Praktische Regulation der Natur: Zur Grundfrage und Grundmethode der Metaphysik des späten Kant [1. Aufl.] 9783662622513, 9783662622520

Mit der rekonstruierenden Textanalyse der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik (1804) und der drei Kritiken

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German Pages XXVII, 214 [238] Year 2020

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Praktische Regulation der Natur: Zur Grundfrage und Grundmethode der Metaphysik des späten Kant [1. Aufl.]
 9783662622513, 9783662622520

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XXVII
Front Matter ....Pages 1-2
Der Spielraum möglicher Metaphysik: die endliche und die transzendente Natur der erkennenden Vernunft des Menschen (Yuwei Xie)....Pages 3-31
Die Endabsicht und Grundfrage der Metaphysik (Yuwei Xie)....Pages 33-63
Front Matter ....Pages 65-66
Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik (Yuwei Xie)....Pages 67-95
Die Praktische Transzendenz als Ansatz der neuen Metaphysik (Yuwei Xie)....Pages 97-118
Front Matter ....Pages 119-120
Der Begriff der praktischen Regulation bei Kant (Yuwei Xie)....Pages 121-148
Die Transzendentale Deduktion der Ideen des Übersinnlichen als praktisch-regulierender Prinzipien (Yuwei Xie)....Pages 149-172
Die Endabsicht der Metaphysik im System der praktisch-regulativen Ideen des Übersinnlichen (Yuwei Xie)....Pages 173-200
Back Matter ....Pages 201-214

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Yuwei Xie

Praktische Regulation der Natur Zur Grundfrage und Grundmethode der Metaphysik des späten Kant

Praktische Regulation der Natur

Yuwei Xie

Praktische Regulation der Natur Zur Grundfrage und Grundmethode der Metaphysik des späten Kant

Yuwei Xie Guangzhou, China

Dieses Buch ergibt sich aus der Überarbeitung der Dissertation des Autors, die mit ihrem originalem Titel „Zum Problem der praktischen Regulation für die Natur im Begriff der Metaphysik des späten Kant“ im Sommersemester 2019 von der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg angenommen wurde.

ISBN 978-3-662-62251-3 ISBN 978-3-662-62252-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-62252-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Carina Reibold J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort

Das hier vorliegende Buch ergibt sich aus der Überarbeitung einer Studie, die im Sommersemester 2019 meiner Promotion an der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg zugrunde lag. Ihr originaler Titel lautet: „Zum Problem der praktischen Regulation für die Natur im Begriff der Metaphysik des späten Kant“. Zu danken habe ich vor allem dem Betreuer und zugleich dem ersten Gutachter meiner Dissertation, Prof. Anton Friedrich Koch, für die mehrmaligen Diskussionen, die mir Anregungen zum Denken gegeben haben, sowie für die freundliche Hilfe, die er während meiner Promotion bei vielseitigen Angelegenheiten angeboten hat. Prof. Peter McLaughlin danke ich für seine gutachtliche Tätigkeit und seine Hinweise zu möglicher Weiterentwicklung meines Themas. Den anderen Dozenten, denen ich in Heidelberg bei den philosophischen Lehrveranstaltungen sowie bei meinen altgriechischen und lateinischen Kursen begegnete, bin ich zu Dank verpflichtet. Auch die Kommilitoninnen und Kommilitonen sowohl aus China, aus Japan wie auch aus Europa, mit denen ich bei Kursen und Lesekreisen (über Kant, Hegel und Heidegger) meiner Promotionszeit bekannt werde, verdienen meinen Dank. Mit zwei von ihnen habe ich über meine Dissertation vielfach diskutiert: Mit Dr. Guang Zhang in Tübingen, mit dem ich mich seit Jahren befreunde, habe ich von den frühen Überlegungen meines Projekts mehrmals gesprochen. Dr. Wanying Liu, die auch in Heidelberg promovierte, hat mir viele hilfreichen, in manchen Fällen sogar entscheidenden Hinweise gegeben und in mehreren anregenden Diskussionen meine Nachdenken der kantischen Philosophie in neue Tiefe gebracht. Hier sei vielleicht auch die angemessene Stelle, in der ich meinen ehemaligen Lehrern den herzlichsten Dank ausdrücken kann. Während meines Studiums an der Nanjing Universität hat mich Prof. Heng Wang mit seiner philosophischen bzw.

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Vorwort

philosophiehistorischen Gelehrsamkeit ins Philosophieren eingeführt und besonders mein Master-Forschungsprojekt sorgfältig betreut. Prof. Rong Zhang hat mir den Weg der deutschen Philosophie gewiesen und schon früh die Größe und Strenge der kantischen Philosophie in meinen Horizont gebracht. Prof. Xianghong Fang, der vordem an der Nanjing Universität und jetzt an der Sun Yat-sen Universität lehrt, hat mich schon während meines Bachelorstudiums mit der Phänomenologie bekannt gemacht und bei meiner Erwerbung wissenschaftlicher Deutscherkenntnis freundlich gefördert. Ihnen danke ich herzlich; ohne das, was ich mir während des Studiums am Philosophischen Seminars der Nanjing Universität angeeignet habe, hätte ich das nicht leisten können, was sich im vorliegenden Buch zeigt. Nicht zuletzt danke ich Prof. Wei Zhang, dem gegenwärtigen Direktor des Philosophischen Seminars der Sun Yat-sen Universität, für sein Vertrauen zu mir und vor allem dafür, dass er mir im Laufen der Überarbeitung der Dissertation wichtige Unterstützungen angeboten hat. Und besonders möchte ich Prof. Ke Zhang an der Guizhou Universität danken, der mich zur ersten Überlegung des Promotionsprojekts anregte. Meiner Familie schulde ich den besten Dank. Ihre Liebe und allseitige Unterstützung ermöglicht mir es, die Promotion in Deutschland erfolgreich zu absolvieren. Meine Promotion wurde von Chinese Scholarship Council finanziell gefördert, dem ich herzlich danke. Seit dem Rigorosum wird leichte Überarbeitung an der Dissertation durchgeführt. Im Allgemeinen sei die Verbesserungsarbeit einer Dissertation endlos, was inbesondere für eine solche über Kant gilt. Inzwischen entstehen viele neuen Gedanken, die jedoch nicht komplett in den vorliegenden Text hineingesetzt werden können, weil dafür ein anderer Ansatz von Theoriebildung erforderlich wäre. Ich muss also schließlich damit begnügen, dieses Werk in seiner ursprünglichen Grundgestalt beizubehalten. Beim Abschluss der Promotion und der Veröffentlichung der Doktorarbeit kommt mir in den Sinn vor allem nicht die Freude aus erfolgreichen Bemühungen, ´ sondern eine besondere Verwunderung (ϑαυμαζειν), die zwar der vorliegenden Arbeit entspringt, aber ihrerseits auf den Anfang eines neuen, vielleicht noch holprigeren Weges des Philosophierens hinweisen soll. Wohin ich dann von dieser Verwunderung geführt werde, darauf kann vielleicht nur die Zeit eine Antwort geben. Guangzhou Den 19 Juli 2020

Yuwei Xie

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Teil I

Die Grundfrage der Metaphysik

1 Der Spielraum möglicher Metaphysik: die endliche und die transzendente Natur der erkennenden Vernunft des Menschen . . . . 1.1 Die Endlichkeit des menschlichen Erkennens . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Sinnlichkeit, Verstand und die Erkenntnis des Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Endlichkeit und der Grenzbegriff des Noumenon . . . . . . . . 1.2 Transzendenz als Naturanlage der menschlichen Vernunft . . . . . . . 1.2.1 Das Grundfaktum der Tendenz zur Überschreitung der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Die Vernunftideen: Das Unbedingte und das Übersinnliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Exkurs: übersinnlich vs. Unbedingt vs. intelligibel . . . . . . 1.3 Das Seinsproblem und die „objektive Realität“ der apriorischen Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Endabsicht und Grundfrage der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Philosophie als Wissenschaft „nach dem Weltbegriff“ . . . . . . . . . . 2.1.1 „Dogmatisch“: Philosophie als Erkenntnis aus bloßen Begriffen in Abgrenzung von der Mathematik . . . . 2.1.2 „Conceptus cosmicus“: Der Aufstieg zur Weisheit durch Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 4 6 10 16 17 19 21 25 33 33 34 40

VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

2.2 Die Konzeption der eigentlichen Metaphysik und ihre Endabsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Das Projekt einer praktisch-dogmatischen Metaphysik als der „eigentlichen“ Metaphysik . . . . . . . . . . 2.2.2 Die Endabsicht der Metaphysik: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Grundfrage der eigentlichen Metaphysik: Wie ist die Synthesis a priori des Übersinnlichen möglich? . . . . . . . . . . . . . . . . Teil II

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Die Grundrichtung der Metaphysik

3 Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik . . . 3.1 Die Kritik an der kosmologischen Transzendenz zu der Unsterblichkeit, der Freiheit und dem Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Die allgemeine Kritik an der kosmologischen Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Die Kritik am kosmologischen Beweis der einfachen Substanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Die Kritik am kosmologischen Beweis der Wirklichkeit der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Die Kritik am kosmologischen Beweis der Existenz Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Kritik an der ontologischen Transzendenz im rational-psychologischen Beweis der Seelenunsterblichkeit . . . . . . 3.3 Die Kritik an der Transzendenz in der Ontotheologie . . . . . . . . . . . 4 Die Praktische Transzendenz als Ansatz der neuen Metaphysik . . . . 4.1 Der Überschritt zum höchsten Gut als Endzweck . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Der Ausgangspunkt der praktischen Transzendenz: die Begriffe von Zweckmäßigkeit und Zweck . . . . . . . . . . . 4.1.2 Die Totalität in der praktischen Transzendenz: Der Vernunftbegriff des Endzwecks überhaupt und der Endzweck des Naturganzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Der Überschritt zum Endzweck der praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67 71 73 75 77 81 83 87 97 98 99

102 105

Inhaltsverzeichnis

4.2 Transzendenz als Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die Selbstbestimmung der reinen praktischen Vernunft: die Pflicht und die Achtung für das moralische Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Das höchste Gut als der ganze Gegenstand der reinen praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Metaphysik der praktischen Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil III

IX

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109 111 116

Das Grundverfahren der Metaphysik

5 Der Begriff der praktischen Regulation bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Von verschiedenen Gebräuchen des Ausdrucks der „regulativen Prinzipien“ bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Bedeutung des „Regulativen“ nach seinen Momenten . . . . . . . 5.3 Die Momente der rein praktischen Regulation . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 „Subjektive Notwendigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Definition der rein praktischen Regulation . . . . . . . . . . . . . . 6 Die Transzendentale Deduktion der Ideen des Übersinnlichen als praktisch-regulierender Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Aufgabe einer transzendentalen Deduktion der praktisch-regulativen Ideen des Übersinnlichen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Vorstufe der Deduktion: die Denkmöglichkeit des Übersinnlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Der erste Beweisschritt der Deduktion: die Natur als ein einheitliches System und die Bestimmbarkeit des Übersinnlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Der zweite Beweisschritt der Deduktion: die Bestimmung des Übersinnlichen durch die reine praktische Vernunft . . . . . . . . . 7 Die Endabsicht der Metaphysik im System der praktisch-regulativen Ideen des Übersinnlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die analytische und die synthetische Ordnung der Ideen des Übersinnlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die praktische Bestimmung der Ideen des Übersinnlichen nach der analytischen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Die Freiheit als Autokratie gegen alle Hindernisse der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Gott als die moralische Weltursache . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121 123 135 141 141 145 149 150 154

159 164 173 174 180 181 186

X

Inhaltsverzeichnis

7.2.3 Die Unsterblichkeit und die Fortdauer der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Der Kreis der Freiheit: das System der Ideen nach der synthetischen Ordnung und der Horizont der Realisierbarkeit des höchsten Guts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siglen- und Abkürzungsverzeichnis1

AA

De Mundi Deutlichkeit EEKU FM GMS KpV KrV KU Logik

Kant’s Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff, Bd. 1– 29. De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, in: AA 02. Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral, in: AA 02. Die erste, in 1790 nicht publizierte „Einleitung“ zur Kritik der Urteilskraft, in: AA 20. Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, in: AA 20. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA 04. Kritik der praktischen Vernunft, in: AA 05. Kritik der reinen Vernunft, Hrsg. von J. Timmermann. Hamburg 1998. Kritik der Urteilskraft, in: AA 05. Die von Gottlob B. Jäsche herausgegebene Vorlesung über die Logik, in: AA 09.

1 Zitierweise

der kantischen Werke: 1. Die Texte von Kritik der reinen Vernunft wird nach der von Jens Timmermann herausgegebenen Auflage (Hamburg: Meiner 1998) zitiert, Seitennummer nach der 1781 (A) und 1787 (B) Originalausgabe. 2. Anderen Zitaten der kantischen Werke außer Kritik der reinen Vernunft liegt die AkademieGesamtausgabe („AA“) Kants zugrunde. Textquellen werden nach der Abfolge Schrifttitel, Sigel von Akademie-Gesamtausgabe („AA“), Bandnummer und Seitennummer angegeben, so dass KU AA 05:479 = Kritik der Urteilskraft, nach Akademie-Gesamtausgabe Band 5, S. 479.

XI

XII

MAN MSR MST OP Prol. Refl. Religion Verkündigung

Siglen- und Abkürzungsverzeichnis

Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: AA 04. Die Metaphysik der Sitten, 1. Teil:Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. in: AA 06. Die Metaphysik der Sitten, 2. Teil:Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. in: AA 06. Opus Postumum, in: AA 21, AA 22. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können, in: AA 04. Kants nachgelassene Notizen zur Metaphysik, in: AA 17, AA 18. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. in: AA 06. „Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie“, in: AA 08.

Einleitung

Man pflegt bis heute die Metaphysik noch immer als die Erste Philosophie zu verstehen – „Erste Philosophie“ in dem Sinne von der Fundamentalphilosophie. Als solche versucht sie, anderen Disziplinen der Philosophie und sogar anderen Wissenschaften Boden zu schaffen, auf dem diese stabil aufgebaut werden können. Demnach hat die Metphysik bzw. die Erste Philosophie in der Geschichte viele Namen, von denen Ontologie und Theologie in der Antike und Erkenntnistheorie seit der Neuzeit die bekanntesten sind. Im 20. Jahrhundert haben die Phänomenologie (Husserl) und die philosophische Semantik (Wittgenstein) sich zwar jeweils dazu erklärt, Erste Philosophie zu sein, aber verstanden nun nicht mehr als Metaphysik, sondern vielmehr als Metaphysikkritik. Lévinas erhebt sogar den berühmten Anspruch, die erste Philosophie sei nichts anders als die Ethik. Metaphysik und Erste Philosophie trennen sich dabei voneinander. Trotzdem wird man heute keine große Ablehnung stoßen, wenn man die Metaphysik, zumindest dem Namen nach, noch wie zuvor als Erste Philosophie auffasst, deswegen, teils weil sich diese Auffassung mit ihrer langen Geschichte schon in der universitären philosophischen Bildung verbreitet hat, teils weil sie noch von vielen Philosophen der Gegenwart vertreten und verteidigt wird oder werden kann, z. B. von Peter Strawson und gewissermaßen auch von Martin Heidegger. Wie allbekannt geht diese Auffassung der Metaphysik auf Aristoteles zurück. In dem sechsten Buch derjenigen Schriften, denen der Herausgeber Andronikos von Rhodos insgesamt den Namen „Metaphysik“ gibt, ist von der „ersten Philosophie“ die Rede, die in Abhebung von Mathematik und Physik das „abtrenn´ und zugleich „unbewegliche“ (¢κινητα) ´ bare“ (χωριστα) Ding zum Gegenstand macht.1 Die Erste Philosophie ist deswegen die erste, weil ihr Gegenstand, das 1 Vgl.

Aristoteles, Metaphysica, E 1, 1026a 16.

XIII

XIV

Einleitung

unbewegliche Wesen, „früher“ (πρ´oτερα) ist als die übrigen Wesen, welche Gegenstände anderer Wissenschaften sind.2 Nach Aristoteles wird der ersten Philosophie nicht nur aufgegeben, das Seiende, insofern es seiend ist, zu betrachten,3 sondern sie nimmt auch die Prinzipien (¢ρχα´ι) und die Ursachen (α„τ´ια) desselben zum Thema.4 Man geht dabei vom Seienden als solchem zu dessen ersten Ursachen über.5 Die letzteren betreffen das, was Aristoteles auch σoϕ´ια nennt. Die Sophia geht nicht auf irgendeine beliebige Ursache des Seienden, sondern „die ersten Prinzipien und Ursachen“ desselben.6 Dabei wird, wie immer schon bemerkt, die Transzendenz gedacht, die über das Seiende im Ganzen und sein Sein hinaus fragt. In diesem Sinne verbindet sich die Metaphysik von Anfang an eng mit dem Seinsproblem und mit der Transzendenz zu den Grundprinzipien des Seienden.7 Diese Konzeption der Metaphysik erstreckt sich deutlich weiter auf den spätantiken Neuplatonismus, auf die mittelalterliche Scholastik (z. B. Thomas von Aquin, Duns Scotus, Suárez) und sogar auf die neuzeitliche Schulphilosophie (Wolff, Baumgarten). In Vergleich dazu hat man heute aber einen normalen und verbreiteten Eindruck, Kant habe die größte Innovation zur Metaphysik gebracht, so dass diese sich seitdem auf eine andere Richtung entwickele. Zu diesem Fall stellt sich selbstverständlich die Frage: Was ist überhaupt „Metaphysik“ bei Kant? Eine solche Frage lässt sich in diesem Kontext genauer wie folgt formulieren: Hat Kant, betrachtet als der Revolutionär der Metaphysik, nur negative Beiträge zur Metaphysik, und zwar als Metaphysikkritiker, oder ist er vielmehr zugleich auch der Gründer einer neuartigen Metaphysik und daher Metaphysiker in positiver Bedeutung, so dass wir auch von einer „kantischen Metaphysik“ reden dürfen?

2 Vgl.

Aristoteles, Metaphysica, E 1, 1026a 29-31. Aristoteles, Metaphysica, E 1, 1026a 31. 4 Vgl. Aristoteles, Metaphysica, E 1, 1025b 3-4. 5 Vgl. Aristoteles, Metaphysica,  1, 1003a 31-32. 6 Aristoteles, Metaphysica, A 2, 982b 8-9, Herv. von Y. X. 7 Den Zusammenhang zwischen Metaphysik und Transzendenz drückt Jens Halfwassen in einer von historischen Betrachtung begründeten These sehr prägnant aus, die besagt, dass „Metaphysik erst durch die Entdeckung der Transzendenz zu sich selbst kommt, und zwar so, daß metaphysisches Denken durch einen Ursprung und durch seinen sich durchhaltenden Grundzug auf Transzendenz hin angelegt ist und darum auch in der äußersten möglichen Radikalisierung des Transzendenzgedankens eine ihm mögliche Vollendung findet.“ Vgl. Halfwassen, J., „Metaphysik und Transzendenz“, in Ders: Auf den Spuren des Einen. Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte, Tübingen 2015, S. 27–36, hier S. 27. 3 Vgl.

Einleitung

XV

1) Die„kantische Metaphysik“? Die Rede von einer „Kantischen Metaphysik“ ist nicht von vorherein selbstverständlich und berechtigt. Denn Kant kommt vor den Augen seiner Zeitgenossen und seiner mittelbaren Nachfolger hauptsächlich in der Figur des MetaphysikKritikers zur Erscheinung. Obwohl Kant selber ganz offensichtlich eine „künftige[] Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten [kann]“, angekündigt hat, obwohl seine späte Schrift über die „Fortschritte der Metaphysik“ schon zwei Jahre nach seinem Tode herausgegeben wurde, in der Kant einen Entwurf der „eigentlichen Metaphysik“ aufgestellt und die Metaphysik als „die Wissenschaft, von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft fortzuschreiten“ (FM AA 20:260) definiert hat, führte die kantische Philosophie dennoch in seiner Zeit wirkungsgeschichtlich gesehen direkt zum Umsturz der überkommenen Metaphysik – in der damals dominierten, besonders von Christian Wolffs Idee derselben geprägten Auffassung der Metaphysik -, so dass Hegel am Anfang seines metaphysischen Hauptwerks Wissenschaft der Logik über den Zustand der Philosophie seiner Zeit als „einen sonst mannigfaltig ausgeschmückten Tempel ohne Allerheiligstes“ klagte.8 Obzwar Hegel vielfach zugab, dass von vielen Theoremen Kants, z. B. und besonders von dem des Selbstbewusstseins, Momente für den Wiederbau der Metaphysik vorgefunden werden könnten, wird es aber in diesem hegelschen Zerlegungsversuch der kantischen Philosophie in viele Momente schon gezeigt, dass die eigene Philosophie Kants nicht in ihrer Ganzheit als eine metaphysische Lehre betrachtet wurde. Genauer besprochen: Kant sei kein „Metaphysiker“, ja sozusagen ein „Anti-Metaphysiker“. Die modernwissenschaftliche, auf strenger Textanalyse beruhende KantForschung beginnt mit dem Neukantianismus. Für die Marburger Schule des Neukantianismus wird die Transzendentalphilosophie Kants hauptsächlich als Erkenntnistheorie verstanden.9 Nach der von Herman Cohens Kants Theorie der Erfahrung geprägten Auffassung der „Kritik der reinen Vernunft“ als Grundlegung der neuzeitlichen, mathematisierten und physikalischen Wissenschaften besteht das Grundverdienst der kantischen Philosophie darin, eine neuartige „transzendentale Methode“ des Apriori zur Begründung einzelner Wissenschaften zu entdecken,10 8 Hegel, G.W.F., Wissenschaft der Logik.Die Lehre vom Sein (1832). Hrsg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke, Hamburg 1985, S. 6. 9 Vgl. Hermann Cohen: Kants Theorie der Erfahrung. Berlin 21885, insbesondere S. 55– 78; Ernst Cassirer: „Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie“. In: Kant-Studien 17 (1912), S. 252–273. Paul Natorp: „Kant und die Marburger Schule“. In: Kant-Studien 17 (1912), S. 193–221. 10 Cohen, H., Kants Theorie der Erfahrung. Berlin 21885, S. 66 ff.

XVI

Einleitung

die als solche aber weder auf psychologischen noch auf metaphysischen Annahmen beruht. Für solche „transzendentale Methode“ haben die metaphysischen Ansätze nur Bedeutung, sofern die „metaphysische Erörterung“ als „Correktur des psychologischen Vorurteils“ zum notwendigen Vorverfahren der transzendentalen Methode dient.11 In dieser Hinsicht hat der Begriff „metaphysisch“ bei Cohens Kant-Interpretation nichts zu tun mit einer selbständigen Disziplin der „Metaphysik“, sondern er fungiert nur als ein Gegenterminus zu „psychologischer Analyse“, von der sich die Marburger Schule distanzieren will. Eine „kantische Metaphysik“ liegt also ganz außerhalb des Gesichtsfelds der naturwissenschaftlich orientierten Kant-Interpretation der Marburger Schule.12 Dasselbe gilt ebenfalls für den südwestdeutschen Neukantianismus. Obwohl dieser seine Kant-Interpretation nicht auf die Grundlegung der Naturwissenschaften beschränkt, führt er dennoch dasjenige, was über die theoretische Erkenntnis hinausgeht, nicht zur Metaphysik des Noumenon, sondern zur Wert- und Kulturphilosophie.13 Zum Aspekt der Metaphysik bei Kant begnügt sich der südwestdeutschen Neukantianismus mit der Darstellung des negativen „Grenzbegriffs“ des Noumenon oder Dings-an-sich sowie mit der Beurteilung der Unmöglichkeit der Metaphysik des Unerfahrbaren oder Übersinnlichen.14 Dies bedeutet, dass dabei eine positive metaphysische Konstruktion der Philosophie Kants ebenfalls nicht anerkannt wird. Man darf also mit Heinz Heimsoeths Worten sagen, dass die deutschidealistische und die neukantianische Interpretation der kantischen Philosophie „die Zeit“ hervorbringen, „wo man Kant als den Vorkämpfer eines rein ‚erkenntniskritischen‘ und wissenschaftstheoretischen Philosophierens gegen jede Art von metaphysischer Fragestellung ausspielen und sich an seiner ‚kritischen‘ Haltung das Vorbild für eigenes Ausweichen vor allen metaphysischen Problemen nehmen zu dürfen glaubte“15 .

11 Cohen,

H., Kants Theorie der Erfahrung. Berlin 21885, S. 73.

12 Nach dem Kant-Bild des Marburger Neukantianismus wird auch anerkannt, dass Kant selber

affirmativ von einer Metaphysik spreche (wie z.B. in seiner Metaphysik-Vorlesung über den Weltgrund und das Sein der Seele), die aber nur „Privatmeinung“ sei und mit seiner eigenen kritischen Philosophie nicht zusammenhänge und mithin nicht in sein System eingegliedert werde. Dazu vgl. Heimsoeth, Metaphysik der Neuzeit, München 1929, S. 83. 13 Rickert, H.: Kant als Philosoph der modernen Kultur. Ein geschichtsphilosophischer Versuch, 1924. 14 Vgl. Windelband, W.: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 1957, S. 470 f. 15 Heimsoeth, H.: „Metaphysische Motive in der Ausbildung des kritischen Idealismus“, in ders: Studien zur Philosophie Immanuel Kants. Metaphysische Ursprünge und ontologische Grundlagen, Köln 1956, S. 191.

Einleitung

XVII

Aber die Unterströmung der metaphysischen Kant-Interpretation bewegte sich schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, und zwar etwa bei Friedrich Paulsen, Konstantin Oesterreich und Hans Pichler.16 Sie ging dann zum Vordergrund im Kant-Jubiläumsjahr 1924, wo Schriften von Nicolai Hartmann, Heinz Heimsoeth und Max Wundt fast gleichzeitig erschienen, mit denen man von „einer metaphysischen Wende“ der Kant-Interpretation reden kann. Hartmann hat zwar kein Interesse an den „Problemkomplexe[n] von Gott, Welt und Seele“17 , versucht aber ein ihm eigentümliches ontologisches Interpretationsmodell gegen die Marburger erkenntnistheoretische Kant-Deutung darzustellen.18 Heimsoeth sieht nicht allein in den Grundlehren des transzendentalen Idealismus (der Lehre von den Dingen an sich und der von der Idealität von Zeit und Raum) „metaphysische Motive“19 , sondern stellt auch fest, dass Kant sich stets eine neue Metaphysik (die „praktischdogmatische Metaphysik“) zu begründen bemühe, und dass die „Kritik“ ihrerseits als „Vorbereitung“ für diese eigene Metaphysik gelten solle,20 so dass er von „Kants ursprünglicher und bleibender Metaphysik“ sprechen kann.21 Wundt hat eine offensichtliche Absicht, Kants philosophisches System in die deutsche Tradition der Metaphysik seit Leibniz einzubetten, die seiner Auffassung gemäß nach dem Grund der Wirklichkeit frage und diesen Grund in dem als geistig gedachten Übersinnlichen suche.22 Daher sieht Wundt die kantische Philosophie von Grund 16 Vgl.

Paulsen, F.: Immanuel Kant, Sein Leben und seine Lehre, Stuttgart 1898; „Kants Verhältnis zur Metaphysik“, in: Kant-Studien, Bd. 4, 1900, S. 413–447. Oesterreich, K.: Kant und die Metaphysik, Kant-Studien Ergänzungshefte 2, Berlin 1906. Pichler, H.: Über Christian Wolffs Ontologie, Leipzig 1910. 17 Hartmann, N., Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Berlin 1921, S. 3. 18 Hartmann, N., „Diesseits von Idealismus und Realismus: Ein Beitrag zur Scheidung des Geschichtlichen und Übergeschichtlichen in der Kantischen Philosophie“. In: Sonderdrucke der Kantischen Studien. Pan Verlag R. Heise, Berlin 1924, S. 160–206. 19 Heinz Heimsoeth, „Metaphysische Motive in der Ausbildung des kritischen Idealismus“, in: Kant-Studien 28 (1924), S. 121–159, wiedergedruckt in ders: Studien zur Philosophie Immanuel Kants. Metaphysische Ursprünge und ontologische Grundlagen, Köln 1956, S. 191–225. Heinz Heimsoeth, Persönlichkeit und Ding an sich in der Kantischen Philosophie, Königsberg 1924, wiedergedruckt in Ders: Studien zur Philosophie Immanuel Kants. Metaphysische Ursprünge und ontologische Grundlagen, Köln 1956, S. 229–257. 20 Heimsoeth, „Metaphysische Motive in der Ausbildung des kritischen Idealismus“, in ders: Studien zur Philosophie Immanuel Kants. Metaphysische Ursprünge und ontologische Grundlagen, Köln 1956, S. 191. 21 Heimsoeth, „Metaphysische Motive in der Ausbildung des kritischen Idealismus“, in ders: Studien zur Philosophie Immanuel Kants. Metaphysische Ursprünge und ontologische Grundlagen, Köln 1956, S. 204. 22 Vgl. Wundt, Kant als Metaphysiker. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1924, S. 1.

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an als von dem platonischen Metaphysikschema der sinnlichen und übersinnlichen Welt abhängig. In Vergleich zu Hartmann und Heimsoeth legt Wundt mehr Gewicht auf den Bereich des Übersinnlichen und dessen Bezug auf das Sinnliche, was von Kant mit den Vernunftideen thematisiert wird. Mit Wundts umfangreicher KantAbhandlung wurde ein vollständigeres Bild von Kant „als Metaphysiker“ gegeben und mit zahlreichen Textstücken Kants begründet, das dem neukantianischen KantBild ganz entgegensteht und mehr Affinität zu der deutschen Schulmetaphysik sowie zu dem von Wundt selber aufgefassten Deutschen Idealismus zeigt. Diese im Kant-Jubiläumjahr erscheinenden Schriften, insbesondere diejenige von Wundt, erweckten viele Aufmerksamkeiten und Interessen, so dass man davon ausgehen kann, von einer „kantischen Metaphysik“ zu reden, ob man zwar dabei noch immer notwendig findet, mit der ausschließlich erkenntnistheoretisch orientierten Kant-Interpretation zu kämpfen.23 Von da an verbreiteten sich die metaphysischen Ansätze der Kant-Interpretation und sie werden allmählich unter die wichtigsten und einflussreichsten der Kant-Forschung weltweit gezählt – zunächst durch die weiteren Abhandlungen von Heimsoeth sowie durch das bekannte Kant-Buch Martin Heideggers, das bis heute Debatten anregt, und dann durch die zahlreichen Untersuchungen unter dem Namen der „Metaphysik bei Kant“ o. ä., die nach dem zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart in verschiedene Sprachen erscheinen und in denen sich die metaphysischen Ansätze in verschiedenen Richtungen weiter fächern. Heutzutage ist der Kant-Forscher bereits in der Lage, einfach von der „kantischen Metaphysik“ oder der „Metaphysik Kants“ zu reden, ohne aufwendige Verteidigungen im Voraus anzugeben.

2) Verschiedene Richtungen der metaphysischen Kant-Interpretationen Jeder Versuch, Kants Philosophie im Ganzen oder zumindest in ihrem Kernteil metaphysisch zu interpretieren, hängt davon ab, was man unter Metaphysik versteht. Von da her ist auch zu berücksichtigen, welche unter den philosophischen Theorien Kants ein Interpret mit seiner Metaphysikkonzeption verbindet. Angesichts dessen kann man die metaphysischen Kant-Interpretationen in verschiedenen Deutungsrichtungen betrachten. Dies würde ich im Folgenden machen, um meine 23 Zum philosophischen Kontext der Entstehung der metaphysischen Kant-Deutung in den zwanziger Jahren des 20 Jahrhunderts gibt Gerhard Funke eine ausführliche Forschung in: Funke, G., „Die Diskussion um die metaphysische Kantinterpretation“, in Kant-Studien, 1976, S. 409–424.

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vorliegende Arbeit in Vergleich zu diesen Richtungen in der Kant-Forschung zu lokalisieren und mein eigenes Kant-Bild deutlicher zu zeigen.24 (1) Vor allem ist es ein Interpretationsansatz, der sehr früh in die Deutungsgeschichte eintritt und nun als „Hauptstrom“ in der gegenwärtigen weltweiten Kant-Forschung betrachtet werden kann. Ich würde diese Deutungsrichtung mit Herbert James Patons Buchtitel „Metaphysik der Erfahrung“25 benennen, denn sie konzentriert sich in der Interpretation der kantischen Philosophie auf die Frage, wie unsere alltägliche und wissenschaftliche Erfahrung durch ein nicht-empirisches Gefüge der menschlichen Vernunft bedingt wird. Sie glaubt, die kantische Definition der „transzendentalen Erkenntnis“ zu teilen: „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt“ (KrV B 25). Paton stellt zwar den Namen der „Metaphysik der Erfahrung“ auf, er selber aber gibt keine prinzipielle Bestimmung dafür an, inwiefern die so verstandene transzendentale Philosophie eine „Metaphysik“ ist. Eine solche Bestimmung zeigt erst Peter Strawson in seinem Hauptwerk Individuals, welches das Prinzip der deskriptiven Metaphysik darstellt und Kants Philosophie als eine Hauptvertreterin derselben anerkennt. In seinem danach erscheinenden maßgeblichen Kant-Buch, The Bounds of Sense: An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason, entfaltet er dieses Prinzip in der Interpretation von Kants „positive metaphysics of experience“26 . In diesem Sinne wird die kantische Philosophie, insbesondere die transzendentale Ästhetik und die transzendentale Analytik in der Kritik der reinen Vernunft, als ein wichtiger Beitrag der deskriptiven Metaphysik verstanden, in der „die wirkliche Struktur des Denkens über die Welt“ beschrieben wird.27 Strawson, wie die von ihm geprägten zahlreichen Arbeiten28 , die ich unter dieselbe metaphysische Deutungsrichtung zählen möchte, konzentriert sich also auf 24 In Erzählung und Einschätzung jedes Deutungsmodells muss ich der jeweiligen Richtung einige wichtigsten Forschungsschriften als Vertreter zuordnen. Trotz der häufig erscheinenden Tatsache, dass man in einer Schrift mehrere Deutungsrichtungen finden kann, werde ich die Abhandlungen nur nach deren Hauptansätze zu einer dieser Richtungen zählen. 25 H. J. Paton, Kant’s Metaphysic of Experience. Commentary on the First Half of the Kritik der reinen Vernunft. London 1936. 26 Vgl. Strawson, P., The Bounds of Sense: An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason, p. 18, 24–33. 27 Vgl. Strawson, P., Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London and New York 1959, p. 9. 28 Watkins, E., Kant’s Metaphysics of Causality, Cambridge 2004. Chiba, K., Kants Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit. Versuch einer anti-realistischen Interpretation der „Kritik der reinen Vernunft“. Berlin/Boston 2012.

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die sog. „erste Hälfte“ der Kritik der reinen Vernunft (die transzendentale Ästhetik und die transzendentale Analytik) und betrachtet die kantische Metaphysik als die transzendentale Begründung des Begriffsschemas („conceptual scheme“) unserer alltäglichen bzw. wissenschaftlichen Erfahrung. Bei ihnen fehlt die Sympathie für Kants eigenen Plan einer „künftigen“ wissenschaftlichen Metaphysik, und sie denken vor allem daran, wie eine gewisse „kantische Metaphysik“ im gegenwärtigen (und insbesondere englischsprachlichen) philosophischen Kontext noch als lebendig und bemerkenswert anerkannt werden kann. Die metaphysischen Begriffe von Zeit, Raum und Kausalität sind in dieser Hinsicht von zentralen Bedeutung, während die Vernunftideen des Unbedingten bzw. des Übersinnlichen keine große Rolle für das Verständnis der kantischen Metaphysik spielen. (2) Im Gegensatz zu der Deutungsrichtung der „Metaphysik der Erfahrung“, die in den meisten Fällen kein großes historisches Interesse zeigt, wird in dem zweiten Deutungsansatz versucht, Kants Metaphysik mit der hochmittelalterlichfrühneuzeitlichen Ontologie zu verbinden. Der Begriff des „Seins“ steht demnach in Zentrum, und die kantische Metaphysik wird dann als Nachfolge und Neuentwicklung der frühen Ontologie aufgefasst, obwohl die Autoren unter dem Seinsbegriff sowie dem Begriff der „Ontologie“ unterschiedliches verstehen. Typisch ist der Versuch von Heinz Heimsoeth, Kants Kategorien und Grundsätze des Verstandes aus der leibnizsch-wolffischen Ontologie zu interpretieren.29 Ludger Honnefelder sieht die Metaphysik Kants aus einer in vormaligen Forschungen übersehenen Tradition der Ontologie her, nämlich aus derjenigen der scientia transcendens seit Duns Scotus über Francisco Suárez bis Christian Wolff, in der die Frage nach der „Seiendheit“ des Seienden sich als Frage nach der Realität des Begriffs und endlich als Frage nach der „Möglichkeit der im Begriff erfassten Einheit der Bestimmungen“ des Seienden erweist.30 Zu dieser Deutungsrichtung soll auch Martin Heideggers „fundamentalontologische“ Interpretation in seinem bekannten Kant-Buch Kant und das Problem der Metaphysik gehören, wo die Kritik der reinen Vernunft bzw. die transzendentale Philosophie als „Grundlegung der Metaphysik“ verstanden wird. Als Grundlegung sei die „transzendentale Erkenntnis“ deswegen „ontologisch“, weil sie spezifische Untersuchungen des Seienden in verschiedenen metaphysischen Bereichen (psychologia, kosmologia und theologia rationalis) auf dessen allgemeines Sein hin „transzendieren“ lasse und damit begründe. Kants eigener Entwurf der „eigentlichen Metaphysik“ in seiner späten 29 Heimsoeth, „Christian Wolffs Ontologie und die Prinzipienforschung Kants. Ein Betrag zur Geschichte der Kategorienlehre“, in: Studien Zur Philosophie Immanuel Kants. Metaphysische Ursprünge Und Ontologische Grundlagen. Kölner Universitäts-Verlag, 1956. 30 Vgl. Honnefelder, L.: Scientia transcendens: Die formale Bestimmung von Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit, Hamburg 1990, S. 444 ff.

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Schrift (vgl. FM AA 20:260), der sich Heidegger zufolge in der metaphysica spezialis lokalisiere,31 sei demnach im Vergleich zur Ontologie nur sekundär. Wegen des engen Zusammenhangs mit dem Seinsbegriff haben die modalen Kategorien bzw. Grundsätze besondere Bedeutung32 , während den Vernunftideen des Übersinnlichen ebenso keine konstitutive Rolle für die Metaphysik Kants zugeschrieben wird, wie es der Fall bei der Deutungsrichtung der „Metaphysik der Erfahrung“ ist – obwohl hier die Lehre von Dingen an sich und diejenige von einer übersinnlichen Welt noch nicht so stark kritisiert wird wie dort. (3) Die dritte, ebenfalls historisch orientierte metaphysische Deutungsrichtung bezieht sich noch weiter auf die platonische Lehre von der Trennung der zwei Welten, der sinnlichen und der intelligiblen. Ein Grund dafür ist, dass man in Kants Inauguraldissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis ein Echo darauf ganz klar hören kann. Und man kann auch Spuren dieser Lehre ohne Schwierigkeit in der Philosophie der sog. kritischen Periode finden. Zu fragen ist nur, ob die Lehre einer übersinnlichen Welt für die kantische Metaphysik konstitutiv oder als bloßer „Rest der Tradition“ aus seinem metaphysischen Entwurf auszuschließen ist. Für die erstere Einstellung steht unser dritter, als „transzendenter“ zu bezeichnender Deutungsansatz der kantischen Metaphysik, z. B. der Ankündiger von „Kant als Metaphysiker“, Max Wundt, indem er die Trennung der zwei Welten als den Grundhorizont der kantischen Philosophie und im Vergleich zu den Naturwissenschaften die Suche nach dem „Grund der Erscheinungen in der übersinnlichen Welt“ als die Aufgabe der Metaphysik überhaupt betrachtet.33 Das „eigentliche Geschäft der Metaphysik“ liege bei Kant genauer gesprochen darin, „die Welt in dem Ideenzusammenhang, unter dem Gesichtspunkt des obersten Zwecks, [zu] betrachten, zu dem Gott sie geschaffen hat“.34 Bei Wundt wird Kant zwar sehr deutlich in die so verstandene Tradition der Metaphysik eingebettet, es bleibt aber unerörtert, inwiefern Kant eine Neuigkeit für diese Tradition 31 Vgl. Heidegger, M., Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, Frank am Main 1991, S. 9. 32 Vgl. Heimsoeth, H., „Christian Wolffs Ontologie und die Prinzipienforschung Kants. Ein Betrag zur Geschichte der Kategorienlehre“, in: Ders, Studien Zur Philosophie Immanuel Kants. Metaphysische Ursprünge Und Ontologische Grundlagen. Köln 1956, S. 5; Honnefelder, L., Scientia transcendens, Die formale Bestimmung von Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit, Hamburg 1990, bes. S. 407 ff., S. 428, S. 444 ff.; Heidegger, M., „Kants These vom Sein“, in: Wegmarke, GA 9, Frank am Main 1976, S. 455– 480, bes. S. 457 ff. 33 Wundt, M., Kant als Metaphysiker. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1924, S. 112. 34 Wundt, M., Kant als Metaphysiker. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1924, S. 427.

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einführt. Mit Wundt kann man den Eindruck nicht wegschaffen, Kant sei bloß Vertreter für eine veraltete metaphysische Weltanschauung.35 Gottfried Martin führt die Unterscheidung zweier Welten auf die Differenzierung verschiedener „Weisen des Seins“ zurück und unterteilt die metaphysische Frage Kants in die Fragen nach dem Sein von Raum und Zeit, dem Sein der Erscheinung, dem Sein Gottes, dem Sein des handelnden Subjekts bzw. der Freiheit, dem Sein des denkenden Subjekts und dem Sein der Dinge an sich.36 Damit sieht Martin sich im Anklang an Platons Phänomena-Ideen-Zweiheit und insbesondere an Aristotelische Lehre von analogia entis.37 Er insistiert auf der Notwendigkeit der Differenzierung der Seinsweisen verschiedener Seienden für Kants Theorie der mechanistischen Naturwissenschaft einerseits und diejenige der Freiheit andererseits, so sehr, dass er die Verbindung der beiden Welten nicht zum Thema macht und also als Gegenextrem zu Wundt erscheint, der „den Grund der Erscheinung in der übersinnlichen Welt“ suchen will. Die Trennung und die Zusammenhänge des Sinnlichen und Übersinnlichen als Hauptthema der kantischen Metaphysik thematisiert Claudia Bickmann durch die Zurückführung derselben auf die neuplatonischen Beziehungen zwischen Sein, Denken und Einheit. Die Autorin betrachtet Kants Metaphysik als einen Versuch, die Einheit des Denkens mit dem Sein auf ein transzendentes Urprinzip zu gründen. Ihr zufolge sei der Unterschied der Erscheinung von dem Ding an sich unentbehrlich, weil es sonst weder Sein außer des Erkennens noch etwas Transzendentes und Absolutes gäbe, und das transzendente Urprinzip sei auch nur auf der Ebene des Dings an sich bzw. des Übersinnlichen möglich.38 Die Autorin versucht, das neuplatonische Einheitsprinzip des Einen oder des „obersten Guts“ mit dem „transzendentalen Ideal der reinen Vernunft“ für die durchgängige Bestimmung eines Gegenstandes überhaupt bei Kant verbunden zu betrachten, wodurch ein transzendentes Urwesen jenseits des Denkens nicht nur als das Urprinzip sowohl aller Denkformen wie auch der Materie eines jeden durchgängig bestimmten Gegenstandes, sondern auch als der einzige berechtigte Einheitsort aller vernünftigen Zwecke sowie der Einheitsort dieser Zwecke mit dem Zweck der gesamten Natur 35 Ganz zu schweigen davon, dass Wundts einfache teleologische Gleichsetzung der übersinnlichen Welt mit der Zielsetzung Gottes ganz problematisch ist. 36 Vgl. Martin, Ontologie und Wissenschaftstheorie, Berlin4 1969, S. 156 ff. Eben in diesem Sinne darf man Martin auch der zweiten, und zwar ontologischen Interpretationsrichtung zuordnen. Unterschied zu jener ist, dass Martin das Sein des Übersinnlichen deutlich anerkennt und als für die Metaphysik Kants konstitutiv erklärt. 37 Martin, Ontologie und Wissenschaftstheorie, Berlin4 1969, S. 226 ff. 38 Vgl. Bickmann, C., Differenz oder das Denken des Denkens. Topologie der Einheitsorte im Verhältnis von Denken und Sein im Horizont der Transzendentalphilosophie Kants, Hamburg 1996, S. XCII.

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vorgestellt werde, wobei die Gesetzgebung für die Natur und diejenige für die Freiheit vereinbar sei.39 Zusammenfassend legt die transzendente Deutungsrichtung der kantischen Metaphysik im Vergleich zu der ontologischen mehr Gewicht auf die Seite des Übersinnlichen und sie drückt mehr Sympathie für Kants Festhaltung an der Notwendigkeit des Begriff des Dings an sich aus. (4) Die hier zu betrachtende letzte Interpretationsroute hebt die Besonderheit der kantischen Metaphysik gegenüber der schulontologischen sowie der platonischen Tradition hervor, indem sie sich mit textnaher Analyse auf die eigene gesamte philosophische Absicht Kants bezieht. Sie verbindet Kants metaphysische Konzeption, ebenfalls wie die dritte, nämlich transzendente Deutungsrichtung, mit dem Begriff des Übersinnlichen, aber nicht auf die platonische, sondern auf die moraltheologische Weise.40 In dieser Interpretation wird die Teleologie der Natur in der Kritik der Urteilskraft und der damit zusammenhängende moralische Gottesbeweis besonders berücksichtigt. Die kantische Philosophie ziele demnach darauf, eine Metaphysik des Übersinnlichen auf einer praktisch orientierten Grundlage aufzubauen. Durch die Abhebung von Ontologie und Ontotheologie zeichnet z. B. Klaus Düsing den moraltheologischen Charakter der kantischen Metaphysik aus.41 Mario Caimi stellt diese Konzeption der kantischen Metaphysik dar durch die Rekonstruktion der Argumentationen Kants in der späten Preisschrift über die „Fortschritte der Metaphysik“, wobei ein neuer Entwurf der metaphysica specialis aufgestellt werde.42 Rudolf Langthaler setzt, mit Rücksicht auf die Lehre vom 39 Dieser

Versuch ist, wie die Autorin selbst es versteht, keine eigentliche Arbeit über Kant, sondern ein Mitdenken mit Kant in Rücksicht auf die heute unberücksichtigte Suche nach dem „Prinzip der Prinzipien“. Vgl. Bickmann, C., Differenz oder das Denken des Denkens. Topologie der Einheitsorte im Verhältnis von Denken und Sein im Horizont der Transzendentalphilosophie Kants, Hamburg 1996, S. XLV ff. 40 Seit langem wird über die Moraltheologie Kants diskutiert, aber erst in den letzten Jahrzenten wird die Moraltheologie deutlich mit der Konzeption der Metaphysik Kants verbunden. Außer den im Haupttext zu nennenden Autoren möchte ich zu dieser Thematik noch Norbert Fischers Arbeit erwähnen: Fischer, N.: Die Transzendenz in der Transzendentalphilosophie: Untersuchungen zur speziellen Metaphysik an Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Bonn, 1979. 41 Schon in Die Teleologie im Weltbegriff Kants, Bonn2 1986, am deutlichsten in „Ontologie, Ontotheologie, Moraltheologie in Kants kritischer Philosophie“, in: Immanuel Kant: Klassiker der Aufklärung: Untersuchungen zur kritischen Philosophie in Erkenntnistheorie, Ethik, Ästhetik und Metaphysik, Hildensheim u. a. 2013, S. 303–349. 42 Vgl. Caimi, M.: La metafísica de Kant. Reconstrucción de la argumentación del escrito de Kant „Los progresos de la Metafísica desde la época de Leibniz y de Wolff“. Buenos Aires 1989. Ders: „Kants Metaphysik. Zu Kants Entwurf einer metaphysica specialis“ in: Akten des Siebenten Internationalen Kant-Kongresses. Kurfürstliches Schloß zu Mainz, 1990, hrsg. von G. Funke, Bonn 1991, pp. 103–126. Ders: „Der Begriff der praktisch-dogmatischen

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Vernunftglauben, das letzte Stadium der „eigentlichen Metaphysik“ Kants mit der Theologie gleich – Theologie in dem Sinne von der „Zweckverbindung“ der drei Ideen des Übersinnlichen (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit) in ein Vernunftsystem.43 Aloysius Winter unternimmt sogar den zum Extrem gehenden Versuch, die Begründung der berechtigten Gotteserkenntnis als das Grundmotiv der gesamten kantischen Philosophie bzw. Metaphysik zu bezeichnen.44 Im Unterschied zu den obigen drei theoretisch orientierten Deutungsansätzen akzentuiert dieser vierte die praktische Absicht der kantischen Metaphysik, und wegen ihres textnahen Bezugs auf Kants Selbsterklärung scheinen ihre Konklusionen mit wenigeren Widerlegungen von der gegenwärtigen akademischen Forschung akzeptiert zu werden als diejenigen aus anderen Deutungsansätzen. Aus diesen Einteilungen und Skizzen verschiedener Deutungsrichtungen, die zwar im Ganzen nicht erschöpfend sind, sieht man aber schon, dass die kantische Metaphysik aus vielfältigen Perspektiven aufgefasst werden konnte bzw. kann. Jede dieser Konzeptionen von der kantischen Metaphysik kann ihre Begründung sowohl in einem gewissen Begriff der „Metaphysik“ als auch in den Schriften Kants antreffen. Unter anderem steht meine folgende Arbeit aber dem vierten, nämlich moraltheologischen Deutungsansatz näher (obwohl im Wesentlichen nicht ihm identisch), weil er dem relativ besser korrespondiert, was Kant selber unter „Metaphysik“ und unter seiner eigenen Metaphysik versteht – das klarer zu machen ist auch die Absicht meiner folgenden Arbeit. Wenn man Kants eigenem Verständnis gemäß auf seine Metaphysik eingehen will, muss man nicht nur seine Worte über „Metaphysik“ nennen, sondern man muss auch vor allem klar machen, was die Grundfragen sind oder sogar was die Grundfrage ist, auf die Kant mit seiner Metaphysik eine Antwort geben will. Außerdem ist ebenso sehr nötig, herauszufinden, mit welchem methodischen Grundverfahren er seine Metaphysik Metaphysik“, in: Hahmann, A. u. Ludwig, B. (hrsg): Über die Fortschritte der Metaphysik. Beiträge zum System und Architektonik der kantischen Philosophie, Hamburg 2017, S. 157– 170. 43 Vgl. Langthaler, R.: „,Das Prinzip der Selbsterhaltung der Vernunft ist das Fundament des Vernunftglaubens‘. Eine frühe programmatische These Kants und ihre späte systematische Entfaltung“, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Glaube und Vernunft. Band 7, 2011, S. 58–94. Ders: „Die Kennzeichung des ‚dritten Stadiums‘ der neueren Metaphysik als Theologie in Kants später Preisschrift und damit verbundenen systematischen Perspektiven“, in: Hahmann, A. u. Ludwig, B. (hrsg): Über die Fortschritte der Metaphysik. Beiträge zum System und Architektonik der kantischen Philosophie, Hamburg 2017, S. 119– 156. Ders: Kant über den Glauben und die „Selbsterhaltung der Vernunft“: sein Weg von der „Kritik“ zur „eigentlichen Metaphysik“ – und darüber hinaus. Freiburg u. München 2018. 44 Vgl. Winter A. Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants. Hildesheim u. a. 2000.

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aufbaut, um die Grundfragen zu beantworten. Mit diesen Beiden werden wir aber noch sehen, inwiefern auch der ontologische und der transzendente Deutungsansatz teilweise Recht haben. Erst durch die Erklärung der Grundfragen und des Grundverfahrens ist die Bestimmung der Metaphysik als Wissenschaft gerechtfertigt. Diese beiden Aufgaben sind aber, soweit ich sehe, noch nicht durch die vorhandenen, unter dem moraltheologischen Interpretationsansatz zählenden Untersuchungen deutlich erfüllt worden.45

3) Absicht und Gliederung der vorliegenden Arbeit Meine Arbeit zielt darauf ab, die Grundbestimmungen und Eigentümlichkeiten der Metaphysik als Wissenschaft bei Kant darzustellen. Ich möchte durch meine Untersuchung zeigen, dass Kant ein Revolutionär der Metaphysik in positivem Sinne ist, indem er einen eigentümlichen Entwurf der Metaphysik aufgestellt hat, dessen Eigentümlichkeit von den Metaphysikern vor und nach ihm entweder nicht besessen oder gar übersehen wird, die aber im heutigen Philosophieren wieder von uns zu berücksichtigen ist. Meine Interpretation geht von der Normaldefinition der Metaphysik aus, die Kant in seiner späten Preisschrift darbietet, und versucht, die „Metaphysik als Wissenschaft“ bzw. „die eigentliche Metaphysik“ Kants hinsichtlich ihrer Grundfrage und -methode zu charakterisieren. Da Kant sich zwar möglicherweise der Grundfrage und der Grundmethode bewusst ist, dennoch sie beide nicht deutlich zur Sprache gebracht hat, ist es in meiner Untersuchung erforderlich, sie beide nach den Schriften sowie den nachgelassenen Notizen Kants zu rekonstruieren. Meine Arbeit muss also zuweilen über das hinausgehen, was Kant de facto geschrieben hat, und gibt ein vollständiges Bild von dem, was Kant als wissenschaftliche und eigentliche Metaphysik entwirft, wodurch Kant, gegenüber anderen Metaphysikern vor und nach ihm, ausgezeichnet wird. Damit wird auch gehofft, dass die verschiedenen, in Kants Schriften explizit erwähnten oder implizit angedeuteten metaphysischen Bemühungen schließlich in einem System der Theoriebildung, das dann durch meine Untersuchung dargestellt wird, ihre richtigen Stellen finden können. 45 In den drei ersten Deutungsrichtungen haben sich u. a. Peter Strawson, Martin Heidegger und Claudia Bickmann der Grundfragen, und gewissermaßen auch der Grundmethode der kantischen Metaphysik bewusst bin. Aber, wie gesagt, steht das vierte Modell der Deutung dem Selbstverständigung Kants näher.

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Anzukündigen ist, dass ich die Methodologie der kantischen Metaphysik als „praktische Regulation (für die Natur)“ bezeichnen werde, was ich mit dem Titel meiner Arbeit andeuten möchte. Kant hat diese Grundmethode zwar schon in den drei Kritiken und anderen veröffentlichen Werken entwickelt, aber noch nicht so benannt. Die eigentümlichen Gedanken, die Kant über das Problem der Metaphysik entfaltet, können sich unter dieser Methodologie sammeln. Daher mache ich diese zum Leitthema meiner Arbeit über die ganze Konzeption der kantischen Metaphysik. Aus diesen Gründen gliedert sich meine Arbeit in drei Teile: einen Hauptteil über die Grundfrage, einen Hauptteil über die Grundmethode der Metaphysik Kants, und zwischen beiden noch einen Zwischenteil, der die Grundrichtung des metaphysischen Denkens zu Thema hat und als Übergang von der Grundfrage zu der Grundmethode dient. Im ersten Teil wird die Grundfrage der Metaphysik als Frage nach der objektiven Realität der Ideen des Übersinnlichen in Bezug auf das praktische Ideal des höchsten Guts festgestellt. Dies zeigt sich nicht schon am Anfang, sondern durch eine Schritt für Schritt tiefgehende Analyse der Bestimmungen der kantischen Metaphysik. Dabei wird zugleich gezeigt, wie die überlieferten Fragen der Metaphysik nach dem Sein und den transzendenten Gründen des Seienden überhaupt in eine kantische metaphysische Fragestellung verwandelt werden. Dieser Teil wird dann in zwei Kapitel weiter eingeteilt. Das 1. Kapitel thematisiert die Naturanlage der menschlichen Erkenntnisvermögen als die wesentlichen Voraussetzungen, mit denen die Metaphysik überhaupt möglich ist. Durch die kritische Betrachtung dieser Vermögen als die „Propädeutik“ zur Metaphysik (vgl. KrV A 841/B 869) wird diese Naturanlage einerseits als Endlichkeit in dem Naturzustand und andererseits als Transzendenz in der Naturtendenz gekennzeichnet, und die beiden bilden einen spannungsvollen Spielraum für jede als Wissenschaft mögliche Metaphysik. Das ontologische Ergebnis dieser kritischen Untersuchung ist die Problematisierung der objektiven Realität der apriorischen Vernunftbegriffe überhaupt in Bezug auf die Transzendenz, was zugleich zur Problematisierung der Selbsterhaltung der Vernunft führt. Am Ausgangspunkt dessen, was Kant unter „Philosophie nach dem Weltbegriff“ versteht, sowie der Normaldefinition der Metaphysik gehe ich im 2. Kapitel auf die Grundbestimmung des Begriffs der „eigentlichen Metaphysik“ über. Hinsichtlich des wissenschaftlichen Charakters derselben wird ihre Grundfrage als die Frage nach der objektiven Realität der Vernunftideen des Übersinnlichen festgehalten, die aber ihrerseits mit dem Endzweck der ganzen Bestimmung des Menschen verbunden ist.

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Nachdem die Grundfrage festgestellt worden ist, thematisiere ich in dem zweiten Teil, und zwar dem Zwischenteil die Grundrichtung, an der sich die metaphysische Grundfrage und alles metaphysische Denken überhaupt Kant zufolge orientieren soll. Hier wird zuerst (im Kapitel 3) die Metaphysikkritik Kants an der kosmologischen und der onto-theologischen Transzendenz nach dem Leitfaden des Problems der objektiven Realität dargestellt, die als notwendiger Bestandteil der Metaphysik (das zweite Stadium der „eigentlichen Metaphysik“) zu verstehen ist, weil Kant dadurch den unberechtigten Weg zur Metaphysik ausschließt. Und dann (im Kapitel 4) wird die aussichtsreiche Richtung entwickelt, mit der die Metaphysik unter dem Titel der „praktischen Transzendenz“ als eine Pflicht der menschlichen Vernunft bestimmt werden soll. Dabei orientiert sich das Problem der objektiven Realität der Ideen des Übersinnlichen auf das Problem der Realisierbarkeit des höchsten Guts. Der dritte Teil meiner Arbeit macht die Grundmethode bzw. das Grundverfahren der Metaphysik Kants zum Thema, durch welches die Ideen des Übersinnlichen ihre objektive Realität dartun und die Plicht der praktischen Transzendenz erfüllt wird. Ich nenne dieses Verfahren „praktische Regulation“. Dieser Teil gliedert sich in drei Kapitel. Im 5. Kapitel versuche ich, den Begriff der Regulation mit ihren verschiedenen Verwendungsfällen bei Kant zu analysieren und die wesentlichen Momente der Regulation überhaupt klar zu machen. Hinsichtlich dieser Momente werde ich eine formale Bestimmung der „praktischen Regulation“ geben. Das 6. Kapitel thematisiert die Legitimität der praktischen Regulation, wobei ich eine Deduktion derselben zu rekonstruieren versuche. Das Kernproblem ist es, wie der Vorrang der praktischen vor der theoretischen Vernunft möglich ist, oder genauer, wie es überhaupt möglich ist, dass die praktische Vernunft durch die Aufstellung der Idee des „Endzwecks der Natur“ die theoretische Vernunft nötigt, die Gegenstände der Ideen des Übersinnlichen einzuräumen. Dieser Rechtfertigungsversuch hat den Zweck, den kritisch-wissenschaftlichen Charakter der praktischen Regulation zu garantieren. Das 7. und letzte Kapitel konzentriert sich auf die Systematik der Ideen als Ergebnis der praktischen Regulation. In analytischer Ordnung wird zunächst gezeigt, welche Ideen die theoretische Vernunft durch die Nötigung der praktischen Regulation als objektiv real anerkennen muss. Und dann wird durch die synthetische Methode dargestellt, wie sich diese Ideen miteinander zu dem übersinnlichen Grund bzw. Substrat der moralisch-zweckmäßigen Natur verbinden, mit der Hoffnung, dass die Charakteristik der kantischen Metaphysik durch diese Systematik der Ideen deutlicher gezeigt werden kann.

Teil I Die Grundfrage der Metaphysik

Die Grundfrage einer Theorie ist diejenige Frage, nach der sich die Theoriebildung im Ganzen als eine Antwort orientiert. Und die Grundfrage einer Wissenschaft, der normalerweise viele Theorien untergeordnet werden, ist diejenige Frage, nach der sich diese Wissenschaft im Ganzen beim Bilden ihrer mannigfaltigen Theorien orientiert. Die Grundfrage soll also zur Richtungsfestlegung dienen. Nun reden wir von der Grundfrage der Metaphysik. Verschiedene Grundfragen bestimmen also verschiedene Entfaltungsrichtungen der Metaphysik. Aristoteles drückt die Grundfrage für seine Erste Philosophie deutlich aus, nämlich die Frage, was Seiendes überhaupt ist (τ… τ`o Ôν). (Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Z 1, 1028 b4) Dieser Grundfrage gemäß soll die Erste Philosophie als die Wissenschaft sowohl vom Sein des Seienden wie auch von den ersten Prinzipien und Ursachen des Seienden überhaupt entfaltet werden. Die ihm nachfolgende Entwicklung der Metaphysik geht nicht weit weg von der aristotelischen Grundfrage, insbesondere bei den Scholastikern nach der Rückkehr der aristotelischen Schriften nach Europa im 12. Jahrhundert. Dazu gehören gewissermaßen auch Leibniz und seine Schüler. Mit Absicht entfernt sich Kant in der Kritik der reinen Vernunft gegenüber der ontologischen Aristoteles-Tradition, indem er die von ihm verstandene Ontologie durch eine kritische „Analytik des reinen Verstandes“ ersetzen will (vgl. KrV A 247/B 303). In der späteren Preisschrift rehabilitiert er aber die Ontologie als das erste Stadium der s. g. „eigentlichen Metaphysik“ (FM AA 20:281), die dann als die Wissenschaft der Fortschritte von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen definiert wird. Was ist nun die Grundfrage der Metaphysik bei Kant? Inwiefern kann und soll die Ontologie, die sich nach dem Problem des Seins des Seienden orientiert, durch eine transzendentale Analytik des reinen Verstandes ersetzt werden? Hat die Metaphysik Kants nichts mehr mit den aristotelischen Fragen der Ontologie zu tun, wie Kants o. g. Behauptung in der Kritik der reinen Vernunft scheint? Hat er das Seinsproblem wiederum in die Metaphysik eingeführt, wenn er in der Preisschrift das erste Stadium der Metaphysik Ontologie nennt?

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Teil I Die Grundfrage der Metaphysik

Um alle diesen hier gestellten Fragen klarzumachen, muss man dem nachgehen, was Kant eigentlich unter „Metaphysik“ versteht. Aber die Auffassung der Metaphysik gewinnt Kant nicht am Anfang, sondern erst als Ergebnis dessen, was er mit der Selbstkritik der menschlichen Vernunft meint. Kant ist der Ansicht, dass alle metaphysischen Untersuchungen nur dann gerechtfertigt werden, wenn sie auf einer gründlichen Erklärung der Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens beruhen. Diese menschliche Natur mache ich daher zum Thema, als den ersten Schritt zu weiterer Entfaltung des kantischen Begriffs der Metaphysik.

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Der Spielraum möglicher Metaphysik: die endliche und die transzendente Natur der erkennenden Vernunft des Menschen

Kant entwickelt den Grundgedanken seiner Philosophie weder aus einer unmittelbaren Betrachtung der allgemeinen Prinzipien des Seienden, wie in der Antike, noch aus dem unbezweifelbaren Existenzbewusstsein des Ich-denke, wie bei Descartes, sondern in Hinblick auf das Ganze dessen, was das erkennende Subjekt bzw. die menschliche Vernunft bezüglich des Seienden und dessen Seins denken kann.1 Daher geht Kants Auffassung der Philosophie und der Metaphysik auf sein Verständnis der Natur des menschlichen Vermögens zurück, das durch die Kritik der menschlichen Vernunft an sich selbst klar geworden ist. Dieses Zurückgehen der Metaphysikkonzeption auf das Menschenvermögen zeigt sich deutlich in der Grundgliederung der Preisschrift, wo sich die „Einteilung der Stadien der reinen Vernunft“ bzw. der „eigentlichen Metaphysik“ aus der „Lehre von der Möglichkeit aller Erkenntnis a priori überhaupt“ ergibt, und die letztere daher als die „Gründung einer Metaphysik“ zu bestimmen ist (FM AA 20:272 f.). Bevor man an den metaphysischen Fragen zu arbeiten unternimmt, soll man sich überlegen, aus welchen Gründen wir solche Fragen stellen und inwiefern diese Fragen beantwortbar sind, um daraus „die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfangs und der Grenzen derselben, alles aus Prinzipien“ durchzuführen (KrV A XII). Diese vorbereitende Überlegung soll sich Kant zufolge auf die Grundfakten bzw. die „Natur“ des menschlichen Erkenntnisvermögens beziehen. Die Erklärung der Grundfakten des Menschenerkennens ist ein Ergebnis jahrelanger Überlegungen Kants an den metaphysischen Problemen, vor allem an der Möglichkeit der Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände wie Freiheit und Gottes. 1 Dazu

vgl. auch Henrich, D., „Kant und Hegel. Versuch zur Vereinigung ihrer Grundgedanken“, in Ders: Selbstverhältnisse, Stuttgart 1982, S. 173–208, hier S. 176 ff. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Y. Xie, Praktische Regulation der Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62252-0_1

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Zu den betroffenen Grundfakten gehören nicht nur die Art und Weise, wie unsere Erkenntnisvermögen beschaffen sind und wie sie jeweils einzeln oder zusammen funktionieren, sondern auch das, wonach der Mensch mit seinen Vermögen als Endzweck(en) strebt. Das erste Grundfaktum werde ich den Naturzustand, das letztere die Naturtendenz des menschlichen Erkennens nennen. Beide sind unübersehbar und werden bei Kant in einer Kritik der Vernunft des Menschen thematisiert, aber mit verschiedenen Akzenten: während Kant hinsichtlich des Naturzustandes die Beschränktheit der Erkenntnisvermögen betont, bezeichnet er in Bezug auf die Naturtendenz des Menschen die Metaphysik und Transzendenz2 als eine wirkliche „Naturanlage der menschlichen Vernunft“ (vgl. KrV B 21, Prol. AA 04:365) und versucht, diese Naturanlage der Transzendenz wieder auf einen stabilen Grund zu stellen und als Wissenschaft zu entwickeln. Bezüglich dessen würde ich mich in diesem Anfangskapitel meiner Arbeit mit der Beschränktheit bzw. Endlichkeit der Erkenntnisvermögen des Menschen einerseits und dem transzendenten Charakter der menschlichen Vernunft andererseits befassen. Als Resultat der kritischen Betrachtung der menschlichen Natur wird dann die „objektive Realität“ der apriorischen Begriffe problematisiert, die sich schließlich als ein kantisches „Seinsproblem“ erweisen soll.

1.1

Die Endlichkeit des menschlichen Erkennens

Sich mit den metaphysischen Fragen seiner Zeit konfrontierend, richtet Kant seine Überlegungen nicht direkt auf die zu erforschenden Dinge, sondern vor allem auf die Betrachtung über die Natur der Erkenntnisvermögen des Menschen. Aber Kant unternimmt keine Versuche, die er oft „psychologische“ nennt und in seiner Zeit sehr beliebt waren – diese psychologischen Untersuchungen gehen darauf, wie sich das „Gemüt“ des Subjekts im Gang des Erkennens verhält. Vielmehr konzentriert Kant seine Betrachtung auf die notwendigen Bedingungen im unseren Erkennen, 2 Kant

verwendet den Terminus „transzendent“ in zwei verschiedenen Bedeutungen. Zum einen geht man transzendent vor, wenn man die Möglichkeit der Erkenntnis bzw. der Erscheinungen für die Möglichkeit der Dinge selbst hält. In diesem Sinne verhält sich auch Hume transzendent, obwohl er zur Beschränkung der menschlichen Erkenntnis vorschlägt (vgl. Prol. AA 04:351). Dies ist transzendent hinsichtlich des Gebrauchs. Zum anderen kann man auch hinsichtlich der Gegenstände transzendent sein, wenn man über den Bereich der Erfahrung und des Sinnlichen hinaus geht und die übersinnlichen Gegenstände zu erkennen versucht (z. B. über die einzelnen Erfahrungen hinaus auf die kollektive Einheit aller Erfahrungen, vgl. Prol. AA 04:328). Ohne weitere Erklärung verwende ich in der vorliegenden Arbeit den Ausdruck „transzendent“ bzw. „Transzendenz“ nur in dem zweiten Sinne.

1.1 Die Endlichkeit des menschlichen Erkennens

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die jeder Möglichkeit der theoretischen Wahrheit oder, mit einem kantischen Terminus, der „Objektivität“ unserer Erkenntnis zugrunde liegen. Kant glaubt, dass nur mit diesen Bedingungen, die von allen aposteriorischen Inhalten unabhängig sind, das Wesen der Erkenntnis erklärt und die Grenze des Erkennbaren festgestellt werden kann, innerhalb deren allein das Seiende zum „Gegenstand“ unserer Erkenntnis werden darf. Kant stellt die Ergebnisse seiner Betrachtungen in der Kritik der reinen Vernunft dar. Die Kritik der reinen Vernunft dient zur „Beurteilung“ derselben und deren Quellen und Grenzen (vgl. KrV A 11/B 25). Diese Betrachtungen beruhen ihrerseits auf einem Grundfaktum, das Kant nicht explizit begründet hat: „unsere“ Erkenntnis, sofern sie – sei es objektiv oder nicht – einen Anspruch auf ihre Wahrheit enthält, ist notwendigerweise auf etwas mir Gegebenes angewiesen, da wir kein Vermögen besitzen, Gegenstände produktiv durch Anschauung hervorzubringen.3 Für die Gegebenheit des genannten Gegebenen ist dann die Sinnlichkeit zuständig, deren Vorstellungsart Anschauung ist.4 Diese allein ist aber nicht genug, um die Erkenntnis als ein Urteil zu artikulieren; wir brauchen dazu noch ein begriffliches Vermögen. Kant nennt dieses die Spontaneität, welche die Funktion des Verstandes ist. Dies drückt sich in der grundlegenden Diagnose Kants aus, dass „es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, …, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden.“ (KrV A 15/B 29) Sie ist so grundlegend, dass alle Grundzüge der menschlichen Vernunft, die Kant in seinen drei Kritiken thematisiert,

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wird von H. Allison „These der Diskursivität“ (the discursivity thesis) genannt. Mit seiner Beurteilung bin ich einverstanden, die These der Diskursivität sei der implizite Ausgangspunkt des transzendentalen Idealismus Kants. Vgl. Allison, Kant’s Transzendental Idealism. New Haven/London 2 2004, p. 13. 4 Die Sinnlichkeit definiert Kant nicht aus den Sinnesorganen, sondern aus der Rezeptivität des Menschenerkennens, die eine ursprüngliche Relation zwischen dem erkennenden Ich und dem vom ihm unterschiedenen, aber ihm gegebenen Anderem ausdrückt. Hier zeigt sich die Originalität der kantischen Bestimmung der Sinnlichkeit. Dazu vgl. D. Henrich Between Kant and Hegel, 2003, p. 42: „No self is possible unless it exists in such a way that there is an original relationship between it and something that is not itself but can be given to it. That is the epistemological definition of sensibility. It has nothing to do with senses or input; it is a purely transcendental definition.“ Auch bei Heidegger wird dies angedeutet: „Die Werkzeuge, die der Affektion dienen, sind deshalb Sinneswerkzeuge, weil sie zur endlichen Anschauung, d. h. Sinnlichkeit, gehören. Kant hat damit zum erstenmal den ontologischen, nicht-sensualistischen Begriff der Sinnlichkeit gewonnen.“ (Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt am Main 1991, S. 26 f.)

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Der Spielraum möglicher Metaphysik: die endliche …

auf diese Unterscheidung der zwei Stämme und deren jeweiligen Eigenschaften zurückgeführt werden können und sollen.5

1.1.1

Sinnlichkeit, Verstand und die Erkenntnis des Seienden

„Vermittelst der Sinnlichkeit … werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe.“ (KrV A 19/B 23) So sagt Kant im § 1 der transzendentalen Ästhetik. Die Sinnlichkeit und der Verstand werden demnach genauer jeweils durch die Vorstellungsvermögen Anschauung bzw. Begriffe charakterisiert. Anschauung ist Kant zufolge der unmittelbare Bezug auf den Gegenstand, durch den das „Gemüt“ affiziert wird. In dieser „Affektion“, die sinnlich ist, kommen dann zwei Dinge vor: einerseits dasjenige, was das Gemüt affiziert, und zwar das „Affizierende“, und andererseits dasjenige, was das Gemüt durch diese Affektion erhält, nämlich das „Gegebene“. Die Eigentümlichkeit des transzendentalen Idealismus Kants liegt darin, dass er das genannte Affizierende und das Gegebene für ganz zweierlei hält. Das letztere ist das, was uns unter den Bedingungen der sinnlichen Erkenntnis gegeben wird, während das erstere seinerseits ganz von diesen Bedingungen unabhängig sein kann. Das letztere nennt Kant Erscheinung, und nur sie kann die Inhalte und Materie unserer Erkenntnis ausmachen. Das erstere ist aber ein transzendentales Objekt bzw. ein „Ding an sich selbst“, von dem wir keine Erkenntnis haben dürfen. Diese Unterscheidung ist für Kant transzendental und methodisch, d. h., wir dürfen die Erscheinung und das Ding an sich nicht für zwei voneinander getrennt existierenden Dinge halten. Vielmehr betrachten wir die Dinge bald als Erscheinungen, bald an sie selbst, und zwar ohne allen Bezug auf die subjektiven Bedingungen des Erkennens. Streng genommen können wir also nicht von der „Existenz“ oder dem „Wirklichsein“ jenes transzendentalen Objekts reden. Aber der Begriff des transzendentalen Objekts bzw. des Dings an sich wird nicht dadurch als überflüssig erwiesen, denn als Vergleichsobjekt zu der Erscheinung in der transzendentalen 5 Im

Paragraphen 76 der Kritik der Urteilskraft, den Kant einfach mit „Anmerkung“ betitelt, unternimmt er einen Versuch, alle entscheidenden Unterschiede der Transzendentalphilosophie, nämlich den Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit in der theoretischen Philosophie, den zwischen Sein und Sollen in der praktischen und schließlich den zwischen Naturmechanismus und Zweckverbindung der Natur in der teleologischen, auf die Beschaffenheit der Erkenntnisvermögen des Menschen, und zwar auf den sinnlichen Charakter der Anschauung und den diskursiven Charakter des Verstandes, zu gründen. (Vgl. KU § 76, AA 05:401 ff.)

1.1 Die Endlichkeit des menschlichen Erkennens

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Reflexion ist das Ding an sich noch denkbar, und zwar ganz unabhängig von den Bedingungen, die für die Erkennbarkeit des Seienden notwendig sind. Hier wird schon der Unterschied zwischen Denkbarkeit und Erkennbarkeit angedeutet. Ich werde spät zu diesem Thema zurückkommen. Nun möchte ich zunächst die Bedingungen der Sinnlichkeit ansehen, durch die uns ein Objekt erscheint.6 Zu den Formen der Sinnlichkeit zählen der Raum und die Zeit, die als solche Formen und Bedingungen ganz a priori, und zwar frei von dem Gegebenen sind. Die Tatsache, dass wir Menschen keine mehr noch andere Formen der Sinnlichkeit als Raum und Zeit haben, ist nach Kant unhinterfragbar. Dabei gehört nur das in Raum und Zeit Gegebene zu den Gegenständen der Erkenntnis des Menschen, und zwar zum Erkennbaren. Der Raum und die Zeit als Bedingungen der Gegebenheit sind also zugleich Formen der Erscheinungen, aber sie gehören nicht dem Gegebenen als dessen Materie oder Bestandteile. Sie sind hinsichtlich dessen „gar nichts“, „wenn man von den subjektiven Bedingungen der sinnlichen Anschauung abstrahiert“ (KrV A 36/B 52). Dies ist die These der transzendentalen Idealität 6 Ich

übernehme hier die Interpretation von G. Prauss, die Ausdrücke „Erscheinungen“ und „Dinge an sich“ seien Abkürzungen von „Dinge als Erscheinungen betrachtet“ und „Dinge als an sich selbst betrachtet“ und zeigten eine transzendentale Reflexion an. (Vgl. Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich, Bonn 3 1989, besonders S. 62 ff.) Auch der weitere Schritt, der H. E. Allison auf Prauss basierend macht, ist überzeugend: die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich sei eine meta-philosophische statt einer metaphysischen Unterscheidung, d. h., sie bezieht sich auf keine unterschiedliche Existenzweisen der Dinge, sondern auf die fundamentalen Standpunkte zum Philosophieren. (Vgl. Allison, Kant’s Transzendental Idealism. New Haven/London 2 2004, p. 56 ff.) Demnach versucht Kant vermittels dieser Unterscheidung zu zeigen, dass wir Menschen nicht frei von den Bedingungen unserer Erkenntnis ein Ding erkennen können, oder mit anderem Wort, dass ein Ding, das von allen epistemischen Bedingungen bzw. von allen Standpunkten ganz unabhängig sind, kein Gegenstand unserer Erkenntnis ist, denn die Menschen brauchen alsdenn einen NullStandunkt oder einen göttlichen, um es zu erkennen. Aber man kann aus dieser Auslegung nicht schließen darf, dass Erscheinung und Ding an sich in allen Aspekten „dasselbe“ Ding seien. Diese Identifizierung gilt nur für einen Fall. Denn von einem Erfahrungsgegenstand her sind wir zwar in der Lage, ihn andererseits auch frei von den Bedingungen unserer Erkenntnis zu betrachten bzw. zu denken. In diesem Fall ist die Identifizierung kein Problem, weil wir uns bewusst sind, dass wir an demselben Gegenstand operieren. Und eben in diesem Fall erkennt Kant an: „Der Unterschied der Begriffe von einem Dinge an sich und dem in der Erscheinung ist nicht objectiv sondern blos subjectiv. Das Ding an sich (ens per se) ist nicht ein Anderes Object sondern eine andere Beziehung (respectus) der Vorstellung auf dasselbe Object.“ (OP AA 22:26) Aber wir können nicht umgekehrt weiter feststellen, dass ein als Ding an sich betrachtetes Objekt gerade dasjenige ist, das unser Gemüt affiziert und dessen Erscheinung eben das durch diese Affektion uns Gegebene ist. Denn zu dieser Identifizierung sind wiederum Bedingungen erforderlich, die aber jenseits des Vermögens des Menschen liegen. Vielleicht können wir nicht zu weit über Kants eigene These hinaus gehen, der zufolge wir vom Ding an sich keine Erkenntnis haben, keine Erkenntnis sogar für Identifizierung.

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des Raums und der Zeit, die Kant später als eine der zwei Angeln ansehen, um die sich die Metaphysik drehe.7 In diesem Sinne sind der Raum und die Zeit, als bloße Formen, zwar kein Seiendes,8 aber sie haben in sich den unmittelbaren Bezug auf das, was wir als Seiendes bezeichnen können, sofern sie als die notwendigen Bedingungen der Anschaulichkeit des Seienden gelten. Kant zufolge ist das, was nur vermittelst der Rezeptivität bzw. der Sinnlichkeit in der Anschauung gegeben wird, ohne das Zutun aller Spontaneität des Subjekts, bloß unbestimmt und ohne Einheit, so dass Kant es ein „Mannigfaltiges“ nennt.9 Alle mögliche Einheit und Bestimmung wird dem begrifflichen Vermögen übergeben. Die Begriffe, in Gegensatz zur Anschauung, sind Allgemeinvorstellungen. Ein Begriff trägt in sich die Vorstellung der Einheit, die Kant „analytische Einheit“ nennt (vgl. KrV A 79/B 105, B 133), und bezieht sich „vermittelst gewisser Merkmale“ (KrV B 33) auf mehrere Vorstellungen, die ihrerseits aber entweder direkt oder indirekt auf die Anschauungen und Sinnlichkeit angewiesen werden müssen (vgl. KrV A 19/B 33). Die Möglichkeit solcher Beziehung geht aber auf die Spontaneität des Verstandes zurück, die sich in der Konzeption der Synthesis ausdrückt. Die einheitsstiftende Funktion des Begriffs wird eigentlich in der Tätigkeit der Synthesis ausgeführt, die das in der Anschauung gegebene Mannigfaltige durchgeht, aufnimmt und verbindet, „um daraus eine Erkenntnis zu machen“ (KrV A 77/B 102). In allen Begriffen ist eine solche Tätigkeit enthalten, die streng genommen durch das Vermögen der transzendentalen Einbildungskraft vollgezogen wird. Die ursprünglichste Handlung aller Verbindungen, die in allen Begriffen (sei es empirisch oder a priori) impliziert wird,10 ist die Tätigkeit des Selbstbewusstseins. Diese ursprünglichste Verbindung nennt Kant „Apperzeption“, deren Regeln wir in den zwölf Kategorien des reinen Verstandes antreffen. Kant leitet diese Kategorien aus den logischen Grundformen der Urteile ab, denn er glaubt, dass diese 7 Vgl.

FM AA 20:311. Die andere Angel ist die Lehre von der Realität des Freiheitsbegriffs. dieser Perspektive ordnet Kant den Raum und die Zeit, „als Formen anzuschauen“, dem Begriff des „Nichts“ im Sinne des ens imaginarium zu. Vgl. KrV A 291/B 347. 9 Dies ist eigentlich das Ergebnis einer nachträglichen Abstraktion, weil es nicht möglich ist, dass der Verstand nicht an einem realen Erkenntnisprozess mitmachen. Dazu vgl. Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des Ich-denke bei Descartes und Kant, Paderborn 2004, S. 93, wo diese Abstraktion auch als ein Grenzfall verstanden wird. Diese Abstraktion aber ist die grundlegende Methodologie der kantischen „Kritik“ der reinen Vernunft und zählt auch zu einer transzendentalen Reflexion, durch die Kant die Erkenntnisvermögen voneinander unterscheiden kann. 10 Die reinen Vernunftbegriffe ausgenommen, weil sie nicht das Mannigfaltige der Anschauung, sondern den Verstandesgebrauch in seiner Ganzheit bestimmen. Ich komme zu ihnen im Abschn. 1.2. zurück. 8 In

1.1 Die Endlichkeit des menschlichen Erkennens

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Grundformen nichts anders als grundlegende Weisen sind, wie der Verstand das sinnliche Gegebene verbindet. Durch diese ursprüngliche Verbindung wird das anschauliche Gegebene dem Ich-denke gehörig gemacht und gewinnt in diesem Gehören ihre Objektivität; es ist nunmehr ein „Objekt“, kein bloß unbestimmtes Mannigfaltiges der Empfindung.11 Diese Objektivität, die in der Kopula „ist“ eines Urteils ausgedrückt wird, ist das Wesentliche in einer Erkenntnis, durch das wir, innerhalb der Erkennbarkeit, von dem „Sein“ eines Seienden bzw. Objekts reden dürfen. In diesem Sinne sind die Kategorien die fundamentalen Bedingungen, unter denen wir überhaupt von einem Gegenstand urteilen können; sie sind grundlegende „Begriffe von einem Gegenstande überhaupt“ (KrV B 128) und basale formale Bestimmungen des Seins eines Seienden. Warum das in sinnlicher Anschauung, in Raum und Zeit Gegebene so beschaffen ist, dass es durch den Verstand und dessen Handlung gesetzlich bestimmt werden kann, thematisiert die „transzendentale Deduktion“ und insbesondere ihr zweiter Beweisschritt in der B-Auflage. Ich konzentriere mich hier nicht auf die Argumentation der kantischen Kategorien-Deduktion; für den Zweck meiner Arbeit ist derjenige Gedanke wichtiger, den Kant mit negativer Tonart einleitend in den zweiten Beweisschritt einschiebt (§§ 22–23 der B-Deduktion), nämlich der Gedanke von der Beschränktheit des Verstandesgebrauchs, dem zufolge die Kategorien „keinen andern Gebrauch zum Erkenntnisse der Dinge, als ihre Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung“ haben (Titel des § 22). Dies klärt sich aus dem Charakter des menschlichen Verstandes, den Kant „diskursiven“ nennt (KrV A 68/B 93). Dies besagt, unserer Verstand sei nicht produktiv, d. h. kein solcher Verstand, „der selbst anschaute“ oder „durch dessen Vorstellung die Gegenstände selbst zugleich gegeben oder hervorgebracht würden“ (KrV B 145, s. a. B 139, B 159); seine ganze Leistung liegt dahin, das „Mannigfaltige, welches ihm anderweitig in der Anschauung gegeben worden [ist]“, als seinen „Stoff“, nach der Einheit der Apperzeption zu verbinden und zu ordnen (KrV B 145, Herv. von Y. X.). Zu dieser Beschränkung des Gebrauchs der Kategorien drückt Kant im § 22 der B-Deduktion einen bemerkenswerten Gedanken aus: Wenn der Verstand nur die zwar sinnliche, aber apriorische Anschauung bestimmt, bekommen wir zwar Erkenntnisse a priori von Gegenständen, und zwar die mathematischen, aber diese Erkenntnisse betreffen nur die Form der Gegenstände, wobei unausgemacht bleibt, „ob es Dinge geben könne, die in dieser Form ausgeschaut werden müssen“. (KrV B 147) D. h., die mathematische Begriffe haben für sich nichts mit dem Dasein der Gegenstände zu tun und werden noch nicht als objektive Erkenntnisse (in Sinne von 11 „Objekt … ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist.“ (KrV B 137).

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Erkenntnisse über Objekte) betrachtet. Der Verstand und die Kategorien können nur dann wahrhafte Erkenntnis verschaffen, wenn sie das Mannigfaltige der empirischen Anschauung (und nicht bloß das „apriorische Mannigfaltige“ der reinen Anschauung) bestimmen. So beschränkt sich der Gebrauch der Kategorien auf die Objekte der Erfahrung, was dazu führt, dass die berechtigte erkenntnismäßige Rede von dem Sein des Seienden nur durch die Zusammenarbeit des Verstandes mit der Sinnlichkeit, genauer mit der empirischen Anschauung, möglich ist. Der Bezug auf die sinnliche Gegebenheit gibt erst den Kategorien Sinn und Bedeutung, was sie zu Grundbestimmungen des Objekts überhaupt macht. „Gedanke ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (KrV A 51/B 75) Mit dem bloßen sinnlichen Mannigfaltigen, das noch nicht durch die Verstandeshandlung bestimmt wird, kann man noch nicht von dem „Sein“ des Objekts sprechen, denn dabei fehlt noch der Gegenstandbeziehung der mannigfaltigen Vorstellungen und die Objektivität derselben, welche die Leistung der synthetischen Einheit der Apperzeption ist. Und das rein kategoriale Denken von dem An-sich-Sein des Seienden, ohne allen Bezug auf die Bedingungen der Sinnlichkeit bzw. der Gegebenheit, ist auch kein Thema der Erkenntnis, weil dieses Denken nichts weiter als ein bloß logischer Gebrauch des Begriffs in seiner analytischen Einheit bleibt (vgl. KrV A 147/B 186 f.).

1.1.2

Endlichkeit und der Grenzbegriff des Noumenon

Bei den Überlegungen Kants zu dem Grundverfahren der Erkenntnisvermögen des Menschen, die ich oben darstelle, wird das Problem des Seins des Seienden schon betroffen, aber in einer neuen Hinsicht, die anders als die der traditionellen Ontologie ist. In Kants Überlegungen zu diesem Problem wird immer das Verhältnis des Seienden und dessen Seins zu den Vermögen, mit denen der Mensch das Sein des Seienden erkennt, in Betracht gezogen. Eine Ontologie, die von den Bedingungen der Erkenntnis des menschlichen Subjekts ganz unabhängig ist, macht demnach keinen Inhalt der wahrhaften Erkenntnis aus. Was also jene Ontologie zum Thema macht, nämlich das An-sich-Sein des Seienden, erweist sich bei Kant als die Grenze der menschlichen Erkenntnis, und die Möglichkeit und Legitimität der Metaphysik soll deswegen erneut erörtert werden. Von der letzteren würde ich später sprechen. Hier möchte ich zuerst das Problem über die „Grenze“ thematisieren, das für die kantische Bestimmung der Naturanlage des Menschen entscheidend ist.

1.1 Die Endlichkeit des menschlichen Erkennens

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Die Grenze der menschlichen Erkenntnis zeigt die „Endlichkeit“ derselben an. Kant stellt den Menschen als „endliches Wesen“ dem göttlichen und mithin unendlichen Wesen gegenüber, und zwar als „endliche[s] denkende[s] Wesen“ in der theoretischen Hinsicht (KrV B 72) sowie als endliches handelndes Wesen in der praktischen (vgl. KpV AA 05:32).12 Es klingt hier nichts Ungewöhnliches, denn man kann solchen oder ähnlichen Behauptungen hier und dort in der vorkantischen Philosophie und Theologie begegnen. Aber unter der kantischen Auffassung der Endlichkeit unterscheidet sich die menschliche Erkenntnis (nach der theoretischen Absicht) nicht nur von der göttlichen Erkenntnis, z. B. von der intellektuellen Anschauung, die selbst zugleich ihren Gegenstand hervorbringt, sondern auch von der traditionell verstandenen menschlichen Erkenntnis, in welcher der Mensch unmittelbar die Dinge als solche rezeptiv anschauen kann, ohne den Bezug auf die Bedingungen des Dem-Menschen-Erscheinens dieser Dinge in Betracht ziehen zu müssen.13 Vielmehr widmet Kant seine kritische Werke, v. a. die Kritik der reinen Vernunft, der Feststellung und Begründung des ihm eigentümlichen Verständnisses der Beschaffenheit der menschlichen Endlichkeit in der theoretischen Hinsicht, nach der die Erkenntnis des Menschen nur in der Erscheinung Befügnis hat, und das Ding in seinem An-sich-Sein dann nur als ein Grenzbegriff fungiert, der das kennzeichnet, wozu die menschliche Erkenntnis nicht in der Lage ist. Dies hat nichts zu tun mit dem zufälligen Fehler des Menschen bei der faktischen Operation unserer Vorstellungskräfte noch mit der angeblichen Undeutlichkeit der Anschauung im

12 Trotz diesen adjektivischen Wendungen von „endlich“ wird der genaue substantivische Wortgebrauch von „Endlichkeit“ in solchem Sinne und solcher Form nicht in Kants Werken angetroffen. Diesen Ausdruck übernehme ich vom Kant-Buch Heideggers, wo er sich in dem Problem der Endlichkeit des Menschen mit Kant auseinandersetzt. Vgl. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA3, Frankfurt am Main 1991, S. 21 ff., insbesondere S. 25 ff. Aber ich sehe die Endlichkeit des Menschen bei Kant nicht in der Abhängigkeit der menschlichen sinnlichen Anschauung von dem Dasein des affizierenden Objekts (wie Heidegger glaubt), sondern in der Abhängigkeit der ganzen Erkenntnis von den Bedingungen der sinnlichen Gegebenheit, die sich in dem Unterschied zwischen Erscheinungen und Dingen an sich darstellt. In einer bald kommenden langen Fußnote werde ich zu diesem Problem ausführlicher zurückkommen. 13 Zu bemerken ist, dass Kant zwar sowohl die erste wie auch die zweite genannte Anschauungsart der Tradition als „intellektuelle Anschauung“ bezeichnet hat (vgl. KrV B 72, B 308), obwohl sie aber in der Tat voneinander unterschiedlich sind. Die erste ist produktiv, während die zweite dagegen rezeptiv und mithin sinnlich (wie die kantische menschliche Anschauung) ist, obgleich sie nicht von den sinnlichen Bedingungen des Menschen (Raum und Zeit) beschränkt wird.

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Vergleich zu dem Verstand, sondern liegt in der „Grundbeschaffenheit der sinnlichen Erkenntnis“ (KrV A 42/B 59), und zwar in der Bedingung der Möglichkeit aller Gegebenheit überhaupt bei uns.14 Aber auch die theoretische Endlichkeit des Menschen kann unter verschiedenen Aspekten verstanden werden. Durch den Grenzbegriff des Dings an sich sowie den der intellektuellen Anschauung einerseits wird die menschlichen Erkenntnis auf die Erscheinungen beschränkt, die uns unter den Bedingungen der Sinnlichkeit gegeben werden. Dies wurde oben schon aufgezeigt. Die andere Seite der Endlichkeit hängt aber mit der Beschaffenheit des menschlichen Verstandes zusammen. Sofern der Verstand, da er diskursiv ist, eine Synthesis leistet, muss ihm jedes Mal Anschauungen gegeben werden. Da nun die Anschauung auf die Erscheinungen beschränkt wird, so muss diese Beschränkung auch für den Verstand gelten. Die Handlung der Verstandessynthesis kann also nur auf dem Boden der jeweils gegebenen Erscheinung ausgeführt werden. Dies führt dazu, dass die Synthesis des Verstandes nur Schritt für Schritt, und zwar „sukzessiv“ operiert (vgl. z. B. KrV A 500/B 528), dass der Verstand daher nicht in der Lage ist, seine Synthesis auf den Inbegriff der Erscheinungen alles auf einmal zu richten. Es ist deswegen dem menschlichen Vermögen nicht möglich, auf berechtige und theoretische Weise die Erkenntnis über die Ganzheit des Seienden (z. B. die Welt oder den Gott) zu gewinnen, wie Kant vor allem in dem Auflösungsversuch der kosmologischen Antinomen in der Kritik der reinen Vernunft deutlich darstellt. Der auf umgekehrte Weise operierende Verstand, den Kant in der Kritik der Urteilskraft als den „intuitiven Verstand“ bezeichnet und hinsichtlich der Möglichkeit einer Teleologie der Naturganzheit vollständiger charakterisiert, könne von jener Verbundenheit mit den sinnlich gegebenen Erscheinungen befreit werden, weil er nicht „vom Analytisch-Allgemeinen (von Begriffen) zum Besonderen (der gegebenen empirischen Anschauung) gehen muss“, sondern „vom SynthetischAllgemeinen (der Anschauung15 eines Ganzen als eines solchen) zum Besonderen …, d. i. vom Ganzen zu den Teilen“ gehen könne (KU AA 05:407). Der intuitive Verstand, als der „urbildliche“ (intellectus archetypus) (KU AA 05:408), ist also imstande, die Teile aus dem Ganzen zu erkennen. Der diskursive Verstand aber, als intellectus ectypus, muss dagegen von den Teilen „als allgemeinen gedachten Gründen“ zum Ganzen „als Wirkung der konkurrierenden bewegenden Kräfte der Teile“ fortgehen (KU AA 05:407). Aber zu diesem „urbildlichem“ Verstand 14 „Wenn wir diese unsre Anschauung auch zum höchsten Grade der Deutlichkeit bringen könnten, so würden wir dadurch der Beschaffenheit der Gegenstände an sich selbst nicht näher kommen.“ (KrV A 43/B 60) 15 Kant redet von der „kollektiven Anschauung“ in KrV A 523/B 551.

1.1 Die Endlichkeit des menschlichen Erkennens

13

ist der Mensch nicht fähig; er gilt also nicht als realer Begriff, sondern wiederum als Grenzbegriff zu dem „unserigen“, d. h. menschlichen diskursiven Denken bzw. Verstand. Mangels des intuitiven Verstandes kann der Mensch mithin weder die Ganzheit des Seienden als solche noch aus dieser her das Einzelne und das Besondere (das „Bedingte“) erkennen.16 Sowohl ein Ding-an-sich, das von den Bedingungen der Sinnlichkeit unabhängig ist, als auch die Ganzheit aller möglichen Erscheinungen, die frei von dem sukzessiven Charakter der Synthesis des Verstandes ist, können mit dem kantischen Begriff des Noumenon bezeichnet werden.17 „Noumenon“ heißt, buchstäblich sowie etymologisch auf dem altgriechischen Wortstamm zurückführend, der Gegenstand des nicht-sinnlichen Denkens (νoε‹ν). So verstanden es auch die Schulphilosophen der kantischen Zeit, aber mit dem Gedanken verbunden, dass das Phänomen, als Objekt des Sinnens,18 nur verworren erkannt werden könne, während das Noumenon ein Objekt der deutlichen bzw. wahren Erkenntnis sei. Demzufolge werde dem Phänomen ein „geringerer“ ontologischer Status zugeschrieben und erst das Noumenon sei der wahre Gegenstand der Ontologie. Kant versteht das Noumenon immer noch als Objekt des nicht-sinnlichen Denkens, aber schon 1770 war er sich gegen Christian Wolff bewusst, dass der Unterschied zwischen beiden nicht in dem Grad der „Deutlichkeit“ der Erkenntnis liegen kann. Vielmehr gehört er zur Sache der „Herkunft“ (stemma) der Erkenntnis. Denn eine sinnliche Erkenntnis kann völlig deutlich sein, wie in der Geometrie, und eine intelligible Erkenntnis kann hingegen auch verworren sein, wie bei einigen nicht

16 Durch

die diskursive Beschaffenheit des menschlichen Verstandes wird also nicht nur, wie es erst in der dritten Kritik thematisiert wird, der regulativen Charakter der teleologischen Urteilskraft verursacht; sondern auch die Problematik der transzendentalen Dialektik der Vernunftideen in der ersten Kritik, wo die reale Möglichkeit der „Totalität aller Bedingungen“ in Zentrum steht, ist darauf zurückzuführen. Da der diskursive Verstand nur von Teilen schrittweise und, wenn die Zeitbedingung der Synthesis auch in Betracht kommt, „sukzessive“ (KrV A 500/B 528) zum Ganzen fortgehen muss, hat man kein Recht, diese Totalität in einer Anschauung zu erkennen. Aus diesem Grund ist der Mensch nicht in der Lage, das Bedingte aus der unbedingten Totalität der Bedingungen theoretisch zu erkennen 17 Dass Kant das Ding an sich als Noumenon bezeichnet, ist in der Kritik der reinen Vernunft ganz klar. Dass er aber auch den Gegenstand der Ganzheit (Gegenstand der Vernunftideen als Totalität) Noumenon nennt, wird in Kants Texten nur gestreut angedeutet (vgl. z. B. KU AA 254 f.), und manchmal vermittels anderer Termini wie „Gedankending“ (KrV A 469/B 497) oder „ens rationis ratiocinatae“ (KrV A 681/B 709). 18 Vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 425: „Observabilia (phaenomena) dicimus, quae per sensus possumus cognoscere (confusius).“ [Das Beobachtbare (Phänomen) nennen wir dasjenige, was wir mit den Sinnen (eher verworren) erkennen können. Übers. von Y. X.]

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kritisierten Behauptungen der Metaphysik. Die Phänomena heißen also, wie deutlich sie auch sein mögen, wegen ihres Ursprungs sinnlich, während die Noumena, wie verworren sie auch sein mögen, intellektuell bleiben, weil sie von dem intellektuellen Vermögen gedacht werden. (Vgl. De Mundi, § 7, AA 02:395) In der Kritik der reinen Vernunft wird der „Grund“ der Unterschied zwischen beiden, wie in dem Titel des dritten Hauptstücks des Buchs über Grundsätze-Analytik gezeigt, deutlicher und ausführlicher in der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis festgelegt. Aber im Gegensatz zu dem Verständnis in 1770 ist das Noumenon nunmehr kein Gegenstand des menschlichen Erkennens. In positiver Bedeutung wäre es zwar als Objekt einer intellektuellen Anschauung gedacht, aber da nun zu dieser Anschauung der Mensch gar nicht in der Lage ist, hat es bei dem theoretischen Erkennen nur negative Bedeutung, und zwar als Kennzeichnung für die Grenze des Gegenstandbereichs der berechtigten Erkenntnis (Erfahrung) (vgl. KrV B 308 f.), indem es die „Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken“ abzielt (KrV A 255/B 310 f.). In der Erörterung des Begriffs des Nichts, die Kant nur am Ende der Transzendentalen Analytik angehängt hat, ordnet er das Noumenon weiter dem Nichts zu. Das Nichts steht traditionell im Gegensatz zu dem Sein bzw. Seienden oder „Etwas“ (ens). In der Schulmetaphysik wie z. B. bei Wolff und Baumgarten wird das Nichts (nihil) mit dem Unmöglichen (impossibile) gleichgesetzt.19 Ein Gegenstand sei insofern unmöglich, wenn er in sich einen Widerspruch enthalte. Er sei in diesem Sinne nihil negativum. Aber Kant führt in dem Verständnis des Nichts einen neuen Gedanken ein, dass das nihil negativum nicht der einzige Begriff des Nichts ist und man außerdem noch drei Klassen der Gegenstände als Nichts betrachten kann (KrV A 290 f./B 347 f.). Das Noumenon, z. B. ein an sich selbst betrachtetes Ding, ohne Bezug auf die Bedingungen der sinnlichen Gegebenheit, muss „nicht für unmöglich ausgegeben werden“ (KrV A 290/B 347), aber es ist „Nichts“, weil es bloß durch den Verstand gedacht und durch keine korrespondierende Anschauung des Menschen dargelegt werden kann. Es ist „Nichts“ im Sinne von einem „Leeren Begriff ohne Gegenstand“, ein ens rationis (KrV A 292/B 348). Dieses „problematische“ Noumenon (KrV A 254/B 310) können wir Menschen denken, aber nicht erkennen. Die Erweiterung des Nichts-Begriffs und die Zuordnung des Noumenon unter demselben bei Kant spielt aber für die Metaphysik eine doppelte Rolle. Die Nicht-Erkennbarkeit des Noumenon kennzeichnet einerseits die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisvermögen und die Grenze des Bereichs dessen, was wir Menschen auf berechtigte Weise als wahrhaft Seiendes ansehen können. Es fungiert dann als ein Grenzbegriff, um das An-sich-Sein des Seienden aus der theoretischen 19 Vgl.

Baumgarten, Metaphysica, §§ 7–8.

1.1 Die Endlichkeit des menschlichen Erkennens

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Erkenntnis auszuschließen; es bleibt nur das „Phänomen“ als Seiendes erkennbar übrig, das seinerseits durch den Verstand bestimmte bzw. vergegenständlichte Erscheinung ist.20 Aber andererseits weist die Nicht-Unmöglichkeit des Noumenon auf eine weitere Dimension hin, und zwar die Dimension der Transzendenz des Menschen, in der das Noumenon, unter dem Namen eines Gegenstand der Vernunftidee, mit dem Geschäft der Metaphysik zusammenhängt, das Kant als „eigentliche Metaphysik“ bezeichnet. Auf diesen Punkt werde ich erst später eingehen. Zwei von Kant vorgestellte Vermögen, und zwar die intellektuelle Anschauung einerseits und der intuitive Verstand andererseits, machen die doppelten Grenzen der Erkenntnisfähigkeit des Menschen aus und charakterisieren unsere sinnliche Anschauung als „abgeleitete“ und unseren diskursiven Verstand als „abbildlichen“21 . Wir Menschen können also die Dinge weder in der Art, wie sie an sich selbst sind, noch aus der Totalität ihrer Bedingungen her erkennen und müssen den epistemischen Gebrauch unserer Erkenntnisvermögen auf die „mögliche Erfahrung“ einschränken. Diese ist das einzige uns theoretisch mögliche „Land der Wahrheit“ (KrV A 235/B 294), während uns der Bereich der Dinge an sich sowie der Gegenstände der Totalität bloß ens rationis und mithin „nichts“ ist. Die Begrenztheit der Rezeptivität zum einen und der Spontaneität zum anderen kennzeichnen zusammen vollständig die Endlichkeit des menschlichen Erkennens22 , 20 „Erscheinungen, so fern sie als Gegenstände nach der Einheit der Kategorien gedacht werden, heißen Phaenomena.“ (KrV A 248 f.) 21 Die intellektuelle Anschauung und der intuitive Verstand haben trotz vieler Gemeinsamkeiten wichtige Unterschiede. Darauf möchte ich hier nicht eingehen. Dazu vgl. E. Förster, „Die Bedeutung von §§ 76, 77 der “Kritik der Urteilskraft” für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie“, Zeitschrift für Philosophische Forschung, 2002, S. 177–179. 22 Heidegger führt in seinem Kant-Buch die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis bei Kant auf den sinnlichen Charakter der Anschauung des Menschen zurück (vgl. Heidegger, Martin: Kant und das Problem der Metaphysik. GA 3. Frank am Main 1991, S. 21), obwohl die Begrenztheit des Verstandes des Menschen nicht deswegen von ihm übersehen wird (vgl. S. 30). Seine Begründung liegt in seinem Verständnis des Begriffs der Endlichkeit als der Abhängigkeit der sinnlichen Anschauung von dem Dasein des das Subjekt Affizierenden: „Endliche Anschauung kann nicht hinnehmen, ohne dass das Hinzunehmende sich meldet.“ (S. 26) Dagegen aber bemerkt Klaus Düsing, dass Kant zwar schon in 1770 die Beschränktheit des menschlichen Anschauungsvermögens gezeigt hat, die mit keiner wesentlichen Veränderung in der Kritik der reinen Vernunft wiedergegeben wird, dass er damals aber keinen Schluss auf die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnisvermögen überhaupt daraus gezogen hat. Daher glaubt Düsing: „Vielmehr vermag – unter Berücksichtigung dieser Lehre von der rezeptiven sinnlichen Anschauung und ihrer reinen Formen – nur eine Theorie des endlichen Denkens Grundlage der Kantischen Metaphysikkritik zu sein.“ (K. Düsing, „Spontane, diskursive Synthesis. Kants neue Theorie des Denkens in der kritischen Philosophie“, in der: Immanuel Kant: Klassiker der Aufklärung: Untersuchungen zur kritischen Philosophie in

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die dann den ersten elementaren Horizont der Konzeption der Metaphysik Kants konstituiert.

1.2

Transzendenz als Naturanlage der menschlichen Vernunft

In dem Naturzustand werden dem Menschen die begrenzten Erkenntnisvermögen zugeschrieben, mit denen er nur die Gegenstände innerhalb der möglichen Erfahrung erkennen. Aber die menschliche Vernunft ist mit der Erkenntnis der erfahrbaren Gegenstände nicht zufrieden und hat ganz natürlich immer die Tendenz, über die Grenze der Erfahrung zu überschreiten. Diese Naturtendenz der Überschreitung gehört zu den Grundfakten des menschlichen Erkennens, und eben auf diese faktische Naturtendenz des Menschen statt auf irgendeinen beliebigen und zufälligen Geistesblitz gründen sich Kant zufolge diejenigen Versuche der Philosophen, die man mit dem Namen „Metaphysik“ kennzeichnen kann. Kant hat diese Tendenz nicht bloß als Faktum angegeben, sondern sie auch ihrer Grundverfassung nach untersucht, indem er die Vernunft in engerem Sinne deutlich von dem

Erkenntnistheorie, Ethik, Ästhetik und Metaphysik. Hildesheim, Zürich [u. a.], 2013, S. 41, Herv. von Y. X.) Ich halte Düsings Überlegung für zu Recht. Im Abschn. 1.1 meiner Arbeit möchte ich zwar hauptsächlich nur eine vollständige Beschreibung der endlichen Natur der menschlichen Erkenntnisvermögen geben, habe aber auch schon mitgezeigt, dass die Diskursivität des Verstandes der eigentliche Ausgangspunkt zum Nachdenken über die menschliche Endlichkeit ist. Der Kern zu diesem Problem ist es, dass das Wesentlichste des kantischen Verständnisses der Endlichkeit nicht in der Abhängigkeit der Anschauung von dem Dasein des anzuschauenden Gegenstandes liegt, wie Heidegger interpretiert, sondern in Abhängigkeit aller Erkenntnis von den Bedingungen der sinnlichen Gegebenheit, nämlich von den Formen Raum und Zeit. Die zweite Abhängigkeit zeigt sich darin, dass die Dinge an sich selbst die Grenze ausmachen, welche die menschliche Erkenntnis nicht überschreiten darf. (Kant hat zwar in KrV B 72 gesagt, dass unsere Anschauungsart „darum sinnlich heißt, weil sie nicht ursprünglich …, sondern von dem Dasein des Objekts abhängig, mithin nur dadurch, dass die Vorstellungsfähigkeit des Subjekts durch dasselbe affiziert wird, möglich ist“, und diese Aussage scheint Heideggers Interpretation des Endlichkeitsbegriffs zu unterstützen, wie Heidegger selber auf S. 25 seines Kant-Buchs mit indirektem Verweis erwartet. Aber Kant will hier m. E. nur die Nicht-Ursprünglichkeit der menschlichen Anschauung erklären, nicht aber die Endlichkeit der ganzen Erkenntnis des Menschen.) Außerdem gründet sich auf diese Abhängigkeit von den Bedingungen der Rezeptivität andererseits auch die Tatsache, dass die Ganzheit des Seienden eine andere Grenze der menschlichen Erkenntnis konstituiert, denn für den Verstand ist es erforderlich, das sinnliche Gegebene sukzessiv zu verbinden. Diese letztere Bedeutung der Endlichkeit dürfen wir nicht übersehen, insbesondere für das Verstehen der Metaphysikkritik und -bildung Kants.

1.2 Transzendenz als Naturanlage der menschlichen Vernunft

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Verstand als ein anderes begriffliches Vermögen des Menschen unterschieden hat – eine Unterscheidung, die man zwar auch Vorgänger in der Geschichte sehen kann, aber in solchem Sinne erst bei Kant antrifft.23 Im laufenden Abschnitt werde ich also zunächst das Faktum des Überschritts bzw. der Transzendenz kurz skizzieren, und dann dieses Faktum nach Kants Argument auf die Grundverfassung der Vernunft gründen.

1.2.1

Das Grundfaktum der Tendenz zur Überschreitung der Grenze

Man sieht leicht ein, nicht bloß bei den Philosophen allein, sondern bei „alle[n] Menschen“ (KrV A 831/B 859), dass die Menschenvernunft sich mit der sinnlichen Erfahrung nicht begnügt und immer die Fragen stellt, für die sich gar keine Antworte aus unserer sinnlichen Erfahrung ergeben können. Existiert ein Gott? Ist die Seele des Menschen unsterblich? Hat die Welt einen Anfang, vor dem nichts vorhanden ist? Diese sind Fragen, deren Gegenstände offenbar die Erfahrung transzendieren. Auch für die unkritische oder genauer vorkritische Menschenvernunft ist es klar, dass man für den Begriff Gottes, der immateriellen Seele und des Weltanfangs über keine korrespondierende Anschauung verfügt. Da nun also keine durch die Erfahrung beweisbaren Antworten auf diese Fragen ausgegeben werden können, gerät man in die „endlose Streitigkeit“ (KrV A VIII), wo die Angreifer nur 23 Unterscheidung verschiedener Arten des Denkens befindet sich schon bei Platon, und zwar zwischen δι£νoια und νoàς – soweit das Denken nur als ein menschliches Vermögen betrachtet wird. „Dianoia“ bezeichnet das in der Mathematik operierende, partiell wahrnehmungsbezogene Denken, das diskursiv von den Vorausgesetzten (™ξ Øπoθšσεων) zu dem Ziel oder der Konklusion (τελευτ»ν) verfährt, während der Nous nur mit den reinen Ideen (αÙτo‹ς ε‡δεσι) dialektisch fortfährt und das Wesen des Dings erfasst, ohne alle Hilfe von dem Bildlichen (¥νευ τîν … ε„κÒνων) (vgl. Platon, Respublica, 510 b). In der Tradition Platons stehend nimmt Aristoteles diese Unterscheidung auf (Aristoteles, De Anima, 430 a26–38). Beide Arten des Denkens darf man gewissermaßen in heutigem Sinne als diskursives Denken interpretieren, obwohl der Nous immer wahr und gegen Fehler immun sei (vgl. Klaus Oehler, Die Lehre vom Noetischen und Dianoetischen Denken bei Platon und Aristoteles. Ein Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Bewusstseinsproblems in der Antike, Hamburg 2 1985). Obwohl die Differenz des platonisch-aristotelische Begriffspaar Dianoia/Nous von dem kantischen Verstand/Vernunft nicht schwer einzusehen ist, ist die Gemeinsamkeit nicht übersehbar, nämlich dass sowohl der Dianoia als auch dem Nous irgendwie Diskursivität zugeschrieben werden kann, sowie dem Verstand und der Vernunft bei Kant. Entfernter von Kant aber stehen die Philosophen im Mittelalter, wenn sie zwischen ratio und intellectus unterscheiden und dem letzteren als geistige Intuition verstehen. (Ich nehme nur Thomas von Aquin als Beispiel, vgl. z. B. die Beschreibung von beiden in Summa Theologiae, Pars 1, Questio 79, Articulus 8).

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dann „den Siegeskranz“ tragen können, wenn sie „den letzten Angriff zu tun das Vorrecht haben, und nicht verbunden sind, einen neuen Anfall des Gegners auszuhalten“, und der Verfechter nur dadurch seinen Platz behalten kann, dass „seinem Gegner verboten wurde, fernerhin Waffen in die Hände zu nehmen“ (KrV A 423/B 450 f.). Jene Fragen, die über die Grenze der Erfahrungserkenntnis hinausgehen, sind metaphysische. Sie richten sich auf unerfahrbare Gegenstände, die sich ihrerseits aber oft auf etwas beziehen, was unserer Erfahrung zugrunde liegt. Aus den oben genannten Umständen der endlosen Streitigkeit lässt sich allerdings feststellen, dass die metaphysische Erkenntnis noch nicht als wissenschaftlich vorhanden ist. Ihr fehlt bei den Philosophen die mindeste Einhelligkeit für die Grundfragen danach, wie die Metaphysik überhaupt für uns möglich ist und mit welcher Methode die Metaphysik ihre Ansprüche erfüllt. Man kann sogar darin miteinander nicht übereinstimmen, was eigentlich für Gegenstände der Metaphysik gehalten werden soll.24 Dennoch ist sie „in gewissem Sinne … als gegeben anzusehen“, weil die menschliche Vernunft „unaufhaltsam … durch eigenes Bedürfnis getrieben bis zu solchen Fragen“ fortgeht (KrV B 21). Diese Naturtendenz der Vernunft, die transzendenten Fragen aus eigenem Interesse oder sogar Bedürfnis nicht allein zu stellen, sondern auch dabei immer zu versuchen, auf diese Fragen Antworten zu geben, bezeichnet Kant als „Naturanlage“ der menschlichen Vernunft (KrV B 21), mit der Kant die Metaphysik verbindet. Mit dem Ausdruck „Naturanlage“ wird die Tendenz der menschlichen Vernunft, mit den transzendentalen bzw. metaphysischen Fragen beschäftigt zu bleiben, als ein Grundfaktum derselben angesehen. Die Unvermeidlichkeit dieses Faktums zeigt sich besonders darin, dass sich solches transzendente Bedürfnis auch bei denjenigen befindet, die sich als diesen Fragen gegenüber indifferent ausgeben.25 Obwohl die Metaphysik also in eine unentschiedene Situation gerät und man wenige „Fortschritte“ derselben in der Geschichte sehen kann, darf man alle 24 „Wenn man sagte: Metaphysik ist die Wissenschaft von den ersten Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, so bemerkte man dadurch nicht eine ganz besondere Art, sondern nur einen Rang in Ansehung der Allgemeinheit, dadurch sie also vom Empirischen nicht kenntlich unterschieden werden konnte; denn auch unter empirischen Prinzipien sind einige allgemeiner, und darum höher als andere, und, in der Reihe einer solchen Unterordnung (da man das, was völlig a priori, von dem, was nur a posteriori erkannt wird, nicht unterscheidet), wo soll man den Abschnitt machen, der den ersten Teil und die obersten Glieder von dem letzten und den untergeordneten unterschiede?“ (KrV A 843/B 871) 25 „Es ist nämlich umsonst, Gleichgültigkeit in Ansehung solcher Nachforschungen erkünsteln zu wollen, deren Gegenstand der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein kann. Auch fallen jene vorgeblichen Indifferentisten, so sehr sie sich auch durch die Veränderung der Schulsprache in einem populären Tone unkenntlich zu machen gedenken, wofern sie nur

1.2 Transzendenz als Naturanlage der menschlichen Vernunft

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metaphysische Absicht dennoch nicht einfach als unnütz und sinnlos wegschaffen und bloß bei den Erfahrungserkenntnissen stehenbleiben.26 Vielmehr muss die Selbstkritik der Vernunft auf die Wurzel dieses Bedürfnisses eingehen, und nur aufgrund dessen kann man über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Metaphysik entscheiden.

1.2.2

Die Vernunftideen: Das Unbedingte und das Übersinnliche

Während unsere objektive Erfahrung vom Sein der Dinge dadurch möglich ist, dass der Verstand vermittels der objektivierenden Funktion der transzendentalen Apperzeption seine reinen Begriffe auf das sinnliche Gegebene der Anschauung anwendet und dieses mithin bestimmt, sieht Kant den Ursprung der Transzendenz bzw. der metaphysischen Naturanlage des Menschen in der Grundverfassung der Vernunft, die Kant als ein weiteres begriffliches Vermögen scharf von dem Verstand unterscheidet,27 – ohne jedoch ihren Zusammenhang zu leugnen. Im Vergleich zu dem Verstand, der als Vermögen zu urteilen respektive Vermögen der Regeln bezeichnet wird, ist die Vernunft dagegen das Vermögen zu schließen respektive das Vermögen der Prinzipien (vgl. KrV A 299/B 356). Der Ausdruck „Vermögen mittelbar zu schließen“ (KrV A 299/B 355) kennzeichnet ursprünglich die logische Funktion der Vernunft im mittelbaren Schluss, in dem man die Verbindung des Satzsubjekts mit dem Prädikat nicht direkt erkennt, sondern auf eine höhere und allgemeinere Regel zurückführt, so dass diese Verbindung als eine Konklusion aus anderen Sätzen (Prämissen) betrachtet werden muss. D. h. eine Erkenntnis kommt im Vernunftschluss vermittels der Subsumtion eines Besonderen unter die Bedingung der allgemeinen Regel zustande, die in dem sogenannten

überall etwas denken, in metaphysische Behauptungen unvermeidlich zurück, gegen die sie doch so viel Verachtung vorgaben.“ (KrV A X) 26 „Denn Metaphysik ist vielleicht mehr, wie irgend eine andere Wissenschaft durch die Natur selbst ihren Grundzügen nach in uns gelegt und kann gar nicht als das Product einer beliebigen Wahl, oder als zufällige Erweiterung beim Fortgange der Erfahrungen (von denen sie sich gänzlich abtrennt) angesehen werden.“ (Prol. AA 04:353) 27 Noch in der Dissertation 1770 wird der Begriff des intellectus sowohl den Verstand als auch die Vernunft umfasst. Kant ist sich allmählich der Notwendigkeit bewusst, den Unterschied zwischen beiden zu machen. Man kann solchen Unterscheidungsversuch am frühsten in Reflexion 4675 in Jahr 1775 sehen, vgl. AA 17:648–653. Dazu vgl. Allison, Kant’s Transcendental Idealism, New Haven/London 2 2004, p. 495 f. (Note 1).

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„Obersatz“ ausgedrückt wird.28 Durch diese Suche nach der höheren Allgemeinheit ist das Vermögen und die Verfahrensweise der Vernunft ausgezeichnet. Wenn die Vernunft ein Urteil immer nur in Bezug auf eine allgemeinere Regel zu begründen versucht, wird in ihrer Grundoperation ein Verfahren enthalten sein, das die jeweils gefundene Allgemeinregel wiederum als Begründungsbedürftig betrachtet und für sie noch weiter nach einer allgemeineren Regel sucht, und zwar nach einer Regel der Regel oder „Bedingung der Bedingung“ (KrV A 307/B 364). Dieses Verfahren des „Prosyllogismus“ bringt die Vernunft immer weiter, bis zu derjenigen Bedingung, die keiner weiteren Regel bedarf. Davon erhält man den Grundsatz der Vernunft im logischen Gebrauch, dem zufolge zu dem bedingten Verstandeserkenntnis das Unbedingte, als dessen vollständige Einheit, zu finden ist (ebd.). Darin wird schon der Anspruch der Vernunft auf Transzendenz sichtbar, und zwar auf den Überschritt zu einer unbedingten Bedingung. Dieser Grundsatz herrscht über die Grundoperation der Vernunft nicht nur in deren logischer Funktion, sondern auch in deren „realen Gebrauch“, und zwar in dem Fall, wo die Vernunft einen Gegentand dem Inhalt nach zu erkennen versucht. Während der diskursive Verstand den sinnlich gegebenen Gegenstand unter die Einheit der Verstandesbegriffe bringt, die sich in den Urteilsfunktionen der Erfahrung ausdrücken, betrachtet die Vernunft ein Seiendes immer als bedingt durch seine Bedingung, und im prosyllogistischen Verfahren schließlich als bedingt durch eine höchst geordnete, keiner weiteren Bedingung bedürftige Bedingung, nämlich durch ein Unbedingtes. Alle Erkenntnis des Seienden steht also vor den Augen der Vernunft immer im Verhältnis zu dem Unbedingten als ihrer obersten Bedingung. Der sich daraus ergebende Grundsatz der Vernunft in ihrem „reinen Gebrauch“, nämlich: „wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben“ (KrV A 307 f./B 364), drückt also den Vollständigkeitsanspruch der reinen Vernunft aus, nach dem sich die Vernunft vor allem mit dem Unbedingten beschäftigt. Mit dieser Verfahrensweise des „realen Gebrauchs“ nennt Kant die Vernunft nicht nur „Vermögen mittelbar zu schließen“, sondern auch „Vermögen der Prinzipien“ oder Vermögen zum „Begreifen“ (vgl. KrV A 311/B 368). Begreifen heißt hier, den Gegenstand in Bezug aufs höchste Prinzip bzw. das Unbedingte erkennen. So wie die Regeln des Verstandes sich in den Kategorien zeigen, werden die Einheitsprinzipien der Vernunft in den „Ideen“ ausgedrückt. Kant weicht dem

28 Durch diese Mittelbarkeit der Subsumtion unterscheidet sich der Vernunft- von dem Verstandesschluss, der zwar auch ein Schluss ist, aber nicht vermittelst einer Subsumtion, sondern unmittelbar durch die „Veränderung der bloßen Form“ und die „Beibehalten der Materie“ des anderen Urteils (vgl. Logik AA 09:115), wie z. B. in dem Schluss, wo man aus dem Satz „alle Männer sind Menschen“ direkt auf den Satz „einige Männer sind Menschen“ schließt.

1.2 Transzendenz als Naturanlage der menschlichen Vernunft

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neuzeitlichen Gebrauch des Terminus „Idee“ bei Descartes („idea“) und besonders bei Locke („idea“) ab, wo er als generelle Kennzeichnung der menschlichen Vorstellung überhaupt dient, und aktiviert direkt den Bedeutungsaspekt des „Übersteigens über die Möglichkeit der Erfahrung“ in demselben Terminus bei Platon („δšα) (vgl. KrV A 320/B 377). Freilich übersteigt die Idee bei Kant die Möglichkeit der Erfahrung nicht deswegen, weil sie wie bei Platon das unwahrnehmbare Wesen des Sinnlichen (das „Selbst“ desselben) in sich beinhaltet, sondern weil sie die allgemeinste und höchste Einheit und die unbedingte Totalität aller Verstandeserkenntnisse zur Sprache bringt (vgl. KrV A 322/B 379). Also besteht die Besonderheit des realen Vernunftgebrauchs darin, das schon gegebene Objekt aus der Idee bzw. aus der höchsten Einheit her zu erkennen. Dabei ist schon eine Forderung impliziert, zuerst den Gegenstand der Idee selbst bzw. die unbedingte Totalität als solche zu erkennen. Eben aus diesem Anspruch auf die Erkenntnis des Gegenstandes der Idee entstehen, so Kant, die oben genannten transzendenten Fragen des gemeinen Menschen nach dem Gott, der Unsterblichkeit der Seele, dem Weltanfang usw. Da aber, wie in dem vorherigen Abschnitt schon gezeigt und Kant zufolge eigentlich auch dem gemeinen Menschen bekannt, für unseren diskursiven Verstand nur die sukzessive Synthesis des in sinnlicher Anschauung Gegebenen möglich ist, können wir Menschen vor dem Verfahren der Synthesis keine synoptische Erkenntnis über die unbedingte Totalität aller Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten zustande bringen – außer wenn wir das Vermögen der intellektuellen Anschauung oder des intuitiven Verstandes besäßen, oder voraussagen könnten, dass die sukzessive Synthesis bestimmt endlich oder bestimmt unendlich wäre, was uns aber unmöglich ist. So macht der totalitäre Gegenstand, wie gesagt, eine Grenze unseres Erkenntnisvermögens, und von einem derartigen Gegenstand haben wir nur leere Begriffe, die Kant mit „Noumena“ bezeichnet. Die Erkenntnis der Ideen und ihrer Gegenstände ist darum ein Überschritt des Menschen, in dem die metaphysischen Versuche des Philosophen bestehen. ∗ ∗ ∗

1.2.3

Exkurs: übersinnlich vs. Unbedingt vs. intelligibel

Bemerkenswert dabei ist, dass Kant später den neuen Ausdruck des „Übersinnlichen“ einführt, um mit ihm die Ideen und deren Gegenstände in meisten Fällen zu charakterisieren, obwohl der Terminus des „Unbedingten“ nicht deswegen in Kants Texten verschwindet. Der Begriff „übersinnlich“ oder substantiviert „das

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Übersinnliche“ kommt zwar in der Zeit Kants schon ab und zu vor29 , aber Kant selber hat diesen Begriff erst ab dem Jahr 1786 verwendet, also 5 Jahre nach der ersten Erscheinung der Kritik der reinen Vernunft, genauer in zwei Schriften: „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“ (AA 08:131–147, zum Terminus vgl. z. E. 08:133 f., 08:142 f.) und „Einige Bemerkungen zu L. H. Jacobs Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden“ (AA 08:149–155, zum Terminus vgl. 08:151). Der erstmalige Auftritt dieses Worts in den beiden genannten Texten, die sich auf den damaligen „Pantheismusstreit“ beziehen, lässt uns vermuten, dass Kant diesen Terminus zunächst zur der Reaktion auf die Gegner seiner eigenen Philosophie gebraucht. Trotzdem ist aber auch ganz klar, dass Kant diesen Ausdruck außerdem und de facto in erster Linie zur eigenen Theoriebildung dienlich macht30 , und zwar zur Kennzeichnung des Bereiches der Gegenstände der Ideen, wie es sich in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787) sowie überall in der zweiten und dritten Kritik zeigt, ganz zu schweigen von Kants neuer Definition der Metaphysik mit dem Terminus des „Übersinnlichen“ in seiner Preisschrift. Die Tatsache, dass Kant die Gegenstände der Ideen in seiner späten Zeit mehr mit dem „Übersinnlichen“ als mit dem „Unbedingten“ bezeichnet hat, darf meines Erachtens darauf zurückgeführt werden, dass der Terminus „übersinnlich“ besser ausdrücken kann, was Kant mit den „Ideen“ meint. Nach näheren Betrachtungen lassen sich die Unterschiede zwischen den beiden Ausrücken „übersinnlich“ und „unbedingt“ wie folgend erklären: (1) Dem Bedeutungsinhalt nach ist das Unbedingte von der „Totalität aller Bedingungen“ her zu verstehen und selber als eine höchste Bedingung zu einem Bedingten dienlich. Das Übersinnliche besagt dagegen nur die „Übersteigung über alle sinnliche Grenze“, und zwar um eine Bedeutung von dem 29 Nach Anselm Model wurde der Terminus „übersinnlich“ zum ersten Mal von Jacob Böhme im Traktat „De vita mentali oder von übersinnlichen Leben“ (1622) gebraucht. Siehe Anselm Model: „Zu Bedeutung und Ursprung von ,übersinnlich‘ bei Immanuel Kant“. In: Archiv für Begriffsgeschichte 30 (1986/87), S. 183–191, besonders S. 184 und die Fußnote N. 5 über Böhme. Aber als philosophischer Fachterminus wird das Wort „übersinnlich“ erst bei Kant verwendet. Dazu vgl. Clemens Schwaiger, „Denken des ,Übersinnlichen‘ bei Kant. Zu Herkunft und Verwendung einer Schlüsselkategorie seiner praktischen Metaphysik“, in: N. Fischer (hrsg.), Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, Kant-Forschung Bd. 15, Hamburg 2004, S. 331–345. 30 Nach dem erstmaligen Gebrach dieses Begriffs taucht er in den veröffentlichen Texten Kants 237mal. Siehe Schwaiger, Clemens: „Denken des ,Übersinnlichen‘ bei Kant. Zu Herkunft und Verwendung einer Schlüsselkategorie seiner praktischen Metaphysik“. In: Kants Metaphysik und Religionsphilosophie. Hrsg. von Nobert Fischer. Hamburg 2004, S. 331–345, hier S. 333.

1.2 Transzendenz als Naturanlage der menschlichen Vernunft

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„Übergeordnetsein“ mehr als das bloße „Nichtsinnliche“. Es bleibt bei dem „Übersinnlichen“ unausgemacht, ob es positiv auf das Sinnliche Bezug nimmt, und wenn ja, was für ein Bezug es sein soll, wie eine Bedingung oder Grund zu dem Sinnlichen oder anders. Beide Termini sind also vor allem inhaltlich voneinander unterschieden. (2) Auch dem Umfang nach ist das Unbedingte nicht mit dem Übersinnlichen gleichzusetzen. Einige Dinge, die wir „Übersinnliche“ nennen können, sind nicht „unbedingt“, wie z. B. das höchste in der Welt zu verwirkliche Gut, das zwar übersinnlich ist, aber durch das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele bedingt. Umgekehrt ist aber jedes Unbedingte übersinnlich – sogar auch die unbedingte Totalität der ins Unendliche gehenden Synthesis aller Bedingungen zu einem Gegebenen (wie z. B. die Welt ohne zeitlichen Anfang) ist als solche übersinnlich, obwohl alle Bedingungsglieder darin als sinnlich betrachtet werden sollen. Mit diesen Inhalts- und Umfangsunterschieden kann man leicht einsehen, dass der Terminus „übersinnlich“ in der Kennzeichnung des Gegenstandes der Idee einen flexibleren Charakter hat im Vergleich zu dem „Unbedingten“. In dem Fall, wo das Bedingungsverhältnis zwischen dem Gegenstand der Idee und dem der Erfahrung nicht gerechtfertigt werden kann, darf man noch mit dem Begriff des Übersinnlichen eine andersartig organisierte Rede von dem Verhältnis zwischen beiden weiter führen – dies ist eben diejenige Situation, die Kant wirklich konfrontiert hat, nachdem er in der Dialektik der Kritik der reinen Vernunft das Scheitern der schulmetaphysischen Beweise für die objektive Realität des Bedingungsverhältnisses zwischen dem Erfahrungsgegenstand und der Vernunftideen dargestellt hatte. Der Bedeutung nach hat der Begriff „übersinnlich“ Ähnliches mit dem Ausdruck „intelligibel“, da beide etwas bezeichnen, was dem Sinne nicht zugänglich ist; d. h. beide stehen in direktem Gegensatz zu dem „Sinnlichen“. Aber zwischen beiden lässt sich auch Differenz entdecken. „Intelligibel“, bei Kant als lateinischdeutsche Übersetzung des griechischen ν oo´ μενoν oder latinisierten noumenon,31 ist dasjenige Ding oder diejenige Eigenschaft, was durch ein intellektuelles Vermögen allein vergegenständlicht werden kann, also kein Gegenstand der Sinne (vgl. KrV A 257/B 313, A 538/B 566). Daher ist das „Intelligible“ eine Kennzeichnung aus dem Vermögen her, dem es zugänglich ist. Im Begriff des „Übersinnlichen“ ist dagegen zwar die negative Bedeutung von „nicht-sinnlich“ enthalten, die positive 31 Z. B. „intelligibele[n] Substanzen (substantiae noumena)“ (KrV A 276/B 332), „intelligible[m] Charakter (virtus Noumenon)“ (Religion AA 6:47) und „intelligibele[m] Besitz (possessio noumenon)“ (MSR AA 6:255; vgl. MSR AA 6:268; MSR AA 6:273)

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von „vergegenständlicht durch ein intellektuelles Vermögen“ aber nicht. Außerdem fehlt bei dem „Intelligiblen“ der Sinn „dem Sinnlichen übergeordnet sein“, der sich im „Übersinnlichen“ unmittelbar zeigt. Mit anderem Wort bezeichnet der Ausdruck des „Intelligiblen“ noch keine Beziehung auf das Sinnliche. Weil aber Kant die Möglichkeit der Metaphysik, als der Naturtendenz der Transzendenz im Menschen, erklären will, wobei ein gewisser Bezug der Gegenstände der Ideen auf das Sinnliche mitgedacht werden soll (wie ich im nächsten Kapitel über „die Philosophie nach dem Weltbegriff“ und die „eigentliche Metaphysik“ weiter entfalten werde), ist der Ausdruck „übersinnlich“ im Gebrauch der Charakterisierung solcher Gegenstände angemessener als der des „Intelligiblen“. Vermutlich kann ferner der Bedeutungsaspekt der „Vergegenständlichung durch ein gewisses intellektuelles Vermögen“ etwa Missverständnis erwecken, als ob Kant wieder einmal die schulmetaphysischen „intelligiblen Substanzen“ in Diskussion ziehen wollte, was Kant in seinem Projekt der „eigentlichen Metaphysik“, insbesondere in der Rede von „praktisch-dogmatischen Erkenntnis des Übersinnlichen“, zu vermeiden versucht hat.32 Ich möchte in diesem Abschnitt nur die Naturanlage der Transzendenz im Menschen und ihre Wurzel in der Beschaffenheit der Vernunft nach Kants Argument kurz beschreiben, um den Boden für weitere Erörterung des kantischen Metaphysikbegriffs zu bereiten. In der Tat steht für Kant die Möglichkeit der Transzendenz bzw. der Metaphysik in einem facettenreichen Verhältnis zur Endlichkeit in der Natur des Menschen. Auf den ersten Blick setzen sie beide sich einander entgegen, denn die Erfüllung der Tendenz des Überschritts scheint die Endlichkeit überwinden zu müssen. Aber andererseits wäre von irgendeiner berechtigen Transzendenz keine Rede, wenn die menschlichen Erkenntnisvermögen nicht kritisch auf den Bereich der Erfahrung beschränkt würde, oder, wenn man frei von allen sinnlichen Bedingungen der Erkenntnis ein ganz selbständiges Ding an sich betrachten könnte. Wenn wir uns, so sagt Kant, an den Schein des „transzendentalen Realismus“ hielten, wo die Begrenztheit der erkennenden Natur des Menschen außer Betracht blieben, würde weder die Freiheit noch die Natur möglich sein (vgl. KrV A 543/B 571). Denn wir würden alsdenn in eine unauflösbare Antinomie geraten. Zu diesem Punkt gehe ich im Kap. 3 wieder zurück. Die Transzendenz und ihre Gegenstände als die von den Kategorien unterschiedenen Vernunftideen zu erfassen, ist die Besonderheit der kantischen Philosophie und auch ein entscheidender Beitrag, den Kant zum Thema der Möglichkeit und 32 Vgl.

dann Abschn. 2.2 der vorliegenden Arbeit.

1.3 Das Seinsproblem und die„objektive Realität“ …

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des Wesens der Metaphysik überhaupt geleistet hat. Kant sagt ganz deutlich, dass ohne die Unterscheidung der Ideen von den Kategorien die Metaphysik entweder „schlechterdings unmöglich oder höchstens ein regelloser stümperhafter Versuch ist, … ein Kartengebäude zusammenzuflicken“ (Prol. AA 04:329). Kant hat zwar die Vernunftideen als die „bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien“ gedeutet, aber soll der Unterschied zwischen beiden auf jeden Fall betont werden, insbesondere wenn das Problem der Metaphysik betroffen wird. Die Kategorien sind syntaktisch betrachtet allgemeinste Bestimmungen des Dings überhaupt und als solche die generellen Prädikate von allem, was in der Stelle des Satzsubjekts stehen und als Seiendes betrachtet werden kann. Die Ideen hingegen, da sie die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten zum Gegenstand machen, beziehen sich auf die „kollektive Einheit“ (Prol. AA 04:328) dessen, dem wir in der Erfahrung als Phänomen begegnen. Sie werden, als solche „Einheit“, selbst vergegenständlicht und dienen nicht mehr als Prädikate zu einem Ding, sondern selbst als Satzsubjekte (z. B. die „Seele“, der „Weltanfang“, der „Gott“), sofern es überhaupt möglich ist, dass von ihnen ausgesagt wird, sie seien so oder so. Daher darf Kant von dem „Gegenstand in der Idee“ reden (KrV A 670/B 698), aber für die Kategorien nur von ihren „Anwendungsbedingungen“ oder ihren „Schemata“, niemals von dem „Gegenstand“ einer Kategorie als solchem. Die Kategorien sind nämlich vergegenständlichend, werden aber nicht vergegenständlicht bzw. hypostasiert. Diese von Kant nur angedeutete, nicht ausgeführte Unterscheidung zwischen Kategorien und Ideen aus der syntaktischen Perspektive scheint zwar relativ oberflächlich zu sein, aber sie kann für die Entfaltung der Problematik der Metaphysik bei Kant Aufschlussreiches hervorbringen. Dies zeigt sich schon in dem Problem der „objektiven Realität“ der Begriffe, das ich im nächsten Abschnitt besprechen werde.

1.3

Das Seinsproblem und die„objektive Realität“ der apriorischen Begriffe

Durch die obigen kritischen Betrachtungen kann sich die zweifache Natur des menschlichen Erkennens als der spannungsvolle Spielraum für jede mögliche Metaphysik überhaupt erweisen, der zwischen Endlichkeit und Transzendenz steht. Metaphysik soll nunmehr einerseits als „Metaphysik des Endlichen“, im Sinne des genitivus subjectivus, und andererseits als „Metaphysik der Transzendenz“, im Sinne des genitivus objectivus, bestimmt werden. Diese Rolle der menschlichen Natur als solchen Spielraums wird ersichtlicher durch das, was Kant mit dem Problem der „objektiven Realität“ der Begriffe kennzeichnet.

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1

Der Spielraum möglicher Metaphysik: die endliche …

In dem Abschn. 1.1 wird schon gedeutet, dass wir Menschen von dem Sein nur des Seienden im Sinne des Phänomens gerechtfertigt sprechen dürfen, und dass wir über das Sein sowohl als An-sich-Sein wie auch als Ganzheit, mit einem Wort, über das Sein des Noumenon, keine theoretische Erkenntnis haben. Auch die Rede vom Sein eines Phänomens kommt nur unter den Bedingungen der Zusammenarbeit des objektivierenden Verstandes mit der sinnlich-empirischen Anschauung zustande. Diese Deutungen haben sich aus der Perspektive von den Beschaffenheiten der menschlichen Erkenntnisvermögen und der Endlichkeit derselben ergeben. In dem laufenden Abschnitt werde ich mit dem kantischen Ausdruck der „objektiven Realität der Begriffe“ weiter erklären, mit welchem ontologischen Ausgangsund Gesichtspunkt das Seinsproblem bei Kant erörtert werden soll. Dies bezieht sich nicht nur auf die Endlichkeit, sondern auch auf die Tendenz zum Überschritt in der Naturanlage des menschlichen Erkennens. Den Begriff des Seins erörtert Kant mit der Differenz zwischen dem logischen und dem realen Prädikat. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Seinsbegriff von anderen Prädikaten, weil durch ihn dem Ding, das er prädiziert, nichts Inhaltliches hinzugefügt wird; das heißt, das Sein ist „kein reales Prädikat“ (KrV A 598/B 626). Der Seinsbegriff kann entweder als Kopula fungieren, die das inhaltliche Prädikat mit dem Subjekt verbindet, („S ist p“) oder als die existenzielle Prädikation, die mit sich selbst allein das Satzsubjekt prädiziert (z. B. „S ist“). In dem ersten Fall „setzt“ der Seinsbegriff „das Prädikat beziehungsweise aufs Subjekt“; im zweiten aber „setze ich kein neues Prädikat zum Begriff“ des Subjekts, „sondern nur das Subjekt an sich selbst mit allen seinen Prädikaten, und zwar den Gegenstand in Beziehung auf meinen Begriff“ (KrV A 599/B 627). In beiden Fällen steht aber der Gegenstand, der sich im Satzsubjekt ausdrückt, vermittels des Seinsbegriffs in einem Verhältnis zur Tätigkeit meines Verstandes, welche die beiden genannten Arten der „Setzung“ durchführt. In diesem Sinne sagt Kant, dass das Sein „bloß die Position eines Dings, oder gewisser Bestimmungen an sich selbst“ ist (KrV A 599/B 627). Mit dem uns zukommenden diskursiven Verstand allein kann etwas nur „durch den Begriff“ vorgestellt bzw. gedacht werden. Dieses bloße Gedacht-Sein durch den Begriff bedeutet nur, dass der Begriff nicht selbstwidersprechend und das im Begriff Gedachte kein nihil negativum sei.33 Es ist gut möglich, dass dieses Gedacht-Sein durch den Begriff ganz leer und ohne Gegenstand und als bloßes ens rationis zu betrachten ist; es sei denn, der dieses Sein denkende Begriff ist eines gewissen Bezugs auf das Gegeben-Sein durch die Anschauung (sei es a priori 33 Zum

Begriff des nihil negativum vgl. KrV A 291/B 348. Ich werde in Fußnote Nr. 35 in diesem Abschnitt zu diesem Punkt zurückkommen.

1.3 Das Seinsproblem und die„objektive Realität“ …

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oder empirisch) fähig. Dieses in der Zusammenarbeit des diskursiven Verstandes mit der Anschauung entwickelte Sein ist das Objektiv-Sein eines Begriffs, d. h., dieser Begriff ist kein leerer, sondern objektiv und hat einen Gegenstand, der irgendwie in der sinnlichen Anschauung dargestellt werden kann. Da sich die Darstellung in der Anschauung nicht von den Bedingungen der Sinnlichkeit befreien kann, ist das Objektiv-Sein eines Begriffs nicht mit dem An-sich-Sein eines Dings zu verwechseln, das von jenen Bedingungen unabhängig ist. Diese Unterscheidung des Objektiv-Seins eines Begriffs von dem bloßen Gedacht-Sein durch den Begriff einerseits und von dem An-sich-Sein eines Dings andererseits ist die ontologische Umschreibung von dem, was sich aus den kritischen Untersuchungen der Beschränktheit der Menschenerkenntnis ergibt, die von der scharfen Trennung zwischen Sinnlichkeit und Verstand im Menschen ausgeht.34 Das Objektiv-Sein eines Begriffs kann seinerseits entweder als Möglichsein oder als Wirklichsein gedacht werden. Hinsichtlich dessen, was möglich ist, hat Kant die logische Möglichkeit von der realen unterschieden (vgl. KrV A 596/B 624 Anm.). Die logische Möglichkeit betrifft bloß die Widerspruchsfreiheit der Bestimmungen im Begriff, so dass der Gegenstand nicht zum nihil negativum wird; diese kann mit dem o. g. Gedacht-Sein durch den Begriff gleichgesetzt werden. Dabei wird nicht ausgemacht, ob der Gegenstand dieses Begriffs real möglich ist, d. h., „auf Prinzipien möglicher Erfahrung … beruht“ (ebd.).35 Nur die reale 34 Was das bloß durch die sinnliche Anschauung Gegebene bzw. Mannigfaltige angeht, da es noch gar keine Bestimmung in sich enthält, wird ihm keine Rede von „Sein“ zugeschrieben. 35 Eine „geradlinige Figur von zwei Seiten“, die in Kants Erörterung des Nichts-Begriffs als Beispiel für nihil negativum dient (vgl. KrV A 291/B 348), ist in der Tat kein Beispiel für den Widerspruch innerhalb des Begriffs, wie Kant erwartet, sondern für einen Widerspruch zwischen dem Begriff und der Konstruktion desselben in unserer sinnlichen Anschauung. (Daran erinnert mich E. Vollrath, „Kants These über das Nichts“, in: Kant-Studien, 1970, S. 58. Ausführlicher zu diesem Thema vgl. G. Martin, „Das gradlinige Zweieck, ein offener Widerspruch in der Kritik der reinen Vernunft“, in: Tradition und Kritik, Festschrift für R. Zocher, hg. W. Arnold, H. Zeltner, Stuttgart 1967, S. 229–235.) Man sieht bei Wolff dasselbe Beispiel dafür, wo der Begriff einen Widerspruch in sich enthält und der Gegenstand des Begriffs mithin ein Unmögliches (impossibile) ist. (Vgl. Chr. Wolff, Philosophia Prima sive Ontologia, § 79.) Vielleicht hat Kant es direkt von Wolff aufgenommen, ohne darüber zu reflektieren, dass es für seinen eigenen ontologischen Rahmen eigentlich nicht angemessen ist. Interessant ist, dass Kant selber in der Tat schon den wahren Grund der Widersprüchlichkeit im Begriff des gradlinigen Zweiecks deutlich erwähnt und begründet hat, als er in einer frühen Textpassage der Kritik von dem Grundsatz des Möglichkeit-Postulats sprach: „So ist in dem Begriffe einer Figur, die in zwei geraden Linien eingeschlossen ist, kein Widerspruch, denn die Begriffe von zwei geraden Linien und deren Zusammenstoßung enthalten keine Verneinung einer Figur; sondern die Unmöglichkeit beruht nicht auf dem Begriffe an sich selbst, sondern der Konstruktion desselben im Raume, d. i. den Bedingungen des Raumes und der

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Der Spielraum möglicher Metaphysik: die endliche …

Möglichkeit dient zur Charakterisierung eines Modus dessen, was wir hier mit „Objektiv-Sein“ bezeichnen wollen. Und auch nur die reale Möglichkeit korrespondiert dem, was Kant im ersten „Postulat des empirischen Denkens überhaupt“ ausdrücklich gemacht hat: „Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich.“ (KrV A 218/B 265) Dies besagt, dass das mögliche Objektiv-Sein, außer der Bestimmung der logischen Widerspruchsfreiheit, noch mit den formalen Bedingungen der Anschauung, genauer mit der Zeit und dem Raum als den apriorischen Formen der sinnlichen Anschauung des Menschen verbunden werden muss. Deswegen bezieht sich das reale Möglichsein des Gegenstandes unbedingt auf etwas außer dem bloßen Begriff, hier auf die Form der Anschauung. Der Unterschied der realen von der logischen Möglichkeit fungiert daher als eine ontologische „Warnung, von der Möglichkeit der Begriffe (logische) nicht sofort auf die Möglichkeit der Dinge (reale) zu schließen“ (KrV A 596/B 624 Anm.) – eine Warnung vor dem in der damaligen Schulphilosophie üblichen Denkverfahren. Es lässt sich hier nicht schwer einsehen, dass das Außer-dem-Begriff-Sein in der realen Möglichkeit besagt nur, dass der Begriff irgendeinen Inhalt hat und nicht leer ist. Die Behauptung einer „Außerwelt“ wird hier keineswegs vorausgesetzt. Der Attribut „real“ im Ausdruck der „realen Möglichkeit“ erinnert uns vielmehr an dem lateinischen Begriff „realitas“ in der Schulphilosophie, der die Sachhaftigkeit bedeutet. Der Inhalt bzw. das Gegenstand-Sein ist deswegen „außer“ dem Begriff, weil er seinem Grund nach unabhängig von dem Begriff als solchem ist. In dem hiesigen Fall kommt der Inhalt von der Form der Anschauung her, oder genauer, von dem Bezug auf diese Form.36 Bestimmung desselben, …“ (KrV A 220/B 268) Das besagt schon, dass die Widersprüchlichkeit des Begriffs bzw. die Unmöglichkeit seines Gegenstandes aus der Beschaffenheit der Form unserer Sinnlichkeit erklärt werden soll. Wenn die Form unserer Sinnlichkeit (die Raum-Anschauung) nicht so beschaffen wäre, oder sofern wir die Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit nicht in Betracht ziehen, dann kann es auch sein, dass ein gradliniges Zweieck logisch (und zwar begrifflich) möglich ist. Meines Erachtens ist Kants Zuordnung des gradlinigen Zweiecks o. Ä. zu dem nihil negativum in A 291/B 348 schwer zu verteidigen; im Vergleich dazu wird seine Erklärung in A 220/B 268 offenbar aus eingehenderem Nachdenken ergeben. In diesem Sinne ist die Konstruierbarkeit des Begriffs in der Anschauung als das Merkmal und Kriterium der realen Möglichkeit desselben anzusehen. Für ein gradliniges Zweieck kann die Rede von dem bloßen Gedacht-Sein durch den Begriff sein, aber nicht vom Objektiv-Sein des Begriffs. Und Begriffe wie z. B. eines Zentauren oder eines Einhorns sind dagegen sowohl logisch wie auch real möglich, weil sie den Bedingungen der Sinnlichkeit und des Verstandes nicht widersprechen, obwohl wir einem solchen noch nicht in der wirklichen Erfahrung begegnen. 36 Hier ist kurz zu bemerken, dass nicht alles „Außer-dem-Begriff-Sein“ sich unbedingt auf die Anschauung beziehen; d. h., das Äußere des Begriffs ist nicht unbedingt die Sinnlichkeit

1.3 Das Seinsproblem und die„objektive Realität“ …

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Das Wirklichsein als ein anderer Modus des „Objektiv-Seins eines Begriffs“ wird, im Rahmen der Analyse der Grundsätze der Erfahrbarkeit, aus dem Zusammenhang „mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung)“ erklärt (KrV A 218/B 265), und diese Empfindungsverbundenheit kann entweder unmittelbar durch eine Wahrnehmung oder mittelbar – nach den Grundsätzen der „Analogie der Erfahrung“ – geschehen (vgl. KrV A 225/B 272). Das Wirklichsein eines Gegenstandes steht also im Verhältnis zu einem nicht bloß formalen, sondern mit Materie erfüllten Sein außer dem Begriff, oder mit Kant zu sagen, zu einer „empirischen Anschauung“. Man muss aus dem Begriff „herausgehen“, um einem Gegenstand „die Existenz zu erteilen“ (KrV A 601/B 629). Hier kommt das AußerSein oder der Inhalt (realitas) offensichtlich von der sinnlichen Anschauung her, und zwar von einem anschauliche Gegebenen a posteriori, entweder direkt oder indirekt. Das Außer-dem-Begriff-Sein als die Kennzeichnung des Objektiv-Seins eines Begriffs führt zu dem Problem der objektiven Realität der Begriffe, das in Kants Transzendentalphilosophie und insbesondere in seiner Metaphysik entscheidend ist. Der kantische Terminus der „objektiven Realität“ hat zwar ein lateinisches Korrelat realitas objectiva in der vormaligen Philosophie, ist aber mit dem letzteren keineswegs gleichbedeutend, der als das Vorgestellt-Sein eines Dings in einer Vorstellung zu verstehen ist.37 Für die kantische „objektive Realität“ ist aber der Bezug auf das Sein außer dem Begriff immer notwendig. Wir können zwar nach dem obigen Gesagten von der objektiven Realität für alle Arten der Begriffe sprechen. Aber bei Kant ist vor allem das Problem der objektiven Realität für die apriorischen Begriffe zu behandeln, die von der Erfahrung unabhängig sind. – Zum einen für die reinen Verstandesbegriffe. Dies wurde

oder Anschauung. Das Außer-Sein der übersinnlichen Gegenstände der praktischen Ideen, das ich mit Kant die praktisch-objektive Realität der Ideen nennt, kommt von der Vernunft selbst her. Es ist aber deswegen noch als „Außer-Sein“ zu betrachten, weil die Realität nicht einmal durch die Ideen allein gewonnen werden kann. 37 Descartes z. B. bestimmt in der zweiten Antwort zur Einwände gegen seine Meditationen die realitas objectiva als einen Modus der Sachhaftigkeit eines Dings, sofern es in einer idea erfasst wird: „Per realitatem objectivam ideae intelligo entitatem rei repraesentatae per ideam, quatenus est in idea. [Unter der objektiven Realität einer Vorstellung verstehe ich die Seiendheit des durch die Vorstellung repräsentierten Dings, sofern es in der Vorstellung ist. (Übersetzung von Y. X.)]“ (Meditationes de prima philosophia, in: Œuvres de Descartes, hrsg. von C. Adam u. P. Tannery, Bd. 7, S. 161.) Zur Grammatik dieses Terminus und sein Vergleich zu Descartes’ realitas objectiva vgl. Günter Zöller, Theoretische Gegenstandbeziehung bei Kant. Zur systematischen Bedeutung der Termini „objektive Realität“ und „objektive Gültigkeit“ in der „Kritik der reinen Vernunft“, Berlin u. New York, 1984, S. 54–56, 77–79.

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Der Spielraum möglicher Metaphysik: die endliche …

von dem „Skeptiker“ wie Hume veranlasst, welcher der Meinung ist, die apriorischen Begriffe wie „Substanz“ und „Kausalität“ brächten in sich nur subjektive Nützlichkeit für gewöhnlichen Gebrauch, hätten aber an sich keine objektiv-reale Gültigkeit. Dieser skeptische Einwand gegen die Verstandesbegriffe a priori betrifft die Objektivität der Erfahrungserkenntnis im Ganzen, und zwar die Frage, ob es uns überhaupt möglich und berechtigt ist, von dem „Sein“ des Seienden zu reden, sofern das „Sein“ im Gegensatz zu allen bloß subjektiven Gefühlen oder Meinungen steht. Zum anderen muss auch für die Vernunftbegriffe von dem Unbedingten und dem Übersinnlichen das Problem ihrer objektiven Realität behandelt werden, denn mit diesem Problem steht und fällt die Möglichkeit der Metaphysik, die ihre Wurzel in der Naturanlage der Transzendenz in der menschlichen Vernunft hat.38 Zu beiden Zwecken dürfen die betroffenen apriorischen Begriffe nicht leer und bloße Gedankendinge (entia rationis) sein. Die objektive Realität dieser apriorischen Begriffe des Verstandes sowie der Vernunft liegt in der Darstellbarkeit des „Außer-dem-Begriff-Seins“ ihrer Gegenstände. Die Differenz zwischen Kategorien und Vernunftideen aus der syntaktischen Perspektive, die wir im Abschn. 1.2 kurz erwähnt haben, zeigt sich nun deutlicher in den Darstellungsweisen des „Außer-dem-Begriff-Seins“. Die Kategorien sind allgemeinste Denkformen und prädikative Bestimmungen zu einem Ding überhaupt, und das Außer-Sein ihrer Gegenstände außer dem Begriff soll auf folgende Weise dargestellt werden, dass ihre Prädikationen zu dem Ding gerechtfertigt sind, d. h., die Bestimmungen, die durch sie ausgedrückt werden, dem Ding objektiv hinzukommen. Kant versucht in der transzendentalen Deduktion der Kategorien zu zeigen, dass die in den Kategorien enthaltenen apriorischen Bestimmungen für das, was in der Zeit und dem Raum gegeben wird, objektiv und berechtigt sind, denn sie dienen als diejenigen notwendigen Bedingungen, unter denen die raumzeitlichen Gegebenen zur einheitlichen Erfahrung verbunden werden können. Die Gegenstände der Ideen sind hingegen, wie oben gesagt, als Prädizierte (durch die Bestimmungen) statt als Prädizierende zu betrachten. So muss ihr Außerdem-Begriff-Sein sich entweder auf die formalen (den reinen Raum und die reine Zeit) oder auf die materialen Bedingungen (die Empfindungen) der sinnlichen Anschauung notwendigerweise beziehen – nach dem, was oben über das Möglichsein und Wirklichsein eines Dings gesagt worden ist. Aber da diese Gegenstände 38 Was die empirischen Begriffe dagegen angeht, ergibt sich für ihre objektive Realität keine große Schwierigkeit, da sie aus der Erfahrung herauskommen und ihnen der Bezug auf die Sinnlichkeit nicht fehlt. Probleme für diese Begriffe liegen vor allem darin, ob der ontologische Status ihrer Gegenstände (nämlich ihre objektive Realität) vermittels der empirischen Anschauung von der realen Möglichkeit zu der Wirklichkeit übergeht.

1.3 Das Seinsproblem und die„objektive Realität“ …

31

der Ideen als solche übersinnlich bzw. unbedingt sind, ist es unmöglich, dass wir bei ihnen denjenigen Bezug auf die formalen oder materialen Bedingungen der Sinnlichkeit antreffen, der sich bei den Erfahrungsbegriffen befinden kann. Die objektive Realität kann dann für alle Vernunftideen problematisch werden. Aber die Ideen sind Ausdrücke der Transzendenz, nämlich des Drangs nach der Erkenntnis der unbedingten bzw. übersinnlichen Gegenstände, der zur Naturanlage der Menschenvernunft gehört. Jeder mögliche Versuch, diesen Drang wegen der Problematisierung der objektiven Realität der Ideen skeptisch beiseite zu lassen, führt nur zur „Euthanasie der reinen Vernunft“ (KrV A 407/B 434).39 Aber wenn man umgekehrt trotz der Unfähigkeit des theoretischen Beweises der objektiven Realität noch den Überschritt zu den Gegenständen der Ideen unternimmt und das Außer-dem-Begriff-Sein dieser Gegenstände einfach behauptet, würde man in den Fanatismus und Aberglauben geraten. Der Konflikt, der zwischen dem Transzendenzbedürfnis und der Befriedigungs schwierigkeit besteht, bewirkt also die „Krankheit der Vernunft“ (Refl. 5073, AA 18:79), und, wenn die objektive Realität der Ideen noch immer ungelöst bliebe, würde die Vernunft in Gefahr der Selbstzerstörung kommen, weil sie sich eine „Transzendenz ins Nichts“ aufgäbe. Die objektive Realität der Ideen des Übersinnlichen ist also die Sache der Selbsterhaltung der menschlichen Vernunft oder der Abwendung der Zerstörungsgefahr derselben.40 Diese Notwendigkeit der Selbsterhaltung der Vernunft zeigt sich deutlicher in dem praktischen Bedürfnis derselben nach dem höchsten Gut, was ich in Kap. 4 ausführlicher thematisieren werde. Da nun die objektive Realität der Ideen problematisch wird, müssen wir eine neue Art und Weise finden, das Außer-dem-Begriff-Sein der Gegenstände der Ideen darzustellen, um das Bedürfnis der Vernunft nach ihrer Selbsterhaltung zu erfüllen. Davon hängt die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Metaphysik ab. Bevor ich auf die mögliche Auflösung dieses Problems eingehe, möchte ich im nächsten Kapitel zuerst thematisieren, was Kant eigentlich unter „Metaphysik“ versteht und wie dieses Problem mit der Grundfrage derselben zusammenhängt.

39 In

der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft redet Kant von „der Unmöglichkeit einer skeptischen Befriedigung der mit sich selbst veruneinigten reinen Vernunft“, vgl. KrV A 758 ff./B 786 ff. 40 „Dies [sc. die Realität des übersinnlichen Objekts] ist der causa extraordinarius, ohne welchen die praktische Vernunft sich nicht in Ansehung ihres notwendigen Zwecks erhalten kann.“ (Logik, AA 09:68 Anm.)

2

Die Endabsicht und Grundfrage der Metaphysik

Metaphysik wurde seit jeher als die „erste Philosophie“ bezeichnet. Bei Kant ist das, was er unter Metaphysik versteht, auch mit der Grundbestimmung der Philosophie eng verbunden, da die Metaphysik jedenfalls als ein Teil zur Philosophie gehört – egal ob und inwiefern die Metaphysik bei ihm die erste Philosophie ist und welche Stelle die Metaphysik in seinem philosophischen System einnimmt. Kant selber hat aber die Grundbestimmung der Philosophie nicht einfach von irgendeiner ihrer überlieferten Konzeptionen aufgenommen, sondern darüber von Grund aus erneut nachgedacht. Daher zeigt sich die Grundbestimmung der Philosophie nicht am Anfang seines kritischen Geschäfts, sondern als Resultat desselben, und zwar erst in der „Methodenlehre“ der Kritik der reinen Vernunft. Auf dem Grund des neuen Begriffs der Philosophie stellt sich die Grundfrage der Metaphysik, welche die kantische Konzeption der „eigentlichen Metaphysik“ wesentlich charakterisiert, die in Kants später Preisschrift zur Erscheinung kommt. Ich fange im Folgenden von dem neuen Begriff der Philosophie bei Kant an, den Kant in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft mit vielfachen Abgrenzungen gewinnt, um dann davon aus die Grundbestimmung sowie die Grundfrage der sogenannten „eigentlichen Metaphysik“ klar zu machen.

2.1

Philosophie als Wissenschaft„nach dem Weltbegriff“

Kant versteht sich in der Notlage, die Idee der Philosophie als Wissenschaft zu bestimmen, denn ohne „bestimmten Zweck“ und „sichere Richtschnur“ sei die Philosophie nicht in der Lage, die fremde und sogar eigene Verachtung gegen sie zu vermeiden (vgl. KrV A 844/B 872). Nachdem er in der „Elementarlehre“ der ersten Kritik die „Materialien“ des Systems der Vernunft ausführlich dargestellt hat, © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Y. Xie, Praktische Regulation der Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62252-0_2

33

34

2

Die Endabsicht und Grundfrage der Metaphysik

thematisiert er in der „Methodenlehre“, wo „die Bestimmung der formalen Bedingungen eines vollständigen Systems der reinen Vernunft“ zur Aufgabe gestellt wird (KrV A 707 f./B 735 f.), die neue Konzeption der Philosophie hinsichtlich ihrer verschiedenen Aspekte. Zur Entwicklung dieser neuen Konzeption ist maßgeblich, wie sich die Philosophie nicht allein vom mathematischen Erkenntnis- und Methodenideal befreit, das in der neuzeitlichen Auffassung der Philosophie herrscht, sondern auch von dem „Schulbegriff“ der Philosophie unterscheidet, der auf die „logische Vollkommenheit der Erkenntnis“ abziele (KrV A 838/B 866) – um schließlich zur Aufgabe zu kommen, die Philosophie nach dem „Weltbegriff“ zu bestimmen.

2.1.1 „Dogmatisch“: Philosophie als Erkenntnis aus bloßen Begriffen in Abgrenzung von der Mathematik Seit dem Anfang der Neuzeit pflegt man die Philosophie in der sog. rationalistischen Denkungsart so aufzufassen, dass sie sich methodisch nach dem Muster der Mathematik, manchmal genauer more geometrico,1 entfalten und sich systematisieren soll. Demzufolge orientiere sich die Philosophie an dem Ideal aus der Mathematik, um sich mit demonstrativer Evidenz zu entwickeln und folglich unbezweifelbare Überzeugungskraft zu besitzen. Dieses philosophische Ideal resultierte vor allem aus dem großen Erfolg, den die Mathematik in der Neuzeit für die menschliche Wissensentwicklung gebracht hat, wodurch eine Faszination auf den Philosophen ausgeübt wurde. Für diese Faszination hatte Kant einerseits auch Sympathie, indem er die Mathematik als „Stolz der menschlichen Vernunft“ bezeichnete (KrV A 464/B 492), weil sie uns „das glänzendste Bespiel“ einer erfahrungsunabhängigen, aber sich „von selbst glücklich erweiternden“ Wissenschaft geliefert hat (KrV A 712/B 740). Aber andererseits nimmt er von jener Faszination auch Abstand, weil er den Unterschied der beiden sowohl in der Methode als auch in dem Zweck berücksichtigt, im Vergleich zu denen der Unterschied der Gegenstände zwischen beiden Wissenschaften nur eine geringere Rolle spielt (vgl. KrV A 714 f./B 742 f.).2

1 Siehe zum Beispiel den Titel eines Anhangskapitels der Meditationes Descartes, „Rationes, dei existentiam et animae a corpore distinctionem probantes, more geometrico dispositae“, sowie den des Hauptwerks Spinozas, „Ethica, more geometrico demonstrata“ (Herv. von Y. X.). 2 Schon in der vorkritischen Schrift Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1764), wo Kant u. a. die metaphysische Gewissheit thematisiert hat, wird der Gewissheitsunterschied zwischen Mathematik und Philosophie in

2.1 Philosophie als Wissenschaft„nach dem Weltbegriff“

35

Beide Erkenntnisarten (sowohl die mathematische wie auch die philosophische) werden, im Gegensatz zu den empirischen Erkenntnissen aus anderen Wissenschaften, zwar in ihren reinen Gestalten prinzipiell als synthetische Sätze a priori formuliert, die also dem Ursprung nach von keiner Erfahrung abhängig sind. Aber in der Art und Weise, wie solche Sätze gebildet werden, unterscheiden sich die beiden Wissenschaften voneinander. Ein Satz der mathematischen Erkenntnis, sofern er informativ und folglich synthetisch ist, beruht auf der intuitiven „Konstruktion der Begriffe“, und zwar auf der apriorischen Darstellung der Begriffe in der Anschauung (vgl. KrV A 713/B 742). Aus dem bloßen Begriff der geraden Linie könnten wir beispielsweise das elementare mathematische Axiom, zwischen zwei Punkten sei nur eine gerade Linie, nicht ableiten. Vielmehr sollen wir eine Linie zwischen zwei Punkten in der Anschauung a priori ziehen und in diesem Sinne den Begriff der geraden Linie „konstruieren“, um dieses Axiom zu bilden. Die in der Anschauung vorgestellte einzelne Figur dient nur zum konkreten Ausdruck des allgemeinen Begriffs der geraden Linie und schadet weder der Allgemeinheit dieses Begriffs noch der Apriorität der Darstellung des ihm entsprechenden Gegenstandes.3 Auf solche Weise wird in der mathematischen Erkenntnis das Allgemeine im Besonderen oder im Einzelnen betrachtet, und die einzelne Figur fungiert als ein „Schema“ des Begriffs, wodurch dessen Gegenstand „allgemein bestimmt gedacht werden muss“ (KrV A 713/B 742). Kant nennt den Gebrauch der Vernunft bei der mathematischen Erkenntnis den „intuitiven“, der „durch die Konstruktion der Begriffe“ zustande kommt. Eben im Gegensatz zu dem intuitiven Vernunftgebrauch in der Mathematik zeichnet sich die Bestimmung der philosophischen Erkenntnis aus. Bei dieser wird ein Besonderes betrachtet, beispielsweise eine besondere Erfahrung, aber Bezug auf die Differenz der Erkenntnisarten zwischen beiden dargestellt. (Vgl. bes. Deutlichkeit, AA 02:276–279) Zu diesem Zeitpunkt sah er außerdem das analytische Verfahren als grundsätzlich für die Systembildung der Philosophie, was in der Kritik der reinen Vernunft nicht mehr vertreten wird. Zu diesem Problem vgl. Tonelli, G., „Der Streit über die mathematische Methode in der Philosophie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die Entstehung von Kants Schrift über die ,Deutlichkeit‘“, in: Archiv für Philosophie, 9, 1959, S. 37–66. Spezifisch zu der Abstandnahme Kants in dieser Schrift zu Wolffs mathematischer Methode hinsichtlich des Systembegriffs der Philosophie vgl. Hinske, N., Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik: Studien zum Kantschen Logikcorpus. Stuttgart- Bad Cannstatt 1998, § 19, S. 108 ff. 3 Es ist egal, ob die Konstruktion in der reinen Anschauung durch bloß Einbildung oder in der empirischen Anschauung, wie auf einem Papier, stattfindet, weil es dabei nur auf die „Handlung der Konstruktion des Begriffs“ ankommt, und die Abweichungen der wirklichen Figur von dem Begriff, wie z. B. die Krümmungen der Linie, bei diesem Fall gleichgültig ist. Vgl. KrV A 714/B 742.

36

2

Die Endabsicht und Grundfrage der Metaphysik

nicht als solche, sondern „im Allgemeinen“ (KrV A 714/B 742), d. h. nach dem allgemeinen Begriff. In dieser Betrachtung geht ein synthetischer Satz „aus lauter Begriffen“ hervor (KrV A 719/B 747), und Kant nennt dieses Verfahren der Philosophie den „diskursiven Vernunftgebrauch nach Begriffen“. Dabei spielt die Konstruktion der Begriffe in der Anschauung keine Rolle. Der Unterschied zwischen beiden Vernunftgebräuchen geht darauf zurück, was in einem Begriff a priori beinhaltet ist. Denn der apriorische Begriff kann entweder eine reine Anschauung,4 oder (statt einer a priori gegebenen Anschauung) nur die „Synthesis möglicher Anschauungen, die a priori nicht gegeben sind“, also die Synthesis möglicher Wahrnehmungen, enthalten (KrV A 719/B 747)5 . In dem ersten Fall kann man den Gegenstand des Begriffs in der Anschauung darstellen, und dies ist der intuitive Gebrauch der Vernunft; in dem zweiten aber betrachtet man den Gegenstand des Begriffs nur in abstracto, und zwar durch Begriffe, und bildet mithin synthetische Sätze, welche die „Regel“ enthalten, nach der „eine gewisse synthetische Einheit“ der Wahrnehmungen, die nicht a priori gegeben werden können, a posteriori und „empirisch gesucht werden soll“ (KrV A 720 f./B 748 f.). Dies ist der diskursive Vernunftgebrauch, wobei die synthetischen Sätze einen Begriff nicht a priori, sondern nur a posteriori und vermittels der Erfahrung darstellen können, die als solche aber nur nach jenen Sätzen möglich wird. Die philosophische Erkenntnis ist also ihrem Wesen nach kein „Mathema“ (und zwar kein apodiktischer synthetischer Satz aus Konstruktion der Begriffe), sondern „Dogma“, ein „direktsynthetischer Satz aus Begriffen“ (KrV A 736/B 764). Natürlich ist die Benennung „Dogma“ oder „dogmatisch“ hier keineswegs als ein abwertendes Wort wie „Dogmatismus“ zu verstehen, sondern auf das altgriechische δ´oγμα, „Lehrsatz“ zurückzuführen.6

4 Z.

E. beim Begriff des Triangels. E. beim Begriff der Kausalität, vgl. KrV A 722/B 750. 6 Vgl. Kants Formulierung in der Vorrede der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: „Die Kritik ist nicht dem dogmatischen Verfahren der Vernunft in ihrem reinen Erkenntnis, als Wissenschaft, entgegengesetzt (denn diese muß jederzeit dogmatisch, d. i. aus sicheren Prinzipien a priori strenge beweisend sein), sondern dem Dogmatism, d. i. der Anmaßung, mit einer reinen Erkenntnis aus Begriffen (der philosophischen), nach Prinzipien, so wie sie die Vernunft längst im Gebrauche hat, ohne Erkundigung der Art und des Rechts, womit sie dazu gelanget ist, allein fortzukommen. Dogmatism ist also das dogmatische Verfahren der reinen Vernunft, ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens.“ (KrV B XXXV) Natürlich verwendet Kant das Wort „dogmatisch“ auch in manchen Fällen der Kritik an dem Dogmatismus, wie z. B. in einem in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ergänzten Textstück: „deren Verfahren [sc. der Metaphysik] im Anfange dogmatisch ist, d. i. ohne vorhergehende Prüfung des Vermögens oder Unvermögens der Vernunft zu einer so großen Unternehmung zuversichtlich die Ausführung übernimmt.“ (KrV B 7) 5 Z.

2.1 Philosophie als Wissenschaft„nach dem Weltbegriff“

37

Man kann die Differenz der Vernunftgebräuche auch weiter auf die verschiedenen Elemente einer Erscheinung zurückführen, um das Verfahren des diskursiven Gebrauchs zu charakterisieren. Eine Erscheinung hat zwei Elemente, die Form der Anschauung (Raum und Zeit) und die Materie (Empfindung). Die erste kann „völlig a priori erkannt und bestimmt werden“, während die letztere ein nur durch empirische Anschauung zugängliches Dasein enthält und niemals a priori bestimmbar ist. Wenn ein apriorischer Begriff nur die Form der Erscheinungen betrifft, enthält er die reine Anschauung in sich als seinen Inhalt und kann a priori konstruiert werden. Das Allgemeine, das die Mathematik in concreto (in Besonderem oder Einzelnem) betrachtet, ist eben die a priori gegebene reine Anschauung, die Kant auch „formale Anschauung“ nennt (Vgl. KrV B 160 f. Anm.). Wenn ein Begriff aber auch die Materie der Erscheinung in Betracht zieht, können wir diesen Begriff nicht a priori in der Anschauung darstellen, sondern die „Erscheinungen dem realen Inhalte nach unter Begriffe“ bringen (KrV A 723/B 751). Dies ist der Fall des diskursiven Gebrauchs der Vernunft, der in der Philosophie stattfindet. Das Besondere, was die philosophische Erkenntnis in dem Allgemeinen (Begriffen oder Sätzen) betrachtet, ist eben diese Materie der Erscheinung, die in der empirischen Anschauung erst gegeben ist. Dabei erwägt man das Dasein eines empirischen Realen im Raum oder in der Zeit und zieht es unter allgemeinen und diskursiven, in den genannten Begriffen a priori enthaltenen Denkmomenten in Betracht: Inwiefern es ein Quantum ist, inwiefern es ein Substrat oder bloße Bestimmung ist, inwiefern es sich als Ursache oder Wirkung auf etwas Anderes bezieht, und so weiter. So wird ein Dasein in der Philosophie nicht als solches betrachtet, nämlich nicht so fern als es ein besonderes Ding im Raum und der Zeit mit seinen konkreten Bestimmungen wie Länge und Gewicht ist, sondern insofern, als es unter den allgemeinen gegebenen Begriffen von Quantum, Substanz oder Kausalität gedacht wird, und zwar unter die Regeln der Synthesis möglicher empirischen Anschauungen – ohne jene apriorischen Begriffe in der reinen Anschauung zu konstruieren.7

7 Eben in der Weise des Vernunftgebrauchs liegt der wesentliche Unterschied zwischen mathe-

matischer und philosophischer Erkenntnis. Der mögliche Unterschied der Gegenstände spielt dabei keine entscheidende Rolle, sondern hängt umgekehrt von der Differenz des Vernunftgebrauchs ab. Die Mathematik geht deswegen lediglich auf die Größe, weil nur die Begriffe von Größen a priori in der Anschauung dargestellt und mithin konstruiert werden können. Und die Qualität lässt sich nur in der empirischen Anschauung darlegen und ihre Vernunfterkenntnis wird nur „durch Begriffe“ möglich, nämlich nur als philosophische Erkenntnis. Aber die Philosophie macht zum Gegenstand auch die Größe, die normalerweise als Gegenstand der Mathematik angesehen wird, wie z. B. die Totalität oder die Unendlichkeit, ohne aber sie in der Anschauung zu konstruieren, sondern hält sich bloß „an allgemeine Begriffe“. So ist der Unterschied des Verfahrens vom Vernunftgebrauch der wesentliche Grund der

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Die Endabsicht und Grundfrage der Metaphysik

Durch die Zurückführung auf den Unterschied zwischen Form und Materie in der Anschauung wird die kantische Bestimmung der Philosophie besonders gegenüber denjenigen seiner neuzeitlichen Vorgänger ausgezeichnet, denen zufolge sich die Philosophie nach dem mathematischen Methodenideal richten soll. Kant entdeckt, dass die Philosophie, anders als die formale Logik und die Mathematik, bei denen es um die bloße Form der Erkenntnis geht, auch den „Inhalt“ der Erkenntnis behandeln muss, wie Kant in Kennzeichnung der „transzendentalen Logik“ im Vergleich zu der formalen Logik schon andeutet.8 Sofern die Philosophie die inhaltliche bzw. materiale Seite der Erkenntnis zum Gegenstand macht, kann sie die wesentlichen Methodenmomente der Mathematik, nämlich Definitionen, Axiome und Demonstrationen, nicht nachahmen. Sie hat erstens keine Definition, weil die Zergliederung der a priori gegebenen Begriffe niemals mit apodiktischer Gewissheit ihre Vollständigkeit findet, die aber in einer echten Definition jedenfalls erfordert wird (vgl. KrV A 728 ff./B 756 ff., bes. A 730/B 758). Sie hat zweitens keine Axiome, denn ihr fehlt die unmittelbare Gewissheit in Verbindung eines Begriffs zum synthetischen Satz a priori, die bei der Mathematik „vermittelst der Konstruktion der Begriffe in der Anschauung des Gegenstandes“ in Verknüpfung des Begriffs mit den Prädikaten geschieht (KrV A 732/B 760). Sie hat drittens keine Demonstrationen, denn diese gehört zur intuitiven Gewissheit bzw. „Evidenz“ des Beweises, die aber aus den Begriffen a priori in diskursiven Erkenntnis niemals entspringen kann. Aus diesen Gründen versteht Kant es als eine „eitele Anmaßung“, die Philosophie more geometrico, nämlich von reinen Definitionen und axiomatischen Sätzen her deduktiv zu einem System zu entwickeln (Spinoza), oder sie auf das einzige mit Evidenz demonstrierte Prinzip zu gründen (Descartes).9

gegenständlichen Differenz zwischen Mathematik und Philosophie. (Vgl. KrV A 714 f./B 742 f.) 8 „Die allgemeine Logik abstrahieret, wie wir gewiesen, von allem Inhalt der Erkenntnis, d. i. von aller Beziehung derselben auf das Objekt, und betrachtet nur die logische Form im Verhältnisse der Erkenntnisse auf einander, d. i. die Form des Denkens überhaupt. Weil es nun aber sowohl reine, als empirische Anschauungen gibt (wie die transzendentale Ästhetik dartut), so könnte auch wohl ein Unterschied zwischen reinem und empirischem Denken der Gegenstände angetroffen werden. In diesem Falle würde es eine Logik geben, in der man nicht von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahierte; denn diejenige, welche bloß die Regeln des reinen Denkens eines Gegenstandes enthielte, würde alle diejenigen Erkenntnisse ausschließen, welche von empirischem Inhalte wären.“ (KrV A 55/B 79 f., Herv. von Y. X.) 9 Diese Kritik gilt freilich nicht zuletzt für die „Disziplin der scholastischen Methode“ bei z. B. Wolff, wo „alle Begriffe durch Definitionen bestimmt und alle Schritte durch Grundsätze gerechtfertigt werden müsse“, ob sie zwar manchmal die „philosophische Schwärmerei“ verhüten kann (vgl. „Was heißt: sich im Denken orientieren?“, AA 08:138).

2.1 Philosophie als Wissenschaft„nach dem Weltbegriff“

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Trotzdem besitzt die Philosophie andererseits keineswegs weniger Dignität im Vergleich zur Mathematik. Dies lässt sich aus zwei Hinsichten zeigen. Erstens ist zu bemerken, dass die Einsicht darüber, wie die Mathematik überhaupt möglich und wie ihre Anwendung auf empirische Gegenstände möglich ist, nur durch die Philosophie (in der transzendentalen Ästhetik respektive durch die Grundsätze über die extensive und intensive Größe in der transzendentalen Analytik) angegeben werden kann. Die Mathematik kann sich nämlich nicht von selbst allein auf ihre eigene Möglichkeit richten. Was die zweite und für mein Thema hier wichtigere Hinsicht betrifft, ist die Mathematik „ein bloßes Kunstproduct des Rechnens“ und nur „indirect und nur mittelbar (bedingt) auf Zwecke gerichtet“ (OP AA 21:108). Denn sie ist nur eine „Instrumentalwissenschaft“ und mithin ein „Werkzeug für andere [Wissenschaft/en]“ (OP AA 21:120). Philosophie ist hingegen, gemäß dem wörtlichen und auch ursprünglichsten Sinn des Namens „philo-sophia“, „die Liebe des Vernünftigen Wesens zu den höchsten Zwecken der menschlichen Vernunft“ (OP AA 21:120), denn sie als „Weisheitslehre“, nämlich die „Lehre vom Endzweck der menschlichen Vernunft“, hat „einen unbedingten Werth“ (vgl. „Vorrede zu Reinhold Bernhard Jachmanns Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie“, AA 08:441). Daher „begnügt“ sich die Philosophie „nicht mit Wissenschaft (der Mittel zu Zwecken)“ (OP AA 21:108). Mit dem Unterschied von der Mathematik und der Bestimmung der philosophischen Säte als Dogmata versucht Kant einerseits das mathematische Ideal der frühneuzeitlichen Philosophie zu überwinden, das System aus einem einzigen, intuitiv gewissen Prinzip her nach der geometrischen Art abzuleiten, und unterscheidet sich andererseits auch von einer skeptizistischen Auffassung der Philosophie als System der bloßen kritischen Sätze gegen eine gewisse metaphysische Position. Damit errichtet er schließlich die eigene Methodologie der Philosophie, nach der die Philosophie frei von allen Anschauungen (auch den apriorischen) und anschaulichen Einsichten das System der Sätze durch reine Begriffe aufbaut. Dies führt dazu, dass die Gültigkeit der synthetischen Sätze a priori in der Philosophie weder durch die Zurückführung auf ein Grundprinzip noch durch die apriorische Konstruktion in der Anschauung begründet werden kann, sondern nur durch die Methode der Deduktion, nämlich durch die juristische Betrachtung des Objektivitätsanspruchs dieser Sätze.10 Die Würde der Philosophie als reine Vernunfterkenntnis wird dadurch rehabilitiert. Sie richtet sich im Prinzip nicht nach der 10 Diese Haltung wird von Otfried Höffe mit der Wendung „Recht statt Mathematik“ richtig gezeichnet. Vgl. Höffe, O., Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie. München 2003, S. 286 ff. Die Methode der Deduktion bes. in der praktischdogmatischen Metaphysik werde ich im Kapitel 6 dieser Arbeit weiter thematisieren.

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Die Endabsicht und Grundfrage der Metaphysik

Anschauung, sondern nach den Zwecken, welche die Vernunft sich selbst aufstellt, und daher schließlich nach der Weisheit.11

2.1.2 „Conceptus cosmicus“: Der Aufstieg zur Weisheit durch Wissenschaft Die Philosophie erweist sich der Erkenntnisart nach zwar als von der Mathematik scharf unterschieden und mithin keine Definitionen, Axiome und Demonstrationen fähig, aber sie erhebt trotzdem stets den Anspruch, Wissenschaft zu sein. Da sie nun ihren wissenschaftlichen Charakter nicht durch Nachahmung anderer Wissenschaften gewinnen soll, ist es nötig, ihre eigene Art und Weise der Wissenschaftlichkeit herauszufinden. Die Methode, alles Wissen aus der Vernunft philosophisch in die systematische Einheit zu bringen und mithin die Philosophie wissenschaftlich zu bilden, nennt Kant „Architektonik“, nämlich „die Lehre des Szientifischen in unserer Erkenntnis überhaupt“ (KrV A 832/B 860). Die architektonisch-wissenschaftliche Einheit ist „die Einheit des Zwecks“, denn der „szientifische Vernunftbegriff“ enthält „den Zweck und die Form des Ganzen, das mit demselben kongruiert“ (ebd.). Demnach vereinigen sich alle Erkenntnisse weder wegen ihrer Ähnlichkeit noch wegen des Bezugs auf irgendwelche „beliebigen äußeren Zwecke[]“, sondern die Wissenschaftlichkeit entspringt „der Ableitung von einem einigen obersten und inneren Zweck, der das Ganze allererst möglich macht“ (KrV A 833/B 861, Herv. von Y. X.). Dieser Zweck ist allerdings kein zugrundeliegendes evidentes Anfangsprinzip, das einem intuitiv gewiss ist und von dem man die übrigen Erkenntnisse ohne Hilfe weiteres Prinzips entwickeln kann. Vielmehr steht er erst am Schluss, als Telos, um den herum alle Erkenntnis, die man anderweitig gewinnt, zur Einheit gebracht wird – wovon ich später noch ausführlicher sprechen werde. Daher gewinnt die Philosophie ihre eigene Wissenschaftlichkeit nicht durch Nachahmung anderer Wissenschaften, sondern durch den Bezug auf die letzten 11 Dadurch zeichnet sich Kants Auffassung der Philosophie von denjenigen der Idealisten nach Kant. Mit Dieter Henrichs Forschung (Henrich, D., „Kants Begriff der Philosophie. Eine Edition und eine Fragestellung“, in: F. Kaulbach & J. Ritter (Hrsg.), Kritik und Metaphysik. Heinz Heimsoeth zum achtzigsten Geburtstag, Berlin 1966; S. 49–59.) kann man vermuten, dass die Widerlegung Kants gegen die anschauliche Evidenz in der Philosophie auch mit seiner Wachsamkeit gegenüber der in der damaligen Philosophie verbreiteten Mystik zusammenhängt. Solche Wachsamkeit kann man in dem Aufsatz „Was heißt, sich nach dem Denken orientieren?“ finden, dort freilich gegen Jacobi. Nach Kant kann die Weisheit erreicht werden nur durch Wissenschaft, nicht durch Mystik. Dies zeigt sich noch deutlicher in dem Entwurf der eigentlichen Metaphysik des späten Kants, den ich bald thematisiere.

2.1 Philosophie als Wissenschaft„nach dem Weltbegriff“

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Zwecke, welche die Vernunft selbst aufstellt. In diesem Sinn liegt der Philosophie eine „Idee“ zugrunde, die „in der Vernunft selbst gegründet“ ist (KrV A 834/B 862). Die philosophische Vernunft betrachtet jede Erkenntnis systematisch nach dem Zweck, und jede Erkenntnis ist daher „für sich nach einer Idee gegliedert“, vereinigt sich „untereinander in einem System menschlicher Erkenntnis wiederum als Glieder eines Ganzen zweckmäßig“ (KrV A 835/B 863). Die „Architektonik aller Erkenntnis aus reiner Vernunft“ zu entwerfen, ist also die eigentliche Aufgabe der Philosophie, die allen Vernunftgebrauch (sowohl den theoretischen wie auch den praktischen) vereinigt und ein einheitliches System zum Zweck hat12 . Dieses System der Philosophie hat demnach den Charakter der Totalität, der sich auf die unbedingte Ganzheit aller menschlichen Vernunfterkenntnisse unter einem einheitlichen Prinzip bezieht. Der Charakter der Totalität in Ansehung der Bestimmung der Philosophie kann bei Kant je nach dem Einheitsprinzip unterschiedlich verstanden werden. Wenn die „logische Vollkommenheit“ zum Prinzip gemacht wird, nach der sich die Lehrsätze ohne allen Widerspruch auf einander beziehen und in die systematische Einheit gebracht werden, wird die Philosophie „nach dem Schulbegriff“ bestimmt, wie man es „bis dahin“ versteht. Dies gehört freilich zur Bestimmung jeder Philosophie, sofern sie als Wissenschaft möglich sein soll. Wenn man aber das Prinzip der logischen Vollkommenheit übersteigt und dabei die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft in Betracht zieht, so soll die Philosophie „nach dem Weltbegriff“ gebildet werden. In dem letzten Sinne ist die Philosophie als eine „Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“ aufgegeben (KrV A 838 f./B 866 f., Herv. von Y. X.). Philosophie soll sich also nicht allein nach dem Schul-, sondern auch nach dem Weltbegriff bestimmen.13 12 „Die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft (Philosophie) hat nun zwei Gegenstände, Natur und Freiheit, und enthält also sowohl das Naturgesetz, als auch das Sittengesetz, anfangs in zwei besondern, zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System.“ (KrV A 840/B 868, Herv. von Y. X.) 13 Diese Unterscheidung besagt aber nicht, dass es in der Philosophie nach dem Weltbegriff die logische Vollkommenheit keine Rolle spielt. Vielmehr sollen die Erkenntnisse der weltbegrifflichen Philosophie vermittels einer logischen Systematik zu einem Ganzen zusammengesetzt werden. Zu dieser Zusammenwirkung der beiden Auffassungen der Philosophie zeigt Hans Fulda hinsichtlich der Differenz zwischen der kantischen Philosophie und der Weltanschauungsphilosophie des 19. Jahrhunderts sehr richtig: „Während nämlich unter Philosophie nach ihrem Schulbegriff eine Geschicklichkeit verstanden wird, die jemand unter anderen Geschicklichkeiten haben mag und die zu beliebigen Zwecken brauchbar ist, betrifft die Philosophie nach ihrem Weltbegriff dasjenige, was jeden notwendig interessiert. Ihre Fragen haben so gesehen ein Interesse, dem sich keiner entziehen kann, der sich nichts vormacht.

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Die Endabsicht und Grundfrage der Metaphysik

Es stellt sich nun die Frage, was man unter dem Ausdruck „Weltbegriff“ verstehen soll. Von dem lateinischen Terminus „conceptus cosmicus“, der hier in den Klammern als Erklärung zu dienen scheint, verschaffen wir uns nichts deutlicheres, nicht allein weil er uns nichts mehr sagt, als was der deutsche Wortgebrauch „Weltbegriff“ angibt, sondern auch weil er in gewissem Sinne nur ein hapax legomenon (ein nur einmalig auftauchendes Beispiel) ist14 . In dem kosmologischen Begriff der Welt, welche in der „transzendentalen Dialektik“ als „absolute Vollständigkeit“ aller Erscheinungen definiert wird, wird der Bedeutungsaspekt der Totalität zwar ausgedrückt, aber man kann die „Philosophie nach dem Weltbegriff“ dadurch noch nicht von derjenigen „nach dem Schulbegriff“ unterscheiden, weil dieser auch der Charakter der Totalität zukommen kann, sofern sie auf die logische „Vollkommenheit“ geht. Man soll dabei vielmehr davon ausgehen, dass Kant den Weltbegriff hier definiert als denjenigen, „der das betrifft, was jedermann notwendig interessiert“ (KrV A 839/B 867, Anm.). Das jedermann notwendig Interessierende kann freilich nicht etwas Sinnliches sein, das verschiedene Bedürfnisse erwecken kann, sondern es muss, wie Kant sagt, die „wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“, weil nur diese die Charaktere der „Notwendigkeit“ und der Allgemeinheit („jedermann“) zugleich haben. Die „wesentlichen Zwecken“ stehen nicht einfach nebeneinander, sondern unter ihnen steht ein „Endzweck“ an der Spitze, zu dem im Vergleich alle übrigen Zwecke „subaltern“ und als „Mittel“ dienlich sind, sodass man sich dabei ein System der Besitzen sie dies Interesse aufgrund der einen Vernunft, an der wir alle teilhaben, so wird man den Weltbegriff der Philosophie jedoch in einer Metaphysik auf schulmäßige Weise realisieren müssen. So meinte es Kant. Besitzen die metaphysischen Fragen hingegen ihr Interesse für einen jeden aufgrund eines dunklen Drangs oder aufgrund des Lebens, das sich in jedem von uns auf verschiedene Weise äußert, so mögen die mit der Metaphysik verbundenen Hoffnungen weiterbestehen; ihre Erfüllung aber können sie nur noch außerhalb einer auf schulmäßige Lehre ausgehenden Philosophie finden. Dazu haben dann die Lieferanten von Weltanschauung in der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts ihre ephemeren Angebote gemacht.“ (Fulda, H., „Metaphysik bei Kant“, in: Repraesentatio Mundi. Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Heinz Holz. Hrsg. v. Hermann Klenner, Domenico Losurdo, Jos Lensink, Jeroen Bartels; Köln: Dinter Verlag 1997, S. 19–32, hier S. 29.) 14 Man kann zwar einen solchen Ausdruck in mehreren Nachschriften der Logik-Vorlesung Kants finden (wie in Wiener Logik und in Warschauer Logik), die von den Schülern aufgeschrieben wurden. Aber dies bedeutet nicht, dass Kant auch diesen Ausdruck mehrmals benutzt. Nach N. Hinske wurden alle diesen aufgeschriebenen Stellen von einer Urfassung der Logik übernommen, die aber ihrerseits schließlich auf die Stelle A 838/B 866 der Kritik der reinen Vernunft zurückzuführen ist. Vgl. Hinske, N., „Kants Verankerung der Kritik im Weltbegriff. Einige Anmerkungen zu KrV B 866 ff.“ in: Bacin, S., Ferrarin, A., La Rocca C., Ruffing, M. (hrsg.), Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten des XI. Internationalen Kant-Kongresses. Berlin/Boston 2013, S. 263–276, bes. S. 268.

2.1 Philosophie als Wissenschaft„nach dem Weltbegriff“

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wesentlichen Zwecke vorstellen soll. Was kann ein solcher Endzweck sein? Kant kennzeichnet ihn als „die ganze Bestimmung des Menschen“ (KrV A 840/B 868), eine auf Johann Joachim Spalding zurückzuführende Formulierung15 , allerdings mit der Ergänzung der Ganzheit („ganz“). Der Ausdruck „Bestimmung“ ist hier nicht als determinatio oder definitio zu verstehen,16 sondern als destinatio. Obzwar es offen bleibt, ob die destinatio Auftrag und Verpflichtung, oder Fügung und Schicksal bedeutet,17 aber es ist hier festzulegen, dass diese „Bestimmung“ kein bloßes theoretisches Problem zur Charakterisierung des Was-Seins des Menschen ist, sondern vor allem die praktische Seite desselben betont, die mit dem menschlichen Tun und Handeln und daher auch mit dem Begriff des Zwecks verbunden ist. Man soll dann die Ganzheit dieser destinatio richtig verstehen. Obwohl Kant die Philosophie über die ganze Bestimmung des Menschen als „Moral“ bezeichnet, ist diese dennoch nicht dadurch auf den bloß praktischen Vernunftgebrauch zu beschränken. Alle Vernunfterkenntnisse nach der ganzen Bestimmung des Menschen systematisch zu vereinigen, entspricht eigentlich der theoretischen Vernunftidee der „größten systematischen Einheit“ aller Erkenntnisse (KrV A 687/B 715). Die „Ganzheit“ bedeutet hier schon, dass sowohl der intelligible als auch der sinnliche Charakter des Menschen betroffen werden und dass diese beiden Charaktere miteinander einstimmig sein müssen. Wenn man also von der „ganzen“ Bestimmung des Menschen als dem Endzweck der menschlichen Vernunft redet, werden sowohl die reine Sittlichkeit, und zwar die „Würdigkeit, glücklich zu sein“ (KrV A 806/B 834), als auch die Glückseligkeit als solche betroffen18 . In Betracht

15 Ausführlich zur Begriffsgeschichte von dem Ausdruck sowie zum Thema „Bestimmung des Menschen“ mit seiner Einführung in Deutschland durch Spaldings gleichnamiges Werk (erste Auflage in Jahr 1748) vgl. Kap. 2–3 von Brandt R., Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg 2007. Kants Briefwechsel mit Spalding seit 1783 befindet sich nun in AA 10:333, 347 f., 527 f., 12:271. 16 Obwohl Kant auch Frage wie „Was ist der Mensch?“ (vgl. z. B. Logik, AA 09:25) formuliert hat, ist es aber bei Kant streng genommen unberechtigt, nach dem Realwesen oder einer festen Definition des Menschen zu fragen. Vgl. Brandt, Die Bestimmung des Menschen, Hamburg 2007, S. 104. 17 Vgl. Höffe, O., Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie. München 2003, S. 312. 18 Kant kennzeichnet am Ende des Architektonik-Kapitels den „Hauptzweck“ als „allgemeine Glückseligkeit“. (Vgl. KrV A 851/B 879)

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Die Endabsicht und Grundfrage der Metaphysik

kommt bei jener Bestimmung also der Mensch als vernünftiges Weltwesen, welches sowohl sein vernünftiges Bedürfnis wie auch seine allgemeinen Begierden in der Sinnenwelt zu erfüllen sucht.19 In diesem Sinne können wir auch die „Philosophie nach dem Weltbegriff“ auf den alten deutschen Terminus „Weltweisheit“ zurückbeziehen, der seit dem Mittelalter als Synonym zur „Philosophie“ gebraucht wurde. Aber im Vergleich zur Philosophie in allgemeiner Bedeutung wird in dem Begriff der Weltweisheit einerseits die „Verweltlichung der Philosophie“ betont, welche die Denkdistanz der Philosophen zur Welt aufzuheben versucht,20 und andererseits sieht man mit diesem Begriff eine Auffassung, dass die Erkenntnis aus der menschlichen Vernunft statt aus der Offenbarung Gottes entspringt, worin die Ansprüche des Zeitalters der „Aufklärung“ liegen.21 Offensichtlich hat Kant diese beiden Bedeutungsmomente der „Weltweisheit“ in seine Philosophieauffassung einbezogen, wodurch die weltbegriffliche Philosophie „die Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“ zum Gegenstand macht und unter anderem auch die weltliche Glückseligkeit des Menschen in Betracht zieht.22 Eben in diesem Sinne redet Kant in der Pölitz-Metaphysik genauer von der Philosophie in sensu cosmopolitico, also „in der weltbürgerlichen Bedeutung“ (AA 28:532f.). Hier ist der Terminus „weltbürgerlich“ nicht einfach als ein politischer Begriff von der die Grenzen bestimmter Nationen überschreitende Gleichwertigkeit aller Menschen 19 Also hängt die ganze Bestimmung des Menschen zusammen mit den letzteren beiden der drei Fragen, in denen „alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) [sich] vereinigt“ (KrV A 804/B 832), nämlich mit der Frage „was soll ich tun?“ und der „was darf ich hoffen?“, welche beide mit dem praktischen Interesse der Vernunft verbunden sind (vgl. KrV A 805/B 833). 20 Ausführlich zu diesem Aspekt vgl. Schneiders, W. (1983). „Zwischen Welt und Weisheit. Zur Verweltlichung der Philosophie in der frühen Moderne“. in: Studia Leibnitiana, 15 (1), S. 2–18, bes. S. 9. 21 Vgl. z. B. Thomasius’ Rede: „Die Erkantnüß so aus der Heiligen Schrifft entstehet /wird Gottes-Gelahrtheit/ die aber so aus der menschlichen Vernunfft herrühret/ Weltweisheit genennet.“ Thomasius, C., Einleitung zu der Vernunfft-Lehre, Halle 1691, S. 81. 22 „…dagegen Philosophie auf absolute Zwecke gerichtet ist deren Oberster Weisheit hinaus sieht und sich nicht mit Wissenschaft (der Mittel zu Zwecken) begnügt. Daher der Nahme Weltweisheit.“ (OP AA 21:108) „Philosophie ist die Liebe des Vernünftigen Wesens zu den höchsten Zwecken der menschlichen Vernunft. Weltweisheit ist entweder das theoretische Erkentnis derselben: das Erkentnis der Philosopheme. Da aber Weise zu seyn das menschliche Vermögen übersteigt und nur Gott, d. i. das Wesen welches alle Zwecke erfüllt Weise ist; so ist Weltweisheit eine solche welche dem Menschen angemessen ein Analogon der Weisheit ist und nichts anders als wahre ächte Liebe zur Weisheit.“ (OP AA 21:121) Bemerkenswert ist es, dass Kant hier die Weltweisheit mit der menschlichen Weisheit gleichsetzt und als Analog der „wahren Weisheit“ Gottes ansieht.

2.1 Philosophie als Wissenschaft„nach dem Weltbegriff“

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zu verstehen; vielmehr sollen wir ihn von der Allgemeinheit der wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft her begreifen, auf die sich die Philosophie in jenem Sinne bezieht. Philosophische Erkenntnisse sind demnach dogmata und zwar „direktsynthetische Sätze“ von der Art und Weise, wie sich alle menschliche Erkenntnis auf die „wesentlichen Zwecke“ der Menschenvernunft bezieht. Allerdings bedeutet dies nicht, dass das menschliche Gesetz von Philosophen gegeben wird; vielmehr ist die Vernunft selber der Urheber des Gesetzes, das mithin a priori und unbedingt verpflichtend ist, und die Philosophen verkündigen dieses Gesetz als Gebot. Insofern ist die Philosophie nach dem Weltbegriff die „Gesetzgebung der menschlichen Vernunft“ (KrV A 840/B 868), als sie das Gebot der Vernunft, alle Erkenntnis diene als Mittel zu den letzten Zwecken derselben, ausdrückt und es als verbindlich allem Gebrauch der Vernunft vorschreibt. Daher gibt die menschliche Vernunft mit der Philosophie das Gesetz für ihren eigenen Gebrauch. Mit anderen Worten ist Philosophie „nach dem Weltbegriff“ die Selbstgesetzgebung oder „Autonomie“ der menschlichen Vernunft. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie wird also charakterisiert einerseits durch die Kritik der menschlichen Vernunft, deren Ergebnis die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis und die Problematisierung der objektiven Realität der diskursiven apriorischen Begriffe ist (wie in dem 1. Kapitel der vorliegenden Arbeit gezeigt), und andererseits durch die Architektonik derselben, welche die systematische Einheit aller Erkenntnis im Ganzen thematisiert. Sie zeigt uns, dass die Philosophie als Streben nach der Weisheit „den Weg der Wissenschaft“ gehen muss (KrV A 850/B 878), um den Aufstieg auf die letzten und wesentlichen Zwecke der Vernunft („von unten hinauf“, vgl. „Vorrede zu Reinhold Bernhard Jachmanns Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie“, AA 08:441) zustande zu bringen, die sich schließlich auf „die ganze Bestimmung des Menschen“ beziehen.23 Philosophie hat also im Vergleich zu anderen Wissenschaften einen „unbedingten Werth“ (AA 08:441) und ist „unwandelbar und legislatorisch“, indem sie nach ihrer „ursprünglichen Idee“ der reinen Vernunft architektonisch und mithin zweckmäßig systematisiert wird (KrV A 847/B 875). In diesem System werden alle 23 Der Charakter des „Aufstiegs“ durch angestrengte „Arbeit“ (nämlich „Wissenschaft“) in kantischer Philosophie wird von Dieter Henrich vielfach betont, besonders in Gegensatz zu den Denkströmungen, die sich im dem damaligen bekannten „Pantheismusstreit“ sowie in der Rückkehr des spekulativen Denkens bei Kants direkten Nachfolgern zeigt und von Kant als „Mystik“ bezeichnet wird. (Vgl. AA 08:441, siehe Dieter Henrich: „Kants Begriff der Philosophie“, in: Kritik und Metaphysik. Heinz Heimsoeth zum achtzigsten Geburtstag, Berlin 1966, S. 40–59. Ders: „Systemform und Abschlussgedanke. Methode und Metaphysik als Problem in Kants Denken“, in: Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Berlin/Boston 2001, S. 94–115.)

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Die Endabsicht und Grundfrage der Metaphysik

Erkenntnisse, „Mathematik, Naturwissenschaft, selbst die empirische Kenntnis des Menschen“, als „Mittel“ zu den „notwendigen und wesentlichen Zwecken der Menschheit“ angesehen.24 Die Philosophie nach dem Weltbegriff beansprucht wegen der Beziehung auf die wesentlichen Zwecke des Menschen also die Totalität aller Gebräuche der Vernunft, und zwar die Vereinigung des theoretischen mit dem praktischen Vernunftgebrauch. Daher ist die Sache der Philosophie nicht allein die Erkenntnis, sondern sie geht über diese hinaus und bezieht sich auf die Würde der menschlichen Vernunft bzw. auf die Weisheit. Die Bedeutung, welche Kants neue Bestimmung der Philosophie bringt, wird hier, und zwar in der „Methodenlehre“ der Kritik der reinen Vernunft, nur abstrakt dargestellt; sie wird in folgender Untersuchung meiner Arbeit, vor allem in der Untersuchung der praktischen Transzendenz (in Kap. 4), konkreter und deutlicher sein. Bemerkenswert ist schließlich es, dass eben in dieser Auffassung der Philosophie auch die Aufgabe und die Rolle der Metaphysik deutlich wird, weil diese genannte architektonische Mittel-Zwecke-Beziehung nur möglich ist „durch Vermittelung einer Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen, die, man mag sie benennen wie man will, eigentlich nichts als Metaphysik ist“ (KrV A 850/B 878). Da die Philosophie in der weltbürgerlichen Bedeutung als System der dogmata über die Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der Menschheit bestimmt wird, ist Metaphysik in ihrem eigentlichen Sinn die Untersuchung davon, wie diese Beziehung in der Wissenschaftlichkeit überhaupt möglich ist und wie sie sich realisiert werden soll. Welcher Sinn aber jener „eigentliche Sinn“ ist, in dem die Metaphysik die genannte Aufgabe auf sich nimmt, dies wird in dem kommenden Abschnitt behandelt.

24 Schon in der zweiten Hälfte der 70er Jahren kam Kant zu dieser Auffassung der Philosophie und verband mit ihr seine Aufgabe der Vernunftkritik. Vgl. Refl. 4970, AA 18:44: „Die philosophie ist die Wissenschaft der Angemessenheit aller Erkentnisse mit der Bestimung des Menschen.“ Refl. 5013, AA 18:59: „Meine Absicht ist zu untersuchen, wie viel die Vernunft a priori erkennen kan und wie weit sich ihre Abhängigkeit von der Belehrung der Sinne erstreke. Es Welches also die Grentzen sind, über die sie ohne Beyhülfe der Sinne nicht hinausgehen kan. Dieser Gegenstand ist wichtig und groß, denn er zeigt dem Menschen seine Bstimmung mit der Vernunft. Um zu diesem Endzweke zu gelangen, finde ich vor nothig, die Vernunft zu isoliren, aber auch die Sinnlichkeit, und erstlich alles, was a priori erkannt werden kan, zu betrachten, ob es auch zu dem Gebiethe der Vernunft gehöre. Diese abgesonderte Betrachtung, diese reine Philosophie ist von großem Nutzen.“

2.2 Die Konzeption der eigentlichen Metaphysik und ihre Endabsicht

2.2

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Die Konzeption der eigentlichen Metaphysik und ihre Endabsicht

Philosophie in der weltbürgerlichen Bedeutung hat Metaphysik als ihren wesentlichen Teil, sofern diese die gesuchte Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft nach deren Möglichkeit und Verfahrensweise zum Thema macht. In diesem Abschnitt konzentriere ich mich auf die Grundbestimmung der Metaphysik bei Kant, insbesondere in der Hinsicht der „nach dem Weltbegriff“ orientierten Philosophie. Unter den mannigfaltigen Bedeutungen der „Metaphysik“ gehört das Projekt einer praktisch-dogmatischen Metaphysik am geeignetsten zu diesem Theoriezusammenhang, das Kant in seiner späten Zeit entwickelt und als „eigentliche Metaphysik“ bezeichnet, worin allein die Endabsicht der Metaphysik, an der Kant schon bei der Verfassung der Kritik der reinen Vernunft gedacht hat, in Betracht kommt.

2.2.1

Das Projekt einer praktisch-dogmatischen Metaphysik als der„eigentlichen“ Metaphysik

Der Begriff der Metaphysik, sofern wir ihn auf den aristotelischen Ursprung des τα` μετα` τα` ϕυσικα´ zurückführen, schließt in sich schon die Bedeutung ein, dass sie über die „Physis“ hinaussteigt. Kant versteht unter der „Physis“ die sinnlich erkennbare Natur. Daraus wird es bei ihm klar, es liege schon „in“ dem Begriff einer metaphysischen Erkenntnis, dass ihre Quellen „nicht empirisch sein können“ (Prol. § 1, AA 04:265). Die kritische Betrachtung der Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens lässt es schon klar werden, dass die „Transzendenz“ oder die Metaphysik zur „Naturanlage“ des Menschenerkennens gehört, was den Ausgangspunkt für alle Untersuchung der Metaphysik bei Kant ausmacht. Obwohl Kant in einem sehr weiten, mit der reinen Philosophie überhaupt gewissermaßen gleichgesetzten Sinne den Terminus „Metaphysik“ gebrauchen,25 25 Kant redet von der „allgemeine[n] Idee der Metaphysik“ (KrV A 849/B 877), nach der sowohl das empirische Wissen als auch diejenige Erkenntnis, die zwar a priori ist, aber durch „Konstruktion der Begriffe“ entsteht, aus der Metaphysik ausgeschlossen werden. Metaphysik in diesem Sinn umfasst nicht allein das genannte System als solches, sondern auch die propädeutische „Kritik“ zum System (A 841/B 869, vgl. auch KrV A 11/B 25). Diese Idee ist so „allgemein“, dass die Metaphysik dadurch dem Inhalt nach der ganzen „reinen Philosophie“ oder der „Philosophie der reinen Vernunft“ gleich gesetzt wird, sofern diese sich von der „empirischen Philosophie“ unterscheidet. (Vgl. KrV A 840 f./B 868 f.) Dies ist die Metaphysik im weitesten Sinne.

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Die Endabsicht und Grundfrage der Metaphysik

bezeichnet er in seinen nach 1781 veröffentlichten Werken mit diesem Terminus am meistens das „Systems“ der philosophischen Erkenntnis, sofern die reine Philosophie sich in dieses System einerseits und die Kritik andererseits einteilt,26 welche die „bloße Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen“ thematisiert und deshalb dem „System“ als eine Vorbereitung und Grundlegung dient (KrV A 11/B 25). Die Systematik der Metaphysik, durch welche diese als „mögliche Wissenschaft“ charakterisiert werden kann, muss von ihrer Seite aus aber der „Gesetzgebung der menschlichen Vernunft“ nach der weltbegrifflichen Philosophie entsprechen. Soweit die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft zweierlei Gegenstände hat, nämlich Natur und Freiheit, kann das metaphysische System jeweils auf den Naturbegriffen oder auf dem Freiheitsbegriff beruhen, wonach wir entweder die Metaphysik der Natur in dem spekulativen oder die Metaphysik der Sitten im dem praktischen, durch den Begriff der Freiheit möglichen Vernunftgebrauch haben. Kant hat sich bis zur Abfassung der Kritik der Urteilskraft noch stets ans Projekt der Herstellung beider Disziplinen der Metaphysik erinnert, die er als ein „doktrinales Geschäft“ im Vergleich zu dem „kritischen“ in allen drei Kritiken bezeichnet (vgl. KU AA 05:170). Unter den beiden Disziplinen der Systeme wird die Metaphysik der Natur von Kant als Metaphysik „im engeren Verstande“ bezeichnet. In ihr geht es nur um „alles, was da ist“ und nicht um „das, was da sein soll“. Sie entspricht dem bis Kant überlieferten Verständnis der Metaphysik, also der „Metaphysik nach dem Begriff der Schule“ (FM AA 20:261); sie ist demnach „das System aller Prinzipien der reinen theoretischen Vernunfterkenntnis durch Begriffe“, enthält also keine praktische Lehre der reinen Vernunft (ebd.).27 Für diese Disziplin verfasst Kant 1786 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Ein Buch jedoch, das mit der 26 „Die Philosophie der reinen Vernunft ist nun entweder Propädeutik (Vorübung), welche das Vermögen der Vernunft in Ansehung aller reinen Erkenntnis a priori untersucht, und heißt Kritik, oder zweitens das System der reinen Vernunft (Wissenschaft), die ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft im systematischen Zusammenhange, und heißt Metaphysik.“ (KrV A 841/B 869) 27 Aber auch der Begriff der „Metaphysik der Natur“ ist bei Kant vieldeutig. In der Kritik der reinen Vernunft besteht sie dem Umfang nach aus der „Transzendentalphilosophie“ und der rationalen „Physiologie“. Der erste Teil davon ist die systematische Betrachtung „aller Begriffe und Grundsätze“ des Verstandes und der Vernunft, „die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen, ohne Objekte anzunehmen, die gegeben wären“, und nimmt die Stelle der traditionellen ontologia auf (vgl. KrV A 845/B 873). Der zweite Teil (Physiologie) thematisiert die Natur als den Inbegriff gegebener Gegenstände, entweder auf immanente oder auf transzendente Weise (vgl. KrV A 845 f./B 873 f.). Damit lässt Kant die Metaphysik der Natur in ihrer Einteilung mit den vormaligen Disziplinen der Metaphysik korrespondieren (vgl. KrV A 846 f./B 874 f.). Die zweite, für meine Arbeit aber wichtigere Bedeutung der „Metaphysik

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„Metaphysik der Natur“ betitelt wird, wird nicht von ihm geschrieben.28 Die Metaphysik der Sitten ist dagegen eine neue Ergänzung, die Kant zu dem vormaligen Sinn der Metaphysik bringt. Sie soll darauf zurückgehen, dass durch den Freiheitsbegriff eine eigene Gesetzgebung stattfindet, die nur dem reinen praktischen und gar nicht dem theoretischen Gebrauch der Vernunft zukommt. Dabei geht es um apriorische Prinzipien dessen, was da sein soll, welches gar kein Thema der traditionellen Metaphysik war. Ihr hat Kant ein zweiteiliges Werk Metaphysik der Sitten (1798) gewidmet; man darf sagen, dass Kant dieses System schließlich vollend gebildet hat. In meiner vorliegenden Arbeit werde ich nicht die oben genannten Begriffe der Metaphysik Kants thematisieren. Vielmehr möchte ich die Aufmerksamkeit auf einen Begriff der Metaphysik richten, der in den drei Kritiken noch nicht erschienen ist und erst in der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik aufgestellt wird, nämlich die „praktisch-dogmatische Metaphysik“. Kant hat diese Benennung nicht verbis expressis gebraucht, sondern er nennt sie einfach ganz formal „eigentliche Metaphysik“, dessen letzter Teil der „praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ oder die „praktisch-dogmatische Erkenntnis“ desselben ist. Da dieser Teil das Kernstück sowie den Endschritt der „eigentlichen Metaphysik“ ausmacht, sehe ich es gerechtfertigt, diese im Ganzen als „praktisch-dogmatische Metaphysik“ zu bezeichnen. Für sie und auch für die ganze Abhandlung der Preisschrift gibt Kant eine Nominaldefinition der Metaphysik, nämlich als „die Wissenschaft, von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft fortzuschreiten“ (FM, AA 20:260). Diese Metaphysik, so Kant, gehört zur „Metaphysik bloß als theoretische[r] Wissenschaft“ oder „Metaphysik der Natur“ (FM AA 20:293), aber freilich nicht insofern, als sie alle Prinzipien der reinen theoretischen Vernunfterkenntnis umfasst und folglich der Natur Gesetze gibt, wie die oben definierte „Metaphysik der Natur“, sondern insofern, als sie sich auch auf den theoretischen Vernunftgebrauch bezieht und das Problem des Überschritts zum Übersinnlich nach dem „Sein“ und nicht nach dem „Sollen-Sein“ behandelt, der Natur“ findet sich in der Preisschrift, wo die Ontologie, weil sie „nicht das Übersinnliche“ „berührt“, nur als „Propädeutik“, „Halle“ oder „Vorhof der eigentlichen Metaphysik“ zu derselben gehört (vgl. FM AA 20:260), und ein Teil von „praktisch-dogmatischer Erkenntnis des Übersinnlichen“ dazu eingeführt wird, der im überlieferten Verständnis der Metaphysik der Natur gar nicht in Betracht gekommen ist. Alsdenn ist die Metaphysik der Natur als ein dynamisches, sich entwickelndes System zu betrachten. Man darf die Metaphysik der Natur in dieser zweiten Bedeutung mit der „eigentlichen Metaphysik“ gleichsetzen, was ich später ausführen werde. Aber generell lässt sich sagen, dass die Metaphysik der Natur eine Wissenschaft der Prinzipien von dem, was ist. 28 Außerdem gehört auch das Opus Postumum zu diesem Zusammenhang.

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wodurch sie sich von der Metaphysik der Sitten unterscheidet. Trotzdem vereinigt die Gesetzgebung der theoretischen Vernunft sich auf gewisse Weise mit derjenigen der praktischen Vernunft, um sich selbst zustande zu bringen. Ich würde diese praktisch-dogmatische Metaphysik als die wichtigste Innovation Kants für den Begriff der Metaphysik ansehen, und Kant versteht sich selbst auch so, indem er in ihrem Aufbau ausdrücklich den Anspruch erhebt, sich von der vormaligen Metaphysik zu unterscheiden und den „wirklichen Fortschritt der Metaphysik“ zu leisten.29 Die praktisch-dogmatische Metaphysik wird in der Preisschrift dadurch eingeführt, dass Kant das Verfahren der reinen Vernunft in drei „Stadien“ einteilt. Dies bedeutet schon, dass Kant ein dynamisches Verhältnis zwischen den Teilen des Systems einführt, so dass man von den „Fortschritte[n] der Metaphysik selber“ reden darf (FM AA 20:265). Nach diesem dynamischen Verhältnis stellt sich die Metaphysik als sich in ihren Teilen bzw. Stadien entwickelnd dar, deren jedes einen Fortschritt ausmacht.30 Das erste Stadium kennzeichnet Kant als „Wissenschaftslehre“, in welcher „die Lehre von der Möglichkeit aller Erkenntnis a priori überhaupt“ thematisiert wird (FM AA 20:272). Sie geht auf das Problem des Geltungsumfangs des „theoretischdogmatischen“ Vernunftgebrauchs und macht die objektive Realität der Verstandesund Vernunftbegriffe zum Gegenstand, wodurch die Wissenschaftlichkeit, welche für die Philosophie und besonders für die Metaphysik erforderlich ist, in die letzteren hineingepresst wird. Als „ein sicher[er] Fortschritt“ dient sie zur „Gründung einer Metaphysik, deren Zweck“ sich dann als der „Endzweck der reinen Vernunft“ erweist (FM AA 20:272 f.). 29 Die Mehrdeutigkeit des Metaphysikbegriffs bei Kant würde ich hier nicht weiter spezifisch behandelt. Dies wird sehr deutlich dargestellt in Rogelio Roviras Aufsatz „Von der mannigfachen Bedeutung der Metaphysik nach Kant“, in: Gerhardt, V., Horstmann, R.-P., Schuhmacher, R. (hrsg.), Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Berlin/Boston 2001, Bd. 2, S. 647–655. Auch die Entwicklungsgeschichte dieses Begriffs bei Kant werde ich nicht thematisieren. Eine solche Arbeit, und zwar in der Hinsicht der „Reform der Metaphysik“ der übersinnlichen Gegenstände, hat Robert Theis gemacht in seinem Beitrag „Kants Ideenmetaphysik. Zur ,Einleitung‘ und dem ,Ersten Buch‘ der ,transzendentalen Dialektik‘“, in: Fischer, N. (hrsg.), Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die ‚Kritik der reinen Vernunft‘, Hamburg 2010, S. 197–214. Leider wurde dort die praktisch-dogmatische Metaphysik, die das Hauptthema der gegenwärtigen Arbeit ist, nicht von Theis betrachtet. 30 Dieser dynamische Charakter des Verhältnisses der Teile zueinander in einem System der Metaphysik wird deutlich von Marcos A. Thisted gezeigt, vgl. Thisted, M. A., „Kant’s Late Metaphysics: On ,Metaphysics Proper‘ in der Fortschritte der Metaphysik“, in: in: Hahmann, A. u. Ludwig, B. (hrsg), Über die Fortschritte der Metaphysik. Beiträge zum System und Architektonik der kantischen Philosophie, Hamburg 2017, S. 199–216, bes. S. 211 ff.

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Nach diesem „theoretisch-dogmatischen Fortgang“ im ersten Stadium kommt das zweite als der „skeptische Stillstand“ (FM AA 20:281) oder die „Zweifellehre“ (FM AA 20:273), wo der „Fortschritt vom Bedingten zur Bedingung, vom Sinnlichen zum Übersinnlichen“ (FM AA 20:292) durchs kosmologische Verfahren ausgeführt wird. Es ist deswegen ein Stillstand, weil die Gültigkeit des theoretischen Gangs zum Übersinnlichen wegen der Antinomie des reinen spekulativen Vernunftgebrauchs als Scheitern verurteilt wird. Die spekulativen Versuche zur objektiven Realität der Ideen des Unbedingten erweise sich demnach als den transzendentalen Schein der Vernunft. Es lässt sich aber noch etwas Positives ergeben, und zwar die Nicht-Unmöglichkeit eines Übersinnlichen bzw. Intelligiblen, das aber nunmehr keineswegs als die oberste Bedingung zu einer gegebenen bedingten Erscheinung dient. Die durch das zweite Stadium eröffnete Möglichkeit wird nach Kant in dem dritten Stadium zur Realität erfüllt, das er als „praktisch-dogmatische Vollendung“ des Wegs der Fortschritte der Metaphysik (FM AA 20:281) und mithin als „Weisheitslehre“ (FM AA 20:273) bezeichnet. In Verbindung mit dem Endzweck der menschlichen Vernunft erweitert sich die Erkenntnis zum Feld des Übersinnlichen, die keineswegs theoretisches Wissen, sondern Vernunftglauben aus praktischer Hinsicht ist, damit die Metaphysik ihre eigentlichen Zwecke erreicht. Das dritte Stadium mit der „praktisch-dogmatischen Erkenntnis des Übersinnlichen“ bildet daher das Kernstück der ganzen „eigentlichen Metaphysik“, so dass ich diese als „praktisch-dogmatische Metaphysik“ bezeichnen würde. Kant betrachtet diese drei Stadien der Metaphysik als jeweils mit drei Disziplinen korrespondierend: Ontologie, Kosmologie und Theologie. Wegen der inhaltlichen Ähnlichkeit können das erste und das zweite Stadium selbstverständlich der Ontologie respektive Kosmologie entsprechen. Ferner sieht man zwar in dem dritten Stadium keine besondere Rolle der Gotteserkenntnis gegenüber anderen Ideen des Übersinnlichen, aber, sofern die praktisch-dogmatische Erkenntnis des Übersinnlichen den Charakter des Vernunftglaubens mit sich trägt, hat Kant gewissermaßen auch Recht, das dritte und letzte Stadium der eigentlichen Metaphysik als „Theologie“ zu bezeichnen.31 Nun stehen aber diese drei Disziplinen nicht nebeneinander, sondern sie verhalten sich stufenartig zueinander und dienen als einander folgende Schritte zur Entfaltung der eigentlichen Metaphysik in sich selbst: Sie erfährt zunächst einen Fortgang durch die kritische Betrachtung des Problem 31 Rudolf Langthaler hat diesen Punkt besonders betont, vgl. Langthaler, R., „Die Kennzeichnung des ,dritten Stadiums‘ der neueren Metaphysik als Theologie in Kants später Preisschrift und damit verbundenen systematischen Perspektiven“, in: Hahmann, A. u. Ludwig, B. (hrsg): Über die Fortschritte der Metaphysik. Beiträge zum System und Architektonik der kantischen Philosophie, Hamburg 2017, S. 119–156.

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der objektiven Realität der Begriffe und dann einen durch den Selbst-Widerstreit der Vernunft bewirkten Stillstand und schließlich wiederum einen Fortschritt als Weisheit.32 Soweit die gerechtfertigte metaphysische Erkenntnis des Übersinnlichen von Kant als „praktisch-dogmatische Erkenntnis“ und soweit die kantische „eigentliche Metaphysik“ von mir als „praktisch-dogmatische Metaphysik“ bezeichnet wird, ist hier nötig zu erklären, was der scheinbar unübliche Ausdruck „praktischdogmatisch“ eigentlich bedeutet. „Praktisch“ charakterisiert bei Kant im Allgemeinen dasjenige, was „durch die Freiheit möglich ist“ (KrV A 800/B 828). In jenem Ausdruck aber ist nicht von dem Praktischen überhaupt die Rede, sondern er bezieht sich auf das reine Praktische, das sich von dem zwar ebenfalls „praktischen“ genannten, aber auf pragmatischen oder technischen Vorschriften beruhenden Gebrauch der Vernunft unterscheidet, der seinerseits wesentlich noch stets mit den sinnlichen Betrieben und Zwecken des Menschen verbunden ist. Der reine praktische Vernunftgebrauch gründet sich lediglich auf die moralischen Gesetze, die unabhängig von allem Sinnlichen durch die Vernunft allein aufgestellt

32 Hier sei der Platz, die Unklarheiten der Textstruktur der Preisschrift, die durch Kants Wortgebräuche leicht verursacht werden, zu erklären. Die unfertige Schrift wird in zwei Abhandlungen eingeteilt. In der ersten Abhandlung geht es um „das Formale des Verfahrens der Vernunft“ (AA 20:265), und zwar um die drei „neuerdings geschehenen Schritte zur Metaphysik“, welche in der Tat die Aufgabe der Transzendentalphilosophie ausmacht: die Unterscheidung zwischen analytischem und synthetischen Urteil, das Stellen der Frage nach der Möglichkeit der apriorischen Synthesis, und die Möglichkeit des Erwerbs der apriorischen Erkenntnis aus der synthetischen Urteilen (ebd.). Die zweite Abhandlung thematisiert das Materiale des Verfahrens der Vernunft, nämlich den Endzweck der Vernunft. Sie behandelt also die „Fortschritte der Metaphysik selber“ und beinhaltet die Ontologie, die kosmologische Kritik und die praktisch-dogmatische Erkenntnis des Übersinnlichen, oder: den „theoretisch-dogmatischen Fortgang“, den „skeptischen Stillstand“ und die „praktischdogmatische Vollendung“ des Wegs der Metaphysik (AA 20:281), welche den drei Stadien der reinen Vernunft jeweils entsprechen: Wissenschaftslehre, Zweifellehre und Weisheitslehre (AA 20:273). Die Abfolge von Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus (AA 20:264) ist nur dann mit der Abfolge der drei „Fortschritten“ („theoretisch-dogmatischem Fortgang“ – „skeptischen Stillstand“ – „praktisch-dogmatischer Vollendung“) übereinstimmt, wenn von dem neuen Zustand der Metaphysik die Rede ist. Die Transzendentalphilosophie und die Ontologie fallen also in der Wissenschaftslehre zusammen, aber mit verschiedenen Aspekten und mithin in verschiedene Abhandlung verteilt: Die Transzendentalphilosophie betrifft das „Formale“ der reinen Vernunft und die Erklärung des Problems der objektiven Realität der Begriffe, so gehört sie zur ersten Abhandlung; die Ontologie dagegen geht das „Materiale“ der reinen Vernunft an und fungiert als Kritik, daher sie thematisiert das Problem der „Fortschritt“ der Metaphysik und gehört zur zweiten Abhandlung.

2.2 Die Konzeption der eigentlichen Metaphysik und ihre Endabsicht

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und zur Wirkung gebracht werden. Nur dieser reine praktische Gebrauch der Vernunft macht die Rechtfertigungsgrundlage der „eigentlichen Metaphysik“ aus, die auf das Erkennen des Übersinnlichen abzielt. Das andere charakteristische Wort „dogmatisch“ bezieht sich nicht auf den Dogmatismus, den Kant der von der deutschen Schulphilosophie im 18. Jahrhundert vertretenen traditionellen Metaphysik vorwirft; hier spielt der pejorative Wortgebrauch des Dogmatismus keine Rolle. Vielmehr verwiest das Adjektiv „dogmatisch“ auf das „dogmatische Verfahren“, wodurch die Philosophie methodisch von der Mathematik unterschieden wird.33 In diesem Verfahren soll die Erkenntnis der Metaphysik auf dem Grund der apriorischen Prinzipien der Vernunft gebildet werden, ohne dass diese Prinzipien in irgendeiner Anschauung dargestellt werden müssen. Die metaphysische Erkenntnis sind also „Dogmata“, sie bedarf keiner Beziehung auf die mit Zufälligkeit verbundene Anschauung, um sich selbst als richtig und gültig zu beweisen. Die Zusammensetzung der beiden Adjektive als „praktisch-dogmatisch“ zeigt uns schon, dass die metaphysische Erkenntnis nur als die aufgrund des reinen praktischen Vernunftgebrauchs beweisbaren Dogmata konzipiert werden kann. Ohne die Begründung aus dem reinen praktischen Gebrauch der menschlichen Vernunft dürfen die Lehrsätze der Metaphysik nicht als objektiv gültig erwiesen werden. Trotz dieser Begründung in Bezug aufs Praktische geht es in den metaphysischen Dogmata aber nicht um unsere moralischen Handlungen als solche, sondern um die übersinnlichen Gegenstände, die außerhalb der theoretischen Erkenntnisfähigkeit sowie des Handlungsvermögens des Menschen liegen, aber durch die spekulative Vernunft uns immer empfohlen werden. Mit einem Wort macht die eigentliche Metaphysik zum Gegenstand die Prinzipien dessen, was ist, nicht aber dessen, was sein soll; sie geht auf das Dasein der übersinnlichen Gegenstände, nicht das Sein-Sollen derselben. Daher gehört sie trotz der Verbindung mit dem praktischen Vernunftgebrauch nicht zur Metaphysik der Sitten, sondern zur Metaphysik der Natur im weiteren Sinn. Die Gründe und Hinsichten, aus denen Kant die gesuchte Metaphysik als „eigentliche Metaphysik“ ansieht, lassen sich in den folgenden drei Aspekten erklären. Zum ersten erfüllt sie den Anspruch auf das Überschreiten des Sinnlichen, der sich in der wörtlichen Bedeutung der Metaphysik als „des Meta des Physischen“ (τ α` μετ α` τ α` ϕυσ ικ α) ´ ausdrückt. Bei Kant bezeichnet das „meta“ nicht allein eine Grundlegung, die sich nachträglich zur Begründung des schon vorhandenen empirischen Naturwissens ergibt, sondern vor allem eine Übersteigung über die 33 Vgl.

Abschn. 2.1.1 dieser Arbeit.

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Die Endabsicht und Grundfrage der Metaphysik

sinnliche Naturwelt. Damit ist es auch klar, dass das „Physische“ hauptsächlich als die Sinnenwelt und als unsere Erkenntnis über sie zu verstehen ist, statt als die Fähigkeiten unserer Sinnenorgane. Indem die praktisch-dogmatische Metaphysik sich auf die Weisheit richtet, stimmt sie zugleich auch überein mit der ursprünglich von Aristoteles aufgestellten Grundbestimmung der πρ ωτ ´ η ϕιλoσ oϕ´ια als Streben nach der σoϕ´ια.34 Zum zweiten wird die Transzendenz, die Kant zufolge in der „Naturanlage der menschlichen Vernunft“ liegt, durch die praktisch-dogmatische Metaphysik in völligem und rechtem Sinne charakterisiert. Die Menschen stellen sich ruhelos Fragen nach dem übersinnlichen Gegenstand, auch wenn sie dabei große Schwierigkeiten erleiden. Nachdem die Selbstkritik der reinen Vernunft den Schein, dem man bei Fragen nach dem Übersinnlichen notwendig begegnet, auf systematische Weise dargestellt hatte (vgl. Kap. 3), gibt die praktisch-dogmatische Metaphysik dieser menschlichen Natur erneut Rechtfertigung und Erfüllungsmöglichkeit, statt sie als bedeutungslos beiseite zu legen. Schließlich und vielleicht am wichtigsten ist es, dass nur die praktischdogmatische Metaphysik die Aufgabe erfüllen kann, welche die Philosophie „nach dem Weltbegriff“ den Metaphysikern überträgt. In der Philosophie in dieser Bedeutung sollen alle Kenntnisse auf die „ganze Bestimmung des Menschen“, die selbst mit dem Übersinnlichen verbunden sind, bezogen werden, und diese Beziehung ist nur durch die wissenschaftliche Vermittlung der Metaphysik möglich. Diese Vermittlungsrolle wird von der praktisch-dogmatischen Metaphysik allein gespielt, indem diese sich einerseits mit dem Sinnlichen, als dem Ausgangspunkt des praktisch-dogmatischen Überschritts, und andererseits mit den „wesentlichen Zwecken der Menschheit“ verknüpft.35 Die praktisch-dogmatische Metaphysik erweist sich also als ein dynamisches, sich entwickelndes System der Vernunfterkenntnis a priori. Dieses unterscheidet sich von der überlieferten Gliederung der Metaphysik in die metaphysica generalis und metaphysica specialis. Um nun die wesentliche Bewegungskraft, durch welche 34 Vgl.

etwa Aristoteles, Metaphysik, 982b 28. Metaphysik der Natur in ihrem normalen Sinne kann zwar auch dasjenige betreffen, das über die Erfahrungswelt hinausliegt, und zwar in dem transzendenten Gebrauch der Vernunft (vgl. KrV A 845/B 873). Aber ihr Verfahren ist rein theoretisch und der Naturbetrachtung gemäß; d. h. sie hat ihrerseits nichts mit dem wesentlichsten Zweck der menschlichen Vernunft, nämlich der „ganzen Bestimmung des Menschen“, zu tun. Außerdem kann die theoretische Vernunft das Übersinnliche hinsichtlich des gültigen Erkenntnisanspruchs nur denken, nicht aber erkennen. Die Metaphysik der Sitten geht dagegen nur auf das Übersinnliche und gar nicht auf das Sinnliche, daher kann sie die gedachte Rolle der Vermittlung zwischen der Erkenntnis des Sinnlichen und der „ganzen Bestimmung des Menschen“ nicht erfüllen. 35 Die

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die Metaphysik jene drei Stadien einander folgend erfährt, klar zu machen, ist im Folgenden zu erörtern, was eigentlich der Endzweck bzw. die Endabsicht ist, auf welche sich die Metaphysik mit allen ihren Versuchen richtet.

2.2.2

Die Endabsicht der Metaphysik: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit

Zur Grundbestimmung der Metaphysik bei Kant gehört eine Rede von der „Endabsicht“ derselben, welche die Besonderheit der kantischen Metaphysik charakterisiert. Eine solche Rede ist aber dann deutlich, wenn die Metaphysik mit der „Philosophie nach dem Weltbegriff“ verbunden ist. Denn in dieser Verbindung bezieht sich die Metaphysik auf die „wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“ und entfaltet sich dabei stufenartig, also wie oben gezeigt, in drei Stadien.36 In diesem Abschnitt werde ich darauf eingehen, was Kant als „Endabsicht der Metaphysik“ festlegt, von der aus deutlich wird, aus welchem Grund die Metaphysik von der Ontologie über die Kosmologie bis schließlich zur Theologie bzw. praktischdogmatischen Erkenntnis des Übersinnlichen fortgeht. Kant hat diese Endabsicht der Metaphysik vielfach ausdrücklich gezeigt. „Diese unvermeidlichen Aufgaben der reinen Vernunft selbst, sind Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Die Wissenschaft aber, deren Endabsicht mit allen ihren Zurüstungen eigentlich nur auf die Auflösung derselben gerichtet ist, heißt Metaphysik …“ (KrV B 7) So sagt Kant in einem in der „Einleitung“ der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft hinzugefügten Textstück. In einer Fußnote, die er ebenfalls für die zweite Auflage neu verfasst hat, wird es ähnlich formuliert: „Die Metaphysik hat zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschung nur drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, …. Alles, womit sich diese Wissenschaft sonst beschäftigt, dient ihr bloß zum Mittel, um zu diesen Ideen und ihrer Realität zu gelangen.“ (KrV B 395 Anm.) Nach den beiden angeführten Texten orientiert sich die ganze Metaphysik nach den drei Gegenständen, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, und alle übrigen Arbeiten dieser Wissenschaft sollen als „Zurüstungen“ oder „Mittel“ zu dieser „Endabsicht“ bezeichnet werden.37 36 Man soll aber sagen, dass der Endzweck eines statischen metaphysischen Systems, wenn es einen solchen überhaupt geben könnte, nur aus der äußerlichen Absicht des Philosophen hervorgeht, nicht aber aus der Vernunft selbst. 37 Ich würde damit aber nicht meinen, dass Kant erst in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft zum Sinn kommen ließ, dass jene drei übersinnlichen Gegenstände eine besondere Roll in der Metaphysik spielen. Schon am Ende der 60iger Jahre (wenn die Datierung der nachgelassenen Notizen Kants richtig ist) hat Kant die Ansicht, dass Gott,

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Die Endabsicht und Grundfrage der Metaphysik

Kant hat in der Kritik der reinen Vernunft zwar keine direkte Begründung dafür gegeben, warum die Endabsicht der Metaphysik jene drei Ideen sind und nicht vielmehr andere. Aber eine indirekte doch, nämlich die sogenannte „subjektive Ableitung“ der Ideen des Unbedingten zum „System der transzendentalen Ideen“ (vgl. KrV A 321 ff./B 377 ff.), die mit der „metaphysischen Deduktion“ der Kategorien in dem § 10 der „Analytik der Begriffe“ (vgl. KrV A 76 ff./B 102 ff.) vergleichbar ist. Die oben angeführte Fußnote deutet an, dass man in der Systematisierung der Ideen des Unbedingten eine indirekte Angabe der Feststellung jener drei Ideen des Übersinnlichen (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit) als Endabsicht der Metaphysik erwarten darf.38 Dabei werden die Begriffe des Unbedingten zunächst durch den bis zum Ende fortzusetzenden Prosyllogismus der jeweiligen (kategorischen, hypothetischen und disjunktiven) Vernunftschlüsse gewonnen,39 was als die Erklärung der formalen Bestimmung des Vernunftbegriffs des Unbedingten anzusehen ist. Die inhaltliche Bestimmung desselben geht aber davon aus, welche Beziehung „unsere Vorstellungen haben können“, nämlich die Beziehung auf das Subjekt, auf die Objekte als Erscheinungen und auf die Objekte als Dinge überhaupt (vgl. KrV A 333/B 390). In Verbindung mit jener formalen Bestimmung, also indem wir diese dreifachen Beziehungen nach dem Verfahren des Prosyllogismus Freiheit und Unsterblichkeit „der Grund der Erheblichkeit der ganzen Metaphysik“ seien (Refl. 4241, AA 17:475). Und schon in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft hat Kant deutlich gesagt: „Die Endabsicht, worauf die Spekulation der Vernunft im transzendentalen Gebrauche zuletzt hinausläuft, betrifft drei Gegenstände: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele, und das Dasein Gottes.“ (KrV A 798/B 826) 38 „Die Metaphysik hat zum eigentlichen Zwecke, ihrer Nachforschung nur drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, so daß der zweite Begriff, mit dem ersten verbunden, auf den dritten, als einen notwendigen Schlußsatz, führen soll. Alles, womit sich diese Wissenschaft sonst beschäftigt, dient ihr bloß zum Mittel, um zu diesen Ideen und ihrer Realität zu gelangen. Sie bedarf sie nicht zum Behuf der Naturwissenschaft, sondern um über die Natur hinaus zu kommen. Die Einsicht in dieselben würde Theologie, Moral, und, durch beider Verbindung, Religion, mithin die höchsten Zwecke unseres Daseins, bloß vom spekulativen Vernunftvermögen und sonst von nichts Anderem abhängig machen. In einer systematischen Vorstellung jener Ideen würde die angeführte Ordnung, als die synthetische, die schicklichste sein, aber in der Bearbeitung, die vor ihr notwendig vorhergehen muß, wird die analytische, welche diese Ordnung umkehrt, dem Zwecke angemessener sein, um, indem wir von demjenigen, was uns Erfahrung unmittelbar an die Hand gibt, der Seelenlehre, zur Weltlehre, und von da bis zur Erkenntnis Gottes fortgehen, unseren großen Entwurf zu vollziehen.“ (KrV B 395 Anm.) 39 „So viel Arten des Verhältnisses es nun gibt, die der Verstand vermittelst der Kategorien sich vorstellt, so vielerlei reine Vernunftbegriffe wird es auch geben, und es wird also erstlich ein Unbedingtes der kategorischen Synthesis in einem Subjekt, zweitens der hypothetischen Synthesis der Glieder einer Reihe, drittens der disjunktiven Synthesis der Teile in einem System zu suchen sein.“ (KrV A 323/B 379)

2.2 Die Konzeption der eigentlichen Metaphysik und ihre Endabsicht

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totalisieren, haben wir dann drei Ideen des Unbedingten: a) der absoluten Einheit des denkenden Subjekts, b) der absoluten Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung und c) der absoluten Einheit der Bedingung aller Dinge überhaupt. Alle dialektischen Schlüsse der Metaphysik beruhen Kant zufolge auf diesen drei Ideen des Unbedingten. Kant setzt diese drei Ideen der unbedingten Einheit mit den jeweiligen Gegenständen der drei Disziplinen der metaphysica specialis gleich, nämlich der Seele, der Welt und dem Gott. Die Berechtigung dieser Gleichsetzung ist in der Fachliteratur umstritten,40 was die indirekte Begründung der Endabsicht der Metaphysik zu falsifizieren zu drohen scheint. Trotzdem ist sie eigentlich nicht beliebig ausgedacht, sondern mit Recht, ob sie zwar nicht immer zureichend zwingend ist. Kant hat nämlich keine Absicht, aus jener Dreiteilung alle vorhandenen, ja sogar alle möglichen metaphysischen Positionen erschöpfend aufzuzählen. Er konzentriert sich vielmehr nur auf das metaphysische Verfahren, durch das man auf die Existenz der transzendenten Gegenstände schließt. Diese transzendenten Gegenstände, und zwar Seele und Gott, und gewissermaßen auch die Welt in ihrer absoluten Ganzheit, werden schon in der vorhandenen Schulmetaphysik thematisiert und mithin vorgegeben. Kants Aufgabe in der Systematisierung der transzendentalen Ideen besteht bloß darin, zu zeigen, auf welche Weise diese vorher ausgedachten Transzendenten ihren Begriffen nach in der Natur der menschlichen Vernunft wurzeln. Und es lässt sich zumindest leicht verstehen, dass Seele, Weltganzes und Gott aus jenen drei Begriffen der absoluten Einheit der Bedingung her konzipiert werden können.41

40 Einige

Kant-Interpreten wie Kamp Smith und Jonathan Bennett sind der Meinung, dass Kants Gleichsetzung der drei Ideen des Unbedingten mit den drei Gegenständen der metaphysica specialis nicht überzeugend ist. Vgl. Smith, N.K., A Commentary to Kant’s “Critique of Pure Reason”, London 1918, p. 454, Bennett, J., Kants Dialectic, Cambridge 1974, p. 258. 41 Unklarheiten kann man darin natürlich noch wahrnehmen, z. B. man kann die Frage stellen, warum die Idee der Welt hier, als Gegenstand der Kosmologie, der „Reihe“ der Kette der hypothetischen Schlüsse und nicht vielmehr dem „Ganzen“ der disjunktiven Schlüsse entspricht. Den letzteren Gedanken hat Kant selber in seiner Frühzeit einmal vertreten, und zwar implizit in der Reflexion 4169 (etwa 1769–1770 aufgeschrieben) unter dem Aspekt der Unterscheidung zwischen Ontologie, Kosmologie und Theologie: „Die Allgemeinheit (Omnitudo) ist entweder die vertheilte oder zusammenfassende allgemeinheit, distributiva oder collectiva. … Die collectiva ist entweder der subordination oder der coordination. Die der letzten giebt den Begrif der Welt, die erstere den Begrif des Urwesens als des Grundes aller einander subordinirten Folgen, … Die Cosmologia [handelt] von allen zusammen, die als Theile zu eben demselben Gantzen gehören. Die theologia naturalis von allen zusammen, die als Folgen zu einem Grunde gehören.“ (AA 17:442) Von dieser Stelle lässt sich vermuten, dass Kant damals daran dachte, dass die Kosmologie und die Welt dem disjunktiven, die Theologie und Gott dem hypothetischen Schluss entspricht.

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Hier ist nicht zu leugnen, dass Kants Konzeption des Systems der Ideen des Unbedingten mit gewissen historischen bzw. fachterminologischen Voraussetzungen gebunden ist. Dies schadet aber meiner Meinung nach der Zulässigkeit seiner Begründung grundsätzlich nicht.42 Sofern die Idee der Unsterblichkeit unter dem Vernunftbegriff der Seele und diejenige der Freiheit unter demjenigen der Welt behandelt werden können, ist jene Systematisierung der Ideen des Unbedingten noch mit Recht als indirekte Angabe der Endabsicht der Metaphysik anzusehen. Zu meinem Zweck aber ist jene Systematisierung noch insofern problematisch, als sie nicht klargemacht hat, warum die Unsterblichkeit und nicht vielmehr die Substantialität der Seele, warum die Freiheit und nicht vielmehr der zeitliche Weltanfang zur sogenannten „Endabsicht der Metaphysik“ gezählt werden müssen. Man soll daran denken, dass diese indirekte Angabe um eine weitere Begründung ergänzt werden muss, um die Legitimität der Feststellung der metaphysischen Endabsicht endlich zustande zu bringen. Diese weitere Begründung befindet sich vor allem in der Konzeption der „Philosophie nach dem Weltbegriff“, die ich in dem letzten Abschnitt zum Thema gemacht habe. „Weltbegriff“ betrifft in diesem Kontext dasjenige, „was jedermann notwendig interessiert“ (KrV A 839/B 867 Anm.). „Jedermann“ heißt hier auch der „gemeine Verstand“ (vgl. z. B. KrV A 830 f./B 858 f.). In Bezug auf die Frage nach der Existenz Gottes und dem künftigen Leben behauptet Kant, dass „kein Mensch bei diesen Fragen frei von allem Interesse“ sei (KrV A 830/B 858). Denn diese Fragen hängen mit „meiner moralischen Gesinnung“ verwebend zusammen (KrV A 829/B 857), und „[d]as menschliche Gemüt nimmt (so wie ich glaube, dass es bei jedem vernünftigen Wesen notwendig geschieht) ein natürliches Interesse an der Moralität, ob es gleich nicht ungeteilt und praktisch überwiegend ist“ (KrV A 829 f./B 857 f. Anm.). Auch derjenige, der sich mit keiner moralischen Gesinnung verbindet, ist insofern nicht von diesen Fragen frei, als er „ein göttliches Dasein und die Zukunft fürchte[t]“ (KrV A 830/B 858). Soweit die Fragen nach dem Dasein Gottes und der weiteren Existenz der Seele nach dem Tode „alle Menschen angeh[en]“ (KrV A 831/B 859), hat Kant gute Gründe, die Ideen Gottes und der Unsterblichkeit und ihre objektive Realität als Endabsicht der Metaphysik zu betrachten.43 Diese Begründung wird dann mit besserer Wissenschaftlichkeit in der praktischen Postulatenlehre der zweiten Kritik, 42 Zur ausführlichen Verteidigung der kantischen Überlegungen gegen die Einwände der Fachliteratur seit Kamp Smith vgl. Allison Kant´s Transzendental Idealism, New Haven/London 2 2004, pp. 313–322, bes. p. 319 ff. 43 Vgl. Refl. 4459, die etwa 1772 aufgeschrieben wurde: „Was ist dasjenige, was den tiefen Untersuchungen der Metaphysik ihren obersten Bewegungsgrund giebt und worin die Wahre Wichtigkeit einer solchen Wissenschaft zu setzen ist…. Sie sind 2. Ist ein Gott, und ist ein künftiges Leben.“ (AA 17:559)

2.2 Die Konzeption der eigentlichen Metaphysik und ihre Endabsicht

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und zwar genauer in dem Gedanken der praktischen Regulation und der Konzeption des Vernunftbedürfnisses entwickelt, wie ich später in Kapiteln 6 und 7 behandeln werde. Die Freiheit zur Endabsicht der Metaphysik zu erheben, gehört zur Originalität Kants für die Bestimmung des Metaphysikbegriffs, obwohl es in Kants Texten aber schwer ist, direkte Angaben dafür zu finden, aus welchen Gründen der Freiheitsbegriff eine solche Stelle haben kann. In Baumgartens Metaphysica steht das Freiheitsproblem unter der psychologia empirica, bei der die Freiheit als das obere Begehrungsvermögen der substantiellen Seele aus ihrem inneren Prinzip verstanden wird.44 Dort spielte der Freiheitsbegriff noch keine besondere Rolle für den Aufbau des metaphysischen Systems. Die Tatsache, dass Kant den Freiheitsbegriff als die Endabsicht der Metaphysik, sogar als den „eigentliche[n] Endzweck“ derselben betrachtet (FM AA 20:292), lässt sich wahrscheinlich daraus erklären, dass dieser Begriff mit der Antinomie der reinen Vernunft eng verbunden ist. Kant hat in seiner späten Zeit an Christian Garve (am 21. Sept. 1798) geschrieben: „Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punkt gewesen von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r. V.: ‚Die Welt hat einen Anfang -: sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten [!]: Es ist Freiheit im Menschen, – gegen den: es ist keine Freiheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendigkeit‘; diese war es welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb, um das Skandal des scheinbaren Wiederspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben.“ (AA 12:257). In Vergleich zu anderen kosmologischen Ideen hat die Idee der Freiheit die Besonderheit in sich, dass sie als Unabhängigkeit der Vernunftbestimmung von aller Naturnotwendigkeit die Möglichkeit der Reinheit der Vernunft betrifft. Wäre es keine Freiheit, hätte die Vernunft auch keinen reinen Gebrauch und hinge sie also immer von der Natur ab. In diesem Sinne ist Freiheit nicht allein der Grund aller Moralität und mithin der „Philosophie nach dem Weltbegriff“ überhaupt, sondern sie bezieht sich sogar auf die Selbständigkeit und Selbsterhaltung der reinen Vernunft. Aus dieser Hinsicht ist es kein Wunder, dass Kant den Freiheitsbegriff zur Endabsicht der Metaphysik erhebt und als „Schlussstein vom ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft“ (KpV AA 05:03) ansieht. Trotz des implizierten Mitenthaltens gewisser historischer und kultureller Voraussetzungen ist diese Festlegung der drei Ideen des Übersinnlichen als „Endabsicht der Metaphysik“ meines Erachtens allerdings noch verständlich, sofern sie erstlich aus dem indirekten Beweis durch das System der transzendentalen Ideen des Unbedingten (Seele, Welt und Gottes) und zweitens aus dem Zusammenhang 44 Vgl.

Baumgarten, Metaphysica, §§ 700–732.

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Die Endabsicht und Grundfrage der Metaphysik

jener drei Ideen des Übersinnlichen mit der „Philosophie nach dem Weltbegriff“ erklärt wird. Damit werden also die drei Stadien der Fortschritte der Metaphysik in eine systematische Einheit gebracht, und zwar durch ihre jeweilige Beziehung auf diese Endabsicht. Das Stadium der Ontologie bereitet den Weg zu dieser Endabsicht vor, indem es die allgemeinen Bedingungen kritisch klarmacht, unter denen die Verstandes- und Vernunftbegriffe ihre objektive Realität bekommen. Im zweiten Stadium, nämlich in der Kosmologie, versucht die Vernunft aus ihrem spekulativen Verfahren die gesuchte objektive Realität für diese drei Ideen zu beweisen, wodurch aber die Vernunft in den Widerstreit mit sich selbst gerät, so dass ein „skeptischer Stillstand“ in dem Gang des metaphysischen Fortschrittes stattfindet. Erst im dritten Stadium der Metaphysik erreicht die Vernunft endlich diese von ihr selbst vorgeschriebene Endabsicht und bringt die systematische Einheit aller metaphysischen Erkenntnis zustande, indem sie die „praktisch-dogmatische Erkenntnis“ des Übersinnlichen in Bezug auf den Endzweck der praktischen Vernunft möglich macht. Nun dürfen wir, hinsichtlich dieser Endabsicht und Einheit der Metaphysik, auf die Bestimmung der Grundfrage derselben bei Kant eingehen, die das eigentliche Thema des vorliegenden Teils meiner Arbeit ausmacht.

2.3

Die Grundfrage der eigentlichen Metaphysik: Wie ist die Synthesis a priori des Übersinnlichen möglich?

Da nun die Metaphysik in ihrem eigentlichen Sinne als die Wissenschaft des Fortschreitens zur Erkenntnis des Übersinnlichen definiert wird, ist es wegen des wissenschaftlichen Charakters nötig, zu zeigen, was die Grundfrage der Metaphysik sei, auf die sie nicht nur kritisch, sondern auch systematisch eine Antwort zu geben sucht und mithin sich entfaltet. Erst wenn Kant sich solcher Grundfrage klar bewusst wird, ist er in der Lage, über die Normaldefinition der Metaphysik hinaus das praktisch-dogmatische System derselben aufzubauen. In diesem Sinne erweist sich die Grundfrage als dasjenige, was die Grundrichtung für den Aufbau des ganzen Systems der Metaphysik bestimmt. Kant hat selber aber keine Frage ausdrücklich als Grundfrage seiner Metaphysik dargestellt. Man müssen sie mit eigenen Kräften herausfinden. Eine Möglichkeit, zu den Grundfragen überzugehen, wird geliefert durch eine vorläufige Überlegung darüber, welche Frage Kant zufolge die menschliche Vernunft zur Metaphysik einlädt und einführt. Ich möchte sie vorläufig die „Leitfrage“ der Metaphysik nennen, sofern sie dem Menschen unentbehrlich ist. Solche Leitfrage darf keineswegs die historische oder biographische Frage nach dem „metaphysischen Motiv“ der kantischen Philosophie sein, denn sie soll nicht

2.3 Die Grundfrage der eigentlichen Metaphysik: Wie ist die Synthesis …

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aus privatem Interesse hervorgehen, sondern für alles „Vernunftwesen“ und vornehmlich für den gemeinen Verstand des Menschen gültig sein. Anders formuliert: Sie muss das betreffen, was „jedermann notwendig interessiert“ (KrV A 839/B 867 Anm.). Diejenigen Fragen, in denen sich „alles Interesse meiner Vernunft … vereinigt“ (KrV A 804/B 832) und auf die sich „das ganze Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung“ bringen lässt (Logik AA 09:25), sind es: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“ Aber nicht alle drei Fragen beziehen sich auf die hier thematisierte „eigentliche Metaphysik“. Die erste Frage betrifft den Geltungsbereich und die Grenzbestimmung des menschlichen Erkennens,45 die zweite die moralisch-praktische Regel der menschlichen Handlungen. Nur die dritte Frage, welche „praktisch und theoretisch zugleich“ ist (KrV A 805/B 833), bezieht sich auf das, was mit der Normaldefinition der Metaphysik übereinstimmt, weil in dieser Frage „das Praktische nur als ein Leitfaden zu Beantwortung der theoretischen, und, wenn diese hoch geht, spekulativen Frage führet“ (ebd.). Die Hoffnungsfrage geht auf Glückseligkeit, und, sofern diese berechtigt werde, auf das höchste Gut, in dem die Glückseligkeit dem vollkommen moralischen Tun des Menschen proportional entspricht. In dieser Hoffnung auf das praktische Ideal treten zwei weitere Fragen nach der notwendigen „Voraussetzung“ desselben hervor (vgl. KrV A 811/B 839), nämlich die Fragen: „ist ein Gott? Ist ein künftiges Leben?“ (KrV A 803/B 831) Sie interessieren allgemein, und in Ansehung ihrer muss „ein Kanon ihres [sc. der reinen Vernunft] Gebrauchs möglich sein“ (ebd.). Mit eben diesen beiden Sachthemen, „die Erkenntnis Gottes“ und „die Hoffnung oder wohl gar die Beschaffenheit einer andern Welt“, wird „Theologie“ verbunden (KrV A 852/B 880). Und Kant zeigt in dem letzten Hauptstück der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft, wo er systematisch über die „Geschichte der reinen Vernunft“ spricht, sehr deutlich: „Theologie“ „war indessen eigentlich das, was die bloße spekulative Vernunft nach und nach in das Geschäfte zog, welches in der Folge unter dem Namen der Metaphysik so berühmt geworden“ (KrV A 853/B 881). Aus diesen Gründen können sich diese beiden als die gesuchten Leitfragen erweisen, welche die Vernunft zur Metaphysik hinführen. Diese Leitfragen, die nicht allein mit dem theoretischen bzw. spekulativen Gebrauch der reinen Vernunft, sondern auch und vor allem mit dem praktischen Gebrauch derselben verbunden sind, lenken die Aufmerksamkeit der Vernunft auf den Begriff des Übersinnlichen, weil sowohl Gott wie auch die Unsterblichkeit 45 In

der Logik-Vorlesung hängt Kant diese erste Frage mit der „Metaphysik“ zusammen (Logik, AA 09:25), aber offenbar nicht der Metaphysik gemäß der o. g. Normaldefinition, sondern der Metaphysik in der vorläufigen Bestimmung bei dem damaligen üblichen Wortgebrauch z. B. als der „Wissenschaft von den ersten Prinzipien der menschlichen Erkenntnis“ (KrV A 843/B 871).

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Die Endabsicht und Grundfrage der Metaphysik

außerhalb der sinnlichen Erfahrung liegen. In diesem Sinne drücken sie schon aus, was die Normaldefinition der Metaphysik erfordert. Trotzdem sind sie aber noch keine Grundfrage der Metaphysik, denn sie werden bloß auf die Weise des gemeinen Verstandes gestellt und zeigen den wissenschaftlichen bzw. kritischen Charakter der eigentlichen Metaphysik noch nicht. Die Grundfrage der Metaphysik freizulegen, heißt zu erklären, auf welche Weise und in welche Richtung die Vernunft die Frage nach dem Übersinnlichen stellen soll, damit die Metaphysik dieses wissenschaftlich thematisiert und sich systematisch entfaltet. Die Wissenschaftlichkeit der Metaphysik zeigt sich vor allem darin, dass alle mögliche metaphysische Erkenntnis in der Gestalt des synthetischen Urteils a priori ausgedrückt werden soll. In den Prolegomena werden alle „eigentlich metaphysischen Urteile“ als „synthetisch“ festgestellt, so dass die Metaphysik „es eigentlich mit synthetischen Sätzen a priori zu tun habe, und diese allein ihren Zweck ausmachen“ (vgl. Prol. AA 04:273 f.). Da aber die Möglichkeit aller synthetischen Erkenntnis a priori problematisch sei (vgl. Prol. AA 04:275), müssen „alle Metaphysiker“ vor den „eigentliche[n] mit schulgerechter Präzision ausgedrückte[n] Aufgaben, auf die alles ankommt“ (Prol. AA 04:276), stehen, nämlich: „Wie sind synthetische Erkenntnis a priori möglich?“ (Prol. AA 04:278). Darin wird auch die „transzendentale Hauptfrage“ für die Metaphysik ausdrücklich gemacht: „Wie ist Metaphysik als Wissenschaft“ – als synthetische Erkenntnis a priori – „möglich?“ (Prol. AA 04:280). Dieselbe Fragestellung wird von Kant später für die Umschreibung der Einleitung zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft aufgenommen (vgl. KrV B 19 ff., bes. B 22). In dieser „transzendentalen Hauptfrage“: wie die metaphysische synthetische Erkenntnis a priori möglich sei, wird bereits die gesuchte Grundfrage impliziert. Denn in der Möglichkeit eines apriorischen synthetischen Urteils wird gefragt, auf welchem Grund oder mit welchem Recht ein Prädikat das Urteilssubjekt bestimmen kann, sofern das erstere nicht in dem letzteren enthalten ist und dieses Bestimmungsverhältnis außerdem nicht aus der Erfahrung herkommt. In einem metaphysischen apriorisch-synthetischen Urteil wird das Satzsubjekt als eine Vernunftidee des Übersinnlichen erfasst und das Urteil mithin als apriorische Synthesis von dem Übersinnlichen formuliert. Da nun, wie im 1. Kapitel meiner Arbeit gezeigt, die objektive Realität der Idee des Übersinnlichen problematisch ist, wird die Möglichkeit der apriorischen Synthesis des Übersinnlichen vor allem mit dem Problem der objektiven Realität bzw. des Außer-dem-Begriff-Seins desselben (als des Subjekts des Urteils) verbunden. Denn wenn die Idee keine objektive Realität hätte, gingen alle urteilslogischen Prädikate von ihrem Gegenstand ins Leere. Und umgekehrt ist auch die Zuschreibung der objektiven Realität, nämlich der Bezug der Ideen des Übersinnlichen auf das Außer-dem-Begriff-Sein desselben,

2.3 Die Grundfrage der eigentlichen Metaphysik: Wie ist die Synthesis …

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als eine ursprüngliche Synthesis a priori zu betrachten, weil bei dem endlichen Menschen das Außer-dem-Begriff-Sein des Gegenstandes keineswegs analytisch aus dem Begriff als solchem eingesehen werden kann. So möchte ich die Grundfrage der eigentlichen Metaphysik schließlich auf zweie Weisen formulieren – die ontologische Formulierung: Wie können die Ideen des Übersinnlichen ihre objektive Realität haben?; und die transzendentale Formulierung: Wie sind die synthetischen Urteil a priori des Übersinnlichen möglich? In Bezug auf die Konzeption der Philosophie „nach dem Weltbegriff“ und auf die Normaldefinition der Metaphysik kann man sagen, dass das Wesentliche der Frage nach der objektiven Realität der Ideen des Übersinnlichen eigentlich darin besteht, ob die apriorischen Begriffe der reinen Vernunft (und nicht des Verstandes, auch nicht bloß der Vernunft überhaupt) den Gegenstandbezug haben, in dem sich die Ideen auf etwas Sinnliches, mithin auf die Natur als das Sinnliche überhaupt beziehen, und nicht nur auf etwas bloßes Vernünftiges bzw. Intelligibles. Anders formuliert: Ist es möglich, dass die Ideen des Übersinnlichen auch mit dem, was ist (und nicht nur dem, was sein soll), zusammenhängen? Wir fangen also von den Fragen aus den Interessen der Vernunft (bes. „Was darf ich hoffen?“) an und gehen über die Leitfragen der Metaphysik („Ist ein Gott? Ist ein künftiges Leben?“) schließlich zur Grundfrage derselben in deren beiden (der ontologischen und der transzendentalen) Formulierungen. Aber bis dahin ist die Grundfrage der Metaphysik nur formal gestellt. Es bleibt noch unklar, auf welche Weise diese Frage sich in der praktisch-dogmatischen Metaphysik entfaltet und damit ihre philosophische Bedeutung darstellt. Dafür sollen wir auch diejenige Grundrichtung untersuchen, nach der sich die Entfaltung und Antwort dieser Grundfrage orientiert. Nur auf diesem Grund kann die Grundfrage der Metaphysik ihre inhaltliche Konkretheit erhalten.

Teil II Die Grundrichtung der Metaphysik

Es ist nun klar, dass durch die Problematisierung der objektiven Realität der Ideen sowohl dem Bedürfnis der Selbsterhaltung der Vernunft wie auch der damit zusammenhängenden Möglichkeit der Metaphysik Herausforderung gebracht werden. Ob die menschliche Vernunft dieser Herausforderung gerecht wird, hängt davon ab, ob wir endlich eine andere Art und Weise – andere als durch den Bezug auf die Bedingungen der Sinnlichkeit – finden, die objektive Realität der Ideen oder das Außer-dem-Begriff-Sein der Gegenstände derselben zu beweisen und darzustellen. Mit dieser Art und Weise denkt man eigentlich an die Grundrichtung, nach der eine Antwort auf die metaphysische Grundfrage nach der objektiven Realität der Ideen des Übersinnlichen zu geben ist. Da die Metaphysik auf die natürliche Tendenz der Transzendenz des Menschen bezogen wird, bedeutet die Frage nach der Grundrichtung für die Antwort der metaphysischen Grundfrage nun eigentlich die Suche nach den Gründen, auf denen die Transzendenz berechtigt stattfindet, und zwar nach ihren Gründen im Subjekt. Auch die Metaphysiker vor Kant sind sich bewusst, dass die Erkenntnis einer unbedingten bzw. übersinnlichen Bedingung dessen, was ist, nicht von dem Vermögen der sinnlichen Anschauung des Menschen stützt wird. Daraus ergibt sich selbstverständlich, dass man in dem begrifflichen Vermögen, d. h. hier in dem Vermögen der Vernunft den Ort suchen, in dem die objektive Realität der Idee jener Bedingung dargestellt werden kann. Kant will aber einen Schritt weiter machen, und zwar feststellen, inwiefern die Vernunft des Menschen einen solchen Platz liefern kann. Vor allem ist natürlich die Frage: Ist dies die theoretische bzw. spekulative Vernunft, oder vielmehr die praktische Vernunft? Dieses Problem ist für die Charakterisierung der Metaphysik entscheidend, denn die Gründe, welche die Transzendenz fundieren, bestimmen auch im Wesentlichen den Grundcharakter der metaphysischen Transzendenz selbst. Ich werde in dem vorliegenden Teil den Grundgedanken Kants in diesem Problem betrachten. Dafür werde ich zunächst die Kritik an der Metaphysik, die Kant vor allem in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft entwickelt

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Teil II Die Grundrichtung der Metaphysik

hat, als die Kritik an der spekulativen Transzendenz zu den drei übersinnlichen Ideen (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit) deuten und sie mit dem Gedanken des „skeptischen Stillstandes“ verbinden, den Kant in der Preisschrift aufstellt (Kap. 3). Dann werde ich nach den Hinweisen in der Preisschrift rekonstruieren, wie Kant in dem Verfahren der reflektierenden Urteilskraft und schließlich in der reinen praktischen Vernunft die notwendigen Gründe für die metaphysische Transzendenz findet. Ich nennt diesen Versuch Kants die „praktische Transzendenz“ (Kap. 4).

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Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik

Nach Kants Konzeption der eigentlichen Metaphysik gehört die Metaphysikkritik notwendig zur Grundbestimmung und zum Aufbau des metaphysischen Systems, also nicht äußerlich oder von irgendwelchem historischen Interesse abhängig. Denn sie macht einerseits den Grundinhalt der Vorstufen der „Weisheitslehre“ bzw. der „praktisch-dogmatischen Erkenntnis des Übersinnlichen“, nämlich den Grundinhalt des „ersten“ sowie des „zweiten Stadiums“ der eigentlichen Metaphysik aus (vgl. FM AA 20:281 ff.). Andererseits kann sie als Abgrenzung von dem wahrhaften und berechtigten Metaphysikversuch fungieren, den Kant dem „dritten Stadium“ der eigentlichen Metaphysik zuschreibt und den ich in dem nächsten Kapitel konkret als „praktische Transzendenz“ bezeichnen möchte. In der Kritik der reinen Vernunft wird die Metaphysikkritik ganz offenbar parallel zur damals üblichen Disziplineinteilung in der Schulmetaphysik durchgeführt, und zwar einerseits hinsichtlich der metaphysica generalis oder ontologia und andererseits in Bezug auf die drei Disziplinen der metaphysica specialis. Die Kritik an der Ontologie befindet sich verstreut in der Transzendentalen Ästhetik und der Transzendentalen Analytik und besonders konzentriert in dem Anhangskapitel über die „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“, das als Übergang von der Transzendentalen Analytik zur Transzendentalen Dialektik betrachtet werden kann.1 Die Kritik an der

1 Kant selbst macht nicht klar, zu welchem Teil dieses Amphibolie-Kapitels als Anhang gehört:

zum Phänomenon/Noumenon-Kapitel, zur „Analytik der Grundsätze“ oder zur ganzen „transzendentalen Analytik“? Aber inhaltlich gesehen betrifft es offenbar den ganzen Gegenstand der transzendentalen Analytik, denn es thematisiert das Problem der transzendentalen Topik bzw. der Beurteilung, ob ein Begriff in der Sinnlichkeit oder in dem Verstand seinem „transzendentalen Ort“ hat. Außerdem führt es deutlich eine Kritik an der vormaligen, leibnizschen Metaphysik aus. In diesem Sinne macht es einen Übergang von der Analytik zur Dialektik. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Y. Xie, Praktische Regulation der Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62252-0_3

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Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik

speziellen Metaphysik macht bekanntlich den Inhalt der Transzendentalen Dialektik aus, die wiederum der Einteilung derselben in die psychologia, cosmologia und theologia rationalis entspricht, die als drei verschiedene Arten der Frage nach dem letzten Grund des Seienden verstanden werden können:2 1) der letzte Grund des Seienden zeigt sich in der rationalen Psychologie als die einfache Seele-Substanz, weil sich alle Vorstellungen notwendigerweise auf das denkende Subjekt beziehen; 2) der letzte Grund des Seienden wird in der rationalen Kosmologie hinsichtlich der Ganzheit der Natur gedacht, und zwar als das allgemeingültige Prinzip aller Erscheinung überhaupt; 3) dieser Grund wird schließlich in der rationalen Theologie als der höchste Ursprung aller materiellen Bestimmungen der Natur gedacht.3 In der ersten wird nach dem subjektiven, in den letzteren beiden wird aber nach dem objektiven Grund des Seienden gefragt.4 Aber alle drei beziehen sich auf die Natur nach deren Materie; die formalen Gründe der Natur werden schon in der

2 In der metaphysica specialis der Schulphilosophie z. B. bei Wolff und Baumgarten wird nicht allein die erfahrungstranszendenten Gegenstände thematisiert; sie machen auch die Grundbestimmungen der Gegenstände der Erfahrung zumindest in der rationalen Psychologie und der Kosmologie zum Inhalt. Kant konzentriert sich aus seiner eigenen metaphysikkritischen Absicht nur auf das Unbedingte bzw. das Übersinnliche, wenn er in der Transzendentalen Dialektik die metaphysica specialis paraphrasiert. Hans F. Fulda bemerkt richtig, dass die metaphysica specialis für Kant auch und vor allem die Gegenstände der Sinne betrachtet, und zwar die Gegenstände des äußeren einerseits und die des inneren Sinnes andererseits als Inhalte zweier Disziplinen, und zwar darauf hin, was die Vernunft in Zusammenarbeit mit dem Verstand an diesen Gegenständen a priori erkennen kann. Vgl. Fulda, Hans Friedrich: „Metaphysik bei Kant“, in: Repraesentatio Mundi. Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Heinz Holz. Hrsg. v. Hermann Klenner, Domenico Losurdo, Jos Lensink, Jeroen Bartels. Köln 1997, S. 19–32, hier S. 24 f. Dies entspricht dem, was Kant in dem Architektonik-Kapitel der Methodenlehre der ersten Kritik als das neue System der Metaphysik angegeben hat. Da die Gegenstände der Sinne kein Thema der „eigentlichen Metaphysik“ und also auch keines meiner Arbeit, werde ich auf diesen Punkt nicht mehr eingehe. 3 Kristina Engelhard sieht interessant die Parallele dieses Systems der drei Ideen zu Aristoteles’ drei Begriffen der ¢ρχε in Metaphysica, 1013 a 17–19, die hier scholastisch-lateinisch wiedergegeben werden: Seele zu ratio cognoscendi, Welt zu ratio fiendi, Gott zu ratio essendi. Vgl. Engelhard, K., Das Einfache und die Materie. Untersuchungen zu Kants Antinomie der Teilung. Berlin u. New York 2005, S. 46 f. Anm. 4 „Nun ist das Allgemeine aller Beziehung, die unsere Vorstellungen haben können, 1) die Beziehung aufs Subjekt, 2) die Beziehung auf Objekte, und zwar entweder als Erscheinungen, oder als Gegenstände des Denkens überhaupt. Wenn man diese Untereinteilung mit der oberen verbindet, so ist alles Verhältnis der Vorstellungen, davon wir uns entweder einen Begriff, oder Idee machen können, dreifach: 1. das Verhältnis zum Subjekt, 2. zum Mannigfaltigen des Objekts in der Erscheinung, 3. zu allen Dingen überhaupt.“ (KrV A 333 f./B 390 f. Herv. von Y. X.)

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Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik

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Transzendentalen Analytik als die in der Apperzeption gegründeten Kategorien und Grundsätze des reinen Verstandes thematisiert.5 In der Preisschrift zeigt sich diese Parallelität aber nicht mehr so streng. Das erste „Stadium“ der eigentlichen Metaphysik, als das „Stadium des theoretischdogmatischen Fortgangs“, ist ebenfalls die Erneuerung der Ontologie, wozu nicht allein die positive Darstellung der Transzendentalphilosophie (als die erste „Abteilung“ der Preisschrift, vgl. FM AA 20:265–280), sondern auch die Kritik an den Leibniz-Wolffischen Grundthesen der Ontologie (als das erste Textstück der zweiten „Abteilung“, vgl. FM AA 20:281–287) gehören, während das zweite „Stadium“ sich hingegen nur auf die Kosmologie konzentriert und die rationale Seelenlehre und Theologie dort nicht deutlich zum Gegenstand macht.6 Der Grund dieses Unterschiedes kann darin liegen, dass die Preisschrift auf anderes als die Kritik der reinen Vernunft abzielt: Für die Vorbereitung der praktisch-dogmatischen Erkenntnis des Übersinnlichen entscheidend ist nicht die Kritik an der transzendenten Metaphysik als solche, sondern der sich daraus ergebende „skeptische Stillstand“ (vgl. FM AA 20:281, 329), der am offensichtlichsten in der kosmologischen Antinomie dargestellt wird, denn eben mit dieser, und zwar genauer mit der dynamischen Antinomie von der Freiheit und dem notwendigen Wesen in den beiden letzten Thesen-Antithesen, kann die Möglichkeit einer Erkenntnis des Übersinnlichen geöffnet werden.7 In der Kritik der Ontologie geht es um die leibnizschen Grundsätze, die Kant zufolge mangels der Einsicht in die wesentliche Differenz der Anschauung von 5 Die

Unterscheidung des „Realgrundes“ in den „formalen“ und in den „materialen“ wird in dem Brief an Reinhold am 12.05.1789 expliziert. (Vgl. Briefwechsel, AA 11:36) Ich nehme diese Ausdrücke auf für die Formulierung des Unterschiedes zwischen der transzendentalphilosophischen Aufgabe der Erklärung der Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung und der metaphysikkritischen Aufgabe der Erörterung des Grundverfahrens der spekulativen Vernunft. 6 Freilich wird die Kritik der beiden Disziplinen noch in der Preisschrift gezeigt und sogar weiter entwickelt, aber nicht deutlich in das System der drei Stadien der Metaphysik als seine wesentlichen Bestandteile eingebettet. 7 Andreas Brandt sieht darin keine „rein systematischen Gründe“, sondern nur die literarischen Gründe („Fasslichkeit und Prägnanz“), aus denen Kant im zweiten Stadium der Metaphysik nur auf die Kosmologie fokussiert. (Vgl. Brandt, Andreas: „Epochen und Stadien der Metaphysik, der doppelte Fortschrittsbegriff in Kants Entwürfen der späten Preisschrift“. In: Über die Fortschritte der kritischen Metaphysik, Beiträge zum System und Architektonik der kantischen Philosophie. Hrsg. von Andree Hahmann und Bernd Ludwig. Hamburg 2017, S.183–198, hier S. 195.) Ihm zufolge sollten auch die Kritik an der rationalen Psychologie und Theologie, wie es in der Kritik der reinen Vernunft scheint, zum zweiten Stadium mitgehören. Aus den oben gegebenen Gründen glaube ich aber, dass Kants Konzentrierung auf die Kosmologie hier ihr eigenes Recht hat.

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Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik

dem Begriff zur Auflösung einiger theoretischer Probleme neu aufgestellt wurden. Durch die Einführung des vom Begriff unterschiedlichen Anschauungsvermögens, besonders der Raumanschauung, werden das principium identitatis indiscernibilium, das principium rationis sufficientis, das systema harmoniae praestabilitae und schließlich die Monadologie von Kant entweder als an sich verfehlt oder zumindest als ihrem eigenen Ziel unangemessen beurteilt. Da aber diese Grundsätze und mithin deren Kritik noch im Bereich des „Dinges überhaupt“ bleiben und das Problem der Möglichkeit des Überschrittes zur Erkenntnis des Übersinnlichen nicht betreffen, werde ich hier auf sie nicht weiter eingehen. Im Zentrum meiner Untersuchung soll die Frage stehen, wie Kant hinsichtlich der Möglichkeit der Synthesis a priori des Übersinnlichen und derjenigen der Transzendenz zu demselben die vorhandenen metaphysischen Versuche systematisch kritisiert. In allen drei Disziplinen der speziellen Metaphysik wurde, nach Kant, die apriorische Synthesis des Übersinnlichen versucht, obwohl sie nicht immer als solche explizit ausgedrückt oder bewusst wurden, sondern vielmehr manchmal sogar den Anschein analytischer Urteile hatten. Diese Versuche zeigen sich in den Beweisen 1) der Seele als der einfachen und mithin unsterblichen Substanz, 2) der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt nach verschiedenen Aspekten in Erweiterung der Erscheinungsreihe und 3) der Existenz Gottes als der absoluten Einheit der durchgängigen Bestimmungen aller Dinge überhaupt. Es lässt sich leicht einsehen, dass in diesen Beweisen die objektive Realität der Begriffe der Seele, der Welt im Ganzen und des Gottes jeweils mitbeansprucht wird, womit die Erkenntnis des Übersinnlichen (Unsterblichkeit, Freiheit und Gott) erreicht werden und das in der Natur der menschlichen Vernunft verwurzelte Bedürfnis der Transzendenz zustande kommen könnte. Aber Kant beurteilt diese Beweise als „dialektische Schlüsse“, die auf dem „transzendentalen Schein“ beruhen, und seine Metaphysikkritik richtet sich mithin vor allem darauf, von woher die Formen des transzendentalen Scheines bei den Ideen des Unbedingten bzw. des Übersinnlichen entstehen und wie die objektive Realität den Ideen irrtümlich zugeschrieben wird. Diese Diagnose hängt zwar von dem Ergebnis der kritischen Betrachtung als der Unterscheidung zwischen dem bloßen Gedacht-Sein durch einem Begriff und dem Außer-demBegriff-Sein ab, kommt aber nicht ohne weiters direkt von diesem Ergebnis her; vielmehr bedarf sie neuer kritischen Überlegungen. Ich werde mich in den folgenden Behandlungen der kantischen Kritik an der speziellen Metaphysik auf u. a. das Problem der objektiven Realität der Ideen von Unsterblichkeit, Freiheit und Gott bzw. das Problem der Möglichkeit der Synthesis a priori derselben konzentrieren, das die Grundfrage und Endabsicht der Metaphysik ausmacht. Kant zeigt uns, dass der von ihm entdeckte „Grundsatz der reinen Vernunft“ – wenn das Bedingte „gegeben“ ist, so sei auch die unbedingte ganze Reihe

3.1 Die Kritik an der kosmologischen Transzendenz…

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aller Bedingungen „gegeben“ (vgl. KrV A 307 f./B 364, s. a. A 409/B 436, A 497/B 525) – über alle drei Disziplinen der speziellen Metaphysik herrscht. Dies besagt nicht nur, dass ein Überschritt von der Erkenntnis des Sinnlichen zur Erkenntnis des Übersinnlichen in allen drei Disziplinen anzutreffen sei, sondern auch, dass dieser Überschritt in der speziellen Metaphysik nach dem Modell des Verhältnisses des Bedingten zu dessen Bedingung (und schließlich zu der Totalität aller Bedingungen dessen) verfährt. Aber die Verfahren vom Bedingten zum Unbedingten sind in den drei Disziplinen je unterschiedlich, was darauf zurückzuführen ist, auf welche Weise das Bedingte mit seiner Bedingung synthetisch verbunden wird: kategorisch, hypothetisch oder disjunktiv. Kants systematische Kritik an der spekulativen Metaphysik entfaltet sich in der Transzendentalen Dialektik nach der Abfolge von Psychologie, Kosmologie und Theologie. Dies entspricht der Ordnung der Synthesis, die in der Kategorientafel schon als Relationen festgestellt wurde. Nach Kants eigener Angabe hat diese Abfolge auch inhaltliche Gründe in dem Verhältnis der drei Disziplinen zueinander.8 Aber wenn man nun nicht an die bloßen Begriffe des Unbedingten, sondern an die Weisen denken, wie die objektive Realität dieser Begriffe in der spekulativen Metaphysik bewiesen wird bzw. wie die Transzendenz jeweils stattfindet, sieht man ein, dass einerseits der kosmologische Beweisgang eine Besonderheit gegenüber den anderen hat, während man andererseits bei den Verfahren der Transzendenz in der rationalen Psychologie und der Theologie Parallele erfahren kann. Dies werde ich in der späten Behandlung ausführlicher zeigen. Wichtiger ist es, dass in der kosmologischen Antinomie wird nicht allein der Weltbegriff erörtert, sondern darin alle drei Ideen, die als „Endabsicht der Metaphysik“ bestimmt werden, nämlich Unsterblichkeit, Freiheit und Gott, diskutiert, und zwar unter der Welt-Thematik. Aus diesen Gründen möchte ich das vorliegende Kapitel, anders als die Abfolge in der Transzendentalen Dialektik, mit der Kritik an der kosmologia rationalis beginnen.

3.1

Die Kritik an der kosmologischen Transzendenz zu der Unsterblichkeit, der Freiheit und dem Gott

Von dem Bedingten, das wir erfahren können, auszugehen und nach seiner Bedingung bis auf der unbedingten Bedingung zu suchen, ist ein Versuch, der von dem „Grundsatz der reinen Vernunft“ unmittelbar entnommen wird. Also ist es ein natürliches Verfahren, auch von einer bedingten Erfahrung, die wirklich oder zumindest

8 Vgl.

KrV B 395. Ich werde im Kap. 7 zu dieser Ordnung zurückkommen.

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Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik

real möglich ist, im schrittweisen Rückgang auf die Wirklichkeit der unbedingten Bedingung zu kommen, die ihrerseits keiner höheren Bedingung bedarf. Einen solchen Ansatz möchte ich den kosmologischen Beweisgang nennen, weil darin die Welt als das Ganze aller Erfahrungen stets mitgedacht wird. Die kosmologischen Beweisansätze haben die Besonderheit gegenüber anderen also darin, dass sie nicht allein den Begriff des Unbedingten durch das hypothetische Verfahren vom Bedingten zum Unbedingten gewinnen, sondern die objektive Realität dieses Begriffs auch durch dasselbe Verfahren zu beweisen versuchen, weil mit der Welt, als dem „Inbegriff aller Erscheinungen“ (KrV A 334/B 391), die „Art, wie die Bedingungen gegeben werden, …, nämlich durch die sukzessive Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung“, in Betracht kommen muss. Obwohl Kant, um die Leser an die drei Disziplinen der metaphysica specialis zu erinnern, in der Transzendentalen Dialektik den kategorischen, hypothetischen und disjunktiven Prosyllogismus jeweils jenen drei Disziplinen psychologia, kosmologia und theologia zugeordnet hat, wird dadurch aber die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, auch das Unbedingte der kategorischen und das der disjunktiven Synthesis unter dem Begriff der Welt zu thematisieren und mithin die objektive Realität jenes Unbedingten durch kosmologische Beweisgründe darzustellen. Im Text des Paralogismus-Kapitels ist der Zusammenhang der Unsterblichkeitsthematik mit dem Problem der Teilung der „Materie“ schon angedeutet,9 ganz zu schweige davon, dass der kosmologische Gottesbeweis ausdrücklich als eine Begründungsweise des theologischen Gegenstandes gezeigt wird. In einer Reflexion der späten 80iger Jahren bezieht Kant deutlich die Unsterblichkeits- auf die zweite und die Gottesthematik auf die vierte Antinomie.10 Außerdem ist es offenbar, dass der Freiheitsbegriff unter dem Weltthema bzw. der dritten kosmologischen Antinomie zum Gegenstand wird. Also sind bei Kant für alle drei Begriffe 9 Obzwar

mit negativem Ton: „Würde man uns sagen können, sie [sc. die Seele] ist ein einfacher Teil der Materie, so würden wir von dieser, aus dem, was Erfarhung von ihr lehrt, die Beharrlichkeit und, mit der einfachen Natur zusammen, die Unzerstörlichkeit derselben ableiten können.“ (KrV A 401) In A 463 deutet Kant mit höherer Klarheit die Beziehung zwischen dem Einfachen in der zweiten Antinomie und dem denkenden Selbst an: „… ob es irgendwo und vielleicht in meinem denkenden Selbst eine unteilbare und unzerstörliche Einheit, oder nichts als das Teilbare und Vergängliche gebe, …“ 10 „Die drey Aufgaben (der Metaphysik): Gott, Freyheit und Unsterblichkeit passen auf die drey letztere antinomien, wo (wenn man diese Reihe Umgekehrt nimmt) die Einfachheit, die (absolute) Caussalität, die Nothwendigkeit insegesammt aufs Intelligibele angewandt werden können. Die der Weltgröße in Raum und Zeit kommt hiebey nicht in Anschlag, weil sie gäntzlich auf sinnliche Bedingungen eingeschränkt ist. Doch kan sie durch ihre Unzulanglichkeit zum Unbedingten überhaupt aufs Intelligibele führen (der erste Anfänger der Reihe).“ (Refl. 6212, AA 18:497, datiert etwa 1785–1788.)

3.1 Die Kritik an der kosmologischen Transzendenz…

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des Übersinnlichen (Unsterblichkeit, Gott und Freiheit) kosmologische Beweise anzutreffen, die in den Antinomien dargestellt werden können.11 In diesem Abschnitt werden also die kosmologischen Beweisansätze der objektiven Realität der Ideen Unsterblichkeit, Gott und Freiheit thematisiert. Zu diesem Zweck stehen die jeweiligen Thesen der 2. bis auf 4. Antinomie im Zentrum. Daraus wird versucht zu zeigen, wie Kant an den Gedanken Kritik geübt hat, die objektive Realität der Ideen aus dem empirisch Bedingten her mittelbar zu beweisen, so dass das kosmologische bzw. hypothetische Verfahren der spekulativen Transzendenz zu diesem Beweisziel gesperrt wird. Als Vorbereitung ist Kants allgemeine Diagnose des kosmologischen Beweises in der Antinomik zuerst zu zeigen, bevor wir jede einzelne Idee zum Thema machen.

3.1.1

Die allgemeine Kritik an der kosmologischen Transzendenz

Die spekulative Metaphysik geht in den kosmologischen Beweisen von dem Bedingten in der Erfahrung aus und kommt in der sukzessiven und regressiven Bedingungssuche zur Totalität aller dieser Bedingungen, die selbst unbedingt sei und bei der die Synthesis vervollständigt werden soll. Aber durch die Erfahrung allein kann man nicht entscheiden, ob die Vollständigkeit der Synthesis in einer ersten Bedingung außerhalb der Erfahrung zustande kommt, oder die Bedingungssuche nur innerhalb der Erfahrung operiert, so dass die hypothetische Synthesis in einem prosyllogistischen Verfahren ins Unendliche geht.12 Daher entstehen zwei einander entgegengesetzten Seite für jeweilige Fortschreitungsweisen, die ihrerseits durch verschiedene Klassen der Kategorien weiter charakterisiert werden. Der Widerstreit zwischen beiden Seiten macht die Antinomie der spekulativen Vernunft aus, worin die jeweiligen Thesen eine erste, außerhalb der Erfahrung liegende 11 Dies ist vielleicht auch ein Grund dafür, warum Kant in dem Stadium der Metaphysikkritik (dem zweiten Stadium) in der Preisschrift nur das Problem der Antinomie behandelt hat. Zur entscheidenden Rolle der Problematik der Antinomie als Kants Grundmotiv zur kritischen Philosophie wird sowohl von Kant als auch in den entwicklungsgeschichtlichen Forschungen vielfach betont. (Vgl. Kants Brief an Garve 1798, Briefwechsel, AA 12:257 f. Und siehe Klemme, H., Kants Philosophie des Subjekts. Systematische Untersuchungen zum Verhältnis von Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Hamburg, 1996, S. 38–46.) Diese Rolle hat auch ihren Grund in der systematischen Bedeutung des Antinomie-Problems für die kritische Philosophie, eine Bedeutung, die sich schließlich in dem Gedanken des „skeptischen Stillstandes“ in der Preisschrift konzentriert darstellt. 12 „Ob diese Vollständigkeit nun sinnlich möglich sei, ist noch ein Problem.“ (KrV A 417/B 444)

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Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik

Bedingung, und zwar den Weltanfang und die Weltgrenze, die einfache Substanz, die Kausalität aus Freiheit und das Dasein eines notwendigen Wesens, behaupten und dann zu beweisen versuchen, indem sie die jeweiligen Antithesen zu falsifizieren glauben. Da alle Ansätze beider Seiten aus der Vernunft selbst hervorgehen, scheinen ihre Entgegensetzungen unversöhnlich zu sein, und die Vernunft gerät, bei den kosmologischen Beweisen der Existenz bzw. der Nicht-Existenz der jeweiligen ersten unbedingten Bedingungen, in einem Konflikt mit sich selbst. Trotzdem wird sowohl in den Thesen als auch in den Antithesen vorausgesetzt, die Totalität aller Bedingungen sei auf jeden Fall in der Synthesis als das Unbedingte gegeben, ganz abgesehen davon, ob dieses Unbedingte nur als die ganze Reihe oder vielmehr auch durch die erste Bedingung möglich sei. Kant sieht diese Voraussetzung nun als problematisch an. Ihm zufolge ist sie ebenfalls auf einen Syllogismus zurückzuführen. Der Obersatz ist gerade das Prinzip, das Kant in der Einleitung der Transzendentalen Dialektik als Grundsatz der reinen Vernunft bezeichnet hat: Wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, in dem bedingten „Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten“ und also mitgegeben. (Vgl. KrV A 307 f./B 364) Durch den Untersatz, nach dem das sinnliche Bedingte nun in der Erfahrung offenbar gegeben ist, werde das Unbedingte bzw. die Totalität aller Bedingungen zu diesem Bedingten in der Conclusio auch als gegeben bewiesen. Es lässt sich nach tiefen Überlegungen einsehen, dass in den kosmologischen Beweisen, da sie von der Erfahrung ausgehen, der Grundsatz der spekulativen Vernunft nicht allein der Begriffsbildung des Unbedingten (wie auch in der rationalen Psychologie und Theologie), sondern auch dem Begründungsverfahren der objektiven Realität desselben dienlich ist, obwohl die beiden Seiten der Antinomie diesen Grundsatz nicht direkt auf den Beweisgang anwenden, sondern ihn vor dieser Anwendung aus den jeweiligen Kategorien bzw. Naturgesetzen her zu begründen scheinen. Dieser syllogistische Schluss wird von Kant als trüglich betrachtet, weil dabei ein Sophisma figurae dictionis anzutreffen ist. Der Obersatz gilt nur dann, wenn wir uns die Dinge vorstellen, wie sie sind, „ohne darauf zu achten, ob, und wie wir zur Kenntnis derselben gelangen können“ (KrV A 498/B 526 f.). D. h., nur für die durch den Verstand allein betrachteten Dinge überhaupt kann man sagen, dass, wenn ein Bedingtes gegeben ist, auch seine Bedingung (also nicht nur der Regressus zu seiner Bedingung) schon mitgegeben ist und, da dies für alle Glieder der Bedingungsreihe gilt, auch die ganze Reihe der Bedingungen, und zwar das Unbedingte, dadurch mitgegeben wird. Diese Synthesis des Bedingten mit seiner Bedingung ist aber „eine Synthesis des bloßen Verstandes“ (KrV A 498/B 526) und gilt nicht den Dingen, für die man an der Möglichkeitsbedingung ihrer Gegebenheit

3.1 Die Kritik an der kosmologischen Transzendenz…

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mitdenken muss, nämlich den Dingen als Erscheinungen. Denn die Erscheinungen können nur in der empirischen Anschauung gegeben werden, und wenn ein Ding als bedingte Erscheinung angeschaut wird, ist nicht seine Bedingung, sondern nur der Anspruch auf den Regressus zu seiner Bedingung als mitgegeben anzusehen. Seine Bedingung selbst muss nur in der empirischen Synthesis gegeben werden und sich jederzeit in einer Anschauung zeigen. Mit einem Wort gilt das Prinzip für die Mitgegebenheit des Unbedingten in der Reihe der Synthesis der Bedingung durch die Gegebenheit des Bedingten (der Obersatz des Schlusses) nur für die Dinge an sich, nicht für die Erscheinungen. Nun aber kann die im Untersatz behauptete Gegebenheit des Bedingten nur als sinnliche Gegebenheit verstanden werden, weil es dabei um „Gegenstände der Sinne“ geht. So ist das „Bedingte“ einerseits im Obersatz als Ding an sich, andererseits aber im Untersatz als Erscheinung aufzufassen, und man kann aus diesen beiden Prämissen nicht auf die Wirklichkeit der unbedingten Totalität der Bedingungen schließen. Aus dieser fundamentalen Diagnose des allgemeinen Verfahrens der kosmologischen Transzendenz her unternimmt Kant die Auflösung für die jeweilige Antinomie. Für die Absicht meiner Arbeit ist besonders wichtig, wie Kant damit die kosmologischen Argumente der Unsterblichkeit (vermittels des einfachen Teils), der Freiheitsursache und schließlich des Daseins Gottes kritisiert, die jeweils in den Thesen der zweiten, vierten und dritten Antinomie durchgeführt werden. Anfangs ist zu bemerken, dass die kosmologischen Beweise für sich allein nicht genug sind, den Zweck der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes zu erreichen, sondern nur einen der Beweisschritte ausmachen können und mit einem anderem Beweisverfahren zusammenarbeiten müssen. Nur die Freiheit ist von sich aus eine kosmologische Idee und durch den kosmologischen Beweis allein erreicht.

3.1.2

Die Kritik am kosmologischen Beweis der einfachen Substanz

Kosmologisch wird das Problem der Unsterblichkeit der Seele als die Unvergehlichkeit einer einfachen, nicht teilbaren Substanz in der Welt gedacht. Dieser Problemzusammenhang wird in den jeweiligen Anmerkungen zu der Thesis und der Antithesis der zweiten Antinomie, wobei es um die Frage geht, ob es in der Welt einfache Substanzen gibt, aus denen die körperlichen Dinge im Raum zusammengesetzt werden, angedeutet, und zwar mit dem Titel des Selbstbewusstseins

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Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik

(vgl. KrV A 442/B 470, A 443/B 471).13 In der Thesis wird die Existenz der einfachen Substanzen behauptet, indem sie argumentiert, dass die Substantialität der körperlichen Dinge, sofern diese zugleich von beiden Seiten der Antinomie anerkannt wird, nur in Bezug auf ein Bestehendes in dem körperlichen Ding möglich sei, das nach einer durchgängigen Aufhebung aller möglichen Zusammensetzung in demselben noch immer übrig bleibt. Sonst bliebe keine Substanz (weder zusammengesetzte noch einfache) in der Welt, sondern nur der bloße Raum, wenn wir alle Zusammensetzung als bloße „Relationen“ in Gedanken aufheben würden. Die Körper würden alsdenn nicht aus Substanzen bestehen und besäßen keine Substantialität, was der Voraussetzung widerspricht. Das Einfache in dieser Aufhebung erweist sich also als die erste und unbedingte Bedingung, welche als eine Grenze die Vollständigkeit der regressiven Teilungssynthesis möglich macht. Dieser Schluss ist Kant zufolge deswegen verfehlt, weil die Zurückführung der Substantialität des zusammengesetzten Körpers auf diese Substantialität der Teile desselben nur für die substantia noumena gilt, also für ein durch reinen Verstandesbegriff gedachtes Ding an sich selbst. Aber die substantia phaenomena bedeutet nur ein „beharrliches Bild der Sinnlichkeit und nichts als Anschauung“, welches nicht hindert, dass die körperlichen Dinge mit der unendlichen Teilbarkeit des Raums auch unendlich teilbar sind. Daher ist es nicht möglich, durch den kosmologischen Beweis die nicht empirische Existenz der einfachen Substanz zu begründen, auf der die Unsterblichkeit der Seele beruhen kann. Natürlich ist die Beziehung der zweiten Antinomie auf das Unsterblichkeitsproblem nicht direkt, weil es in der zweiten Antinomie nicht bestimmt wird, ob die thematisierte einfache Substanz immer nur material ist oder auch geistig sein

13 Außerdem vgl. KrV A 466/B 494, wo Kant die jeweiligen Thesen der vier Antinomien auf das praktische Interesse bezieht: „… dass mein denkendes Selbst einfacher und daher unverweslicher Natur … das sind so viel Grundsteine der Moral und Religion. Die Antithesis raubt uns alle diese Stützen, oder scheint wenigstens sie uns zu rauben.“ Die Beziehung der zweiten Antinomie auf das Problem der Unsterblichkeit wird zwar nicht von Kant sehr explizit ausgedrückt, aber sie kann offenbar nicht geleugnet werden. Heinz Heimsoeth begründet diesen Problemzusammenhang mit historischer Untersuchung. (Vgl. Heimsoeth, H., Atom, Seele, Monade: historische Ursprünge und Hintergründe von Kants Antinomie der Teilung, Wiesbaden 1960, Kap. II, S. 19–33.)

3.1 Die Kritik an der kosmologischen Transzendenz…

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kann.14 Aber daraus ergibt sich nicht, dass die Anmerkungen, in den Kant den Problemzusammenhang zwischen der zweiten Antinomie und der Seelenproblematik andeutet, erfolglos ist.15 Denn die zweite Antinomie behandelt wirklich auf kosmologische Weise die Möglichkeit der einfachen Substanz, die ihrerseits auch die Bedingung der Unsterblichkeit der Seele ausmacht. Es ist zwar freilich unleugbar, dass man aus der Existenz der einfachen Substanz nicht schon auf die Unsterblichkeit der Seele schließen kann. Aber ebenso offenbar ist es: Wenn die Antithesis, es gebe überhaupt nichts Einfaches in der Welt, allgemein (und zwar sowohl für die materielle wie auch für die geistige Natur) gültig wäre, wäre es auch logisch unmöglich, dass es unsterbliche Seele gäbe. Die Möglichkeit der einfachen Substanz ist also die conditio sine qua non der unsterblichen Seele. Wenn nun der kosmologische Beweisweg zur Existenz des Einfachen gesperrt wird, ist die kosmologische Transzendenz von einer gegebenen Erfahrung zur Seelenunsterblichkeit auch unhaltbar.

3.1.3

Die Kritik am kosmologischen Beweis der Wirklichkeit der Freiheit

Kants Erörterung des Begriffs der Freiheit, die den „eigentliche[n] Stein des Anstoßes für die Philosophie“ ausmacht (KrV A 448/B 476), beginnt in seinen kritischen Hauptwerken zuerst mit einer kosmologischen Betrachtung. Dies bedeutet schon, dass der kosmologische Aspekt unerlässlich in dem Freiheitsproblem enthalten 14 Karl Ameriks’ und, ihm folgend Kristina Engelhard’s Bemerkung ist insofern richtig, als die Seele, die ihrerseits transzendent ist, kein direktes Thema der Argumentation in der zweiten Antinomie. Vgl. Ameriks, K., Kant’s Theory of Mind. An Analysis of the Paralogisms of Pure Reason, Oxford 2 2000, p. 51: “None the less, it would seem that Kant should say that at least for all practical purposes the soul qua phenomenon is complex. He avoids doing so by neatly stipulating that the thesis concerns only the question of whether things given as complex are ultimately simple (A 441/B 470). The soul is not given as complex and thus the topic of its nature is not settled by the discussion.” Vgl. auch Engelhard, K., Das Einfache und die Materie. Untersuchungen zu Kants Antinomie der Teilung. Berlin/New York 2005, S. 237. Aber ihre Interpretationen sollen, wie ich im Folgenden sofort zeigen werde, nicht übertrieben werden zu einer irrtümlichen Leugnung des Zusammenhangs zwischen dieser Antinomie und der Seelenthematik, den Kant schon vielmal mit Recht betont hat, insbesondere in KrV A 466/B 494. 15 Diese Ansicht vertritt Jonathan Bennett in Kant’s Dialectic, p. 167: Der mit dem zweiten Satz der Antithesis („und es existiert überall nichts Einfaches in derselben [sc. in der Welt]“) zusammenhängende Teil der „Anmerkung“, „in which Kant fidgets with the irrelevant idea of the simplicity of the soul, is unprofitable.“

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Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik

ist.16 Dieser kosmologische Begriff der Freiheit wird vor allem als die Unabhängigkeit von der ganzen Naturbestimmtheit konzipiert und bedeutet diejenige Kausalität, die nicht auf eine weitere Ursache zurückgehen muss bzw. kann, also eine reine Selbstbestimmtheit. Daher scheint die rationale Kosmologie im Stande zu sein, sich selbst allein für die Frage entscheiden, ob es in der Welt Kausalität durch Freiheit gibt, die anders ist als die der Natur. Die Thesis der dritten kosmologischen Antinomie behauptet die Wirklichkeit der Freiheitskausalität, indem sie diese als eine notwendige Annahme zur Erklärung der Naturkausalität zu beweisen versucht. In dem Beweis der Thesis ist ebenfalls der Fortschritt vom Bedingten zum Unbedingten entscheidend, und zwar nach dem Leitfaden des Gesetzes des kausalen Verhältnisses. Für jedes gegebene Geschehende in der Welt sei vorausgesetzt, dass es nach der Regel des Verstandes unausbleiblich kausal auf einen vorigen Zustand folge. Dieser vorige Zustand müsse auch kausal auf einen noch älteren Zustand folgen und also nicht immer schon gewesen sein, sonst würde seine Folge (das gegebene Geschehende) nicht ein allererst Geschehendes, sondern sie wäre auch immer schon da gewesen. Also sei der vorige Zustand auch ein Geschehendes. So verfährt es weiter, so dass die von jenem Gegebenen regressiv zurückgesuchten Zustände nach dem Gesetz der Naturkausalität als Geschehende angesehen werden müssten. Wenn es in der Welt keine andere Kausalität als die der Natur gäbe, würde es auch keinen ersten Anfang geben, mit dem die Reihe der Synthesis von der gegebenen Folge zu den Ursachen vollständig werde. Ohne diese Vollständigkeit der Synthesis wäre keine „hinreichend a priori bestimmte Ursache“17 (KrV A 446/B 474), durch die allein etwas geschehen könne – was dem vorausgesetzten Fall

16 Diesen genannten kosmologischen, ja kosmotheologischen Aspekt, der von vielen Interpreten der kantischen Freiheitstheorie vernachlässigt wurde, betont Heinz Heimsoeth mit einer problemhistorischen Untersuchung in: „Zum kosmotheologischen Ursprung der kantischen Freiheitsantinomie“, in Kant-Studien, 1966, S. 206–229. Dort wird Kants Freiheitsüberlegung historisch auch auf das Problem der Theodizee seit der Antike bezogen, in dem das Verhältnis der menschlichen Imputabilität zu der des Weltgrundes, der als das einzige und freischaffende Wesen auch der Ursprung alles Widrigen in der Welt sein muss. Dieser Problemzusammenhang reicht dann nicht mehr deutlich in die dritte Antinomie der Kritik hinein. 17 Der Ausdruck „a priori“ soll hier, Heimsoeth und Bennett zufolge, nicht den kantischen Sinn von „unabhängig von aller Erfahrung“, sondern vielmehr den vorkantischen, traditionalen Sinn „im Voraus“ bedeuten. Vgl. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Teil II: Vierfache Vernunftantinomie; Natur und Freiheit; intelligibler und empirischer Charakter. Berlin/Boston 1967, S. 239 Anm.; Bennett, J., Kant’s Dialectic, 1974, p. 188.

3.1 Die Kritik an der kosmologischen Transzendenz…

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eines gegebenen Geschehenden widerspreche. Daher müsse es eine andere Kausalität geben, die Kant ganz formal als „absolute Spontaneität“ und „transzendentale Freiheit“ bezeichnet.18 Die objektive Realität der transzendentalen Freiheit, als der Unabhängigkeit des Anfangs einer Erscheinungsreihe von allen natürlichen Bestimmungen und Bedingungen, werde also aus der Notwendigkeit der Erklärung der Naturkausalität zu einem gegebenen Ereignis bewiesen. Das in diesem Beweis entscheidende sogenannte „Gesetz der Natur: daß ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache nichts geschehe“ (KrV A 446/B 474), drückt eigentlich den o. g. „Grundsatz der reinen Vernunft“ aus, denn nach jenem Gesetz ist die vollständige und mithin für sich unbedingte Ursache schon in der gegebenen Folge enthalten, um diese möglich zu machen. Nach Kants transzendental-idealistische Diagnose aber kann diese Vollständigkeit der Ursache nur an einem Ding vorgestellt werden, das nur durch den bloßen Verstand gedacht würde, denn dieses setzt jene Vollständigkeit voraus. Für ein Ding dagegen, das in der empirischen Anschauung gegeben ist, kann seine Ursache auch nur durch die Erfahrung erkannt werden, und wir können nicht erkennen, ob die regressive Synthesis von der Folge zu deren Ursache vollständig ist oder nicht, bevor wir diese Synthesis wirklich dahin fortsetzen. Die Vollständigkeit der kausalen Synthesis bleibt also nur als eine bloße Idee, deren objektive Realität nicht in einer gegebenen Erfahrung mitenthalten ist. Der kosmologische Versuch, die Freiheit bzw. die transzendentale Unabhängigkeit von der Naturkausalität zu beweisen, ist also erfolglos. Kosmologisch wird das Problem der Freiheit als das der Möglichkeit einer Art der Kausalität entwickelt, die anders als der Naturkausalität, aber zugleich mit dieser kompatibel ist. In dem Argument der Thesis wird gesehen, dass hier nicht nur von der Auffassung der Naturkausalität als der einzigen Erklärungsweise für die Ereignisse in der Natur die Rede, sondern auch von dem principium rationis sufficientis, nach dem jede Veränderung sowohl logisch als auch metaphysisch einen hinreichenden Grund hat, um zu geschehen und nicht vielmehr nicht zu geschehen.19 Nur von dem letzteren geht der Anspruch auf die Vollständigkeit der Bedingungen zu einem Bedingten aus. Kant hat schon in seiner Frühzeit das 18 Vielmehr wird diese Freiheit in der Antithesis als „Gesetzlosigkeit“ (KrV A 447/B 475) oder „gesetzloses Vermögen“ (KrV A 451/B 479) gekennzeichnet. 19 Diese Doppelung des Einwandsziels in der Thesis bemerkt Bennett richtig. Aber unrichtig ist seine Behauptung, dieses Ziel sei nichts anders als ein „straw man“, den Kant nicht ernst nehmen wolle. Vgl. Bennett, J., Kant’s Dialectic, 1974, p. 186. Wie Allison zeigt, verweist dieser angebliche „straw man“ eben auf Leibniz’s Position in seiner Auseinandersetzung mit Clarke. Vgl. Allison, H., Kant´s Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense. New Haven/London 2 2004, p. 380 f.

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Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik

Verhältnis des Satzes des zureichenden Grundes zu dem Freiheitsproblem zum Thema.20 In der Thesis der dritten Antinomie der Kritik wird es sogar von dem „Dogmatismus“ der rationalen Kosmologie versucht, die Freiheit durch das Prinzip des zureichenden Grundes zu beweisen, und zwar in einem kosmologischen Beweisgang. Aber nach der obigen Diagnose Kants ist dieser Versuch erfolglos, weil die darin enthaltene Voraussetzung der Gegebenheit einer Bedingung zu dem Bedingten als für die erst in der Anschauung präsentierten Erscheinung ungültig erklärt wird. Die Transzendenz zur Freiheit durch das kosmologische Verfahren der spekulativen Vernunft wird also zum Scheitern verurteilt.21

20 Deutlich

schon in Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio (1955) gegen Crusius, vgl. AA 01:398 ff. 21 Da hier vor allem der Beweis der Realität einer freien Ursache das Thema ist, wird die Problematik der dritten Antinomie nicht in ihrer Ganzheit allseitig erörtert. So ist hier auch kein guter Platz für eine ausführliche Behandlung zahlreicher Forschungen über Argumentationen in der Freiheitsantinomie und Kants Auflösung zu derselben. Interessant sei aber die Interpretation von Ralf Meerbote über die Kompatibilität zwischen der Naturkausalität und der Kausalität der Vernunft bzw. der Freiheit zu nennen. Meerbote geht von Donald Davidsons „anomal Monismus“ aus und interpretiert Kants Begriff der Kausalität der Vernunft als „nicht bestimmend“ („nondeterminate“) und mithin als „anomal“, sofern diese keinen Anspruch auf Gesetzmäßigkeit der Kausalität erhebt. Er deutet diesen nicht-bestimmenden Charakter der menschlichen Handlungen weiter mit der regulativen, reflektiv-teleologischen Beurteilung. Diese Handlungen ständen aber andererseits in einem Verhältnis der Token-Token-Identität zu den physischen Ereignissen, was bedeutet, dass sie daher unter den Naturgesetzen lägen und den bestimmenden Beschreibungen („determining descriptions“) geeignet seien. (Vgl. Meerbote, R., “Kant on the ‘Nondetermmate Character of Human Actions’”, in Harper, W.A. and Meerbote, R., (ed.): Kant on Causality, Freedom, and Objectivity, pp. 138–63.) Es ist zwar offenbar, dass Meerbotes Interpretation über Kant hinausgegangen und nicht mehr eine bloße exegetische Deutung ist. Aber es ist noch sinnvoll zu überlegen, ob das Wesentliche der kantischen kosmologisch-transzendentalen Freiheitstheorie durch eine solche Interpretation in den heutigen Diskussionskontext über den freien Willen eingebettet werden kann. Leider muss man dann einsehen, dass die Freiheit als kosmologische Idee zwar den Charakter der regulativen Prinzipien hat (dazu später vgl. Abschn. 5.1 der vorliegenden Arbeit), der aber nicht teleologisch und bloß als „anomal“ interpretiert werden soll. Die Deutung der Freiheit als nicht-bestimmende, ja teleologische Handlung betrifft nur teilweise den Begriff der Freiheit als arbitrium liberum, nicht aber den transzendentalen Begriff derselben als solchen. Dieser hat seinerseits dann eigenes Gesetz und also eigene Kausalität in der Autonomie der reinen praktischen Vernunft und daher ebenso einen bestimmenden Charakter, der freilich anders als der der Naturgesetze ist. Eigentlich will Kant niemals seine Theorie der Freiheit auf einen Indeterminismus gründen. Henry Allison hat auch eine ausführliche Kritik an Meerbote geübt, die sich (anders als meine) auf den naturalistischen Gedankengang jener Interpretation konzentriert. Vgl. Allison, H., Kant’s Theory of Freedom, Cambridge 1990, pp. 76–82.

3.1 Die Kritik an der kosmologischen Transzendenz…

3.1.4

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Die Kritik am kosmologischen Beweis der Existenz Gottes

Das Daseins Gottes ist Thema der Theologie. Aber schon in einem kosmologischen Gedankengang tritt dieses Problem auf. Besonders in der vierten Antinomie wird es unter dem Namen der Möglichkeit eines notwendigen Wesens behandelt.22 Dort wird zum Thema gemacht, wie es überhaupt möglich sei, von der Gegebenheit irgendeiner Erfahrung überhaupt auf die Existenz eines absolut notwendigen Wesens zu schließen. Die Thesis der vierten Antinomie geht, um die Existenz eines absolut notwendigen Wesens zu beweisen, auf den Begriff der empirischen Zufälligkeit zurück, die wir an jeder Veränderung in der Sinnenwelt erfahren können.23 Diesem Begriff gemäß kann ein neuer Zustand nur dann stattfinden, wenn es eine Ursache für ihn gibt, die zur vorigen Zeit gehört (vgl. KrV A 460/B 488). Also hängt jede gegebene Veränderung in der Erfahrungswelt von einer ihr vorhergehenden Ursache ab, die sie notwendig macht.24 Nun setzt jede bedingte Veränderung, die als Folge existiert, „eine vollständige Reihe von Bedingungen bis zum Schlechthinunbedingten“ voraus, „welches allein absolutnotwendig ist“ (KrV A 453/B 481). Daher müsse etwas, das absolut notwendig sei, existieren, wenn nun eine Veränderung gegeben sei. Darin sieht man leicht ein, dass der „oberste Grundsatz der reinen Vernunft“ wiederum in Kraft ist. Wenn nun jedes kosmologische Beweisverfahren verlangt, dass alles als ein Glied zu der Reihe gehören muss, und dass keines außerhalb derselben zugelassen wird, so muss auch die erste Bedingung, 22 Nach Otfried Höffes Ansicht wird schon in der ersten und der dritten Antinomie das Problem Gottes mitgedacht. Vgl. Höffe, Otfried, Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie. München 2003, S. 243. Freilich ist es die vierte Antinomie, die dieses Problem direkt behandelt. 23 Kant unterscheidet zwischen der Zufälligkeit „im reinen Sinne der Kategorie“, als der Möglichkeit des „kontradiktorische[n] Gegenteil[s]“ eines vorhandenen Zustandes, und der „empirischen Zufälligkeit“, als der Abhängigkeit einer geschehenen Veränderung von deren zeitlich vorhergehender Ursache (vgl. KrV A 459 f./B 487 f.), was freilich auf die Differenz zwischen dem reinen und dem empirischen Verstandesgebrauch zurückgehen soll. 24 Kants Wortgebräuche zur Beschreibung der vierten Antinomie haben Ähnlichkeiten mit denjenigen der dritten: z. B. Ursache, Veränderung, etc. Von diesem Phänomen geht Peter Strawsons Behauptung aus: die einfache und prima facie überzeugende Weise, zwischen den beiden letzten Antinomien zu unterscheiden, sei die Annahme, dass die vierte Antinomie vor allem mit der vorhergehenden notwendigen Bedingung, während die dritte vor allem mit der vorhergehenden zureichenden Bedingung zu tun hat. Vgl. Strawson, P., The Bounds of Sense, An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason. London 1966, p. 209. Diese Behauptung ist aber unzutreffend, und zwar schon aus einem bloßen logischen Grund: Man denkt in der vierten Antinomie eigentlich daran, was es ermöglicht, dass eine Veränderung so geschieht und nicht vielmehr anders. Dies kann aber überhaupt nicht von einer notwendigen Bedingung der Veränderung, die Strawson der vierten Antinomie zuschreibt, erklärt werden.

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Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik

und zwar das absolute Notwendige, in der Reihe als das erste Glied liegen. Also beweise die Gegebenheit eines empirischen Zufälligen das schlechthin notwendige Wesen in der Welt, das man Gott nennen könne.25 Aber wenn man, so Kant, die Bedingung in Betracht zieht, unter der die betroffene Ursache zu einer gegebenen Zufälligen auch gegeben ist, so sei der Satz, dass jede bedingte Veränderung „eine vollständige Reihe von Bedingungen bis zum Schlechthinunbedingten“ voraussetze, nicht auf jeden Fall gültig. Es sei bestenfalls nur für die Dinge des bloßen Verstandes wahr, dass, sobald eine Veränderung als bedingt gegeben ist, auch die Ursache dieser Veränderung enthalten und mitgegeben sei. In derjenigen Veränderung dagegen, die nur in der empirischen Anschauung gegeben und als bedingt betrachtet wird, ist (nach dem Gesetz z. B. der Kausalität in der zweiten „Analogie der Erfahrung“) nur der Sachverhalt a priori enthalten, dass es irgendeine zeitlich vorhergehende Ursache geben muss, nicht aber die Ursache selbst, ganz zu schweigen von der Vollständigkeit der Reihe aller Bedingungen dazu. Denn die dynamischen Verstandesgesetze betreffen nur das Verhältnis des Gegebenen zu dem anderen, nicht aber dieses andere selbst.26 Jede Ursache ist nur durch empirische Synthesis in der Anschauung anzutreffen, und die Totalität der ganzen Reihe aller Bedingungen zu jener Veränderung ist uns also nur „aufgegeben“, nicht schon a priori „mitgegeben“. D. h., der Begriff des absolute Notwendige wird dadurch nicht bestimmt. Daher kann man nicht von einer gegebenen Veränderung auf die unbedingte Totalität von deren Bedingungen schließen, die durch eine oberste und notwendige Ursache bzw. den Gott ermöglicht werde. Die kosmologische Transzendenz zum Dasein Gottes wird also erfolglos, und die objektive Realität der Idee desselben wird nicht einmal dadurch erreicht. Da ich später noch auf den kosmologischen Gottesbeweis zurückkomme, spreche ich davon zur Zeit nicht weiter und bleibe hier stehen. Bis hierhin scheitert die kosmologische Transzendenz der spekulativen Vernunft zu allen drei Ideen des Übersinnlichen. Dies besagt, dass die Erfahrung, die uns Menschen sinnlich zugänglich ist, kein möglicher Ansatzpunkt für der Überschritt 25 Daraus lässt sich auch ein wichtiger Unterschied zwischen dem kosmologischen Gottesbeweis im Ideal-Kapitel, den ich später behandeln werde, und dem Beweisverfahren in der Thesis der vierten Antinomie einsehen: Der erste darf einen außerweltlichen Gott zum Zweck haben, während der letztere wegen der besonderen Natur der regressiven empirischen Synthesis in der „Reihe“ nur ein Wesen beweisen kann, das „zur Zeitreihe gehörig“ und mithin „als das oberste Glied der Weltreihe“ anzusehen ist (vgl. KrV A 457 f./B 485 f.). 26 „In der Philosophie aber ist die Analogie nicht die Gleichheit zweener quantitativen, sondern qualitativen Verhältnisse, wo ich aus drei gegebenen Gliedern nur das Verhältnis zu einem vierten, nicht aber dieses vierte Glied selbst erkennen, und a priori geben kann, wohl aber eine Regel habe, es in der Erfahrung zu suchen, und ein Merkmal, es in derselben aufzufinden.“ (KrV A 179 f./B 222)

3.2 Die Kritik an der ontologischen Transzendenz…

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zum Übersinnlichen ist. Der diskursive Charakter des menschlichen Verstandes hindert es, die Reihe der Bedingungen zu einem erscheinungsartigen Bedingten in ihrer vollständigen Ganzheit schon vor der Ausführung der Synthesis als gegeben zu betrachten. Kann man aber dieses kosmologischen Verfahren des menschlichen Verstandes umgehen und den Beweis der objektiven Realität der Ideen des Übersinnlichen aus dem bloßen Begriff desselben entwickeln? Mit dieser Frage beschäftige ich mich in den kommenden Abschnitten.

3.2

Die Kritik an der ontologischen Transzendenz im rational-psychologischen Beweis der Seelenunsterblichkeit

Die Unsterblichkeit war üblich ein Thema in dem Kontext der Religion, aber sie gewann ihren Beweisgrund vor allem in der rationalen Psychologie. Kant betrachtet also den metaphysischen Beweis der Unsterblichkeit der Seele zuerst in dem Paralogismus, der sich auf die rationale Psychologie richtet. In der ersten Auflage des Paralogismus-Kapitels wurde dieses Problem nicht besonders deutlich thematisiert, obwohl es noch in dem ersten Paralogismus (über die Substantialität der Seele) seinen Ort finden kann.27 In der zweiten Auflage wird aber dann ein Textteil über die Thematik der Unsterblichkeit eingeführt, und zwar in der Auseinandersetzung mit Mendelssohns Beweis der Seelenbeharrlichkeit. Dadurch ist der Zusammenhang deutlicher, in dem die Seele, weil sie einfache Substanz sei, als unsterblich zu denken ist.28 Freilich ist dort nicht klar, wie man unter Unsterblichkeit versteht: Bedeutet sie eine zeitliche Immer-Dauer, oder vielmehr etwas Zeitloses oder Überzeitliches? Diese Grundthese der rationalen Psychologie geht nach Kant davon aus, dass man durch den Prosyllogismus der kategorischen Schlüsse ein Subjekt zu dem gegebenen Prädikat suchen will, das nicht mehr als Prädikat angesehen werden kann. Diesem absoluten letzten Subjekt entspricht der Begriff der Substanz, der 27 „Indessen kann man den Satz: die Seele ist Substanz, gar wohl gelten lassen, wenn man sich nur bescheidet: daß uns dieser Begriff nicht im mindesten weiter führe, oder irgend eine von den gewöhnlichen Folgerungen der vernünftelnden Seelenlehre, als z. B. die immerwährende Dauer derselben bei allen Veränderungen und selbst dem Tode des Menschen lehren könne.“ (KrV A 351, Herv. von Y. X.) 28 Die Kritik an dem Paralogismus kann sich auch auf Kants eigene rationalistische Position des Beweises in seiner Frühzeit richten. Zu dieser frühen Position Kants im Problem der Unsterblichkeit anhand seiner Metaphysik-Vorlesungen vgl. Ameriks, K., Kant’s Theory of Mind: An Analysis of the Paralogisms of Pure Reason. Oxford 2 2000, pp. 178 ff.

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Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik

seit Aristoteles bekannt und in der Schulphilosophie der kantischen Zeit überliefert ist.29 Davon gewinnen wir den Begriff des absoluten Subjekts als einer Substanz, was der Naturanlage der menschlichen Vernunft ganz gemäß ist. Das Problem liegt nur darin, von woher man diesem Begriff objektive Realität zuschreibt. Denn dieses absolute Subjekt, oder das Substantiale, ist nicht in unserer äußerlichen sinnlichen Erfahrung anzutreffen, weil wir, nach dem diskursiven Charakter unseres Verstandesvermögens, etwas jederzeit nur durch Begriffe denken, wonach alles durch den Verstand Erkannte immer zu Prädikaten werden kann (vgl. Prol. AA 04: 333). Trotzdem aber scheint es uns, als ob wir im Bewusstsein unserer selbst ein solches Substantiales finden könnten, sofern das Ich-denke, worauf sich alle meine Vorstellungen beziehen, niemals als Prädikat eines anderen Subjekts zu denken ist. Es wird zugänglich nicht durch den diskursiven Verstand, sondern „in einer unmittelbaren Anschauung“ (Prol. AA 04: 334), bei der das angeschaute Subjekt nicht mehr zum Prädikat werden müsste. Da das Ich-denke als die oberste Bedingung aller meinen Vorstellungen fungieren könne, sei es in der Lage, die Totalität der Bedingungen zu einer bedingten Vorstellung zu sein, und dem Begriff des absoluten Subjekts objektive Realität zu schaffen. Bekanntlich fasst Kant diesen Schluss als einen Syllogismus zusammen. Der Obersatz: was bloß als Subjekt, nicht als Prädikat gedacht werden kann, ist die Substanz. Dann der Untersatz: das denkende Ich ist ein solches Subjekt, das niemals als Prädikat gilt. Daraus kommt die Konklusion über die Realität des unbedingten Subjekts: das denkende Ich sei die gesuchte absolute Substanz. (Vgl. KrV A 348 oder B 410) In dieser Schlussfolgerung ist zu bemerken, dass die Idee des absoluten Subjekts zwar durchs Verfahren des sukzessiven Prosyllogismus vom Bedingten zu seiner Bedingung bis zu der unbedingten Totalität aller jener Bedingungen gewonnen wird, dass die Zuschreibung der objektiven Realität dieser Idee aber nichts mit der sukzessiven Synthesis zu tun hat, sondern sie geht direkt von dem Unbedingten (nämlich dem Ich-denke) aus und sucht die Existenz dieses Unbedingten durch eine Schlussfolgerung aus dem bloßen Begriff desselben, ohne allen Bezug auf die Sinnlichkeit außer dem Begriff, zu beweisen. In diesem Sinne hat der rationalistische Beweis der Seele als Substanz den Charakter des ontologischen Beweises und gehört also zu der ontologischen Weise der Transzendenz, die man noch deutlicher bei dem Gottesbeweis finden kann, wie ich später thematisieren werde. Diese Schlussfolgerung diagnostiziert Kant deswegen als verfehlt, weil der Begriff des Subjekts nicht gleichbedeutend im Obersatz wie im Untersatz ist. Im 29 Vgl. Baumgarten, Metaphysica, §191: „Ens vel non potest exsistere, nisi ut determinatio alterius (in alio), vel potest … posterius est Substantia (ens per se subsistens, forma, šντελεχεια, oσια, ´ ΰττoστασις, šνεργε´ια), quod potest exsistere, licet non sit in alio, licet non sit determinatio alterius.“

3.2 Die Kritik an der ontologischen Transzendenz…

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Obersatz ist vom Ding als Objekt die Rede, „so wie es in der Anschauung gegeben werden mag“, und zwar als dasjenige, was von uns objektiviert werden kann. Im Untersatz dagegen ist eigentlich kein Objekt betroffen, denn das denkende Ich kann zwar nicht als Prädikat gelten, aber nicht deswegen, weil es als Objekt immer nur in der Stelle des Satzsubjekts steht, sondern weil es, als die transzendentale Apperzeption, die Bedingung aller möglichen Objektivierung ausmacht und eben daher nicht in der Stelle des Urteilsprädikats stehen darf. Wegen dieser Bedeutungsdifferenz des Mittelbegriffs („Subjekt“), und zwar per Sophisma figurae dictionis, kann man den Schlusssatz, das denkende Ich sei Substanz, nicht erschließen. (Vgl. KrV B 411 u. Anm.)30 Dadurch wird auch deutlich, dass in dem obigen Fall das Bedingte und seine Bedingung einerseits, nämlich das im Obersatz Betroffene, und der Gegenstand der letzten Bedingung andererseits, nämlich das Unbedingte des kategorischen Schlusses im Untersatz, auf ganz verschiedene Weisen „gegeben“ sind. Das Bedingte und seine Bedingung ist immer der Gegenstand der Erfahrung und mithin in der Anschauung gegeben. Die unbedingte Bedingung hingegen bezieht sich immer nur auf das Selbstbewusstsein, als „die Form des Denkens“ (KrV B 411 Anm.). Sie ermöglicht zwar die Erfahrung, aber nicht als deren objektive Bedingung, die allein dem Begriff der letzten Substanz entspricht, sondern als deren formale und subjektive Bedingung. Sie wird niemals „angeschaut“, und zwar niemals zum „Gegenstand“ der Anschauung, obwohl man sie als „in einer unmittelbaren Anschauung“ gegeben verkannt hat (Prol. AA 04: 334). Die Sophisma figurae dictionis ist zwar ein logischer Trugschluss, aber die Bedeutungsdifferenz des Mittelbegriffs beruht eigentlich in der Verschiedenheit des ontologischen Status der betroffenen Termini, nämlich die objektive Gegebenheit des Bedingten und dessen

30 Jonathan Bennett ist aber der Ansicht, dass dieser Syllogismus nicht verfehle, und dass das Problematische des rational-psychologischen Arguments nicht in dem genannten Syllogismus, sondern in der Erweiterung der Konklusion des Syllogismus zu der Behauptung der Unsterblichkeit der Seele liegen solle. Vgl. Bennett, J., Kant’s Dialectics, p. 72, 77. Auch Karl Ameriks vertritt eine ähnliche Position in Kant’s Theory of Mind, p. 68. Diese Interpretation steht Kants eigener Diagnose offensichtlich entgegen, obgleich bei beiden Interpreten leider nicht deutlich angegeben wird, warum und inwiefern Kants eigene Formulierung nicht richtig sei. Man muss aber einsehen, dass gerade Kants eigene Diagnose zeigt, welches Problem erscheint, wenn eine transzendentale Bedingung (die Apperzeption, die alle Vorstellungen begleitet) als ein metaphysischer Gegenstand (eine Seele als einfache Substanz) hypostasiert wird. Obwohl es auch Schwäche in dem Schluss von dem Begriff der einfachen Substanz auf die Unsterblichkeit der Seele gibt, wie Kant in Kritik an Mendelssohn zeigt (vgl. KrV B 414 f.), ist es aber ohne Zweifel, dass der rational-psychologische Syllogismus selbst problematisch bzw. paralogisch ist, wie Kant selber beurteilt.

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Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik

Bedingung in der Erfahrung gegenüber der subjektiven Gegebenheit des Unbedingten im Selbstbewusstsein. Die Verwechslung beider ontologischen Status ist eben dasjenige, was Kant transzendentalen Schein nennt.31 Soweit das denkende Wesen nun nicht rechtmäßig als Substanz, und zwar als ein einfaches Beharrliches bewiesen wird, kann die These über die Unsterblichkeit oder die Beharrlichkeit der Seele nach dem Tode nicht dadurch gesichert werden. Der ontologische Beweisansatz, von der bloßen Begriffsanalyse aus, ohne Bezug auf die Sinnlichkeit, zur objektiven Realität der Idee der Unsterblichkeit der Seele überzugehen, ist dadurch schon versagt. Die zusätzliche Kritik an Mendelssohns Beweis der Beharrlichkeit der Seele aus der Einfachheit derselben, in der Kant zeigt, dass auch die einfache Seele der intensiven Größe nach ins Nichts verschwinden werden kann,32 spielt in dieser Thematik eigentlich nur eine geringe Rolle. Bis hierhin ist schon klar, dass weder die kosmologische Transzendenz (wie in 3.1.2 gezeigt) noch die ontologische Transzendenz zu der unsterblichen Seele ihr Ziel erreichen kann.

31 Eine ähnliche Interpretation hat Allison geliefert (vgl. Allison, Kants Transcendental Idea-

lism, pp. 338 ff.) Er versucht die Unklarheiten in Kants Kritik des Paralogismus zu beseitigen und sieht den Fehler des Paralogismus in der Hypostasierung der Apperzeption, wie Kant selbst mit dem lateinischen Ausdruck „apperceptionis substantiatae“ deutet. Nach Allison beruht diese Hypostasierung auf dem transzendentalen Schein (nicht aber mit diesem identisch), „die Einheit in der Synthesis der Gedanken vor eine wahrgenommene Einheit im Subjekte dieser Gedanken zu halten“ (KrV A 402) oder „die Einheit der Apperzeption, welche subjektiv ist, vor die Einheit des Subjekts als eines Dings“ zu nehmen (Refl. 5553, AA 18:224). Hier zeigt Allison sehr richtig, dass der transzendentale Schein unvermeidlich ist, während es möglich ist, die transzendental-realistische Hypostasierung der Apperzeption zu vermeiden. Er gibt hier zu (p. 499), dass seine Unterscheidung zwischen dem transzendentalen Schein und dem transzendentalen Realismus von Michelle Grier (Kant’s Doctrine of Transcendental Illusion, Cambridge 2004, p. 152 ff.) erweckt wurde. 32 „Allein er [sc. Mendelssohn] bedachte nicht, daß, wenn wir gleich der Seele diese einfache Natur einräumen, da sie nämlich kein Mannigfaltiges außer einander, mithin keine extensive Größe enthält, man ihr doch, so wenig wie irgend einem Existierenden, intensive Größe, d. i. einen Grad der Realität in Ansehung aller ihrer Vermögen, ja überhaupt alles dessen, was das Dasein ausmacht, ableugnen könne, welcher durch alle unendlich viele kleinere Grade abnehmen, und so die vorgebliche Substanz (das Ding, dessen Beharrlichkeit nicht sonst schon fest steht), obgleich nicht durch Zerteilung, doch durch allmähliche Nachlassung (remissio) ihrer Kräfte (mithin durch Elangueszenz, wenn es mir erlaubt ist, mich dieses Ausdrucks zu bedienen), in nichts verwandelt werden könne. Denn selbst das Bewußtsein hat jederzeit einen Grad, der immer noch vermindert werden kann, folglich auch das Vermögen, sich seiner bewußt zu sein, und so alle übrige Vermögen. – Also bleibt die Beharrlichkeit der Seele, als bloß Gegenstandes des inneren Sinnes, unbewiesen, und selbst unerweislich.“ (KrV B 414 f.)

3.3 Die Kritik an der Transzendenz in der Ontotheologie

3.3

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Die Kritik an der Transzendenz in der Ontotheologie

Die rationale Theologie, deren Basis der ontologische Gottesbeweis ist, ist die letzte Schutzwehr der spekulativen Transzendenz bzw. der theoretischen Metaphysik, weil man sich dabei in einem Gedanken wohl fühlt, in dem die Existenz eines Unbedingten schon in dem Begriff desselben eingeschlossen ist. Mit dieser Grundform hat die rationale Theologie viele Beweise für das Dasein Gottes entwickelt. Kant will die rationale Theologie gründlich kritisieren, wofür er, wie bei der Kritik anderer Disziplinen der spezifischen Metaphysik, das basale Verfahren der rational-theologischen Transzendenz rekonstruiert und seine Grundform „Ontotheologie“ nennt.33 Wir müssen aber zugleich in dieser Rekonstruktion vor allem einsehen, was eigentlich diejenige Ontotheologie ist, die Kant im Kopf hat, und wie sie verfährt.34 Man gewinnt, so Kant, den theologischen Begriff des Unbedingten ebenfalls zunächst durch das Verfahren des Prosyllogismus der disjunktiven Synthesis. Im disjunktiven Urteil wird von einem Ding ausgesagt, dass es entweder so oder nicht so sei. D. h., wir schreiben dabei einem Ding entweder eine Bestimmung oder die dieser gegenteilige Bestimmung zu. Indessen wird die Einteilung in zwei Glieder und ein Ganzes als das Aggregat beider Glieder mitgedacht. Durch den Prosyllogismus kommen wir zu „einem Aggregat der Glieder der Einteilung, zu welchen nichts weiter erforderlich ist, um die Einteilung eines Begriffs zu vollenden“ (KrV A 323/B 380). Dieses oberste Aggregat sei, sagt Kant, nur dann angetroffen, wenn man einem Ding nicht allein eine der zwei einander entgegengesetzten Bestimmungen zuschreibt, sondern es auch unter dem „Grundsatze der durchgängigen Bestimmung“ stehen lässt, „nach welchem ihm von allen möglichen Prädikaten der Dinge, 33 Vgl. KrV A 632/B 660. Dieser Ausdruck „ontotheologisch“ erscheint schon bei Kant in den frühen 70er Jahren zur Bezeichnung seines eigenen Versuchs des Gottesbeweises. Vgl. Refl. 4647, AA 17:624. Heideggers bekannte Theorie der „onto-theo-logischen Verfassung der Metaphysik“ entspringt offensichtlich diesem kantischen Terminus, freilich mit einer ganz unterschiedlichen Bedeutung. Ich werde im Abschluss meiner Arbeit wieder die heideggersche Bedeutung dieses Terminus zum Thema machen. 34 Meine folgende Untersuchung verdankt sehr der einsichtsvollen Forschung von Dieter Henrich, Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit, Tübingen 1960. Mit der Betrachtung des ontologischen Beweises in der neuzeitlichen Geschichte seit Descartes sieht Henrich ein, dass das Wesentliche der kantischen Kritik der Ontotheologie nicht in der These, das Sein sei kein reales Prädikat, sondern in der Widerlegung der Bestimmbarkeit des Begriffs des notwendigen Wesens. (Vgl. besonders S. 170.) Henrichs Arbeit ist meiner Meinung nach in Einzelheiten und Tiefe vielen späteren Forschungen überlegen.

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Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik

so fern sie mit ihren Gegenteilen verglichen werden, eines zukommen muß“ (KrV A 572 f./B 600 f.). Denn in diesem Falle beziehe sich das Ding nicht nur auf die beiden gegebenen einander widerstreitenden Prädikate, sondern auch auf alle möglichen Prädikate (KrV A 573/B 601), mithin auf die „gesamte Möglichkeit, als den Inbegriff aller Prädikate der Dinge überhaupt“, der sich nun als die „Bedingung a priori“ des „vollständigen Begriff[s]“ eines Dings erweise (KrV A 572/B 600). Dieser Inbegriff aller Prädikate bzw. aller Realitäten (omnitudo realitatis) könne die gedachte Rolle des unbedingten Aggregats spielen, weil er alle zuzuschreibenden Prädikate in sich enthalte, welche die Glieder bei allem disjunktiven Urteil über ein Ding überhaupt ausmachten, wodurch die durchgängige Bestimmung desselben möglich sei. Von diesem Inbegriff könne man nicht mehr erwarten, dass er wiederum ein Glied eines anderen Systems sein könne. Man darf zwar den Inbegriff aller möglichen Prädikate als das Unbedingte der disjunktiven Synthesis denken, aber es bleibt noch unausgemacht, ob er über eine bloße subjektive Bedingung der durchgängigen Bestimmung eines Dings hinaus noch objektiv vergegenständlicht werden darf. Der Versuch, den Kant „transzendentales Ideal“ nennt, ist eben diese Hypostasierung jenes Inbegriffs, und zwar dadurch, dass der Begriff dieses Inbegriffs zugleich „durch sich selbst durchgängig bestimmt“ und mithin individuiert wird (KrV A 576/B 604).35 Dieser Versuch kann auf Wolff/Baumgartens Definition der „Existenz“ zurückgeführt werden: Existenz sei complementum essentiae sive possibilitatis, als Ergängzung sachhaltiger Bestimmungen.36 Nach dieser Definition wird ein Ding, sofern es existiert, durchgängig bestimmt. Es bleibt nämlich in einem allgemeinen Begriff noch viele einzelnen Bestimmungen offen: In dem Begriff des Tisches wird nicht ausgemacht, ob ein betroffener Tisch rot oder nicht rot ist. Aber ein existierender Tisch hingegen muss in diesem Aspekt der Farbe sowie in allen anderen Aspekten völlig bestimmt werden. Da nun der Begriff des Inbegriffs aller Realitäten durchgängig bestimmt wird, ist er als existent zu betrachten, und zwar als ein ens realissimum. Für Kant ist der Fehler des transzendentalen Ideals sehr offensichtlich. Er hat keine große Mühe dafür aufgewandt, den Scheinbeweis im transzendentalen Ideal 35 Die Ableitung des Gottesbegriffs von jenem Inbegriff aller möglichen Prädikate wird, wie Kant meint, dadurch möglich, dass man jenen Inbegriff als „einfach“, also nicht zusammengesetzt, betrachtet und ihn weiter als „Grund“ der mannigfaltigen anderen Möglichkeiten der Dinge „hypostasiert“ und mithin ihm alle in ihm eingeschlossenen Prädikate in der höchsten Vollständigkeit beilegt. (Vgl. KrV A 579 f./B 606 f.) 36 Vgl. Wolff, Philosophia Prima sive Ontologia, § 174: „Existentiam definio per complementum possibilitatis.“ Baumgarten Metaphysica, § 55: „EXSISTENTIA … est complexus affectionum in aliquo compossibilium, i.e. complementum essentia sive possibilitatis internae.“

3.3 Die Kritik an der Transzendenz in der Ontotheologie

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zu widerlegen. Vielmehr hat er dafür nur gezeigt, dass die Vernunft nur den Begriff des omnitudo realitatis als Grund der durchgängigen Bestimmung der Dinge legt, dass sie aber die objektive Gegebenheit aller Realitäten und mithin die Hypostasierung dieses Inbegriffs nicht verlangt (vgl. KrV A 580/B 608). Außerdem ist es auch offensichtlich, dass wir, auch wenn alles Wirkliche als durchgängig bestimmt betrachtet wird, nicht umgekehrt schließen können, dass alles durchgängige Bestimmte zugleich auch wirklich existiert.37 Denn ein durchgängiges Bestimmtes kann auch nur im Gedanken durchgängig bestimmt werden. Der darauf beruhende Beweis des höchsten Wesens oder des allerrealsten Wesens erweist sich daher als eine leicht zu entdeckende Subreption. Aber die rationale Theologie entwickelt aus dem Begriff des omnitudo realitatis einen Gottesbeweis, indem man nun das Sein als eine reale Bestimmung versteht, die in diesem Inbegriff eingeschlossen ist und mit anderen Realitäten zusammen besteht kann. Kant bezeichnet ihn als ontologischen Beweis.38 Der ontologische Beweis lässt sich syllogistisch formulieren wie folgt: Der Gott oder das Urwesen, als der Inbegriff aller Bestimmungen jedes Dings überhaupt, enthalte alle möglichen Prädikate in sich, einschließlich des Prädikats des Daseins. Wenn man ihm nun das Prädikat „Nicht-Dasein“ zuschreibe, entstehe ein Widerspruch zwischen dem Subjekt (Urwesen oder Inbegriff aller Bestimmungen) und dem Prädikat (NichtDasein). Also sei es unmöglich, dass der Gott nicht existiert. D. h., der Gott existiere notwendigerweise. Kant beurteilt diesen syllogistischen Schluss ebenfalls als verfehlt, indem er bekanntlich zeigt, dass das Prädikat „Sein“ bzw. „Dasein“ kein reales Prädikat, d. h., keine sachhaltige Bestimmung an einem Ding ist (vgl. KrV A 598 f./B 626 f.). Dies kann aus dem zweiten Postulat des empirischen Denkens überhaupt schon unmittelbar geschlossen werden: „Dasein“ drückt nur das Verhältnis des Gegenstandes zu unserem Erkenntnisvermögen aus, so wie die anderen Modalbegriffe „Möglichkeit“ und „Notwendigkeit“, und hat also nichts zu tun mit den Bestimmungen des Gegenstandes (vgl. KrV A 225 ff./B 272 ff.). Ob etwas da ist oder 37 „Wir können nicht beweisen, daß, wenn ein Begrif von der Art ist, daß er zugleich die durchgangige [!] Bestimmung des objects in sich schließt, dieses nothwendig existire, sondern nur: daß, wenn wir die Existenz aus bloßen Begriffen herleiten könnten, diese zugleich durchgängige Bestimmung enthalten müßten.“ (Refl. 5785, AA 18:355) „[O]b ich gleich sagen kan: alles wirkliche ist durchgängig bestimmt, so kan ich doch nicht sagen: alles durchgängig Bestimmte ist wirklich.“ (Refl. 6255, AA 18:532) 38 Kant verweist in der Kritik der reinen Vernunft den ontologischen Beweis explizit auf Descartes. Erst später, und zwar nach der Erscheinung der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft kannte Kant den Beweisversuch von Anselm von Canterbury und er verband dann den Namen Anselm deutlich mit dem ontologischen Beweis. Dazu vgl. auch die Bezeichnung in Refl. 6214, AA 18:500: „Anselmus: Ontotheologie.“

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Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik

nicht, hängt nur davon ab, wie es mit unserem Erkenntnisvermögen zusammenhängt, hier genauer, mit der „empirischen Urteilskraft“ (KrV A 219/B 266) bzw. der Verbindung seines Begriffs mit der Empfindung. Ein Ding, wenn es da ist, hat hinsichtlich seines Begriffs nichts mehr als dann, wenn es nur möglich ist, auch nichts weniger als dann, wenn es außerdem noch notwendig ist. Mit diesem Gedanken sieht Kant dann keinen Widerspruch, wenn man dem Gott das „Prädikat“ „NichtDasein“ beilegt, oder was dasselbe ist, wenn man dem Gott das „Prädikat“ „Dasein“ aufhebt. Das Daseinsprädikat führt nämlich weder zur Vermehrung noch zur Verringerung des Gottesbegriffs, geschweige denn zur Aufhebung desselben selbst. Der ontologisch-syllogistische Beweis, der auf den scheinbaren Widerspruch des Subjekts (Gottes) mit dem Prädikat (Nicht-dasein) beruht, werde daher ungültig.39 Viele Interpreten bleiben bei diesem kantischen Einwand durch die These, das Sein sei kein reales Prädikat, stehen und sehen darin den Kern der ganzen kantischen Kritik der Ontotheologie.40 Aber dies ist nicht der Verdienst, der erst von Kant gemacht wird; schon Gassendi hat eine ähnliche These zum Einwand gegen Descartes’ Beweis formuliert.41 Wichtiger ist es außerdem, dass in der obigen Kritik ein Begriff noch nicht berührt wurde, der aber in der neuzeitlichen Geschichte des ontologischen Beweises eine entscheidende Rolle spielt, nämlich der Begriff des ens necessarium. Die Erörterung eben dieses Begriffs, so muss man sagen,

39 Klaus Düsing zeigt durch die Untersuchung verschiedener Typen der Ontologie mit Recht, dass Kants Einwand in der Tat nicht überzugend gegen Anselms Gottesbeweis gerichtet werden kann. Denn Kant vertritt eine universalistische Konzeption der Ontologie, in der das Sein eines endlichen Dings nicht anders als das des Gottes ist, während Anselm einen paradigmatischen Begriff der Ontologie hat, nach dem das Sein Gottes das vollkommenste ist, aus dem die endlichen Dinge erst in einem niedrigem Grad sein kann. In diesem Sinne drückt Kants These, das Sein sei kein reales Prädikat, allenfalls eine andere Theorie des Seins als die des Anselms aus. Nach Düsing muss ein zwingender Einwand gegen Anselms und Descartes’ Beweis auf der Erörterung der Modalität gründen, nämlich auf der Kritik an dem Begriff des notwendigen Wesens, wie ich sofort thematisieren werde. Vgl. Düsung, K., „Ontologie, Ontotheologie, Moraltheologie in Kants kritischer Philosophie“, in: Immanuel Kant, Klassiker der Aufklärung, Untersuchungen zur kritischen Philosophie in Erkenntnistheorie, Ethik, Ästhetik und Metaphysik, Hildesheim u. a. 2013, S. 328. 40 Dazu gehört auch Allen Woods bekannte Forschung Kant’s Rational Theology, Ithaca 1978. 41 Vgl. Gassendis Ausdruck in der Objectio gegen Descartes, die als 5. Objectio in den Meditationes gesammelt wird: „Aber freilich ist die Existenz weder bei Gott noch bei irgendeinem anderen Ding eine Vollkommenheit, sondern das, ohne welches es keine Vollkommenheit gibt.“ (Sed numirum, neque in Deo, neque in ulla alia re existentia perfectio est, sed id, sine quo non funt perfections.) (Descartes, Meditationes de prima philosophia, in: Œuvres de Descartes, hrsg. von C. Adam u. P. Tannery, Bd. 7, S. 323)

3.3 Die Kritik an der Transzendenz in der Ontotheologie

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macht erst den eigentlichen Kern der kantischen Kritik der Ontotheologie aus.42 Die These, das Sein sei kein reales Prädikat, kann zwar denjenigen Beweis bestreiten, der von dem Begriff des omnitudo realitatis ausgeht, aber betrifft den Beweis aus dem Begriff des ens necessarium nicht. Wenn man den Begriff eines notwendigen Wesens als einen bestimmten bilden können, scheinen wir auch mit gutem Grund aus diesem bestimmten Begriff die Existenz eines notwendigen Wesens zu schließen, ganz abgesehen davon, ob die Existenz ein reales Prädikat ist oder nicht. Es kommt nun also darauf an, ob der dieser Begriff überhaupt bestimmbar ist, oder ob er real möglich ist. Der Begriff des ens necessarium ist ein solcher, den man in einem kosmologischen Beweisgang gewinnt, und zwar aus einer Erfahrung überhaupt ausgehend, die ihrerseits als zufällig betrachtet wird. Dieser Begriff hat das Moment in sich, dass sein Nicht-Sein nicht möglich ist. Wir sind ihm schon in der Behandlung der vierten Antinomie begegnet. Wie dort schon gezeigt, bestimmt dieser Begriff von sich selbst gar nicht, was eigentlich dieses gedachte notwendige Wesen ist. Es muss nicht der Gott oder irgendein außerweltliches Seiende sein. Denn auch eine absolut notwendige Welt selbst kann Gegenstand dieses Begriffs sein. Wenn man die Zufälligkeit einer Erfahrung nur als ihre Abhängigkeit von einer anderen Erfahrung betrachtet, kann man auch die ganze Reihe der voneinander abhängigen Erscheinungen selbst als notwendig verstehen. So muss der Begriff des ens necessarium vor allem bestimmt werden. Die rationale Theologie denkt also daran, den Begriff des notwendigen Wesens durch den des Inbegriffs aller Realitäten zu ergänzen, mit der Überlegung, dass der Begriff des omnitudo realitatis die Bedingung für die bestimmte Erkenntnis des notwendigen Wesens erfüllt.43 Dies bedeutet mit anderen Worten, dass die beiden Begriffe miteinander vereinigt werden.

42 Vgl. Kants eigene Diagnose: „Die ganze Aufgabe des transzendentalen Ideals kommt darauf an: entweder zu der absoluten Notwendigkeit einen Begriff, oder zu dem Begriffe von irgend einem Dinge die absolute Notwendigkeit desselben zu finden.“ (KrV A 612/B 640) 43 „Was dieses [sc. das notwendige Wesen] für Eigenschaften habe, kann der empirische Beweisgrund nicht lehren, sondern da nimmt die Vernunft gänzlich von ihm Abschied und forscht hinter lauter Begriffen: was nämlich ein absolutnotwendiges Wesen überhaupt für Eigenschaften haben müsse, d. i. welches unter allen möglichen Dingen die erforderlichen Bedingungen (requisita) zu einer absoluten Notwendigkeit in sich enthalte. Nun glaubt sie im Begriffe eines allerrealesten Wesens einzig und allein diese Requisite anzutreffen, und schließt sodann: das ist das schlechterdingsnotwendige Wesen. Es ist aber klar, daß man hiebei voraussetzt, der Begriff eines Wesens von der höchsten Realität tue dem Begriffe der absoluten Notwendigkeit im Dasein völlig genug, …“ (KrV A 607 f./B 635 f.)

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Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik

Kant hat diesem neuen Beweisgang der rationalen Theologie unter dem Titel des kosmologischen Gottesbeweises wiedergegeben:44 Zuerst schließt man in einer kosmologischen Weise aus der Existenz einer zufälligen Erfahrung überhaupt auf das Dasein eines notwendigen Wesens.45 Und dann versucht man von diesem Begriff des ens necessarium auf das Dasein eines allerrealsten Wesens zu schließen: Das notwendige Wesen könne nur bestimmt werden durch die Weise der durchgängigen Bestimmung. Nun sei der Begriff des ens realissimum der einzige Begriff, der seinen Gegenstand a priori durchgängig bestimmt. Also sei der Begriff des ens realissimum als das notwendige Wesen zu denken, das in dem vorigen Beweisschritt schon als existent bewiesen werde. Also existiere das allerrealste Wesen als das notwendige.46 Von diesem Beweis, in dem die spekulative Vernunft, so Kant, „alle ihre dialektische Kunst aufgeboten zu haben scheint“ (KrV A 606/B 634), diagnostiziert Kant, dass er eigentlich dem ontologischen Beweisgang folgt, und dass die Erfahrung überhaupt, die den kosmologischen Beweis kennzeichnen soll, dabei nur ein sekundäres Hilfsmittel ist.47 Daher ist auch dieser angebliche kosmologische Beweis schließlich unter dem Namen der Ontotheologie zu verstehen.48 44 Kant

verweist diesen Beweis vielmals auf Wolff. Vgl. Refl.3812, AA 17:301; Refl. 6214, AA 18:500. 45 „Er [sc. der kosmologische Beweis] lautet also: Wenn etwas existiert, so muß auch ein schlechterdingsnotwendiges Wesen existieren. Nun existiere, zum mindesten, ich selbst: also existiert ein absolutnowendiges Wesen.“ (KrV A 604/B 632) 46 „Nun schließt der Beweis weiter: das notwendige Wesen kann nur auf eine einzige Art, d. i. in Ansehung aller möglichen entgegengesetzten Prädikate nur durch eines derselben, bestimmt werden, folglich muß es durch seinen Begriff durchgängig bestimmt sein. Nun ist nur ein einziger Begriff von einem Dinge möglich, der dasselbe a priori durchgängig bestimmt, nämlich der des entis realissimi: Also ist der Begriff des allerrealesten Wesens der einzige, dadurch ein notwendiges Wesen gedacht werden kann, d. i. es existiert ein höchstes Wesen notwendiger Weise.“ (KrV 605 f./B 633 f.) 47 „Es ist also eigentlich nur der ontologische Beweis aus lauter Begriffen, der in dem sogenannten kosmologischen alle Beweiskraft enthält, und die angebliche Erfahrung ist ganz müßig, vielleicht, um uns nur auf den Begriff der absoluten Notwendigkeit zu führen, nicht aber, um diese an irgend einem bestimmten Dinge darzutun. Denn sobald wir dieses zur Absicht haben, müssen wir sofort alle Erfahrung verlassen, und unter reinen Begriffen suchen, welcher von ihnen wohl die Bedingungen der Möglichkeit eines absolutnotwendigen Wesens enthalte.“ (KrV A 607 f./B 635 f.) 48 In diesem Sinne soll man Kants Auffassung zum Verhältnis verschiedener Gottesbeweise verstehen, in dem der ontologische Beweis allen anderen Beweiswegen des Daseins eines Urwesens aus theoretischer bzw. spekulativer Absicht zugrunde liegt. Vgl. KrV A 630/B 658: „So liegt demnach dem physikotheologischen Beweise der kosmologische, diesem aber der ontologische Beweis, vom Dasein eines einigen Urwesens als höchsten Wesens, zum Grunde, und da außer diesen dreien Wegen keiner mehr der spekulativen Vernunft offen ist, so ist der

3.3 Die Kritik an der Transzendenz in der Ontotheologie

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Diese ist angesichts dessen ein Versuch, die kosmologische mit der ontologischen Transzendenz zu vereinigen. Kants wahres Verdienst bei der Kritik der rational-theologischen Transzendenz liegt darin, die Unmöglichkeit bzw. die Unbestimmbarkeit des Begriffs des ens necessarium zu beweisen. Seine Überlegungen können aus zwei Aspekten auszuführen. Zuerst ist zu zeigen, dass der Begriff des omnitudo realitatis oder des ens realissimum den Begriff des ens necessarium nicht bestimmen kann. D. h., in dem Begriff des Inbegriffs aller Realitäten wird die Notwendigkeit seines Seins nicht enthalten. Dies können wir schon in der vorherigen Kritik des ontologischen Beweises mit der These, das Sein sei kein reales Prädikat, leicht einsehen. Aber Kant will weiter beweisen, dass der Begriff der absoluten Notwendigkeit von Grund aus unbestimmbar ist. „Die ganze Schwierigkeit der transzendentalen Theologie beruht darauf, dass es nicht möglich ist, den Begriff der absoluten Notwendigkeit eines Dinges zu bestimmen, das ist zu sagen, worauf seine Denkbarkeit beruhe.“ (Refl. 6277, AA 18:543) Es ist schon in der Auflösung der vierten Antinomie klar, dass dieser Begriff nicht in der regressiven Synthesis der Erfahrung bestimmt werden kann. Kann man ihn aber a priori bestimmen, und zwar aus seinem Begriff allein? Auch diese Möglichkeit bestreitet Kant. Dies kann man schon von Kants Lehre der Modalität her verstehen. Wenn man die Modalitätsbegriffe in ihrem realen, Gegenstände betreffenden Gebrauch von ihrem bloß logischen Gebrauch unterscheidet, bedeuten die ersteren keine inhaltlichen Bestimmungen des Gegenstandes, sondern nur das Verhältnis desselben zu dem erkennenden Subjekt. Der Gegenstand selbst bleibt dadurch unbestimmt. Der Begriff der Notwendigkeit ist ein solcher Modalbegriff, aus dem nichts Inhaltliches an dem Gegenstand, sondern ein gewisses Verhältnis zu dem Subjekt vorgestellt wird. Daher ist der Begriff der absoluten Notwendigkeit objektiv-bestimmter, sondern bestenfalls nur eine subjektive „Hypothese“. (KrV A 612/B 640)49 Von diesem Begriff allein können wir a priori nichts anders schließen, als dass sein Nicht-Sein unmöglich ist. Aber auch diese Unmöglichkeit ist ebenfalls eine modale, nicht inhaltliche Bestimmung, zu deren Einsicht der menschliche Verstand auch nicht imstande ist.50 ontologische Beweis, aus lauter reinen Vernunftbegriffen, der einzige mögliche, wenn überall nur ein Beweis von einem so weit über allen empirischen Verstandesgebrauch erhabenen Satze möglich ist.“ 49 „Es mag wohl erlaubt sein, das Dasein eines Wesens von der höchsten Zulänglichkeit, als Ursache zu allen möglichen Wirkungen, anzunehmen, um der Vernunft die Einheit der Erklärungsgründe, welche sie sucht, zu erleichtern.“ (KrV A 612/B 640) 50 „Das ens necessarium ist, dessen Gegentheil schlechterdings unmoglich ist. Der Menschliche Verstand kan aber diese Unmoglichkeit nicht einsehen, ohne dadurch, daß das Nichtseyn

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Die Kritik an der spekulativen Transzendenz in der Metaphysik

Diese Begründung der Unbestimmbarkeit des Begriffs des ens necessarium aus der Theorie der Modalität kann in der Kritik der reinen Vernunft nur implizit herausgelesen werden.51 In der Kritik der Urteilskraft (§ 76) hängt die Bezeichnung des Begriffs des „absolutnotwendigen Wesens“ als ein „für den menschlichen Verstand unerreichbarer problematischer Begriff“ deutlich zusammen mit dem Gedanken der Modalität als subjektive, nicht in den Dingen liegenden Bestimmungen (KU AA 05:402). Die Annahme eines notwendigen Wesens ist nichts anderes als die „unablaßliche[] Forderung der Vernunft“ zu verstehen (ebd.). Noch deutlicher kommt diese Begründung in der Preisschrift vor: „Also können wir uns von einem absolutnotwendigen Dinge, als einem solchen, schlechterdings keinen Begriff machen (wovon der Grund der ist, daß es ein bloßer Modalitätsbegriff ist, der nicht als Dinges-Beschaffenheit, sondern nur durch Verknüpfung der Vorstellung von ihm mit dem Erkenntnisvermögen die Beziehung auf das Objekt enthält).“ (FM AA 20:304) Aus der bloßen Modalität kann keine reale Bestimmung geschlossen. Dies gilt auch für die Bestimmungen wie „Ewigkeit“ und „Unveränderlichkeit“, die, so Kant, mit dem Begriff der absoluten Notwendigkeit einerlei sind und den irreführenden Anschein einer Quantität- und einer Qualitätsbestimmung haben (ebd.). Denn diese Bestimmungen dienen in der Tat zu nichts anderes als dazu, die zeitliche Quantität und die veränderliche Qualität aus dem Begriff des notwendigen Wesens auszuschließen. In diesem Sinne sagt Kant, noch radikal als in der Kritik der Urteilskraft, dass der Begriff eines notwendigen Wesens ein „leerer Begriff“ ist. Der Begriff der absoluten Notwendigkeit ist daher, mit Kants eigene Bezeichnung, „der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft“ (KrV A 613/B 641). Er bleibt immer noch unbestimmt, obwohl er als eine notwendige Hypothese der Vernunft zu betrachten ist. Mit der Begründung der Unbestimmbarkeit des Begriffs des notwendigen Wesens wird die Ontotheologie bzw. die rational-theologische Transzendenz gründlich kritisiert. Ebenso wichtig ist es auch, dass Kant erst dadurch zur Begründung des völligen, ohne Ausnahme gültigen Unterschieds zwischen dem Gedacht-Sein durch den Begriff einerseits und dem Außer-dem-Begriff-Sein andererseits gelangt, den Kant erkenntniskritisch aufgestellt hat: dieser gilt nicht nur seinem Begriff wiederspricht. Nun wiederspricht das Nichtseyn eines Dinges niemals dem Begriffe des Dinges an sich selbst; also ist der Begrif des entis necessarii für die menschliche Vernunft unerreichlich, …“ (Refl. 5783, AA 18:353 f.) 51 „Wollen wir nun dieses notwendige Wesen nach seiner Beschaffenheit näher bestimmen, so suchen wir nicht dasjenige, was hinreichend ist, aus seinem Begriffe die Notwendigkeit des Daseins zu begreifen; denn, könnten wir dieses, so hätten wir keine empirische Voraussetzung nötig; nein, wir suchen nur die negative Bedingung (conditio sine qua non), ohne welche ein Wesen nicht absolutnotwendig sein würde.“ (KrV A 611/B 639)

3.3 Die Kritik an der Transzendenz in der Ontotheologie

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für Begriffe aller anderen, zufälligen Dinge, sondern auch für den Begriff eines notwendigen Wesens, dessen Begriff zugleich dessen Sein in sich zu enthalten vorgibt. Die Metaphysikkritik, insbesondere die Kritik an der speziellen Metaphysik, die vor allem in der Transzendentalen Dialektik ausgeführt und in der Preisschrift wiederholt wird, macht den ganzen Inhalt des zweiten Stadiums bzw. der „Zweifellehre“ der „eigentlichen Metaphysik“ aus. Sie gehört deswegen zum wesentlichen Bestandteil des Metaphysikbegriffs Kants, weil mit ihr sowohl die kosmologischen als auch die ontologischen Versuche der spekulativen Transzendenz zum Übersinnlichen als ungerechtfertigt verurteilt und, so meint Kant, vollständig und systematisch zurückgewiesen werden. Diese Transzendenz ist „spekulativ“, weil sie auf das Interesse bzw. das Bedürfnis des spekulativen Gebrauchs der Vernunft zurückzuführen ist, das „in der Erkenntnis des Objekts bis zu den höchsten Prinzipien a priori“ besteht (KpV AA 05:120). Die spekulative Transzendenz hat zwar ihre Wurzel in der Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens, aber erweist sich durch jene Kritik als sowohl unberechtigt wie auch hinsichtlich des eigentlichen Zwecks verfehlt, den die reine Vernunft für sich selbst vorschreibt. Sofern aber der Überschritt zum Übersinnlichen wesentlich zur menschlichen Natur gehört, wird die Zurückweisung der spekulativen Transzendenz zugleich eine Verweisung auf eine andere Art der Transzendenz sein, die ich im kommenden Kapitel thematisieren werde.

4

Die Praktische Transzendenz als Ansatz der neuen Metaphysik

Da nun die objektive Realität der Ideen des Unbedingten weder vermittels des kosmologischen Verfahrens aus der Erfahrung her noch durch den apriorischen diskursiven Schluss aus dem bloßen Begriff beweisbar ist, wird sich die spekulative Transzendenz zum Übersinnlichen in einem Bedingung/Bedingten-Verhältnis als erfolglos erweisen. Das Wissen von der Freiheit des Willens, der Unsterblichkeit der Seele und dem Dasein Gottes wird zwar dadurch nicht als absolut unmöglich verurteilt, dennoch ist sicher, dass es zur Erweiterung unserer Naturforschung keine Rolle mehr spielt (vgl. KrV A 798 f./B 826 f.). Demnach wird ein „skeptischer Stillstand“ erweckt, in dem alle metaphysischen Versuche als Anmaßung des Menschen in Zweifel gezogen sind. Aber die menschliche Vernunft will bei diesem „skeptischen Stillstand“ nicht stehen bleiben, denn es gehört zu ihrem Wesentlichen, nach dem Übersinnlichen zu fragen, zumal wenn diese drei „Kardinalsätze“ (über Freiheit, Unsterblichkeit und Gott) uns nun „durch unsere Vernunft dringend empfohlen werden“ (vgl. KrV A 799 f./B 827 f.). So stellt die Vernunft sich die Aufgabe, das Wissen dieser drei Ideen des Übersinnlichen auf eine andere Weise als die theoretische zu versuchen, und diese gedachte neue Weise wird als eine praktische betrachtet (ebd.). Inwiefern aber sich die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch auf jene drei Ideen bezieht, ist das Thema der folgenden Untersuchung. Der Versuch, aufgrund des praktischen Gebrauchs der Vernunft die Erkenntnis des Übersinnlichen zu schaffen, wird von Kant als eine Weise der Transzendenz bezeichnet, die er „praktisch-dogmatischen Überschritt“ nennt. Sie macht das dritte Stadium der „eigentlichen Metaphysik“ aus, in dem diese ihre Endabsicht schließlich erreicht. In der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, wo das

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Y. Xie, Praktische Regulation der Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62252-0_4

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4

Die Praktische Transzendenz als Ansatz der neuen Metaphysik

Erkennen der übersinnlichen Gegenstände zum ersten Mal ausdrücklich als Transzendenz thematisiert wird,1 charakterisiert Kant die praktische Transzendenz in einem Textstück sehr konzentriert: „Dieser Endzweck der reinen praktischen Vernunft ist das höchste Gut, sofern es in der Welt möglich ist … Dieser Gegenstand der Vernunft ist übersinnlich; zu ihm als Endzweck fortzuschreiten, ist Pflicht; daß es also ein Stadium der Metaphysik für diesen Überschritt und das Fortschreiten in demselben geben müsse, ist unzweifelhaft.“ (FM AA 20:294)

Nach diesem Textstück wird dreierlei klar: Erstens ist das höchste Gut, das als Endzweck der reinen praktischen Vernunft bestimmt wird, ein Übersinnliches, und der Überschritt zu diesem Übersinnlichen kennzeichnet die praktische Transzendenz. Zweitens wird diese Transzendenz zum höchsten Gut als die „Pflicht“ der Vernunft bestimmt, was ihren praktischen Charakter deutlich auszeichnet. Und schließlich ist es unbedingt notwendig, dass diese Transzendenz als ein „Stadium“ zur Metaphysik gehört. Im vorliegenden Kapitel möchte ich auf diese drei Punkte eingehen, um den Gedanken der praktischen Transzendenz bei Kant dem Prinzip und Inhalt nach zur Erhellung zu bringen und im Vergleich zu der theoretischen zu charakterisieren.

4.1

Der Überschritt zum höchsten Gut als Endzweck

Wenn die spekulative Bestimmung der ersten und übersinnlichen Bedingung des erfahrbaren Seienden als erfolglos erweist wurde, ist nun zu überlegen, ob es noch möglich ist, Erkenntnis eines Übersinnlichen zu gewinnen, das zwar auch den Charakter der Totalität in sich hat, das aber nicht mehr als unbedingte „Bedingung“ zu dem bedingten Seienden gedacht wird. Kant unternimmt in der Preisschrift einen Versuch, das Übersinnliche nach dem Gedankenverfahren von Zweck-Mittels zu denken. Dies hängt in der Tat mit der Konzeption der Natur als teleologische Ganzheit zusammen, die er in der Kritik der Urteilskraft mit dem methodischen Begriff der Reflexion entwickelt hat. In dem vorliegenden Abschnitt thematisiere ich in diesem Zusammenhang zunächst formal das Verfahren des Überschritts zum Übersinnlichen als Zweck bzw. als Endzweck, um dann in dem nächsten Abschnitt

1 Kant

hat zwar schon früh die übersinnlichen Gegenstände mit dem Begriff des höchsten Guts verbunden und dadurch die Möglichkeit einer praktischen Erkenntnis dieser Gegenstände gezeigt, aber erst in der Preisschrift wird diese Erkenntnis als Transzendenz bzw. als Überschritt bezeichnet.

4.1 Der Überschritt zum höchsten Gut als Endzweck

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zu einer tieferen Frage überzugehen, wie dieser Überschritt auf Grund des reinen praktischen Vernunftgesetzes möglich ist.

4.1.1

Der Ausgangspunkt der praktischen Transzendenz: die Begriffe von Zweckmäßigkeit und Zweck

Die reinen Grundsätze des Verstandes, die durch die transzendentale Apperzeption gerechtfertigt und durch die Schematisierung der Kategorien ermöglicht werden, gelten als die allgemeinen Regeln der uns erfahrbaren Naturdinge und -Begebenheiten überhaupt. Mit diesen gegebenen allgemeinen Regeln fungiert der Verstand, im Namen der Urteilskraft, nur „subsumierend“ und hat dabei „nicht nötig, für sich selbst auf ein Gesetz zu denken, um das Besondere in der Natur dem Allgemeinen unterordnen zu können“. Dies führt dazu, dass der Verstand „nur auf die Möglichkeit einer Natur (als Gegenstandes der Sinne) überhaupt“ geht (KU AA 05:179), und zwar sich nur auf die formalen Gründe dessen, was ist, bezieht. Die mannigfaltigen besonderen Formen und Gesetze der Natur, nämlich die materiale Seite derselben Seienden, werden von diesen allgemeinen Verstandesregeln nicht berührt. Diese Besonderen der Natur, die im Auge des Verstandes als „zufällig“ gedacht werden, bedürfen aber ihrerseits auch Gesetze, um sich selbst, als gegebene, unter das noch nicht gegebene Allgemeine unterzuordnen, sofern die menschliche Vernunft auch für diese Mannigfaltigen notwendig eine Einheit beansprucht. Das Einheitsprinzip, nach dem die gedachte Unterordnung möglich ist, kann man nicht von dem Verstand entnehmen (weil die Gesetze sonst als „gegeben“ anerkannt würden), sondern eben die „reflektierende“ Urteilskraft, deren Aufgabe darin liegt, das gegebene Besondere unter das zu suchende Allgemeine unterzuordnen, gibt sich selbst das Prinzip (vgl. KU AA 05:180). Diese SelbstGesetzgebung nennt Kant die Autonomie der reflektierenden Urteilskraft (Vgl. KU AA 05:180, auch 05:389), und das selbst gegebene Einheitsprinzip ist das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur, die Kant dann in der Preisschrift als Ausgangspunkt der praktischen Transzendenz erklärt. Der Begriff der Zweckmäßigkeit verweist natürlicherweise auf den des Zwecks, der von Kant ganz generell bestimmt wird als „das Produkt […] einer Ursache, deren Bestimmungsgrund bloß die Vorstellung ihrer Wirkung ist“ (KU AA 05:408), und die Zweckmäßigkeit heißt demnach „die Übereinstimmung eines Dinges mit derjenigen Beschaffenheit der Dinge, die nur nach Zwecken möglich ist“ (KU AA 05:180). Trotzdem kann die Zweckmäßigkeit der Dinge auch ohne die Voraussetzung eines Zwecks gedacht werden, wobei sie ganz generell als die „Kausalität eines Begriffs in Ansehung seines Objekts“ verstanden wird (KU AA 05:220). In

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4

Die Praktische Transzendenz als Ansatz der neuen Metaphysik

diesem Fall ist von der „ästhetischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur“ (KU AA 05:188) die Rede, die auch „subjektive formale Zweckmäßigkeit“ (KU AA 05:191) genannt und durch die Konzeption der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ (KU AA 05:227) charakterisiert wird.2 Dabei ist die Zweckmäßigkeit als die Übereinstimmung zweier Vermögen (Einbildungskraft und Verstand) im Subjekt aufgefasst und gilt als ein „konstitutives Prinzip“ für das apriorische Gefühl von Lust oder Unlust (KU AA 05:197). Aber die Zweckmäßigkeit, die Kant als Ausgangspunkt der praktischen Transzendenz denkt, ist keine solche formale, subjektive Zweckmäßigkeit, sondern eine objektive; d. h., sie bezieht sich auf „ein bestimmtes Erkenntnis des Gegenstandes“ und nicht bloß auf die Erkenntnisvermögen des Subjekts, und hängt daher mit ihrer „logischen Vorstellung“ zusammen (KU AA 05:192). Diese objektive Zweckmäßigkeit richtet sich vor allem auf ein Objekt oder ein „Produkt“, dessen Formen aufzufassen uns nicht möglich wäre, wenn für es kein Zweck als dessen Ursache angenommen würde.3 Aber nicht alle Konzeptionen der objektiven Zweckmäßigkeit sind für Kants theoretische Absicht angemessen, für die „nicht bloß Zweckmäßigkeit der Natur in der Form des Dinges, sondern dieses ihr Produkt als Naturzweck vorgestellt“ wird (KU AA 05:193), sofern die Naturzwecke „Darstellung“ des Begriffs der gesuchten Zweckmäßigkeit sind, die 1) „real“ oder „material“ ist, in Gegensatz zu der „formalen“, die wir in den geometrischen Figuren finden, in die wir „die Zweckmäßigkeit hineinbringe[n]“ (KU AA 05:365), „ohne dass doch ein Zweck … zum Grund zu legen [ist]“ (KU AA 05:364); und 2) 2 Trotzdem

ist bei der ästhetischen „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ eine „Analogie eines Zwecks“ nicht entbehrlich. (Vgl. KU AA 05:193) 3 Sofern der Begriff der Zweck eigentlich ein Vernunftbegriff ist, ist es ganz klar, dass bei der Beurteilung des Naturzwecks die Beteiligung der praktischen Vernunft überhaupt erforderlich ist, die ihrerseits „das Vermögen, nach Zweck zu handeln“ ist (Vgl. KU AA 05:370). Aber man geht m. E. zu weit, wenn man, wie Heiner Klemme, behauptet, dass schon in dieser Beurteilung die Angewiesenheit der reflektierenden Urteilskraft auf die reine praktische Vernunft zu erkennen sei. („[D]ie reflektierende Urteilskraft [kann] nur deshalb bestimmte Formen der Natur als zweckmäßig organisiert beurteilen […], weil sie von der reinen praktischen Vernunft hierzu angewiesen wird.“) Vgl. Klemme, H., „Zweckmäßigkeit mit Endzweck. Über den Übergang vom Natur- zum Freiheitsbegriff in Kants Kritik der Urteilskraft“, in: Kant und die weltbürgerliche Philosophie. Proceedings of the Eleventh International Kant Congress. Hrsg. von Bacin, S., Ferrarin, A., Rocca, C., L., Ruffing, M., Berlin 2013, Bd. 5, S. 113–124, hier S. 114. Ich meinerseits sehe in seinem Argument (S. 113–115) nicht deutlich, warum hier die reine praktische Vernunft und nicht vielmehr nur die praktische Vernunft überhaupt in Kraft ist. Denn auch technisch-praktische Vernunft ist Vermögen der Handlung nach Zweck. Nur in der Erweiterung der Beurteilung des Organismus als Naturzweck bis auf das Naturganze als System der Zwecke ist das Vermögen der reinen praktischen Vernunft, wegen des Begriffs des Endzwecks, nötig, wie ich später ausführe.

4.1 Der Überschritt zum höchsten Gut als Endzweck

101

eine „innere“ ist in Gegensatz zu der „äußeren“ oder „relativen“, welche die „Nutzbarkeit“ eines Naturdings für Menschen oder „Zuträglichkeit“ desselben für andere Dinge ausdrückt (KU AA 05:367). Als Naturzweck oder real-inneres objektives Zweckmäßiges existiert ein Naturding nur dann, „wenn es von sich selbst Ursache und Wirkung ist“ (KU AA 05:370), oder genauer, wenn in ihm erstens „die Teile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind“ und sie zweitens „sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, dass sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind“ (KU AA 05:373).4 Nur in der Beurteilung eines Naturzwecks auf solche Weise findet die von uns zu thematisierende praktische Transzendenz der Vernunft, in der nur „die physisch-teleologischen Lehren (von Naturzweck)“ eine Rolle spielt (FM AA 20:294), ihren Ausgangspunkt.5

4 Generell

wird in der Forschungsliteratur der Begriff des Naturzwecks mit dem Organismus gleichgesetzt. Den philosophischen Unterschied zwischen beiden Begriffe erklärt aber Peter McLaughlin mit guter Deutlichkeit: Der Organismus sind Gegenstände der Erfahrung; sein Begriff hat insofern objektive Realität, als er in der sinnlichen Anschauung tatsächlich befindlich ist. Der Begriff des Naturzwecks hat aber objektive Realität nur insofern, als ein Gegenstand in der Natur so gedacht werden kann, dass er von einem Verstand mit Absicht produziert wird. Vgl. McLaughlin, P., Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft. Bonn 1989, S. 43 f. 5 Mit diesem Gedanken der Zweckmäßigkeit wird auch der Begriff des Zwecks nun genauer, also nicht generell wie im obigen, als „der Begriff von einem Objekt, sofern er zugleich den Grund der Wirklichkeit dieses Objekts enthält“, definiert, und als solcher ist ein Zweck im strengen Sinne ein „Begriff“ oder „eine bloße Idee“ (EEKU, AA 20:236) statt eines Dings; er bedeutet „die vorgestellte Wirkung, deren Vorstellung zugleich der Bestimmungsgrund der verständigen wirkenden Ursache zu ihrer Hervorbringung ist“ (KU AA 05:426). Klaus Düsing ist in seiner Analyse der kantischen Begriff des Zwecks der Meinung, dass Kant zwar einmal den Gegenstand, andermal den Begriff als Zweck bezeichnet hat, dass aber weder der Gegenstand allein noch der Begriff allein der Zweck sei. Vielmehr sollen beide „durch die teleologische Kausalität in ein bestimmtes Verhältnis gedacht“ werden. D. h., ohne Gegenstand kann der Begriff kein Zweck sein, und ebenso für den Gegenstand. Vgl. Düsing, K., Die Teleologie im Weltbegriff Kants, Bonn 2 1986, S. 96 f. Ich halte diese Interpretation für prinzipiell zu Recht, obwohl ich meinerseits auf ihrem Grund einen Schritt weiter machen möchte: Der Zweck ist primär der Begriff selbst und nur sekundär der Gegenstand.

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4.1.2

4

Die Praktische Transzendenz als Ansatz der neuen Metaphysik

Die Totalität in der praktischen Transzendenz: Der Vernunftbegriff des Endzwecks überhaupt und der Endzweck des Naturganzen

Beim Begriff des Naturzwecks bzw. der inneren Zweckmäßigkeit, als dem Prinzip der teleologischen Naturbetrachtung, sieht man zwar noch keine Transzendenz zum Übersinnlichen, weil er innerhalb des Feldes der sinnlichen Natur und insbesondere der Organismen steht. Aber er gibt den Anlass, die Natur insgesamt als innerlich zweckmäßig zu betrachten, denn „man ist durch das Beispiel, das die Natur an ihren organischen Produkten gibt, berechtigt, ja berufen, von ihr und ihren Gesetzen nichts, als was im ganzen zweckmäßig ist, zu erwarten“ (KU AA 05:379). Mit diesem „Beispiel“ lässt sich das Naturganze als organisiert teleologisch beurteilen, in dem alles „irgend wozu gut“ und nichts „umsonst“ ist (ebd.), und auch alles mechanisch Erzeugte bzw. Anorganische umfasst wird.6 Wenn nun aber von der gesamten Natur als dem „System der Zwecke“ (KU AA 05:377) die Rede ist, ist der Begriff der inneren Zweckmäßigkeit, der an den einzelnen organisierten Wesen dargestellt wird, nicht genug, weil dazu nicht bloß „ein Ding seiner inneren Form halber als Naturzweck“, sondern „die Existenz dieses Dings“ als „Zweck der Natur“ zu beurteilen nötig ist (KU AA 05:378). Bei dem letzteren müssen die „äußere[n] zweckmäßige[n] Beziehungen“ eines Naturprodukts auf ein anderes in Betracht gezogen werden, wie z. B. die Beziehung des Grases auf das Vieh (vgl. ebd.). Dies hängt m. E. von der Natur des Gedankenverfahrens des Menschen ab: Die menschliche Vernunft bzw. der diskursive Verstand kann die Natur nicht in ihrer Gesamtheit auf einmal gleichsam als ein großes Seiendes zusammen mit ihren Teileinzelheiten erkennen wie bei dem intuitiven Verstand, sondern muss von den Naturdingen und ihren Verhältnissen als Teilen zu dem Naturganzen übergehen, was erst in der Betrachtung der äußeren Beziehungen des Naturteilen zustande kommen kann.7 Mit der Zusammenarbeit der Konzeption der inneren mit derjenigen der äußeren Zweckmäßigkeit kann die ganze Natur nun analog zu einem großen organisierten Wesen gedacht werden, in dem die mannigfaltigen Naturdinge, die sich anscheinend nur nach der äußeren Zweckmäßigkeit aufeinander beziehen, nunmehr aber als Teile und Glieder, und zwar als Organe dieses Wesens gedacht werden, so dass sie „(ihrem Dasein und 6 Vgl.

KU AA 05:378 f.: „…dieser Begriff [von Naturzweck] führt nun notwendig auf die Idee der gesamten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke, welcher Idee nun aller Mechanism der Natur nach Prinzipien der Vernunft (wenigstens um daran die Naturerscheinung zu versuchen) unterordnet werden muß.“ 7 Vgl. die Ausführung zum Unterschied zwischen diskursiven und intuitiven Verstand in 1.1.2 dieser Arbeit.

4.1 Der Überschritt zum höchsten Gut als Endzweck

103

der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind“ und durch das wechselseitige Ursache/Wirkung-Verhältnis zueinander zu einer ganzen Natur vereinigt werden (vgl. KU AA 05:373).8 Bei dieser innerlich-zweckmäßigen Organisation der Naturganzheit wird also auch ein gerechtfertigter Begriff der äußeren Zweckmäßigkeit erforderlich, der nicht mehr als die willkürliche Zuträglichkeit eines Dings zum anderen, sondern als die wechselseitige Abhängigkeit der Glieder eines organisierten Ganzen voneinander zu denken ist. Alsdann wird die Natur in ihren zweckmäßigen Formen nicht als zufällig so vorhanden angesehen, sondern sie lässt sich als nach einem absichtlichen Zweck organisiert denken. Für diese absichtliche Organisation ist die „Erkenntnis des Endzwecks (scopus) der Natur“ nötig, die „alle unsere teleologische Naturerkenntnis weit übersteigt“, und wir müssen diesen Endzweck „über die Natur hinaus“ suchen (KU AA 05:378). Dieser Endzweck der Natur gibt den „objektiven Grund“ an, nach dem die ganze Natur in solchen zweckmäßigen Formen organisiert wird (vgl. KU AA 05:435), so dass eine Beziehung der Natur auf etwas Übersinnliches gedacht werden muss, die uns zu einer Transzendenz bringen kann. Aber die Leistung, die ganze Natur in ihrer Totalität der Zweckverbindungen als eine Idee zu betrachten, kann nicht mehr durch teleologische reflektierende Urteilskraft allein vollbracht werden. Denn die reflektierende Urteilskraft kann nur das gegebene Besondere nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit auf eine noch nicht gegebene Allgemeinheit beziehen. Wenn nun aber nicht bloße irgendeine Allgemeinheit überhaupt, sondern die unbedingte Totalität zum Gegenstand gemacht werden muss, in der die Natur in ihrer Ganzheit teleologisch betrachtet wird, soll die Vernunft sich daran als Vermögen zum Begreifen des Unbedingten beteiligen. Die zweckmäßige Ganzheit der Natur ist also eigentlich ein Vernunftbegriff, und zwar eine „Idee“9 , die „nach Prinzipien der Vernunft“ (KU AA 05:379) oder „nach Grundsätzen der Vernunft“ (KU AA 05:429) geschlossen wird. Nun kann 8 Wie sich der äußere und der innere Zweck in einer zweckmäßigen Naturganzheit zueinander

verhalten oder wie sich eine teleologische Ganzheit durch das Verhältnis dieser beiden bildet, wird in der Kritik der Urteilskraft nicht deutlich entwickelt. Aus Umfangsgründen soll ich dies hier nicht ausführen. Zu diesem Problem vgl. Düsing, Die Teleologie im Weltbegriff Kants, S. 124. Zu ähnlichen Interpretationsrichtungen siehe Guyer, “From Nature to Morality: Kant’s New Argument in the ‘Critique of Teleological Judgment’”, in: Kant’s System of Nature and Freedom: Selected Essays, p. 319 f.; Watkins, E.: “Nature in General as a System of Ends”, in: Eric Watkins & Ina Goy (eds.), Kant’s Theory of Biology. Berlin/Boston. S. 117–130; Goy, I., “On Judging Nature as a System of Ends. Exegetical Problems of §67 of the Critique of the Power of Judgment”, in: Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten des XI. Internationalen Kant-Kongresses. Berlin/Boston 2013, Bd. 5., S. 65 f. 9 „…die Idee der gesamten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke, welcher Idee nun aller Mechanism der Natur nach Prinzipien der Vernunft (wenigstens um daran die

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4

Die Praktische Transzendenz als Ansatz der neuen Metaphysik

diese Ganzheit der Natur nur mit dem Begriff eines Endzwecks zustande kommen, denn sonst würde die Vernunft nach einem noch weiteren Zweck suchen und die bisherige Ganzheit der zweckmäßigen Natur nicht als eine vollendete Totalität anerkennen. Für die Erweiterung der teleologischen Beurteilung von den einzelnen Naturzwecken zum Naturganzen ist also die Erkenntnis des Endzwecks der Natur erforderlich. Aber auch diese Erkenntnis ist ebenfalls Vernunfterkenntnis, die „ganz außerhalb der physisch-teleologischen Weltbetrachtung liegt“ (KU AA 05:378),10 weil der Endzweck der Natur das Unbedingte der Kette der Zweckverbindungen ist und „keines anderen als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf“ (KU AA 05:434). Hier muss es sich fragen, welchem Seienden der Begriff des Endzwecks der Natur bzw. des „Unbedingten“ in den Zweckverbindungen der Natur (vgl. KU AA 05:435) entsprichen kann. Per definitionem muss das als Endzweck aufzufassende Seiende so existieren können, dass es den Zweck seiner Existenz „in ihm selbst“, nicht „außer ihm in anderen Naturwesen“ finden soll (KU AA 05:426). Es sei ganz selbstverständlich, dass der Mensch als Endzweck der Natur anzusehen ist. Denn man könne sich leicht vorstellen, dass jedes Ding der Natur, anorganisches oder organisches, als Mittel zur Existenz des Menschen diene. Aber diese Vorstellung hat nach Kant keine Objektivität, denn man kann auch, wie Kant den Gedanken von Carl von Linné11 anführt, umgekehrt denken, dass die Menschen und die Raubtiere um der Verhütung des unmäßigen Wuchses anderen Tieren und des Gewächses willen existieren, damit die ganze Natur bei einem gewissen „Gleichgewicht unter den hervorbringenden und den zerstörenden Kräften der Natur“ bleiben kann (KU AA 05:427). So ist es klar, dass der Begriff des Endzwecks der Natur für sich genommen kein bestimmter Begriff ist, sofern die theoretische Vernunft in ihrem Versuch zur Betrachtung der Natur als einer zweckmäßigen Ganzheit diesen Begriff gar nicht bestimmen kann. Wenn man also der Idee des Menschen als des Endzwecks der Natur objektive Realität schaffen will, muss man den spekulativen Gebrauch der Vernunft überschreiten. Man muss nachdenken, inwiefern der Mensch würdig ist, der Endzweck der Natur zu sein. Um dieses Problem zu lösen, führt Kant die praktische Vernunft zur Erklärung ein, was dann die Transzendenz von der

Naturerscheinung zu versuchen) untergeordnet werden muss.“ (KU AA 05:379, Herv. von Y. X.). 10 Diese Interpretation vertritt auch Eric Watkins in „Nature in General as a System of Ends“ (in: Eric Watkins & Ina Goy (eds.), Kant’s Theory of Biology. Berlin/Boston. 2014, S. 117– 130). Seine Begründung liegt darin: es gehört zur Eigentümlichkeit der spekulativen Vernunft, nach der weiteren Bedingung bis hin zu dem Unbedingten zu suchen. 11 Siehe Carl von Linné, Systema naturae, Stockholm 1766, Bd. I, S. 17.

4.1 Der Überschritt zum höchsten Gut als Endzweck

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Zweckmäßigkeit eines Naturdings zum Endzweck der Naturganzheit als praktisch kennzeichnet.

4.1.3

Der Überschritt zum Endzweck der praktischen Vernunft

Für Kant ist es ganz klar, dass die Feststellung des Endzwecks der Natur als Menschen auf apriorische Weise begründet werden muss, nicht bloß empirisch angezeigt. Zu dieser Absicht führt Kant einen zweiten Begriff ein, nämlich den Begriff des letzten Zwecks der Natur. Es ist zwar richtig, dass sowohl der „Endzweck“ als auch der „letzte Zweck“ als deutsche Übersetzungen des lateinischen Terminus finis ultimus dienen können. Aber der letzte Zweck soll in der Spitze der Hierarchie der Zweckverbindungen innerhalb der Natur stehen und noch ein Naturwesen sein. Der Endzweck hingegen ist „unbedingt“, so dass er „keines anderen als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf“ (KU AA 05:434). Das bedeutet, dass er „nicht anders denn als Zweck“ gedacht werden und ein Zweck „in ihm selbst“ (KU AA 05:426) sein kann.12 Er unterscheidet sich einerseits von dem letzten Zweck dadurch, dass er nur außerhalb der Natur gesucht werden kann, weil alles in der Natur so beschaffen ist, dass es immer wiederum als Mittel zu einem anderen Zweck gedacht werden kann.13 Trotzdem muss er andererseits, als Zweck in sich selbst, in gewissem Verhältnis zu der Natur stehen, so dass er als Endzweck der Natur angesehen werden kann. D. h., er ist das Übersinnliche, das auf gewisse Weise mit dem Sinnlichen in Verknüpfung steht. Die Einführung des Begriffs des letzten Zwecks zur Erklärung des Endzwecks ist m. E. aus folgenden zwei Gründen notwendig. Zum ersten macht der letzte Zweck, als das letzte Glied der Kette der Zwecke, die Ganzheit der Natur als ein „System aller Naturreiche nach Endursachen“ möglich (vgl. KU AA 05:427).14 Nur bei dieser systematischen Naturganzheit kann von dem Endzweck der ganzen Natur die Rede sein. Zweitens drückt der Begriff des letzten Zwecks dasjenige aus, 12 Siehe den Ausdruck „Zweck an sich selbst“ in GMS, vgl. AA 04:428: „Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“ 13 „Denn es ist nichts in der Natur (als einem Sinnenwesen), wozu der in ihr selbst befindliche Bestimmungsgrund nicht immer wiederum bedingt wäre; und dieses gilt nicht bloß von der Natur außer uns (der materiellen), sondern auch in uns (der denkenden) …“ (KU AA 05:435) 14 „… vornehmlich was einen letzten Zweck der Natur betrifft, der doch zu der Möglichkeit eines solchen Systems erforderlich ist …“ (KU AA 05:427)

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Die Praktische Transzendenz als Ansatz der neuen Metaphysik

was als Zweck durch die Natur allein befördert werden kann (vgl. KU AA 05:429), damit der Übergang zu dem übersinnlichen Endzweck, den die Natur nicht mehr in der Gewalt hat, vorbereitet wird. Aus diesen Gründen soll man zunächst den Begriff des letzten Zwecks der Natur feststellen. Im Vergleich zu der als möglich gedachten Zweckordnung Linnés, in der die Menschen als Mittel zur Regulierung des Gleichgewichts verschiedener Kräfte der Natur dienen, kann man leichter und selbstverständlicher den Menschen als den letzten Zweck der Natur akzeptieren, „weil er das einzige Wesen auf derselben [sc. der Erde] ist, welches sich einen Begriff von Zwecken machen und aus einem Aggregat von zweckmäßig gebildeten Dingen durch seine Vernunft ein System der Zwecke machen kann“ (KU AA 05:426 f.). Mit dieser besonderen Fähigkeit, sich selbst Zwecke zu setzen, wird dem Menschen das Recht erteilt, den Vorzug gegenüber anderen Naturprodukten zu haben.15 Aber die Feststellung des Menschen als des letzten Zwecks der Natur kann durch diesen Vorzug noch nicht hinreichend erklärt werden, weil es nun unklar ist, wie sich dieses besondere Vermögen der Zwecksetzung auf die Beschaffenheit der Natur bezieht und als Zweck der Natur dient. Also muss man weiter „dasjenige im Menschen selbst“ finden, was als Zweck durch die Natur befördert werden soll (vgl. KU AA 05:429). Ein solcher Zweck soll, da nun die ganze Natur in Betracht kommt, kein konkreter Zweck sein, sondern ein grundlegender und allgemein umfassender Zweck, ein „Metazweck“16 . Dafür gibt es Kant zufolge nur zwei Alternativen: ein solcher Zweck ist entweder die allgemeine „Materie“ aller konkreten Zwecke des Menschen, oder die grundlegende „formale subjektive Bedingung“ von allen Zwecken des Menschen in der Natur (vgl. KU AA 05:431). Die erste ist als die Glückseligkeit aufzufassen, nämlich der „Inbegriff aller durch die Natur außer und in dem Menschen möglichen Zwecke desselben [sc. des Menschen]“ (ebd.). Aber diese Möglichkeit kann bald sowohl a priori als auch mit empirischen Gründen ausgeschlossen werden, weil der Begriff der Glückseligkeit sich einerseits so oft ändert, dass „die Natur … kein bestimmtes allgemeines und festes Gesetz annehmen könnte, um mit diesem schwankenden Begriff … übereinzustimmen“, und weil wir andererseits durch Erfahrung leicht sehen, dass die

15 „Als das einzige Wesen auf Erden, welches … Vermögen hat, sich selbst willkürlich Zwecke zu setzen, ist er … betitelter Herr der Natur …“(vgl. KU AA 05:431) Natürlich steht der Ausdruck „Herr“ bei Kant in einer begrenzten Bedeutung, und zwar nur moralisch. Vgl. Höffe, Otfried, „Der Mensch als Endzweck“, in: der (hrsg.), Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft, Berlin 2008, S. 292, 297, 306. 16 Diesen Ausdruck entnehme ich von Otfried Höffe, „Der Mensch als Endzweck“, in: Ders (hrsg.), Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft, Berlin 2008, S. 299.

4.1 Der Überschritt zum höchsten Gut als Endzweck

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Natur „in ihren verderblichen Wirkungen“ der menschlichen Glückseligkeit keine besonderen Privilegien gegeben hat (vgl. KU AA 05:430).17 Daher bleibt, so Kants Argument, die zweite Alternativ möglich, nämlich die „Tauglichkeit: sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen und (unabhängig von der Natur in seiner Zweckbestimmung) die Natur den Maximen seiner [sc. des Menschen] freien Zwecke überhaupt angemessen als Mittel zu gebrauchen“ (KU AA 05:431). Diese „Tauglichkeit“ abstrahiert von allen konkreten natürlichen Zwecken und bezieht sich auf die formale Bedingung im Menschen zu allen seinen Zwecken überhaupt. Und die „Hervorbringung“ dieser Tauglichkeit ist die Kultur, die insofern der letzte Zweck der Natur sein kann, als sie mit dem freien und praktischen Vermögen des Menschen verbunden ist („den Maximen seiner freien Zwecke überhaupt angemessen“). So muss bei der Kultur als dem letzten Zweck der Natur vor allem die „Disziplin“ (als „Kultur der Zucht“, also nicht nur als die Erziehung der „Geschicklichkeit“) in Betracht gezogen werden, die unseren Willen „von dem Despotism der Begierden“ befreit; anderenfalls werden wir „an gewisse Naturdinge geheftet“ und „unfähig gemacht … selbst zu wählen“ (vgl. KU AA 05:432). Die Kultur also, sofern sie dem Menschen vorbereitet, von dem sinnlichen Betrieb frei zu sein und nach seinem freien Willen Zwecke zu setzen, entspricht dem eigentümlichen praktischen Vermögen des Menschen, das ihn als „Herrn der Natur“ rechtfertigt, und ist in diesem Sinne dasjenige, was im Menschen als der letzte Zweck der Natur verstanden werden kann. Mit der Festlegung des Begriffs des letzten Zwecks der Natur als menschliche Kultur wird nun auch der Vernunftbegriff des Endzwecks der Natur bestimmt. Dieser muss unbedingter Zweck in sich selbst sein und außer der Natur liegen. Generell gesprochen können alle vernünftige Wesen solcher Endzweck sein, insofern sie „als Noumen[a] betrachtet“ werden, worin natürlich auch die Menschen eingeschlossen, weil diese sich „das Gesetz, nach welchem sie sich Zwecke zu bestimmen haben, … als unbedingt und von Naturbedingungen unabhängig, an sich aber als notwendig“ vorstellen (ebd.).18 Aber nicht jeder „Zweck in sich selbst“ kann zugleich der Endzweck der Natur sein, weil dieser außerdem mit der sinnlichen Natur, als einem teleologischen System nach Endursachen, in gewisser Verknüpfung stehen muss. Nur der Mensch, sofern er das Vermögen der freien Zwecksetzung hat und für dieses Vermögen die Kultur als der letzte Zweck der Natur vorbereitet, erfüllt diese Bedingung (Verknüpfung mit der Natur) und kann mithin als Endzweck der 17 Kant behauptet sogar, dass die Glückseligkeit „nicht einmal ein Zweck der Natur in Ansehung der Menschen mit einem Vorzuge vor anderen Geschöpfen“ KU AA 05:436 Anm.). 18 „… der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst…“ (GMS AA 04:428)

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Die Praktische Transzendenz als Ansatz der neuen Metaphysik

ganzen Natur angesehen werden. Als solcher Endzweck ist der Mensch nicht im Sinne eines Naturwesens, sondern als moralisches Wesen, an dem man „ein übersinnliches Vermögen (die Freiheit) und sogar das Gesetz der Kausalität, samt dem Objekte derselben, welches es sich als höchsten Zweck vorsetzen kann (das höchste Gut in der Welt), von seiten seiner eigenen Beschaffenheit erkennen“ kann, und bei dem man nicht mehr weiter fragen kann, „wozu er existiere?“ (KU AA 05:435)19 Der Mensch ist der Endzweck der Natur, nur sofern er als Noumenon, und zwar als moralisches Wesen betrachtet wird. Dies bedeutet, dass der Mensch nicht einfach als das existente Wesen der Endzweck ist, sondern er ist dies durch seine Handlungen, die dem moralischen Gesetz gemäß sind und dem unbedingten Gebot entsprechen, das höchste in der Welt mögliche Gut, nämlich die höchste Glückseligkeit in Verbindung mit der vollkommensten Moralität, zu befördern.20 Das höchste Gut ist aber, wie vorher im Zitat der Preisschrift gezeigt (FM AA 20:294) und ich später noch ausführen werde, der Endzweck oder die Endabsicht der praktischen Vernunft, auf den sich die praktische Transzendenz schließlich richtet. Daher ist im Begriff des Endzwecks der Natur, als moralische Menschen, schon der Begriff des Endzwecks der praktischen Vernunft, als das höchste Gut, enthalten. Der auf den ersten Blick nur teleologische Überschritt vom Naturzweck zum Endzweck der ganzen Natur ist im Wesentlichen mit der praktische Transzendenz zum Endzweck der praktischen Vernunft zusammen zu denken. Bis hierher ist die formale Beschreibung der Verfassung der praktischen Transzendenz geklärt, welche die kantische „eigentliche Metaphysik“ kennzeichnet. Soweit das höchste Gut realisierbar ist und soweit der Mensch in seiner Moralität danach trachtet, dieses höchste Gut zu bewirken, ist die These, der Mensch als moralisches Wesen sei der Endzweck der Natur, als ein synthetischer Satz a priori objektiv gültig und ist mithin die praktische Transzendenz möglich. Aber es bleibt bei dieser formalen Beschreibung noch unklar, wie die praktische Vernunft zur Bestimmung des Begriffs des Endzwecks der Natur eine entscheidende Rolle spielt. Dies ist das Thema meiner folgenden Betrachtung.

19 „Wären … auch vernünftige Wesen, deren Vernunft aber den Wert des Daseins der Dinge nur im Verhältnisse der Natur zu ihnen (ihrem Wohlbefinden) zu setzen, nicht aber sich einen solchen ursprünglich (in der Freiheit) selbst zu verschaffen im Stande wäre: so wären zwar (relative) Zwecke in der Welt, aber kein (absoluter) Endzweck, weil das Dasein solcher vernünftigen Wesen doch immer zwecklos sein würde.“ (KU AA 05:449) 20 „… Dagegen ist der von uns zu bewirkende höchste Endzweck, das, wodurch wir allein würdig werden können, selbst Endzweck einer Schöpfung zu sein, eine Idee, …“ (KU AA 05:469)

4.2 Transzendenz als Pflicht

4.2

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Transzendenz als Pflicht

In der Preisschrift kennzeichnet Kant die praktische Transzendenz als „Pflicht“ (FM AA 20:294). Darin sieht man ihren Unterschied zu dem theoretischen Überschritt zum Übersinnlichen, der von der „Naturanlage“ des Menschen, sich für das höchste Einheitsprinzip aller Erkenntnis zu interessieren, ausgeht und problematisch bleibt, während die praktische Transzendenz der menschlichen Vernunft nun durch den Begriff der Pflicht gerechtfertigt werden kann, sofern dieser die Transzendenz zum Übersinnlichen notwendig macht. Nun muss man erklären, was der Begriff der „Pflicht“ hier eigentlich bedeutet und inwiefern es der menschlichen Vernunft Pflicht ist, zum höchsten Gut als Endzweck fortzuschreiten.

4.2.1

Die Selbstbestimmung der reinen praktischen Vernunft: die Pflicht und die Achtung für das moralische Gesetz

Mit „Pflicht“ bezeichnet Kant die „unmittelbare durch die Vernunft dem Menschen auferlegte Notwendigkeit, einem Gesetze derselben gemäß zu handeln“ (MST, AA 06:481 f.). Die Rede von der Pflicht hängt nämlich vor allem mit dem Gesetz der Vernunft zusammen, nach dem der Mensch moralisch handelt. Dieses Vernunftgesetz der Handlung nennt Kant den Grundsatz der reinen praktischen Vernunft, der rein aus der Vernunft, d. h. ohne jeden Bezug auf die Sinnlichkeit, hervorgeht und für die Menschen als endliche vernünftige Wesen in der Form des kategorischen Imperativs ausdrücklich gemacht wird. Anders als die reinen Verstandesbegriffe, die erst durch den Bezug auf mögliche Anschauung ihre objektive Gültigkeit als Bedingungen der Erfahrung beweisen, hat dieser Grundsatz der reinen praktischen Vernunft keine Deduktion, sondern er offenbart sich uns „gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft“ und ist „apodiktisch gewiss“ (KpV AA 05:47). Mit „Faktum der reinen Vernunft“ möchte Kant eigentlich das Bewusstsein des moralischen Gesetzes bezeichnen, in dem ich apodiktisch gewiss bin, dass ich erstens unter einer moralischen Regel stehe, die von allen natürlichen Interessen unabhängig ist, und zweitens die Fähigkeit habe, nach dieser moralischen Regel handeln zu wollen, auch wenn ich vor äußerlicher Gewalt oder sinnlichen Begierden stehe.21 In 21 Es ist umstritten, was Kant eigentlich mit dem „Faktum der reinen Vernunft“ meinen will, vor allem in der Frage: Ist dieses das Moralgesetz als solches, oder das Bewusstsein dieses Gesetzes. Henry Allison gibt in Kant’s Theory of Freedom eine überzeugende Analyse, deren Konsequenz darin liegt, dass dieses Faktum als das Bewusstsein des Stehens unter dem Moralgesetz und das allgemeine Anerkennen dieses Gesetzes als das höchste für den menschlichen Willen. Ebenfalls Recht hat Allison, wenn er weiter erklärt: Dieses Faktum bedeutet nicht,

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Die Praktische Transzendenz als Ansatz der neuen Metaphysik

diesem als einem Faktum gegebenen Bewusstsein des moralischen Gesetzes bin ich also mir sowohl der Tatsächlichkeit des moralischen Gesetzes wie auch meines Könnens einer moralischen Handlung gewiss. Diese moralische Regel gebietet dem Menschen, so zu handeln, dass sein zunächst subjektiv gültiger Bestimmungsgrund des Willens „jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten“ kann (KpV AA 05:30). Die Allgemeinheit und Unbedingtheit dieses Gesetzes wird hier offensichtlich durch die Unabhängigkeit von allen sinnlichen Interessen charakterisiert, die für verschiedene Menschen und verschiedene Lebenszustände unterschiedlich erscheinen. Als Pflicht wird eine Handlung nur dann bezeichnet, wenn der Handelnde rein vom moralischen Gesetz zu dieser Handlung bestimmt wird. Der Begriff der Pflicht steht immer in Bezug auf den Menschen als endliches Wesen (bei dem „Willen eines allervollkommensten Wesens“ ist von der „Pflicht“ keine Rede). Denn der Mensch ist kein reines vernünftiges Wesen, sondern die Zusammenstellung der „übersinnlichen“ mit der „sinnlichen Natur“ – Kant nennt dies auch den doppelten „Charakter“ des Menschen (Vgl. KrV A 539/B 567). Die sinnliche Natur ist die „Existenz derselben [sc. vernünftiger Wesen] unter empirisch bedingten Gesetzen, mithin für die Vernunft Heteronomie“ (KpV AA 04:43). In dieser „Heteronomie“ ist der Mensch mit dem sinnlichen Charakter gebunden und handelt er zunächst und zumeist „aus Liebe und Zuneigung zu dem, was die Handlungen hervorbringen sollen“ (KpV AA 05:81). Andererseits kann der Mensch aber auch bloß aus der „Achtung fürs moralische Gesetz“ handeln, als der „einzige[n] und zugleich unbezweifelte[n] moralische[n] Triebfeder“ (KpV AA 05:78). In diesem Fall befreit er sich von seinen sinnlichen Neigungen und Interessen und beruht bloß auf seiner „übersinnlichen Natur“. Angesichts dessen lässt sich sagen, dass die Achtung für das moralische Gesetz den Handelnden als reines moralisches Subjekt offenbart und dass die moralisch-praktische Vernunft sich dabei als die reine Vernunft in echtem Sinn erweist, weil sie gerechtfertigt durch sich selbst und mit keiner Sinnlichkeit behaftet ist. Die aus jener Achtung hervorgebrachte Handlung ist mit Kants Benennungen nicht nur „pflichtmäßig“, sondern auch eigentlich „aus Pflicht“, worin allein sich die Moralität der praktischen Handlung zeigt (vgl. KpV AA 05:81).

dass jedermann sich des Moralgesetzes klar und deutlich bewusst ist wie Kant es definiert, und zwar als eines formalen Prinzips, sondern dass jenes Bewusstsein, das jeder natürlichen menschlichen Vernunft zukommt, mit einer spezifischen moralischen Verbindung zusammenhängt, wenn es in dem Prozess der moralischen Besinnung hervorgeht. Vgl. Allison, H., Kant’s theory of freedom. Cambridge 1990, p. 231 ff., besonders p. 233.

4.2 Transzendenz als Pflicht

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In dem Faktum der Vernunft bzw. dem Bewusstsein des Moralgesetzes und der Konzeption der reinen Achtung wird die Autonomie der reinen Vernunft ausdrücklich, wobei die Selbstbestimmung der Vernunft gedacht wird, d. h., die Vernunft ist rein für sich bestimmend für den Willen. In diesem Fall enthält die Vernunft erstens das Prinzip zum Beurteilen des Guten des Handelns. Sie hat also in sich den Grund für Erkennen des Rechten ganz unabhängig von aller Erkenntnis des Naturseienden und der Grundtendenzen der menschlichen Handlungen (und zwar unabhängig von aller Ontologie und praktischen Klugheit). Außerdem schließt die Vernunft zweitens auch den Grund zur Ausführung der guten bzw. rechten Handlungen ein, so dass diese nur deswegen stattfinden, weil sie selbst dem Grundgesetz der Vernunft gemäß sind, ohne sich auf irgend anderen Bestimmungsgrund zu beziehen.22 Diese mit der Pflicht verbundene Autonomie der Vernunft hat die besondere Bedeutung, dass die Vernunft erst dadurch reine Vernunft in echtem Sinne ist, und dass sie als solche unbedingt ist, weil völlig sich selbst begründet und bestimmt. Der Handelnde wird dadurch zum reinen moralischen Subjekt, das nun in der praktischen Hinsicht frei von allen sinnlichen Triebfedern und mithin nach dem oben Gesagten würdig ist, der Endzweck der ganzen Natur zu sein. Die reine praktische Vernunft kann erst dann den gerechtfertigten Grund für die Transzendenz zum Übersinnlichen geben, worauf ich im Folgenden eingehen werde.

4.2.2

Das höchste Gut als der ganze Gegenstand der reinen praktischen Vernunft

Inwiefern ist nun der praktisch-dogmatische Überschritt zum übersinnlichen Endzweck, nämlich zum höchsten in der Welt möglichen Gut, eine „Pflicht“? Bei dieser Frage kommt die Beziehung des höchsten Guts auf das moralische Gesetz des Menschen und dessen Bewusstsein in Betracht. Das höchste Gut ist nach Kant der „ganze Gegenstand einer reinen praktischen Vernunft“ (KpV AA 05:109, Herv. von Y. X.; s. a. 05:119). Nun setzen wir die Attribute „ganz“ und „rein“ bei Seite und überlegen uns zunächst, was ein Gegenstand der praktischen Vernunft überhaupt bedeutet. Danach gehen wir zum Gegenstand der reinen praktischen Vernunft über und am Schluss konzentrieren wir uns darauf, in welcher Bedeutung das höchste Gut der ganze Gegenstand der reinen praktischen Vernunft ist. 22 In dieser Analyse des kantischen Begriffs der Autonomie folge ich Dieter Henrich, „Ethik der Autonomie“, in: Selbstverhältnisse, Stuttgart 1982, S. 6–56, hier S. 13–14. Er bezeichnet die genannten beiden Bedingungen der Autonomie der Vernunft als principium diiudicationis bonitatis und principium executionis bonitatis.

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Die Praktische Transzendenz als Ansatz der neuen Metaphysik

Das Mannigfaltige, das uns durch Sinnlichkeit gegeben ist, wird dann zum Gegenstand unserer Erfahrung, wenn es unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des reinen Verstandes steht. Wenn nun vom Gegenstand der praktischen Vernunft die Rede ist, bezieht sich dieser Gegenstand nicht mehr auf die transzendentale Apperzeption und ihre Einheitsfunktionen, sondern auf „die Handlung, dadurch er oder sein Gegenteil wirklich gemacht würde“ (KpV AA 05:57). Diese ist offenbar keine Handlung des Verstandes, sondern diejenige des Willens. Dabei wird der Gegenstand der praktischen Vernunft definiert als „die Vorstellung eines Objekts als einer möglichen Wirkung durch Freiheit“ (ebd.). Hier ist die Freiheit als arbitrium liberum zu verstehen, und zwar die „Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ und ein Vermögen, „von selbst zu bestimmen“ (KrV A534/B562). Kant nennt in der Kritik der reinen Vernunft dieses Vermögen der Willkür die „Freiheit im praktischen Verstande“, in dem Sinne, dass der Mensch zwar ein sinnliches Wesen ist, dass aber der sinnliche Antrieb seine Handlung „nicht notwendig macht“ (ebd.). Trotzdem bezieht sich die Freiheit der Willkür aber nicht unbedingt auf das allgemeingültige moralische Gesetz, da die Maxime, welche durch die Willkür für die Handlung gesetzt wird, nicht notwendig mit dem obersten Grundsatz der reinen praktischen Vernunft übereinstimmt. Der Mensch kann also nicht bloß von den sinnlichen Antrieben, sondern auch von empirischen Interessen und Neigungen zum Handeln motiviert werden. Die Gegenstände der praktischen Vernunft überhaupt sind daher die des Begehrungs- und Verabscheuungsvermögens, welche Kant formal und allgemein als Objekte „vom Guten und Bösen“ (KpV AA 05:58) bezeichnet. Der Begriff des Guten und Bösen überhaupt, also abgesehen davon, ob er mit dem unbedingten moralischen Gesetz zusammenhängt, bezieht sich „auf Handlungen, nicht auf den Empfindungszustand der Person“, und steht mithin nach Kants kritischer Betrachtung im Unterschied zu den Begriffen des Wohls und Übels, die mit „unserer Sinnlichkeit und [dem] Gefühl der Lust und Unlust“ gebunden sind.23 Um dies zu erklären, unterscheidet Kant nach dem verschiedenen Verhältnis, in dem das Gute als Gegenstand der praktischen Vernunft zu der Handlungsmaxime steht, drei Begriffe des Guten (vgl. Vorlesungen zur Moralphilosophie, AA 27:255 f., s. a. GMS AA 04:414 ff.). Der erste ist die bonitas problematica: Etwas ist gut, sofern es als Mittel zu einem beliebigen Zweck dient. Es ist dabei egal, ob dieser Zweck selbst gut ist oder nicht in irgendeiner Bedeutung. Im zweiten Begriff 23 Der Unterschied zwischen dem Guten und dem Wohl in allgemeiner Bedeutung liegt in der Differenz zwischen Vernunft und Sinnlichkeit. Daher ist dieser Unterschied gültig, auch wenn der Unterschied zwischen dem moralischen und dem pragmatischen Gut nicht anerkannt würde. Dazu vgl. Beck, A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason, University of Chicago Press 1960, pp. 132 f.

4.2 Transzendenz als Pflicht

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ist das Gute nach dem Urteil der Klugheit verstanden, als die bonitas pragmatica, wobei die Handlung als notwendiges Mittel zu demjenigen Zweck dienlich ist, der kein beliebiger und ungewisser, sondern ein bei allen Menschen allgemeiner und zum Wesen des Menschen gehöriger Zweck ist, nämlich unsere Glückseligkeit (vgl. GMS AA 04:415 f.). In diesen beiden Begriffen des Guten werden die Handlungsmaximen in der Form des hypothetischen Imperativs ausgedrückt, nach dem man auf gewisse Weise handelt, um einen Zweck zu verfolgen; d. h. sie werden durch den Gegenstand bzw. Zweck bestimmt. In beiden Fällen ist also die Handlung oder ihre Wirkung nicht selbst unmittelbar gut, sondern nur als Mittel zur Geschicklichkeit oder Klugheit „gut“ genannt, und zwar „gut“ für anderes. Nur der dritte Begriff des Guten, die bonitas moralis, ist an sich gut. Bei dem moralischen Guten fungiert das moralische Gesetz bzw. die allgemein gültige Maxime als der ausschließliche Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung. Diese bonitas moralis allein ist der Gegenstand der reinen praktischen Vernunft, weil sie in einem notwendigen Verhältnis zu der Maxime steht. Bei dem problematischen und dem pragmatischen Guten darf man nur empirisch beurteilen, ob etwas Gegenstand der Willkür ist oder nicht bzw. ob eine gewisse Handlung zu dem gesetzten Zweck führen kann. Daher ist das Verhältnis der Handlung zur Maxime nicht notwendig, und aus diesen Begriffen des Guten bzw. Gegenstandes kann keine Maxime zum allgemeinen Gesetz werden. Bei der bonitas moralis dagegen wird der Gegenstand der Willkür aus dem reinen Vernunftgesetz bestimmt, das a priori vorgeschrieben wird, und die Beurteilung, ob dieses Objekt ein Gegenstand der reinen praktischen Vernunft ist oder nicht, ist nur von der „moralischen Möglichkeit“ abhängig, und zwar davon, ob wir diese Handlung wollen dürfen oder nicht (KpV AA 05:58). Die physische Möglichkeit der Hervorbringung des abgezweckten Gegenstands durch die Handlung kommt dabei nicht in Frage. Bemerkenswert ist es nun, dass das moralische Gute keine Rolle als Bestimmungsgrund der freien Willkür spielt, sondern umgekehrt: es wird aus dem moralischen Gesetz abgeleitet, indem dieses allein die Triebfeder bzw. die subjektive Motivation zum Handeln ausmacht, also in der „Achtung“ vor ihm. In diesem Sinne geht der Begriff des (moralischen) Guten nicht vor dem moralischen Gesetz vorher, sondern er muss „nur nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden“ (KpV AA 05:62) und steht mithin in einem notwendigen Verhältnis zu dem moralischen Gesetz. Mit diesem notwendigen Verhältnis darf man sagen, dass das Gute den alleinigen Zweck der als „moralisch“ bezeichneten Handlung ausmacht, indem der Handelnde bloß aus der Achtung vor dem moralischen Gesetz, nicht aber zu irgendeinem sinnlichen Zweck handelt. Nun wird das höchste Gut von Kant als der ganze Gegenstand der reinen praktischen Vernunft bestimmt. In Betracht kommt dabei nicht mehr irgendein konkretes

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Die Praktische Transzendenz als Ansatz der neuen Metaphysik

Gutes in einem bestimmten moralischen Kontext, noch das moralische Gute überhaupt, sondern die „unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (KpV AA 05:108). Dies kennzeichnet erst die Natur der praktischen Vernunft als Vernunft, die zu dem Bedingten immer das Unbedingte sucht, das hier als das „Ganze“ aufgefasst werden muss. Durch diese unbedingte Ganzheit unterscheidet sich das höchste Gut als bonum consummatum bzw. perfectissimum von dem obersten Gut, das mit der reinen Tugend und zwar mit der reinen Glückswürdigkeit gleichgesetzt ist (bonum supremum). Dieses beschränkt sich also nur auf die Seite des moralischen Guten und ist als die Erweiterung desselben ins Unbedingte zu denken. Das „höchste“ Gut ist hingegen „das ganze und vollendete Gut“, das nicht allein das moralische, sondern auch das Gute als Glückseligkeit, nämlich das bonum pragmaticum, umfasst. Dadurch zeigt sich schon, dass der „ganze Gegenstand“ der reinen praktischen Vernunft keineswegs bloß die Totalisierung des Gegenstandes derselben (nämlich Totalisierung des moralischen Guten) ist, sondern in diesem „Ganzen“ wird auch das Verhältnis zwischen verschiedenen Guten mitgedacht.24 Hinsichtlich dessen ist diese Ganzheit im Begriff des höchsten Guts keine bloße Aggregation aller Güter (sowohl des moralischen wie auch des pragmatischen), sondern die systematische Verknüpfung derselben, so dass die Glückseligkeit „ganz genau in Proportion der Sittlichkeit ausgeteilt“ werde (KpV AA 05:110). Dieses Verhältnis der Glückseligkeit zu der Tugend im höchsten Gut wird dann als „synthetische Einheit“ gedacht, und zwar gleichsam als die kausale Verbindung zwischen Wirkung und Ursache (vgl. KpV AA 05:111). Das höchste Gut ist also deswegen der ganze Gegenstand der reinen praktischen Vernunft, weil die Tugend als die Totalität des moralischen Guten bzw. des unbedingten Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft an die Stelle der „Ursache“ tritt, die freilich nicht mehr als die zeitlich schematisierte Ursache-Kategorie, sondern als „die erste Bedingung des höchsten Guts“ in der praktischen Absicht verstanden werden soll, wobei die Glückseligkeit nur „die moralisch-bedingte, aber doch notwendige Folge der ersten [sc. der Tugend] ist“ (KpV AA 05:119).25 24 „… Denn, um das [sc. ‚das ganze und vollendete Gut, als Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen‘] zu sein, wird auch Glückseligkeit dazu erfodert, und zwar nicht bloß in den parteiischen Augen der Person, die sich selbst zum Zwecke macht, sondern selbst im Urteile einer unparteiischen Vernunft, die jene überhaupt in der Welt als Zweck an sich betrachtet. Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen.“ (KpV AA 05:110) 25 Lewis W. Beck unterscheidet in seinem Commentary zwei Begriffe des höchsten Guts, wenn er das Argument fürs Postulat der Unsterblichkeit rekonstruiert: die maximal conception of the

4.2 Transzendenz als Pflicht

115

In diesem Sinne ist das höchste Gut mit dem moralischen Gesetz bzw. dem obersten Grundsatz der reinen praktischen Vernunft notwendig verbunden. Es ist nicht mehr, wie im Kanon-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft, bloß der Gegenstand der „Hoffnung“, wobei es auch die Rolle der Triebfeder zur Ausführung des moralischen Gesetzes erfüllt,26 was den Eindruck von moralischer Heteronomie erwecken könnte. Vielmehr ist es der Gegenstand der praktischen Vernunft, und, was gleichbedeutend ist, das Objekt des freien Willens des Menschen, sofern dieser durch das moralische Gesetz bestimmt wird. Als solches wird es uns als eine Pflicht auferlegt: „Es ist a priori (moralisch) notwendig, das höchste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen.“ (KpV AA 05:113) Die Beförderung des höchsten Guts als Pflicht spielt dann keine Rolle der Triebfeder zur Ausführung des moralischen Gesetz mehr, denn die Achtung dieses Gesetzes allein solche Aufgabe übernimmt (vgl. KpV AA 05:78 f.); sondern „[d]as moralische Gesetz … verbindet uns für sich allein, ohne von irgend einem Zweck als materialer Bedingung abzuhängen; aber es bestimmt uns doch auch, und zwar a priori, einen Endzweck, welchem nachzustreben es uns verbindlich macht, und dieser ist das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt.“ (KU AA 05:450) Nur mit dieser Pflicht ist der Mensch würdig, der Endzweck der Natur zu sein. Bis hierher ist es klar, dass die reine praktische Vernunft so aufzufassen ist, dass in ihr der Überschritt zum höchsten Gut notwendig enthalten ist. Das heißt, das Bewusstsein des Moralgesetzes, nämlich des Faktums der Vernunft, schließt in sich notwendig, obzwar nicht unmittelbar, den Anspruch auf Transzendenz ein. Da nun das reine moralische Subjekt sich erst mittels der Achtung vor dem Moralgesetz aufrichtet, indem das moralische Gesetz als kategorischer Imperativ dem summum bonum und die juridical conception of the summum bonum. Der erste Begriff verweist auf die notwendige Kombination der vollkommenen Glückseligkeit mit der vollkommenen Moralität, während der zweite auf die proportionale Entsprechung der Glückseligkeit mit dem moralischen Guten, ohne Anspruch auf die Vollkommenheit. Beck ist der Meinung, dass Kant zwar in der Rede vom Unsterblichkeitspostulat die maximal conception einführt, dass diese aber eigentlich weder nötig für Kant noch für das richtig verstandene Postulat der Unsterblichkeit sei; der juridische Begriff des höchsten Guts sei besser und berechtigter für Kants Theoriebildung. Vgl. Beck, L. W., A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason. Chicago and London 1960, p. 268 ff. Ich kann ihm bei diesem Urteil nicht zustimmen, denn Kant hat schon am Anfang der Dialektik der praktischen Vernunft das höchste Gut mit der Kennzeichnung der „unbedingten Totalität“ charakterisiert, und es ist also von Anfang an eine maximal conception. Nur ein maximaler Begriff kann die Rolle des Endzwecks der praktischen Vernunft erfüllen. Zum Ausdruck dieser „Totalität“ ist ein bloß juridischer Begriff desselben gar nicht fähig. 26 „Ohne also einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung.“ (KrV A 813/B 841)

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Die Praktische Transzendenz als Ansatz der neuen Metaphysik

Menschen gebietet, die Realisierung des höchsten Guts als des übersinnlichen Endzwecks zu fördern, wird diese Transzendenz zum höchsten Gut auch notwendig in dem moralisch Handelnden als solchem verwurzelt. Dies ist dasjenige, was Kant mit der Bezeichnung des Überschritts als Pflicht ausdrücken will. Angesichts dessen ist der Überschritt zum Übersinnlichen vor allem eine Pflicht des reinen praktischen Subjekts und nicht bloß aus einem spekulativen Interesse oder einer theoretischen Naturtendenz der menschlichen Vernunft. Es lässt sich nun sagen, dass Kant, obwohl er schon in dem Gedanken der „Philosophie nach dem Weltbegriff“ in der ersten Kritik die Grundaufgabe der Transzendenz der „eigentlichen Metaphysik“ charakterisiert hat, erst mit den nach der Erscheinung der ersten Kritik entwickelten Gedanken des Vernunftfaktums und der moralischen Achtung in der Lage ist, die Möglichkeit dieser Transzendenz zu beweisen. Auch die Theorie von dem Menschen als Endzweck des Naturganzen und mithin die Theorie von der notwendigen Bestimmung dieses Naturganzen als System der Zwecke, die Kant in der Kritik der teleologischen Urteilskraft ausdrücklich macht, sind erst durch jene praktisch-philosophischen Gedanken möglich. Die Selbstbestimmung der reinen Vernunft macht also den eigentlichen Grund der praktischen Transzendenz und überhaupt der praktisch-dogmatischen Metaphysik aus.27

4.3

Metaphysik der praktischen Transzendenz

Wenn die praktische Transzendenz zum übersinnlichen Endzweck, nämlich dem höchsten Gut, als Pflicht gedacht werden muss, ist eine weitere Frage zu stellen, wie das höchste Gut überhaupt möglich ist (vgl. KpV AA 05:112). Diese Möglichkeitsfrage betrifft die objektive Realität der Vernunftidee des höchsten Guts, die ihrerseits zur eigentlichen Aufgabe der kritischen Metaphysik gehört (vgl. Kap. 2). Daher sagt Kant in der Preisschrift, es müsse „ein Stadium der Metaphysik für diesen Überschritt und das Fortschreiten in demselben geben“. (FM AA 20:294) Eine solche Metaphysik, die Kant mit „eigentlich“ betitelt, dient zunächst dazu, das Problem der objektiven Realität der Idee des höchsten Guts aufzulösen. Diese Metaphysik ist aber als solche „ohne alle Theorie“ unmöglich, „denn der Endzweck ist nicht völlig in unsrer Gewalt, daher müssen wir uns einen theoretischen 27 In diesem Sinne bin ich mit Mario Caimis richtige, obwohl dort nicht genug ausgeführte Behauptung einverstanden, dass die Entdeckung der Konzeption des Faktums der reinen Vernunft für Kants Aufbau der eigentlichen Metaphysik eine entscheidende Rolle spielt. Vgl. Caimi, M., „Der Begriff der praktisch-dogmatischen Metaphysik“, in: Hahmann, A. u. Ludwig, B. (hrsg): Über die Fortschritte der Metaphysik. Beiträge zum System und Architektonik der kantischen Philosophie, Hamburg 2017, S. 157–170, hier S. 160.

4.3 Metaphysik der praktischen Transzendenz

117

Begriff von der Quelle, woraus er entspringen kann, machen.“ (ebd.) Dies bedeutet: Mit dem Pflicht-Charakter der Transzendenz wird nur die „subjektiv-praktische Realität“ des höchsten Guts gedacht werden kann (KU AA 05:453); d. h., die Notwendigkeit der Realisierung des höchsten Guts konstituiert sich in diesem Fall nur in dem subjektiven Charakter des moralischen Handelnden. Wenn man dabei stehen bleibt, ist das höchste Gut bloß dasjenige, was zu realisieren der Mensch notwendig verpflichtet ist. Es bleibt aber noch unbetrachtet, unter welchen objektiven Bedingungen das höchste Gut als das praktische Ideal in der Natur verwirklicht wird, und zwar notwendig verwirklicht. Wenn wir also auch diese Bedingungen in Betracht ziehen, wird die Natur bzw. das, was ist, betroffen und eine Theorie dafür erforderlich. Aber eine solche Theorie, in der Form eines Wissens, orientiert sich nicht an der Beschaffenheit des Objekts (des höchsten Guts selbst und dessen Ursprungs), weil dieses Objekt außerhalb der Sinnenwelt und daher außerhalb der Grenze der Erfahrung liegt, sondern an dem Verhältnis des höchsten Guts zu dessen Quelle, das wir bei der Verbindung der theoretischen mit der praktischen Vernunft in das Objekt hineinsetzen.28 Daher werden die gedachten theoretischen Begriffe von der Quelle des höchsten Guts „nur in praktisch-dogmatischer Rücksicht Statt finden, und der Idee des Endzweckes auch nur eine in dieser Rücksicht hinreichende objektive Realität zusichern können“ (ebd.). In dieser Hinsicht führt Kant einen neuen Begriff der „objektiven Realität“ in seine kritische Philosophie ein, nämlich den der „objektiv-praktischen Realität“ der Idee. Im 2. Kapitel der vorliegenden Arbeit wurde schon gezeigt, dass das Problem der objektiven Realität der reinen Begriffe auf den Unterschied zwischen Anschauung und Begriff zurückzuführen ist. Dieses Problem wird bei den Vernunftideen besonders drängend, weil ihnen gar keine Anschauung korrespondieren kann. Eben deswegen scheitert jeder Versuch, den Ideen objektive Realität in theoretischer Rücksicht zu verschaffen, und mithin scheitert jeder Versuch der spekulativen Transzendenz (vgl. Kap. 3). Nun redet Kant nicht mehr von der objektiv-theoretischen Realität, sondern der objektiv-praktischen Realität des Begriffs des höchsten Guts. Diese ist erstens deswegen „objektiv“, weil sie nicht bloß den Begriff als solchen und dessen Verbindung mit dem subjektiven Vermögen des Menschen, sondern vor allem den Gegenstand dieses Begriffs betrifft und, soweit dieser Gegenstand selbst als in der Natur bzw. Sinnenwelt möglich gedacht werden muss, sich auf

28 „Gleichwohl kann eine solche Theorie nicht nach demjenigen, was wir an den Objekten erkennen, sondern allenfalls nach dem, was wir hineinlegen, Statt finden, weil der Gegenstand übersinnlich ist.“ (FM AA 20:294)

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Die Praktische Transzendenz als Ansatz der neuen Metaphysik

die sinnliche Natur bezieht und versucht, den realen Charakter dieses Gegenstandes in der Sinnenwelt auszudrücken. Diese Realität ist dann zweitens deswegen „praktisch“, weil sie keine Beschaffenheit des Objekts angeht und nicht damit zusammenhängt, das Objekt zu erkennen. Vielmehr soll bei dieser Realität die Wirklichkeit des höchsten Guts, oder genauer, die „Verwirklichbarkeit“ desselben, mit dem praktischen Vermögen des Menschen verbunden sein und durch dieses bestimmt werden. Die objektiv-theoretische Realität der reinen Begriffe kann nach Kant dadurch bewiesen werden, dass sie die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung des Menschen, mithin auch die Bedingungen der Möglichkeit der Naturseienden ausmachen. In diesem Sinne sind sie „konstitutive Prinzipien“ der Erfahrung. Bei der objektiv-praktischen Realität hingegen können die Ideen und die daraus gebildeten synthetischen Sätze nach dem oben Gesagten nicht als konstitutive Prinzipien dessen, was ist, dienen, sondern nur, wie in den nächsten Kapiteln ausführlicher entfaltet wird, als „regulative Prinzipien“ für die Natur. In Bezug darauf schreibt Kant in einer Notiz: „Wie sind synthetische Sätze des Übersinnlichen möglich? Als regulative Principien der praktischen Vernunft. Die des Sinnlichen als konstitutive Begriffe der theoretischen.“ („Vorarbeiten zu Die Metaphysik der Sitten“, AA 23:359)29 Dieser objektiven Realität des höchsten Guts widmet Kant das dritten Stadium der eigentlichen Metaphysik, in dem die praktisch-dogmatische Erkenntnis der drei Ideen (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit) begründet werden soll. Erst dann wird die praktische Transzendenz vollendet. Zu denken ist es dabei, wie jene objektive Realität des höchsten Guts mit der praktisch-dogmatischen Erkenntnis der drei übersinnlichen Gegenstände zusammenhängt. Nach der Aufgabe der Metaphysik, die von der „Philosophie nach dem Weltbegriff“ bestimmt wird, nämlich der Aufgabe, alle Erkenntnisse auf den wesentlichsten Zweck der menschlichen Vernunft zu beziehen, ist in der gesuchten Erkenntnis des Übersinnlichen nichts anders als die Verknüpfung desselben mit der Natur bzw. mit dem sinnlichen Seienden zu denken. In dem nächsten Teil der vorliegenden Arbeit wird Kants Hinweis gemäß untersucht, wie diese Verknüpfung als die praktische Regulation der übersinnlichen Ideen für die sinnliche Natur verstanden werden soll.

29 Diese

Notiz steht in dem losen Blatt F 22, welches den „Vorarbeiten zu Die Metaphysik der Sitten“ zugeordnet wird. Aber sie liegt inhaltlich mit diesem Blatt nicht in demselben Kontext. So scheint sie eine zusätzliche Einschiebung zu sein.

Teil III Das Grundverfahren der Metaphysik

Die Transzendenz zum Endzweck der menschlichen Vernunft, welche die Grundrichtung der Entfaltung der praktisch-dogmatischen Metaphysik bestimmt, verwurzelt sich als eine unbedingte Pflicht in dem Grundsatz der reinen praktischen Vernunft. Dadurch wird die Notwendigkeit der Metaphysik trotz des Scheiterns der spekulativen Transzendenz erneut begründet. Aber man muss zum Aufbau und Vollenden der Metaphysik noch weiter darüber nachdenken, auf welche Weise dieser Endzweck in der sinnlichen Natur realisiert wird, d. h., wie die Idee des höchsten Guts ihre objektive Realität schafft. Es muss also eine Theorie von den Bedingungen der Verwirklichung des höchsten Guts geben. Nachdem alles spekulative Grundverfahren zum Beweis der übersinnlichen Ideen als unbedingte konstitutive Bedingungen des Seienden überhaupt nun als erfolglos beurteilt worden ist, muss man an einer anderen Methode für die objektive Realität der Idee des Übersinnlichen denken. Diese soll die Grundmethode der „eigentlichen“ Metaphysik sein. Eine „Methode“ ist allgemein gesehen „ein Verfahren nach Grundsätzen“ (KrV A 855/B 883). Mit der Frage nach dem methodischen Grundverfahren der Metaphysik möchte ich das Folgende zu Thema machen: Wenn die Aufgabe der Metaphysik in der Verknüpfung aller Erkenntnis mit dem Endzweck der menschlichen Vernunft besteht, fragt es sich nun, auf welche Weise und unter welchen Bedingungen dasjenige, was wir „Natur“ nennt und was an sich keinen Bezug auf jenen Endzweck nimmt, schließlich auf denselben bezogen werden kann; in welchem Sinne die Natur so beschaffen sein muss, dass sie dem moralischen Endzweck entsprechen kann; welche Rolle die drei Ideen des Übersinnlichen (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit) darin spielt, die von Kant als Endabsicht der Metaphysik bezeichnet werden. Obwohl Kant für alle drei Kritiken jeweils eine „Methodenlehre“ verfasst, die hauptsächlich dazu dient, die in der „Elementarlehre“ dargestellten Momente auf einen einheitlichen Zweck zu beziehen,1 hat er aber niemals ein Werk von seiner 1 Eine kleine Ausnahme sieht man in der dritten Kritik, wo kein Titel der „Elementarlehre“ da

ist und auch keine „Methodenlehre“ für Kritik der ästhetischen Urteilskraft geschrieben wird

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Teil III Das Grundverfahren der Metaphysik

Konzeption der Metaphysik wahrhaft zur Vollendung und daher auch niemals seine Methodologie der Metaphysik an die Öffentlichkeit gebracht. Daher muss die Untersuchung der Grundmethode der kantischen Metaphysik auf eine Rekonstruktion angewiesen werden.2 Nach dem Hinweis in dem Notizzettel „losen Blatt F 22“ (AA 23:359), dass die synthetischen Sätze des Übersinnlichen als regulative Prinzipien der praktischen Vernunft möglich seien, möchte ich den wesentlichen Charakter des methodischen Grundverfahrens der kantischen Metaphysik als „reine praktische Regulation“ vorbezeichnen. Zur Untersuchung dieser Grundmethode werde ich zunächst die reine praktische Regulation nach ihren wesentlichen Momenten definieren (Kap. 5). Als Rechtfertigung für diese Methode werde ich versuchen, eine transzendentale Deduktion für sie zu führen (Kap. 6). Schließlich gebe ich eine systematische Darstellung der drei Ideen des Übersinnlichen (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit), in der sie ihre jeweilige objektive Realität rechtfertigen und zusammen einen „Kreis der Freiheit“ ausmachen, wo die praktisch-dogmatische Metaphysik ihre Vollendung findet (Kap. 7). Dadurch wird auch gezeigt, warum eben diese drei Ideen als die „Endabsicht der Metaphysik“ verstanden werden können.

(der Grund dafür wird in §60 der KU angegeben). Aber sachlich gesehen zeigt sie trotzdem eine strukturelle Parallele zu den beiden ersten Kritiken. 2 Kasten Thiels Forschung über die Methode der kantischen Metaphysik (Thiel, K., Kant und die „Eigentliche Methode der Metaphysik“, Hildesheim 2008) konzentriert sich auf zwei Aspekte: Begrenzung der Erfahrung durch die Vernunft und die Verallgemeinerung des Kausalprinzips, und versucht Kants Methode der Metaphysik aus der transzendentalen Dialektik zu skizzieren. Da er aber keine große Aufmerksamkeit auf die Konzeption der praktischdogmatischen Metaphysik Kants gibt, ist seine Untersuchung der metaphysischen Methode meines Erachtens einseitig und beschränkt die kantische Metaphysik nur auf die Begrenzung der Erkenntnisvermögen. Er denkt sogar nicht daran, was Kant für dieses Thema geboten hat, wenn Kant in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft (dem „Kanon“- und dem „Architektonik“-Kapitel) die Aufgabe und Methode der Metaphysik auf das Problem der praktischen Vernunft bezieht.

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Der Begriff der praktischen Regulation bei Kant

Bevor ich darauf eingehe, wie sich die Ideen des Übersinnlichen als regulative Prinzipien ihre objektiv-praktische Realität verschaffen, soll ich zunächst erklären, was es eigentlich bedeutet, ein „regulatives“ Prinzip zu sein. Obwohl der Begriff „regulativ“, in Gegensatz zu „konstitutiv“, terminologisch sowohl bei Kant als auch in der nach-kantischen Philosophie verbreitet gebraucht wird,1 sieht man in der KantForschung aber noch keine zureichend tiefgehende Untersuchung für die genaue Bedeutung dieses Begriffs. Dies kann vielleicht darauf zurückgeführt werden, dass dieser Terminus scheinbar nicht schwer zu verstehen ist; er bezeichne wahrscheinlich nichts mehr als den Fall, in dem man das Objekt mit einer Regel betrachte, die zwar nicht streng gerechtfertigt werden kann, aber eine gewisse pragmatische Notwendigkeit hat – mit einem Wort: den Fall des „Als-ob“.2 Aber Kant hat in der Tat den Ausdruck „regulativ“ in verschiedenen Kontexten und Bereichen gebraucht, 1 Um

nur einige Beispiele zu nennen: der Frühromantiker Novalis schreibt: „Wir müssen die Idee [sc. der höchsten Gattung] nicht verfolgen, sonst kommen wir in die Räume des Unsinns – Jede regulative Idee ist von unendlichem Gebrauch – aber sie enthält keine selbstständige Beziehung auf ein Wirkliches.“ (Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. Kluckhohn, P., Samuel, R., Bd. 2. Das philosophische Werk I, Stuttgart 1965, S. 252). Und: „Alles Suchen nach dem Ersten ist Unsinn – es ist regulative Idee“, (S. 254). John Searle unterscheidet bekanntlich in seinem Buch Speech Acts: An Essay in the Philosophy of Language (Cambridge 1969) zwischen „constitutive rules“ und „regulative rules“ (vgl. p. 33). Nach Searles Ansicht ist auch der Grundgedanken des frühen Aufsatzes „Two Concepts of Rules“ (in: The Philosophical Review 64, 1955, No. 1, pp. 3–32.) von John Rawls auf diese Unterscheidung zurückzuführen (vgl. Searle, J., „What is a speech act?“, in: Black, M. (ed.), Philosophy in America. Ithaca: Cornell University Press 1965, pp. 221–239, hier p. 223, Note 2.) 2 Zahlreiche Untersuchung werden der generellen Erörterung über Kants „konstitutive“ und „regulativen“ Prinzipien gewidmet. Darunter sind vor allem zwei Sammelbände zu einer internationalen Kant-Tagung zu nennen, die am 20.und 21. Juni 2008 in Frankfurt am Main © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Y. Xie, Praktische Regulation der Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62252-0_5

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Der Begriff der praktischen Regulation bei Kant

die nicht so einfach dem genannten Deutungsfall zugeordnet werden können. Ich sehe es also nötig, zuerst die Gebräuche dieses Begriffs in seinen jeweiligen Zusammenhängen konkret darzustellen. Dies ist die Aufgabe des 1. Abschnitts des vorliegenden Kapitels. Danach werde ich, im 2. Abschnitt, aufgrund der Zusammenfassung von den Ergebnissen der konkreten Darstellung die eigentliche Bedeutung des Begriffs von „regulativ“ klar machen. Dabei werden die wesentlichen Momente im Einzelnen dargelegt, die ein regulatives Prinzip überhaupt notwendig in sich enthält. Mit diesen Ergebnissen wird dann im 3. Abschnitt versucht, die reinen praktische Regulation der Vernunft, die das eigentliche Grundverfahren der praktisch-dogmatischen stattfand und sich mit dem Thema der kantischen Konzeption der „regulativen Ideen“ hinsichtlich der theoretischen sowie der praktischen Philosophie befasste: Dörflinger B., Kruck, G. (hrsg.), Über den Nutzen von Illusionen. Die regulativen Ideen in Kants theoretischer Philosophie, Hildesheim 2011, und Dörflinger B., Kruck, G. (hrsg.), Worauf Vernunft hinaussieht. Kants regulative Ideen im Kontext von Teleologie und praktischer Philosophie, Hildesheim 2012. Unter den darin gesammelten Beiträgen soll derjenige von Claudio La Roccas genannt werden („Formen des Als-Ob bei Kant“, in Über den Nutzen von Illusionen, S. 29–45), in dem das Problem der Regulation unter dem Thema des „Als-Ob“ hinsichtlich verschiedener Kontexte bei Kant kurz gezeigt. Zudem ist auch die Forschung von Michael Friedman zu zählen, welche die Art und Weise thematisieren, wie die konstitutiven Prinzipien des Verstandes mit den regulativen Prinzipien der Vernunft und der reflektierenden Urteilskraft zur Bildung der naturwissenschaftlichen Grundbegriffe (wie der Begriffe der Materie und der universalen Gravitation) zusammenarbeiten (Vgl. Friedman, M., “Regulative and Constitutive”. In: The Southern Journal of Philosophy 30, 1991, Supplement, pp. 73–102.). Aber auf die Frage, was der Terminus „regulativ“ bei Kant eigentlich und genau bedeutet, konzentrieren sich nur sehr wenige Arbeiten, soweit ich lese. Paul Guyer sieht den Unterschied zwischen den konstitutiven und den regulativen Prinzipien darin, ob die entsprechenden Eigenschaften der Objekte von den Prinzipien bestimmt werden oder unbestimmt bleiben, wenn er die Argumentationen der „transzendentalen Analytik“ von den Grundsätzen des Verstandes erörtert. Aufgrund dieser Diagnose hält er die kantische Unterscheidung der Grundsätze des Verstandes in die konstitutiven und die regulativen für unhaltbar. (Guyer, P.: Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge 1987, p. 188 f. Ich werde im Folgenden Guyers Interpretation, da sie in der Kant-Forschung sehr typisch ist, kritisch diskutieren.) Ein kürzlich erscheinender Vortragstext von Gary Banham erklärt sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeit zwischen den regulativen Prinzipien des Verstandes und denjenigen der Vernunft und konzentriert sich auf ihre Gemeinsamkeit, indem er die Regulativität auf die Suche nach der Einheit (der Verstandes- und der Vernunfteinheit) zurückführt (Vgl. Banham, G., “Regulative Principles and Regulative Ideas”. In: Kant und die weltbürgerliche Philosophie. Proceedings of the Eleventh International Kant Congress. Vol. 2. Ed. by Stefano Bacin, Alfredo Ferrarin, Claudio La Rocca and Margit Ruffing, Berlin 2013, 15–24.). Die meisten der bisherigen Forschungen beschäftigen sich mit den regulativen Prinzipien des Verstandes, der theoretischen Vernunft und der reflektiv-teleologischen Urteilskraft und zeigen noch keine große Aufmerksamkeit auf die Regulation, die sich auf die praktische Vernunft und ihr Interesse bzw. ihren Endzweck bezieht (die ich in der vorliegenden Arbeit „praktische Regulation“

5.1 Von verschiedenen Gebräuchen des Ausdrucks…

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Metaphysik ausmacht, an ihren eigentlichen Momenten selbst und auch im Vergleich zu anderen Arten der Regulation zu charakterisieren.

5.1

Von verschiedenen Gebräuchen des Ausdrucks der„regulativen Prinzipien“ bei Kant

Es lässt sich gewissermaßen sagen, dass der Gedanke des „regulativen“ Prinzips oder des „regulativen“ Gebrauchs der Ideen die kantische Philosophie auszeichnet. Vor Kants Kritik der reinen Vernunft wird dieser Begriff noch nicht einmal im philosophischen Kontext gebraucht.3 Er steht bei Kant immer in Gegensatz zum Begriff des „konstitutiven“ Prinzips und kennzeichnet eine begriffliche Vorstellung, die keine konstitutive bzw. objektiv bestimmende Funktion hat. Nach der Wortbildung wird der Ausdruck „regulativ“ aus dem Lateinischen regula („Richtschnur, Regel, Stab“) abgeleitet. Von diesem geht das lateinische Verb regulare („regeln, einrichten“) hervor, dessen Übersetzung ins Mittelhochdeutsche „regulieren“ ist: „nach einer Regel ausführen“. Nach dieser Hinsicht ist etwas insofern „regulativ“, als es die Funktion, etwas Anderes zu regulieren, durchführen kann. Kants Gebrauch des Worts „regulativ“ geht aber über diese etymologische und wörtliche Bedeutung weit hinaus. Ich möchte im Folgenden die wichtigen Stellen, in denen Kant den Terminus „regulativ“ gebraucht, nach der Ordnung des Auftritts nennen. Darin wird zugleich anzugeben versucht, inwiefern ein genanntes Prinzip als „regulativ“ zu

nenne). Außerdem werden in den Forschungen vor allem die theoretischen Leistungen und Konsequenzen der Regulation thematisiert, nicht aber der Begriff „regulativ“ selbst, so dass die Begriffsmomente der „Regulation“ bei Kant noch unklar bleibt – dies ist eben die Aufgabe meiner Arbeit. 3 In der Tat kommt der Gedanke der „regulativen“ Prinzipien schon in der Inauguraldissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis in 1770 vor, wo Kant, also am Ende der ganzen Dissertation, diejenigen Grundsätze, denen „wir uns gerne unterwerfen und gleich wie Axiomen anhängen“ (quibus libenter nos submittimus, et quasi axiomatibus inhaeremus), principia convenientae (Prinzipien der Zusammenstimmung) nennt. (De Mundi AA 02:418 ff.) Ein solcher Grundsatz beruht nach Kant auf „subjektiven Gründen“, genauer, auf „den Gesetzen der Vernunft, nämlich auf den Bedingungen, unter denen die Vernunft ihre Scharfsichtigkeit leicht und bequem zu gebrauchen scheint“ (legibus … intellectualis, nempe conditionibus, quibus ipsi facile videtur et promptum perspicacia sua utendi). Danach zählt Kant drei Grundsätze als principia convenientae auf, nämlich diejenigen über die Allgemeinheit des Geschehens nach der Naturordnung, über die Nicht-Vermehrung der Prinzipien ohne höchste Notwendigkeit und die Unentstehbarkeit und Unvergänglichkeit der Dinge nach der Materie. Kant ist dort schon der Ansicht, dass die Vernunft ohne diese principia convenientae sogar kein Urteil fällen kann.

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Der Begriff der praktischen Regulation bei Kant

bezeichnen ist. (Ich nenne im Folgenden die verschiedenen regulativen Prinzipien nach der Abkürzung „RP“ mit den jeweiligen Nummern.) (RP1) Die erstmalige Erscheinung dieses Ausdrucks befindet sich in der Darstellung der transzendentalen Grundsätze des reinen Verstandes in der Kritik der reinen Vernunft, genauer in der Erläuterung der „Analogie der Erfahrung“. Die „mathematischen Grundsätze“, nämlich die Axiome der Anschauung und die Antizipationen der Wahrnehmung, welche auf „Erscheinungen ihrer bloßen Möglichkeit nach“ gehen, lehren uns, wie die Erscheinungen „nach Regeln einer mathematischen Synthesis erzeugt werden könnten“. Nach diesen Grundsätzen kann man die Erscheinungen a priori als (extensive sowie intensive) Größe bestimmen und mithin solche Größe „bestimmt geben, d. i. konstruieren“. Daher nennt Kant diese Grundsätze „konstitutiv“. (KrV A 179 f./B 221) Wenn man aber „das Dasein der Erscheinungen a priori unter Regeln bringen“ will, ist der Fall ganz anders. Weil das Dasein „sich nicht konstruieren lässt“, werden die Grundsätze, als Regeln des Daseins der Erscheinung, „nur auf das Verhältnis des Daseins gehen, und keine andre als bloß regulative Prinzipien abgeben können.“ (KrV A 179/B 221 f.) Dies gilt nicht nur von den Analogien der Erfahrung, die auf den Relationskategorien beruhen, sondern auch von den „Postulaten des empirischen Denkens überhaupt“, die aus den Modalitätskategorien ausgehen (vgl. KrV A 180/B 223), welche beide dann „dynamische“ Grundsätze genannt werden (vgl. KrV A 160 ff./B 200 ff.) Die dynamischen Grundsätze sind regulativ, aber als solche nur hinsichtlich der Anschauung, oder genauer, hinsichtlich der „Gegenstände (der Erscheinungen)“ (KrV A 180/B 223).4 Für die Erfahrung bzw. die Gegenstände der Erfahrung sind sie aber ebenfalls konstitutiv wie die mathematischen, indem sie „die Begriffe, ohne welche keine Erfahrung stattfindet, a priori möglich machen“ (KrV A 664/B 692). So sind alle transzendentalen Grundsätze des reinen Verstandes, sowohl die mathematischen wie auch die dynamischen, als Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung konstitutive Prinzipien. (RP2) Der zweite wichtige Kontext, in dem Kant von den regulativen Prinzipien Gebrauch macht, befindet sich in der Auflösung der kosmologischen Antinomie der spekulativen Vernunft. Nach der Diagnose („kritisch[er] Entscheidung“ [KrV A 497/B 525]) des Widerstreits der Vernunft mit sich selbst in den kosmologischen Fragen revidiert Kant die Formulierung des Grundsatzes der reinen Vernunft, 4 „Hinsichtlich

der Anschauung“ besagt nicht, dass der Verstand die Anschauung (als ein Vermögen) „reguliert“. Wie ich später zeige, kann ein bloß rezeptives Vermögen nicht als ein „Reguliertes“ fungiert. Der Verstand kann die Anschauung immer „konstruiert“. Zu regulieren ist hier nicht das anschauende Vermögen, sondern das Dasein der angeschauten Gegenstände, das immer ein synthetisches Verhältnis in sich enthält.

5.1 Von verschiedenen Gebräuchen des Ausdrucks…

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der sich zunächst die „Gegebenheit“ der ganzen Reihe der Bedingungen unter der Gegebenheit des Bedingten auszudrücken anmaßt. Der revidierte Grundsatz lautet: wenn das Bedingte gegeben ist, sei uns eben dadurch ein Regressus in der Reihe aller Bedingungen zu demselben „aufgegeben“ (KrV A 498 f./B 526). Das Unbedingte kann durch die Gegebenheit des Bedingten nicht als schon wirklich gegeben gedacht werden, sondern uns wird dadurch nur die Aufgebe übertragen, die Synthesis des Bedingten mit dessen Bedingungen immer weiter in einem regressiven Prozess auszuführen. Dieser Grundsatz der reinen Vernunft ist kein „Principium der Möglichkeit der Erfahrung und der empirischen Erkenntnis der Gegenstände der Sinne“ noch „konstitutives Prinzip der Vernunft, den Begriff der Sinnenwelt über alle mögliche Erfahrung zu erweitern“, sondern ein Prinzip für die „größtmögliche[] Fortsetzung und Erweiterung der Erfahrung“, und zwar ein Prinzip, das „als Regel postuliert, was von uns im Regressus geschehen soll, und nicht antizipiert, was im Objekt vor allem Regressus an sich gegeben ist“ (KrV A 509/B 537). Kant nennt einen derartigen Grundsatz ein „regulatives Prinzip“, in Gegensatz zu dem „konstitutiven Prinzip“, und will durch diesen Unterschied „verhindern …, dass man nicht [!] … einer Idee, welche bloß zur Regel dient, objektive Realität beimesse“ (ebd. Herv. von Y. X.). Kant dürfte damit meinen, dass für die Idee, welche die Regel darüber angibt, „wie der empirische Regressus anzustellen sei, um zu dem vollständigen Begriffe des Objekts zu gelangen“ (KrV A 510/B 538), keine objektiv-theoretische Realität beigelegt werden soll, weil diese Regel nicht das transzendentale Objekt (hier: das Weltganze als solches), sondern nur die Synthesis an dem empirischen Objekt in der Welt angeht. Kant breitet diese Umformulierung des Grundsatzes der reinen Vernunft als regulatives Prinzip von den kosmologischen Fragen bis zu allen transzendenten Ideen der spekulativen Vernunft aus, indem er den ganzen „Anhang zur transzendentalen Dialektik“ dem Thema des regulativen Gebrauchs der spekulativen Vernunft widmet. In diesem besonderen Vernunftgebrauch wird eine transzendentale Idee als focus imaginarius („Vorstellungsziel“) betrachtet, weil die Vernunft damit „den Verstand zu einem gewissen Ziele“ richtet, „in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, … aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen.“ (KrV A 644/B 672) Alle transzendenten Ideen (Seele, Welt, Gott), um die es Kant in den Kapiteln des Paralogismus, der Antinomie und des transzendentalen Ideals geht, betreffen also keine transzendenten Gegenstände, die außerhalb unserer Erfahrung liegen, sondern sie gelten nur als foci imaginarii, und zwar als regulative Ideen für die Naturforschung, um die empirische Erkenntnis der Natur so viel wie möglich zu erweitern und

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Der Begriff der praktischen Regulation bei Kant

auf die systematische Einheit des Verstandesgebrauchs in der Erfahrung näher zu gehen (vgl. KrV A 682 ff./B 710 ff.). Im Unterschied zu den dynamischen Grundsätzen des Verstandes, die für die Gegenstände der Anschauung regulativ, dennoch für die Erfahrung konstitutiv sind, können die transzendenten Ideen niemals als konstitutive Prinzipien des theoretischen Gebrauchs der Vernunft gelten (vgl. KrV A 664/B 692). Aber diese regulativen Ideen scheinen nur die subjektive Absicht des Menschen darzustellen, die Naturbetrachtung auf eine systematische Einheit zu leiten, wenn man nicht dabei annehmen könnte, dass diese Einheit auch zum Wesen der Natur selbst gehört.5 So wird für die regulativen Ideen verlangt, „die systematische Einheit als Natureinheit, … schlechterdings, mithin als aus dem Wesen der Dinge folgend, vorauszusetzen.“ (KrV A 693/B 721) Die „transzendentale Voraussetzung“ der Natureinheit (KrV A 651/B 679) wird aus drei „transzendentalen Prinzipien“ der Vernunft ausgedrückt, nämlich das Prinzip der „Gleichartigkeit des Mannigfaltigen unter höheren Gattungen“, der „Varietät des Gleichartigen unter niederen Arten“ und der „Affinität aller Begriffe“ als des „kontinuierlichen Übergang[s] von einer jeden Art zu jeder anderen durch stufenartiges Wachstum der Verschiedenheit“ (KrV A 657 f./B 685 f.). Diese drei Prinzipien (der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität) sind ebenfalls regulativ, sofern sie nicht aus der Natur selbst hergeleitet, sondern die Vernunft schreibt sich selbst diese Prinzipien vor. Sie sind aber für die menschliche Vernunft „notwendig“, weil wir ohne sie „gar keine Vernunft, ohne diese [sc. Vernunft] aber keinen zusammenhängenden Verstandesgebrauch, und in dessen Ermangelung kein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit haben würden“ (KrV A 651/B 679). Sie betreffen die Natur und deren Forschung, gleichsam auch deren Eigenschaft, aber nicht in der Hinsicht, dass sie die Beschaffenheit der Natur bestimmen. Daher stellt Kant fest, dass diese Prinzipien „als synthetische Sätze a priori, objektive, aber unbestimmte Gültigkeit haben“ und nennt sie „heuristische Grundsätze“ (KrV A 663/B 691).6 (RP3) Hinsichtlich des regulativen Gebrauchs der Vernunft hat der Weltbegriff, den anderen transzendentalen Ideen gegenüber, eine Besonderheit in sich, weil in

5 „Denn, wenn man nicht die höchste Zweckmäßigkeit in der Natur a priori, d. i. als zum Wesen

derselben gehörig, voraussetzen kann, wie will man denn angewiesen sein, sie zu suchen und auf der Stufenleiter derselben sich der höchsten Vollkommenheit eines Urhebers, als einer schlechterdingsnotwendigen, mithin a priori erkennbaren Vollkommenheit, zu nähern?“ (KrV A 693/B 721) 6 Zu diesen „transzendentalen Voraussetzungen“ und ihr Unterschied von den drei regulativen Vernunftideen vgl. McLaughlin: P., “Transcendental Presuppositions and Ideas of Reason”. Kant-Studien, 105(4), 2014, pp. 554–572, insbesondere pp. 561 ff. und pp. 568 f.

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der Auflösung der dritten und vierten Antinomie zwei neuartige und ebenfalls regulative Prinzipien, die anders sind als das Prinzip zum empirischen Regressus in indefinitum, aufgestellt werden, nämlich das Prinzip der transzendentalen Freiheit und dasjenige eines notwendigen Wesens.7 Die beiden letzten Antinomien beziehen sich auf diejenigen kosmologischen Ideen, die Kant „dynamische Ideen“ nennt, weil sie, im Gegensatz zu den „mathematischen Ideen“, Regeln zur Synthesis des Ungleichartigen geben. (Vgl. KrV A 418 ff./B 446 ff.) Bei der dynamischen Synthesis wird also zu dem empirischen Bedingten eine intelligible Bedingung, die ganz außerhalb der Erfahrung liegt, zugelassen. Daher wird bei der dritten und vierten Antinomie der spekulativen Vernunft nicht nur die Endlichkeit oder Unendlichkeit der Bedingungsreihe in Frage gestellt, sondern auch die Möglichkeit einer intelligiblen Bedingung (einer freien Ursache bzw. eines schlechthin notwendigen Wesens) und deren Kompatibilität mit der empirischen Bedingung, welche dem Bedingten gleichartig ist.8 Während die Idee des notwendigen Wesens einen Übergang zum transzendentalen Ideal, bei dem es um den Begriff des Gottes als Grund der Möglichkeit der Dinge überhaupt geht und schließlich auch eine theoretischregulative Gottesidee entwickelt wird, ausmacht (vgl. KrV A 566/B 594), sieht Kant die Möglichkeit des Freiheitsbegriffs, trotz dessen regulativem Charakters, nur im praktischen Gebrauch der Vernunft, genauer in dem Problem der „Zuschreibung“, wo die menschliche Vernunft als die unbedingte Erstursächlichkeit der Handlung verstanden werden muss, „als ob der Täter damit eine Reihe von Folgen ganz von selbst anhebe“. (vgl. KrV A 554 f./B 582 f.) Der transzendentale Freiheitsbegriff erweist sich dann als eine praktisch-regulative Idee, die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft noch zweimal wieder erwähnt (vgl. KpV AA 05:48, 05:135). Mit diesem regulativen Prinzip nimmt man kein Objekt an, das außerhalb der Erfahrung liegt, noch erkennt man die Bestimmung der Kausalität der Vernunft, sondern man hält „der spekulativen Vernunft den für sie leeren Platz offen …, nämlich das Intelligibele, um das Unbedingte dahin zu versetzen“ (KpV AA 05:49). (RP4) Mit dem Freiheitsbegriff kann man weiter an die vierte Art des regulativen Prinzips denken. Aufgrund der Freiheit darf man, wie gesagt, überhaupt von

7 Man diskutiert meistens ganz generell über die regulativen Ideen der spekulativen Vernunft.

Die Tatsache, dass Kant in der Auflösung der beiden letzteren Antinomien noch weitere regulative Ideen aufstellt, die anders als die RP2 sind, bemerken nur wenige wie Jochen Bojanowski, Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung, Berlin/Boston 2006, S. 182 f. 8 Diese Umwandlung der Fragstellung besonders bei der dritten Antinomie wird von Jochen Bojanowski deutlich gezeigt. Vgl. Bojanowski, J., Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung, Berlin/Boston 2006, S. 120, 125.

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Der Begriff der praktischen Regulation bei Kant

dem Praktischen und der freien Willkür reden.9 Aber das Verhältnis der Vernunft zum Praktischen bzw. zur Handlung muss man auf unterschiedliche Weise denken, und dies hängt davon ab, aus welchen Gründen die Handlung motiviert wird. Wenn es die empirischen Bedingungen sind, nach denen wir unsere Willkür ausüben, so kann die Vernunft „keinen anderen als regulativen Gebrauch haben, und nur die Einheit empirischer Gesetze zu bewirken dienen“ (KrV A 800/B 828). Dafür nennt Kant die Lehre der Klugheit als Beispiel, der zufolge sich die Vernunft damit beschäftigt, alle uns von den sinnlichen Neigungen aufgegebenen Zwecke zu dem einheitlichen Zweck der Glückseligkeit zu vereinigen, indem sie die verschiedenen Mittel dazu miteinander vereinbart. In diesem Fall fungiert die Vernunft nur als Quelle des „pragmatischen Gesetzes des freien Verhaltens“ und gibt keine Bestimmung der Moral. Nur die reinen praktischen Gesetze, die völlig in der Vernunft allein ihren Ursprung haben, sind „Produkte der reinen Vernunft“ und erweisen sich als konstitutive Prinzipien für die Moral (Vgl. ebd.). Der Begriff der Klugheit, den ich lieber als „pragmatisch-regulatives“ denn als „praktisch-regulatives“ Prinzip bezeichne, begründet sich weder in dem Anspruch der spekulativen Vernunft noch in dem Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft, sondern in dem Wunsch der Sinne, das möglichst größte Glück zu erreichen. (RP5) Zur Analyse des Begriffs des Regulativen spielt die Kritik der Urteilskraft eine sehr wichtige Rolle; sie ist diejenige Schrift, in der Kant seinen Gedanken des regulativen Gebrauchs der menschlichen Erkenntnisvermögen am ausführlichsten entfaltet. Schon an ihrem Anfang liegt der Gedanke vom konstitutiven und regulativen Prinzip: Da der Verstand für das Erkenntnisvermögen und die Vernunft für das Begehrungsvermögen „konstitutive Prinzipien a priori enthält“, stellt Kant in der „Vorrede“ dieses Werks eine Frage als die wesentliche Beschäftigung einer Kritik der Urteilskraft: ob die Prinzipien, welche die Urteilskraft a priori vorschreibt, „konstitutiv oder bloß regulativ sind (und also kein eigenes Gebiet beweisen)“ (vgl. KU AA 05:168). Die transzendentalen Grundsätze des Verstandes geben zwar allgemeine Gesetze der Natur überhaupt und sind dadurch für die Gegenstände der Erfahrung konstitutiv, lassen die mannigfaltigen besonderen Formen der Natur aber unbestimmt und als zufällig betrachtet. So stellt sich die Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft, für diese noch nicht bestimmten besonderen Naturgesetze das Allgemeine bzw. die Einheit zu finden, „um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen“ (KU AA 05:180). Diese „Gesetzlichkeit des Zufälligen“, die Kant zufolge „Zweckmäßigkeit“ der Natur überhaupt heißt (vgl. KU AA 05:404), ist nun „weder ein Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff“, weil sie „gar nichts dem Objekte (der Natur) beilegt, 9 „Praktisch

ist alles, was durch Freiheit möglich ist.“ (KrV A 800/B 828)

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sondern nur die einzige Art, wie wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen, vorstellt, folglich ein subjektives Prinzip (Maxime) der Urteilskraft“ (KU AA 05:184). In diesem Sinne gilt sie als „regulatives Prinzip des Erkenntnisvermögens“ (KU AA 05:197),10 das „einer notwendigen Absicht (einem Bedürfnis) des Verstandes“ (KU AA 05:184) entspricht, für die Mannigfaltigkeit besonderer Naturgesetze die Einheit vorauszusetzen11 . Eben in dieser Bedeutung bezeichnet Kant auch den Geschmack als „ein bloßes regulatives Beurteilungsvermögen der Form in der Verbindung des Mannigfaltigen in der Einbildungskraft“ (Anthropologie, AA 07:246). (RP6) Die Zweckmäßigkeit kann entweder formal oder subjektiv sein, wenn sie nur die Übereinstimmung der Erkenntnisvermögen des Subjekts darstellt, oder sie kann auch objektiv sein, indem sie mit der Reflexion über das Objekt der Natur verbunden ist. Unter den verschiedenen Arten der objektiven Zweckmäßigkeit ist die innerlich-materiale Zweckmäßigkeit für den Gedanken der Regulation besonders wichtig, der mit der Konzeption des Naturzwecks eng verbunden ist. Denn in der Konzeption des Naturzwecks muss man ein Vernunftbegriff des Zwecks bzw. der Endursache einsetzen, der „allein in der Idee des Beurteilenden und nirgend in einer wirkenden Ursachen lägen“ (KU AA 05:376), wodurch die Vernunft für die reflektierende Urteilskraft ein regulatives Prinzip vorschreibt.12 Während die nur formal betrachtete Zweckmäßigkeit der Natur überhaupt ein regulatives Prinzip ist (RP5), das die reflektierende Urteilskraft für sich selbst gibt, erweist sich der Begriff des Naturzwecks als ein ebenfalls regulatives Prinzip (vgl. KU AA 05:396), 10 Das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur ist für das Erkennen der Natur nur regulativ, obwohl das ästhetische Urteil über gewisse Gegenstände der Natur oder der Kunst, welches diesen Begriff der Zweckmäßigkeit veranlasst, „in Ansehung des Gefühls der Lust und Unlust ein konstitutives Prinzip ist“ (KU AA 05:197). 11 „Weil aber doch eine solche Einheit notwendig vorausgesetzt und angenommen werden muß, da sonst kein durchgängiger Zusammenhang empirischer Erkenntnisse zu einem Ganzen der Erfahrung Statt finden würde, indem die allgemeinen Naturgesetze zwar einen solchen Zusammenhang unter den Dingen ihrer Gattung nach, als Naturdinge überhaupt, aber nicht spezifisch, als solche besondere Naturwesen, an die Hand geben: so muß die Urteilskraft für ihren eigenen Gebrauch es als Prinzip a priori annehmen, daß das für die menschliche Einsicht Zufällige in den besonderen (empirischen) Naturgesetzen dennoch eine, für uns zwar nicht zu ergründende aber doch denkbare, gesetzliche Einheit, in der Verbindung ihres Mannigfaltigen zu einer an sich möglichen Erfahrung, enthalte.“ (KU AA 05:183) 12 „Nun ist der Begriff von einem Dinge als Naturzweck ein Begriff, der die Natur unter einer Kausalität, die nur durch Vernunft denkbar ist, subsumiert, um nach diesem Prinzip über das, was vom Objekte in der Erfahrung gegeben ist, zu urteilen“ (KU AA 05:396, Herv. von Y. X.). Und in §77 der Kritik der Urteilskraft sagt Kant, „die Idee eines Naturzwecks“ sei „ein Vernunftprinzip … für die Urteilskraft“ (vgl. KU AA 05:405, Herv. von Y. X.).

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das dennoch nicht von der Urteilskraft sich selbst, sondern von der Vernunft für die Urteilskraft zur Reflexion über die Naturprodukte gegeben wird. Es dient dem theoretischen Interesse der Vernunft, auch das organisierte Naturprodukt, das durch die Kausalität des Mechanismus allein nicht erklärlich ist, in Forschung zu bringen, um „die Naturkunde nach einem anderen Prinzip, nämlich dem der Endursachen, doch unbeschadet dem des Mechanismus ihrer Kausalität, zu erweitern“ (KU AA 05:379). Die von der theoretischen Vernunft regulierte Urteilskraft nennt Kant „die theoretisch-reflektierende Urteilskraft“ (KU AA 05:456). Der Vernunftbegriff des Naturzwecks, dessen objektive Realität an dem organisierten Wesen dargestellt wird, weist durch die Auflösung der teleologischen Antinomie in Beurteilung dieses Wesens auf das übersinnliche Substrat der Natur hin, welches man als „einen außer und über die Natur belegenen Grund (göttlichen Urheber)“ (KU AA 05:416) betrachten darf. Dieser Begriff des Welturhebers gilt ebenfalls nicht als konstitutives Prinzip für die bestimmende, sondern als regulatives Prinzip für die reflektierende Urteilskraft, „nur um die Beurteilung der Dinge in der Welt durch eine solche Idee dem menschlichen Verstande angemessen … zu leiten“ (ebd.). Er hat ähnliche Funktion wie die regulative Gottesidee in der Kritik der reinen Vernunft, die zur zweckmäßigen systematischen Einheit der Weltdinge nach dem nexus finalis dient (vgl. KrV A 685 ff./B 713 ff.). Der Unterschied ist, dass Kant in der Zeit des Verfassens der ersten Kritik den Gedanken der reflektierenden Urteilskraft noch nicht entwickelt hatte, um den Begriff der Zweckmäßigkeit der ganzen Natur zu entfalten. Die Regulation des Gottesbegriffs operiert in der ersten Kritik an der Synthesis des Verstandes, in der dritten Kritik aber an der reflektierenden Urteilskraft. (RP7) Die oben erläuterten regulativen Prinzipien des Naturzwecks und der Zweckmäßigkeit der Natur gehören zu Naturbegriffen und gehen mithin auf den theoretischen Gebrauch des menschlichen Erkenntnisvermögens. Außerdem entwickelt Kant in der Kritik der Urteilskraft auch Gedanken des praktisch-regulativen Prinzips, welches sich von den oben in (RP3) und (RP4) gedachten Regulativen dadurch unterscheidet, dass es sich nicht nur auf den praktischen Gebrauch der Vernunft überhaupt bezieht, sondern auch in dem notwendigen Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft begründet wird, so dass man es in eigentlichem Sinne als praktisch-regulatives Prinzip bezeichnen kann. Im §88 der Methodenlehre der Kritik der Urteilskraft nennt Kant zweimal die Konzeption des regulativen Prinzips der Handlung. Am Anfang dieses Paragraphen wird behauptet, dass die reine praktische Vernunft „im moralischen Gesetze ein regulatives Prinzip unserer Handlungen“ enthält, und dadurch „zugleich ein subjektiv-konstitutives“ Prinzip in dem Begriff des höchsten Guts gibt (KU AA 05:453). Am Ende des Hauptstücks (also nicht der Anmerkung) desselben Paragraphen wird wiederum betont: „Wenn es

5.1 Von verschiedenen Gebräuchen des Ausdrucks…

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aber auf das Praktische ankommt, so ist ein solches regulatives Prinzip (für die Klugheit oder Weisheit): dem, was nach Beschaffenheit unserer Erkenntnisvermögen von uns auf gewisse Weise allein als möglich gedacht werden kann, als Zwecke gemäß zu handeln, zugleich konstitutiv, d. i. praktisch bestimmend …“ (KU AA 05:457) In den beiden Behauptungen ist vom Prinzip der Handlungen die Rede, in dem ersten Fall von dem Grundsatz der reinen praktischen Vernunft, in dem zweiten von der Willensmaxime, die sich auf das höchste Gut richtet. Kant hat in der Kritik der praktischen Vernunft, die den moralischen Willen zur Handlung zum Thema macht, diese beiden Gesetze zwar noch nicht als regulative Prinzipien gekennzeichnet, aber wir können im Kontext der Moralphilosophie Kants den regulativen Charakter beider Sätze erklären. Die menschlichen Handlungen überhaupt können entweder von sinnlichen Trieben oder von moralischen Gesinnungen motiviert sein. Wenn also, in dem o. g. ersten Fall, der Grundsatz der reinen praktischen Vernunft die Triebfeder der Handlung wird und sich für den Menschen als kategorischer Imperativ darstellt, gilt er für die menschlichen Handlungen überhaupt als regulatives Prinzip, und zugleich für die Moralität des Menschen als konstitutives. In dem zweiten Fall wird die Handlung auf das höchste Gut bezogen, nämlich auf die der Moralität proportional entsprechende Glückseligkeit, wobei wir die Maxime zur Handlung Prinzip der „Glückwürdigkeit“ nennen können. Mit diesem Prinzip ist die Handlung des Menschen nicht nur mit der Klugheit, sondern auch mit der Weisheit verbunden.13 So wird die Handlung nach diesem Prinzip reguliert und auf den Endzweck der praktischen Vernunft gerichtet, wodurch dasselbe Prinzip als konstitutiv für den Begriff des höchsten Guts angesehen werden kann. Bei den beiden Prinzipien der Handlung drückt sich der kantische Gedanke der „praktischen Regulation“ aus, freilich nicht in dem Sinne des Praktischen überhaupt, sondern des moralischen bzw. sittlichen Praktischen. Die moralische Regulation bezieht sich auf die Handlung des Menschen, oder genauer gesagt, auf die Willkür zur Handlung, als das praktische Vermögen des Menschen, welches frei 13 Es scheint zunächst unvorstellbar zu sein, warum Kant in der zweiten Behauptung den Begriff der Klugheit mit dem der Weisheit durch die Konjunktion „oder“ zusammensetzt und die beiden Begriffe auf dasselbe Handlungsprinzip bezieht, die bei ihm schon vielfach voneinander unterschieden werden (vgl. z. B. GMS AA 04:415 ff.): Die erste bezieht sich auf die Glückseligkeit, während die zweite auf die Verbindung der Glückseligkeit mit der Moralität. Aber bei dem Fall des Handlungsprinzips sind beide Begriffe m. E. vereinbar. Die Klugheit bezieht sich auf die Glückseligkeit, aber nun, mit dem Begriff des Endzwecks der praktischen Vernunft, nicht die beliebige, sondern die der Tugend proportional entsprechende Glückseligkeit, auf welche die Weisheit per definitionem bezogen wird (vgl. KpV AA 05:130 f., s. a. Das Ende aller Dinge, AA 08:336).

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Der Begriff der praktischen Regulation bei Kant

oder nicht frei sein kann. Wir können es, mit Kants eigenem Wort, als „regulatives Prinzip für die Weisheit“ kennzeichnen. Aber ein regulatives Prinzip für die Weisheit kann nicht bloß auf die Handlungen bezogen werden müssen, die bei dem Menschen immer mit dem sinnlichen Charakter verbunden sind. Im §76 der Kritik der Urteilskraft kommt auch eine Art der praktischen. bzw. moralischen Regulation vor. In diesem bloß mit „Anmerkung“ betitelten Paragraphen, der für das Verständnis der ganzen Transzendentalphilosophie Kants einen wichtigen Hinweis gibt,14 nennt Kant dreierlei regulative Prinzipien, nämlich den Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit bei dem nicht-sinnlichen Gegenstand, die Idee der Freiheit und den Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur. Das erste und das dritte Prinzip wurden oben schon erwähnt, nämlich als die Maxime der spekulativen Vernunft und als das transzendentale Prinzip der reflektierenden Urteilskraft. Das zweite, nämlich die Idee der Freiheit, scheint zwar auch nicht neu, weil der Freiheitsbegriff schon in der Kritik der reinen Vernunft als praktisch-regulatives Prinzip gilt und als solches in der Kritik der praktischen Vernunft wiederauftaucht (also RP3). Es ist aber zu beachten, dass sich die im § 76 der Kritik der Urteilskraft genannte regulative Freiheitsidee sowohl in der Funktion als auch in der Bedeutung von jenem Prinzip der Freiheit in RP3 unterscheidet. Der neue Begriff der Freiheit fungiert nicht mehr als Erklärung der mit der Naturkausalität vereinbaren, selbst aber unbedingten intelligiblen Erstursächlichkeit der menschlichen Handlungen (um der Zuschreibung willen), sondern sie dient dazu, „die Regel der Handlungen nach jener Idee [sc. der Freiheit] für jedermann zu Geboten“ zu machen (KU AA 05:404). Auffällig ist es, dass der Freiheitsbegriff hier auf die moralischen Gebote bezogen wird. Der Begriff des „Gebots“ ist bei Kant mit dem endlichen Willen des 14 „Diese Betrachtung, welche es gar sehr verdient, in der Transzendentalphilosophie umständlich ausgeführt zu werden, mag hier nur episodisch, zur Erläuterung (nicht zum Beweise des hier Vorgetragenen), eintreten.“ (KU AA 05:401) Die Wichtigkeit dieses Paragraphen wurde in der Philosophiegeschichte aus verschiedenen theoretischen Perspektiven betont. Schon F. W. J. Schelling hat in seiner frühen Schrift bemerkt: „Vielleicht aber sind nie auf so wenigen Blattern so viele tiefe Gedanken zusammengedrängt worden, als in der Kritik der teleologischen Urtheilskraft §76 geschehen ist.“ (Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen, in: Werke, Historisch-Kritische Ausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 2, S. 175.) Auch Heidegger sieht in seiner späten Zeit die Bedeutung dieses Paragraphen für das Verständnis des Seinsbegriffs Kants (Vgl. Heidegger, M., „Kants These vom Sein“, in: Wegmarke, GA 9, Frank am Main 1976, S. 469 ff.). Eckart Förster untersucht andererseits, wie die §§ 76 und 77 große philosophische Einflüsse auf Goethe, Schelling und Hegel wirken. Vgl. Förster, E., „Die Bedeutung von §§ 76, 77 der Kritik der Urteilskraft für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie“, Zeitschrift für Philosophische Forschung, 2002, S. 169–190, 321–345.

5.1 Von verschiedenen Gebräuchen des Ausdrucks…

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Menschen eng verbunden, der an sich nicht völlig der Vernunft gemäß ist. Für einen solchen Willen ist diejenige Handlung, die objektiv als notwendig und aus der Vernunft allein entspringend gedacht wird, subjektiv aber nur zufällig, so dass sich die Bestimmung des menschlichen Willens durch die praktischen Vernunftgesetze als „Nötigung“ ausdrückt.15 In der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft wird die Freiheit im positiven Verstande als die „eigene Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft“, nämlich als „Autonomie“ derselben bezeichnet (vgl. KpV AA 05:33). Wenn der Grundsatz der reinen praktischen Vernunft nun aber nicht nur als moralisches Gesetz, sondern auch als moralisches Gebot betrachtet wird, ist darin das Bewusstsein dessen enthalten, „auch wider Neigung“ dem Gesetz Folge leisten zu müssen (vgl. GMS AA 04:416). Dieses „wenn gleich nicht unmittelbar wahrgenommene[], doch aus dem sittlichen kategorischen Imperativ richtig geschlossene[] Bewußtsein des Vermögens …, über seine [sc. des Menschen] dem Gesetz widerspenstigen Neigungen Meister zu werden“, ist nicht nur als Autonomie der praktischen Vernunft, sondern zugleich auch als Autokratie derselben zu verstehen (MST AA 06:383). Als Autonomie ist die Freiheit „die formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit dem obersten praktischen Gesetze zusammenstimmen können“ (KpV AA 05:33). Als Autokratie ist die Freiheit aber zugleich die formale Bedingung des durch die reine praktische Vernunft aufgegebenen Endzwecks (vgl. KU AA 05:404, FM AA 20:295). 16 Der Begriff der Freiheit als Autokratie gibt uns also ein praktisch-regulatives Prinzip, das sich nunmehr nicht bloß auf die Handlung des Menschen bezieht, sondern auf eine moralische Gesinnung, durch welches wir, als endliche Vernunftwesen, eine Vorstellung des kategorischen Gebots bzw. einer „moralisch-schlechthinnotwendige[n] Handlung“ haben können (KU AA 05:403). Die Beschaffenheit der Vernunftkausalität wird dadurch nicht erkannt und objektiv bestimmt; vielmehr gehen wir aufgrund dieses Begriffs über die bloße Verbundenheit mit der Kausalität der Natur hinaus, so dass wir mit dem Bewusstsein des Sollens uns „gleichsam über die Sinnenwelt selbst gänzlich erheben“ (KpV AA 05:159). Dasjenige aber, wozu wir uns dadurch erheben, ist der Endzweck der praktischen Vernunft bzw. „das höchste in der Welt mögliche Gut“. So erweist sich die autokratische Freiheit als Vermittlung des Grundsatzes der reinen praktischen Vernunft an sich selbst auf einer Seite mit dem von diesem Grundsatz aufgegebenen respektive gebotenen 15 „Die Vorstellung eines objektiven Princips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft), und die Formel des Gebots heißt Imperativ“ (GMS, AA 04:413). 16 Hierin sieht man schon die Unterschiede der schichtenreiche Begriff der Freiheit. Diesem Problem werden schon zahlreiche Forschungen gewidmet, aber nur wenige von ihnen hat den Begriff der Freiheit als Autokratie bemerkt. Hier ist kein guter Platz, auf dieses Problem weiter einzugehen. Ich werde im Kap. 7 dieser Arbeit wieder zu ihm zurückkommen.

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Der Begriff der praktischen Regulation bei Kant

Endzweck auf der anderen Seite, anders formuliert: als Übergang von der Selbstgesetzgebung der Vernunft zum Problem der praktisch-dogmatischen Metaphysik. Soweit die Weisheit in praktischer Hinsicht als „die Angemessenheit des Willens zum höchsten Gute“ bestimmt wird (KpV AA 05:131), kann ich diese Idee der Freiheit ebenfalls als „regulatives Prinzip für die Weisheit“ bezeichnen. Nun die Zusammenfassung in prägnanter Form: (RP1)

Die regulativen Prinzipien des reinen Verstandes angesichts der Synthesis der Anschauung. (Grundsätze der Verhältnis- und Modalitätskategorien)

(RP2)

Die regulativen Prinzipien der spekulativen Vernunft angesichts der regressiven Synthesis des Bedingten mit dessen Bedingung. (Seele, Welt, Gott; Prinzipien der Homogenität, etc.)

(RP3)

Das regulative Prinzip des praktischen Gebrauchs der Vernunft angesichts der Erstursächlichkeit der menschlichen Vernunft. (Die transzendentale Freiheit)

(RP4)

Das regulative Prinzip des pragmatischen Gebrauchs der Vernunft angesichts der Einheit der Mittel zur Erreichung der Glückseligkeit. (Klugheit)

(RP5)

Das regulative Prinzip der reflektierenden Urteilskraft für sich selbst angesichts der Einheit der besonderen und dem Verstand zufälligen Gesetze der Natur. (Zweckmäßigkeit der Natur überhaupt, Geschmack)

(RP6)

Die regulativen Prinzipien der theoretischen Vernunft für die reflektierende Urteilskraft angesichts der teleologischen Naturbetrachtung. (Naturzweck, Welturheber, etc.)

(RP7)

Die regulativen Prinzipien von der praktischen Vernunft für die menschlichen Handlungen sowie für das Bewusstsein der moralischen Nötigung angesichts des Realisierungsversuchs des höchsten Guts. (Freiheit als Autokratie)

Bis hierher war die Darstellung verschiedener Verwendungsarten des Terminus von „regulativem Prinzip“ in Kants Werken ausgeführt, die zwar vielleicht noch nicht alle Verwendungskontexte erschöpft, aber für den gegenwärtigen Zweck, auf die Thematisierung der „praktischen Regulation“ bei Kant vorzubereiten, schon hinreichend ist. Diese Verwendungsarten werden ihrerseits nach den Absichten geordnet,

5.2 Die Bedeutung des„Regulativen“ nach seinen Momenten

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welche die regulativen Prinzipien jeweils zu erreichen versuchen. Die Darstellung konzentriert sich auf diejenigen Gebräuche, in denen der Terminus eine positive Bedeutung hat und daher gewissermaßen als „Regulierung“ bezeichnet werden kann. Der bloße negative Gebrauch dieses Worts, ohne irgend eine regulierende Funktion auszudrücken, wird in meiner vorliegenden Arbeit nicht berücksichtigt, denn er spielt eine geringe theorienbildende Rolle in Kants eigenen Texten, noch weniger gehört er zum Thema der Begründung der objektiven Realität des praktischen Ideals (des höchsten Guts) und der praktisch-dogmatischen Metaphysik.17 Auf dem Boden dieser Darstellung möchte ich im Folgenden die Bedeutung des „regulativen Prinzips“ nach dessen wesentlichen Momenten erklären, um dadurch den Gedanken der „praktischen Regulation“ bei Kant näher zu bestimmen.

5.2

Die Bedeutung des„Regulativen“ nach seinen Momenten

Meine Erörterung beginnt mit der Diskussion mit einer typischen Deutung des Terminus „regulativ“, die in den wenigen Forschungen, die sich auf die Bedeutung des Begriffs von „regulativ“ richten, dominiert. Ich nehme Paul Guyer als Vertreter dieser Deutung.18 Er gründet auf Kants Ausdrücken in der Erörterung des regulativen Charakters der dynamischen Grundsätze (nämlich RP1 in Abschn. 5.1), die sich auf das Dasein der Gegenstände beziehen: „Allein das Dasein der Erscheinungen kann a priori nicht erkannt werden, und, ob wir gleich auf diesem Weg dahin gelangen könnten, auf irgend ein Dasein zu schließen, so würden wir dieses doch nicht bestimmt erkennen, d. i. das, wodurch seine empirische Anschauung sich von anderen unterschiede, antizipieren können.“ (KrV A 178/B 221) Davon aus vertritt Guyer die Ansicht, dass die dynamischen Grundsätze deswegen regulativ sind, weil sie ihren Gegenstand (nämlich das Dasein der Erscheinungen) nicht a

17 Der bloße negative Gebrauch des Begriffs „regulativ“ vgl. z. B. AA 06:221. Wenn man sagen muss, dass auch das bloße negative regulative Prinzip zumindest irgendeine Funktion hat, dann liegt die Funktion nur darin, „die besorglichen Anmaßungen des Verstandes, als ob er (indem er a priori die Bedingungen der Möglichkeit aller Dinge, die er erkennen kann, anzugeben vermag) dadurch auch die Möglichkeit aller Dinge überhaupt in diesen Grenzen beschlossen habe, zurückzuhalten“ (KU AA 05:167 f.). 18 Vgl. Guyer, P., Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge 1987, pp. 188 ff.

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Der Begriff der praktischen Regulation bei Kant

priori bestimmen.19 Nach dieser Interpretation sei die Regulativität eines regulativen Prinzips auf seinen a priori nicht-bestimmenden Charakter angesichts ihres Gegenstandes zurückzuführen.20 Guyers Gleichsetzung der Regulativität mit der Indeterminativität („indeterminacy“) scheint zwar prima facie attraktiv, aber sie ist in der Tat nur eine negative Beschreibung des Ergebnisses eines regulativen Prinzips in Bezug auf seinen Gegenstand und betrifft die wesentliche Charakterisierung desselben nicht – dies gilt schon bei der Erklärung der Grundsätzen des Verstandes (RP1), dem Mittepunkt von Guyers Analyse. Denn die dynamische Grundsätze (nämlich die Analogie der Erfahrung und die Postulate der empirischen Denkens überhaupt) sind nicht deswegen regulative, weil sie das Dasein der Erscheinung nicht konstruieren bzw. nicht a priori bestimmen, sondern weil sie trotz dieser Unkonstruierbarkeit des Daseins noch „auf das Verhältnis des Daseins gehen“ (KrV A 179/B 221 f.), und zwar dieses a priori bestimmen. Mit anderen Worten kennzeichnet die Indeterminativität eigentlich nur den nicht-konstitutiven Charakter des Prinzips, nicht aber die Regulativität desselben. Guyer denkt richtig, wenn er die konstitutiven Grundsätze als a priori bestimmend beschreibt, aber er soll nicht daraus einfach schließen, dass die Regulativität eines Prinzips in seinem nicht-bestimmenden Charakter liege. Seine Interpretation betrifft die eigentliche Bedeutung von „regulativ“ nicht, weder für die dynamischen Grundsätze noch für andere Prinzipien, die ich im Abschn. 5.1 aufgelistet habe. Was die Bedeutung dieses Terminus angeht, kann man aus der obigen Darstellung der Verwendungskontexte desselben in Abschn. 5.1 schon leicht einsehen, dass Kant den Begriff „regulativ“ nicht etwa im Sinne von dem In-Ordnungbringen nach jemandes bestimmtem und besonderem Wunsch verwendet, wie man aus dem heutigen Wortgebrauch von „regulieren“ oder „regeln“ leicht vermuten könnte. Das regulative Prinzip hat stets den Charakter der Allgemeinheit in sich. Dies zeigt sich auch dadurch, dass Kant sehr häufig den Ausdruck „regulativ“ mit dem Terminus „Regel“ zusammenstellt (vgl. z. B. 19 Hinsichtlich des Grundsatzes der Kausalität sagt Guyer: “That is, a principle such as that of universal causality ist merely regulative because it is indeterminate: For any given event it tells us that there is some cause or other, but not what that cause is.” (Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge 1987, p. 188.) 20 Aufgrund dieser Interpretation geht Guyer sogar weiter zur Ablehnung des kantischen Unterschieds zwischen den konstitutiven und den regulativen Prinzipien, indem er hinsichtlich des a priori nicht bestimmenden Charakters alle vier Klassen der „Grundsätze des reinen Verstandes“ als regulative deutet: “To the extent that any of these principles are valid, they are all certainly regulative in the sense defined.” Vgl. Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge 1987, p. 189.

5.2 Die Bedeutung des„Regulativen“ nach seinen Momenten

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KrV A 180/B 222, A 509/B 537, KU AA 05:404), und dass „Regeln“ bei Kant, sei es theoretisch oder praktisch, immer mit der Vorstellung der Allgemeinheit verbunden sind (vgl. KrV A 113, GMS AA 04:431). Eine Regel, generell gesagt, gibt die Art und Weise an, nach der eine Vorstellung bzw. einige Vorstellungen unter andere, allgemeine oder allgemeinere Vorstellungen subsumiert werden kann bzw. können. Trotz dieses allgemeinen Charakters ist es aber noch nicht ausgemacht, ob die Regel nur subjektiv gültig oder auch objektiv ist. Die „objektive“ Regel heißt bei Kant, sei es theoretisch oder praktisch, „Gesetz“.21 Die Gesetze, sofern sie a priori ihren Ursprung in den menschlichen Vermögen haben, sind konstitutiv für die Natur bzw. für die Moral, also entweder als die Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung oder als Bestimmungsgründe der moralischen Handlungen, wodurch das jeweilige Vermögen, nämlich der reine Verstand und die reine praktische Vernunft, für das jeweilige Gebiet als Gesetzgeber dient (vgl. KU AA 05174). Die bloß subjektiven Regeln dagegen (die also nicht objektiv gültig und mithin zu keinen Gesetzen zu zählen sind) haben keine gesetzgebende Funktion und begründen kein Gebiet der Erkenntnis; d. h., sie können an sich kein eigenes Objekt konstituieren. Dies besagt trotzdem aber nicht, dass die subjektiven Regeln mit dem Objekt gar nichts zu tun haben. Man kann, wie Kant uns mit dem Gedanken des regulativen Prinzips zeigen will, die Regeln dazu dienlich machen, dass die menschlichen Vermögen nach ihnen verfahren und sich dadurch auf das Objekt beziehen, so dass in gewissem Sinne gesagt werden kann, der diese subjektiven Regeln vorschreibende Begriff werde auf das Objekt „angewendet“. In dieser Anwendung wird das Objekt 21 „Regeln, so fern sie objektiv sind, (mithin der Erkenntnis des Gegenstandes notwendig anhängen) heißen Gesetze.“ (KrV A 126) „Es ist aber möglich, daß in der Wahrnehmung eine Regel des Verhältnisses angetroffen wird, die da sagt: daß auf eine gewisse Erscheinung eine andere (obgleich nicht umgekehrt) beständig folgt, und dieses ist ein Fall, mich des hypothetischen Urteils zu bedienen, und z. B. zu sagen, wenn ein Körper lange genug von der Sonne beschienen ist, so wird er warm. Hier ist nun freilich noch nicht eine Notwendigkeit der Verknüpfung, mithin der Begriff der Ursache. Allein ich fahre fort, und sage: wenn obiger Satz, der bloß eine subjektive Verknüpfung der Wahrnehmungen ist, ein Erfahrungssatz sein soll, so muß er als notwendig und allgemeingültig angesehen werden. Ein solcher Satz aber würde sein: Sonne ist durch ihr Licht die Ursache der Wärme. Die obige empirische Regel wird nunmehr als Gesetz angesehen, und zwar nicht als geltend bloß von Erscheinungen, sondern von ihnen zum Behuf einer möglichen Erfahrung, welche durchgängig und also notwendig gültige Regeln bedarf.“ (Prol. AA 04:312, Fettdruck v. Y. X.) „Maxime ist das subjektive Prinzip zu handeln, und muß vom objektiven Prinzip, nämlich dem praktischen Gesetze, unterschieden werden. Jene enthält die praktische Regel, die die Vernunft den Bedingungen des Subjekts gemäß (öfters der Unwissenheit oder auch den Neigungen desselben) bestimmt, und ist also der Grundsatz, nach welchem das Subjekt handelt; das Gesetz aber ist das objektive Prinzip, gültig für jedes vernünftige Wesen, und der Grundsatz, nach dem es handeln soll, d. i. ein Imperativ.“ (GMS AA 04:420 f. Anm., Kursivdruck originell, Fettdruck v. Y. X.)

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Der Begriff der praktischen Regulation bei Kant

aber nicht nach seinen Eigenschaften bestimmt, sondern in ein gewisses Verhältnis zum Vermögen des Subjekts gesetzt. Mit diesem Ins-Verhältnis-Setzen erfüllt das Vermögen sein theoretisches oder praktisches Interesse, welches nicht zufällig oder beliebig bei diesem oder jenem Menschen auftaucht, sondern für jedes Vernunftwesen, so Kant, allgemein gültig ist. Z. B. wird alle Erfahrung durch die Regel der Idee Gottes als systematisch einheitlich gedacht, wobei das allgemeine theoretische Interesse der Vernunft Befriedigung empfindet, sich der größten Einheit des Verstandesgebrauchs zu nähern, ohne aber der Erfahrung die systematische Einheit als objektive Eigenschaft beizulegen. Aus der obigen Erörterung kann man die Grundzüge einsehen, die allen oben genannten regulativen Prinzipien gemeinsam sind. Ich würde sie nun (ggf. in Vergleich zu denjenigen der konstitutiven Prinzipien) wie folgt darstellen, wobei ich sie immer an dem Fall des „RP2“ exemplifizieren werde, an dem Kant das regulierende Verfahren überhaupt am ausführlichsten und vollständigsten thematisiert hat. 1) In jedem regulativen Prinzip kommt eine Beziehung des Regulierenden auf das Regulierte vor. Das Regulierte zeigt sich als eine Synthesis, die ein synthetisches Verhältnis oder der Gebrauch eines synthetischen Vermögens sein kann und seine eigenen Regeln hat, auch wenn sie nicht reguliert wird. Ein bloß rezeptives Vermögen wie z. B. die Sinnlichkeit kann nicht als ein Reguliertes dienen, weil es keine eigene Regel hat und mithin nicht an dieser Regel reguliert werden kann. Das Regulierende aber drückt sich in einer Regel aus, die a priori vorgeschrieben wird und anders als die eigenen Regeln des Regulierten ist und der gemäß das Regulierte weiter verfährt (weiter als nach dessen eigenen Regeln). – [Im RP2: Das Regulierte ist der empirische Gebrauch der Vernunft, der ursprünglich (also ohne die Wirkung der Regulation) nur nach den Grundsätzen des reinen Verstandes verfährt. Die regulierenden Regeln sind die drei transzendentalen Ideen (Seele, Welt und Gott).] 2) In der regulierenden Regel spielt explizit oder implizit ein Interesse oder Bedürfnis der menschlichen Vernunft (im weiteren Sinne), das den Zweck des ganzen regulierenden Verfahrens bestimmt, der in jeder Regulation angetroffen werden kann. Erst durch die Verbindung mit dem Interesse oder Bedürfnis der menschlichen Vernunft gewinnt die Regulation eine zwar subjektive, aber gewisse und unleugbare Rechtfertigung, die also „subjektive Notwendigkeit“ genannt werden kann. – [Im PR2: Die Regulation der Naturforschung durch jene drei transzendentalen Ideen hat den Zweck, die Verstandeserkenntnisse so sehr wie möglich zu erweitern, was von dem spekulativen Interesse der Vernunft veranlasst ist, die höchste Einheit aller Erkenntnis zu erreichen.]

5.2 Die Bedeutung des„Regulativen“ nach seinen Momenten

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3) In der regulierenden Regel drückt sich ein Anspruch auf die objektive Realität eines Begriffs aus, also auf das Außer-dem-Begriff-Sein eines im Begriff vorgestellten Gegenstandes. Im Unterschied zu einem konstitutiven Prinzip hat das Dasein des Gegenstandes in einer regulativen Regel aber immer den Charakter des „Als-ob“. Anders formuliert kann die regulative Regel die Eigenschaften des Gegenstandes nicht bestimmen. Die objektive Gültigkeit des betreffenden Begriffs beruht auf der subjektiven Notwendigkeit der Regulation. – [Im RP2: Die drei transzendentalen Ideen haben als foci imaginarii eine „objektive, aber unbestimmte Gültigkeit“ (KrV A 663/B 691). Wir erweitern die Erkenntnis in der Naturforschung, als ob alle innere Erfahrung sich auf die einheitliche Seele zurückbeziehen könnte, als ob die Welt an sich unendlich wäre, und als ob alle Verknüpfung der Welt aus einem einzigen höchsten Wesen entsprungen wäre.] 4) Eine beschränkende Maxime für die Regulation lautet: Die Regulation kann nicht dort operieren, wo der in der regulativen Regel vorgestellte Gegenstand schon als unmöglich bewiesen worden ist. So ist das Offenbleiben der Möglichkeit des Gegenstandes eine notwendige Bedingung für die Regulation. – [Im RP2: Die Nicht-Unmöglichkeit einer einheitlichen Seele, der unendlichen Welt und des Daseins Gottes wird in der kritischen Betrachtung des transzendentalen Scheins auch mitbewiesen, so dass man sie noch als zumindest denkbar und möglich ansehen darf.] 5) Die Regulation führt zu einer Folge, die in der Tat von der regulierten Synthesis zustande gebracht wird. Ohne die betreffende Regulation könnte diese Folge nicht einmal durch die eigenen Regeln jener (aber unregulierten) Synthesis selbst stattfinden. In einem Wort: durch die Regulation kann die menschliche Vernunft etwas anderes erledigen, als wenn sie ohne solche Regulation verfährt. – [Im RP2: Durch den Gebrauch der Verstandesgrundsätze allein bleiben wir bei dem Erkennen dessen stehen, was uns erfahrbar ist. Mit den drei regulativen Ideen dürfen wir die verstreuten Erfahrungserkenntnisse auf bestimmte Weisen so viel wie möglich verknüpfen.22 ] Aus diesen Grundzügen aller regulativen Prinzipien überhaupt kann man ohne Schwierigkeit die wesentlichen Momente derselben ableiten, die ich folgend nenne: a) Die regulative Regel a priori, in der ein Gegenstand vorgestellt, aber nicht dadurch bestimmt wird; 22 „…

aller Ideen der spekulativen Vernunft … als regulativer Prinzipien der empirischen Erkenntnis überhaupt, welche dadurch in ihren eigenen Grenzen mehr angebauet und berichtigt wird, als es ohne solche Ideen durch den bloßen Gebrauch der Verstandesgrundsätze geschehen könnte.“ (KrV A 671/B 699)

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b) Die regulierte Synthesis, die an ihrem eigenen Objekt so verfährt, als ob der in der regulativen Regel vorgestellte Gegenstand existieren würde; c) Der Zweck der Regulation oder das darin enthaltene Bedürfnis der Vernunft, wobei die subjektive Notwendigkeit, solche Regulation durchzuführen, ausdrücklich gemacht werden kann; d) Die Folge der Regulation, welche die Leistung der regulierten Synthesis offenbar macht. Alle oben genannten Arten der Regulation nun nach diesen vier wesentlichen Momenten wiederholt zu erklären, ist zwar auch von Bedeutung, aber keine Aufgabe meiner gegenwärtigen Arbeit. Wichtiger ist es nun, mit diesen Momenten die Definition für das regulative Prinzip überhaupt herzuleiten, die Kant selber zwar angedeutet, aber niemals deutlich und ausführlich zur Sprache gebracht hat. (Definition des regulativen Prinzips) Mit einem regulativen Prinzip soll eine Synthesis an ihrem eigenen Objekt, aber gemäß einer a priori vorgeschriebenen Regel, die anders als ihre eigenen Regeln ist, so verfahren, als ob der in jener Regel vorgestellte Gegenstand existieren würde, um ein subjektiv notwendiges Bedürfnis der menschlichen Vernunft zu befriedigen. Dadurch geschieht eine neue Folge, die ohne solche Regulation nicht stattfinden kann. Der in der regulierenden Regel vorgestellte Gegenstand wird dadurch aber nach seinem Dasein und seinen Eigenschaften gar nicht bestimmt. (Dagegen hängt das konstitutive Prinzip wenig von dem Bedürfnis der menschlichen Vernunft ab. Vielmehr dient es zur Gesetzgebung der menschlichen Vernunft für gewisse Gebiete, denn mit dem konstitutiven Prinzip wird der betreffende Gegenstand bestimmt.) Im Folgenden werde ich aus dieser Definition die kantische Konzeption der rein praktischen Regulation charakterisieren, die das Hauptthema des vorliegenden Teils ist. D. h. ich werde mich weder auf die von Kant genannten praktisch-regulativen Prinzipien beschränken, noch auf die schon von ihm gegebene Entwicklung dieser Prinzipien, sondern ich werde meine Analyse vor allem auf jene Definition und die vier wesentlichen Momente der Regulation überhaupt gründen, um dann auch die unerwähnten Ideen von Unsterblichkeit und Gott als praktische regulative Prinzipien zu thematisieren und die vollständige Konzeption der praktischen Regulation darzustellen.

5.3 Die Momente der rein praktischen Regulation

5.3

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Die Momente der rein praktischen Regulation

Wir haben nun verschiedene Arten von Regulationen und eine generelle Definition dafür, in der die vier wesentlichen Momente des regulativen Prinzips überhaupt mitgezeigt werden. Wir könnten vielleicht jedes beliebige von diesen vier Momenten als Kriterium nehmen, um die Arten der Regulationen voneinander zu unterscheiden. Aber das Moment des Bedürfnisses der menschlichen Vernunft oder das der „subjektiven Notwendigkeit“ spielt dafür im Vergleich zu anderen Momenten die entscheidende Rolle, denn eben dieses Bedürfnis veranlasst das ganze regulative Verfahren und gibt an, inwiefern dieses Verfahren für uns gültig und notwendig ist. Es kennzeichnet den Zweck, um dessen willen eine Synthesis durch eine ihr fremde Regel reguliert wird und eine besondere Folge zustande bringt. So darf man sagen, dass die „subjektive Notwendigkeit“ den ersten Unterscheidungsgrund für die Arten der Regulation und das erste Merkmal des jeweiligen regulativen Prinzips ausmacht, wie es schon in der Weise der Aufzählung verschiedener regulativer Prinzipien bei Kant in dem Abschn 5.1 angedeutet wurde.

5.3.1 „Subjektive Notwendigkeit“ Was aber bedeutet eigentlich der Ausdruck „subjektive Notwendigkeit“? Offenbar steht sie in Gegensatz zur „objektiven Notwendigkeit“. Aber dieser bloß formale Gegensatz reicht nicht zu, die Bedeutung der „subjektiven Notwendigkeit“ klar zu machen, zumal Kant diesen Terminus entwicklungsgeschichtlich vieldeutig gebraucht hat, ohne auf diese Vielfältigkeit einzugehen. Ich möchte also im Folgenden diesen Terminus in den einschlägigen Zusammenhängen analysieren, um darauf vorzubereiten, die Besonderheit der subjektiven Notwendigkeit der rein praktischen Regulation zu kennzeichnen, damit ich den Begriff dieser Regulation im Wesentlichen charakterisieren kann. (1) Zunächst bezieht sich der Gebrauch dieses Terminus in der Kritik der reinen Vernunft (1781 sowie 1787) und in den Prolegomena (1783) meistens auf die Kennzeichnung einer Gewohnheit, die bloß in der Brauchbarkeit des Subjekts gegründet wird und mithin ungesetzlich ist (vgl. KrV B 168, A 760/B 788, Prol. AA 04:258). Dies gehört zum Kontext der Verteidigung für die Grundsätze des Verstandes gegen David Humes Einwände. In diesem Sinne lässt sich der Ausdruck „notwendig“ vor allem besser als „nötig“ oder „nicht-überflüssig“

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Der Begriff der praktischen Regulation bei Kant

verstehen denn als „unvermeidlich“. Man kann diese also als „psychologische subjektive Notwendigkeit“ bezeichnen.23 (2) Eine Ausnahme in der Kritik der reinen Vernunft befindet sich in der Erklärung des transzendentalen Scheins (in der Einleitung der transzendentalen Dialektik), den Kant dort darauf zurückführt, dass „in unserer Vernunft (subjektiv als ein menschliches Erkenntnisvermögen betrachtet) Grundregeln und Maximen ihres Gebrauchs liegen, welche gänzlich das Ansehen objektiver Grundsätze haben“, und dass „die subjektive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe, zu Gunsten des Verstandes, für eine objektive Notwendigkeit, der Bestimmung der Dinge an sich selbst, gehalten wird“ (KrV A 297/B 353, Herv. von Y. X.). Die subjektive Notwendigkeit bezieht sich nun nicht mehr auf die ungesetzliche Gewohnheit, die in der Erfahrungserkenntnis des Verstandes spielt, sondern auf die Vernunftregeln der Verknüpfung der Begriffe „zu Gunsten des Verstandes“, die später im Anhang der transzendentalen Dialektik als regulative Vernunftideen weiter entfaltet werden. Diese Bedeutung der subjektiven Notwendigkeit wird in den späteren Texten Kants verbreitet gebraucht. Im § 76 der Kritik der Urteilskraft wird sie ausdrücklicher mit dem Gedanken des regulativen Prinzips verbunden, wo die Rede von der Notwendigkeit des Unterschieds zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit ist: „Hierbei gilt nun immer die Maxime, daß wir alle Objekte, da wo ihr Erkenntnis das Vermögen des Verstandes übersteigt, nach den subjektiven, unserer (d. i. der menschlichen) Natur notwendig anhängenden, Bedingungen der Ausübung ihrer Vermögen denken; und, wenn die auf diese Art gefällten Urteile (wie es auch in Ansehung der überschwenglichen Begriffe nicht anders sein kann) nicht konstitutive Prinzipien, die das Objekt, wie es beschaffen ist, bestimmen, sein können, so werden es doch regulative, in der Ausübung immanente und sichere, der menschlichen Absicht angemessene, Prinzipien bleiben.“ (KU AA 05:403, Herv. von Y. X.)

Die subjektive Notwendigkeit wird dabei deutlich den „Bedingungen der Ausübung“ der menschlichen Vermögen zugeschrieben, die unter diesen Bedingungen

23 Vgl.

Koch, Anton: Subjekt und Natur. Zur Rolle des Ich-denke bei Descartes und Kant. Paderborn 2004, S. 136: Bei Hume bedeutet die subjektive Notwendigkeit die Gewohnheit, was eigentlich psychologisch ist; bei Kant ist sie [in dem folgend von mir zu erörternden Sinne, Y. X.] dagegen eine apriorische, logisch begründete Notwendigkeit, ob sie zwar nichts mit dem realen Gebrauch in der Bildung der Erkenntnis zu tun hat.

5.3 Die Momente der rein praktischen Regulation

143

das Objekt mit seinen Begriffen „denken“, obgleich nicht „erkennen“ können.24 Da diese subjektive Notwendigkeit auf dasjenige Interesse der menschlichen Vernunft zurückgeht, das zwar allgemein (also nicht beliebig und bloß privatgültig) ist, aber noch mit der sinnlich gerichteten Intention der Vernunft (wie. z. B. alle Erkenntnis der Sinnenwelt auf die höchste systematische Einheit zu beziehen) verbunden wird, nenne ich sie mit Kants eigenem Wortgebrauch „hypothetische subjektive Notwendigkeit“.25 (3) In der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft (1788) entwickelt Kant einen dritten, aber strengeren Begriff der subjektiven Notwendigkeit: „Hier ist nun ein, in Vergleichung mit der spekulativen Vernunft, bloß subjektiver Grund des Fürwahrhaltens, der doch einer eben so reinen, aber praktischen Vernunft objektiv gültig ist, dadurch den Ideen von Gott und Unsterblichkeit vermittelst des Begriffs der Freiheit objektive Realität und Befugnis, ja subjektive Notwendigkeit (Bedürfnis der reinen Vernunft) sie anzunehmen verschafft wird, ohne daß dadurch doch die Vernunft im theoretischen Erkenntnisse erweitert, …“ (KpV AA 05:4, Kursivdruck original, Fettdruck d. Verf.)

Demnach ist die Annahme der transzendenten Gegenstände insofern als subjektiv notwendig anzusehen, als sie von nichts anderem als dem „Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft“ ausgeht. Es ist weder beliebiges und zufälliges Interesse, noch auf „hypothetischer Notwendigkeit“ beruhend, sondern „auf einer Pflicht 24 In diesem Sinne darf man die dynamischen Grundsätze des reinen Verstandes als „Nichtstandard-Regulation“ bezeichnen, weil sie ihre objektive Gültigkeit durch die transzendentale Deduktion mit bewiesen werden, ohne dass hinsichtlich ihres regulativen Charakters einen weiteren Beweis angeboten wird. 25 Mit dem Wort „hypothetischnotwendig“ bezeichnet Kant die Allgemeinheit des Fürwahrhaltens: „Wenn einmal ein Zweck vorgesetzt ist, so sind die Bedingungen der Erreichung desselben hypothetischnotwendig. Diese Notwendigkeit ist subjektiv, aber doch nur komparativ zureichend, wenn ich gar keine anderen Bedingungen weiß, unter denen der Zweck zu erreichen wäre; aber sie ist schlechthin und für jedermann zureichend, wenn ich gewiß weiß, daß niemand andere Bedingungen kennen könne, die auf den vorgesetzten Zweck führen. Im ersten Falle ist meine Voraussetzung und das Fürwahrhalten gewisser Bedingungen ein bloß zufälliger, im zweiten Falle aber ein notwendiger Glaube.“ (KrV A 823 f./B 851 f. Herv. von Y. X.) Siehe auch: „Wenn ich das bloß theoretische Fürwahrhalten hier auch nur Hypothese nennen wollte, die ich anzunehmen berechtigt wäre, so würde ich mich dadurch schon anheischig machen, mehr, von der Beschaffenheit einer Weltursache und einer anderen Welt, Begriff zu haben, als ich wirklich aufzeigen kann; denn was ich auch nur als Hypothese annehme, davon muß ich wenigstens seinen Eigenschaften nach so viel kennen, daß ich nicht seinen Begriff , sondern nur sein Dasein erdichten darf.“ (KrV A827/B 855,) Aber es steht im strengen Gegensatz zu dem mit Pflicht verbundenen „Postulat“ (vgl. KpV AA 05:126, 142).

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5

Der Begriff der praktischen Regulation bei Kant

gegründet, etwas (das höchste Gut) zum Gegenstande meines Willens zu machen, um es nach allen meinen Kräften zu befördern“ (KpV AA 05:142).26 Dies bedeutet, dass nur dasjenige als eigentlich subjektiv notwendig betrachtet werden kann, was a priori auf die Idee des höchsten Guts und dessen objektive Realität Bezug nimmt. Kant verbindet diesen später entwickelten engeren Begriff der subjektiven Notwendigkeit mit seiner Theorie des Vernunftglaubens, die er in der ersten Kritik noch unter dem Titel des „moralischen Glaubens“ behandelt und in der Kritik der Urteilskraft und der Logik-Vorlesung ausführlich darstellt.27 Gegenstände des Vernunftglaubens sind diejenigen, welche den theoretischen Gebrauch der Vernunft (sie zu erkennen oder zu verleugnen) übersteigern, und nur „in Beziehung auf den pflichtmäßigen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft (es sei als Folgen oder als Gründe) a priori gedacht werden müssen“ (KU AA 05:469). Zu Gegenständen des Vernunftglaubens gezählt werden daher keine Objekte der empirischen Erkenntnis noch die der apriorischen Vernunfterkenntnis, die nämlich als Sachen des Wissens zu verstehen sind. Beim Vernunftglauben hat man auch nichts zu meinen, wobei man zufällig etwas innerhalb der möglichen Erfahrung als existent oder nicht existent vermutet, sondern man hält dabei etwas subjektiv notwendig für wahr, und zwar mit moralischer Gewissheit (vgl. KrV A 829/B 857), indem 26 Offenbar lässt sich entwicklungsgeschichtlich vermuten, dass Kant erst dann diesen dritten Begriff der subjektiven Notwendigkeit gewinnt, wenn er den Begriff der Pflicht in der zweiten Kritik durch die Konzeption des Faktums der reinen Vernunft begründet. 27 Entwicklungsgeschichtlich gesehen tritt schon in dem Kanon-Kapitel (3. Abschnitt) der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft der Begriff des Glaubens als Modus des Fürwahrhaltens, neben Wissen und Meinen, auf, der dort noch in den pragmatischen, doktrinalen und moralischen Glauben eingeteilt werden kann. Der pragmatische Glaube an eine Sache ist mit einem vorgegebenen Zweck verbunden, zu welchem diese Sache als Bedingung in Praxis notwendig ist. Diese Notwendigkeit ist aber dabei nur privat, weil ich dazu gar nichts von anderen Bedingungen weiß; d. h., sie hängt von dem kontingenten Erkenntniszustand des urteilenden Subjekts ab. Der pragmatische Glaube hat daher immer Zufälligkeit in sich, die durch den Grad eingesehen werden kann, der „nach Verschiedenheit des Interesses, das dabei im Spiele ist, groß oder auch klein sein kann“, wie Kant uns in dem Beispiel des Wettens zeigt (KrV A 825/B 853). Im doktrinalen Glauben drückt sich die „Bescheidenheit in objektiver Absicht“ und doch zugleich die „Festigkeit des Zutrauens in subjektiver“ Absicht. Die Gegenstände des doktrinalen Glaubens liegen außer unserer (zumindest aktuellen) Erfahrung, aber sie haben die Besonderheit in sich, dass man in der Erfahrung irgendeinen Hinweis auf sie entdecken kann, so dass man diesen Hinweis als Mittel ansehen darf, die Gewissheit der Gegenstände auszumachen (vgl. KrV A 825/B 853). Bei einem solchen Glauben geht es aber um das theoretische Interesse, welches dennoch nicht dazu dient, die Möglichkeitsbedingung der Natur zu erklären, sondern als „eine Leitung in der Naturforschung“, wovon die „Brauchbarkeit“ jener Gegenstände dargestellt wird (KrV A 826/B 855). Nur der moralische Glaube, der auf dem moralischen Gebot gründet, ist der hier zu thematisierende Vernunftglaube.

5.3 Die Momente der rein praktischen Regulation

145

man dieses Fürwahrhalten mit demjenigen in Verbindung setzt, das als Objekt zu befördern von dem obersten reinen praktischen Grundsatz geboten ist. Als praktische Annahme von der Pflicht sind die transzendenten Gegenstände zwar keine Tatsachen (KU AA 05:470), und diese Annahme ist zwar auch „nicht so, wie die Pflicht selbst, praktisch notwendig“ (KU AA 05:471), aber sie ist „in der Vernunft (obwohl nur in Ansehung ihres praktischen Gebrauchs) für die Absicht derselben hinreichend gegründet“ (KU AA 05:472) und gilt als „casus extraordinarius, ohne welchen die praktische Vernunft sich nicht in Ansehung ihres notwendigen Zwecks erhalten kann“ (Logik, AA 09:68 Anm.) Da nun diese subjektive Notwendigkeit mit dem Begriff der (moralischen) Pflicht so eng verbunden ist und einen „höheren“ Gewissheitsstatus hat, würde ich sie als „verpflichtende subjektive Notwendigkeit“ bezeichnen. Offenkundig wird die zu thematisierende „rein praktische Regulation“ erst durch den dritten, und zwar den „verpflichtenden“ Begriff der subjektiven Notwendigkeit charakterisiert, sofern sie auf der Pflicht des moralischen Subjekts beruht. Diesen mit der verpflichtenden subjektiven Notwendigkeit verbundenen Vernunftglauben bezeichnet Kant auch als „Postulat der reinen Vernunft“, in dem die drei übersinnlichen Gegenstände (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit) aus dem Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft notwendig anzunehmen sind, aber nicht angesichts ihrem inhaltlichen Was-Sein und existentiale Dasein, sondern angesichts ihres Bezugs auf die Verwirklichung des höchsten Guts. Auf diese Weise hängt die reine praktische Regulation mit der Postulatenlehre zusammen, aber diese beiden haben jeweils verschiedene theoriebildende Absichten: In der reinen praktischen Regulation wird die Beziehung des Übersinnlichen auf die Natur deutlich thematisiert, während diese Beziehung nur implizit in der Postulatenlehre mitgedacht wird. Daher steht die reine praktische Regulation im Vordergrund des metaphysischen Problems nach Kants Konzeption, und die Postulatenlehre ist eigentlich ein wesentlicher Bestandteil der Theoriebildung der rein-praktischen Regulation. Wie aber die verpflichtende subjektive Notwendigkeit durch die Postulatenlehre in die rein-praktische Regulation einbezogen wird, werde ich in dem nächsten Kapitel über die transzendentale Deduktion dieser Regulation behandeln. Nun möchte ich zunächst auf andere Momente dieser Regulation gehen, um endlich eine vollständige Bestimmung derselben zu gewinnen.

5.3.2

Definition der rein praktischen Regulation

Wir betrachten zuerst die regulierende Regel dieser Regulation. In der Analyse von RP7 haben wir schon die regulative Idee der Freiheit. Durch die Erklärung des

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Der Begriff der praktischen Regulation bei Kant

Begriffs der subjektiven Notwendigkeit wird angedeutet, dass neben der Idee der Freiheit noch andere als Postulate geltende Ideen, nämlich die Gottes und der Unsterblichkeit, auch zu den rein praktischen regulierenden Regeln gehören können. Ist die Idee des höchsten Guts, deren Bedürfnis das ganze Verfahren der Regulation veranlasst, selbst auch eine regulative Regel? Im strengen Sinne: Nein. Denn in der Idee des höchsten Guts wird zwar auch ein Gegenstand vorgestellt, der über das Erkenntnisvermögen der Menschen hinaus liegt, aber wenn man sie als eine regulative Idee betrachten würde, wäre der Zweck dieser Regulation eigentlich das Selbe mit der regulierenden Regel, d. h., man könnte die Momente des Zwecks und der regulierenden Regel nicht voneinander trennen. Andererseits wäre auch zwischen den Momenten der regulierten Synthesis und der Folge nichts zu unterscheiden, weil die betreffende Synthesis eben die Postulate der Existenz der Gegenstände jener drei Ideen (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit) ist – wenn man das Postulieren als Synthesis betrachtet – und die dadurch entstehende Folge nichts anderes als die Existenz jener Gegenstände ist. Also ist die Idee des höchsten Guts im strengen Sinne keine regulative Idee, die ich unter „rein praktischer Regulation“ thematisieren möchte; vielmehr drückt sie das Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft aus, aus dem her jene Regulation als subjektiv notwendig betrachtet wird.28 Als rein praktische regulative Ideen haben wir also drei: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, die Kant auch als „Endabsicht der Metaphysik“ bezeichnet (vgl. Abschn. 2.2).29 Nun ist zu fragen, was dabei die regulierte Synthesis ist. Anders formuliert: welche Synthesis kann durch jene drei praktischen Ideen reguliert werden? Im § 88 der Kritik der Urteilskraft spricht Kant, in Bezug auf den moralischen Gottesbeweis, von der „praktisch-reflektierenden Urteilskraft“, die mit der moralischen Teleologie zusammenhängt, die durch den Begriff des Endzwecks der Schöpfung möglich ist.30 Wir können daraus einsehen, dass das reflektierende Urteil der Natur die gesuchte „regulierte Synthesis“ ist. Denn die reflektierende Urteilskraft ist zwar mit ihrem Prinzip der formalen Zweckmäßigkeit autonom, aber sie allein reicht

28 Ähnlich betrachten wir in RP2 die Idee der höchsten Vernunfteinheit aller Erkenntnis nicht als regulative Idee als solche, sondern nur als den Ausdruck des spekulativen Interesses der Vernunft, das die regulativen Ideen des Unbedingten (Seele, Welt und Gott) möglich und subjektiv notwendig macht. 29 Die Erläuterung davon, warum eben diese drei Ideen und nicht vielmehr andere als reinpraktische regulative Ideen gelten, gehört zur Aufgabe des 7. Kapitels. 30 „Für die theoretisch-reflektierende Urteilskraft bewies die physische Teleologie aus den Zwecken der Natur hinreichend eine verständige Weltursache; für die praktische bewirkt dieses die moralische durch den Begriff eines Endzwecks, den sie in praktischer Absicht der Schöpfung beizulegen genötigt ist.“ (KU AA 05:456, Herv. von Y. X.)

5.3 Die Momente der rein praktischen Regulation

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nicht zu, eine moralische Teleologie zu begründen, weil es dafür eines Vernunftbegriffs des Zwecks bedarf, und zwar eines Begriff des Endzwecks der Schöpfung, der ohne die Mitarbeit der praktischen Vernunft nicht möglich ist (Vgl. Abschn. 4.1.2 meiner Arbeit). Die Reflexion der Natur verfährt nun nicht mehr durch ihr eigenes Prinzip der formalen Zweckmäßigkeit, sondern durch die Regulation der praktischen Vernunft, besser, der drei praktischen Ideen des Übersinnlichen. Wie aber alle drei Ideen des Übersinnlichen in diese Regulation einbezogen werden, werde ich später im Kap. 7 ausführen. Nun wurden der Zweck der Regulation, die regulierenden Prinzipien und die regulierte Synthesis festgelegt. Welche Folge wird durch diese Regulation hervorgebracht? Die Reflexion nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit bewirkt entweder eine ästhetische oder eine logische, besser teleologische Vorstellung der Natur (Vgl. Abschn. 4.1.1). In der praktisch regulierten Reflexion ist nun die Teleologie keine physische, sondern eine moralische, in der „die wechselseitige Beziehung der Welt auf jenen sittlichen Zweck [sc. ‚einen Endzweck, der von uns in der Welt beabsichtigt werden muß‘] und die äußere Möglichkeit seiner Ausführung“ zum Inhalt macht (KU AA 05:447 f.). Die Natur wird also in der moralischen Teleologie als dem praktischen Ideal gemäß vorgestellt, sodass die „Nomothetik der Freiheit“ mit „der der Natur“ harmonisch zusammenkommen kann (KU AA 05:448). D. h., die Gesetzgebung der Natur und die der Freiheit sind zwar voneinander unabhängig, aber sie können zueinander zusammenstimmen. In diesem Sinne wird die Natur in der praktisch-reflektierenden Urteilskraft neu gedacht, was weder durch die Operation des Verstandes nach der synthetischen Einheit der Apperzeption allein noch durch die theoretisch-reflektierende Urteilskraft in der physischen Teleologie stattfindet. Freilich ist die moralische Teleologie, wie die physische, nicht zur objektiven Erkenntnis der Naturerscheinungen zu zählen, mithin keine theoretische Bestimmung derselben. Nun sind alle vier Momente der praktischen Regulation klar geworden. Mit diesen vier Momenten darf man schließlich, der allgemeinen Definition des regulativen Prinzips überhaupt entsprechend, eine spezifische Definition für die reine praktische Regulation ausdrücken. (Definition der reinen praktischen Regulation) In der reinen praktischen Regulation soll die reflektierende Urteilskraft nach den Regeln der praktischen Ideen des Übersinnlichen (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit), und zwar nicht nach ihrem eigenen Prinzip der bloß formalen Zweckmäßigkeit, an den Naturerscheinungen im Ganzen so verfahren, als ob Gott existierte, als ob der Mensch frei und in seiner Personlichkeit unsterblich wäre, um das notwendige Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft zu befriedigen, das höchste Gut

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5

Der Begriff der praktischen Regulation bei Kant

zu verwirklichen. Dadurch geschieht eine neue Auffassung der Gesetzlichkeit der Natur, ohne eine theoretisch-objektive Bestimmung derselben anzugeben. Und die drei Gegenstände der Ideen werden dadurch auch nicht an ihrem Dasein und ihren Eigenschaften bestimmt. Es ist leicht zu bemerken, dass diese Definition freilich noch nicht wohlbegründet wird und dass sie mit der Festlegung aller vier Momenten nur eine Anzeige darauf ist, wie man der praktischen Regulation weiter nachgehen soll. Ich möchte in den folgenden beiden Kapiteln nach dieser Definition das Grundverfahren der praktischen Regulation bei Kant im Einzelnen analysieren und die Beziehung derselben auf die kantische Konzeption der „eigentlichen Metaphysik“ zeigen. Ich möchte hier kurz ankündigen, dass das 6. Kapitel die sogenannte „transzendentale Deduktion“ der praktischen Regulation behandelt, wobei vor allem das Moment des Regulationszwecks und das der regulierten Synthesis in der reflektierenden Urteilskraft mitthematisiert werden. Das 7. Kapitel mit der Aufgabe der Systematisierung der Ideen des Übersinnlichen macht u. a. das Moment der regulierenden Regel und das der Regulationsfolge zum Inhalt.

6

Die Transzendentale Deduktion der Ideen des Übersinnlichen als praktisch-regulierender Prinzipien

Es wird in dem letzten Kapitel gezeigt, was überhaupt eine reine praktische Regulation ist und wie sie aufgrund des Bedürfnisses der reinen praktischen Vernunft eine subjektive Notwendigkeit in sich hat, die ich „verpflichtende“ nennen will. Es stellt sich dann die Frage, wie die praktische Regulation gerechtfertigt werden soll. Sie bezieht sich in der Tat auf die Grundfrage der eigentlichen Metaphysik, die nach der objektiven Realität der Ideen des Übersinnlichen gestellt wird. Wenn nun Kant, wie erwähnt, in einer Notiz schreibt: „Wie sind synthetische Sätze des Übersinnlichen möglich? Als regulative Principien der praktischen Vernunft.“ (Vorarbeiten zu Die Metaphysik der Sitten, AA 23:359), dann kann jene Grundfrage neu formuliert werden: wie die Ideen des Übersinnlichen als rein-praktische Regulation, die eine verpflichtende subjektive Notwendigkeit hat, auch die objektive Realität haben. Nach der Definition der praktischen Regulation, die in dem letzten Kapitel aufgezeigt wurde, wird eine moralisch zweckmäßige Natur als deren Folge auftreten. Damit werden die Ideen des Übersinnlichen auf die Natur, die sinnlich ist, bezogen, so dass ihre objektive Realität in dem eigentlichen Sinne nicht allein in dem Moralischen, sondern auch in dem Sinnlichen dargelegt werden muss. Ich möchte im vorliegenden Kapitel die Rechtfertigung der praktischen Regulation thematisieren, durch welche die Ideen des Übersinnlichen ihre objektive Realität in der Natur darstellen können. Da die Auflösung der Problematik über die objektive Gültigkeit apriorischer Regeln überhaupt bei Kant stets durch eine Deduktion entfaltet wird, darf man die Aufgabe des vorliegenden Kapitels ebenso als „Deduktion“ bezeichnet. Da Kant selber in seinen Werken eine solche Deduktion der praktisch-regulativen Ideen des

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Y. Xie, Praktische Regulation der Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62252-0_6

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Die Transzendentale Deduktion der Ideen ...

Übersinnlichen niemals deutlich ausgeführt hat1 , ist es bei uns nun nötig, diese Deduktion aus unseren eigenen Kräften aufzubauen, um die objektive Gültigkeit der Vernunftbegriffe des Übersinnlichen, die nun als reine praktische Regulation gelten sollen, zu rechtfertigen. Zu zeigen ist es, dass hier, wie in anderen Fällen bei Kant, die transzendentale Deduktion von der metaphysischen getrennt behandelt wird. Im vorliegenden Kapitel konzentriere ich mich bloß auf die transzendentale Deduktion, nämlich die Rechtfertigung der praktisch-regulativen Funktion der Ideen des Übersinnlichen überhaupt, ohne aber anzugeben, welche Ideen des Übersinnlichen solche Funktion haben und warum. Diese Angabe gehört zur Aufgabe des nächsten Kapitels. Bevor ich aber die transzendentale Deduktion durchführe, werde ich zunächst ihre Aufgabe nach den Besonderheiten der praktisch-regulativen Prinzipien festlegen, wobei ich zu zeigen versuche, inwiefern diese Rechtfertigung „transzendental“ ist und wie sie sich gliedern soll.

6.1

Die Aufgabe einer transzendentalen Deduktion der praktisch-regulativen Ideen des Übersinnlichen

An den Stellen, wo die objektive Gültigkeit der apriorischen Regeln bewiesen werden muss, was als die allgemeine und auch sozusagen die entscheidendste Aufgabe der Transzendentalphilosophie angesehen werden soll, ist bei Kant immer einer Deduktion bedürftig. So befindet sich die Deduktion z. B. für die Kategorien und für die transzendentalen Ideen in der ersten Kritik, für den Freiheitsbegriff in der Grundlegung, für das moralische Gesetz (welche aber Kant zufolge unmöglich ist) und für das höchste Gut in der zweiten, für das reine ästhetische Urteil des Schönen in der dritten Kritik. Kant hat selber keine ausführliche Erklärung dafür angegeben, wie eine Deduktion für die Regeln a priori verfahren soll, aber nur angedeutet, dass sich eine Deduktion auf keine Frage nach der Tatsache, sondern auf die Frage nach der Rechtfertigung, auf das quid juris bezieht. (Vgl. KrV A 84/B 116). Nach Dieter Henrichs Untersuchung des Verhältnisses der philosophischen Deduktion Kants zu den allgemeinen „Deduktionsschriften“ im juristischen Bereich des 18. Jahrhunderts wird uns nun deutlich, dass die kantische Deduktion, welche auf die Legitimität der Anwendung der Regeln abzielt, auf die Erklärung des Ursprungs des mit diesen

1 Kant

hat, hinsichtlich unseres Themas der Deduktion des rein praktischen regulativen Prinzips, nur einmal den Versuch unternommen, in dem er das Postulat des Gottes als notwendig beweist und diesen Beweis als „Deduktion“ bezeichnet. (Vgl. KpV AA 05:126)

6.1 Die Aufgabe einer transzendentalen Deduktion …

151

Regeln ausgedrückten Anspruchs zurückzuführen ist.2 Dies macht auch verständlich, warum das Problem der Deduktion der Kategorien in der Kritik der reinen Vernunft so eng mit der Untersuchung des Ursprungs derselben zusammengeht. Es ist aber nun zu bemerken, dass Kant die Deduktionen unterschiedlicher Regeln nicht immer nach derselben Struktur organisiert und verfasst. Für die konstitutiven Prinzipien, beispielsweise die Kategorien, die für den Gegenstand der sinnlichen Erfahrung konstitutiv gelten, wird die transzendentale Deduktion in der Weise ausgeführt, dass die Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung überhaupt bewiesen werden – indem die objektive Einheit der empirischen Anschauung, die den Grund der Erfahrung ausmacht, nur mit den Kategorien entstehen kann. Diese Einheit hat aber ihrerseits die Wurzel in der ursprünglichen synthetischen Handlung der transzendentalen Apperzeption, die sich in der figürlichen Synthesis auf die raumzeitlichen Gegebenheiten bezieht (vgl. KrV B 151). Die Untersuchung des apriorischen Ursprungs der Objektivität der kategorialen Einheit trägt also zur Rechtfertigung der reinen Verstandesbegriffe als der von Erfahrung unabhängigen Bedingungen des Erfahrbaren und daher zur Rechtfertigung von deren Gegenstandbezug bei. Mit den Deduktionen für die regulativen Prinzipien hat es aber eine andere Bewandtnis; ihre Beweisstruktur soll sich auf andere Weise gliedern. Denn bei diesen Deduktionen kommt es nicht darauf an, dass die betroffenen Prinzipien die Gründe der Gebietsbildung ihrer Gegenstände ausmachen und mithin gesetzgebend sind, sondern vielmehr darauf, dass der Gegenstandsbezug dieser Regulation zwar keinen Gegenstand bestimmt, aber für einen allgemeinen Zweck des Erkenntnisvermögens notwendig ist, wie es bei der Deduktion der regulativen Ideen der theoretischen Vernunft im Anhang der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft (vgl. RP2 in Abschn. 5.1) sowie bei der Deduktion des Prinzips der Zweckmäßigkeit der Natur für die reflektierende Urteilskraft in der Einleitung der Kritik der Urteilskraft (vgl. RP5 in Abschn. 5.1) ganz deutlich gezeigt wird. Hinsichtlich dessen spielt dabei die Untersuchung des Ursprungs des Anspruchs der zu deduzierenden Regeln eine andere Rolle als bei den Deduktionen der konstitutiven Prinzipien. Denn der Ursprung des objektiven Anspruchs eines regulativen Prinzips erweist sich als nur in dem Interesse des subjektiven Erkenntnisvermögens bestehend, so dass diesem Prinzip eine bloß subjektive, obschon allgemeine Notwendigkeit zugeschrieben wird. Es kann sich nicht auf die basalen Aktivitäten des Vermögens zurückziehen, mit denen ein realer und bestimmender Gegenstandbezug 2 Vgl. Henrich, D., “Kant’s Notion of a Deduction and the Methodological Background of the

First Critique”, in: Föster, E. (ed.): Kant’s Transcendental Deductions: The Three Critiques and the Opus Postumum, California 1989, pp. 29–46. insbesondere p. 35.

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6

Die Transzendentale Deduktion der Ideen ...

entsteht und die mithin Gesetzgebung für ihren Gegenstand sind.3 Der Ursprung des Anspruchs nur in der subjektiven Notwendigkeit des Prinzips reicht freilich nicht zu, eine theoretisch-objektive Gültigkeit dieses Anspruchs zu beweisen, die man in der Deduktion eines konstitutiven Prinzips finden kann. Der Besitzer darf nämlich nicht einfach durch das Aufzeigen dessen, dass der Besitz eines Eigentums ihm subjektiv notwendig sei, jenen Besitz als zu Recht beweisen. Von den beiden theoretisch-regulativen Prinzipien (RP2, RP5) zeigen aber die rein-praktischen regulativen Prinzipien einen unübersehbaren Unterschied. Die praktische Regulation hat eine strengere subjektive Notwendigkeit als die theoretische, nämlich eine verpflichtende Notwendigkeit gegenüber der bloßen hypothetischen Notwendigkeit der letzteren (vgl. Abschn. 5.3.1). Um der Realisierbarkeit des notwendigen Objekts des Moralgesetzes bzw. um der Selbsterhaltung der reinen praktischen Vernunft willen (vgl. Logik, AA 09:68 Anm.) kann die menschliche Vernunft nicht umhin, die übersinnlichen Gegenstände zu postulieren, wobei die praktische Regulation der Natur als einer moralisch-zweckmäßigen Natur schon mitenthalten ist. Aus diesem Grund kann die verpflichtende subjektive Notwendigkeit irgendwie die objektive Realität der Ideen des Übersinnlichen bewahren, freilich unter der Einschränkung, dass dieser Objektbezug keine theoretische, sondern eine praktische Bestimmung der Ideen hervorbringt. So ist die Realität der Ideen als regulativer Prinzipien eine objektive, aber praktische Realität.4 Von der praktischen Bestimmung des Übersinnlichen ist im IX. Absatz der Einleitung der Kritik der Urteilskraft die ausdrückliche Rede. Kant spricht dabei von dem Übergang von dem Natur- zu dem Freiheitsgebiet, der durch die reflektierende Urteilskraft stattfindet. Darin kann man aber auch die Erklärung für die Zusammenarbeit der drei oberen Erkenntnisvermögen (Verstand, Urteilskraft und Vernunft) zur Bestimmung des Übersinnlichen sehen: „Der Verstand gibt, durch die Möglichkeit seiner Gesetze a priori für die Natur, einen Beweis davon, daß diese von uns nur als Erscheinung erkannt werde, mithin zugleich Anzeige auf ein übersinnliches Substrat derselben; aber läßt dieses gänzlich unbestimmt. Die Urteilskraft verschafft durch ihr Prinzip a priori der Beurteilung der Natur, nach möglichen besonderen Gesetzen derselben, ihrem übersinnlichen Substrat (in uns sowohl als außer uns) Bestimmbarkeit durch das intellektuelle Vermögen. Die Vernunft 3 Dies

ist der Fall der Deduktion der Kategorien und der des Sittengesetzes, vgl. Henrich, D., “Kant’s Notion of a Deduction and the Methodological Background of the First Critique”, in: Föster, E. (ed.): Kant’s Transcendental Deductions: The Three Critiques and the Opus Postumum, California 1989, p. 37. 4 Zum Begriff der praktischen Realität der Ideen siehe beispielsweise KU AA 05:456 f. Dazu vgl. die „objektive, aber unbestimmte Gültigkeit“ der theoretisch-regulativen Prinzipien, KrV A 663/B 691, A 669/B 697.

6.1 Die Aufgabe einer transzendentalen Deduktion …

153

aber gibt eben demselben durch ihr praktisches Gesetz a priori die Bestimmung; und so macht die Urteilskraft den Übergang vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs möglich.“ (KU AA 05:196)

Die Anzeige auf ein Übersinnliches durch den Verstand ist nur eine Freilegung der Möglichkeit dessen, dass es ein solches geben kann, ohne auch die mindeste Bestimmung desselben zu kennen. So beteiligt sich der Verstand nicht wirklich an der praktischen Bestimmung des Übersinnlichen. Diese gedachte Bestimmung wird eigentlich von der Vernunft, und zwar der praktischen Vernunft geleistet, die Kant hier mit dem „intellektuelle[n] Vermögen“ bezeichnet. Aber die reflektierende Urteilskraft spielt dabei auch eine Rolle, indem sie mit ihrem Prinzip der Zweckmäßigkeit die Natur als zweckmäßig auf die Moral bezieht und mithin als Vorbereitung auf die praktische Bestimmung des übersinnlichen Substrats der Natur dient. So gibt der angeführte Text Kants einen Hinweis für die Gliederung der transzendentalen Deduktion der praktischen Regulation: da diese Regulation per definitionem im Wesentlichen die Leistung der praktisch-reflektierenden Urteilskraft ist, soll man von Seiten sowohl der praktischen Vernunft als auch der reflektierenden Urteilskraft das Problem des Ursprungs des objektiven Anspruchs der praktischen Regulation zu erklären versuchen und diesen Anspruch dadurch rechtfertigen. Der Aufweis aus der praktischen Vernunft und der aus der reflektierenden Urteilskraft machen zwei voneinander selbständige Begründungsteile aus, die zusammen aber einen vollständigen Beweis aufbauen. Zum Vergleich darf man an der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft denken, in der Kant aus der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption in der Verstandeshandlung einerseits und aus der Art der Gegebenheit der empirischen Anschauungen bei uns andererseits die Rechtfertigung dessen, dass wir die reinen Verstandesbegriffe a priori auf die Gegenstände unserer Sinne anwenden dürfen, erklären.5 5 Diese

sind die sogenannten zwei „Beweisschritte“ der B-Deduktion, die in Dieter Henrichs bekanntem Aufsatz aufgestellt werden, für die aber in dem § 21 der B-Deduktion zureichende Hinweise gefunden werden können: „Diese zeigt also an: daß das empirische Bewußtsein eines gegebenen Mannigfaltigen Einer Anschauung eben sowohl unter einem reinen Selbstbewußtsein a priori, wie empirische Anschauung unter einer reinen sinnlichen, die gleichfalls a priori Statt hat, stehe. – Im obigen Satze ist also der Anfang einer Deduktion der reinen Verstandesbegriffe gemacht, in welcher ich, da die Kategorien unabhängig von Sinnlichkeit bloß im Verstande entspringen, noch von der Art, wie das Mannigfaltige zu einer empirischen Anschauung gegeben werde, abstrahieren muß, um nur auf die Einheit, die in die Anschauung vermittelst der Kategorie durch den Verstand hinzukommt, zu sehen. In der Folge (§ 26) wird aus der Art, wie in der Sinnlichkeit die empirische Anschauung gegeben wird, gezeigt werden, daß die Einheit derselben keine andere sei, als welche die Kategorie nach dem vorigen § 20

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6

Die Transzendentale Deduktion der Ideen ...

Da nun die Vernunft aber nicht in der Lage ist, aus der theoretischen Hinsicht zu beweisen, dass die Ideen des Übersinnlichen objektive Realität haben, so muss die transzendentale Deduktion der praktischen Bestimmung der Ideen vor allem unter dem Umstand stehen, dass sich der Besitz der Ideen des Übersinnlichen von der Vernunft nicht bestreiten lässt. Mit anderen Worten muss die Regulation zumindest als möglich gedacht werden; ihre Möglichkeit muss irgendwie offen bleiben und nicht durch die theoretische Erkenntnis als nihil negativum aufgewiesen werden. Denn nur unter solchem Umstand kann der „Gerichtshof“ der Vernunft (vgl. KrV A 751/B 779) das folgende Entscheidungsprinzip verwenden: wenn der Gegner etwas von den bezweifelten Regeln so wenig weiß wie der Besitzer, um das Unrecht des Gebrauchs derselben zu zeigen, hat der Besitzer den Vorteil. Melior est conditio possedentis, „der Besitzer ist im Rechtsvorteil“ (A 777/B 805). D. h. in dem Fall, in dem der Gegner kein Recht hat, jenen objektiven Anspruch der Ideen von der Vernunft auszuräumen, bleibt die Möglichkeit für die Vernunft, mit diesen von ihr besessenen Ideen einen regulativen Gebrauch zu führen. Dies gilt in der Tat von jeder Art der Regulation, und insbesondere der praktischen Regulation, die in der subjektiven Notwendigkeit eine objektive und bestimmte Realität der Ideen suchen will. Diesen Umstand gewinnt die Vernunft erst durch eine kritische Betrachtung des Widerstreits von beiden Seiten über die Ideen des Übersinnlichen. Darum geht es in dem Kapitel über die Antinomie der spekulativen Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft. Bevor wir also die Schritte des Hauptbeweises ausführen, thematisieren wir als Beginn der Deduktion die Entscheidung, die der Gerichtshof der Vernunft über die Antinomie der spekulativen Vernunft trifft.

6.2

Die Vorstufe der Deduktion: die Denkmöglichkeit des Übersinnlichen

Alle mögliche Bestimmung der Idee des Übersinnlichen setzt voraus, dass diese Idee zumindest logisch widerspruchsfrei ist. Aber auch der Beweis der logischen Möglichkeit des Übersinnlichen gehört zu einer der schwierigsten Aufgaben der Metaphysik im Kampf gegen den Skeptizismus, sofern das Übersinnliche nicht als etwas, das einfach außerhalb der Erfahrbarkeit liegt und gar keinen Bezug auf unsere Sinnenwelt hat, sondern wenigstens als ein „übersinnliches Substrat“ der dem Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung überhaupt vorschreibt, und dadurch also, daß ihre Gültigkeit a priori in Ansehung aller Gegenstände unserer Sinne erklärt wird, die Absicht der Deduktion allererst völlig erreicht werden.“ (KrV B 144 f.)

6.2 Die Vorstufe der Deduktion: …

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Naturerscheinungen verstanden werden soll, wie Kant es in der Kritik der reinen Vernunft mit dem Ausdruck der „unbedingten Bedingung“ bezeichnet hat. Nun wird es einerseits per definitionem schon ausgeschlossen, dass der Begriff eines übersinnlichen Substrats durch die Prädikate der sinnlichen Anschauung unseres Menschen bestimmt werden kann. Andererseits darf man aber diesem Begriff auch nicht durch die bloße Analyse der reinen Verstandesbegriffe, wie z. B. aus dem bloßen Begriff der Kausalität oder der Zufälligkeit-Notwendigkeit, Bedeutung verschaffen. Dadurch entsteht das Dilemma, dem Kant in seinem langjährigen Versuch der Metaphysik begegnet und welches er als „Antinomie der reinen Vernunft“ in der ersten Kritik bekannt gegeben hat. Um den Gegenstand der Idee des Übersinnlichen als logisch möglich zu denken, muss man zunächst aus diesem Dilemma herauskommen. In zweierlei Unterschieden findet Kant den Ausweg aus dem Dilemma und den Raum dafür, von den Ideen des Übersinnlichen als den logischen Denkbaren reden zu können: (1) dem weit bekannten transzendental-idealistischen Unterschied zwischen Erscheinungen und Dingen an sich, und (2) dem relativ wenig bemerkten, aber „wesentlichen Unterschied“ (KrV A 529/B 558) zwischen mathematischer und dynamischer Synthesis. Der erste Unterschied spielt eine entscheidende Rolle in der Auflösung der Antinomie, und dies hängt davon ab, dass Kant alle Vernunftschlüsse in Bezug auf das Unbedingte kritisch in ein syllogistisches Argument zusammenfasst (vgl. KrV A 497/B 525): Major:

Minor: Conclusio:

Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben gegeben, die selbst auf jeden Fall unbedingt ist. Nun sind uns die Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben. Folglich ist auch die unbedingte Totalität aller Bedingungen der Gegenstände der Sinne gegeben.

Diese Zusammenfassung gilt in der Tat nicht nur für die dialektischen Schlüsse der Antinomie, sondern auch für alle Vernunftschlüsse, sofern sie aus dem gegebenen Bedingten auf die Gegebenheit seiner unbedingten Bedingung schließen, wie es in gewissem Fall ebenso im transzendentalen Ideal auftaucht.6 Dieser syllogistische Schluss macht nach Kant den Ausgangspunkt des beiderseitigen Widerstreits über 6 Wie

z. B. bei dem kosmologischen Gottesbeweis. Der Schluss von einem gegebenem Bedingten auf seine unbedingte Bedingung charakterisiert sozusagen jede kosmologische Argumentation der Schulmetaphysik.

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Die Transzendentale Deduktion der Ideen ...

die schlechthin unbedingte Bedingung in der Reihe der Bedingungen in verschiedenen Aspekten aus, nämlich 1) über den absoluten Anfang der Zeit und die absolute Grenze des Raums, 2) über die absolut unteilbaren Substanzen als Elemente der Welt, 3) über die erste Ursache alles Naturgeschehens, und 4) schließlich über das schlechthin notwendige Wesen, das nicht mehr wiederum als zufällig angesehen werden kann. Diese Begriffe des Übersinnlichen, als der unbedingten Bedingung, haben zwar ihren Ursprung in der spekulativen Vernunft, aber die Vernunft kann allein nicht entscheiden, ob diese Begriffe gegenstandbezogen oder vielmehr gegenstandlos sind – mit anderem Wort, ob die im Major genannte unbedingte „ganze Reihe aller Bedingungen“ auf eine erste, an sich selbst unbedingte Bedingung zurückzuführen sei (Thesen) oder die Bedingungen in der Reihe alle bedingt seien und nur das Ganze der Reihe unbedingt sei (Antithesen) (vgl. KrV A 417/B 445). Die Entscheidungsunfähigkeit der spekulativen Vernunft in dieser Problematik führt zu endlosem Streit über die objektive Realität bzw. die theoretische Bestimmbarkeit der Ideen des Übersinnlichen, was der Vernunft mit Gefahr der Selbstzerstörung drohen kann. Die kritische Diagnose der Problematik der Antinomie liegt darin, dass der Widerstreit der beiden Seiten über das Übersinnliche nicht ausgemacht werden kann, soweit er auf dem obigen syllogistischen Argument beruht, weil dieses selbst eine nur durch die transzendentale Logik aufgedeckte quaternio terminorum in sich enthält. Denn der Obersatz, so Kant, gilt als wahrer Satz nur für Dinge an sich betrachtet, und zwar als bloße Gegenstände des Verstandes, nicht für Dinge als Erscheinungen; so ist das Subjekt im Major, „das Bedingte“, als Ding an sich zu verstehen. Bei dem Minor hingegen sind die „Gegenstände der Sinne“ nur als Erscheinungen uns bedingthaft gegeben. Durch die sinnliche Gegebenheit einer Erscheinung kann die ganze Reihe der Bedingungen zu ihr nicht schon mitgegeben werden. In diesem Sinne wird bei der konkreten Ausführung des syllogistischen Arguments der transzendentale Gebrauch der Kategorien (des Quantums, der Qualität, der Kausalität und der Notwendigkeit) mit dem empirischen Gebrauch derselben verwechselt. Auf solche Weise wird die Antinomie schließlich durch die kritische Unterscheidung zwischen Dingen an sich selbst und Dingen als Erscheinungen als ein nur scheinbarer Selbstwiderstreit der Vernunft aufgelöst. Dabei wird der Obersatz des syllogistischen Arguments, welcher eigentlich der „Grundsatz der reinen Vernunft“ ist (vgl. KrV A 307 f./B 364), auf eine bescheidenere Weise umformuliert: wenn das Bedingte gegeben ist, so sei uns dadurch ein Regressus in der Reihe aller Bedingungen zu demselben aufgegeben (vgl. KrV A 497 f./B 526). Dieser umformulierte Satz gilt nur für Erscheinungen und die empirische Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf dieselben. Von den Dingen an sich aber, die ohne Bezug auf die Bedingung ihrer Gegebenheit betrachtet werden, haben wir keine

6.2 Die Vorstufe der Deduktion: …

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Erkenntnis. In Kap. 3 der vorliegenden Arbeit wurde schon gezeigt, dass der spekulative Fortgang zur objektiven Realität derselben Ideen, sowohl im ontologischen als auch im kosmologischen Verfahren, notwendig zum Scheitern kommt. Durch die kritische Auflösung der Antinomie bzw. durch die transzendentale Unterscheidung der Erscheinung von den Dingen an sich ist es nun ferner klar, dass auch die Gegenpositionen eben so wenig Recht haben, die sich in den Antithesen ausdrücken. Die spekulativen Einwände gegen die Möglichkeit des Übersinnlichen sind daher ebenso unhaltbar wie die spekulativen Beweise für dieselbe Möglichkeit. Mit dem Unterschied der Erscheinungen von den Dingen an sich selbst kann zwar die Antinomie aufgelöst werden; für das Problem der Bestimmung der Ideen des Übersinnlichen bleibt in dieser Auflösung aber nur ein negatives Ergebnis übrig: das Übersinnliche sei kein Gegenstand der Erkenntnis und mithin theoretisch unbestimmbar. Der Überschritt über die Grenze der Erfahrung nach dem Bereich des Übersinnlichen wird dadurch nicht positiv offen gemacht. Man kann natürlich auch, so Kant, an dem Begriff der „Erscheinung“ finden, dass „Erscheinungen doch jederzeit eine Sache an sich selbst voraussetzen, und also darauf Anzeige tun, man mag sie nun näher erkennen, oder nicht“ (Prol. AA 04:355). Aber eine solche Begriffsanalyse allein kann uns keinen realen Grund geben, das Übersinnliche als möglich zu denken. Vielmehr ist eine solche „Anzeige“ auf das übersinnliche Substrat der Erscheinungen nur dann möglich, wenn die Handlung der Synthesis des Menschen diese Anzeige auf „etwas von ihnen [sc. den Erscheinungen] Unterschiedenes (mithin gänzlich Ungleichartiges)“ (ebd.) zulässt. Dies kommt aber erst durch den genannten zweiten Unterschied zustande, nämlich durch die Differenz zwischen mathematischer und dynamischer Synthesis. Diese Differenz taucht schon in der Analytik der Kategorien und der transzendentalen Grundsätze des Verstandes auf (vgl. KrV B 110, A 160 ff./B 199 ff.). Dort wird sie vor allem auf die Klassifikation der Kategorien und Grundsätze angewandt. Diese Klassifikation soll wiederum auf den Unterschied des Gebrauchs der Synthesis bzw. der synthetischen Einheit zurückgeführt werden. Die Synthesis ist „mathematisch“, wenn sie „bloß auf Anschauung“ geht; „dynamisch“, wenn „auf das Dasein einer Erscheinung überhaupt“ (KrV A 160/B 199). In einer erst in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft angefügten Fußnote gibt Kant uns eine ausführlichere Erklärung dieser Unterscheidung an: Wenn die Synthesis nur die Anschauung bzw. die bloß angeschauten Gegenstände betrifft, ist das zu verbindende Mannigfaltige gleichartig; wenn aber die Synthesis sich auf das Dasein der Gegenstände bezieht, ist das Synthetisierte hingegen ungleichartig, denn das Mannigfaltige verhält sich zueinander nicht beliebig, sondern notwendig (beispielsweise die Wirkung zu der Ursache). So nennt Kant die mathematische Synthesis „Zusammensetzung“ oder compositio, die dynamische aber „Verknüpfung“ oder nexus. (Vgl. KrV B 201

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Die Transzendentale Deduktion der Ideen ...

Anm.) Mit dieser nachträglich angefügten Erklärung können wir Kants Absicht der Unterscheidung zwischen mathematischen und dynamischen Weltbegriffen besser verstehen (vgl. KrV A 418 f./B 446 f.). Die mathematischen Weltbegriffe, worauf sich die beiden ersten Antinomien beziehen, gehen auf die bloße Anschauung. Daher verfährt die Synthesis des Bedingten mit seiner Bedingung in der Gestalt der Zusammensetzung oder der Teilung in Größe, nämlich der Verbindung des Gleichartigen (vgl. KrV A 528/B 556). Die dynamischen Weltbegriffe in den letzten beiden Antinomien dagegen richten sich auf die „Einheit im Dasein der Erscheinungen“ (KrV A 419/B 447, Herv. von Y. X.), wobei die Synthesis des Bedingten mit seiner Bedingung als Verbindung des Ungleichartigen operiert, entweder als Kausalverbindung oder als der Verbindung des Zufälligen mit dem Notwendigen (vgl. KrV A 530/B 558). Es lässt sich dadurch leicht einsehen, dass in der mathematischen Reihe der Synthesis alle Bedingungen gleichartig und nicht anders als sinnlich sind. Dabei darf in dem Regressus der Synthesis keine übersinnliche Bedingung für die Reihe gedacht werden. In der dynamischen Synthesis dagegen kann ein Bedingtes sowohl mit einer ihm zwar ungleichartigen, dennoch ebenfalls sinnlichen Bedingung innerhalb der Reihe, wie auch mit einer ihm „gänzlich ungleichartigen“, gar intelligiblen Bedingung verbunden werden, die außer der Reihe liegt. Die intelligible Bedingung außer der Reihe wird also bei den dynamischen kosmologischen Ideen zugelassen, ohne der Reihe der sinnlichen Erscheinungen Abbruch zu tun (vgl. KrV A 530 f./B 558 f.). Erst durch diesen „wesentlichen Unterschied“ zwischen mathematischer und dynamischer Synthesis (KrV A 529/B 558, vgl. auch KpV AA 05:104 f., FM AA 20:291 f.) ist die an dem Begriff der „Erscheinung“ implizierte Anzeige auf ein übersinnliches Substrat der Erscheinungen als möglich zu denken. Eben durch die Möglichkeit der dynamischen Synthesis des sinnlichen Bedingten mit der ihm ungleichartigen intelligiblen Bedingung ist die Denkbarkeit des Überschritts zum Bereich des Übersinnlichen offen gelassen. Das Übersinnliche wird demnach nicht bloß negativ als unerkennbar und unbestimmbar gedacht, sondern auch als zumindest logisch möglich, und zwar in der Bedeutung eines übersinnlichen Substrats überhaupt oder einer intelligiblen Bedingung zu den sinnlichen Erscheinungen. Der Beweis dieser bloßen Denkmöglichkeit eröffnet den Raum für eine transzendentale Deduktion der praktisch-regulativen Ideen des Übersinnlichen, in dem allein sie weiter verfahren darf.

6.3 Der erste Beweisschritt der Deduktion: die Natur als ein einheitliches …

6.3

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Der erste Beweisschritt der Deduktion: die Natur als ein einheitliches System und die Bestimmbarkeit des Übersinnlichen

Das übersinnliche Substrat der Erscheinungen ist zwar logisch möglich, aber die Rechtfertigung der Ideen desselben als praktische Regulation der Natur erfordert, dass dieses Substrat außerdem durch irgendwelche Regeln weiter bestimmbar sei. Der Beweis der Bestimmbarkeit des Übersinnlichen überhaupt darf aber nicht von dem Übersinnlichen als solchem ausgehen, da wir von ihm noch keinen Begriff haben. Vielmehr kann nur eine Beschaffenheit der Naturerscheinungen als Ausgangspunkt des Beweises dienen, denen das zu bestimmende übersinnliche Substrat zugrunde liegt. § 1. Die Notwendigkeit der zweckmäßigen Reflexion der Naturmannigfaltigen unter einem allgemeinen Zweck Die Erscheinungen in der Natur werden überhaupt den allgemeinen Gesetzen unterworfen, die sich in die schematisierten, nämlich auf die formalen Bedingungen aller menschlichen Anschauung angewandten Kategorien gründen. Sie werden in diesem Sinne von dem Verstand bestimmt. Aber dieselben Erscheinungen können zugleich auch auf andere Weisen bestimmt und also verschiedenen besonderen und empirischen Gesetzen unterworfen werden. Dies kann dazu führen, dass wir mehrere Naturen hätten, die unter vielfältigen Regeln stünden, auch wenn die Notwendigkeit dieser besonderen Regeln jenseits unseres Erkenntnisvermögens ist, so dass jene Naturen und mithin ihre Einheit unserem diskursiven Denken nur als zufällig scheinen. Aber es gehört zu dem Bedürfnis des menschlichen Erkenntnisvermögens – das Kant auch „Bedürfnis des Verstandes“ nennt (vgl. KU AA 05:184) –, die Mannigfaltigkeit der Naturen nach besonderen empirischen Gesetzen unter einer Einheit zu denken, die nicht mehr zufällig, sondern ebenfalls gesetzlich ist. Denn die Einheit der Natur ist eine notwendige Voraussetzung für den „durchgängigen Zusammenhang empirischer Erkenntnisse zu einem Ganzen der Erfahrung“ (KU AA 05:183). Die besonderen empirischen Gesetze sind aber dem diskursiven Verstand immerhin zufällig; er kann zwar den formalen Zusammenhang der Dinge als „Naturdinge überhaupt“ hervorrufen, aber nicht die materiale Einheit derselben als „besondere[n] Naturwesen“ (ebd.). Wenn wir nun auch die besonderen empirischen Gesetze zur Einheit bringen müssen, können wir nicht umhin, sie auf eine allgemeine Vorstellung zu beziehen, die aber nicht von dem Verstand abgegeben werden kann. Für die gegebenen Besonderen das Allgemeine zu suchen, ist aber die Leistung der reflektierenden Urteilskraft. Daher wird die Beziehung der besonderen Gesetze auf

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Die Transzendentale Deduktion der Ideen ...

die ihnen allgemeine Vorstellung unter der Regel der Zweckmäßigkeit gedacht, welches das eigene Prinzip a priori der reflektierenden Urteilskraft ist. Mit einem Wort ist die Einheit des dem diskursiven Verstand Zufälligen von dem menschlichen Erkenntnisvermögen lediglich als Zweckmäßigkeit zu denken. Durch den Begriff der allgemeinen Zweckmäßigkeit der Reflexion wird die Natur nach ihren verschiedenen besonderen Gesetzen als einheitlich gedacht. Diese Einheit muss systematisch sein und alle Dinge betreffen, die unter dem Begriff der Natur stehen können. Das Naturganze muss also insgesamt zweckmäßig sein, so dass sich alle Naturdinge mittelbar oder unmittelbar auf einen allgemeinen Zweck beziehen. Anderenfalls wäre das Dasein mannigfaltiger Dinge bloß zufällig und die Konstitution der organisierten Wesen unerklärlich; auch das Dasein des freien Menschen in seiner Moralität wäre nur zufällig. Die Erklärbarkeit aller Naturprodukte und des materialen Zusammenhangs des Erfahrungs- und Naturganzen nach den besonderen Gesetzen erfordert die Zweckmäßigkeit derselben unter einem allgemeinen Zweck.7

7 Der

obige Beweisschritt (§ 1) geht von dem Absatz V der Einleitung der Kritik der Urteilskraft aus. Dies nennt Kant dort deutlich „Deduktion“ der Zweckmäßigkeit der Natur. Man kennt weiter leicht, dass diese Deduktion eine bloß subjektive ist. (Dazu vgl. Tanaka, M., „Die Deduktion in der Kritik der teleologischen Urteilskraft“, in: Gerhardt, V., Horstmann, R.-P., Schuhmacher, R. (hrsg.), Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Berlin/Boston 2001, Bd. 4, S. 633–642, hier S. 634. McLaughlin, P., “Transcendental Presuppositions and Ideas of Reason”. Kant-Studien, 105(4), 2014, pp. 554– 572, hier p. 556.) Aber sofern das apriorische Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur in dem teleologischen Urteil objektiv gültig sein muss, steht Kant noch vor der Aufgabe, eine objektive Deduktion für dieses Prinzip zu leisten. M. Tanaka sieht in §§ 66–68, wo Kant von dem Begriff des Naturzwecks spricht, „die Spur der Deduktion des Prinzips des teleologischen Urteils“ (2001, S. 634) und stellt schließlich die Deduktion in der „Exposition“ (§78 der KU) der Vereinbarkeit der mechanistischen mit der teleologischen Maxime in einem gemeinsamen übersinnlichen Prinzip in der Dialektik der teleologischen Urteilskraft fest, wobei Kant seine Auffassung der „Deduktion“ verändere (S. 641). Ich bin mit Tanakas Interpretation im Ganzen einverstanden, betone aber mehr die Rolle des Moments der reinen praktischen Vernunft in dieser sog. „Deduktion“. Wie ich bald zeige, kann das teleologische Prinzip für die Reflexion des Naturganzen erst in einer Idee der moralisch-zweckmäßigen Natur seine Notwendigkeit als ein objektives Prinzip rechtfertigt. Eine Deduktion in strengem objektiven Sinne wie für die Kategorien kann wegen des Charakters des menschlichen Verstandes nicht für die Zweckmäßigkeit der Natur und also nicht für den Begriff des Naturzwecks in der Teleologie durchgeführt werden, sonst würde man leicht in dies Gefahr der „Ontologisierung des Zweckbegriffs“ geräten. (Manfred Franks und Véronique Zanettis Wort. Vgl. Frank, M. und Zanetti, V. (hrsg.): Immanuel Kant. Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie. Text und Kommentar. Bd. 3, Frankfurt a. M. 2001, S. 1285).

6.3 Der erste Beweisschritt der Deduktion: die Natur als ein einheitliches …

161

§ 2. Unterordnung der mechanistische unter der teleologischen Maxime in Beurteilung der Natur Aber das Prinzip der Zweckmäßigkeit ist ein autonomisches, nämlich ein von der Urteilskraft selbstvorgeschriebenes Prinzip zur Reflexion, nicht aber ein von dem Verstand oder der Vernunft vorgeschriebenes. Mit dem obigen Prinzip der Zweckmäßigkeit allein stehen also die Naturdinge zwar unter irgendeiner systematischen Einheit, aber es ist noch nicht ausgemacht, welcher Einheit, und zwar welchem bestimmten einheitlichen und zweckmäßigen System. Denn für den reflektierenden Gebrauch unserer Erkenntnisvermögen haben wir verschiedene, aber ebenso notwendige Maximen, mit einem jedem von denen wir die Natur nach ihren besonderen Gesetzen als eine Einheit beurteilen können, so dass wir verschiedene Konzeptionen des Systems der Naturganzheit haben können. Und zwischen den Reflexionsmaximen kann außerdem sogar Widerstreit stattfinden, der Kant zufolge die „Dialektik der teleologischen Urteilskraft“ ausmacht. Denn zur Reflexion stehen der Urteilskraft schon zwei Maximen zur Verfügung, „deren eine ihr [sc. der Urteilskraft] der bloße Verstand a priori an die Hand gibt, die andere aber durch besondere Erfahrungen veranlaßt wird, welche die Vernunft ins Spiel bringen …“ (KU AA 05:386). Diese sind die mechanistische und die teleologische Maxime, die einander entgegengesetzt scheinen: ob alle Erzeugung der Naturdinge bloß „als nach den mechanischen Gesetzen möglich“ beurteilt werden muss, oder es einige Naturdinge gibt, die nicht als nach den mechanischen Gesetzen möglich beurteilt werden können (KU AA 05:387).8 So entsteht ein möglicher Konflikt bei der Erklärung des organisierten Wesens, das als „Naturzweck“ vorgestellt wird und „in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist“ (KU AA 05:376). Zur Erklärung der Grundkonstitution solchen Wesens nämlich sind die bloßen mechanischen Gesetze nicht imstand. Aber Kant sieht darin keinen eigentlichen Widerstreit. Denn die mechanistische Maxime sagt nur, dass man über die Naturprodukte „jederzeit“ – nämlich soweit wie möglich – „nach dem Prinzip des bloßen Mechanisms der Natur reflektieren“ müsse, denn es könnte gar keine „eigentliche Naturerkenntnis“ geben, ohne den Mechanismus zum Grunde der Nachforschung zu legen (vgl. KU AA 05:387), und die Vernunft wird dann nur „dichterisch zu schwärmen verleitet“ (KU AA 05:410). Aber mit dieser Maxime sagt man auch nicht, die Naturprodukt seien nach dem Mechanismus „allein (ausschließungsweise von jeder anderen Art Kausalität)“ möglich (KU AA 05:387). Vielmehr benötigt man andererseits auch die zweite Maxime, nämlich 8 Ausführlicher

zur Problematik der Antinomie der teleologischen Urteilskraft sowie ihrem Bezug auf die kosmologische Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft vgl. McLaughlin, P.: Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft. Bonn 1989, bes. Kap. 3, S. 117 ff.

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Die Transzendentale Deduktion der Ideen ...

„bei einigen Naturformen (und auf deren Veranlassung sogar der ganzen Natur) nach einem Prinzip zu spüren und über sie zu reflektieren, welches von der Erklärung nach dem Mechanism der Natur ganz verschieden ist, nämlich dem Prinzip der Endursachen“ (vgl. ebd.). Denn es ist „ungezweifelt gewiß“, dass hinsichtlich des Erkenntnisvermögens des Menschen der bloße Mechanismus der Natur „für die Erzeugung organisierter Wesen auch keinen Erklärungsgrund abgeben könne“ (KU AA 05:389). Und soweit man den Grund der Möglichkeit dieses Wesens zur Frage bringt, ist es ebenfalls notwendig, eine andere Art der Kausalität als die mechanische zu denken. Wenn man in dem Fall, wo sich das Prinzip der Zweckmäßigkeit in der Nachforschung der Möglichkeit des Organismus zwar schon „ganz unleugbar“ auf „eine andere Art der Kausalität“ bezieht, doch gar keine Rücksicht auf das teleologische Prinzip nimmt und sich immer nur an den Mechanismus hält, dann gerät die Vernunft ebenso in der Phantasie (vgl. KU AA 05:411). Die beiden Reflexionsmaximen stehen also nicht einander entgegen. Es ist möglich, dass sie sich in einer „Erörterung“ der Möglichkeit der Naturprodukte miteinander vereinbaren: Mit „Erörterung“ will Kant meinen, dass die Vereinbarkeit der beiden nicht objektiv und der bestimmenden Urteilskraft gemäß in einer „Erklärung“ erkannt wird, sondern subjektiv für die reflektierende Urteilskraft dargetan werden kann.9 Das Problem ist nun, wie man sich diese Vereinbarung vorstellen soll. Sie kann nicht als Reduktion des einen Prinzips auf das andere zustande kommen, da sie sonst zu konstitutiven Prinzipien für die bestimmende Urteilskraft würden, weil wir alsdann Erkenntnis von dem Fundierungsverhältnis zwischen beiden hätten.10 Vielmehr ist diese Vereinbarung so aufzufassen, dass die beiden Maximen „an einem und eben demselben Naturprodukt in einem einzigen oberen Prinzip zusammenhängen und daraus gemeinschaftlich abfließen“ (KU AA 05:412). Unter diesem oberen Prinzip stehen die beiden Maximen aber nicht einfach nebeneinander. Man weiß nämlich „gewiß“, dass die Erklärungsart des Mechanismus allemal für die organisierten Dinge, als Naturzwecke, unzureichend ist, so „müssen“ wir, nach Beschaffenheit unseres Verstandes, die mechanischen Gründe „insgesamt einem teleologischen Prinzip unterordnen“ (KU AA 05:415). In dieser Unterordnungsrelation verhält sich die Materie der organisierten Dinge, welche den mechanischen Gesetzen gemäß 9 Diese Unterscheidung zwischen „Erörterung“ und „Erklärung“ führt Kant in KU AA 05:412

aus. 10 „An

einem und eben demselben Dinge der Natur lassen sich nicht beide Prinzipien, als Grundsätze der Erklärung (Deduktion) eines von dem andern, verknüpfen, d. i. als dogmatische und konstitutive Prinzipien der Natureinsicht für die bestimmende Urteilskraft, vereinigen. … Denn eine Erklärungsart schließt die andere aus; gesetzt auch, daß objektiv beide Gründe der Möglichkeit eines solchen Produkts auf einem einzigen beruheten, wir aber auf diesen nicht Rücksicht nähmen.“ (KU AA 05:411 f.)

6.3 Der erste Beweisschritt der Deduktion: die Natur als ein einheitliches …

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ist, nach ihrer Natur als „Mittel“ und steht unter dem in der teleologisch beurteilten Form derselben vorgestellten Zweck, nämlich als eine „untergeordnete Ursache absichtlicher Wirkungen“ (KU AA 05:414). Dadurch verweist die Vereinigung beider Maximen auf ein übersinnliches Prinzip für eine solche absichtliche Wirkung, das in diesem Sinne als das Substrat der Natur anzusehen. § 3. Die Bestimmbarkeit des übersinnlichen Substrats der Natur durch ein Vermögen der Zwecksetzung Mit diesem Unterordnungsverhältnis und seinem Verweis auf ein oberes übersinnliches Prinzip kann man nun feststellen, wie sich das Naturganze als ein bestimmtes teleologisches System strukturiert. Es gibt zwar verschiedene Möglichkeiten für die Naturstrukturierung, je nach dem, welcher der allgemeine und letzte Zweck des gesamten Systems ist, unter dem alle Naturprodukte stehen sollen. Aber zu bemerken ist, dass die mechanistische Maxime nicht mit jeder beliebigen teleologischen Maxime in einer Unterordnungsrelation vereinbart werden kann, sondern sie fungiert in dieser Vereinbarung eigentlich als ein „Werkzeug einer absichtlich wirkenden Ursache“ (KU AA 05:422). Dabei wird zugleich auch die „Absicht“ mitbestimmt, nach der diese „Ursache“ wirkt, obwohl jene Bestimmung der Absicht nur auf eine uns unbekannte Weise stattfindet. Daher „muss“ das obere Prinzip, in dem sich die beiden Maximen vereinigen, dasjenige sein, was „außerhalb beider (mithin auch außer der möglichen empirischen Naturvorstellung) liegt, von dieser [sc. der Naturvorstellung] aber doch den Grund enthält“, nämlich ein „Übersinnliches“ (KU AA 05:412). Von diesem gemeinschaftlichen oberen Prinzip bzw. dem übersinnlichen Grund der Natur lässt sich einerseits zwar, wegen der Schranken des menschlichen Erkenntnisvermögens, kein theoretisch bestimmter Begriff machen; d. h., wir dürfen es nun durch kein Prädikat näher bestimmen. Aber andererseits ist in diesem Prinzip ein bestimmter Zweck für die Naturganzheit schon enthalten, in Bezug auf den die Vereinbarung der beiden Reflexionsmaximen in dem genannten Unterordnungsverhältnis erst zustande kommen und das Dasein aller Naturprodukte in der Reflexion erörtert werden kann. Ein Zweck aber kann nur durch ein Vermögen bestimmt werden, das an sich fähig ist, einen Zweck zu bestimmen. Dies bezieht uns auf das Vermögen der Zwecksetzung, das bei uns Menschen eben die praktische Vernunft ist. § 4. Zwischenresümee für den ersten Beweisschritt Der erste Beweisschritt der transzendentalen Deduktion der praktischen Regulation lässt sich als Folgendes zusammenfassen: Die besonderen empirischen Gesetze der Natur erscheinen dem menschlichen diskursiven Verstand nur als zufällig. Aber der Verstand hat das Bedürfnis, diese empirischen Gesetze einheitlich in einen

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Zusammenhang des Erfahrungsganzen zu bringen. Ohne das Prinzip der Zweckmäßigkeit, als der „Gesetzlichkeit des Zufälligen“ (KU AA 05:404), ist jene Einheit der Natur aber nicht zu denken. (vgl. § 1.) Nun ist noch nicht ausgemacht, in welche Einheit die Natur nach ihren besonderen empirischen Gesetzen gebracht werden muss. Denn die Urteilskraft hat verschiedene, scheinbar einander widersprechende Maximen, über die Einheit der Natur zu reflektieren, von denen die eine die mechanistische, die zweite die teleologische ist. Beide Maximen sind für die Reflexion der Natur notwendig, und die Vereinigung beider in einem Unterordnungsverhältnis (der mechanischen unter der teleologischen) verweist auf ein außer den beiden, sogar außer der Natur liegendes Prinzip, das als das übersinnliche Substrat der Natur zu verstehen ist, von dem wir aber keine theoretische Erkenntnis haben können. (vgl. § 2.) Und da nun die mechanistische Maxime in jenem Unterordnungsverhältnis als Werkzeug einer absichtlichen wirkenden Ursache betrachtet werden muss, ist der Zweck, unter dem alle Naturdinge und mithin das Naturganze stehen und in Bezug auf den die Natur insgesamt als ein teleologisches System beurteilt wird, ein bestimmter Zweck. Die Bestimmung eines Zwecks ist aber nur durch die praktische Vernunft möglich. Also ist der letzte und gemeinsame Zweck der ganzen Natur und mithin das übersinnliche Substrat bestimmbar durch die praktische Vernunft als ein Vermögen der Zwecksetzung. Die Naturreflexion ist also praktisch regulierbar. (vgl. § 3.) In dem nächsten Schritt steht die Deduktion vor der Aufgabe, zu beweisen, dass unsere praktische Vernunft fähig und auch im Recht ist, das Übersinnliche zu bestimmen, das nichts anderes als dasjenige ist, was der ganzen Natur zugrunde liegt und die Natur insgesamt als ein notwendig bestimmtes System der Zwecke ermöglicht. Damit wird aufgewiesen, dass die Bestimmung des Übersinnlichen durch die praktische Vernunft zugleich die Natur als ein moralisch-zweckmäßiges Ganzes reguliert.

6.4

Der zweite Beweisschritt der Deduktion: die Bestimmung des Übersinnlichen durch die reine praktische Vernunft

In dem ersten Beweisschritt wird die Art noch nicht berücksichtigt, wie die praktische Vernunft eine Bestimmung des übersinnlichen Substrats der Natur leistet. Denkt man an die vier Momente der praktischen Regulation, wird in dem ersten Beweisschritt nur die regulierte Synthesis (das reflektierende Urteil) und die Folge der Regulation (das zweckmäßige System der Natur) betroffen. Nun müssen in dem

6.4 Der zweite Beweisschritt der Deduktion: die Bestimmung …

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zweiten Schritt die anderen Momente (die regulierenden Regeln und der Regulationszweck) in Betracht kommen, was auch den schon im ersten Schritt betroffenen Momenten eine weitere Erklärung geben kann. Da nun das Übersinnliche einerseits der Gegenstand der theoretischen Vernunft ist, aber seine Bestimmung andererseits erst durch die praktische Vernunft zustande kommt, will ich das Verhältnis der praktischen zu der theoretischen Vernunft als Ausgangspunkt des zweiten Beweisschritts nehmen. § 5. Das Primat der praktischen Vernunft in ihrem Verhältnis zur theoretischen Vernunft Der Begriff des Übersinnlichen ist ein Vernunftbegriff, der im spekulativen Verfahren der Vernunft hervorgeht und sich von den sinnlich darstellbaren Verstandesbegriffen abhebt. Daher kann er nicht durch die Prädikate der Anschauung bestimmt werden, und die Bestimmung desselben kann nur durch ein Vermögen der Zwecksetzung hervorgebracht werden, wie im ersten Beweisschritt schon gezeigt. In welchem Verhältnis steht die theoretische Vernunft zu der praktischen, so dass ihr Gegenstand, das Übersinnliche, eine Bestimmung von der letzteren erhalten kann und darf? Die Vernunft ist das Vermögen der Prinzipien (vgl. KrV A 299/B 356), oder genauer, das Vermögen, nach Prinzipien a priori zu urteilen (vgl. KpV AA 05:121). Sie hat immer das Unbedingte zu ihrem Gegenstand, sofern sie rein von aller Erfahrung ist. Zwar kann man verschiedene Leistungen und Funktionen teils der theoretischen, teils der praktischen Vernunft zuschreiben; Kant insistiert dennoch darauf, dass es „immer nur eine und dieselbe Vernunft“ sei und die beiden eigentlich als verschiedene „Gebräuche“ derselben Vernunft betrachtet werden sollten (KpV AA 05:121)11 . Wie soll man den Ausdruck „eine und dieselbe Vernunft“ verstehen? Jedem Vermögen liegt ein Interesse zugrunde, durch welches das Vermögen zum Gebrauch gebracht wird. Und sowohl der theoretische bzw. spekulative wie auch der praktische Gebrauch der Vernunft werden nur durch dasjenige Interesse befördert, das ihm von der Vernunft selbst beigelegt wird.12 Das Interesse des spekulativen Gebrauchs der reinen Vernunft liegt in der „Erkenntnis des Objekts bis zu den höchsten Prinzipien a priori“, während dasjenige ihres praktischen Gebrauchs in

11 Vgl. auch GMS, AA 04:391: „… weil es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß“. 12 „Einem jeden Vermögen des Gemüts kann man ein Interesse beilegen, d. i. ein Prinzip, welches die Bedingung enthält, unter welcher allein die Ausübung desselben befördert wird. Die Vernunft, als das Vermögen der Prinzipien, bestimmt das Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sich selbst.“ (KpV AA 05:119 f.)

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Die Transzendentale Deduktion der Ideen ...

der „Bestimmung des Willens, in Ansehung des letzten und vollständigen Zwecks“ besteht (KpV AA 05:119 f.). Wie könnte man aber, trotz der so verschiedenartigen „Gebräuche“, die Vernunft noch immer als „eine und dieselbe“ verstehen? Kant hat zwar solche „Einheit“ der Vernunft behauptet, aber leider nicht begründet. Es lässt sich freilich sowohl im spekulativen („zu den höchsten Prinzipien a priori“) als auch im praktischen Vernunftinteresse („in Ansehung des letzten und vollständigen Zwecks“) ein Anspruch auf die „Unbedingtheit“ einsehen, wobei sich eine Gemeinsamkeit der beiden Interessen zeigt; aber man darf vielleicht noch daran zweifeln, es sei mit dieser Gemeinsamkeit nicht genug, die Einheit der Vernunft, oder genauer, die Identität derselben aufzuweisen. Dazu muss man aber zuerst bemerken, dass die kantische Identität der Vernunft, welche der Ausdruck „eine und dieselbe Vernunft“ zeigt, einerseits nicht als Identität einer Substanz zu verstehen ist, wie man es vielleicht nach der Schulmetaphysik denken könnte. Kant verzichtet ausdrücklich auf allen Versuch der Behauptung und des Beweises einer substantiellen Grundkraft, z. B. einer wolffischen vis repraesentativa.13 Die Vernunft ist ein „Vermögen“ mit verschiedenem Gebrauch und Interesse, nicht etwa einer „Substanz“, an der irgendein Vermögen als Akzidenz anhängen würde. Andererseits darf man die Einheit der Vernunft bei Kant auch nicht als eine höhere synthetische Einheit auffassen, in welche alle Anwendungen der Vernunft nur als Momente jener Einheit aufgehoben und aufgelöst werden können, wie man es möglicherweise nach dem nach-kantischen Idealismus bei Schelling und Hegel vermuten könnte. Denn solche synthetische Einheit, mag es eine solche geben oder nicht, liegt in Kants Augen jenseits der menschlichen Erkenntnis, so dass man davon nicht reden darf. Vielmehr müssen sich der theoretische und der praktische Gebrauch in der sogenannten Einheit der Vernunft auch an ihre Eigenständigkeit halten. Und diese durch den Ausdruck „eine und dieselbe“ gekennzeichnete Einheit kann mithin weder als eine substantielle Einfachheit noch als eine synthetische, die vorgegebenen Momente in sich aufhebende Einheit verstanden werden, sondern sie geschieht nur durch diejenige Gemeinsamkeit, welche die Vernunft sowohl in ihrem spekulativen wie auch in ihrem praktischen Gebrauch hat, nämlich durch die Fähigkeit, nach Prinzipien a priori zu urteilen, sowie durch den Anspruch auf die Unbedingtheit des Gegenstandes.

13 Zu Kants Ablehnung einer Vorstellung der Grundkraft(en) vgl. Henrich, D.: „Über die Einheit der Subjektivität“, in: Philosophische Rundschau, 3 (1/2), 1955, 28–69, besonders S. 30–39

6.4 Der zweite Beweisschritt der Deduktion: die Bestimmung …

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So lässt es sich innerhalb des Rahmens der kritischen Philosophie Kants in der Tat nicht erklären, inwiefern die Vernunft nur „ein“ Vermögen mit verschiedenen Gebräuchen ist und aus welchen Gründen sich die eine Vernunft in den theoretischen und den praktischen Gebrauch „differenziert“.14 Aber Kant bleibt nicht bei dieser bloßen Rede der „einen und derselben Vernunft“ stehen, sondern denkt weiter darüber nach, wie die beiden so unterschiedlichen Arten des Vernunftgebrauchs zur Vereinigung gebraucht werden kann, ohne die jeweilige Selbständigkeit der beiden zu beschädigen. Eben dies kann zu der kantischen „Einheit der Vernunft“ in echtem Sinne führen. Um diese Vereinigung zustande zu bringen, soll vor allem bestätigt werden, dass die beiden Gebrauchsarten ihren Prinzipien und Behauptungen nach „einander nicht widersprechen müssen“ (KpV AA 05:120). Diese Widerspruchsfreiheit, die wegen der scharfen Unterscheidung der Weisen der jeweiligen Gesetzgebung möglich ist und in der Auflösung der dritten kosmologischen Antinomie begründet wird, gehört nicht zum Interesse oder Gebrauch der Vernunft, sondern macht die „Möglichkeit eines Vernunftgebrauchs überhaupt“ aus (vgl. ebd.). Darauf beruhend, stellt sich nun die Frage, wie sich die beiden Gebrauchsarten derselben zueinander zur Einheit verhalten, damit die praktische Bestimmung des Übersinnlichen dadurch möglich ist. Man scheint sich einen Fall vorstellen zu können, in dem das spekulative und das praktische Interesse einfach einander nebengeordnet würden, ohne dass eines von ihnen den Vorzug gegenüber dem anderen hätte. In diesem Falle würde die spekulative Vernunft „für sich ihre Grenze eng verschließen“ und nichts von der praktischen Vernunft aufnehmen, während sich 14 Mit dieser Erklärung möchte ich auf die Einwände von Gerold Prauss gegen Kant erwidern. Prauss glaubt, dass das Problem über die Einheit der Vernunft bei Kant schließlich ungelöst bleibt. Er erklärt die Schwierigkeit dieses Problems wie folgt: Kant denkt das Moralgesetz und die Freiheit in einem analytischen Verhältnis zueinander, was dazu führen könnte, dass die Möglichkeit der bösen Handlung, die auch auf der Freiheit beruht, schwer zu erklären ist, und dass die Vernunft ohne Moralgesetz so wenig praktisch und vielmehr eigentlich theoretisch wäre. Die theoretische und die praktische Vernunft unterscheiden sich voneinander also prinzipiell. Vgl. Prauss, Gerold: „Kants Problem der Einheit theoretischer und praktischer Vernunft“, in: Kant-Studien 72, 1981, 286–303. Prauss’ Diagnose der Schwierigkeit für Erklärung des Einheitsprinzips der theoretischen mit der praktischen Vernunft ist meines Erachtens sehr aufschlussreich. Aber wenn er dann behauptet, dass Kant das Einheitsproblem nicht wirklich löst, hat er vielleicht übersehen, dass die Einheit, an der Kant eigentlich denkt, nicht gleichbedeutend mit dem, was Prauss unter der Einheit versteht, sogar nicht gleichbedeutend mit dem, was Kant anderswo unter der Einheit versteht, wie z. B. in GMS, AA 04:391: „die Einheit der reinen praktischen Vernunft mit der speculativen in einem gemeinschaftlichen Prinzip müsse dargestellt werden können.“ Nach unserer obigen Erörterung ist schon klar, dass es in Kants Philosophie immer eine Spannung zwischen den Prinzipien der theoretischen Vernunft und denjenigen der praktischen Vernunft bleibt. Auf eine substantielle Einheit der Vernunft wollte Kant nach seiner kritischen Diagnose keinen Anspruch erheben.

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die praktische Vernunft hingegen alles aus ihrem Bedürfnis allein anmaßen würde, ohne die kritische Beschränkung in Betracht zu ziehen (vgl. KpV AA 05:121). Denn die praktische Vernunft setzt sich selbst keine Grenze, nicht wie die theoretische, die sich in der Schranke des Sinnlichen hält. Dies ist eben der Fall, auf den man in der Antinomie der reinen Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft stößt – der Antinomie, die Kant damals schon aus dem Widerstreit zwischen spekulativem und praktischem Interesse der Vernunft zu erklären versucht (vgl. den dritten Abschnitt des Antinomie-Kapitel, KrV A 462 ff./B 490 ff.). Unter diesen Umständen gerät die Vernunft eigentlich in einen Widerstreit mit sich selbst (vgl. KpV AA 05:121). Die Vereinigung der praktischen mit der spekulativen Vernunft, falls sie einmal geschieht, entsteht alsdenn entweder bloß durch Zufall oder durch den unerklärbaren Eingriff einer uns unbekannten Intelligenz – also keineswegs notwendig. Auf solche zufällige Verbindung der beiden Vernunftinteressen kann sich kein notwendiges und einheitliches Bedürfnis der Vernunft gründen, noch viel weniger die praktische Bestimmung des Übersinnlichen, das zuerst durch die spekulative Vernunft vorgestellt wird. Es bleibt also nur eine Möglichkeit übrig, dass eines der beiden dem anderen untergeordnet ist. Welches Interesse von beiden dominiert in diesem Unterordnungsverhältnis und ist mithin der Bestimmungsgrund der Verbindung? Ist es möglich, dass das spekulative Interesse den Vorzug erhält? In diesem Fall dürfte die praktische Vernunft nur dasjenige annehmen oder als gegeben denken, was der spekulative Vernunftgebrauch ihr aus seiner eigenen Einsicht übergäbe. Aber die spekulative Vernunft kann nicht immer durch sich selbst allein entscheiden, ob sie gewisse Gegenstände aufnehmen oder als fremde verweigern soll, die außerhalb ihrer Erkenntnisfähigkeit liegen, auch wenn diese von der praktischen Vernunft sehr stark empfohlen werden. Angesichts der in der vorliegenden Arbeit thematisierten übersinnlichen Gegenstände zeigt sich schon deutlich die Entscheidungsunfähigkeit der spekulativen Vernunft. Daher hat die spekulative Vernunft kein Recht, den Vorzug gegenüber der praktischen Vernunft zu beanspruchen. Das „Primat der praktischen Vernunft“ scheint also die einzige Möglichkeit zu sein, mit der wir das Verhältnis der beiden Anwendungsarten der Vernunft denken. Um das echte Verhältnis der theoretischen zu der praktischen Vernunft und die Bedingung der praktischen Bestimmung des Übersinnlichen zu erklären, darf man sich freilich nicht mit diesem bloß logischen Schluss (durch die Ausschließung anderer Möglichkeiten) begnügen. Wir müssen vielmehr noch darauf eingehen, wie das Primat der praktischen Vernunft begründet wird.15 Dies könnte man aber 15 Eine deutliche und lehrreiche Rekonstruktion des Arguments Kant für das Primat der praktischen Vernunft nach seinem logischen Aufbau macht Marcus Willaschek in: “The primacy

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ohne eine nähere Betrachtung der praktischen Vernunft und ihres Endzwecks nicht zustande bringen. § 6. Die Notwendigkeit der Bestimmung des übersinnlichen Substrats der Natur durch die praktische Vernunft aus deren Bedürfnis Das Primat der praktischen Vernunft zeigt sich eben darin, dass sich das praktische Interesse, angesichts des letzten und vollständigen Zwecks des höchsten Guts den Willen zu bestimmen, als der erste Bestimmungsgrund der Verbindung beider Vernunftgebräuche erweist, mithin zugleich als der erste Bestimmungsgrund auch des spekulativen Interesses, das Objekt bis zu den höchsten Prinzipien a priori (nämlich bis zum Übersinnlichen) zu erkennen. Die Befugnis des praktischen Interesses, solcher Bestimmungsgrund zu sein, geht auf die Grundverfassung der praktischen Vernunft zurück. In Unterschied zu dem theoretischen Gebrauch der Vernunft bezieht sich der praktische auf das, was sein soll. Ohne alle Betrachtung der Beschaffenheit der Natur kümmert sich die reine praktische Vernunft nur um das Prinzip, wie der Mensch moralisch handeln soll, und zwar unabhängig von allen natürlichen Zwecken und Interessen. Das gedachte Prinzip ist in diesem Sinne ein kategorischer Imperativ; auch das einzige, das man den Zweck der reinen praktischen Vernunft nennen darf, nämlich das unbedingte höchste Gut, kann nicht als die Triebfeder der rein moralischen Handlung gelten. Diese wird nur von der reinen Achtung vor dem moralischen Gesetz selbst geleistet. (Vgl. Abschn. 4.2.1 meiner Arbeit.) Aber dieser Endzweck des höchsten Guts ist andererseits der notwendige Gegenstand des moralischen Prinzips, und in diesem Sinne gehört er auch notwendig zur praktischen Vernunft. Der kategorische Imperativ bestimmt den menschlichen Willen unmittelbar, und zwar „unabhängig von allen theoretischen Grundsätzen“ (KpV AA 05:134), und mit diesem Imperativ wird die Existenz des höchsten Guts unbedingt geboten, so dass der Mensch zur Realisierung desselben fördern muss. Wegen dieser Unbedingtheit des Gebots der praktischen Vernunft muss der Endzweck des höchsten Guts an sich als realisierbar gedacht werden, denn sonst würde das moralische Gesetz auf etwas Leeres Anspruch erheben. Ohne die Realisierbarkeit des höchsten Guts (oder in praktischer Absicht ganz gleichbedeutend, ohne die Realität desselben) könnte „die praktische Vernunft sich nicht in Ansehung ihres notwendigen Zwecks erhalten“ (Logik, AA 09:68 Anm.) Die Realität des Endzwecks betrifft also die „Selbsterhaltung“ der reinen praktischen Vernunft und gehört nicht nur zu of practical reason and the idea of a practical postulate”, in: Timmermann, J. and Reath, A, (eds.): Kant’s Critique of Practical Reason: A Critical Guide. Cambridge 2010, pp. 168–196, hier pp. 170–178.

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dem „Interesse“, sondern auch zu dem „Bedürfnis“ derselben. (vgl. Abschn. 4.2.2 meiner Arbeit.) Zur Realität des höchsten Guts gehört aber nicht nur der praktische, sondern auch der theoretische Gebrauch der Vernunft, denn diese Realität betrifft sowohl die Frage, was sein soll, wie auch die Frage, was ist, – eine Frage, die nicht in unserer praktischen Gewalt liegt. Wir müssen daher „einen theoretischen Begriff von der Quelle, woraus er [sc. der Endzweck des höchsten Guts] entspringen kann, machen“ (FM AA 20:294). Dies betrifft schon eine Auffassung der „Natur“, sofern es dabei eben um jene Frage geht, was ist. Da nun die Gesetzgebung des Verstandes für die sinnliche Natur (die Erscheinung) nichts mit der Realisierung eines reinen praktischen Zwecks zu tun haben kann, muss sich jener gesuchte „theoretische Begriff von der Quelle“ eigentlich auf das Substrat dieser sinnlichen Naturerscheinungen beziehen, das seinerseits übersinnlich ist. Dadurch findet die Bestimmung des übersinnlichen Substrats der Natur statt, die jedoch nicht vom theoretischen Gebrauch der Vernunft mit Gewissheit vollzogen wird und mithin dabei nur problematisch ist. Die Bestimmung des Übersinnlichen vermittels der Notwendigkeit der Realisierbarkeit des praktischen Endzwecks ist also eben eine praktische Bestimmung, um die es in unserer vorliegenden Deduktion geht. Die praktische Vernunft kann zwar eine Bestimmung des Übersinnlichen geben, die die theoretische Vernunft nicht schaffen kann, aber mit dieser praktischen Bestimmung darf man keinen synthetischen Satz vom Übersinnlichen im theoretischen Sinne bilden, denn uns fehlt jede Art der Anschauung dafür. Die objektive Realität der Ideen des Übersinnlichen ist keine theoretische, sondern praktische, und zwar nur in Bezug auf den praktischen Endzweck gültig. Dabei räumen wir zwar ein, dass die Ideen des Übersinnlichen „real sind, und wirklich ihre (möglichen) Objekte haben“ (KpV 05.134), aber die menschliche Vernunft ist nicht in der Lage zu zeigen, wie sich die Ideen „auf ein Objekt beziehen“ (KpV AA 05:135). Ohne die Erklärung des Objektbezugs bleibt die praktische Bestimmung des Übersinnlichen also theoretisch unbestimmt, und die praktische Realität der Ideen ist daher eine Realität ohne jede Anschauung, die aber dank des Bedürfnisses der praktischen Vernunft nicht geringere Notwendigkeit besitzt als die empirische Realität der Verstandesbegriffe. Die Ideen nehmen die Wirklichkeit ihres Gegenstandes deswegen an, weil sie ihre objektive Realität durch den Bezug auf den praktischen Endzweck erhalten, nicht aber umgekehrt. Kant bezeichnet diese Annahme der Wirklichkeit der übersinnlichen Gegenstände als ein „praktisches Postulat“ bzw. das Postulat der reinen praktischen Vernunft. Dieses Postulat ist zugleich die notwendige Annahme des übersinnlichen Substrats der sinnlichen Natur, und zwar des Substrats dessen, was

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ist (als Erscheinung), denn es betrifft eigentlich die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass sich das höchste Gut in der Natur realisiert. § 7. Die moralische Zweckmäßigkeit der Natur gemäß der praktischen Bestimmung ihres übersinnlichen Substrats Die Bestimmung des Übersinnlichen ist eine praktische, und zwar bestimmt nach dem Endzweck des höchsten Guts. Daher schränkt sich das Postulat der Möglichkeit des Übersinnlichen darauf ein, dass es die Bedingung der Realisierung des höchsten Guts in der Welt bereitet. So betrifft die praktische Bestimmung des Übersinnlichen bzw. des übersinnlichen Substrats der Natur zugleich die Regulation der Natur, die ihrerseits aber keine weitere Bestimmung der Natur, sondern bloß Reflexion derselben ist. Diese regulative Reflexion führt dazu, dass die Natur als der Realisierbarkeit des höchsten Guts in ihr bzw. dem Endzweck der reinen praktischen Vernunft gemäß zu verstehen ist. Dies ist eben die praktisch-moralisch zweckmäßige Natur, in der alle Naturdinge sich aufeinander und insgesamt auf jenen praktischen Endzweck beziehen – was man im ersten Deduktionsschritt als ein notwendigerweise bestimmtes teleologisches System der Natur suchen wollte (vgl. § 3 der gegenwärtigen Deduktion). Für ein solches zweckmäßige Natursystem wird als der allgemeine und unbedingte Endzweck gesetzt nicht irgendein beliebiges Naturprodukt, sondern der Mensch als Noumenon, und zwar der Mensch in seiner rein moralischen Handlung. Denn von dem Menschen als moralischem Wesen kann nicht weiter gefragt werden, wozu er existiert. Das Dasein des Menschen „hat den höchsten Zweck selbst in sich, dem, so viel er vermag, er die ganze Natur unterwerfen kann“ (KU AA 05:435). Nur in dem Menschen „als Subjekte der Moralität ist die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke anzutreffen, welche ihn also allein fähig macht, ein Endzweck zu sein, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist.“ (KU AA 05:435 f.) – „unbedingte Gesetzgebung“, dies besagt hier, dass der Mensch in seiner Freiheit die ununterbrochene Beförderung der Realisierung des höchsten Guts in der Natur als seine Pflicht setzt.16 Die Natur in ihrer moralisch-zweckmäßigen Reflexion ist also das Ergebnis der praktischen Regulation. Die ganze Natur ist dem Dasein nach, und zwar ihrer materiellen Beschaffenheit nach, auf den freien und mithin noumenalen Menschen gerichtet, der seinerseits außer der Natur besteht, ohne die formale Gesetzmäßigkeit derselben nach dem Verstand zu beschädigen, die sich in dem Mechanismus

16 Dazu

vgl. Abschn. 4.1.3 der vorliegenden Untersuchung.

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als metaphysischem Gesetz ausdrückt. Vielmehr wird die mechanistische Betrachtungsweise in der Naturreflexion, wegen der Zurückführung auf ein übersinnliches Prinzip, der teleologischen Maxime untergeordnet. § 8. Zusammenfassung der ganzen Deduktion Die Vernunft hat einen zweifachen Gebrauch, nämlich den theoretischen und den praktischen. Bei dem ersten geht es um die Frage, was ist, bei dem zweiten um die Frage, was sein soll. Die praktische Bestimmung des Übersinnlichen verlangt die Vereinigung beider Vernunftgebräuche. Die einzige berechtigte Möglichkeit aber, die Vereinigung zustande zu bringen, ist die Unterordnung des theoretischen unter den praktischen (vgl. § 5). Dies geht auf die Grundverfassung der praktischen Vernunft zurück, die in sich das notwendige Bedürfnis der Realisierung ihres Endzwecks in der Natur hat, während die theoretische Vernunft den Begriff des übersinnlichen Substrats der Natur nur unbestimmt bleiben lässt, der aber die Bedingung der Möglichkeit jener Realisierbarkeit betrifft. Um ihres notwendigen Bedürfnisses willen gibt die praktische Vernunft dem theoretisch unbestimmten Begriff des Übersinnlichen die Bestimmung, und zwar die praktisch-objektive Realität (vgl. § 6). Diese praktische Realität des Begriffs eines übersinnlichen Substrats überhaupt macht ihrerseits die praktische Regulation der Natur möglich, die durch die praktisch-reflektierende Urteilskraft zustande kommt. In dieser Reflexion ist die Natur als ein moralisch-zweckmäßiges System zu betrachten, worin der freie Mensch, nämlich der Mensch in seinem noumenalen Dasein durch die rein moralische Handlung, als Endzweck dieses teleologischen Systems gelten muss (vgl. § 7). Dieses moralisch-zweckmäßige System ist eben dasjenige, das in dem ersten Beweisschritt (§§ 1–4) als ein notwendigerweise bestimmtes System aller Naturdinge gesucht worden ist. So wird die praktische Regulation der Natur bzw. die praktische Bestimmung des übersinnlichen Substrats derselben als notwendig und allgemeingültig gerechtfertigt.

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Die Endabsicht der Metaphysik im System der praktisch-regulativen Ideen des Übersinnlichen

Zu den ältesten Fragen der Metaphysik gehört die Frage danach, was die ersten Prinzipien oder ersten Ursachen des Seienden im Ganzen seien. Nach der vorigen Darstellung wurde schon klar, dass es bei Kant nicht möglich ist, dass diese ersten Prinzipien – oder mit Kants eigenen Wort, das übersinnliche Substrat der Natur – durch das spekulative Verfahren der Vernunft erklärt werden. Vielmehr können die Ideen des Übersinnlichen nur als praktisch-regulative Prinzipien der moralisch-zweckmäßigen Reflexion der Natur in einer transzendentalen Deduktion nachgewiesen werden und mithin objektive Realität haben, obzwar nur praktische Realität. Hinsichtlich dessen kann man jene metaphysische Frage nach den ersten Ursachen des Seienden auf eine kantische Weise neu formulieren und aufstellen: Welche Ideen können als die regulativen Prinzipien der moralisch-zweckmäßigen Naturreflexion dienen? Die Antwort auf diese Frage macht den Höhepunkt des dritten und letzten Stadiums der „eigentlichen Metaphysik“ Kants aus, sofern die gesuchten Ideen in einem auf der kritischen Philosophie beruhenden System miteinander stehen – ein System, das Kant zwar vielfach genannt1 , aber niemals entfaltet hat, so dass man nicht leicht einsehen kann, dass Kant eigentlich eine Systematisierung der Vernunftbegriffe des Übersinnlichen versucht und zum Wesentlichen seiner Philosophie gehörig gemacht hat.2 Für Kant ist die Forderung, Metaphysik sei System der Vernunftbegriffe, klar und ohne jeden Zweifel,3 weil diese Forderung 1 Expliziert

in Verkündigung AA 08:418, FM AA 20:295, impliziert in KU AA 05:474. gibt auch einen Grund, warum der Metaphysikbegriff bei Kant so kontrovers in den Forschungen ist, wie ich in der Einleitung der gegenwärtigen Arbeit gezeigt habe. 3 Vgl. z. B. 06:371: „ein System reiner, von aller Anschauungsbedingung unabhängiger Vernunftbegriffe“. 2 Dies

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Y. Xie, Praktische Regulation der Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62252-0_7

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Die Endabsicht der Metaphysik im System …

aus dem systematisch-architektonischen Charakter der Vernunft herkommt. Freilich kann dies erst festgestellt werden, nachdem das gedachte System prinzipiell sowie im Einzelnen dargestellt worden ist, indem man nicht einfach bei Kants eigener Behauptung stehen bleibt. Eine systematische Darstellung der Ideen des Übersinnlichen ist aber Kant zufolge nur dann eine wahrhafte, wenn erstlich das System sich aus einem einzigen Prinzip bildet und wenn zweitens die Ideen sich nach einer bestimmten Ordnung zueinander verhalten.4 Es ist selbstverständlich, dass dieses Bildungsprinzip sich auf die Realisierbarkeit des Endzwecks des höchsten Guts in der Welt bezieht, da die Ideen des Übersinnlichen nur als praktisch-regulative Ideen für die Natur hinsichtlich ihrer objektiven Realität gerechtfertigt werden. Wie dieses Prinzip genauer zu verstehen ist, werde ich später untersuchen. Zum Anfang möchte ich die Weisen thematisieren, wie Kant eine mögliche Ordnung der Ideen entfaltet, was als Grundlegung der weiteren Untersuchung dienen kann.

7.1

Die analytische und die synthetische Ordnung der Ideen des Übersinnlichen

Die Ordnung der Vernunftbegriffe macht Kant zunächst in dem wohlbekannten dritten Abschnitt im ersten Buch der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft mit dem Titel „System der transzendentalen Ideen“ zum Thema. Dort werden die transzendentalen Ideen als Begriffe des Unbedingten gekennzeichnet, welche nach der Reihenfolge des Unbedingten der kategorischen, hypothetischen und disjunktiven Bedingung/Bedingtes-Synthesis weiter eingeteilt werden (vgl. KrV A 323/B 379). Die Ordnung der Begriffe des Unbedingten hängt daher von derjenigen der Relationskategorien ab, wodurch Kant zwar aufgewiesen hat, welche Ideen als Grundbegriffe des Systems angesehen werden sollen, was freilich für das jetzige Thema sehr wichtig ist; aber er hat dadurch nicht hinreichend begründet, nach welcher Ordnung sich die Ideen zueinander verhalten, denn die Reihenfolge der Relationsmomente im Urteil, auf denen die Ordnung der Relationskategorien beruht, ist selbst in der Tat nur zufällig: man sieht darin keine strenge Notwendigkeit, warum das kategorische Urteil an der ersten Stelle steht und das disjunktive 4 „Unter

der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen, in welchem sie allein die wesentlichen Zwecke derselben unterstützen und befördern können. Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen so wohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt wird.“ (KrV A 832/B 860)

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an der dritten.5 Vielmehr bezieht Kant die drei Ideen bloß auf die Disziplinen der metaphysica specialis der damals an den deutschen Universitäten populären Schulphilosophie, die von Christian Wolff stark geprägt wurde.6 – Freilich kann auch die Reihenfolge der Disziplinen der metaphysica specialis selbst je nach Autoren unterschiedlich angegeben werden.7 Erst in einer für die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft angefügten Fußnote in diesem Abschnitt (vgl. KrV B 395 Anm.) gibt Kant eine Begründung für die Ordnung derselben an. Darin lassen sich zwei Ordnungen sehen, die synthetische und die analytische. In der synthetischen geht man von dem Begriff Gottes über den der Freiheit auf den der Unsterblichkeit, oder hinsichtlich der darauf beruhenden Wissenschaften von Theologie über Moral auf („durch beider Verbindung“) Religion, während die analytische dagegen mit der Seelenlehre anfängt, dann zur Weltlehre und endlich zur Theologie kommt. Es ist offenbar, dass die hier angegebene analytische Ordnung auch die Reihenfolge ist, nach der Kant die transzendentale Dialektik organisiert, nämlich von dem Paralogismus der Seelenlehre ausgehend über die kosmologische Antinomie bis zum transzendentalen Ideal nach dem Gottesbegriff. Denn, wie Kant erklärt, es kommt dort auf die „Bearbeitung“ an, die vor der „systematischen Vorstellung“ der Ideen (nämlich der synthetischen Ordnung) „notwendig vorhergehen muß“ und für welche die analytische Ordnung angemessener ist, weil man in der Bearbeitung von „demjenigen, was uns Erfahrung unmittelbar an die Hand gibt“ anfangen soll – nämlich von der Seelenlehre (vgl. KrV B 395 Anm.). Die Nebeneinanderstellung der analytischen mit der synthetischen Ordnung findet sich auch in der Preisschrift, wo Kant die analytische Ordnung in Vergleich zu derselben in Kritik der reinen Vernunft leicht verändert und zugleich die beiden Ordnungen auf klarere Weise mit der „analytischen“ und „synthetischen Methode“ verbindet (vgl. FM AA 20:295). Nach der analytischen Methode werden die Ideen als das Übersinnliche „in uns, über uns und nach uns“ geordnet, nämlich: 5 Vielleicht

kann man diese Abfolge der Urteiltypen auf die Tradition der klassischen aristotelischen Syllogistik zurückführen, aber auch die Zurückführung auf eine Tradition ist keine gute Angabe für die Notwendigkeit. 6 Man darf sogar die Dreiteilung der schulphilosophischen metaphysica specialis in die psychologia, cosmologia und theologia rationalis auf Descartes zurückführen, der in seinem Hauptwerk Meditationes die Seele, den Körper und Gott als drei grundliegende Substanzen erklärt. Vgl. dazu Vollrath, E. „Die Gliederung der Metaphysik in eine Metaphysica generalis und eine Metaphysica specialis“, in: Zeitschrift Für Philosophische Forschung, 16(2), 1962, S. 258–284, besonders S. 280. 7 Beispielsweise tritt in Baumgartens Metaphysica die Kosmologie, vor die Psychologie, an die erste Stelle der spezifischen Metaphysik.

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Freiheit, Gott und Unsterblichkeit. Die Ordnung nach der synthetischen Methode bleibt unverändert: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Bevor man auf die Ordnung der Ideen noch weiter eingeht, sollte man erklären, was Kant hier unter der „analytischen“ und „synthetischen“ Methode versteht.8 In der Methodenlehre der Logik-Vorlesung, die von Jäsche herausgegeben wurde, gibt Kant die Definition dazu an (vgl. Logik AA 09:149): die analytische Methode „fängt von dem Bedingten und Begründeten an und geht zu den Prinzipien fort (a principiatis ad principia), während die synthetische hingegen „von den Prinzipien zu den Folgen oder vom Einfachen zum Zusammengesetzten“ geht. Kant nennt daher die analytische Methode die „regressive“ und mithin „die Methode des Erfindens“, und die synthetische dagegen die „progressive“. Damit lässt sich zusammenfassen, dass man der analytischen Methode gemäß von den schon bekannten Folgen ausgehend nach den noch unbekannten Bedingungen dazu sucht. In dem synthetischen Verfahren dagegen bildet man von den bekannten Bedingungen das Begründete, oder sieht, wie diese Bedingungen und Elemente zu einem System verbunden werden.9 In der Sequenz der Bedingungen steht alsdann diejenige am Anfang, welche den anderen gegenüber als die höchste angesehen werden kann. Diese synthetische Reihenfolge ist die „schicklichste“ für „systematische[] Vorstellung“ der Ideen (B 395 Anm.), weil ein System, nach Kants Bestimmung, gerade von dem Prinzip statt von dem principiatum ausgehen soll. Daraus kann man die Regeln der analytischen und der synthetischen Ordnung der Ideen bei Kant klar machen. Die analytische Ordnung derselben entsteht durch die Zergliederung des Begründeten in seine Bedingungen, und, wenn man sich nur auf die Sequenz der Bedingungen konzentriert, soll diese Zergliederung mit derjenigen Bedingung beginnen, die uns am leichtesten oder sogar unmittelbar zugänglich ist. Dies erklärt auch, warum Kant in der Kritik der reinen Vernunft und in der Preisschrift eine je verschiedene analytische Ordnung der Ideen anzeigt. In dem ersten Fall denkt man daran, wie sich das Unbedingte als der „Grund der Synthesis des Bedingten“ und das Ermöglichende der „Totalität der Bedingungen“ (KrV A 322/B 379) in der spekulativen Vernunft dargestellt werden. Ich nenne also diese analytische Ordnung der Ideen, gegenüber der zweiten, später zu erörternden analytischen 8 Kant

verwendet dieses Begriffspaar „analytisch/synthetisch“ in verschiedenem Kontext, am bekanntesten in der Einteilung der Urteilsarten. Ich sehe aber keine deutliche Gemeinsamkeit zwischen diesem Unterschied der Urteilsarten und der Nebeneinanderstellung von analytisch/synthetischer Methode. Daher konzentriere ich mich hier nur auf die analytisch/synthetische Methode und lasse den anderen Gebrach dieses Begriffspaars beiseite. 9 In dieser Definition der analytischen und synthetischen Methode sieht man auch die Differenz der Organisation zwischen Kritik der reinen Vernunft und Prolegomena (vgl. Prol. AA 04:274 f.), welche als „Vorübung“ der ersten bezeichnet wird (Prol. AA 04:261).

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Ordnung, die spekulative. Die Ideen fungieren also als die Bedingungen, welche die absolute Einheit alles bedingten Naturdings bzw. alles Erfahrbaren möglich machen. Daher nimmt man das als Ausgangspunkt, „was uns Erfahrung unmittelbar an die Hand gibt“, nämlich von der Seelenlehre und der Idee derselben (Seele) (vgl. KrV B 395 Anm.). In der Seele wird eine intelligible Spontaneität vorgestellt, die mit dem Bewusstsein der Freiheit verbunden ist. Dies stellt aber die Vereinbarkeit des Intelligiblen mit den Naturgesetzen infrage, welche den Übergang von Psychologie zur Kosmologie macht (vgl. KrV B 430 f.).10 Darin wird die unbedingte Totalität der Bedingungsreihe aller in der Erfahrung Gegebenen (die Welt) thematisiert. Der in der Kosmologie (in der vierten Antinomie) entwickelte Begriff des notwendigen Wesens „drängt uns“ zum Begriff Gottes (vgl. KrV A 566/B 594), welcher das „Wesens aller Wesen“ oder die „oberste Bedingung der Möglichkeit von allem, was gedacht werden kann“ (KrV A 334/B 391) sei. Dies ist die Ordnung der Ideen, die man sich durchs spekulative Verfahren der Vernunft vorstellt, und Kant sieht diese als einen „so natürliche[n] Fortschritt [an], dass er dem logischen Fortgang der Vernunft von den Prämissen zum Schlußsatze ähnlich scheint“ (KrV A 337/B 394 f.), weil die letzte Idee Gott, als die „absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt“ (KrV A 334/B 391, Herv. von Y. X.), als diejenige zu verstehen ist, die sowohl die Einheit des denkenden Subjekts (Seele) als auch die Einheit der Bedingungsreihe der Erscheinung (Welt) in sich enthält und also als die höchste Bedingung der Einheit alles Bedingten erwiesen wird. In dem zweiten Fall (in der Preisschrift) wird das Verhältnis der Ideen anders dargestellt, als in dem ersten Fall, denn sie sind nun nicht mehr als Grund der absoluten Einheit der Erfahrung zu denken, sondern als die Bedingungen der Möglichkeit des praktischen Ideals bzw. des höchsten Guts (vgl. FM AA 20:294). Die Gegenstände der Ideen wird also genauer als das „Übersinnliche“ statt als das „Unbedingte“ bezeichnet.11 Man „muss“ nun von der Freiheit den Anfang machen, „weil wir von diesem Übersinnlichen der Weltwesen allein“ das moralische Gesetz erkennen, nach welchem „der Endzweck allein möglich ist“ (FM AA 20:295). So beginnt die Analyse der Möglichkeitsbedingungen des höchsten Guts mit dem „Übersinnlichen in uns“, nämlich der Freiheit, die, als „formale Bedingung“ desselben, nicht nur „Autonomie der praktischen Vernunft“, sondern zugleich auch „Autokratie“ 10 Kant kündigt in der „Allgemeine[n] Anmerkung“ des Paralogismus der B-Auflage einen „Übergang von der rationalen Psychologie zur Kosmologie“ an (KrV B 428 ff.), die aber in einer nicht deutlichen Weise durchgeführt wird: der praktische Gebrauch der Kategorien der Kausalität, der Substanz (Unteilbarkeit) etc. sei mit den Naturgesetzen (in der Kosmologie) kompatibel. 11 Zum Unterschied der Bedeutung der beiden Termini vgl. den Exkurs im Abschn. 2.1 der vorliegenden Arbeit.

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derselben ist, und zwar ein „Vermögen“, den praktischen Endzweck „unter allen Hindernissen, welche die Einflüsse der Natur auf uns … verüben mögen, … im Erdenleben zu erreichen“ (ebd.). Die Idee der Freiheit fungiert dann als „der einzige Begriff des Übersinnlichen …, welcher seine objektive Realität … an der Natur durch ihre in derselben mögliche Wirkung beweist und eben dadurch die Verknüpfung der beiden anderen [sc. der Idee Gottes und der Unsterblichkeit] mit der Natur … möglich macht“ (KU AA 05:474). Dieses „Prinzip in uns“ (FM AA 20:295, KU AA 05:474) „ist vermögend“, „die Idee des Übersinnlichen in uns, dadurch aber auch die desselben außer uns … zu bestimmen“ (KU AA 05:474), und mithin kann man zum „allgnügsame[n] Prinzip des höchsten Gutes über uns“ gehen, welches, als „moralischer Welturheber“ bzw. Gott verstanden, die „materiale Bedingung dieses Endzwecks“ ist, weil dieses Prinzip es ermöglicht, eine der Sittlichkeit angemessenen Glückseligkeit in der Welt zu realisieren (FM AA 20:295). Die Momente der beiden ersten Ideen, der freien Autokratie und des moralischen Welturhebers, befinden sich auch in der Idee der Unsterblichkeit, denn in dem Begriff derselben, sofern sie die Bedingung des höchsten Guts ausmacht, wird erforderlich, dass die Existenz des freien handelnden Wesens in der moralisch-zweckmäßig geschaffenen, künftigen Welt ins Unendliche fortdauert. Darin sieht man also die praktische analytische Anordnung der Ideen als der Bedingungen des praktischen Ideals, die nochmals einem Vernunftschluss von Prämissen auf Konklusion ähnlich ist. Offensichtlich sind die einzelnen Ideen in den beiden analytischen Ordnungen voneinander verschieden. Die Idee der Welt der spekulativen Ordnung erstlich wird in der praktischen Ordnung durch den Freiheitsbegriff ersetzt, der im ersten Fall unter der kosmologischen Antinomie als die Kausalität, unabhängig von den Naturgesetzen „eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen“, behandelt wurde (vgl. KrV A 535/B 562). Zweitens spielt auch die Idee der Seele als einfacher Substanz keine Rolle in der praktischen Ordnung. An ihre Stelle tritt nun die Unsterblichkeit, die zunächst im spekulativen Verfahren der Vernunft innerhalb der Seelenlehre thematisiert wurde, und zwar in dem Versuch, die Unsterblichkeit der Seele durch die Einfachheit der denkenden Substanz zu beweisen.12 Nun ist im Begriff der Unsterblichkeit der praktischen Ordnung keine Rede von der Seele als Substanz und deren „Inkorruptibilität“ (KrV A 345/B 402); es kommt dabei vielmehr auf die unendliche Fortdauer des Daseins des frei handelnden Wesens an, das als homo noumenon zu verstehen ist. Schließlich bleibt die Idee Gottes zwar zurück, aber ihrer Bedeutung nach nicht mehr dieselbe: Gott wird in praktischer Absicht nicht als die „oberste und vollständige materiale Bedingung“ der Möglichkeit alles Existierenden angesichts der „durchgängigen Bestimmung“ dessen 12 Dazu

vgl. Abschn. 3.1.2 und 3.2 meiner Arbeit.

7.1 Die analytische und die synthetische …

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verstanden (vgl. KrV A 576/B 604), sondern als die moralische Weltursache, die der moralisch-zweckmäßigen Natur zugrunde liegt. In dem Vergleich beider analytischen Reihen der Ideen müssen diese Unterschiede jederzeit in Betracht gehalten werden. Mit der synthetischen Ordnung der Ideen dagegen ist es ganz anders bewandt. Vor allem ist auffällig, wie erwähnt, dass es nur eine synthetische Ordnung gibt, sowohl in der Kritik der reinen Vernunft als auch in der Preisschrift, nämlich von Gott an über Freiheit bis zur Unsterblichkeit. Und man muss dann bemerken, dass es in beiden Stellen nichts anderes als die praktische Ordnung ist. Denn mit der synthetischen Methode geht man von den Elementen bzw. den Bedingungen auf das Ganze bzw. das Begründete. Und dies kann man nur in praktischer Absicht erfolgreich tun, sofern die Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch daran scheitert, die Ideen des Unbedingten als die konstitutiven Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungsgegenstände zu beweisen. So können die Ideen nur im praktischen Gebrauch der Vernunft als Bedingungen zu einem gewissen Objekt dienen und endlich ein systematisches Ganzes ausmachen, und zwar als das Substrat der moralisch-zweckmäßigen Natur, in der das praktische Ideal des höchsten Guts realisiert wird. Daher kann nur an den Ideen des Übersinnlichen in ihrer synthetischen Ordnung, nicht aber in der analytischen, gezeigt werden, wie das höchste Gut nicht bloß als der „ganze Gegenstand der praktischen Vernunft“ durch das moralische Gesetz notwendig geboten, sondern auch durch diese Ideen als in der Welt realisierbar begründet werden kann. Dies erklärt auch, warum diese drei Ideen in den Texten Kants meistens nach der synthetischen Methode geordnet werden, wenn sie aufgezählt werden.13 Kant bezeichnet die synthetische Ordnung der Ideen ebenso als „zusammen gleichsam in der Verkettung der drei Sätze eines zurechnenden Vernunftschlusses“ stehend (Verkündigung AA 08:418). Im Folgenden werde ich mich zunächst nach der praktisch-analytischen Ordnung mit den Ideen des Übersinnlichen und ihren Bestimmungen hinsichtlich der Möglichkeitsbedingung des höchsten Guts beschäftigen. Dabei geht es zugleich auch um die Frage danach, welche Ideen in der praktischen Regulation als das Substrat bzw. das übersinnliche Prinzip für die moralisch-zweckmäßige Natur dienen können. Und am Ende werde ich umgekehrt nach der synthetischen Methode systematisch untersuchen, wie diese Ideen mit ihren praktischen Bestimmungen zusammen einen besonderen Horizont ausmachen, in dem es klar wird, wie sich das höchste Gut realisiert und wie die Metaphysik als Mittel zum Endzweck der Menschheit dient, wie man sich es in der „Philosophie nach dem Weltbegriff“ vorstellt. 13 Vgl.

KrV B 7; KU AA 05:473; Verkündigung AA 08:418; FM AA 20:300, 20:310.

180

7.2

7

Die Endabsicht der Metaphysik im System …

Die praktische Bestimmung der Ideen des Übersinnlichen nach der analytischen Ordnung

Die Bestimmung der Ideen des Übersinnlichen, die nur in der rein praktischen Regulation gerechtfertigt wird, steht bei Kant in der Tat unter dem Titel der „Postulate der reinen praktischen Vernunft“ oder „Vernunftglaube“, wie vorher schon gezeigt. Den Begriff des Postulats nimmt Kant von der Fachsprache der Mathematik auf, in der das Postulat ein unerweislicher Satz ist, der das Verfahren bezeichnet, wie wir einen Begriff erzeugen sollen. Es geht dabei also bloß um die Handlung der Synthesis für den Begriff, nicht aber den Begriff selbst. „Mit eben demselben Rechte“ bezeichnet Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft die Grundsätze der Modalität als „Postulate des empirischen Denkens überhaupt“, „weil sie ihren Begriff von Dingen überhaupt nicht vermehren, sondern nur die Art anzeigen, wie er überhaupt mit der Erkenntniskraft verbunden wird“ (KrV A 234 f./B 287). Zu postulieren ist dabei die Regel, inwiefern wir einen Gegenstand als möglich, wirklich oder notwendig verstehen können, und die Postulate des empirischen Denkens überhaupt gehen mithin nicht auf den Gegenstand und dessen Begriff, sondern auf die „Handlung des Erkenntnisvermögens“ (KrV A 234/B 287). Besondere Originalität des Gebrauchs dieses Ausdrucks bei Kant befindet sich in seiner Lehre der Postulate der reinen praktischen Vernunft, die weder als Postulate der Mathematik noch als Postulate des empirischen Denkens überhaupt zu verstehen sind. Ein Postulat der reinen praktischen Vernunft ist derjenige theoretische Satz, dessen Gültigkeit durch die theoretische Vernunft allein nicht bewiesen werden kann, aber in dem Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft begründet wird (vgl. KpV AA 05:122). In der Dialektik der reinen praktischen Vernunft werden drei Postulate genannt: das der Unsterblichkeit (der Seele), der Freiheit als der Willensbestimmung nach dem moralischen Gesetz und des Daseins Gottes. Die praktischen Postulate unterscheiden sich also der Formulierung nach von beiden oben genannten Arten der Postulate dadurch, dass sie „die Möglichkeit eines Gegenstandes (Gottes und der Unsterblichkeit der Seele)“ postulieren, nicht aber „die Möglichkeit einer Handlung“ (KpV AA 05:11 Anm.). D. h. wir nehmen in diesen Postulaten direkt die Existenz der betreffenden Gegenstände an, obwohl uns keine ihnen korrespondierende Anschauung zukommt, und die Postulate sind in diesem Sinne theoretische Erkenntnisse. Aber deswegen, weil sie nur im Bedürfnis der praktischen Vernunft bzw. in dem kategorischen Imperativ zur Beförderung der Verwirklichung des höchsten Guts gerechtfertigt werden können, sind sie zugleich auch praktische Erkenntnisse, in der Rücksicht, dass sie „dem Gehalt nach (in potentia) oder objektiv

7.2 Die praktische Bestimmung …

181

praktisch“ sind (Logik, AA 09:86).14 Diese Postulate der Existenz der transzendenten Gegenstände weisen uns also durch ihren Charakter als praktisch begründete theoretische Sätze auf die praktische Bestimmung der Ideen des Übersinnlichen hin, und zwar auf die regulativen Prinzipien für die moralisch zweckmäßige Natur. Nun fangen wir, nach der o. g. analytischen Ordnung, mit der praktischen Bestimmung des Freiheitsbegriffs an.

7.2.1

Die Freiheit als Autokratie gegen alle Hindernisse der Natur

Dem Anschein nach könne sich der Freiheitsbegriff von den beiden anderen praktisch postulierten Idee des Übersinnlichen (Gottes und der Unsterblichkeit) dadurch unterscheiden, dass er nicht bloß ein Vernunftglaube ist, sondern unter die „Tatsachen“ gezählt werden soll (vgl. KU AA 05:468). Denn Freiheit ist nicht nur die Bedingung der Möglichkeit des höchsten Guts, sondern vor allem schon die Bedingung, oder mit Kants eigenem Wort, die ratio essendi, des moralischen Gesetzes, durch das als den kategorischen Imperativ uns erst der Endzweck des höchsten Guts geboten wird. Da das moralische Gesetz als Grundsatz der reinen praktischen Vernunft uns unmittelbar bewusst wird, als das Faktum der reinen Vernunft, wird die Freiheit, als seine ratio essendi, auch dadurch in ihrer Realität bewiesen. Und Kant sagt vielmals, dass der Freiheitsbegriff „der einzige Begriff des Übersinnlichen ist, welcher seine objektive Realität (vermittelst der Kausalität, die in ihm gedacht wird) an der Natur durch ihre in derselben mögliche Wirkung beweist“ (KU AA 05:474, vgl. auch 05:468). Es scheint daher überflüssig zu sein, dass Kant

14 In Bezug auf die praktischen Postulate sagt Kant in der Verkündigung (1796): „Postulat ist ein a priori gegebener, keiner Erklärung seiner Möglichkeit (mithin auch keines Beweises) fähiger praktischer Imperativ. Man postulirt also nicht Sachen, oder überhaupt das Dasein irgend eines Gegenstandes, sondern nur eine Maxime (Regel) der Handlung eines Subjects.“ (AA 08:418) Diese Auffassung des Postulats als des praktischen Imperativ bei Kant widerspricht seiner eigenen Formulierung in der Kritik der praktischen Vernunft: „Es sollte fast scheinen, als ob dieser Vernunftglaube hier selbst als Gebot angekündigt werde, nämlich das höchste Gut für möglich anzunehmen. Ein Glaube aber, der geboten wird, ist ein Unding. Man erinnere sich aber der obigen Auseinandersetzung dessen, was im Begriffe des höchsten Guts anzunehmen verlangt wird, und wird man inne werden, daß diese Möglichkeit anzunehmen gar nicht geboten werden dürfe, und keine praktische Gesinnungen fodere, sie einzuräumen, sondern daß spekulative Vernunft sie ohne Gesuch zugeben müsse.“ (KpV AA 05:144) Es ist mir noch unklar, warum Kant hier ohne weitere Begründung eine Veränderung macht.

182

7

Die Endabsicht der Metaphysik im System …

für die Möglichkeit des höchsten Guts zusätzlich die Freiheit des Menschen postuliert.15 Zu einer solchen Behauptung könnte auch Unterstützung durch eine seltsam aussehende Tatsache geliefert werden, dass Kant in seiner Postulatenlehre keinen spezifischen Abschnitt dem Freiheitspostulat gewidmet hat. Zu bemerken aber ist vor allem, dass die Freiheit als Bedingung der Möglichkeit des höchsten Guts (nämlich als Postulat) eigentlich unterschiedlich von der Freiheit als ratio essendi des moralischen Gesetzes verstanden werden muss. Das moralische Gesetz fungiert als der Grundsatz der reinen praktischen Vernunft, die von der Sinnlichkeit befreit ist. Dies aber ist nur dann möglich, wenn wir in uns ein Vermögen haben, uns selbst unabhängig von allen Naturursächlichkeiten zu bestimmen. Dieses Vermögen ist dasjenige, was Kant in der Auflösung der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft eingeführt und als transzendentale Freiheit charakterisiert hat (vgl. KrV 534 f./B 562 f.). Wenn Kant die Freiheit als ratio essendi des moralischen Gesetzes bezeichnet und sagt: „Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein“ (KpV AA 05:04 Anm.), ist von der Freiheit als diesem Vermögen der unabhängigen Selbstbestimmung die Rede. Dies ist ein transzendentaler, aber nur negativer Begriff der Freiheit, weil darin keine positive Bestimmung anzutreffen ist.16 Diese transzendentale Freiheit, soweit sie die Seinsbedingung des moralischen Gesetzes ausmacht, fungiert freilich zugleich auch als Bedingung der Möglichkeit des höchsten Guts, weil das letztere nur durch das moralische Gesetz als Endzweck geboten wird. Aber weil es bei Verwirklichung des höchsten Guts nicht allein auf das moralische Gesetz, sondern vor allem auf die moralisch gute Gesinnung, und zwar auf die Tugend ankommt, muss es in Betracht kommen, was als Bedingung der Tugend dienlich ist. Eben aus dieser Absicht stellt sich Kant die Freiheit als Postulat 15 Diesen Standpunkt vertritt Guyer in seinem früh geschriebenen Aufsatz „In praktischer Absicht. Kants Begriff der Postulate der reinen Vernunft“ (Guyer, P., „In praktischer Absicht. Kants Begriff der Postulate der reinen Vernunft“, in: Philosophisches Jahrbuch, 104(1), 1997, S. 1–18, hier S. 8) und deutlicher in dessen originalem englischen Manuskript (Guyer, P., “From a Practical Point of View, Kant’s Conception of a Postulate of Pure Practical Reason”, veröffentlicht in: Ders, Kant on Freedom, Law, and Happiness, Cambridge 2004, pp. 333– 371, hier p. 353 f.). Er ist der Meinung, der Freiheitsbegriff sei für das höchste Gut ganz überflüssig, so dass die Idee des höchsten Guts für das Argument des Freiheitspostulats nicht notwendig (und für das Argument des Unsterblichkeitspostulats nicht zureichend) ist. 16 Diese ist aber keine „Freiheit im negativen Verstande“ in der Kritik der praktischen Vernunft (KpV AA 05:33), die als „Unabhängigkeit von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objekte)“ verstanden wird. Denn diese „Freiheit im negativen Verstande“ bezieht sich nur auf die Materie des Begehrungsvermögens, gehört also nur zur praktischen Hinsicht und ist mithin kein transzendentaler Begriff. Die transzendentale Freiheit hingegen ist aber die Unabhängigkeit von aller Naturursächlichkeiten überhaupt.

7.2 Die praktische Bestimmung …

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vor. Als Bedingung der Tugend bzw. der guten Gesinnung nämlich reicht der transzendentale negative Begriff der Freiheit nicht. Und man sieht außerdem ein, dass auch die sogenannte „Freiheit im positiven Verstande“, nämlich die „Autonomie der reinen praktischen Vernunft“ (KpV AA 05:33), keine zureichende Bedingung der Tugend ausmacht, weil die menschliche Handlung durch die „eigene Gesetzgebung“ der reinen Vernunft noch nicht der Ausführung nach bestimmt wird. Die Handlung des Menschen aber, dessen Wille nicht heilig ist, wird nur dann als moralisch gut angesehen, wenn sie aus der Pflicht allein ausgeführt wird, und zwar aus der bloßen Vorstellung des moralischen Gesetzes, ohne Einmischung jedes Motivs aus der Selbstliebe. Dabei muss die Vernunft selbst, als der einzige Bestimmungsgrund des Willens, alle aus der Sinnlichkeit hervorgehenden Triebfedern und Hindernisse überwinden, indem sie „dem Gemüt eine ihm selbst unerwartete Kraft gibt, sich von aller sinnlichen Anhänglichkeit, so fern sie [sc. alle sinnliche Anhänglichkeit] herrschend werden will, loszureißen“ (KpV AA 05:152). Diese Selbstbeherrschung des reinen Willens durch die achtende Vorstellung des moralischen Gesetzes nennt Kant in der Preisschrift „Autokratie“ der reinen praktischen Vernunft (FM AA 20:295), die zu dem dritten Freiheitsbegriff führt, nämlich dem transzendental-praktisch exekutiven positiven Begriff der Freiheit, als „ein, wenn gleich nicht unmittelbar wahrgenommenes, doch aus dem sittlichen kategorischen Imperativ richtig geschlossenes Bewußtsein des Vermögens […], über seine dem Gesetz widerspenstige Neigungen Meister zu werden“ (MST AA 06:383).17 Erst dieser Begriff der Freiheit als Autokratie der reinen praktischen Vernunft macht zureichend die Bedingung der Tugend bzw. zugleich des höchsten Guts aus.18 17 Von dem Unterschied zwischen Autokratie und Autonomie wird vor allem in Metaphysik der

Sitten geredet. Vgl. AA 06:397, 06:383 und die Vorarbeiten dazu, AA 23:396, 23: 398, darüber hinaus die frühe Vorlesung Moral Mrongovius, AA 29:626, wo Kant in Bezug auf das Problem des moralischen Gefühls an den Begriff der Autokratie denken und ihn von der Autonomie unterscheidet. Aber damals verbindet diesen Begriff noch nicht mit dem Freiheitsproblem und weniger mit der Möglichkeit des höchsten Guts. Eine ausführliche Untersuchung des Begriffs der Autokratie bei Kant in Unterschied von Autonomie vgl. Peter König, Autonomie und Autokratie: über Kants Metaphysik der Sitten. Berlin/Boston, 1994. 18 Lewis Beck hat schon diesen Unterschied bei dem Freiheitsbegriff zwischen Autokratie und Autonomie gedeutet in seinem A Commentaries to Kant’s Critique of Practical Reason, p. 208. Leider ohne weitere Ausführung. In seinem späten Aufsatz „Five Concepts of Freedom“ (in: Stephan Körner—Philosophical Analysis and Reconstruction, Dordrecht, 1987. pp. 35–51.) wird aber die Bedeutung der Freiheit als Autokratie verwunderlich übersehen. Sehr deutlich wird dieser Unterschied in Allison Kant’s Theory of Freedom, Cambridge, 1990, Noten 35 auf der Seite 285, dargestellt. Allison zeigt mit Recht, dass die autonomische Freiheit von allen Handelnden besitzt wird, während die autokratische Freiheit die Forderung und notwendige Bedingung für die Tugend ist und nur wenigen Subjekten zukommt, die bereits sind, gegenüber allen sinnlichen Triebfedern rein moralisch zu handeln. Die autokratische Freiheit bezieht

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7

Die Endabsicht der Metaphysik im System …

Die Freiheit in diesem Sinne ist nicht als Tatsache zu betrachten, sondern nur als ein Vernunftglaube, und hat mithin den Charakter eines Postulats, denn ihre objektive Realität kann durch das praktische Gesetz noch nicht unmittelbar dargelegt werden, und außerdem kann es auch nicht theoretisch erklärt werden, warum man in seinem Leben unbedingt aus der Achtung des moralischen Gesetzes handeln muss. Diese autokratische Freiheit ist Gegenstand einer Idee des Übersinnlichen, denn sie verlangt die Überwindung aller natürlichen Begierden und Neigungen, nämlich einen unbedingten Gehorsam gegenüber der moralischen Pflicht,19 und gehört mithin zum „eigentlichen Zwecke der Metaphysik“ (vgl. KrV B 395 Anm.). Man muss aber auch zugeben, dass die Rede von Freiheit in der Kritik der praktischen Vernunft sowie auch in der Kritik der Urteilskraft in vielen Hinsichten unklar ist. Kant hat darin den Bedeutungsunterschied zwischen den Freiheitsbegriffen als Bedingung des moralischen Gesetzes einerseits und als Bedingung der Tugend bzw. des höchsten Guts andererseits nicht thematisiert; er hat auch nicht erklärt, warum er keinen spezifischen Abschnitt für das Freiheitspostulat abfasst. Ganz im Gegensatz, indem er vielfach betont, dass die Ideen von Gott und Unsterblichkeit nur im Anschluss an dem Freiheitsbegriff ihre objektive Realität bekommen können (vgl. z. B. KpV 05:04, KU AA 05:468, 474), hebt er die Freiheitsidee gegenüber den anderen beiden postulierten Ideen hervor, so dass der Postulatscharakter der Freiheit meistens im Dunkel steht. Ja sogar erscheint in dem zusammenfassenden Abschnitt über alle praktischen Postulate (Abs. VI der Dialektik der praktischen Vernunft) der Ausdruck: „… vermittelst des Postulats der Freiheit (deren Realität sie [sc. die praktische Vernunft] durch das moralische Gesetz darlegt …)“ (KpV AA 05:133), der eigentlich irreführend ist, gleichsam als ob der Freiheitsbegriff schon als objektiv real bewiesen würde und nicht mehr bloß Postulat wäre. Also lässt sich m. E. vermuten, dass Kant sich während der Abfassung der Kritik der praktischen Vernunft noch nicht deutlich bewusst ist, dass weder der transzendentale negative Begriff der Freiheit als Unabhängigkeit von Naturursächlichkeit noch der Begriff derselben als Autonomie eine hinreichende Bedingung der Tugend bzw. des höchsten Guts ausmacht.20 In der Preisschrift (1793–94) wird erst ausdrücklich, dass die Freiheit, sofern sie die übersinnliche Bedingung des höchsten Guts ist, sich auf das Ideal der Heiligkeit, aber sie ist ihrerseits keine Bedingung der moralischen Zurechnung, denn auch die nicht autokratisch handelnden Menschen müssen für ihre eigenen Handlungen verantwortlich sein. Zu diesem Punkt vgl. auch Bernard Carnois, The Coherence of Kant’s Doctrine of Freedom, trans. by David Booth, Chicago 1987, pp. 116–121. 19 Diese Unbedingtheit ist anders als die gesetzliche Unbedingtheit in dem moralischen Gesetz selbst. 20 Trotz dieser Unklarheit wird der Begriff der autokratischen Freiheit selbst schon in dem Triebfeder-Kapitel der Kritik der praktischen Vernunft zureichend charakterisiert, obwohl

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als Autokratie der reinen praktischen Vernunft angesehen werden muss, die weder scible in theoretischer noch in praktischer Bedeutung ist, sondern ein „Glaube an die Tugend“ (FM AA 20:295), ein Vernunftglaube und mithin ein Postulat.21 Schließlich ist hier auch zu bemerken, dass dabei nicht einfach von der Autokratie, sondern von der Freiheit als Autokratie der reinen praktischen Vernunft die Rede ist und dass ohne die Autonomie derselben eine solche nicht möglich wäre. Die autonomische Freiheit ist die Bedingung der Möglichkeit der autokratischen Freiheit. Kant verbindet in der Preisschrift die Autonomie und Autokratie miteinander durch das Wort „zugleich“.22 Daher soll der dritte Begriff der Freiheit vollständig als „autonomische Autokratie der reinen praktischen Vernunft“ gekennzeichnet werden. Erst durch die Pflicht zu dem Endzweck wird die Idee der Freiheit als die autonomische Autokratie der reinen praktischen Vernunft bestimmt. Als ein Vermögen noch nicht deutlich in Bezug auf den Endzweck des höchsten Guts. Ihm fehlt dort nur der Charakter des Postulats bzw. des Vernunftglaubens. 21 Marcus Willaschek thematisiert in einem neuerdings veröffentlichten Aufsatz das Problem der Charakterisierung der Freiheit als Postulat. (Willaschek, M., “Freedom as a Postulate”. In E. Watkins (Ed.), Kant on Persons and Agency. Cambridge 2017, pp. 102–119.) Mit ausführlicher Textanalyse verteidigt er mit Recht Kants Bezeichnung der Freiheit als Postulat gegen viele Einwände. Aber ich kann, vermittels meiner obigen Erklärung, mit seiner Interpretation nicht einverstanden, wenn er hinsichtlich des epistemischen Status des Postulats (als theoretischer Unbestimmbarkeit und praktischer Notwendigkeit) durch die Rekonstruktion der Argumentation Kants in der Rede vom „Faktum der Vernunft“ eine These vertritt, die Argumentation des Faktums der Vernunft sei nichts anders als eine Argumentation der Freiheit als Postulat. Wie ich im Obigen schon gezeigt habe, ist die Freiheit als die Seinsbedingung des Moralgesetzes (in dem Faktum der Vernunft) von der Freiheit als Bedingung der Verwirklichbarkeit des höchsten Guts (als Postulat) zu unterscheiden: die erste ist die autonomische Freiheit, die zweite die autokratische. Ich wundere mich darüber, dass Willaschek diese Unterscheidung nicht in Betracht zieht, die Kant deutlich in der Preisschrift aufstellt und auch schon von L.W. Beck erwähnt hat (vgl. A Commentaries to Kant’s Critique of Practical Reason, p. 208; Willaschek zitiert auch diese Seite von Beck in dem Aufsatz, S. 104). Außerdem reicht der meiner Meinung nach wichtigste textliche Grund für Willascheks These (S. 111, der Bezugstext ist KpV AA 05:94: „… wenn wir … nun durchs moralische Gesetz, welches dieselbe [sic. die Freiheit] postuliert, genötigt, eben dadurch auch berechtigt werden, sie anzunehmen.“ Herv. von Y. X.) für seine Absicht nicht aus, weil diese Postulierung nicht auf die „Faktum-Argumentation“ verweisen kann, wie Willaschek erwartet; sie kann auch so deutet (und ich halte diese Deutung für vernünftiger): die praktische Vernunft postuliert durch das Gebot des moralischen Gesetzes (und nicht durch das Faktum der Vernunft) die Freiheit als Bedingung der Verwirklichung des höchsten Guts. 22 Vgl. FM AA 20:295. In der Metaphysik der Sitten verwendet Kant auch das Wort „zugleich“ (MST AA 06:383). In der Mrongovius-Vorlesung über Moralität redet Kant von „nicht bloß Autonomie sondern auch Autokratie“ (AA 29:626).

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Die Endabsicht der Metaphysik im System …

der Unbedingtheit des Gehorsams gegenüber der moralischen Pflicht ist die Freiheit ein Übersinnliches „in uns“ (FM AA 20:295). Erst in diesem Sinne steht die Freiheitsidee mit den Ideen von Gott und Unsterblichkeit in einer Reihe und bildet mit ihnen zusammen die Bedingungen des höchsten Guts, wodurch diese drei Begriffe zugleich als praktische Vernunftpostulate gelten. Sie gehört also zu den regulativen Prinzipien für die Natur, weil sie den Menschen zum Noumenon und mithin zu dem Endzweck der Schöpfung macht und daher als die formale Bedingung des höchsten Guts gilt – „formal“, weil sie sich auf die reine Triebfeder der Handlungen durch die Achtung des moralischen Gesetzes bezieht, ohne alle Rücksicht auf die Glückseligkeit bzw. die Beschaffenheit der Natur zu nehmen. Vermittels dessen ist sie ein übersinnliches Substrat der moralisch-zweckmäßigen Natur, und zwar ein solches „in uns“.23

7.2.2

Gott als die moralische Weltursache

In das Postulat Gottes investiert Kant unter anderem seine größte Mühe, und im Vergleich zu den beiden anderen Postulaten zweifeln nur wenige an dem Charakter des Postulats bzw. des Vernunftglaubens vom Gottesbegriff bei Kant.24 Man könnte sogar den Eindruck haben, Kant habe den Gedanken des praktischen Postulats nur entwickelt, um eine Argumentation für das Dasein Gottes anzugeben – ein Versuch, der seit dem Anfang der philosophischen Karriere Kants (wie in seinem ontotheologischen Gottesbeweis in Nova Dilucidatio (1955) sowie in Beweisgrund (1763) leicht eingesehen) in seinem Gedanken eine sozusagen entscheidende Rolle spielt.25 Und der Gegenstand des Gottesbegriffs gilt in der Tradition als derjenige, den man vor allem mit den Begriffen wie „Übersinnlichen“ oder „Unbedingten“ 23 Kant redet von dem intelligiblen Substrat der Natur „in uns“ zuerst im Kontext der ästhetischen Urteilskraft, vgl. KU AA 05:344 f. (Dies betont Klaus Düsing in: „Schönheit als Übergang von Natur zu Freiheit in Kants ,Kritik der Urteilskraft‘“, in Immanuel Kant. Klassiker der Aufklärung, S. 272.) Diese Wendung kann freilich auch für das Thema einer teleologischen Beurteilung der Natur, und zwar für mein gegenwärtiges Thema gelten. Vgl. z. B.: „… und daß wir also in uns ein Prinzip haben, welches die Idee des Übersinnlichen in uns, dadurch aber auch die desselben außer uns, zu einer obgleich nur in praktischer Absicht möglichen Erkenntnis zu bestimmen vermögend ist…“ (KU AA 05:474, Herv. von Y. X.) 24 Auch Guyer, P., “From a Practical Point of View, Kant’s Conception of a Postulate of Pure Practical Reason”, in: Ders, Kant on Freedom, Law, and Happiness, Cambridge 2004, p. 354. 25 Dies hat Aloysius Winter gründlich untersucht, vgl. seinen Sammelband Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants. Hildesheim u. a. 2000, insbesondere N. 2 „Theologische Hintergründe der Philosophie Kants“ und N. 9 „Transzendenz bei Kant. Über ein verborgenes Grundmotiv seines Denkens“.

7.2 Die praktische Bestimmung …

187

bzw. „Absoluten“ bezeichnen will. So ist das Projekt der Metaphysik Kants immer eng mit seiner Gotteslehre verbunden.26 Schon die Verstandesgrundsätze der „Postulate des empirischen Denkens überhaupt“ tragen zur Kritik an dem schulphilosophischen Gottesbeweis bei, indem Kant aus diesen Grundsätzen das Prädikat „Sein“ oder „Wirklichkeit“ als ein nicht-reales Prädikat behauptet.27 Nun wird das Postulat der reinen praktischen Vernunft wiederum mit dem Seins- bzw. Existenzprädikat von Gott verbunden, aber nicht mehr hinsichtlich des unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhangs des Gottesbegriffes mit irgendeiner Empfindung (vgl. KrV A 218/B 265), sondern in Bezug auf das notwendige Objekt des durch das moralische Gesetz bestimmten Willens. Für dieses Objekt wird erforderlich, dass die Glückseligkeit, die dem Menschen in der Sinnenwelt zukommt, proportional der Tugend des Menschen entspricht. Und dasjenige, das diese proportionale Entsprechung gewährleistet, gilt also als die „materiale Bedingung“ des höchsten Guts – „material“ in dem Sinne, dass diese Bedingung sich auf die Glückseligkeit in der Sinnenwelt bzw. auf die Natur bezieht, die als Materie des praktischen Gesetzes zu verstehen ist. Was aber kann diese Bedingung erfüllen, für die proportionale Entsprechung der sinnlichen Glückseligkeit mit der Tugend des Menschen zu bürgen? Für unser menschliches Erkenntnisvermögen ist es nur als eine Weltursache zu denken, welche die Welt nach dem Zweck der gedachten Entsprechung erschafft. Diese Weltursache nennt Kant einen moralischen Welturheber, die aber der Gegenstand des Gottesbegriffs sein kann. Dies ist der Gottesbeweis Kants vermittels des Postulats der reinen praktischen Vernunft, das eigentlich die praktische Bestimmung der Idee des „Übersinnlichen über uns“ aus dem Bedürfnis jener Vernunft ist. Ich werde in dieser Stelle weder darauf eingehen, ob der Gottesbeweis Kants unter dem Titel des praktischen Vernunftpostulats vollständig und zwingend gültig sei, noch darauf, die hier durchgeführte Begründung mit dem „moralischen Argument“ in der Kritik der Urteilskraft zu vergleichen. Ich will hier nur verdeutlichen, wie Kant den Gottesbegriff vermittels seines Gedankens der praktischen Regulation bestimmt; mit dieser praktischen Bestimmung können wir zu dem besonderen Charakter des kantischen Begriffs des Gottes als moralischen Welturhebers gehen.

26 Manche behaupten sogar schlechthin, die „eigentliche Metaphysik“ Kants sei im Wesentlichen als „Theologie“ zu bezeichnen. Siehe z. B. Langthaler, Rudolf: „Die Kennzeichnung des ,dritten Stadiums‘ der neueren Metaphysik als Theologie in Kants später Preisschrift und damit verbundenen systematischen Perspektiven“. In: Über die Fortschritte der kritischen Metaphysik. Beiträge zum System und Architektonik der kantischen Philosophie. Hrsg. von Andree Hahmann und Bernd Ludwig. Hamburg 2017, S. 119–156. 27 Dazu vgl. Abschn. 3.3 dieser Arbeit.

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Die Endabsicht der Metaphysik im System …

Es ist klar, dass, damit die proportionale Entsprechung der Glückseligkeit mit der Tugend garantiert wird, der Gott im Sinne von moralischer Welturheber als existent anzunehmen ist. Wie ist aber ein solcher moralischer Welturheber zu verstehen? An manchen Stellen, an denen Kant seine Moraltheologie in der Form des moralischen Gottesbeweises begründet, zählt Kant einige Bestimmungen Gottes auf, die ihren Namen nach in der traditionellen Theologie angetroffen werden können, aber den Bedeutungen nach ganz davon verschieden sind: Allwissenheit, Allmächtigkeit, Allgerechtigkeit, Allgegenwärtigkeit, Ewigkeit usw. (vgl. KrV 815/B843, KpV AA 05:140, KU AA 05:444). Als moralische Weltursache muss Gott vor allem allgütig sein, denn sonst kann die Angemessenheit der Natur für die Tugend nicht als notwendig vorgestellt werden. Außerdem muss Gott allwissend sein, damit er nicht nur die Handlungen des Menschen, sondern auch das Innerste der Gesinnungen zu diesen Handlungen erkennt, weil die Tugend der Persönlichkeit, die den ersten Bestandteil des höchsten Guts ausmacht, nur nach den rein moralischen Gesinnungen bzw. der Achtung des moralischen Gesetzes möglich ist. Er muss auch allmächtig sein, um die der Tugend angemessenen Folgen in der physischen Sinnenwelt zu erteilen, damit ihm die ganze Natur und deren Beziehung auf die Sittlichkeit des Menschen unterworfen wird. Er muss die Allgegenwart in sich enthalten, damit er „unmittelbar allem Bedürfnisse, welches das höchste Weltbeste erfodert, nahe sei“ (KrV A 815/B 843). Diese „Unmittelbarkeit“ besagt, die Allgegenwart Gottes sei keine räumliche, mithin sinnliche Bestimmung, sondern er sei eigentlich an keinem Ort. Denn das räumliche Bestehen der Dinge ist voneinander getrennt und mithin äußerlich; wenn die Gegenwart Gottes räumlich und lokal zu verstehen wäre, hätte Gott keine unmittelbare Wirkung in den Dingen. Seine Gegenwart ist also vielmehr nur durch seine Wirksamkeit an Dingen zu zeigen, und da er per definitionem als moralischer Welturheber in allen Dingen wirksam sein muss, ist er allgegenwärtig.28 Zu ihm gehört dann auch die Ewigkeit, damit er stets die Justierung der Natur nach der Tugend durchführen kann. Mit einem Wort ist der Gott als der moralische Welturheber nicht nur gesetzgebend für die Natur, sondern auch so für das moralische Reich der Zwecke (vgl. KU AA 05:444). 28 Die Allgegenwart kann aus dem Begriff des moralischen Welturhebers geschlossen werden, aber auf jeden Fall vermittels des Begriffs der Macht, weil die Allgegenwart nicht anders als zu der Realisierung der göttlichen Macht dienen kann. „Gott ist der Welt dadurch gegenwärtig, daß er die Ursache, die Grundlage der Dinge ist“ (Metaphysik-Vorlessung L 1 AA 28:347). Als guter Regierer und Erhalter sei Gott allmächtig und allgegenwärtig: „Er ist allgegenwärtig dadurch, daß er in alles wirkt“ (Metaphysik-Vorlessung L 1 AA 28:347) Die Allgegenwart Gottes ist vor allem „unmittelbar“, „nicht local“, sondern „virtual“; sie ist „die innigste Gegenwart“ (Vorlessung über philosophische Religionslehre nach Pöltz AA 28:1107 ff.). Aber dafür ist die „Allmacht“ nicht nötig; gewissermaßen könnte sich die Allgegenwart des Gottes gründen, auch wenn seine Allmacht nicht gerechtfertigt würde.

7.2 Die praktische Bestimmung …

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Kant zeigt hier an, inwiefern diese Eigenschaften aus dem Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft nötig sind, mit denen die moralische Theologie auch zugleich begründet wird. Freilich sind diese Eigenschaften, wie Kant uns vielfach daran erinnert, „nur nach Analogie“ zu denken (KU AA 05:456), und zwar nach dem, was wir innerhalb unserer Erkenntnisvermögen an einem die Entsprechung der Glückseligkeit mit der Tugend gewährleistenden Urwesen denken können. Die praktische Bestimmung Gottes ist keineswegs theoretische Zuschreibung der genannten Eigenschaften durch die bestimmende Urteilskraft. Durch diese Bestimmungen wird der übersinnliche Gott in seinem Begriff als moralischem Welturheber mit der sinnlichen Natur verbunden, sofern die durch Gott mögliche, der Tugend entsprechende Glückseligkeit in dieser Natur verwirklicht werden muss. Mit anderen Worten wird die Natur dadurch in den Begriff Gottes gesetzt – Natur in dem Sinne, dass sie die Wirkung bzw. das Geschöpf eines sich auf den Endzweck des höchsten Guts richtenden Urhebers ist, und zwar dem originären Sinne von natura gemäß. Die auf solche Weise erschaffene Welt soll dann als nach dem höchsten Guts gerichtet, und zwar als moralisch zweckmäßig vorgestellt werden. Dies zeigt sich deutlicher, wenn Kant in seinem modifizierten moralischen Argument für Gottes Dasein in der Kritik der Urteilskraft den Begriff des Endzwecks der Schöpfung einführt. Denn der Endzweck der Schöpfung wird dort als „diejenige Beschaffenheit der Welt“ gedacht, „die zu dem, was wir allein nach Gesetzen bestimmt angeben können, nämlich dem Endzwecke unserer reinen praktischen Vernunft, und zwar sofern sie praktisch sein soll, übereinstimmt“ (KU AA 05:455). Durch den Begriff des Endzwecks der Schöpfung (nämlich des Menschen in seiner Moralität) wird der Zusammenhang Gottes (als der moralischen Weltursache) mit der Natur (als der moralisch-zweckmäßigen Ganzheit der Erscheinungen) deutlicher charakterisiert. Und in diesem Sinne fungiert das göttliche Übersinnliche als das transzendente bzw. intelligible Substrat der Natur, sofern diese letztere als eine Ganze in einer moralischen Zweckmäßigkeit gedacht wird.29 29 Kant hat in dem Gottes-Postulat der Kritik der praktischen Vernunft

noch nicht deutlich die entsprechende intelligible Beschaffenheit der Natur in Betracht gezogen. Aber es lässt sich einsehen, dass im Begriff des höchsten Guts, sofern es verwirklicht werden kann und soll, schon ein Anspruch auf eine gewisse Beschaffenheit der Natur impliziert wird, nämlich diejenige Beschaffenheit, nach der die Glückseligkeit, die der Tugend proportional entspricht, auch in ihrer Vollkommenheit in der Sinnenwelt wirklich werden kann. In dem Kapitel vom Gottespostulat wurde zwar nur das Urwesen als existent gedacht, das die proportionale Entsprechung der Glückseligkeit mit der Tugend gewährleistet, aber in dem Begriff dieses Urwesens, als moralischen Welturhebers, wird freilich auch eine gewisse Beschaffenheit der Welt schon implizit mitgedacht. Die Explikation dieser Naturbeschaffenheit ist allerdings hinsichtlich der Theoriebildung erst dann möglich, wenn Kant das Prinzip der teleologischen reflektierenden Urteilskraft entdeckt und damit die Idee der objektiven Zweckmäßigkeit in die Reflexion

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7

Die Endabsicht der Metaphysik im System …

In diesem regulativen Prinzip für die Natur wird der Zusammenhang Gottes mit dem intelligiblen Charakter der Welt ausgedrückt. Dieser Zusammenhang ist nun als wechselseitig zu denken: man könnte nicht nur, wie in der Postulatenlehre, aus dem moralischen Gottesbegriff die intelligible Beschaffenheit der Welt, sondern auch umgekehrt, aus dem Begriff der moralisch-zweckmäßigen Natur den Gottesbegriff ableiten.30 Mit anderen Worten enthalten sich die beiden Begriffe in praktischer Absicht wechselseitig. Und dieser Zusammenhang des Gottes- mit dem Naturbegriff kennzeichnet dann die Besonderheit der Gottesidee im Vergleich zu den beiden anderen Ideen des Übersinnlichen, was gewissermaßen dazu führt, dass die synthetische Ordnung des Ideensystems mit dem Gottesbegriff anfängt, wie ich im nächsten Abschnitt ausführlicher zeigen werde.

7.2.3

Die Unsterblichkeit und die Fortdauer der Persönlichkeit

Das Problem der Unsterblichkeit der Menschenseele gilt zwar als eine der beiden Leitfragen der Metaphysik Kants, aber das Postulat derselben scheint von Kant nur stiefmütterlich behandelt zu werden. Während Kant nämlich die Freiheit als die formale Bedingung und die Existenz Gottes als die materiale Bedingung der Möglichkeit des höchsten Guts bezeichnet, schreibt er der Idee der Unsterblichkeit keine besondere Rolle zu. Außerdem entstehen sogar sehr viele Einwände, nach denen das Postulat der Unsterblichkeit für die Möglichkeit des höchsten Guts gar nicht notwendig sei.31 Hinsichtlich dieser besonderen Umstände des Unsterblichkeitsproblems ist es hier nötig, aufgrund der Erklärung des kantischen Beweises seine über die Natur eingeführt hat. Mit dieser Idee können gewisse Naturprodukte als Naturzweck vorgestellt und die ganze Natur auch als nach dem teleologischen Prinzip beurteilt gedacht werden. Dieses letztere wird aber nach unseren Erkenntnisvermögen nur dann gerechtfertigt, wenn man die Natur aus dem Bedürfnis der praktischen Vernunft notwendig so beurteilen muss, und zwar auf die Möglichkeit des höchsten Guts bezogen. Diese Verbindung der zweckmäßigen Naturganzheit mit dem höchsten Gut wird in der Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft durch den Begriff des Endzwecks der Schöpfung erklärt, unter dem man den Menschen versteht, sofern er mit aller Kraft die Verwirklichung des höchsten Guts fördert (vgl. KU AA 05:443 f.). Zur einer solchen Schöpfung, d. h. zur „Existenz der Dinge gemäß einem Endzwecke“ muss aber dann ein sowohl verständiges wie auch „moralisches Wesen als Welturheber, mithin ein Gott“ angenommen werden (KU AA 05:455). 30 Dies bezeichnet schon den Unterschied des Gedankengangs zwischen dem moralischen Gottesbeweis in der Postulatenlehre der zweiten und dem in der Methodenlehre der dritten Kritik. 31 Nach Michael Albrecht (Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim/New York, 1978, S. 126, Anm. 380) wird fast kein Autor von Kants Behauptung und Argumentation

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Behauptung für dieses Postulat gegen die Einwände zu verteidigen, so dass wir dann die Idee der Unsterblichkeit noch als praktische Regulation verstehen können. Für die Möglichkeit des höchsten Guts ist Kant zufolge die „völlige Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetze“ als die „oberste Bedingung“ desselben zu betrachten (KpV AA 05:122). Diese wird von Kant „Heiligkeit“ genannt. Sie ist eine „Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte seines Daseins, fähig ist“. Diese einerseits praktisch notwendig geforderte, andererseits aber von unserem endlichen Menschen unerreichbare Heiligkeit kann nach Kant nur in einem „ins Unendliche gehende[n] Progressus zur jener völligen Angemessenheit“ gefunden werden. Und ein solcher unendlicher Progressus ist für unser endliche Wesen nur dann möglich, wenn eine „ins Unendliche fortdauernde[] Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens“ vorausgesetzt wird, die man gewöhnlich die „Unsterblichkeit der Seele“ nennt. So ist das Argument, in dem Kant das praktische Postulat der Unsterblichkeit aufstellt. (Vgl. ebd.) Die Einwände gegen Kants Unsterblichkeitspostulat und dessen Begründung sind in der Fachliteratur der Kantforschung sehr vielfältig; sie verweisen aber hauptsächlich auf das Problem der Heiligkeit.32 Einige haben das Bedenken, 1) die Heiligkeit als Vollkommenheit der Tugend sei für den Begriff des höchsten Guts gar nicht nötig; die Tugend reiche dafür ganz aus, sei sie vollkommen oder nicht.33 Andere sind der Meinung, 2) die Vollkommenheit der Tugend sei für den Begriff des höchsten Guts zwar notwendig, aber man könne sie nicht mit der Heiligkeit identifizieren, in der das moralische Subjekt wider das moralische Gesetz nicht nur keine Maximen und Handlungen, sondern auch keine Gesinnungen haben könne; d. h. die Heiligkeit ist selbst für das Ideal des höchsten Guts übertrieben.34 Außerdem behaupten auch einige der Kritiker, 3) der Vollkommenheit der Tugend

fürs Unsterblichkeitspostulat überzeugt. Diese genannte allgemeine Ablehnung betrifft freilich nur Kants Argument, nicht immer das Postulat selbst. Das s. g. „Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ zumindest akzeptiert alle drei Postulate – um nur ein Beispiel zu nennen. 32 M. Conradt zählt vier Arten der Einwände auf, unter denen sich nur die Einwände über die Heiligkeit wahrhaft auf die Idee und das Postulat der Unsterblichkeit beziehen. (Vgl. Conradt, M., Der Schlüssel zur Metaphysik. Zum Begriff rationaler Hoffnung in Kants kritischer Moralund Religionsphilosophie, Tübingen (Dissertation), 1999, S. 143 f.) 33 Vgl. Willaschek, M.: „Rationale Postulate. Über Kants These vom Primat der reinen praktischen Vernunft“. In: Klemme, H. (hrsg.): Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, Berlin/New York 2008, S. 251–268. 34 Vgl. Guyer, P., “From a Practical Point of View, Kant’s Conception of a Postulate of Pure Practical Reason”, in: Ders, Kant on Freedom, Law, and Happiness, Cambridge 2000, p. 352.

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könne der endliche, sinnlich affizierbare Mensch gar nicht näherkommen, selbst auch wenn ihm die ins Unendliche fortdauernde Existenz zukomme.35 Diese Einwände sollen zum Teil auf die Umstände zurückgeführt werden, dass Kant in dem Paragraphen über das Unsterblichkeitspostulat in der Kritik der praktischen Vernunft sein Argument nur ganz kurz angegeben hat, so dass man darin nur wenige ausführliche und deutliche Formulierungen antreffen kann, die den möglichen Zweifeln daran vorbeugen können. Ich möchte im Folgenden eine Verteidigung gegen die genannten Einwände in Bezug auf die Heiligkeit durchführen, um die kantische Begründung der Unsterblichkeit klarer zu machen. Vor allem stellt sich nun die Frage, was Kant unter dem höchsten Gut eigentlich versteht. Ist es einfach die proportionale Entsprechung der Glückseligkeit mit der Tugend überhaupt, ohne zu bestimmen, ob die Tugend vollkommen vollzogen werden muss? Oder soll für das höchste Gut auch eine höchste Tugend erforderlich sein, die als Heiligkeit bezeichnet werden kann? Mit einem Wort: Die Frage ist, ob die Heiligkeit auch zum Begriff des höchsten Guts mitgehören muss oder nicht? Ich möchte sagen, dass Kant nichts übertrieben getan hat, als er im Unsterblichkeitsparagraphen der zweiten Kritik die Heiligkeit als „die oberste Bedingung des höchsten Guts“ bezeichnete. In der Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft, die das synthetische Verhältnis der Tugend zu der Glückseligkeit betrifft, konzentriert Kant sich zwar hauptsächlich darauf, wie die Tugend im Begriff des höchsten Guts die Bedingung der Glückseligkeit ausmachen kann. Aber auch ist daran zu erinnern, dass das höchste Gut nicht bloß irgendein Objekt der praktischen Vernunft ist, sondern das ganze Objekt derselben. Als solches ist das höchste Gut eine Vernunftidee, die den Charakter der unbedingten Totalität in sich enthält (KpV AA 05:108). Daher ist für den Begriff des höchsten Guts nicht einfach bloß die Entsprechung der Glückseligkeit mit einer Tugend überhaupt, sondern die notwendige Entsprechung der Glückseligkeit mit der vollkommenen Tugend. Die Ansprüche auf die Notwendigkeit und auf die Vollkommenheit sind im Begriff des höchsten Guts unübersehbar, ja sogar entscheidend, denn die irgendeiner Tugend angemessene Glückseligkeit kann man überhaupt in unserem sinnlichen Weltleben schon wirklich erfahren, und sie ist als solche nicht als ein praktisches Ideal zu nennen. Deswegen ist es der Bestimmung des höchsten Guts als des ganzen Gegenstandes der praktischen Vernunft ungemäß, die moralische Vollkommenheit im Begriff desselben durch die Tugend zu ersetzen.

35 Vgl.

Höffe, O., Immanuel Kant, München 4 1996, S. 251. Auch Conradt, M., Der Schlüssel zur Metaphysik. Zum Begriff rationaler Hoffnung in Kants kritischer Moral- und Religionsphilosophie, Tübingen (Dissertation), 1999, S. 144.

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Außerdem hat Kant auch Recht, wenn er die Vollkommenheit der Tugend weiter als Heiligkeit bezeichnet. In der Heiligkeit soll das praktische Subjekt dem Gebot des moralischen Gesetzes nicht nur seinen Handlungen, sondern auch den Gesinnungen nach völlig angemessen sein. Dies entspricht auch der Grundbestimmung des praktischen Ideals, denn als Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft ist das höchste Guts zuerst aus der Ganzheit des moralischen Guten her zu denken, das sich ebenfalls nicht allein auf die Handlung selbst, sondern vor allem auf die Triebfeder bzw. die Gesinnung zur Handlung bezieht.36 Diese Heiligkeit ist zwar durch den sinnlichen Menschen unerreichbar, weil das „heilige“ Subjekt ganz und gar von allen sinnlichen Antrieben und pragmatischen Intentionen unabhängig und in gewissem Sinne nicht mehr „sinnlich“ ist. Aber von daher soll man nicht einfach darauf kommen, das moralische Gesetz gebiete etwas uns Unmögliches und rufe damit einen Widerspruch hervor. Denn die sinnliche Unerreichbarkeit besagt nicht sogleich die Unmöglichkeit, geschweige denn den Widerspruch im Begriff; es gehört zur wesentlichen Aufgabe der Postulatenlehre, die menschliche Unerreichbarkeit durch das Postulat auf die Möglichkeit zu bringen. Außerdem möchte ich hier eine weitere Argumentation dafür hinzufügen. Diese hängt mit dem Begriff des Endzwecks der Natur in der Kritik der Urteilskraft zusammen, obwohl Kant in der dritten Kritik dem Problem der Unsterblichkeit keine Berücksichtigung gezeigt zu haben scheint. Als Endzweck der Schöpfung kann der Mensch ausschließlich als Noumenon betrachtet werden (vgl. KU 05:435). Der Begriff des noumenalen Menschen (homo noumenon) aber erfordert seinerseits, dass die moralische Vollkommenheit als eine regulative Idee für ihn dient (aber nicht als reale Bestimmung des noumenalen Menschen, weil auch der Mensch als Noumenon den Doppelcharakter von Sinnlichkeit und Intelligibilität in sich enthält).37 Denn in der Idee des höchsten Guts wird die Moralmäßigkeit auf der Ebene der Gesinnung (und zwar die Handlung „aus der Pflicht“ und nicht bloß „pflichtmäßig“) verlangt; nur der Mensch in dieser Moralmäßigkeit (und nicht bloß der Mensch mit „pflichtmäßiger“ Handlung) hat die Würdigkeit, der Endzweck der Natur zu sein, damit das höchste Gut ihm widerfahren kann. Nun dient aber die Unsterblichkeit ihrerseits zum wesentlichen Moment der Heiligkeit bzw. der vollkommenen Moralmäßigkeit des Menschen, damit er der noumenale Mensch und mithin der Endzweck der Schöpfung sein kann. Also ist das Postulat der Unsterblichkeit auch für den Endzweck der Natur bzw. für den Begriff der moralisch-zweckmäßigen Natur notwendig. 36 Vgl.

Abschn. 4.2 der vorliegenden Arbeit. wäre er kein Mensch mehr. Der Doppelcharakter gehört zu jedem möglichen Begriff des Menschen bei Kant. 37 Anderenfalls

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Mit diesen Verteidigungen gegen die o. g. beiden ersten Einwände wird uns klarer, was Kants Begriff des höchsten Guts als des totalitären Objekts der reinen praktischen Vernunft eigentlich bedeutet. Die Heiligkeit muss also notwendigerweise zum Begriff des höchsten Guts gehören. Es bleibt bisher aber noch offen, ob die Heiligkeit ihrerseits das Postulat der Unsterblichkeit als ihre zureichende Bedingung braucht, wie der o. g. dritte Einwand erwähnt. Ohne Zweifel kann das sinnliche Wesen den Zustand der Heiligkeit, als der „völligen Angemessenheit der Gesinnung zum moralischen Gesetze“, gar nicht erreichen, auch wenn es in einem unendlichen zeitlichen Progressus steht. Denn der Mensch als das endliche Wesen, selbst wenn er im Postulat der autokratischen Freiheit das Vermögen der Beherrschung der reinen Vernunft gegen alle natürlichen Hindernisse gewonnen hat, ist dennoch immer mit dem sinnlichen Charakter verbunden und mithin nicht heilig, egal wie lange er in der Zeit bleiben kann. Zu bemerken aber ist es, dass Kant den Begriff der Unsterblichkeit, als des „Übersinnlichen nach uns“ (FM AA 20:295), nicht bloß auf irgendeine zeitliche Dauer überhaupt, sondern auf den möglichen Zustand nach dem Tod bezieht. Über diesen Zustand dürfen wir freilich keine Theorie aufstellen, wie Kant in der Kritik an der rationalen Psychologie schon gezeigt hat; aber es lässt sich doch feststellen, dass sich der Mensch, sofern er nach dem Tod noch weiter irgendwie Mensch ist, in diesem Zustand noch an dem Doppelcharakter festhalten soll, denn sonst wäre von der Freiheit keine Rede mehr – Freiheit ist nur für den mit Sinnlichkeit verbundenen Menschen von Bedeutung. Wichtiger ist es hier weiter zu erklären, wie sich dieser Doppelcharakter in jenem Zustand nach dem Tod verhält. In Bezug auf diesen Doppelcharakter des Menschen redet Kant von der Unsterblichkeit der Seele. Die Seele wird dabei allerdings nicht mehr als die einfache Substanz verstanden, sondern als die „Persönlichkeit“ des Menschen, die in der „Tafel der Kategorien der Freiheit“ an die Stelle der Substanz-Kategorie tritt (vgl. KpV AA 05:66) und nun die „Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur“ bedeutet (KpV AA 05:87) und unter der die Person „zur intelligibelen Welt gehört“ (ebd.). D. h. das praktische Subjekt, das unter dem moralischen Gesetz allein stellt, wird in seiner Persönlichkeit nur in der Intelligibilität betrachtet, die man ebenfalls als „heilig“ bezeichnen kann.38 Die Sinnlichkeit bleibt zwar wegen des unentbehrlichen Doppelcharakters noch mit dem Menschen verbunden, aber sie wird durch das Vermögen der autokratischen Freiheit beherrscht und kann keine Wirkung in die Persönlichkeit des Menschen bringen. Daher kann das sinnliche praktische Subjekt zwar der Heiligkeit nicht näherkommen, selbst wenn ihm die unendliche 38 „Das moralisches Gesetz ist heilig (unverletzlich). Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein.“ (KpV AA 05:87)

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fortdauernde Existenz zukommt, aber dieselbe Heiligkeit ist erreichbar durch die moralische Persönlichkeit, sofern diese ins Unendliche fortsetzt. Dies ist die eigentliche Bedeutung des Postulats der Unsterblichkeit der Seele bei Kant, wenn er diese als „Voraussetzung einer ins Unendliche fortdaurenden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens“ (KpV AA 05:122, Herv. von Y. X.) definiert. Diese sich ins Unendliche fortsetzende reine moralische Persönlichkeit könnte daher so gedacht werden, dass sie mit der Vollkommenheit der Tugend bzw. der Heiligkeit kongruiert. Kant hat also darin Recht, dass er die Unsterblichkeit der Persönlichkeit für die Möglichkeit der Heiligkeit und mithin die Möglichkeit des höchsten Guts postuliert. Und dies wird erst dann verständlicher, wenn man auch das Postulat der autokratischen Freiheit, die den Menschen zu seiner reinen Persönlichkeit führt, mit in Betracht zieht. Bemerkenswert ist dennoch, dass Kant zwar nun in der zweiten Kritik die Idee der Unsterblichkeit als die unendliche Fortdauer der moralischen Persönlichkeit erklärt und für die Möglichkeit der vollkommenen Tugend, und zwar für den ersten Bestandteil des Begriffs des höchsten Guts, postuliert, dass er aber ursprünglich im Kanon-Kapitel der ersten Kritik die Unsterblichkeit als Bedingung zum Erfahren der Glückseligkeit betrachtet hat, indem er sie als „eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt“ bestimmte (KrV A 813/B 841). Mit diesem eudämonistischen Begriff der Unsterblichkeit wird dem Menschen die Möglichkeit dafür zugeschrieben, dass er zwar in seinem jetzigen Leben das wegen seiner Tugend qualifizierte Glück nicht erfahren kann, aber dieser Glückseligkeit in einem künftigen Leben teilhaftig wird. In der Kritik der praktischen Vernunft wird dieser eudämonistische Begriff der Unsterblichkeit nicht erwähnt und scheint durch den anderen Begriff, und zwar den deontischen Begriff derselben als Bedingung der Vollkommenheit der Tugend, ersetzt. Aber zwischen beiden Begriffen besteht zwar ein wesentlicher Unterschied, dennoch kein Widerspruch, und man darf eigentlich die beiden Bedeutungen zugleich derselben Idee „Unsterblichkeit“ zuschreiben. Man sieht in der Tat eine solche Kombination in der Preisschrift, wo Kant die Unsterblichkeit definiert als „die Fortdauer unsrer Existenz nach uns, als Erdensöhne, mit denen ins Unendliche fortgehenden moralischen und physischen Folgen, die dem moralischen Verhalten derselben angemessen sind“ (FM AA 20:295).39 In diesem Sinne macht die Unsterblichkeit einerseits, als unendliche Fortdauer der moralischen Persönlichkeit, die

39 Siehe auch die Erklärung des Unsterblichkeitsbegriffs in der 1796 veröffentlichten Verkündigung, AA 08:418: „Unsterblichkeit, als ein Zustand, in welchem dem Menschen sein Wohl oder Weh in Verhältnis auf seinen moralischen Wert zu Teil werden soll.“ (Herv. von Y. X.) Der Ausdruck „Wohl oder Weh“ bezieht sich offenbar auf die eudämonistische Seite dieses Begriffs.

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Die Endabsicht der Metaphysik im System …

Bedingung der vollkommenen Tugend bzw. der Heiligkeit aus, und sie dient andererseits, als unendliche Fortsetzung der moralischen und physischen Folgen derselben Persönlichkeit, zugleich zur Bedingung der Erfahrung der Glückseligkeit, die dieser vollkommenen Tugend entspricht. Die Unsterblichkeit ist daher sowohl als die formale, weil die moralische Persönlichkeit betreffende Bedingung, wie auch als die materiale, weil die Glückseligkeit angehende Bedingung des höchsten Guts, zu verstehen.40 Um der Möglichkeit des höchsten Guts willen muss der Gegenstand der Idee der Unsterblichkeit als real postuliert werden, und aus demselben Grund erweist sich diese Unsterblichkeitsidee nun nicht mehr als die Unentsteh- und Unvergehbarkeit der nicht-materialen einfachen Substanz, sondern als die unendliche Fortdauer der moralischen Persönlichkeit mit deren moralischen und physischen Folgen nach dem Tod des endlichen Menschen. Als die dritte und letzte Idee des Übersinnlichen in der analytischen Ordnung steht sie in der Preisschrift, was vermutlich darauf zurückgeht, dass sie sowohl zur formalen als auch der materialen Bedingung der Verwirklichung des höchsten Guts dienen kann und in analytischer Folge erst nach der jeweiligen Darstellung der formalen Bedingung (Idee der Freiheit) und der materialen Bedingung (Idee Gottes) desselben in Erscheinung treten soll.41

7.3

Der Kreis der Freiheit: das System der Ideen nach der synthetischen Ordnung und der Horizont der Realisierbarkeit des höchsten Guts

Während wir schon in der analytischen Ordnung dargestellt haben, welche Ideen des Übersinnlichen als Bedingungen der Möglichkeit des höchsten Guts und als regulative Prinzipien der moral-zweckmäßigen Natur dienen, und welche Bestimmungen ihnen zugeschrieben werden müssen, erörtere ich im Folgenden weiter, auf welche Weise diese Ideen mit ihren jeweiligen praktischen Bestimmungen die reale Möglichkeit des höchsten Guts begründen, und zwar einen Horizont bilden, in dem das praktische Ideal zur Wirklichkeit gebracht werden kann. Dies wird, wie schon

40 Mit ihr verbindet sich ein Begriff der nun sinnlich unerfahrbaren, aber künftig möglichen Welt, so dass Kant häufig den Begriff der Unsterblichkeit unter dem Namen einer „künftigen Welt“ (vgl. z. B. KrV A 800/B 828, A 811/B 839, A 828/B 856, „Was heißt sich im Denken orientieren“, AA 08:143), manchmal auch einer „anderen Welt“ gebraucht (vgl. z. B. KrV A 829/B 857, Logik AA 09:112, Refl. 4240, AA 17:474, Refl. 4442, AA 17:548). 41 Dies erklärt auch, warum die theoretische analytische Folge anders als die praktische ist – eine Frage, die ich im ersten Abschnitt gestellt habe.

7.3 Der Kreis der Freiheit …

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gesagt, nach synthetischer Ordnung ausgeführt, in der sich ein System der Ideen des Übersinnlichen ergeben wird. Kant hat zwar diese drei Ideen des Übersinnlichen oft nach der synthetischen Ordnung behandelt und diese Ordnung als dem Vernunftschluss ähnlich bezeichnet, aber die relativ deutliche Erklärung für diese Ordnung findet sich erst in der Preisschrift, und zwar an zwei Stellen. Ich werde hier beide anführen, um dann unsere weitere Arbeit demgemäß zu entfalten: „Eben diese Momente der praktisch-dogmatischen Erkenntnis des Übersinnlichen, nach synthetischer Methode aufgestellt, fangen von dem unbeschränkten Inhaber des höchsten ursprünglichen Gutes an, schreiten zu dem (durch Freiheit) Abgeleiteten in der Sinnenwelt fort, und endigen mit den Folgen dieses objektiven Endzweckes der Menschen in einer künftigen intelligibeln, stehen also in der Ordnung, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit systematisch verbunden da.“ (FM AA 20:295) „… so hat die Vernunft gerechten Anspruch auf Erkenntnis des Übersinnlichen, aber nur mit Einschränkung auf den Gebrauch in der letztern [sc. der praktischdogmatischen] Rücksicht gemacht, da sich dann eine gewisse Organisation der reinen praktischen Vernunft zeigt, wo erstlich das Subjekt der allgemeinen Gesetzgebung, als Welturheber, zweitens das Objekt des Willens der Weltwesen, als ihres jenem gemäßen Endzwecks, drittens der Zustand der letztern, in welchem sie allein der Erreichung desselben fähig sind, in praktischer Absicht selbstgemachte Ideen sind.“ (FM AA 20:310)

Die beiden Textstücke geben uns einen Hinweis, wie sich die drei Ideen des Übersinnlichen aufeinander zu einem System beziehen, oder mit Kants eigenem Wort, als „eine gewisse Organisation der reinen praktischen Vernunft“. Ein solches System soll mit der höchsten Bedingung unter allem anfangen, die ohne Zweifel die Gottesidee ist. Den Gott charakterisiert Kant als das „höchste ursprüngliche Gut“ (KrV A 810/B 838, KpV AA 05:125, FM AA 20:295), was der christlich geprägten philosophischen Tradition nicht fremd ist. In Vergleich zu dem „höchsten abgeleiteten Gut“ bzw. der proportionalen Glückseligkeit, das in der vorliegenden Arbeit sowie in den üblichen Kantforschungen ganz einfach „das höchste Gut“ genannt wird, ist Gott insofern „ursprünglich“, als er der höchste Gesetzgeber bzw. „das Subjekt der allgemeinen Gesetzgebung“ ist (FM AA 20:295). „Allgemein“, weil nicht bloß als „gesetzgebend für die Natur, sondern auch als gesetzgebendes Oberhaupt in einem moralischen Reiche der Zwecke“ zu denken (KU AA 05:444). Mit anderen Worten: Gott ist als gesetzgebend für unser praktisches Ideal oder die der Sittlichkeit notwendig angemessene Glückseligkeit zu verstehen, die so vorzustellen sei, dass sie vom höchsten ursprünglichen Gut in die Welt abgeleitet wird. Die Idee Gottes als des moralischen Welturhebers fungiert

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Die Endabsicht der Metaphysik im System …

hier als ein regulatives Prinzip, das die Regel einer Welt angibt, in der das praktische Ideal verwirklicht bzw. „abgeleitet“ werden kann. Diese soll eine moralisch zweckmäßige Welt sein, die für unser Erkenntnisvermögen nur als die „intelligible Ordnung der Dinge“ zu denken ist (KpV AA 05:42, GMS AA 04:454). Sofern Gott andererseits auch der Gesetzgeber für das Reich der Zwecke ist, wird die Realisierung des höchsten Guts so gedacht, gleichsam als ob sie vom Gott geboten würde. Gott als regulatives Prinzip der moralisch-zweckmäßigen Welt ist also die höchste Bedingung der Möglichkeit des höchsten Guts und gibt die Regel für den allgemeinen Horizont derselben. Dabei ist aber noch nicht angezeigt, unter welcher Bedingung das höchste Gut von Gott abgeleitet werden kann. Dies führt uns zu der Idee der Freiheit – nicht aber der Freiheit Gottes, sondern der Freiheit des vernünftigen Weltwesens, denn nicht Gott, sondern uns Menschen wird vom obersten Grundsatz der reinen praktischen Vernunft, der sich uns als kategorischer Imperativ erweist, geboten, mit allen Kräften das höchste Gut zu fördern. Da aber Gott der allgemeine Gesetzgeber auch für das moralische Reich der Zwecke ist, erscheinen die kategorischen Imperative bzw. die Pflichten dem endlichen Menschen als göttliche Gebote (KpV AA 05:129, s. a. Der Streit der Fakultäten AA 07:74), wie oben schon angedeutet. Die Idee der Freiheit betritt also das Vermögen des endlichen Menschen, „die Befolgung seiner Pflicht (gleich als göttlicher Gebote) gegen alle Macht der Natur zu behaupten“ (Verkündigung AA 08:418). Die reine Vernunft fungiert nun als der einzige Bestimmungsgrund des Willens, so dass das handelnde Subjekt durch das Freiheitsvermögen als moralische Persönlichkeit bzw. als homo noumenon bestimmt und in die intelligible Ordnung der Dinge versetzt wird (vgl. KpV AA 05:42, GMS AA 04:454). Das rein moralische Gut, als das Wesentlichste des höchsten Objekts des vernünftigen Willens, wird nun durch die „Handlung aus der Pflicht“ in der Sinnenwelt wirklich gemacht. Da die Welt schon durch die regulative Idee Gottes als dem moralischen Endzweck gemäß gedacht worden ist, macht die Idee der autokratischen Freiheit es möglich, den praktischen Endzweck in der Sinnenwelt „abzuleiten“. In diesem Fall gilt die Freiheitsidee als ein regulatives Prinzip für homo noumenon, der als solcher würdig ist, zur intelligiblen Ordnung der Dinge zu gehören. Durch das Vermögen der Freiheit verschafft sich der Mensch zwar den intelligiblen Charakter, aber an ihm kann die proportionale Austeilung der Glückseligkeit noch nicht völlig verrichtet werden, denn dies könnte nur in der Heiligkeit des Willens und der unendlichen Dauer seiner Existenz erreicht werden. Das moralische Subjekt soll also nicht nur in irgendeinem Augenblick in der intelligiblen Ordnung der Dinge stehen können, sondern nunmehr stets in dieser Ordnung leben müssen,

7.3 Der Kreis der Freiheit …

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so dass es einerseits der Heiligkeit in seiner Persönlichkeit näherkommen, andererseits einen Zustand gewinnen kann, in dem ihm „sein Wohl oder Weh in Verhältnis auf seinen moralischen Wert zu Teil werden soll“ (Verkündigung AA 08:418). Die Unsterblichkeit der Persönlichkeit ermöglicht es also, dass der Mensch als Noumenon zum notwendigen Bestandteil der intelligiblen moralischen Welt wird und mithin in seiner Heiligkeit würdig, der Endzweck der moralisch-zweckmäßigen Natur zu sein. Das durchs menschliche Vermögen der Freiheit in der Sinnenwelt abgeleitete höchste Gut verwirklicht sich nun durch die Idee der Unsterblichkeit als eine intelligible Ordnung aller Dinge, die sich in einer zwar sinnlichen, aber moralisch-zweckmäßigen Welt zeigen. Die Unsterblichkeit der freien Persönlichkeit ist also ein übersinnliches Substrat der Natur, sofern diese als ein notwendiges, der Moralität gemäßes teleologisches System der Dinge zu denken ist. Auf solche Weise zeigen die drei regulativen Ideen zusammen das übersinnliche Substrat der als intelligibel gedachten, und zwar moralisch-zweckmäßigen Welt an und bilden den „Horizont“ für die Möglichkeit des praktischen Ideals der Menschheit. Kant bezeichnet in der Preisschrift diesen Horizont als den „Kreis“ der Freiheit, nachdem er die systematische bzw. synthetische Ordnung der Ideen dargestellt hat: „Es [sc. das dritte Stadium der Metaphysik] macht einen Kreis aus, dessen Grenzlinie in sich selbst zurückkehrt, und so ein Ganzes von Erkenntnis des Übersinnlichen beschließt, außer dem nichts von dieser Art weiter ist, und der doch auch alles befasset, was dem Bedürfnisse dieser Vernunft genügen kann. - Nachdem sie … sich in den Standpunkt der Ideen, woraus sie ihre Gegenstände nach dem, was sie an sich selbst sind, betrachtet, gestellt hat, beschreibt sie ihren Horizont, der von der Freiheit als übersinnlichem, aber durch den Kanon der Moral erkennbaren Vermögen theoretischdogmatisch anhebend, eben dahin auch in praktisch-dogmatischer, d.i. einer auf den Endzweck, das höchste in der Welt zu befördernde Gut, gerichteten Absicht zurückkehrt, dessen Möglichkeit durch die Ideen von Gott, Unsterblichkeit, und das von der Sittlichkeit selbst diktierte Vertrauen zum Gelingen dieser Absicht ergänzet, und so diesem Begriffe objektive, aber praktische Realität verschafft wird.“ (FM AA 20:300)

Dieser kreisförmige Horizont, der das System bzw. „ein Ganzes von Erkenntnis des Übersinnlichen“ in sich beschließt, fängt von der transzendentalen, am Ende des zweiten Stadiums der Metaphysik nur problematisch und negativ verstandenen Freiheit an und geht schließlich wiederum zur Freiheit zurück, die diesmal aber nicht mehr negativ, sondern mit Notwendigkeit postulierte Freiheit als die Autokratie der reinen Vernunft ist. Durch diesen Kreis der Freiheit in dem dritten Stadium der Metaphysik hebt Kant noch einmal die Freiheitsidee hervor, die nun als „der eigentliche Endzweck der Metaphysik“ bezeichnet wird (FM, AA 20:292). Dies bedeutet, dass alle drei Ideen des Übersinnlichen unter der Führung der Freiheit ein System bilden und sich mit der moralisch-zweckmäßigen Natur verbinden als die

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Die Endabsicht der Metaphysik im System …

übersinnlichen Gründe und die regulativen Prinzipien der letzteren. Dadurch erklärt sich deutlicher, was Kant bekanntlich in dem letzten § der Kritik der Urteilskraft sagt: „Es bleibt hierbei immer sehr merkwürdig: daß unter den drei reinen Vernunftideen, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, die der Freiheit der einzige Begriff des Übersinnlichen ist, welcher seine objektive Realität (vermittelst der Kausalität, die in ihm gedacht wird) an der Natur, durch ihre in derselben mögliche Wirkung, beweiset, und eben dadurch die Verknüpfung der beiden andern mit der Natur, aller dreien aber unter einander zu einer Religion möglich macht.“ (KU AA 05:474) Alle möglichen Reden von der Religion und alle metaphysischen Erkenntnisse des Übersinnlichen werden also vom dem Kreis der Freiheit umgeben.42 Dies besagt, dass sie erst dann ihre eigentliche Bedeutung haben, wenn sie von der menschlichen Freiheit ausgehen und auf dieselbe abzielen. Die kantische Metaphysik zeigt sich daher als ein System, das, aus dem Horizont der Freiheit und vermittels der wahrhaften Erkenntnisse des Übersinnlichen, die Gesetzgebung der Natur mit derjenigen der Sitten bei Menschen verbindet. Sie ist demnach nicht allein „schulbegrifflich“, sondern vor allem „weltbegrifflich“, denn sie bezieht sich immer auf den Endzweck der Menschheit, auf die ganze Bestimmung des Menschen, auf dasjenige, was jedermann notwendig interessiert.

42 Kant

redet in dem Opus Postumum von einer anderen Art des Ideensystems, das von dem hiesigen ganz unterschiedlich ist. Dieses genannte System der Ideen drückt sich in dem Titel eines Buch, dessen Veröffentlichung Kant noch 1801 plante: „Der Transcendentalphilosophie höchster Standpunct im System der Ideen: Gott, die Welt und der durch Pflichtgesetze sich selbst beschränkende Mensch in der Welt“ (OP AA 21:59) Kants Abhandlung zu diesem Thema, nämlich das System Welt-Gott-Mensch, befindet sich vor allem in Konvolut I, Bogen III, AA 21:27–37 (Titel: „System der Transcendental = Philosophie in drey Abschnitten“) und Konvolut I, Bogen V, AA21:54–72 (Titel: „Der höchste Standpunct der Transscendental Philosophie im System der Ideen. Gott, die Welt und und der seiner Pflicht angemessene Mensch in der Welt“) und auch anderswo. Es kommt dort aber darauf an, wie sich die Welt (als Objekt der theoretischen Vernunft und der theoretischen Selbstsetzung als empirisches Ich) und Gott (als Objekt der praktischen Vernunft und der praktischen Selbstsetzung als Persönlichkeit), die einander „heterogen“ sind (AA 21:38), durch den Menschen in Pflicht miteinander verbinden. Dieser späte Gedanke Kants bezieht sich weder auf das höchste Gut noch auf die moralisch-zweckmäßige Natur und hat daher nichts zu tun mit dem Thema der praktischen Regulation. Daher gehe ich hier auf diesen Gedanken nicht ein. Zu diesem Problem vgl. Förster, E.: Kant’s Final Synthesis. An Essay on the Opus Postumum, Cambridge a. London 2000, pp. 137–147; auch vgl. Wodarzik, U. F., „Über die metaphysische Trinität Welt, Mensch und Gott“, in: Recht und Frieden in der Philosophie Kants. Akten des X. Internationalen Kant-Kongresses, hrsg. v. Almeida, G., Rohden, V., Ruffing, M. und Terra, R., Berlin/New York 2008, Bd. 2, S. 817–830.

Schlussbetrachtung

Metaphysikkritik geht seit der Entstehung der Metaphysik fast immer mit der letzteren zusammen. Kant ist eine der wenigen Figuren in der abendländischen Geschichte der Philosophie, die in der Metaphysikkritik ebenso sehr wie in dem Aufbau einer neuen Metaphysik erfolgreich ist, indem er tief über den Grund der metaphysischen Transzendenz und das neue methodische Verfahren in der Metaphysik nachdenkt. Die Ergebnisse der Metaphysikkritik Kants werden seit langem als einer der wichtigsten Erfolge in der Philosophiegeschichte angesehen, unter dessen Einfluss wir heute noch immer stehen. Aber der Versuch Kants, eine neue Metaphysik aufzubauen, ist leider nicht in der vergleichbaren Breite und Tiefe berücksichtigt und entwickelt worden. In meiner Untersuchung wurde nun gezeigt, wie es Kant de facto in der praktisch-dogmatischen Metaphysik, deren Grundverfahren die praktische Regulation ist, gelingt, das Sinnliche in seinem Sein mit den Gegenständen der Ideen bzw. den Übersinnlichen in eine notwendige Verbindung zu bringen. Metaphysik sei die Wissenschaft der ersten und transzendenten Prinzipien und Ursachen dessen, was ist. Dies ist eine explizit auf Aristoteles zurückgehende, in der Philosophiegeschichte weit verbreitete und akzeptierte Bestimmung der Metaphysik. Demnach geht die Metaphysik mit dem Problem des Seins der Dinge und deren Gründe immer Hand in Hand. Kant orientiert seine Philosophie zwar nicht an der Ontologie, die sich mit dem Problem des Seins überhaupt beschäftigt und in Kants Zeit als die erste und grundlegende Disziplin der Metaphysik verstanden wurde, aber er hat auf jene metaphysische Frage offenbar nicht verzichtet. Sein philosophisches Geschäft kann so verstanden werden, dass er vermittels seines transzendentalphilosophischen Gedankengangs die überkommene Seinsproblematik in der Gestalt des Problems von der objektiven Realität der Begriffe (der empirischen, der Kategorien

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Y. Xie, Praktische Regulation der Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62252-0

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Schlussbetrachtung

und der Ideen) ausdrücklich macht. Wichtiger ist es, dass er, nach einer systematischen Kritik an allen Versuchen der spekulativen Transzendenz der Vernunft, mit dem methodischen Grundverfahren der praktischen Regulation einen ganz neuartigen Aspekt des Seinsproblems in die Philosophie einführt. Dabei schränkt er einerseits den Bereich des Seins auf die sinnliche Naturwelt ein und bestimmt andererseits hinsichtlich des praktischen Endzwecks die Metaphysik auf eine neue Weise als Wissenschaft von der Erkenntnis des übersinnlichen Substrats der Natur. Die Frage nach den transzendenten Prinzipien und Ursachen des Seienden verwandelt sich nun in die Frage nach den regulativen und ebenfalls übersinnlichen Prinzipien der Natur, und zwar der Ganzheit dessen, was ist – „ist“ aber nun in dem Sinne, was sich in der Reflexion der transzendentalen praktisch-reflektierenden Urteilskraft über die Natur zeigt. Angesichts dessen weicht Kants Metaphysikkonzeption in der Tat von der Tradition dieses Begriffs nicht so sehr ab wie in ihrem ersten Anschein. In Überlegung der Frage nach den transzendenten Gründen des Seienden sieht Kant sich aber zugleich vor einem besonderen Problem stehen, das kein explizites Thema der traditionellen Metaphysik gewesen ist: das Problem der Möglichkeit der Freiheit, insbesondere ihrer Vereinbarkeit mit der Gesetzmäßigkeit der Natur, die ihrerseits durch den theoretischen Gebrauch der menschlichen Vernunft begründet wird. Dies macht in der Tat das fundamentale Interesse und eines der Grundmotive der Philosophie Kants aus. Mit dem Versuch der praktisch-dogmatischen Metaphysik ist Kant nun imstande, die Freiheit nicht nur in ihrem praktischen Sinne, sondern auch in ihrem transzendent-metaphysischen Sinne zu bestimmen. Freilich hat Kants Erörterung des Freiheitsproblems zwar schon den basalen Denkrahmen für die heutige Diskussion dieses Problems gebildet. Wenn man aber weiter an der metaphysischen Absicht jener Erörterung Kants denkt, kann man noch besser Einsicht in den Zusammenhang des Freiheitsproblems mit unserem Gesamtbild des Seienden und der Natur gewinnen. In der praktisch-dogmatischen Metaphysik mit ihrem Grundverfahren der praktischen Regulation hat Kant zum Thema nicht nur das, was ist, sondern auch das, was sein soll, und zwar in der Einheit der beiden. Trotzdem ist Kants Metaphysik noch in einem weiteren Sinne eine Metaphysik der Natur zu nennen. Anders als die Metaphysik der Sitten, die das Problem von Sollen bzw. Sein-Sollen thematisiert, handelt die Metaphysik der Natur von dem Problem des Seins bzw. des Seienden. Aber dies sei noch näher zu besprechen: Die Metaphysik der Natur, die auf den transzendentalen Grundsätzen des Verstandes beruht, versteht das Sein in der Hinsicht von dem, was wirklich geschieht und geschehen kann; sie ist die „Wissenschaftslehre“. Die Metaphysik der Natur als die „eigentliche Metaphysik“ bzw.

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203

die praktisch-dogmatische Metaphysik hingegen, die ich in der vorliegenden Untersuchung behandele, verbindet sich mit dem Begriff der Hoffnung oder, wie Kant später terminologisch besser formuliert, mit dem Begriff des Vernunftglaubens, der sich auf den Schluss richtet: dass etwas sei, weil etwas geschehen soll (KrV A 805/B 834). Sie ist nun die „Weisheitslehre“ und bezieht sich auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft, den letzten von denen Kant als „die ganze Bestimmung des Menschen“ festlegt. Es ist aber zunächst zu bemerken, dass Kants Versuch, den theoretischen Bereich (die Natur) mit dem praktischen (den Sitten) in der Weisheitslehre bzw. der „eigentlichen Metaphysik“ über die praktisch-regulativen Ideen des Übersinnlichen zu verbinden, nicht dazu führen soll, dass beide Bereiche nur als zwei „Momente“ oder „Glieder“ eines einzigen höheren Einheitsprinzips gedacht werden und dass sich jene beiden in dieses Prinzip auflösen. Dadurch unterscheidet sich Kants Metaphysik von der des deutschen Idealismus, der ihm unmittelbar folgt (Schelling und Hegel zum Beispiel). Vielmehr bleiben bei Kant die Natur und die Freiheit selbständig gegeneinander, obwohl es dazwischen eine „Verknüpfung“ oder besser einen „Übergang“ (statt einer „Versöhnung“) gibt.1 Beide stehen in einer zwar überbrückbaren, dennoch unüberwindbaren Spannung, und zwar in einem wechselseitigen Verhältnis zwischen dem frei-moralischen Wesen und dem natürlich-sinnlichen Sein, mit dem jenes Wesen sich notwendig konfrontiert. Mit Bewusstsein lehnt Kant den Versuch zur Bildung eines einheitsstiftenden Prinzips der Metaphysik ab.2 Angesichts dessen ist es also einzusehen, dass Kant sich durch die Methode der praktischen Regulation in der Konfrontation mit der Frage befindet: Wie weit kann das philosophische Denken vermittels der Selbstbestimmung der Vernunft gehen? Kants Antwort ist nach der obigen Deutung ganz deutlich: Das Sein und das Sollen werden zwar vereinigt, aber nur in einer regulativen Einheit. Wenn man außerdem weiter denkt, was wir heute von Kants Metaphysik lernen sollen, ist es sowohl nötig als auch interessant, Kants Konzeption der Metaphysik als Wissenschaft des praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen in einen Dialog mit denjenigen Konzeptionen derselben zu bringen, auf welche die heutigen philosophischen Diskussionen zurückzugehen pflegen. Ich nenne hier

1 Kant

redet von diesem „Übergang“ ganz deutlich in dem letzten Absatz der veröffentlichen Einleitung der Kritik der Urteilskraft. Vgl. KU AA 05:196. 2 Dies wird schon angedeutet in Kants Kritik an dem Versuch, die vielen Vermögen des Menschen auf eine einheitliche Grundkraft zu reduzieren. Vgl. KpV AA 05:46 f.: „Nun ist aber alle menschliche Einsicht zu Ende, so bald wir zu Grundkräften oder Grundvermögen gelangt sind; denn deren Möglichkeit kann durch nichts begriffen, darf aber auch eben so wenig beliebig erdichtet und angenommen werden.“

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als bekannteste Beispiele Martin Heideggers Onto-theo-logie und Peter Strawsons deskriptive bzw. revisionäre Metaphysik. Heidegger interpretiert in seiner Spätzeit die abendländische Metaphysik in der geschichtlichen Ganzheit aus ihrer „onto-theo-logischen Verfassung“. Dies besagt, die Metaphysik entfalte sich nach zwei Denkrichtungen, die sich miteinander notwendig verbinden, nämlich nach dem ontologischen Gedankengang über das Seiende im Ganzen einerseits und nach dem theologischen über das höchste Seiende. Diese Entfaltung gründe sich in der fundamentalen Denkart des „Logos“, des „begründenden“ und „vor-stellenden“ Denkens.3 Mit diesem Gedanken übt Heidegger eine Metaphysikkritik, in der die „Philosophie“ zu dem Ende kommen muss, wo das wahrhafte „Denken des Seins“ als „der andere Anfang“ den Raum haben kann. In dem späten Gedanken Heideggers befinde Kant sich in einem komplizierten Verhältnis zu der Metaphysik: Einerseits gehöre er zu dieser onto-theo-logischen Metaphysik als eine wichtige Figur, besonders wegen der fundamentalen Rolle der Subjektivität der Vernunft in Kants Philosophie;4 anderseits sieht Heidegger im Kants Denken des Seinsproblems das, was über jene Metaphysik hinausgeht und zu einer anderen Art des Denkens führt, obzwar auf eine implizite Weise.5 Diese Komplexität drückt m. E. gerade die Kraft der Tiefe aus, die Kant in seinem Nachdenken über das Problem der Metaphysik zeigt. Aber in der Stelle, wo die in der vorliegenden Arbeit thematisierte praktisch-dogmatische Metaphysik betroffen wird, ist Heidegger noch der Ansicht, dass Kant nicht imstande gewesen ist, die genannte onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik zu überschreiten: „Der Versuch, dem ,Glauben‘ Platz zu machen (Kant), ist nur die letzte Verstrickung in die Metaphysik und ihre Grundlosigkeit.“6 Aber man soll einsehen, dass Kants Metaphysikkritik so verstanden werde kann, dass sie sich ebenfalls auf die von Heidegger genannte „onto-theo-logische Verfassung“ der Metaphysik richtet: Kant zerstört die Möglichkeit, durch die kosmologische und ontologisch-ontotheologische Transzendenz der spekulativen Vernunft zu der Einsicht des Ganzen des Seienden sowie des höchsten Seienden. Wichtiger ist es einerseits, dass die auf den praktischen Vernunftgrundsatz gründete Metaphysik nicht aus dem von Heidegger verstandenen Logos zu erklären ist, denn das notwendige Bewusstsein des unbedingtes Moralgesetzes als „Faktum der reinen Vernunft“ kein „vor-stellendes“, begründendes Denken ist. Andererseits 3 Vgl. Heidegger, M., „Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik“, in: Identität und Differenz, GA 11, Frankfurt am Main 2006, S. 51–79. besonders S. 65. 4 Vgl. die 9–11 Stunden der Vorlesung Der Satz vom Grund, GA 10, Frankfurt am Main 1997, S. 99–137. 5 Vgl. Heidegger, M., „Kants These vom Sein“, in: Wegmarke, GA 9, Frank am Main 1976, S. 455–480. 6 Heidegger, M., Metaphysik und Nihilismus, GA 67, Frankfurt am Main 1999, S. 92.

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richtet sich Kants Denken, obwohl er auch die Erkenntnis der letzten, transzendenten Gründe zum Zweck hat, nicht auf das höchste Seiende bzw. das „Seiendeste“ (mit Heideggers Wort), nicht auf den ϑε o´ ς, denn in dem Vernunftglauben der praktischdogmatischen Metaphysik sind Gott und andere übersinnliche Gegenstände nicht in ihrem Was-Sein als das höchste Seiende zu verstehen. Vielmehr richtet sich die praktisch-dogmatische Metaphysik auf die wesentlichen Zwecke und besonders den Endzweck der menschlichen Vernunft, auf den letzten τ šλoς. Hinsichtlich dessen, dass Kants Metaphysik noch immer das Ganze des Seienden bzw. die Natur zum Gegenstand hat, können wir vielleicht schließlich Kants „eigentliche Metaphysik“, analog zu Heideggers Terminologie, kurz als „Onto-teleo-logie“ bezeichnen.7 Strawson unterscheidet zwischen der „deskriptiven“ und der „revisionären Metaphysik“: Die erste beschreibt den wirklichen Grundrahmen der Erfahrung der Einzeldinge in der Welt, während die zweite diesen Grundrahmen verbessern oder sogar mit einem besseren zu ersetzen versucht. Strawson versucht selber, die basalen Theorien der kantischen Philosophie (in der „transzendentalen Ästhetik“ und der „transzendentalen Analytik“) als eine deskriptive Metaphysik zu deuten, und zwar in seinem bekannten Werk The Bounds of Sense. Anders als Heidegger, will Strawson dadurch keine Metaphysikkritik üben, sondern versuchen, Kants Philosophie mit seiner Interpretation zu beleben. Aber es ist nach meiner Deutung sehr klar, dass Kant zwar in seiner Lehre der Sinnlichkeit und der des Verstandes wirklich einen der deskriptiven Metaphysik ähnlichen Versuch zeigt, dass aber seine wahrhafte, praktisch-dogmatische Metaphysik, weil sie den Anspruch auf das Hinausgehen über die Erkenntnis des Sinnlichen und mithin über den begrifflichen Rahmen der Erfahrung in sich hat, nicht von dem Aspekt einer deskriptiven Metaphysik zu deuten ist. Ebenso wenig ist sie aber eine revisionäre Metaphysik. Denn obwohl sie durch die Beziehung auf das Übersinnliche eine neue Begrifflichkeit für das Verständnis der Natur bzw. dessen, was in unserer Erfahrung vergegenständlicht wird, ergibt, tut sie dies aber auf die Weise der Regulation. Das heißt, sie hat keine Absicht, unsere wirkliche Grundstruktur für das Denken der Weltdinge (die Kategorien bzw. die Grundsätze des Verstandes und die raumzeitlichen Formen der Sinnlichkeit) zu verbessern oder zu ersetzen. Es soll sagen, dass Kants „eigentliche Metaphysik“ weder deskriptiv noch revisionär ist. Strawson ist sich zwar auch selber bewusst, dass historisch gesehen ein Metaphysiker wegen der Komplexität seiner Lehre nicht einfach

7 Es

soll hier keine ausführliche Entfaltung zu der Problematik des Heidegger-KantVerhältnisses in der Auffassung der Metaphysik sein. Diese wird vielleicht das Thema einer anderen Arbeit des Verfassers.

206

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entweder einem oder dem anderen Metaphysiktyp zugeordnet werden kann.8 Aber ich würde sagen, dass Kants Metaphysikkonzeption in ihren wesentlichen Aspekten nicht unter Strawsons Unterscheidung liegt, zumindest nicht in dem strengen Sinnen seiner beiden Termini descriptive metaphysics und revisionary metaphysics. Vielmehr kann Kants Konzeption der Metaphysik, mit ihrem Anspruch auf die notwendigen übersinnlichen Gegenstände und mit ihrer Beziehung auf den Endzweck der menschlichen Vernunft, die deskriptive Metaphysik um eine weitere, aber nicht überflüssige Dimension ergänzen, ohne sie dann zu einer revisionären Metaphysik zu wandeln. Kant sieht sich vor der Situation konfrontierend, in der die Metaphysiker über die Fragen nach den transzendenten Gegenständen und dem Weltganzen endlos miteinander streiten. Anstatt diese Fragen als unlösbar und mithin sinnlos beiseite zu lassen, sieht Kant den Grund dieser Fragen in der menschlichen Naturanlage der Transzendenz und denkt davon aus über die Möglichkeit der Metaphysik eingehend nach. Er will einen „ewigen Frieden in der Philosophie“9 und insistiert darauf, dass die Metaphysik vermittels der Selbstbestimmung der Vernunft ihre letzte Wahrheit erreichen kann, welche für die Bestimmung und Würde des Menschen als solchen relevant ist. Dieses Vertrauen in die Metaphysik und die Bemühungen Kants an der metaphysischen Problematik, die dieses Vertrauen stützen, sollen in eine ernste Auseinandersetzung gebracht werden mit der im heutigen „Zeitgeist“ der Metaphysik verbreiteten Vernachlässigung der Transzendenz und des Übersinnlichen. Mit anderen Worten: Dieses Vertrauen soll nicht gering geschätzt oder sogar ausgelacht werden, sondern in dem nachdenklichen Philosophieren noch immer Respekt gewinnen und Weiterdenken entzünden. Mit meiner Arbeit an Kants Begriff der Metaphysik, die jetzt zum Ende geht, komme ich zu der Überzeugung, dass Kants gesamte Überlegungen zu der metaphysischen Grundfrage (also nicht bloß seiner Antwort darauf) jeden Denker anregt sollen, der heute noch immer auf Metaphysik und Transzendenz den ernsthaften Anspruch erhebt.

8 “Perhaps

no actual metaphysician has ever been, both in intention and effect, wholly the one thing or the other.” (Vgl. Strawson, P., Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London and New York 1959, p. 9) 9 Vgl. den Titel des Aufsatzes Kants: „Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum Ewigen Frieden in der Philosophie“ in Band VIII der Akademie-Gesamtausgabe.

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© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Y. Xie, Praktische Regulation der Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62252-0

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