblichkeit  197, 205–210, 254, 263, 265, 267, 305, 368 Verbindlichkeit (obligatio)  52, 65 ff., 80, 84, 100, 179, 196, 203 f., 339, 348 Vergeltung 352–360 Vernunfthass  63, 107–110 Verpflichtung, Pflicht  206, 209 f., 214, 230, 235, 238, 301 f., 311, 325, 335 f., 369 Versöhnlichkeit 354 Wille, allgemeiner  49 ff., 57, 59, 99, 357 Wohlfahrt  60, 75, 98, 113 Würde  47, 57, 173, 189, 197, 248, 313, 315, 327 ff., 336 f., 345, 359 Zurechnung (imputatio)  160, 195, 228, 230 f., 233 f., 238, 241 f. Zweck  48, 206–215, 261, 273–276, 279 f., 328 f., 336, 343 Zweckmäßigkeit (der Natur) 38, 106, 108, 272, 282, 285, 349 f.

AZ_Im PR038703_4_Forscher_Praktische-Philosophie.indd 382

08.11.2021 16:20:52

9:53 Uhr

Seite 1

»In die Metaphysik verliebt« ... war Immanuel Kant, wie er selbst bekannte. Und so würdigt Maximilian Forschner in der hier vorgelegten Bilanz seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Kants praktischer Philosophie zwar die innovative Leistung des großen Philosophen, stellt sein Denken aber zugleich in den Traditionsrahmen der abendländischen Metaphysik. Diese Perspektive hat heute eine besondere Bedeutung und Aktualität, da Kant etwa durch Jürgen Habermas zu einem der Pioniere »nachmetaphysischen« Denkens erhoben wurde.

Maximilian Forschner war Ordinarius für Philosophie an der Universität Osnabrück und Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg. Bei der wbg sind von ihm u. a. erschienen: Philosophie der Stoa (2018), Die stoische Ethik (21995).

Kommen Sie ins Gespräch mit Leser:innen und Autor:innen auf wbg-community.de wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27414-7

Praktische Philosophie bei Kant

10.12.2021

Forschner

Praktische-Philosophie-bei-Kant_RZ_neu:Layout 1

Maximilian Forschner

Praktische Philosophie bei Kant Metaphysik und moralisches Selbstverständnis