Pragmatismus und Ideologie: Organisationsformen des deutschen Liberalismus zur Zeit der Zweiten Reichsgründung (1878-1884) [1 ed.] 9783428511365, 9783428111367

Die Analyse der Organisationsformen des deutschen Liberalismus, wie sie sich im politischen Alltag entwickelt haben, erö

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Pragmatismus und Ideologie: Organisationsformen des deutschen Liberalismus zur Zeit der Zweiten Reichsgründung (1878-1884) [1 ed.]
 9783428511365, 9783428111367

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Monica Cioli . Pragmatismus und Ideologie

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 129

Pragmatismus und Ideologie Organisationsformen des deutschen Liberalismus zur Zeit der Zweiten Reichsgründung (1878-1884)

Von

.

Monica Cioli

Duncker & Humblot . Berlin

Der Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel hat diese Arbeit im Jahre 2000 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrutbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH. Berlin

Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice. Berlin Druck: Werner Hildebrand. Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-11136-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §

Vorwort Der Abschluss eines Buches ist immer das Resultat der Zusammenarbeit verschiedener Personen und Institutionen, die in unterschiedlicher Hinsicht dazu beigetragen haben. Ihnen gilt in erster Linie meine dankende Anerkennung. Zunächst fühle ich mich meinem Doktorvater Hartrnut Ullrich für die fruchtbaren Hinweise und die langjährige Betreuung verbunden, die in Italien für ein italienisches Thema begann. Meinem zweiten Gutachter, Jens Flemming, möchte ich ebenfalls meinen Dank aussprechen. Ohne das persönliche Engagement, den weisen Rat und die anhaltende Unterstützung durch Pierangelo Schiera wäre diese Arbeit sicher nicht zu ihrem Abschluss gekommen. Für den dabei erfahrenen Lern- und Erkenntnisprozess, für die kontinuierlichen Diskussionen und offen geführten Auseinandersetzungen schulde ich ihm meinen ganz besonderen Dank. Marina Cattaruzza, Marco Meriggi, Martin Rechenauer und Maurizio Ricciardi haben mit Geduld die Abfassung der Arbeit in ihren unterschiedlichen Entwicklungsstadien begleitet und durch nützliche Hinweise bereichert. Dieter Langewiesc he und James J. Sheehan haben mir großzügig die Gelegenheit eingeräumt, mich mit ihnen als anerkannte Kenner und Spezialisten des deutschen Liberalismus austauschen zu können. Für ein konzentriertes, von äußeren Zwängen befreites Arbeiten sorgte die willkommene Förderung des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz und der Friedrich-Naumann-Stiftung. Die Bearbeitung und Veröffentlichung dieses Buches wurde vom "Dipartimento di Scienze Umane e Sociali" der Fakultät Soziologie der Universität Trient freigiebig finanziell unterstützt. Die Mitarbeiter des Bayerischen Hauptstaatsarchivs München, des Brandenburgischen Landeshauptarchivs Potsdam, des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem, des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde, des Staatsarchivs München und des Stadtarchivs München haben mir durch ihre fachliche Kenntnis die mühsame Quellenarbeit wesentlich erleichtert. Mein großer Dank sei aber auch gegenüber Ingrid Mirow an der Universität und Gesamthochschule Kassel für ihre professionelle Unterstützung zum Ausdruck gebracht. Auch den Mitgliedern des Historischen Instituts der Universität Bern, wo ich seit April 2002 tätig bin, danke ich für ihre bereitwillige Unterstützung bei der Endredaktion der Arbeit. Zahlreiche Freunde und Kollegen haben mich in diesen Jahren fortwährend mit Rat und Tat, Aufmunterung und Beistand begleitet. Mein herzlichster Dank gilt

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Vorwort

Thomas Albert, Tanja Bührer, Emanuele Cafagna, Letizia Cortini, Peggy Cosmann, Agnese Giudici, Corinna Heipcke, Luitgard Marschall, Elena Massa, Sandro Mezzadra, Rosanna Scatamacchia, Christine Scheib, Francesca Sofia, Piero Ventura. Außerdem danke ich Anja Kreienbring und Arnold Oberhammer für die mit mir während der schriftlichen Fassung meiner Dissertation durchwachten Berliner Nächte, die meinen lückenhaften deutschen Sprachkenntnissen geschuldet waren. Zur sprachlichen Überarbeitung haben besonders Werner Daum und Marion Schiffner beigetragen. Ich möchte heute auch meines ersten Mentors, Paolo Ungari, gedenken, der mich seinerzeit an die Liberalismusforschung herangeführt hat. Ohne die geistige und materielle Unterstützung meiner Familie hätte ich mir aber diese Arbeit nicht leisten können. Ihr gilt daher mein ewiger Dank. Das Buch ist meinen Eltern gewidmet. Bern, im Oktober 2002

Monica Cioli

Inhaltsverzeichnis Einleitung I. Gegenstand und Fragestellung ....................................................... 11. Vorgehensweise und Kategorien................. . .................................... 111. Quellen ...............................................................................

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Erstes Kapitel

Realpolitik und Organisation als wesentliche Merkmale im deutschen Liberalismus zur Zeit der Reichsgründung

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I. Staat und Gesellschaft in der liberalen Staatslehre: Der liberale Weg zur Reform ... 23 1. Der Pragmatismus in der deutschen Staatslehre an den Beispielen Robert von Mohl, Lorenz von Stein und Johann Kaspar Bluntschli . . . .. . . . . . . . . . .. .. .. . .. . . . . 23 2. Der Liberalismus im Spiegel der Bismarckschen Realpolitik. . . . . .. . . . .. . . . .. . .. . 27 3. Der Vereinfür Sozialpolitik und die Liberalen.................................... 29 4. Die Debatte über die soziale Frage und ihre Auswirkungen in Italien. .. .. . .. . . . . 37 11. Kategorien des politischen Organisationswesens im deutschen Liberalismus des 19. Jahrhunderts........................... ........................................... 44 1. Organismus, Organisation, Partei ................................................. 44 2. Das politische Vereinswesen ...................................................... 47 3. Die parteipolitischen Gruppierungen der deutschen Liberalen ................... 51 4. Partizipation und Leitung ......................................................... 55

Zweites Kapitel

Die Deutsche Fortschrittspartei 1878-1884 I. Momente und Elemente der Partizipation ............................................ 1. Das Programm und seine Entwicklungen in den Jahren 1861-1878 ...... . ....... 2. Der Parteitag als Ort der Konfrontation ........................................... 3. Das Vereinswesen des Fortschritts ................................................ a) Der Wahlverein als lokales Rekrutierungsmittel .............................. b) Politische Vereine als Mobilisationsmittel .................................... 11. Momente und Elemente der Leitung ................................................. 1. Führungskräfte und zentrale Parteistrukturen ..................................... 2. Der Brief als Mittel politischer Kommunikation ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Publizistik als Bildungsinstrument ........................................... 4. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57 59 60 65 68 68 72 80 80 90 92 97

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Inhaltsverzeichnis Drittes Kapitel

Die Nationalliberale Partei 1878-1884 I. Momente und Elemente der Partizipation ............................................ 1. Programme und Erklärungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Der Parteitag als Ort des formellen Zusammenhalts .............................. 3. Der Verein als Ort sozialer Anerkennung ..................... . ......... . .. . ...... a) Wahl vereine und andere Vereine .............................................. b) Das Vereinswesen als Interessenvertretung ................................... 11. Momente und Elemente der Leitung ................................................. 1. Die nationalliberalen Führungskräfte und der Bund .............................. a) Der konservative Flügel der Parteiführung .................................... b) Der fortschrittliche Flügel der Parteiführung ................................. 2. Die Mittelsmänner als Schlüsselfaktoren zwischen Haupt und Peripherie ....... 3. Die Publizistik als Ort der Begegnung für Politik und Wissenschaft ............. 4. Schlussbetrachtung . .. .. ..... .. ........ . ............ .. .. ......... ..................

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Viertes Kapitel

Die Liberale Vereinigung von ihrem Entstehen bis zum Jahr 1884 I. Der Entstehungsprozess der Sezession ............................................... 1. Die Sezession als Übergangsstruktur zur Gründung einer liberalen Großpartei .. 2. Die Organisation der Sezession durch den Verein........................... ...... 11. Momente und Elemente der Partizipation ............................................ 1. Das Programm als Identifizierungsmoment der liberalen Sezessionisten ......... 2. Der Parteitag als Ort der Verständigung zwischen Leitung und Peripherie ....... 3. Das Vereinswesen ................................................................. a) Die Einführung einer allgemeinen Organisation durch den Wahlverein ...... b) Externe Vereine: Verein zur Förderung der Handelsfreiheit .................. III. Momente und Elemente der Leitung ................................................. 1. Die zentralen Institutionen ........................................................ 2. Die sezessionistischen Leiter ..................................................... 3. Die Mittelsmänner der Sezession und ihre Rolle in den Provinzen ............... 4. Die Publizistik als Vermittlungselemem .......................................... 5. Schluss betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

148 149 152 154 156 156 160 163 163 166 168 168 170 181 186 188

Fünftes Kapitel

Das liberale Netz in Berlin und München

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I. Das Beispiel Berlin ................................................................... 192 1. Der Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung: Ein Überblick .... 192 2. Die liberale Organisationsform unter Berücksichtigung des preußischen Wahlrechts .............................................................................. 193

Inhaltsverzeichnis 3. Die liberale Organisationsform zwischen 1878 und 1884 ........................ a) Die lokale Organisationsform der Nationalliberalen .......................... b) Die lokale Organisationsform der Fortschrittler .............................. c) Die liberale Organisation bei den Kommunalwahlen ......................... 11. Das Beispiel München unter Berücksichtigung des Landes Bayern ......... . ....... 1. Die Liberalen im Land Bayern .................................................... a) Die Linksliberalen. .. .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. .. . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. b) Die Nationalliberalen ......................................................... 2. Die Liberalen in der Stadt München .............................................. a) Liberale Vereine und liberale Parteien in München ........................ '... b) Die Zusammensetzung des Münchener Liberalismus: Ein Überblick

9 196 198 202 210 214 215 217 221 224 224 238

Sechstes Kapitel

Schlussbetrachtungen aus vergleichender historischer Perspektive: Deutschland und Italien

240

I. Organisationsform des italienischen Liberalismus ................................... 241 11. Das politische System Italiens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 253 III. Der deutsche Liberalismus in vergleichender Perspektive zu Italien ................. 260

Anhang

264

1. Überblick der Zeitungen und Zeitschriften ....................................... 264 2. Statuten und Mitgliederverzeichnisse ............................................. 267

Bibliographie I. Quellen ............................................................................... 1. Ungedruckte Quellen. .... . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . .. . . . ... .. . .. . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. a) Bayerisches Hauptstaatsarchiv München ..................................... b) Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam .............................. c) Bundesarchiv Lichterfelde Berlin ............................................. d) Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz ............................. e) Staatsarchiv München ......................................................... f) Stadtarchiv München.. . . . .. . . . . . .. . . . . . . . .. .. . . . . . . .. . . . . . . . .. . .. . ... . .. .. .. .. 2. Gedruckte Quellen ................................................................ 11. Literatur .................. . .. . .......................... . .... . .............. . .........

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Personenverzeichnis . . . . . . .. .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. 329 Sachwortverzeichnis ..................................................................... 336

Einleitung I. Gegenstand und Fragestellung Eine fruchtbare historiographische Perspektive auf die Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert vermag die Analyse seiner Organisationsformen, wie sie sich im politischen Alltag entwickelt haben, zu eröffnen. Diese Art der Betrachtung, die für die Geschichte des Parteiwesens von Ludwig Bergsträsser eingeführt wurde,l hat dazu beigetragen, nicht nur die Kenntnisse über eine im weitesten Sinne verstandene Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts zu vermehren, sondern darüber hinaus auch die These über eine vermeintliche Unfähigkeit des Liberalismus zur Organisation und sozialen Milieubildung 2 neu zu relativieren. 3 In einer Kontinuitätslinie mit dieser Perspektive beabsichtigt die vorliegende Arbeit, die Organisationsform der Nationalliberalen Partei, der Deutschen Fortschrittspartei und der Liberalen Vereinigung zwischen 1878 und 1884, der Zeit der sogenannten Zweiten Reichsgründung,4 zu untersuchen. Im Mittelpunkt stehen die Organisationsprozesse der verschiedenen Kräfte, d. h. der Ausbau von Integrationszentren, die Artikulierung eines Netzes der unterschiedlichen sozialen und geographischen Realitäten des liberalen politischen Lagers bis hin zum Austausch zwischen der Parteileitung - der Fraktion im Parlament - und der Partei im Lande. 5 Zwischen 1877 und 1879 fand ein tiefer Umbruch im deutschen Kaiserreich statt: Die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Nationalliberalen zerbrach, Bismarck wandte sich gegen die Liberalen, der Liberalismus spaltete sich und stürzte in eine tiefe Krise. Ludwig Bergsträsser. So z. B. Hans Rosenberg, Depression, S. 123 und 132 ff. und Hans-Ulrich Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 868 ff. 3 Vgl. Shlomo Na' aman; Andreas Biefang, Bürgertum; Anna G. Manca, Sfida; Ansgar Lauterbach, Vorhof. 4 Hier wird Bezug genommen auf den Ausdruck von Hermann Oncken, mit dem er das Empfinden derer, die die Wende von 1878 als ..größte innere UmWälzung neudeutscher Reichsgeschichte" erlebten, beschrieben hat (Hermann Oncken, Bennigsen [19\0], S. 302). 5 Eine solche nationale Perspektive hat dazu geführt, die Deutsche Volkspartei angesichts ihrer begrenzten Rolle auf der Reichsebene und ihrer geographischen Beschränkung auf Frankfurt und Teile Südwestdeutschlands nicht zu berücksichtigen. Auch die Liberale Reichspartei ist nicht berücksichtigt worden, weil diese ausschließlich auf der parlamentarischen Ebene vorhanden war. Außerdem existierte diese Partei nur zwischen 1871 und 1874, wobei ihre Reste 1877 in der Nationalliberalen Partei aufgingen, während die vorliegende Darstellung sich mit der liberalen Organisationsform zwischen 1878 und 1884 beschäftigt (über die Liberale Reichspartei vgl. Helmut Steinsdorfer, Reichspartei). 1

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Einleitung

Hierbei soll nicht vergessen werden, dass die Zusammenarbeit des Junkers Bismarck mit den Liberalen hauptsächlich strategische Gründe hatte. Das grundlegende Ziel der Herausbildung der staatlichen Einheit konnte de facto nur durch ein Zusammengehen mit den stärkeren Kräften der Zeit - den Liberalen - erreicht werden, was die liberale Politik Bismarcks zwischen 1867 und 1878 erklärt. Dazu gehörten auch die sogenannten Ausnahmegesetze, welche den Aktionsradius der staatsfeindlichen Kräfte einschränken sollten. Es handelte sich hierbei vor allem um einen "Präventivschlag gegen eine Systemgefährdung" ,6 die - wenn auch in unterschiedlichem Maße - vom Linksliberalismus und von der Sozialdemokratie ausging. Hinzu kamen die von der Industrie- und Agrarkrise verursachten wirtschaftlichen Probleme zwischen 1873 und 1890,1 die zum Bismarckschen Projekt einer protektionistischen Steuer- und Finanzpolitik beitrugen. Der freihändlerische Liberalismus wurde diskreditiert, wobei das liberale Prinzip der Selbststeuerung und -regulierung der Wirtschaft durch den Markt als Hauptursache der Krise angeprangert wurde. Die Wirtschaftskrise verstärkte die Schutzzollbewegung, die ihre Anhängerschaft vor allem aus der Schwerindustrie und den agrarischen Kreisen rekrutierte. Überdies war die politische Mobilisierung sowie die Artikulation und Organisation von divergierenden ökonomischen und sozialen Interessen eine bedeutende Folge der Krise. Es war die Politik des Bismarckschen Bündnisses mit den aufkommenden Interessenverbänden und der Übergang zur Schutzzollpolitik, die dem Kanzler viel mehr zusagten als das bis dahin praktizierte Manchestertum. Durch seine hervorragende politische Fähigkeit gelang es Bismarck, eine neue parlamentarische Kooperationskraft zu schaffen. So spaltete sich 1881 die Nationalliberale Partei und es entstand die Liberale Vereinigung. 1884 verabschiedeten die Nationalliberalen die Heideiberger Erklärung, die bald darauf das Kartell mit den Konservativen ermöglichte, während die liberale Linke, Sezession und Fortschritt, sich im gleichen Jahr zur Deutschen Freisinnigen Partei zusammenschloss. Innerhalb der umfangreichen Literatur zum Liberalismus fällt die Forschung über diese organisatorischen Umwandlungen relativ dürftig aus. Insbesondere musste die Geschichte der Liberalen Vereinigung, also der sogenannten Sezession, die von 1881 bis 1884 Bestand hatte, weitgehend neu geschrieben werden. Organisatorisch war der deutsche Liberalismus eine Honoratiorenpartei, die auf der lokalen Macht der Notabeln und nicht auf einer fest geregelten und statutarisch Thomas Nipperdey, Geschichte, Bd.2, S. 382. Auch wenn Historiker sich heute vom Begriff der "Großen Depression" (Hans Rosenberg, Depression) distanzieren (so widerlegt Reinhard Spree Rosenbergs Darstellung der Zeit zwischen 1873 und 1895/96 als lange Welle), bleibt doch unbestreitbar, dass die Zeitgenossen die wirtschaftliche Depression von 1873 bis 1879 als einen tiefen Einschnitt empfanden, der ihre Fortschrittserwartungen trübte. Mit dem ökonomischen Einbruch, so drückte es der nationalliberale Lasker aus, "breitete sich die Unzufriedenheit über alle Gegenden des Reichs ( ... )" aus (Wilhelm Cahn). 6

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I. Gegenstand und Fragestellung

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sanktionierten Disziplin der Parteileitung basierte. Nach der traditionellen Forschungsauffassung spukte diese lockere Struktur des liberalen Parteiwesens wie ein Schreckgespenst durch die Geschichte des Liberalismus, um ihn in kritischen Momenten ohne Integrationskraft zu belassen. Auch deswegen blieb die Rekonstruktion der politischen Praxis liberaler Honoratiorenparteien bisher weitgehend ein Desiderat der Forschung und die Koordination zwischen dem Zentrum der Partei - der Leitung - und ihrer Basis - der Partei im Lande - im Schatten. Der Tradition von Ludwig Bergsträsser8 folgend, der sich Fragen über die Wechselwirkungen zwischen den Parteien, dem Verfassungssystem und der Gesellschaft Deutschlands stellte, entwickelte Thomas Nipperdey das Thema der Organisationsform der bürgerlichen Parteien, was heute noch ein wichtiger Ausgangspunkt für die Parteiengeschichte darstellt. 9 Vielfache Fragen bildeten dabei die Basis von Nipperdeys Interesse: "Die Fragen nach der Krise des Liberalismus, nach dem Versagen der Parteien während der Weimarer Republik, in der die Parteien nach Tradition und Bewußtsein noch stark von den politischen Verhältnissen vor 1918 mitbestimmt waren, die Frage danach, warum in Deutschland eine Lösung der Spannung im Verhältnis von Staat und Gesellschaft, sei es im Sinne einer Integration, sei es im Sinne eines relativen Gleichgewichts dieser heiden Mächte, nicht gelungen ist - diese Fragen führen auf die Probleme von Partei und Masse, von Führung und Integration, von Entpolitisierung oder Durchpolitisierung, ehen auf die Probleme der deutschen Parteiorganisation, deren Erforschung die Beantwortung jener Fragen vorbereiten kann." 10 Die Hervorhebung der Bedeutung der Organisation, die Betonung des gesellschaftlichen Netzes, das hinter dem Namen Partei stand, ist zweifellos das bedeutendste Ergebnis der Forschung Nipperdeys über das deutsche Partei wesen. Im Mittelpunkt seiner Analyse stand die Frage nach dem inneren Ausbau der Parteien, also nach der Politisierung der Wähler, der Führungsauslese, den sozialen und politischen Gegebenheiten organisierter Machtbildung vor 1918 - kurzum: Es wurde ein Zugang gewählt, der auch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Soziologie und Parteiengeschichte eröffnete. So analysierte er die Honoratiorenform der Liberalen, ihre begrenzte Tatigkeit bei Wahlkämpfen, die Wichtigkeit des politischen Vereinswesens und die fehlende Massenorganisation der liberalen Parteien. Nipperdeys Perspektive und Ergebnisse stellen den Ausgangspunkt dieser Studie dar, die dieses Bild aber bereichert und differenziert. Es werden die informellen Kanäle zwischen der Leitung und der Basis liberaler Parteien und die Partizipationsmöglichkeiten ausgeleuchtet. Dabei lässt sich das Organisationsgeflecht der drei liberalen Parteien, der Nationalliberalen, der Sezessionisten und der Fortschrittler, durch eine systematische Bearbeitung von Archivmaterial, insbesondere den NachLudwig Bergsträsser. Thomas Nipperdey, Organisation (1958); ders., Organisation (1961). 10 Thomas Nipperdey, Organisation (1958), S.552.

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Einleitung

lässen liberaler Parteiführer, ermitteln. Es werden innerparteiliche Integrationspotentiale und Integrationsmechanismen, die Beziehungen innerhalb der Parteien, mitsamt den dabei eingesetzten Mitteln, untersucht. Die gewählte Perspektive der Untersuchung bilden das deutsche politische System, die Merkmale des Bürgertums und der Organisationsform der liberalen Parteien. Die ausschlaggebenden thematischen Stichwörter der Arbeit sind aber das Bundeswesen, also die föderale Struktur Deutschlands, das Honoratiorenwesen und das Vereinswesen, drei Elemente, die eng miteinander verbunden sind. Das Bundeswesen und das Vereinswesen, die konstitutive Elemente der Verfassungsgeschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert waren, wurden von den Liberalen aufgenommen, um ihre Herrschaft auf der sozialen Ebene zu bestätigen und in der Politik durchzusetzen. In einer Zeit zunehmender Differenzierung der Gesellschaft - insbesondere ab 1848/49 - sollte die politische Organisation der Partei - im Sinne einer festeren Verbindung zwischen dem Zentrum (der Fraktion) und der Peripherie im Lande - eine präzisere Form bekommen. Diese festere Anbindung wurde aber nicht durch eine mittels Statuten eingeführte Disziplin erreicht, die Parteimitglieder und -leitung gleichzeitig zu derselben politischen Verantwortlichkeit verpflichtete, sondern durch eine entschiedenere Anwendung der Honoratioren/orm der Partei. Nach der Definition eines Lexikons von Anfang des 20. Jahrhunderts waren Honoratioren herausragende Mitglieder, also soziale Führer, ,,(lat. ,die Geehrten'), die in kleinen Orten vornehmeren und angeseheneren Einwohner, soviel wie hautvolee."ll Spanners Konversationslexicon berief sich auf das Ansehen als typisches Merkmal des Honoratioren und auf jene Elemente - Reichtum, Bildung bzw. Status und öffentliche Stellung -, die das Ansehen erzeugten und bestimmten: So galt als Honoratior "die geehrte, durch Titel, amtliche Stellung oder Reichtum hervorragende Person."12 Was diese Elite anbelangt, kann noch nicht von einer Professionalisierung der Politik die Rede sein. Ihre Vertreter lebten von ihrem Großgrundbesitz, von ihren bildungsbürgerlichen Berufen (sie waren Journalisten, Professoren, Rechtsanwälte usw.) oder sie gehörten dem Wirtschaftsbürgertum an. Die Honoratioren lebten "für die Politik", nicht "von der Politik": ,,( ... ), Von' der Politik als Beruf lebt, wer danach strebt, daraus eine dauernde Einnahmquelle zu machen, - ,für' die Politik der, bei dem das nicht der Fall ist. Damit jemand in diesem ökonomischen Sinn ,für' die Politik leben könne, müssen unter der Herrschaft der Privateigentumsordnung einige, wenn Sie wollen, sehr triviale Voraussetzungen vorliegen: er muß - unter normalen Verhältnissen - ökonomisch von den Einnahmen, welche die Politik ihm Art. Honoratioren, in: Meyers Großes Konversations-Lexicon, S. 535. Art. Honoratioren, in: Spanners lJIustriertes Konversationslexicon. Auf Status, amtliche Stellung und Reichtum bezieht sich, wie es später erläutert wird, auch die Literatur, um das Honoratiorenwesen zu bestimmen. 11

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I. Gegenstand und Fragestellung

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bringen kann, unabhängig sein."13 Waren Reichtum und Status die Vorbedingungen der politischen Prominenz des Honoratioren, trug die Beteiligung an der Politik zur Verstärkung seiner wirtschaftlichen Interessen oder seiner sozialen Stellung bei. 14 Robert Michels Überlegungen (die besonders die Massenparteien, hauptsächlich die sozialistischen, betreffen) über die Wichtigkeit des Leitungsprinzips als notwendiges Grundelement der Politik - einer Regierung oder einer Partei - können auch auf die bürgerlichen Parteien übertragen werden. IS Diese kennzeichneten sich durch eine lockere Honoratiorenform, d. h. durch eine Organisation mit einem hohen Maß an informeller Koordination zwischen Leitung und Basis. Die Organisation ist unvermeidlich für die Verwirklichung von Zielen. So sagt Ferdinand Tönnies in Bezug auf Parteien: Deren Willen hänge damit zusammen, dass er sich als solcher "auf bestimmte Zwecke richtet und die Mittel erwägt und wählt, die diesen Zwecken dienen und gemäß sind: die Partei verfolgt eine Politik zum Behuf der Steigerung und Ausübung ihrer Macht, wie der Staat selber sie für seine umfassenderen Zwecke verfolgt."16 Da die verfassungsmäßige Ebene der Politik in den deutschen Ländern stark voneinander abwich und der soziale Hintergrund beinahe genauso unterschiedlich war, kann keine allgemeine Theorie über das Honoratiorenwesen herangezogen werden. 17 So waren die deutschen Notabeln eine heterogene Gruppe, zu der Landbesitzer, Beamte, Rechtsanwälte, Geschäftsleute, Ärzte, Journalisten usw. gerechnet werden können. Trotz dieser Heterogenität sind aber auch gemeinsame Aspekte vorhanden, die einen allgemeinen Überblick erlauben: Die Tatsache, dass diese Berufsgruppen, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, in ganz Deutschland vertreten waren, und das Bestehen einer nationalen Politik ermöglichen manche allgemeine Betrachtungen zum Gegenstand. Die föderale Struktur des Bundes als Ausdruck der Vielfältigkeit des deutschen politischen Systems entwickelte sich zu einem wesentlichen Element der Partei, weil die bestehende, aber relative Souveränität der Mitgliedsstaaten zum Mittel für die Erlangung und zur Festigung des Ansehens der Liberalen wurde. Die Teilnahme der Parteimitglieder an den lokalen Strukturen der Mitgliedsstaaten (Landtagen bzw. Stadtverwaltungen) bildete einen wichtigen Faktor zur Gewinnung eines Ansehens, das für Parteiziele eingesetzt wurde. Max Weber, Politik, S.15f.; ders., Wirtschaft, S.215ff. Talcott Parsons bezeichnet abennals als Honoratioren die ,'personen, die Funktionen erfüllen und Autorität ausüben, die von der Position als einer Haupteinkommensquelle nicht abhängen und im allgemeinen einen unabhängigen Status in der Sozialstruktur genießen" (in: Max Weber, Theory, S. 384, Anm.57). 15 Robert Michels, Soziologie. Vgl. dazu: Robert A. Nye. 16 Ferdinand Tönnies, S. 617. 11 Ein Beispiel für die Zusammensetzung des deutschen Liberalismus auf lokaler Ebene findet sich im sechsten Kapitel und bezieht sich auf München. Die Tatsache, dass keine Mitgliederliste für Berlin aufzufinden war, hat einen Vergleich zwischen den beiden Städten leider unmöglich gemacht. 13

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Einleitung

Zusammen mit dem Bundeswesen war die Vereinsorganisationsform ein weiteres konstitutives Element der Partei, insofern die Partei im Lande, nämlich die außerhalb des Parlaments und durch Wahlvereine organisierte Partei, unmittelbar mit der bürgerlichen Gesellschaft in Verbindung trat. Die politische Organisationsform im 19. Jahrhundert - eben in einer Zeit, in der die Politisierung der Gesellschaft an Bedeutung gewann - orientierte sich hauptsächlich an den Vereinen, die bereits im späten 18. Jahrhundert vor allem in Form von Geselligkeits- und Bildungsvereinen entstanden waren. Die Vielfältigkeit der Vereine und die Heterogenität des Bürgertums wurden bis zu einem gewissen Grad durch die Autorität der Honoratioren zusammengehalten, die eine ausreichende gesellschaftliche Anerkennung gewährleisteten. Ausgehend von diesen Überlegungen kann abgeleitet werden, dass das Ansehen ein Bestandteil der politischen Ausdrucksform der Honoratioren war. Das Ansehen, das zu einer alten Art gehörte, Politik auszuüben, wurde vom Bürgertum bewusst dafür eingesetzt, den sozialen und politischen Kontext bürgerlich zu prägen. So war das Ansehen mit den monarchischen deutschen Ländern, aber auch mit den bürgerlichen Vereinen stark verbunden und verflochten. Der gegenseitige Einfluss zwischen neuen und alten Ständen erzeugte eine Dynamik von Konservation und Fortschritt, die das ganze verfassungsgeschichtliche Bild der deutschen Staaten vom Deutschen Bund bis hin zum Bundestaat prägte. Unter Ansehen soll hier folgendes verstanden werden: die soziale Anerkennung eines Individuums innerhalb einer Gruppe aufgrund bestimmter Merkmale und Verhaltensweisen, die konstitutiv für die Gruppe sind oder zumindest so erscheinen. Das Ansehen resultiert aus zwei verschiedenen Elementen: Auf der einen Seite steht das soziale Element (adlig, bildungsbürgerlich usw.), das die soziale Anerkennung erzeugt; und auf der anderen Seite steht die öffentliche Geltendmachung der sozialen Stellung, die dieses Ansehen ermöglicht. Wenn man daher unter Ansehen die gesellschaftliche Anerkennung im Zusammenhang mit der durch ihre Träger ausgeübten politischen Wirkung versteht, lässt sich feststellen, dass die Liberalen über gesellschaftlich-politische Elemente verfügten - eben den Bund und die Vereine -, die ihr Ansehen festigten.

11. Vorgehensweise und Kategorien Ähnlich wie die 1860er Jahre, als die wichtigen politischen Fragen der Zeit zur Entstehung der Deutschen Fortschrittspartei (1861) und der Nationalliberalen Partei (1866) führten, stellt der betrachtete Zeitraum 1878-1884 einen weiteren tiefen Einschnitt in der Geschichte der liberalen Organisationsform dar. Die Alltagspolitik nahm an Bedeutung zu, insofern in ihr die neuen bzw. komplexeren Interessen zum Ausdruck drängten und vertreten wurden und sich die Partei zur unübersehbaren und dauernden Vermittlungsinstanz zwischen Staat und Gesellschaft entwickelte.

H. Vorgehensweise und Kategorien

17

Politik soll hier als Tenninus verstanden werden, der in engem Zusammenhang mit dem Begriff der englischen policy 18 steht, aber auch in dem Konzept der alten deutschen Policey wurzelt. 19 Es geht um die eigentliche Entwicklung der inhaltlichen bzw. konkreten Dimension der Politik: Der Ausgangspunkt der Untersuchung wird daher die Verfassung sein, wobei der hier angewandte Verfassungs begriff sich nicht nur durch den geschriebenen Text der Konstitution definiert, sondern insbesondere durch das umfassende Netz von Beziehungen zwischen der Konstitution selbst und der gesamten juristischen Ordnung, wobei die Parteien als nicht unbedeutender Teil der Verfassung interpretiert werden sollten. 20 Die politischen Parteien, die die Reichsverfassung von 1871 nicht explizit vorsah, sind nichtsdestoweniger in diesem Zusammenhang als konstituierende Faktoren des Kaiserreichs zu betrachten. 21 Es wird nämlich eine Verfassungsgeschichte angestrebt, die die politischen Organisationsfonnen der Liberalen in ihrer historischen Ausprägung innerhalb des Bismarckschen Systems in Betracht zieht. Im Mittelpunkt stehen daher nicht nur doktrinäre und rechtliche Fonnulierungen, sondern auch (und vor allem) die Kräfte, die hinter solchen Theorien wirkten. 22 18 So The Oxford English Dictionary: policy is "an organized and established system or form of govemment or administration (of astate or city); a constitution, polity"; sehr interessant ist auch die Definition von policy als "a particular form of political organization, a form of government( ... )" (Art. Policy, in: The Oxford English Dictionary, S. 26; S. 36). 19 VgI. dazu Hans Maier, Staatslehre, S. 92ff. Indem Maier das Grimmsehe Wörterbuch zitiert, gibt er einen Begriff von Polizei wieder, der in diesem Zusammenhang sehr zutreffend scheint: Das Wort "Polizei" im 15. bis 17. Jahrhundert bedeutet ,die regierung, verwaltung und ordnung, besonders eine art sittenaufsicht in staat und gemeinde, auch den staat selbst sowie die staatskunst, politik' (zitiert in: ebenda, S. 93 f.). 20 Zutreffend scheint in diesem Zusammenhang die Formulierung des Verfassungsbegriffs durch Otto Meisner. Nach ihm besteht die Verfassung aus ,,[den] Beziehungen der Gesellschaft, der Parteien und Individuen, der Wirtschaft, Gemeinden und Konfessionen zum Staat, aber auch [dem] Verhältnis zwischen Executive und Legislative, Politik, Regierungsform und Staatsbildung, Zivil und Militär" und daher, unter Rückgriff auf die begrifflichen Überlegungen von Rudolf von Gneist, aus ,,[der] Wechselwirkung zwischen den größten und kleinsten Verhältnissen, in unübersehbaren Verzweigungen" (Heinrich O. Meisner, S.lO). 21 Zur Kennzeichnung der politischen Parteien als gesellschaftliche Gebilde oder aber als Bestandteil des Staates, wenn auch eher als Frage der Demokratie, vgI. Dieter Grimm, Zukunft, besonders S. 265 ff. 22 Es gibt unterschiedliche Meinungen, worum es sich bei Verfassungs geschichte handelt: Sie betreffen nicht nur sekundäre Methodenfragen, sondern das grundsätzliche Verständnis der Disziplin. Je nachdem, welcher Ansicht man zuneigt, hat die Verfassungsgeschichte einen unterschiedlichen systematischen Bezug: zur Rechtswissenschaft, zur Politikwissenschaft oder zur Soziologie. Angesichts dieser genannten Zuordnungsmöglichkeiten könnte man sagen, dass es drei Arten von Verfassungsgeschichte gibt: eine Verfassungsrechtsgeschichte, eine Sozial- oder Strukturgeschichte und schließlich eine dritte, die auf die Staatsverfassung, die politische Ordnung einer Gesellschaft, auf ihr Regierungssystem und dessen Struktur und Wandel abzielt. Dieser dritte verfassungsgeschichtliche Zugriff kommt hier zum Tragen. Zum Begriff Verfassung und Verfassungsgeschichte vgI. u. a. Costantino Mortati; Otto Brunner, Wege; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Forschung; Hans Boldt, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, besonders S. lOff.; ders., Einführung.

2 Cioli

18

Einleitung

Die Frage nach der politischen Organisation einer gesellschaftlichen Gruppe darf nicht durch ein abstraktes Modell erklärt werden, das als treffendes Muster für eine bestimmte Gesellschaft geltend gemacht wird. Dies gilt insbesondere für die Liberalen, die durch ihre vielfältigen und sich oft widersprechenden Charakteristiken sich für eine solche Vorgehensweise schlecht eignen. Insofern soll die liberale Bewegung in ihrem effektiven Bestehen untersucht und die Parteistruktur nicht nach vorangenommenen Mustern der politischen Organisation betrachtet werden. Um den Charakter der Organisationsfonn zu begreifen, scheint es auch nötig, die zeitgenössischen Begriffe ins Auge zu fassen. 23 So gilt es die Konzepte von Organisation, Partei und Liberalismus in dem entsprechenden Kontext, dem des 19. Jahrhunderts, zu berücksichtigen. Als Kennwort zur Definition des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert wird in dieser Studie der Pragmatismus herangezogen. Pragmatismus soll im Folgenden als die historische Fonn der Anpassung liberaler Prinzipien an die Realität, d. h. im Falle Deutschlands an den komplizierten und vielgestaltigen Umbau des neuen einheitlichen Staates zur Zeit Bismarcks verstanden werden. Pragmatismus als Methode des HandeIns, die die Liberalen zuerst in Preußen, Baden und Bayern seit Ende der 1850er Jahre, dann im Einigungsprozess von 1866-1871 und schließlich in der Kompromiss- und Sammlungspolitik der 1870er und 1880er Jahre umsetzten. Im Übrigen bezeichnete sich die Nationalliberale Partei selbst, also die pragmatische und realpolitische liberale Partei im wahrsten Sinne des Wortes, als opportunistisch, wobei Opportunismus für sie das bedeutete, was hier als pragmatisch gekennzeichnet wird. Im Gegensatz zur "Intransigenz", deren Eigenschaften "Beschränktheit der Bildung und Unzugänglichkeit des Temperaments" waren und daher negativ bewertet wurden, war das zeitgenössische Verständnis von Opportunismus positiv belegt. "Der Gegensatz zwischen Intransigenz und Opportunismus erscheint im Anfange regelmäßig aus dem Gegensatz der Ziele. Die nationalliberale Partei, nach den Siegen von 1866 gegründet, traf den glücklichsten Zeitpunkt, eine populäre und fruchtbare Politik des Opportunismus einzuweihen. "24 Der Opportunismus, bzw. der Pragmatismus, wird hier als die Fähigkeit definiert, eigene Prinzipien in einem bestimmten historischen Zusammenhang durchzusetzen. "Der Opportunismus seinerseits wird in eine klägliche Rolle sinken, wenn er sich nicht über unselbständige Gelegenheitspolitik erhebt. Aus den Thatsachen und Mächten, denen gegenüber er sich nicht intransigent verhält, muß er ein tieferes Verständniß der Lage der Zeit und des Volkes gewinnen, wie es die Grundsätze, von welchen er ausging und welche die Intransigenten festhalten, nicht enthalten haben. So bleibt der Opportunismus nicht der Diener der Macht, sondern er erlangt die geistige Freiheit, die selbständige Productivität wieder, während der Intransigentismus erst zurückbleibt, dann aber der radicalen Negation verflillt."25 23 Zum Thema vgL Christo! Dipper; Pierangelo Schiera, Considerazioni; Giuseppe Duso; Gustavo Corni, Storia (1998). 24 Die Trennung in der nationalliberalen Partei, S.430. 25 Ebenda, S.430.

11. Vorgehensweise und Kategorien

19

Die vorliegende Darstellung konzentriert sich vor allem auf die Verhältnisse im Reichstag: Durch die Nachlässe der liberalen Parteiführer ist es möglich, das politische Netz zwischen Parteileitung und Basis zu beleuchten. Um jedoch zu ermessen, inwieweit das Honoratiorensystem fähig war, sein politisches Lager zu repräsentieren, war es auch wichtig, die Vereine, ihre Versammlungsberichte und ihre Statuten zu untersuchen. Eine rein nationale Analyse, die nur auf dem Reichstag beruht, hätte eine hinreichende Erforschung eines solchen Systems nicht ermöglicht. Ein Teil der Arbeit ist daher den Fallbeispielen Berlin und München gewidmet: Die Absicht einer solchen Analyse besteht darin, die sozialen und politischen Verhältnisse an unterschiedlichen Orten darzustellen und auf diese Weise die Anpassungsfahigkeit des Liberalismus an die dort vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnisse zu ermessen. Selbstverständlich können diese Fallbeispiele nicht für ganz Deutschland repräsentativ sein. Jedoch könnte die stark katholisch geprägte Gesellschaft in München neue Antworten auf die Frage nach den liberalen Organisationsformen geben, gerade weil die Liberalen allzu oft mit den Protestanten identifiziert wurden. Das protestantische Berlin hingegen war die Hochburg der Fortschrittspartei, und hier dominierte vor allem die charismatische Persönlichkeit Eugen Richters. Aufgrund dieser Vorteile, die für den Erfolg der Partei ausschlaggebend waren, aber auch aufgrund der im Folgenden genannten Einschränkungen, kann das Fallbeispiel Berlin wichtige Rückschlüsse zur Organisationsgeschichte liefern. In Berlin stellten, neben der wirkmächtigen Präsenz Bismarcks, der Reichstag und die Monarchie bedeutende Hindernisse für die liberalen Entfaltungsmöglichkeiten dar. Neben diesem internen Vergleich ist ein Teil der Arbeit einem äußeren Vergleich gewidmet, dem mit Italien. Ausgehend von der Hypothese, dass der italienische Liberalismus stärker gespalten war als der deutsche, was sich zunächst anhand der unterschiedlichen institutionellen Staatsformen Italiens und Deutschlands erklären lässt, wird hier versucht, die Auswirkungen des italienischen Zentralstaats und des Föderalismus Deutschlands auf die Organisationsform der Liberalen in den jeweiligen Nationen darzustellen. Der Vergleich sollte in erster Linie nur dazu dienen, das Charakteristische der Organisationsformen des deutschen Liberalismus deutlicher hervortreten zu lassen. Im Übrigen könnte ein reiner Vergleich der Organisationsformen der zwei Liberalismen wie auch ihrer politischen Programme und Strategien aufgrund der verschiedenen institutionellen Systeme nicht nachvollzogen werden. Hierbei gilt es auch den bedeutenden Unterschied zu beachten, dass der italienische Liberalismus an der Regierung beteiligt war, der deutsche hingegen nicht. Das hing von den unterschiedlichen Kräften ab, die die Einheit beider Länder verwirklicht hatten und die sich in deren unterschiedlichen Geschichte maßgeblich niederschlugen. Schließlich spiegelten sich die verschiedenen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse Italiens und Deutschlands auch stark in der Modernität ihrer Liberalismen und deren Fähigkeit wider, eine Gesellschaft nach den bürgerlichen Prinzipien zu gestalten. 2*

20

Einleitung

Dem strategischen und organisatorischen Kontext der Politik des deutschen Liberalismus sowie der Erläuterung von grundlegenden Begriffen wie Organisation und Partei ist das erste Kapitel gewidmet. Die Kapitel zwei bis vier beschäftigen sich mit der Organisationsform der liberalen Parteien zwischen 1878 und 1884, was das zentrale Anliegen der vorliegenden Arbeit darstellt. Das Kapitel fünf ist den Fallbeispielen von Berlin und München gewidmet. Schließlich wird im letzten Kapitel der Vergleich Deutschlands mit Italien angestellt.

111. Quellen Um eine Geschichte der Parteiorganisation zu schreiben, die das eigentliche Funktionieren der Partei selbst zum Inhalt hat, müssen Informationen auf verschiedenen Ebenen gesucht werden. Das wichtigste Quellenmaterial26 entstammt Archivbeständen: Besonders bedeutungsvoll waren die Nachlässe von wichtigen liberalen Parteiführem und Persönlichkeiten (L. Bamberger, T. Barth, R. von Bennigsen usw.), die größtenteils im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz und im Bundesarchiv Lichterfelde (Berlin) zugänglich sind. Daneben galt es auch die Mitgliederverzeichnisse der Vereine der Parteien zu beachten, wobei aber die Statuten oder Mitgliederverzeichnisse der Wahlvereine nicht leicht zu finden waren. Da die Quellenlage ziemlich fragmentarisch ist, war es sehr schwierig, eine systematische Organisationsgeschichte aufzubauen. Für den Untersuchungszeitraum konnten keine Bestände aus Partei archiven gefunden werden. Auch die bereits genannten Archive weisen kaum ausreichende Bestände zur Geschichte der liberalen Parteien auf, da ein Großteil des Archivmaterials möglicherweise während der Kriege verloren ging. Eine große Hilfe für die Rekonstruktion der Parteiengeschichte kam hingegen von der deutschen Gesetzgebung, besonders dem Sozialistengesetz. Da die sogenannten reichsfeindlichen Parteien, also die linksstehenden Parteien, unter Staatskontrolle gestellt wurden, entstanden Berichte der Vereins- und Wählerversammlungen, die sich besonders umfangreich in den Beständen der Berliner Polizei des Brandenburgischen Landeshauptarchives finden. Dies traf aber vor allem auf die Fortschrittspartei und die Liberale Vereinigung zu und weniger auf die Nationalliberale Partei, die mehr als die anderen auf der Seite der Bismarckschen Regierung stand. Auch mindert die Notwendigkeit zur Anpassung an das Gesetz, der sich die Parteien im Interesse ihres Fortbestehens beugten, die Zuverlässigkeit dieser Dokumente. Aus diesen Gründen stellen die Nachlässe liberaler Parteiführer den Hauptteil der hier benutzten Quellen dar. Im Übrigen waren die Nachlässe gerade für die Überprüfung der Thesen dieser Arbeit sehr wichtig: Die Funktionsweise der Parteien durch die Vereine und die Bundesstruktur, also durch das Ansehen der Honoratioren, ging oft aus den Briefwechseln hervor. Sie ermöglichten, die Lebensläufe wichtiger 26

Im Folgenden werden die Zitate in der Originalschreibweise wiedergegeben.

III. Quellen

21

Partei führer zu verfolgen und zu verstehen, wie die Beziehung zwischen den Parteiführern, dem institutionellen System und dem Vereinswesen funktionierte. Durch diesen Gedanken- und Meinungsaustausch war es außerdem möglich nachzuvollziehen, wie und inwieweit sich eine innere Öffentlichkeit, d. h. eine gemeinsame Meinung innerhalb der Partei, aufbaute und zur Koordination der Partei beitrug. Die systematische Untersuchung des Materials im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam hat eine Darstellung der Organisationsform der Liberalen in Berlin ermöglicht. Für die Geschichte der Münchener Liberalen erwiesen sich die folgenden Archive als sehr wichtig: das Bayerische Hauptstaatsarchiv München, das Staatsarchiv München und das Stadtarchiv München.

Erstes Kapitel

Realpolitik und Organisation als wesentliche Merkmale im deutschen Liberalismus zur Zeit der Reichsgründung "Die Politik bestimmt (. .. ) was geschehen soll, und wie es geschehen soll. Sie bezeichnet die Aufgaben des Staatslebens und ihre Lösung. Die einseitige Betrachtung der Aufgaben würde zu einem unpraktischen Idealismus verleiten, die einseitige Erwägung der Mittel zu einem verderblichen Realismus. Die Verbindung beider nur ist politisches Leben ... I

Die Organisationsfonn und die Strategie der deutschen Liberalen zur Zeit der Reichsgründung sind nur aus einem bestimmten historischen Zusammenhang heraus verständlich, der durch den Übergang von einer poetischen zu einer prosaischen Zeit gekennzeichnet war. 2 Als Ausgangspunkt des realpolitischen Umdenkens können die liberale Enttäuschung gegenüber der Revolution von 1848/49 und die Wahrnehmung der Komplexität der sozialen Verhältnisse betrachtet werden, die sich in einer neuen Art von Politik widerspiegelte. Das Bündnis des deutschen Liberalismus mit dem Staat festigte sich unter den theoretischen Voraussetzungen, die etwa Robert von Mohl, Lorenz von Stein und Johann Kaspar Bluntschli mit ihren Überlegungen zum Staatsinterventionismus schufen, der die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft mildem und aufheben sollte. Die Debatte Kathedersozialismus versus Manchester-Liberalismus, die in den 1870er Jahren stattfand, stellte ein weiteres wichtiges Moment in der Entwicklung des Liberalismus dar, der sich mit der Problematik der sozialen Frage konfrontiert sah.

Johann K. Bluntschli, Politik, S. 120. Benedetto Croce war derjenige, der einer durch religiösen und ethischen Schwung gekennzeichneten Zeit eine "prosaische Zeit" gegenüberstellte (Benedetto Croce, S. 278). I

2

I. Staat und Gesellschaft in der liberalen Staatslehre

23

I. Staat und Gesellschaft in der liberalen Staatslehre:

Der liberale Weg zur Reform

1. Der Pragmatismus in der deutschen Staatslehre an den Beispielen Robert von Mohl, Lorenz von Stein und Johann Kaspar Bluntschli Auch wenn Immanuel Kant den Ausgangspunkt für die Konzeption des Rechtsstaats darstellte, die Robert von Mohl l vertrat, betrachtete letzterer dessen Werk nicht unkritisch. 4 So sah er in der "offenbar allzu engen Zweckbestimmung des Staates, bei Übersehung aller naturwüchsigen Organisation im Volke und der allgemeinen menschlichen Nothwendigkeit des Staates" einen Hauptmangel der Kantschen Position. Auf der anderen Seite zollte er Kants Staatslehre aber starken Beifall, nicht zuletzt wegen ihrer "Übereinstimmung mit der modemen, negativen Freiheitsverfassung. Die selbstsüchtige Vereinzelung des Individuums fand hier ihre volle Rechtfertigung."s Der Staat muss nach Mohl also nicht nur die Freiheiten der Bürger schützen und sich möglichst aus dem Bereich der Bürgerrechte heraushalten, sondern auch in der Gesellschaft für das allgemeine Wohl eintreten. Auf diese Weise griff Robert von Mohl auf das Erbe des aufgeklärten Absolutismus zurück, indem er die Polizeilehre wieder rechtsstaatlich 6 interpretierte und dem Staat darin eine Ersatzrolle zuwies: Wenn der Bürger selber seine persönliche Freiheit oder sein Eigentum nicht garantieren kann, greift der Staat ein, um jene Hindernisse zu beseitigen. die die freie Entfaltung des Bürgers unterbinden.? 3 Robert von Mohl, (1799-1875), Staatsgelehrter, Politiker. Studierte Rechtswissenschaft in Heidelberg und Tübingen. 1824 Prof. der Rechte, 1827 Prof. der Staatswirtschaft an der Universität Tübingen. Rektor der Universität Tübingen (1836-44). 1848/49 gehörte er dem linken Zentrum der Frankfurter Nationalversammlung an. 1857/73 Mtg. und seit 1867 Präsident der Ersten Kammer des badischen Landtags. Nach seinem Ausscheiden aus dem Universitätsdienst 1861 war M. bis 1866 Gesandter Badens beim Deutschen Bund, 1867-71 in Bayern. 1871-74 Präsident der badischen Oberrechnungskammer, 1874/75 Mtg. des Deutschen Reichstags. Verfasser u. a. von: Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg (2 Bde .• 1829-31), Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates (3 Bde., 1832/34), Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften (3 Bde., 1855-58), Staatsrecht. Völkerrecht und Politik (3 Bde., 1860-69). Über von Mohl vgl. Erich Angermann. 4 In der "Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften" (3 Bde., 1855-58) liefert Mohl seine Interpretation der Kantschen Philosophie: .Jm übrigen baut Kant und seine Schule den Staat auf die subjektive Freiheit des Menschen, welche in ihren äußeren Handlungen durch die Notwendigkeit der Coexistenz mit anderen gleich freien Menschen beschränkt wird" (Robert von Mohl, Geschichte, Bd.l, S. 241 f.). 5 Robert von Mohl, Geschichte. Bd. 1, S. 242 f. 6 Mohl erscheint als realistischer Vermittler zwischen "der bürgerlichen Frage, die um den Begriff des Rechtsstaats sich sammelt." und "der traditionellen Staatsintervention des Polizeistaates" (Francesco De Sanctis. Societa, S. 40). 1 ,Jst es nun aber der Zweck des Rechtsstaates. die Hindernisse zu beseitigen, welche der allseitigen Entwicklung der sinnlichen Kräfte der Bürger im Wege stehen, so ist zu untersu-

24

1. Kap.: Realpolitik und Organisation im deutschen Liberalismus

Robert von Mohl kann als Vorläufer einer Thematik aufgefasst werden, die ihre Entfaltung besonders im nachmärzlichen Deutschland fand. Das Ausbleiben und das anschließende Scheitern einer bürgerlichen Revolution, wie auch die damaligen sozialen Probleme, schlugen sich in einer neuen Überlegung zum Rechtsstaatsprinzip nieder, dessen abstrakte Postulate verändert werden mussten, um praktische Relevanz zu erhalten. 8 Der Staat und sein Eingreifen wird auch in besonderer Weise zum Hauptthema in der Verwaltungslehre von Lorenz von Stein. 9 Abgesehen von der darin enthaltenen globalen Interpretation des politischen und gesellschaftlichen Systems soll das Hauptaugenmerk im folgenden auf der Verwaltung strictu sensu und auf ihrer historischen Aufgabe liegen. Die Maßstäbe von Steins System waren die soziale Frage und die Verwaltung, welche aus der Interpretation einer theoretisch erfassten, geschichtlichen Bewegung resultierten. 10 Die revolutionäre Tragweite des Begriffs Gesellschaft wird in seiner historischen Darstellung Frankreichs 11 deutlich. Stein erhob die Monarchie zur günstigsten institutionellen Macht in Europa. Zu deren Hauptaufgaben gehörte für ihn die soziale Reform,12 d. h. nicht die Beseitigung der Klassen in der Gesellschaft, sondern die Ermöglichung der Herrschaftsteilhabe auch für die Beherrschten. Es war später Gustav von Schmoller, der die Idee der sozialen Monarchie entwickelte, die wie bei Stein als Versuch einer Handhabung der sozialen Frage zu interpretieren ist. 13 Stein erkannte in der ungleichen Verteilung der sozialen und politischen Herrschaft zwischen besitzender und nichtbesitzender Klasse die soziale Frage, welche im Grunde genommen die Frage einer unterschiedlichen Verteilung der Freiheit ist. Freiheit wird daher verstanden als die Chance eines jeden, einen verantwortungsgerechten Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Steins Auffassung des Freiheitsbeehen, von welcher Seite dergleichen Hindernisse entstehen werden" (Robert von Mohl, Polizeiwissenschaft, Bd.l, S. 7f.). 8 Francesco De Sanctis, Societa, S. 38. 9 Lorenz von Stein, (1815-1890), Jurist, Politiker, Nationalökonom. Lebte zuerst in Schleswig-Holstein, Jena, Berlin, Paris und Kopenhagen. Dann wechselte er über Augsburg nach Wien. Studierte in Kiel und Jena. Seit 1855 Prof. der Nationalökonomie an der Universität Wien. Von Steins Schriften seien u. a. genannt: System der Staatswissenschaften (2 Bde., 18521856), Volkswirtschaftslehre (1878), Lehrbuch der Finanzwissenschaft (1860), Handbuch der Verwaltungslehre (8 Bde., 1865-84). Vgl. über von Stein u. a. Werner Schmidt; Dirk BlasiuslEckart Pankoke; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Stein; Roman Schnur; Carsten Quesel. 10 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Stein, und Maurizio Ricciardi, Gewalt, S.203. Zum Thema auch Maurizio Ricciardi, Linee. 11 Lorenz von Stein, Bewegungen. 12 Es wurde erwähnt, daß "Steins Begriff des ,Königtums der gesellschaftlichen Reform' als die Antwort auf die aktuelle soziale Strukturproblematik konzipiert war. Das zeigt sich am deutlichsten darin, daß Stein die Legitimation des Königstums von dessen Handlungen - konkret: von der sozialen Reformtätigkeit- her zu begründen suchte" (Eckart Pankoke, Bewegung, S. 93). 13 Gustav Schmoller, Frage.

I. Staat und Gesellschaft in der liberalen Staatslehre

25

griffes ließ ihn somit näher an die traditionelle liberale Erfahrung rücken: Sein Ausgangspunkt war nämlich immer noch das Individuum, dessen Freiheit in der Mitwirkung an der Politik liegt. Um diese Freiheit zu gewährleisten, muss der Staat in die Gesellschaft eingreifen; insofern wurde die Einschränkung sozialer Konflikte von ihm als Freiheitsentfaltung interpretiert. 14 Doch auch der Staat selbst kann in einen Konflikt mit der Freiheit geraten: Zu viel Obrigkeit steht in der Tat nicht in Einklang mit dem liberalen Prinzip der Freiheit, wobei aber beide in der westlichen politischen Erfahrung unerlässlich sind. Das Motiv der Staatsintervention zur Ermöglichung von Freiheit kehrt bei Stein immer wieder. Zentral ist die Bedeutung der Gemeinschaft, d. h. der gesellschaftlichen und staatlichen Vermittlung zwischen dem grenzenlosen Antrieb des Individuums und den tatsächlich bestehenden, begrenzten materiellen Möglichkeiten. 15 Das Anliegen, liberale Prinzipien an der Wirklichkeit zu messen und derselben anzupassen, ist auch im Werk von Johann Kaspar Bluntschli 16 zentral. Schon das Vorwort seines Charakters und Geistes der politischen Parteien, worin einzelne Artikel des Deutschen Staatswörterbuchs umgearbeitet wurden, brachte sein Konzept deutlich zum Ausdruck: "Wenn dabei im Gegensatz zu manchen andem Darstellungen dem Liberalismus die oberste Stelle zufallt, so ist sich der Verfasser wohl bewußt, daß Vieles, was gelegentlich als liberal betrachtet wird, und daß manche von denen, die sich für Liberale halten oder ausgeben, dem Ideale wenig entsprechen, das hier gezeichnet wird( ... )."17

Im Unterschied zur radikalen Kritik, die "der Lust am Niederreißen, ( ... ) der Lust zu verneinen" entspricht, strebt die liberale Kritik danach, "die Wahrheit zu erforschen. Es ist ein tief positiver Zug in ihr. Sie reinigt eher, als sie zerstört." Zentral ist für den Liberalismus die Staatsreform, für die "der Liberale alle Autoritäten [prüft] und ( ... ) jede nach ihrem Werth [schätzt]. Die echte wissenschaftliche Kritik, wie wir sie z. B. durch Lessing vertreten sehen, ist vornehmlich liberal." 18 Es lässt sich konstatieren, dass Bluntschli einen großen Beitrag für die weitere Zusammenarbeit der Liberalen mit Bismarck leistete und dies theoretisch erklärte. Pierangelo Schiera, Arte, S. 89. Maurizio Ricciardi, Gewalt, S. 215. 16 Johann Kaspar Bluntschli, (1808-1881), Schweizer. Jurist und Politiker. Studierte in Zürich, Berlin und Bonn. Seit 1831 Bezirksgerichtsschreiber und Notar in Zürich. 1836-1848 Prof. des römischen Rechts, des deutschen Zivilrechts und der Rechtsgeschichte an der Universität Zürich. Mitbegründer der liberal-konservativen Partei der Schweiz. Von B. seien genannt: Staats- und Rechtsgeschichte der Stadt und Landschaft Zürich (2Bde., 1838/39), Allgemeines Staatsrecht (1851/52), Geschichte des allgemeinen Staatsrechts und der Politik (1864). Über Bluntschli vgl. Franz von HoltzendorJf; Gerd KleinheyerlJan Schröder. 17 "Das Büchlein" - schließt Bluntschli - "gibt dem denkenden Leser den psychologischen Schlüssel in die Hand, mit welchem er selber den Einblick in die verschiedenen Auffassungen eröffnen und sich darin zurecht finden kann" (Johann K. Bluntschli, Vorwort, in: ders., Charakter). 18 Johann K. B1untschli, Charakter, S. 119. 14 15

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I. Kap.: Realpolitik und Organisation im deutschen Liberalismus

Der Liberale ist nicht mehr von der Selbsttäuschung beirrt, "daß die Welt mit ihm neu anfange", und ebenso wenig "schwärmt er für die Abstractionen sei es der Schule, sei es eines Verfassungssystems. Er weiß, daß das Leben der Menschen nicht einfach durch eine schulgerechte Anwendung allgemeiner Sätze zu bestimmen und zu beherrschen ist. ( ... ) Wenn die Reform möglich ist, so zieht er die Reform der Revolution vor und sucht diese durch jene unentbehrlich zu machen. Denn er scheut die zerstörende Kraft, welche in der Revolution losgebunden wird. Aber im Nothfall schrickt er auch vor der Revolution nicht zurück, wenn sie unvermeidlich geworden ist und ohne sie nothwendige Um- und Neugestaltung des Staats nicht zu erreichen ist."19

Für ihn wird der Pragmatismus, bzw. die Realpolitik, zu einem wesentlichen Bestandteil der liberalen Ideologie: "Mit Unrecht wirft man zuweilen den Liberalen deshalb Mangel an Muth vor, weil sie die Principien nicht als absolute fassen und daher nicht einseitig auf die Spitze treiben. Gerade der energische Mannesmuth ist eine hervorragende Eigenschaft des wahren Liberalen, der Mannesmuth, welcher nicht blindlings daher stürmt, sondern mit Bewußtsein alle Kraft und sein Dasein für die hohen Ziele einsetzt, die seine Seele bewegen ( ... ).,,20

Bluntschlis Konzept der Politik als praktische Handlung wird in seinem Aufsatz über Politik und politische Moral im achten Band des Staats wörterbuchs noch deutlicher. Für ihn liegt der große Unterschied zwischen Recht und Politik darin, dass das Erste "immer in der Vergangenheit wurzelt; es muß offenbar geworden sein, um als wirkliches Recht unter den Menschen anerkannnt zu werden", wobei Letztere "auch gegenwärtig [ist], aber sie ist nach der Zukunft hingewendet; denn dort liegen ihre Ziele, nach denen sie sich hin bewegt. "21 Das Recht kennzeichnet daher die "ruhige [ ... ] Ordnung" des Staates, wobei die Politik "der Staat in seinem bewegten Leben [ist]."22 Offensichtlich gibt Bluntschli hier einer Idee von Verfassung Ausdruck, die er "nicht in dem formalen Sinn eines geschriebenen Grundgesetzes, sondern als die Gesamtheit der Bedingungen, welche die Existenz der Gesellschaft begründen ( ... )"23 versteht, während er die Politik als "Wissenschaft der Ziele des öffentlichen Lebens und der Mittel dazu"24 erklärt. 19 Ebenda, S. 120f. 20 Ebenda, S. 121 f. 21 Johann K. Bluntschli, Politik, S.118. 22 Ebenda, S. 118. Das erklärt seine Begriffsbestimmung von Politik, mit der er den Artikel einleitet: "Die Politik als Lehre ist die Wissenschaft des Staatslebens. Die Politik als Praxis ist die Kunst des Staatslebens" (ebenda, S.117). 23 Johann K. Bluntschli, Sismondi, S.426. Es ist interessant festzustellen, dass der Artikel über Sismondi nicht nur Bluntschlis Definition der Verfassung enthält, sondern auch jene des Liberalismus, wobei keine von beiden einen selbständigen Platz im Staatswörterbuch einnimmt. Der Liberalismus wird durch die Einordnung Sismondis zwischen "dem Vertreter des modemen Radikalismus, J. J. Rousseau, und dem Repräsentanten des mittelalterlichen Patrimonialstaats, K.A. [sic.] Haller" definitorisch eingegrenzt (ebenda, S.426). 24 Johann K. Bluntschli, Politik, S. 120.

I. Staat und Gesellschaft in der liberalen Staatslehre

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Seiner Auffassung nach muss ,alle Politik real, alle Politik (. ..) ideal sein': Es handelt sich um "zwei Wahrheiten, wenn sie sich wechselseitig anerkennen; zwei geHilirliche Irrthümer, wenn sie einander schließen. ( ... ) Eine Idealpolitik, die nicht auf die Realität gestützt und mit den vorhandenen Mitteln durchführbahr ist, ist unpraktisch und kindisch; eine Realpolitik, die nicht zugleich Ideen zu verwirklichen strebt, ist unsittlich und unverständig. Die Realität ist der Boden und schafft die Mittel, die Idealität bestimmt das Ziel der Politik. ,,25

2. Der Liberalismus im Spiegel der Bismarckschen Realpolitik Die gescheiterte Revolution in Deutschland trug zu einer gewissen Umorientierung der liberalen Politik bei. Mit der Wahrnehmung der konfliktbehafteten inneren Substanz der Gesellschaft ging der Freiheitsbegriff von civil zu politisch über: Im Vergleich zum Liberalismus des Vormärz, der davon ausging, dass "die rechtliche Beschränkung der äußeren Freiheit des Einen blos in dem gleichen äußeren Freiheitsanspruch aller Anderen liegt ( ... )",26 wurde Freiheit nun zum organisatorischen Prinzip der Gesellschaft. Damit fing die lange Zeit der liberalen Selbstkritiken an, deren Gegenstand die Spannung zwischen Staat und Gesellschaft war. 27 So entstanden Werke wie die Grundsätze der Realpolitik von Ludwig August von Rochau (1853; 1869) und Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik (1866) von Hermann Ebenda, S. 126. Zum Thema vgl. Monika H. Faßbender-Ilge, besonders S. 305 ff. Carl von Rotteck, Freiheit, S. 65. Das Staatslexikon von Rotteck und We1cker galt mit seinen freiheitlichen konstitutionellen Ideen im deutschsprachigen Raum bis zum Revolutionsjahr 1848 als ,,meinungsbildend für die liberale Öffentlichkeit" (Wolfgang Hardtwig, Vormärz, S. 144). Der Stellenwert des Staatslexikons als herausragende repräsentative Quelle ist in der Forschung unumstritten. Es ist die Rede von "a bible of early liberal thought" (Theodor S. Hamerow, S.63), von "the most influential organ of politicalliberalism in pre-March Germany" (Leonard Krieger, S. 315), von einem ,Evangelium des Vormärz-Liberalismus', und die Enzyklopädie gilt als ,monumentales, aufschluß- wie einflußreiches frühliberales Werk' (vgl. Thomas Zunhammer, S. 9f.) Es enthielt Begriffe in Bezug auf Staat, Gesellschaft, Politik, Recht, Wirtschaft, Bildung und philosophische Themen, nach denen man die damalige Gesellschaft auszurichten strebte. So wurde der Begriff "Freiheit" "im rechtlichen und politischen Sinne" behandelt, es war die Rede "also namentlich von der äußeren Freiheit und insbesondere von der Freiheit im Staate ( ... )" (Carl von Rotteck, Freiheit, S. 60). Die Aufgabe des Staates "als Rechtsanstalt .. sollte die ,,Freiheit seiner Angehörigen als ein ihnen in allen Sphären der menschlichen Thätigkeit schon schlechthin als Personen zukommendes Recht anzuerkennen und zu schirmen ( ... )" sein (Carl von Rotteck, Freiheit, S.67). Über die im Staatslexikon von Rotteck und We1cker nachweisbare Kombination zwischen monarchischem Institut und repräsentativen Institutionen, die als institutioneller und verfassungsmäßiger deutscher Sonderweg interpretiert werden kann, vgl. Marco Meriggi, Verfassung. 27 So Dieter Langewiesche: "In einer Zeit der politischen Repression und des beschleunigten Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft mußten die Liberalen ihre Revolutionserfahrung verarbeiten und ihre Leitideen diesen Erfahrungen und den gewandelten Handlungsspielräumen anpassen" (Dieter Langewiesche, Liberalismus [1988], S. 83). 25

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1. Kap.: Realpolitik und Organisation im deutschen Liberalismus

Baumgarten, 28 welche die auf verfassungsrechtlichen Prinzipien beruhende Gesellschaft rechtspolitisch umdachten. Während bis dahin die Ideen und die Weltanschauung das Handeln der Liberalen geprägt hatten, traten diese nun in eine neue Phase der Beziehung zum Staat. Das pragmatische Handeln wurde zum probaten Mittel für die Politik. 29 Als Manifest liberalen realpolitischen Denkens galten Rochaus Grundsätze der Realpolitik, durch die der Verfa.sser im Erfahrungshorizont der nachrevolutionären Zeit seine Hoffnungen und Einsichten zu formulieren versuchte. Schrieb Friedrich Dahlmann noch 1835 30 dem Mittelstand die politische Führung zu, weil dieser die Fähigkeit besitze, das ganze Volk zu vertreten, erkannte Rochau inzwischen das integrative Potenzial des Staates an: Die Staats kraft bestand für ihn "lediglich aus der Summe der gesellschaftlichen Kräfte, welche der Staat sich einverleibt hat. ,,31 Offenkundig beruhte diese Wandlung auf der Wahrnehmung einer konfliktären Lage der Gesellschaft, die die Ideen und die Weltanschauung der Liberalen stark relativieren sollte. An die Stelle der Doktrin trat das Naturgesetz der Macht als wichtiges Element der Herrschaft: "Herrschen heißt Macht üben, und Macht üben kann nur der, welcher Macht besitzt. (... )."32 Was in der Politik zählt, ist die Wirklichkeit: Es waren nicht Ideen, sondern allein Kräfte, die Deutschland einigen konnten. Es ist demnach nicht einfach die Idee, sondern die Macht der Idee, d. h. ihre Überzeugungskraft, ihre Autorität sowie ihr Maß an Legitimation, und damit das Maß an Anerkennung von unten, die die Herrschaft beanspruchen kann. Die ,Macht der Ideen' ist für Rochau durch die "Verbreitung" derselben gegeben: "Eine vereinzelte Meinung, eine vereinzelte Intelligenz, ein vereinzelter Reichtum bedeutet im Staat wenig oder gar nichts; um politisch zu gelten, muß die Meinung zur öffentlichen, die Intelligenz zum Gemeingut, der Wohlstand wenigstens in einer Klasse heimisch werden."33 Darin liegt die Modernität von Rochaus Gedanken: Gerade in einer Zeit 28 Nach der Niederlage Österreichs in der Schlacht von Königgraetz begriffen die Liberalen die Notwendigkeit der Realpolitik, die in der Anerkennung der bis damals bekämpften Regierung Bismarcks bestand. Ausgehend davon, dass siegen "in der Politik( ... ) zur Herrschaft kommen" heißt (Hermann Baumgarten, Liberalismus, S. 6), musste der Liberalismus regierungsfähig werden. Die Anerkennung der Bismarckschen Politik wurde von manchen als "Kapitulation des deutschen Bürgertums" interpretiert, während andere dagegen einen Triumph des Staatsbewusstseins über Doktrinarismus, kleinlichen Partikularismus und engstirnige Sonderinteressen sahen (Adolf M. Birke, Einleitung, in: Hermann Baumgarten, Liberalismus, S. 7). 29 Die liberale Neigung, rechtsstaatliche Prinzipien der Realität anzupassen, wird von Teilen der Geschichtsschreibung nach wie vor kritisiert. Einen neuen Beitrag in diesem Sinne leistet Anna G. Manca, Sfida, die den neuen pragmatischen Kurs der Liberalen als Entfernung vom Verfassungsinhalt interpretiert. 30 Friedrich C. Dahlmann. 31 Ludwig von Rochau, S. 27. V gl. dazu Sandro M ezzadra, Einleitung. 32 Ludwig von Rochau, S. 25 f. 33 Ebenda, S.45.

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schnellerer Differenzierung der Gesellschaft schrieb er der gesellschaftlichen Organisation - eben der Klasse - die Fähigkeit zum Machtgewinn und zur Herrschaft zu. "Wachsender Wohlstand, aufgeklärte öffentliche Meinung und die Verfolgung rational definierter Interessen - sie stellen die Waffen des Bürgertums dar."34 Für Rochau war die Verfassung des Staates durch die gesellschaftlichen Kräftekonstellationen determiniert, womit er die berühmte Formulierung Ferdinand Lassalles vorwegnahm, nach der die wirkliche Verfassung eines Landes nur in den reellen tatsächlichen Machtverhältnissen existiert. 35 Aus den vorhandenen Kräftekonstellationen leitete Rochau die Konsequenz ab, dass dem aufsteigenden Bürgertum die Mitbeteiligung an der Staatsrnacht zustünde, sobald es die machtpolitischen Maximen rezipierte und ihnen gemäß handelte. Im Vergleich zu den Überlegungen im Vormärz entwickelte bzw. verstärkte sich nun eine andere Idee des Staates: Während zuvor der Mittelstand mit dem Staat gleichgesetzt worden war, wobei das Bürgertum eine im Grunde genommen nicht konfliktbelastete Gesellschaft repräsentiert hatte, gewann der Staat nun eine Daseinsform, die unabhängig vom staatlichen Bewusstsein seiner Bürger war. Rochau zufolge hing die Stärke des Staates davon ab, dass "er vor allen Dingen die Einzelkräfte seiner Angehörigen zu pflegen und zu fördern, demnächst aber auch sich dieselben anzueignen wissen [muss]."36 Eine ähnliche Entwicklung fand in der damaligen deutschen Rechtswissenschaft statt,37 die zur gleichen Zeit die These der rechtlichen Staatspersönlichkeit entwickelte.

3. Der Verein für Sozialpolitik und die Liberalen Aus dem Kontext der realpolitischen Zeit entstand im Jahre 1872 der Verein für Sozialpolitik 38 , der bedeutende Auswirkungen auf die Entwicklungsgeschichte des deutschen Liberalismus haben sollte. Der Verein für Sozialpolitik war ein vom akademischen Bürgertum getragenes Instrument der bürgerlichen Sozialreform, dem die führenden Vertreter der jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie, die sogenannten Kathedersozialisten, seine charakteristische Prägung verliehen. Zwei Zielsetzungen der Vereinsarbeiten standen im Vordergrund: die praktische Arbeit, die vor allem auf eine Verbesserung der Lage der Arbeiter hinwirken sollte, und die wissenschaftliche Arbeit, in der es durch empirische Untersuchungen Kenntnisse über die volkswirtschaftliche und soziale Welt zu sammeln galt. 34

Hans-Ulrich Wehler, Einleitung, in: Ludwig von Rochau, S. 11 f.

35 Wie später Ferdinand Lassalle, nach dem "die Verfassung eines Landes ( ... ) die in einem

Lande bestehenden tatsächlichen Machtverhältnisse" (Ferdinand Lassalle, S.70) ausmache, schrieb Rochau dem Begriff eine analoge Bedeutung zu. 36 Ludwig von Rochau, S. 27. 37 Vgl. Maurizio Fioravanti, Giuristi. 38 V gl. u. a. Adolf Held, Kongress; Hans Gehrig; Franz Boese; Marie L. Plessen.

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1. Kap.: Realpolitik und Organisation im deutschen Liberalismus

Waren für die Gründung des Deutschen Reiches besonders die Juristen und die Historiker dem "Ruf der Stunde"39 gefolgt und parlamentarisch und publizistisch für Deutschlands Einheit und Freiheit eingetreten, so erhielten "den sachlichen und geistigen Wandlungen der Zeit gemäß" nach 1870 "die Kenner des sozialen und wirtschaftlichen Lebens" das Wort. 40 ,,( ••• ) Wie von 1815 bis 1870" - so auch OUo Hintze im Jahre 1897 - "die Aufgabe des politischen Neubaus im konstitutionellen und nationalen Sinn die besten Köpfe der Nation beschäftigte, so wenden sich heute die fähigsten Köpfe der großen Frage zu, die seit der Begründung des Reiches im Vordergrund unseres öffentlichen Lebens steht, der Frage einer sozialen Reform. Und das wird wesentlich noch lange so bleiben."4! Der Verein verstand sich als Gegenorganisation sowohl zur marxistischen Sozialdemokratie als auch zum Manchester-Liberalismus. Aus unterschiedlichen parteipolitischen Strömungen zusammengesetzt waren die Mitglieder des Vereins sich in einem Punkt einig: Es galt, die positive (systemerhaltende) Sozialreform durchzuführen, die die Gefahr einer sozialen Revolution einschränken sollte. 42 Auf diese Weise hing die Legitimation des Staates nicht so sehr von seiner Verfassung ab als vielmehr von der soziale Leistungen gewährenden Verwaltung. Die inhaltliche Dimension des Politischen war durch das Soziale bestimmt. Die Lösung der sozialen Frage konnte laut Schmoller durch das Prinzip der ,Nichtintervention des Staates' nicht geleistet werden; auch war das ,Dogma, den Egoismus des Einzelnen walten zu lassen' nicht dafür geeignet. 43 Wenn es in der Zeit der Kleinstaaterei und des preußischen Verfassungskonflikts verständlich war, so Schmoller, ,daß man jede staatliche Tätigkeit mit Mißtrauen ansah, jede Reform lieber den Einzelnen und Vereinen als der Gesetzgebung überlassen wollte', 44 sollte die Wahrnehmung einer konfliktbehafteten Gesellschaft dennoch zum Umdenken der Staatsrolle führen. 39 Friedrich Meinecke, Generationen. ,,Als sich die Arbeit am deutschen Staatsbau von der nationalen auf die soziale Einigung, das wichtigste ungelöste Problem, verlegte, ging die Führerschaft in der deutschen Professorenschaft folgerichtig von den Historikern auf die Nationalökonomen über" (Dieter Lindenlaub, S. 15). 40 Friedrich Meinecke, Generationen, S. 270. 41 Otto Hintze, Entwicklungstheorie, S. 768. 42 ,( ... ) Der tiefe Zwiespalt' - so Schmoller in seiner Eröffnungsrede in Eisenach 1872-, ,der durch unsere gesellschaftlichen Zustände geht, der Kampf, welcher heute Unternehmer und Arbeiter, besitzende und nichtbesitzende Klassen trennt, die mögliche Gefahr einer uns zwar bis jetzt nur von feme, aber doch deutlich genug drohenden sozialen Revolution, haben seit einer Reihe von Jahren auch in weiteren Kreisen Zweifel erregt, ob die auf dem Markt des Tages unbedingt herrschenden volkswirtschaftlichen Doktrinen, die in dem volkswirtschaftlichen Kongreß ihren Ausdruck fanden, immer die Herrschaft behalten werden, ob mit Einführung der Gewerbefreiheit, mit der Beseitigung der ganzen veralteten mittelalterlichen Gewerbegesetzgebung in der Tat die vollkommenen wirtschaftlichen Zustände eintreten werden, welche die Heißsporne jener Richtung prophezeiten (... )' (Zitiert in: Franz Boese, S. 6). 43 Ebenda, S. 6. 44 Ebenda, S.6f.

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In diesem Zusammenhang scheint es interessant, die Debatte über den Verein im liberalen politischen Lager durchzugehen, um dessen Einstellung der sozialen Frage gegenüber zu verstehen. Im übrigen kann die Beleuchtung dieser Auseinandersetzung zu einem Verständnis darüber beitragen, ob der spätere Bedeutungsverlust und Niedergang des Liberalismus u. a. auf eine unzulängliche Interpretation und Lösung der sozialen Frage zurückzuführen ist. Die Gründer des Vereins ordneten sich politisch den Mittelparteien, vorwiegend den Nationalliberalen, zu (wie Brentano, Nasse, Schmoller, Gneist, Held), aber sie versuchten auch, alle Parteien zur Lösung der sozialen Frage heranzuziehen. Die Absicht von Gustav von Schmoller war es eben, einen Verein zu gründen, der im Zeichen einer ,Sammlungspolitik' zwischen "der Intelligentia und, warum nicht?, den Ideologien"45 entstehen sollte. Im August 1872 bat Schmoller Eduard Lasker, die Einladung zur Eisenacher Besprechung über die soziale Frage vom Oktober 1872 zu unterzeichen. Die Initiative, die von einer Anzahl "antimanchesterlicher Nationalökonorne, Politiker usw." ins Leben gerufen worden war, verfolgte die Absicht, "speziell über die Gewerkvereine, die Arbeitseinstellungen, die Fabrikgesetzgebung und die Wohnungsfrage" zu sprechen. 46 Seit 1864 war die Arbeiterfrage, wie sie damals nämlich Gustav Schmoller in den Preußischen Jahrbüchern besprochen hatte, nicht mehr wirklich berücksichtigt worden. 47 Die Reaktion der Manchester-Liberalen aber war negativ. So drückte am 19. August 1872 Heinrich Bernhard Oppenheim gegenüber Eduard Lasker die Hoffnung aus, dass er nicht an der Eisenacher Besprechung teilnehmen würde. Oppenheim, der sich mit dem bevorstehenden liberalen Kongress deutscher Volkswirte beschäfInnocenzo Cervelli, Ipotesi, S. 88 f. Gustav Schmoller an Eduard Lasker. Halle, 11.08.1872, in: Paul Wentzcke, S. 57 f. Schmoller betonte darüber hinaus die Offenheit des Kongresses gegenüber allen Parteien: "Die Besprechung soll keine öffentliche sein, aber es sollen dazu die politischen Partei führer, angesehene Industrielle und Redakteure aller Farben eingeladen werden, mit dem Rechte, daß jeder Eingeladene weitere Personen einladen darf. ( ... ) Wenn Sie geneigt wären, eine Einladung derart, die sich an alle politischen Parteien ganz gleichmäßig wenden soll, mit zu unterzeichnen, so würden natürlich auch Ihre Wünsche für weitere einzuladene Personen für uns maßgebend sein" (ebenda, S.57). 47 So Lujo Brentano, S. 586. Dieser Aufsatz, der im Mai 1872, also vor der Eisenacher Versammlung, veröffentlicht wurde, widmete sich dem Verhältnis zwischen Gewerkvereinen und Staat. Brentano definierte die Gewerkvereine als "die organisierte Selbsthülfe, welche überall ergänzend eingreift, wo die staatliche Fürsorge für die Arbeiter aufhört, verweigert wird oder gar nicht genügt" (ebenda, S.599). Für ihn sollte der Staat sich um die Organisation des Verhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitern kümmern, "ähnlich der in den englischen Arbeitskammern", sollten die Gewerkvereine versuchen, "die Organisation der Arbeiter in denselben zu fördern, wo sie bestehen, sie zu schaffen, wo sie nicht bestehen." Man "erkennt sie als die gesetzliche Organisation der Arbeiter an, unterwirft sie aber selbstverständlich für diese Anerkennung seiner Regelung nach den oben erörterten Gesichtspunkten." Diese Politik wäre "am meisten in Übereinstimmung mit dem Charakter, der Geschichte und dem politischen Leben in Deutschland" (ebenda, S. 600). 45

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tigte, hielt eine "Reinigung von Prinzipien" für notwendig: "Ich hoffe, daß Du - ebensowenig als Bamberger - Dich dazu einfangen läßt. Dergleichen kann man den Sozialisten Li La Miquel überlassen ( ... )"; dabei war ihm klar, dass Liberale wie Gneist teilnehmen würden. 48 Die Antwort Laskers zeigt, wie offen er gegenüber den damaligen Bewegungen war und dass ein breiteres Verständnis von Liberalismus nicht nur auf eine wissenschaftliche Ebene beschränkt blieb. Zwar hatte Lasker abgelehnt, unter den Einladenden der Eisenacher Versammlung zu erscheinen; er wollte aber an ihr teilnehmen, um zu wissen, "wohin die Strömung geht", und auch "wenn Unklarheiten hervortreten, diesen entschieden entgegenwirken. Hoffentlich billigst Du den Schritt (... )."49 Seinerseits hielt Oppenheim Laskers Annahme der Eisenacher Einladung "für einen großen Fehler" und leugnete ganz offensichtlich das Bestehen einer sozialen Frage: Die Kathedersozialisten "wollen auf einer bestimmten Grundlage (Gewerbevereine! ! [eigentlich: Gewerkvereine]) Schiedsgerichte usw. beraten, die Du als feststehende Voraussetzungen nicht akzeptieren kannst. Außerdem schließen sie unter dem Vorwande des Manchestertums fast alle wirklich bedeutenden Nationalökonomen aus. Prince Smith, Michaelis, Soetbeer, selbst Braun wissen mehr von den Dingen, als die Wagner und Konsorten, Schmoller einbegriffen. Ich möchte selbst nicht ohne weiteres zugeben, daß es eine ,soziale Frage', und gar auch eine ,Wohnungsfrage' gibt (...)."50

Noch schärfer war die Reaktion Bambergers, der energisch die Positionen der Kathedersozialisten ablehnte. "Seitdem ich" - schrieb Bamberger an Lasker - "die beiden Bände des Brentanoschen Buchs [Die Arbeitergilden der Gegenwart, Leipzig 1871-72] mit Aufmerksamkeit studiert, hasse ich die Sorte wirklich. Es ist die pure Klassenhaßpropaganda, scheinbar mit großer Sachkenntnis ausgerüstet und tatsächlich abgeschmackt unreif. (...) Ich bin fest überzeugt, daß mit den Angriffen auf das Kapital und die Freiheit der Bewegung in Deutschland ein - glücklicherweise vergeblicher - Versuch gemacht wird, die Besserung der allgemeinen Lage und daher auch der arbeitenden Klassen zu durchkreuzen (... ).,,51

Diese Äußerungen trugen vielleicht dazu bei, dass Lasker letztendlich an der Eisenacher Besprechung nicht teilnahm, wobei seine Zurückhaltung anders als die agressive Einstellung von (manchesterlichen) Liberalen wie Oppenheim und Bam48 Heinrich B. Oppenheim an Eduard Lasker. Berlin, 19.08.1872, in: Paul Wentzcke, S. 58. Vgl. dazu Volker Hentschel, besonders S. 201 ff. 49 Eduard Lasker an Heinrich B. Oppenheim. Pontresina, 24.08.1872, in: Paul Wentzcke, S.58. 50 Heinrich B. Oppenheim an Eduard Lasker. Danzig, 29.08.1872, in: Paul Wentzcke, S. 59. 51 Ludwig Bamberger an Eduard Lasker. Baden-Baden, 26.09.1872, in: Paul Wentzcke, S.60.

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berger zu verstehen ist. Für ihn, wie auch für Rudolf von Gneist, den ersten Vorsitzenden des Vereins, Schmoller, Erwin Nasse und Adolf Held war eine soziale Frage vorhanden, die jedoch einer Lösung bedurfte, durch die das System bewahrt werden konnte. 52 Sich an der Alternative der sozialen Monarchie von Lorenz von Stein orientierend und sie neu bearbeitend, stellte Schmoller im Jahre 1874 in den Preußischen Jahrbüchern 53 die Idee eines Reforrnstaates vor, die die Gefahr einer sozialen Revolution abzuwehren suchte. 54 Schmoller brachte "den historischen Hintergrund der socialen Frage" und den Kontext "der großen historischen Entwicklung der socialen Verhältnisse" in Zusammenhang mit der Geschichte des preußischen Staates, indem er dem Reforrnstaat eine geschichtliche Tradition schuf. 55 Nur durch die Versöhnung der Monarchie und der Bürokratie mit dem liberalen Gedanken konnte die rote Gefahr eingeschränkt werden. Die Sektoren, die die soziale Gesetzgebung regeln sollte, waren für Schmoller "Coalitionen, Gewerkvereine, Arbeiterkassen, Arbeitseinstellung, Kontraktbruch, Fabrikordnungen, Fabrikinspektoren, Frauen- und Kinderarbeit, Lehrlingswesen, Arbeitszeit, Gesundheitsvorrichtungen in Fabriken und Bergwerken, Haftpflicht der Unternehmer bei Unglücksfällen, gewerbliche Schiedsgerichte, Auswanderung (... )."56 32 Der Debatte zwischen Kathedersozialisten und Manchestertum wurde 1872 in einem Artikel in den Preußischen Jahrbüchern von Adolf Held nachgegangen (Adolf Held, Prinzipienstreit). Laut Held war die Auffassung von der Stellung des Staates, seinen Rechten und Pflichten sehr verschieden, wobei aber "das Postulat der Staatshilfe bei gewissen wirtschaftlichen oder socialen Bewegungen ( ... ) nicht das Entscheidende [ist], was die beiden Schulen trennt. Ein wirtschaftliches Leben ganz ohne Staatshilfe kann sich Niemand denken, die exc1usivsten Anhänger der Selbsthilfe verlangen doch Schutz des Privatrechts durch den Staat" (ebenda, S. 189). Den "Hauptpunkt" des Gegensatzes zwischen den Schulen sah Held nicht bei der Staatshilfe, sondern in der Tatsache, "daß die eine Richtung niemals eine principielle Opposition gegen den Individualismus des vorigen Jahrhunderts gemacht hat, während die andern diesen für einseitig erklärt. Dieser Individualismus war ein geschlossenes System, das allerdings Niemand mehr heute unbedingt acceptirt: aber ein Theil der Nationalökonomen hat die Grundlagen dieses Systems äußerlich nie verlassen, der andere sich entschieden davon losgesagt" (ebenda, S.190f.). 33 Gustav Schmoller, Frage. 34 Klar war in dieser Hinsicht Schmollers Beschreibung des Klassenkampfs und seiner Folgen: ,,(... ) Der sociale Kampf ist da; bald dauert er langsam sich hinziehend Jahrzehnte, bald lodert er rasch zur blutigen socialen Revolution empor. In der Regel unterliegen die untern Klassen zunächst; aber nicht zum Segen der Besitzenden und nicht zum Vortheil einer ruhigen normalen Entwicklung. Lange Zerrüttung folgt; die politische Freiheit wird begraben; die Diktatur wird nothwendig und sie nimmt nach Jahrzehnten, oft erst nach Jahrhunderten die Forderungen der leitenden Volksklassen wieder auf, die man seiner Zeit den Empörern als sie sie mit den Waffen in der Hand gefordert, abgeschlagen. Ein neues Wirtschaftsrecht, ein neues Arbeitsrecht, eine neue Eigenthums- und geläuterte Socialordnung erblüht endlich aus den Ruinen( ... )" (ebenda, S.327). 35 Ebenda, S. 330. 56 Ebenda, S. 339.

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Fand Brentano das Schmollersche Bild der Bürokratie, das sehr wahrscheinlich von der Erfahrung Friedrich Wilhe1ms I. beeinflusst war,57 übertrieben, so ließ er die Differenzen mit Schmoller beiseite, um diesen und die soziale Reform gegen neue Angriffe, unter denen auch jene von Heinrich von Treitschke,58 zu schützen. Jedoch blieben die Meinungsgegensätze zwischen Schmoller und Brentano besonders im Hinblick auf das Ausmaß des staatlichen Eingriffs in die Gesellschaft bestehen: ,,( ... ) Sie wissen," - so Brentano an Lasker im November 1875 - "daß ich, wenn ich auch meist ökonomisch mit Schmoller übereinstimmte, doch dem Staate nicht so viel zumute wie er; daß ich politisch überhaupt mehr links stehe wie meine Freunde, mehr zur linken Seite der Nationalliberalen Partei gehöre, während meine Freunde entweder freikonservativ oder rechts nationalliberal sind. ,,59

Um diese Behauptung zu verstehen, muss darauf hingewiesen werden, dass Oppenheim, Bamberger, Eras, Meyer und Andere, die gegen die Kathedersozialisten waren, aus dem linken Flügel der Nationalliberalen Partei stammten und den Vorstoß der Kathedersozialisten als rechtsgerichteten Versuch sahen, ein antiliberales Bündnis zwischen Arbeitern und Konservativen herbeizuführen. 60 57 So Lujo Brentano in einem Brief an Gustav Schmoller vom 16. Januar 1875, zitiert in: James J. Sheehan, Career, S. 81. Friedrich Wilhelm 1., der sogenannte Soldatenkönig, war zwischen 1700 und 1740 der größte Reformator der preussischen Monarchie. Er setzte einen "Militär- und Beamtenstaat" durch, und seine Regierung markierte "die Vollendung des Absolutismus" (Ouo Hintze, Hohenzollern, S. 280). "Nicht nur die politische Bedeutung" - so Hintze - "sondern auch die administrative Wirksamkeit der Stände hat unter Friedrich Wilhelm I. aufgehört; über den alten ständischen Einrichtungen erhob sich, sich erdrückend und überragend, der feste und solide Bau des monarchischen Beamtenstaats" (Ouo Hintze, Hohenzollern, S.281). 58 Heinrich von Treitschke, Socialismus. Für Treitschke stellte die Staatsintervention den Weg in den Kollektivismus dar, was ihn zur Ablehnung der sozialpolitischen Alternative der Kathedersozialisten veranlasste. 59 Lujo Brentano an Eduard Lasker. Breslau, 21.11.1875, in: Paul Wentzcke, S. 138 f. Es handelte sich hierbei um Differenzen zwischen den Mitgliedern des Vereins, die hauptsächlich das Einmischen des Staates ins Wirtschaftsleben betrafen. Was dagegen die Beziehung des Nationalliberalismus zum Bismarckschen Staat angeht, spiegelte sich im Verein eine Idee von Politik wider, die hier als pragmatisch bezeichnet wird. Im ,)ahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft", hrsg. von Franz von Holtzendorff und Lujo Brentano im Jahre 1879, wurde das Buch von Constantin Frantz "Der Untergang der alten Parteien und die Parteien der Zukunft" (Berlin 1878) besprochen, worin das "Bündnis" der Liberalen mit Bismarck im Gegensatz zu Frantz bis aufs Äußerste verteidigt wurde. Laut Frantz hätten der Konservatismus wie der Liberalismus "ihre Principien auf dem Altar des Vaterlandes geopfert und das Resultat sei daher, daß sie beide eben keine Principien mehr haben, sie vegetiren nur noch fort als gebrochene Existenzen und was könne von solchen noch ausgehen? - Die Antwort auf diese kühne Frage des Verfassers gibt uns aber die Geschichte der Gegenwart, deren Werk offenbar ist: der innere Aufbau des Deutschen Reiches und an welchem sich beide Parteien als reichsfreundliche betheiligten. Principlose Parteien hätten ein solches Werk, welches natürlich noch nicht nach allen Richtungen beendet ist, schwerlich ausführen können" (A. Bulmerincq, bespr. C. Frantz, S. 250). 60 James J. Sheehan, Career, S. 63.

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Das komplexe Verhältnis des politischen Liberalismus zum Verein für Sozialpolitik spiegelte die schwierige Beziehung des Liberalismus zum Bismareksehen Staat wider. Diese Spannungen mussten zwangsläufig solche objektiven Angriffe von Liberalen wie Oppenheim und Bamberger provozieren. 61 Der Bismarcksche Staat sollte auch Differenzen innerhalb des Vereins hervorrufen, wie jene erwähnte Meinungsverschiedenheit zwischen Brentano und Schmoller im Hinblick auf die staatliche Einmischung in das Wirtschaftsleben. Trotz dieser Spannungen soll die liberale Idee der ersten Generation des Vereins für Sozialpolitik betont werden, die auch politischen Liberalen wie Lasker eigen war und nicht bloß in Manchestertum oder Kathedersozialismus ausschlagen konnte. Nach der poetischen Zeit der Prinzipien - des Rechts - kam die prosaische Zeit der Handlung - der Verwaltung -, in der die Ideologie an die wirklichen Umstände angepasst werden sollte. 62 "Das Vernünftige," - schrieb Held - "das die laissez faire et passer Theorie wollte, ist erreicht, und es ist gut, daß es erreicht ist. Aber es giebt keine Dankbarkeit gegen Doktrinen. Neue Fragen sind jetzt da, sie zu verstehen und zu lösen ist die alte Theorie unfähig."63 Die Arbeiterfrage wurde von den Kathedersozialisten, "den Schülern von Herrnann, Hoffmann und Roseher" so betrachtet, dass ein "gesellschaftlicher Gegensatz vorhanden ist, der ähnlich schon früher war, unter der Herrschaft ausgedehnter persönlicher Freiheit, bei der gesteigerten Produktion, dem gewachsenen Kapital und der Großindustrie aber eine eigenthümliche Gestalt angenommen hat. Ist das eine revolutionäre Ansicht, oder ist es nicht vielmehr einfach wahr gegenüber der Behauptung, daß wir in einem Naturzustand leben, der immer war und sein wird?"M

Sie "erkennen an," - setzte Held fort - "daß die sociale Bewegung ihre politischen Ursachen und Wirkungen hat, daß die Frage unter der Herrschaft einer bestimmten Gesetzgebung und Verwaltung geworden ist und nur durch Anlehnung an Gesetzgebung und Verwaltung gelöst werden kann."65 So habe sich die Aufgabe des Staates gewandelt, was aber nicht bedeutete, dass der Einzelne auf seine Freiheit verzichten sollte. "Die Freiheit des Einzelnen soll nicht unterdrückt, aber die Freiheit, das Gute zu wollen, vom Staate geschützt werden."66 Daraus ergab sich die Bedeutung des Staates für die Kathedersozialisten: "Der Staat ist ihnen nicht eine äuInnocenzo Cervelli, Ipotesi, S. 93. Vgl. auch farnes f. Sheehan, Career. "Mit Recht hat Brentano darauf hingewiesen, daß derjenige, welcher Schutzzölle fordert, damit noch nicht zeige, daß er kein Manchesterrnann sei, und der, welcher sie ablehne, damit noch nicht sein Manchestertum beweise" (Dieter Lindenlaub, S. 86). Diese Auffassung lautet in den Worten Brentanos wie folgt: ,Die Gesinnung ist es, die den sittlichen Wert der Handlungen bestimmt, nicht die negative oder positive Handlung, in der sich je nach den konkreten Verhältnissen diese Gesinnung betätigt' (zitiert in: ebenda, S. 86). 63 Adolf Held, Prinzipienstreit, S.209. M Ebenda, S. 209. 65 Ebenda, S. 210. 66 Ebenda, S.210. 61

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ßere Macht, die störend eingreift in das wirtschaftliche Treiben, sondern es ist die Organisation des Volkes zur Erfüllung seiner Kulturaufgaben, eine Institution so alt wie der Mensch selbst, in der Alles, was das Volk bewegt, seine Stütze und Vollendung finden muß."67 Der Staat sollte nicht mechanisch, sondern organisch eingreifen, um die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. 68 Während der 1870er Jahre wurden im Verein für Sozialpolitik sozialpolitische Fragen untersucht und wirtschaftspolitische Probleme zur Diskussion gestellt, wobei die Resolutionen über sozialpolitische Themenstellungen insgesamt der politischen liberalen Mitte zuzurechnen waren. 69 So wurde z. B. betont, dass die Arbeiter das Recht erhalten sollten, sich zu organisieren, ihre Interessen in Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber durchzusetzen oder aber auch auf staatlich organisierte Enqueten den gleichen Einfluss zu nehmen wie die Arbeitgeber. All dies ging aber nicht "über eine liberale Politik hinaus, sondern versuchte diese nur zu verwirklichen."70 In den 1870er Jahren versuchten die Liberalen, im Unterschied zu ihren vonnärzlichen Vorläufern, der sozialen Frage angemessene Lösungen zuzuweisen, wobei das nicht zu einem offenen parlamentarischen Engagement führte. 71 Die Berücksichtigung der sozialen Frage, soweit sie die politische Ebene des Liberalismus betraf, blieb vor allem auf eine theoretische Ebene beschränkt. 72 Der Verein für Sozialpolitik Ebenda, S.21O. In diesem Sinne wurde auch die Bedeutung des Gemeinwohls und der Organisation von dem Vertreter des Vereins für Sozialpolitik ganz klar definiert: "Freiheit ist nicht identisch mit willkürlicher Bewegung von Individuen, mit Anarchie und Desorganisation, die wahre Freiheit muß zur Entfaltung der individuellen Kräfte im Dienste der Gesammtheit führen" (ebenda, S.211). 69 Vgl./rmela Gorges, S. 87. 10 Ebenda, S. 87. Gorges konstatiert weiter: "Vergleicht man jedoch die inhaltlichen Resolutionen in den ersten Jahren nach der VereinsgTÜndung mit der innenpolitischen Entwicklung der zweiten Hälfte der 70er Jahre, so waren die Vorschläge des Vereins z. B. in der Coalitionsfrage der Arbeiter weitaus liberaler und fortgeschrittener als die Konzeption, die in dem folgenden Jahrzehnt von der Regierung tatsächlich verfolgt wurde" (ebenda, S.95). 11 Kurz nach der Einheit hielt Franz von Stauffenberg in München eine Wahlrede, in der er ausführlich zur sozialen Frage Stellung nahm. Laut Stauffenberg war ein genaues Programm damals noch nicht konzipierbar, weil die politischen Entwicklungen unvorhersehbar waren. Nach seiner "innigen" Überzeugung war die soziale Frage "die Frage der Zukunft, und zwar die große Frage der Zukunft, vor der vielleicht in nicht allzuferner Zeit alle politischen Fragen erblassen werden" (Helmut Steinsdorfer, Stauffenberg, S. 40). Stauffenberg trat vornehmlich für den Arbeiterschutz ein, weil er diesen für sozialpolitisch relevant hielt; ,,hierin stimmte er zum Teil mit Jörg überein, der noch Lujo Brentano beeinfiußt hatte" (ebenda, S. 40). Eine Lösung dieser Frage könne nicht ,,mit einem Schlage" erfolgen, sie werde erst nach ,Jangem mühseligen Ringen mit langjährigen Vorurteilen, mit einer tausendjährigen Entwicklung" erreicht werden (ebenda, S.67). 12 Positiver scheint dagegen die Beurteilung von Rainer Koch, laut dem der Liberalismus auf die drei großen sozialen Fragen des 19. Jahrhunderts - die Agrarfrage, die Mittelstandsfrage und die Arbeiterfrage- "eine zentrale, im ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelte und bis in unsere Gegenwart hinein vehement verteidigte Antwort" gegeben habe (Rainer Koch, S.21). 61 68

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blieb in diesem Sinne am Rande des politischen Liberalismus und spielte besonders als wissenschaftliches Forum eine erhebliche Rolle. 73 Die Vertagung der sozialen Frage auf einen späteren Zeitpunkt sollte sich für den Liberalismus als schicksalhaft erweisen, da die nationale Einheit - ein wichtiger Programmpunkt der Liberalen - bereits vollzogen worden war. 74 Diese Tatsache kann auch anhand des schwierigen Verhältnisses zum Bismarckschen System erklärt werden, das sich in der späteren Opposition der Liberalen gegenüber der Sozialpolitik des Kanzlers äußerte. Es handelte sich hierbei um eine strategische Ablehnung der cäsaristischen Herrschaft Bismarcks, also eher um eine formelle denn substantielle Ablehnung der sozialen Gesetzgebung. 75 4. Die Debatte über die soziale Frage und ihre Auswirkungen in Italien Um zu verstehen, inwiefern die Debatte über die soziale Frage in Deutschland wichtig und erfolgreich war, sollte ihrer Auswirkung auf andere Nationen nachgegangen werden. Die Entscheidung, Italien als Vergleichskontext heranzuziehen, ist auf den methodischen Vorbehalt zurückzuführen, dass ein Vergleich nur dann Sinn macht, wenn er zwischen zwei vergleichbaren Kontexten stattfindet. Wie in den Schlussbetrachtungen näher dargestellt wird, erscheint ein Abgleich mit Italien als 73 So auch Donald G. Rohr: "The founders of the new Verein included some active politicians as weil as a number of distinguished academicians who were known as ,Socialist of the Chair', or Kathedersozialisten. From the beginning, however, the Verein, even in its internal dissention, resembled a learned society rather than a movement for social reform. Comparable in many respects to the Fabian Society in Britain, it made great contributions to the study of social problems and to increasing public awareness of these problems; but it could not compete for attention with the Social Democrats( ...)" (Donald G. Rohr, S.165f.). 74 In seiner Biographie über Johannes von Miquel spricht Hans Herzfeld über eine ungenügende Auseinandersetzung der Liberalen mit der sozialen Frage. Hinsichtlich einer Rede von Miquel von Mitte der 1860er Jahre betont Herzfeld dessen Eintreten für "die Freizügigkeit des Wettbewerbes und Anpassung an neue Wirtschaftsmethoden", die Handwerker wie auch Arbeiter fordern müssten. "Man kann diese Haltung gewiß als Zugehörigkeit zu der typischen Beschränkung des deutschen Liberalismus auf höchstens kleinbürgerliche Mittelstandspolitik im engeren Sinne deuten, die die ganze schwere Furchtbarkeit des sozialen Problems verkannt und es versäumt habe, am entscheidenden Punkt, der Arbeiterfrage, den für das Jahrhundert schicksalsvollen Zusammenhang der sozialen und politischen Probleme zu erfassen" (Hans Herzfeld, S.32f.). 75 Diese zweiseitige Beziehung des Liberalismus zum Staat schloss scharfe Kritiken seitens der Öffentlichkeit nicht aus, welche die Liberalen als Verräter ihrer Prinzipien betrachtete. "Die Liberalen" - schrieb 1882 die Süddeutsche Post - ,,müßten nun zwar, um konsequent zu bleiben, dem laisser faire, laisser passer huldigen, allein unsere deutschen ,Liberalen' sind bekanntlich nichts weniger als ,unfruchtbare' Ideologen und Prinzipienreiter, sie sind ,Realpolitiker' und es unterliegt keinem Zweifel, daß sie ebenso mit dem Militarismus und der Ausnahmegesetzgebung, so auch mit dem immer deutlicher am politischen Horizonte sich abzeichnenden ,Staatssozialismus' den Komprorniß suchen und finden werden ( ... )" (Süddeutsche Post, Nr. 192, v. 6.12.82, in: LHA, Pr. Br. Rep.30, Berlin C, Polizeipräsidium, Tit. 94, Nr. 14070, BI. 208).

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angemessen und erfolgversprechend, insofern in bei den Ländern liberale Ideen die wirtschaftliche Entwicklung wie auch die Verfassung beeinflussten. Im Gegensatz dazu beschritten sie jedoch in Bezug auf die Nationsbildung unterschiedliche Wege. In diesem Zusammenhang hat der Vergleich die Funktion, die Besonderheiten der Geschichte Deutschlands zu beleuchten. Die deutsche Debatte über die soziale Frage und die Sozialgesetzgebung wirkte sich auf Italien aus, wo sich zwei verschiedene Pole gegenüberstanden. In seinem Aufsatz La scuola e la quistione sociale in Italia (erschienen in Nuova Antologia am 1. November 1872) besprach Pasquale Villari die deutsche soziale Frage,16 um damit auf die Existenz ähnlicher Probleme in Italien hinzuweisen. Zurecht betonte ViIlari den Moderatismus der Kathedersozialisten, d. h. ihre Distanzierung von Kommunismus und Sozialismus,77 wobei für ihn die Einmischung des Staates ins Wirtschaftsleben zur Lösung der sozialen Frage auch mit dem Liberalismus verembar war. So bewunderte er die Heimat des Liberalismus, Engiand, für den Versuch, die Bedürfnisse der Arbeiter und Bauern durch staatliche Reformen zu berücksichtigen und gleichzeitig die Selbstbestimmung des Menschen durch die freie Initiative nicht zu gefahrden. "In dem Land" - so Villari - "des self-government, des freien Wettbewerbs, der individuellen Initiative, schlägt dessen erster Ökonom [lohn Stuart Mill] vor, daß der Staat einen großen Teil des englischen Bodens erwirbt, um die Kleinlandwirtschaft und den Kleinbesitz zu fördern und daher die Lage des Bauerntums und der Arbeiter zu verbessern. Die Mittel, die das Programm einführt, würden in Italien als sozialistisch bezeichnet. ,,78

Besonderem Interesse muss hier der Feststellung gelten, dass die Debatte über die soziale Frage in Deutschland, die eng mit derjenigen zwischen Kathedersozialismus und Manchestertum zusammenhing, in Italien unmittelbare Folgen nicht so sehr für die Berücksichtigung der sozialen Frage selbst hatte, sondern dort eher eine allgemeine theoretische und politische Diskussion über die Begriffe Liberalismus und Freihandel auslöste. Am Anfang handelte es sich aber vor allem um eine wissenschaftliche Diskussion zwischen unterschiedlichen Volkswirtschaftsschulen, wie 76 Er wies explizit auf einen Artikel von Ludwig Bamberger, Zeitströmungen in der Wirtschaftslehre (Oktober 1872), hin, worin die soziale Frage in Deutschland verkannt wurde. 77 Lobte Villari die Gründung der italienischen Nation, die ihm als Vorbild für die Gründung der deutschen Nation galt - "accanto a noi, sospinta dal nostro esempio, abbiamo veduto costituirsi la Germania" -, so betonte er doch auch die Lebendigkeit Deutschlands, das trotz seiner religiösen und sozialen Fragen weitreichende Reformen vollzöge. Im Vergleich zum jungen Deutschland erschien ihm Italien schon als alt und hoffnungslos, wie er mit selbstkritischen Worten beklagte: ,,( ... ) la Germania piena di nuova giovanezza e di speranza, agitata dalla quistione religiosa e dalla quistione sociale, s' e data ad una serie infinita di riforme che procedono rapide e si moltiplicano per via. In presenza di questi fatti noi sembriamo degli uomini esauriti, che cercano invano stimolo alla vita. E vien fatto di domandare a noi stessi: perchemai la vecchiezza ci assale, prima che la gioventu incominci?" (Pasquale Villari, S.477 f.). 78 Ebenda, S. 507. Villari wies auf eine Vereinigung hin, die in England entstanden war und lohn Stuart Mill zum Vorsitzenden hatte. Ihr Programm lautete: Programm of the Land Tenure Association, with an explanatory statement, by lohn S. Mill, London 1871.

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sie sich auch in Belgien, Frankreich, England und Deutschland entspann; erst später bekam die Debatte eine eher politische Bedeutung. Die erste echte Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlichen wirtschaftlichen Richtungen in Italien fand in der Zeitschrift Nuova Antologia statt. Im August 1874 veröffentlichte dort Francesco Ferrara79 einen sehr kritischen Aufsatz gegen die kathedersozialistische Schule, auf den Luigi Luzzatti im folgenden Heft antwortete. 80 Indem Ferrara Schriften von Vito Cusumano und Fedele Lampertico sehr ironisch kritisierte, kennzeichnete er die Kritik am Freihandel als den bewussten Versuch, die Volkswirtschaft zu vernichten. Er kritisierte auch die Tendenz der Deutschen, Schulen zu gründen, die seiner Ansicht nach die echte Wirtschaftswissenschaft auflösten, die er mit jener von Smith, Bastiat, Say und ihren Schülern identifizierte. Um sich den Eingriffen des Staates entgegensetzen zu können, musste aber auch zwangsläufig die soziale Frage negiert werden - ein Ansatz, auf den sich schon Bamberger bezogen hatte. Nur durch die Verwässerung des Klassenkonflikts, der Spannungen zwischen Kapital und Arbeit, des mangelnden Ausgleichs zwischen Produktion und Verteilung konnte die Idee eines Interventionsstaats abgelehnt werden. Es wurden aber von Ferrara nicht nur die deutschen Realisten kritisiert, die er als weitere "Babeuf, Saint-Simon, Blanc, Proudhon"81 charakterisierte, sondern vor allem die Rezeption des deutschen Kathedersozialismus durch die Lombardo-Venetianische Schule angegriffen, 82 die in der Regierung der Historischen Rechten vertreten war. Zu den Vertretern der Lombardo-Venetianische Schule rechnete Ferrara diejenigen Wirtschaftswissenschaftler, die vor allem aus den Universitäten von Pavia und Padua kamen (ehemaliges Königreich Lombardo-Venetien) und die seiner Meinung nach die Theorien des deutschen Kathedersozialismus in Italien einzuführen suchten. Deutschland und die dort zwischen Manchestertum und Kathedersozialismus geführte Debatte boten auch ein Vorbild für Luigi Luzzatti, der 1874 auf den Seiten der Nuova Antologia seinen Liberalismusbegriff verdeutlichte. 83 Sich auf die Lehre von Adam Smith berufend und sie uminterpretierend, versuchte Luzzatti, die soziale Frage durch eine Neudefinition der Rolle des Staates zu lösen. "Der historische Mensch" - erklärte er - "kann nicht nur von einer einzigen Rechts-, Wirtschaftsoder Morallehre geleitet werden. Er soll diese verschiedenen Lehren benutzen, indem er sie, wie es Darwin sagen würde, der besonderen Umgebung anpassen soll."84 Smith sowie Rousseau, Montesquieu und Kant seien als Produkte ihrer Zeit zu verstehen: Smith und seine Schule haben nämlich von bestimmten philosophischen Prämissen und wirtschaftlichen Aspekten Universalprinzipien abgeleitet, 79 Francesco Ferrara. In diesem Aufsatz besprach Ferrara Schriften von Vito Cusumano, Condizione; Emilio Nazzani; Giuseppe Toniolo und Fede/e Lampertico. 80 Luigi Luzzatti. 81 Francesco Ferrara, S. 993. 82 Vgl. ebenda, besonders S. 994ff. 83 Luigi Luzzatti. 84 Ebenda, S. 178.

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welche sie in jeder Zeit und jedem Raum gelten lassen. Sie "vergessen aber" - so Luzzatti -, "daß der Mensch als gesellschaftliches Wesen ein Produkt der Zivilisation, der Geschichte sei, und daß seine Bedürfnisse, seine geistige, ethische und politische Bildung, seine Entgegenstellungen gegen anderen Menschen und Reichtum nicht unverändert bleiben (... )."85 Luzzatti führte eine wichtige Lehre über den Eingriff des Staates in das Wirtschaftsleben ein, indem er die Legitimität der staatlichen Handlung von der Kategorie der Notwendigkeit abhängig machte, die ihrerseits auf einer entsprechenden Wirtschaftswissenschaft basierte. Es ist diese Wissenschaft, die "das Bedürfnis" analytisch erforscht und entscheiden muss, welcher Teil der verwickelten wirtschaftlichen Interessen zur staatlichen Autorität und welcher zur Freiheit gehört. Die Kategorie der Notwendigkeit stützt sich auf das Gemeinwohl, welches allein das Eingreifen des Staates rechtfertigt und den individuellen Interessen überlegen ist. So gehörte es laut Luzzatti zu den Aufgaben der Wirtsch~ftswissenschaft; Gesetze so zu bestimmen, dass sie verschiedenen Situationen angepasst werden können. Die Zentralität der sozialen Frage als Legitimationsmoment für die Intervention des Staates ins Wirtschaftsleben kehrt auch bei Vito Cusumano wieder, der 1875 entschieden für die Richtigkeit der Lehre von Schmoller, Brentano und Gneist eintrat. 86 Das Maß und die Mittel der Staatsintervention hängen für Cusumano von der sozialen Frage ab, wobei Maß und Mittel des staatlichen Eingriffs wiederum durch eine realistische Betrachtung bestimmt werden. Wenn auch Bacon schon versucht hatte, "die Träume der Theoretiker" durch die "pünktliche Betrachtung der Fakten zu ersetzen,"87 ist es jedoch offensichtlich, dass diese Tendenz im 19. Jahrhundert stark zunahm. "Die Entwicklung der Statistik und die Historische Schule haben die Moralwissenschaften zu dieser Richtung gebracht."88 Es könnte hinzugefügt werden, dass zur Entwicklung der Statistik und der Historischen Schule gerade die Wahrnehmung der sozialen Frage und das Bedürfnis, sie zu lösen, beitrugen. Kurz nach dem Erscheinen des oben genannten Aufsatzes von Ferrara wurde in Florenz die Societii Adamo Smith gegründet, an der Professoren, Publizisten, Politiker und Unternehmer teilhatten. Die Anhänger des Vereins lassen sich unterschiedlichsten Parteien zuordnen: So nahmen Vertreter der Historischen Rechten wie Pietro Bastogi, Augusto Barazzuoli, Gino Capponi, Ubaldino Peruzzi und Bettino Ricasoli daran teil, aber auch große Namen der Historischen Linken wie Salvatore Calatabiano und Francesco Ferrara sowie Bankiers wie Carlo Fenzi und Professoren wie Vilfredo Pareto und Sidney Sonnino waren in ihm vertreten. Laut Statut sollte das Ziel des Vereins die Förderung, Entwicklung und Unterstützung von wirtschaftlichen Freiheiten sein, was bedeutete, dass der Verein als kulturelles Forum verstanden werden wollte. Trotzdem konnte die politische Ebene nicht ausgeschlos85 86 87 88

Ebenda, S. 180. Vito Cusumano, Scuole. Ebenda, S.141. Ebenda, S. 141.

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sen bleiben, und bald politisierte sich die Debatte zwischen den Schulen besonders hinsichtlich der Staats intervention im wirtschaftlichen Leben. Während, wie oben erwähnt, in Deutschland die soziale Frage und ihre Entschärfung, d. h. die Sozialgesetzgebung, Gegenstand der Diskussionen über die Staatsintervention waren, wurde in Italien in erster Linie die Rolle des Staates bei der Gewährleistung des Gemeinwohls im Allgemeinen diskutiert. In verschiedenen, in der Zeitschrift L' Economista d' Italia zwischen 1874 und 1875 veröffentlichten Aufsätzen versuchte Cusumano, diese Idee des Liberalismus durchzusetzen: "Für uns" - erklärte er - "ist der Staat das Reserveheer. Wenn die aktive Armee [die Bürger] in der Lage ist, zu siegen, bleibt die Reserveannee an ihrem Platz. Wenn sie aber nicht das Ziel erreichen kann, soll die zweite Annee eingreifen."s9 Und weiter: "Für uns soll die Volkswirtschaft von dem ,reellen Menschen' ausgehen, nämlich von dem Menschen, der gleichzeitig an der gemeinsamen und an seiner eigenen Wohlfahrt interessiert ist (... ). "90 Der erste Höhepunkt der Diskussion über die Rolle des Staates im Wirtschaftsleben betraf die Verstaatlichung der Eisenbahnen. Als Kathedersozialisten wurden diejenigen Liberalen der Historischen Rechten Italiens stigmatisiert, die wie Marco Minghetti, Silvio Spaventa und Quintino Sella zwischen 1875 und 1876 für die Verstaatlichung der Eisenbahnen eintraten und damit das Prinzip des Gemeinwohls mit dem des laissezjaire, laissez passer in Einklang zu bringen suchten. Da das Eisenbahnwesen ein natürliches Monopol darstellte, das als solches die allgemeinen Interessen nicht vertrat, sollte der Staat intervenieren. Die Interessen der privaten Gesellschaften, die den Eisenbahnbetrieb zu jener Zeit leiteten, führten aber das Ende der Regierung der Destra Storica im März 1876 herbei. Trotz dieser parlamentarischen Umwälzung war eine neue Idee des Liberalismus eingeführt worden, die dem Staat keine unveränderlich feste Rolle zuschrieb, sondern eine situativ bedingte flexible Position einräumte. Der Staatsmann Silvio Spaventa, der einer der wichtigsten Befürworter dieser Idee von Liberalismus war und zwischen 1873 und 1876 als Minister für öffentliche Arbeiten wirkte, unterstrich die modeme Funktion des Staates, die er mit dessen Aufgabe identifizierte, die Gesellschaft zur Zivilisation zu führen. Der Zivilstaat - Stato civile - bedeutete für ihn "das leitende Bewußtsein - coscienza direttiva -, nämlich daß die Nation wahrnimmt, daß ihr der Weg gewiesen wird; das Empfinden der Gesellschaft, daß die Institutionen gesichert sind, die Erkenntnis der Bürger, daß ihre persönliche Freiheit unterstützt wird."91 Zu den wichtigsten Aufgaben des Staates gehörten daher für Spaventa nicht nur Justiz und Verteidigung, sondern auch die Verbreitung der Zivilisation, also Bildung und Wohlfahrt für alle. "Heute", erklärte er, "leitet der Staat die Gesellschaft zur Zivilisation. Der modeme Staat entsteht aus dem sogenannten Rechtsstaat, d. h. aus dem Staat, wo alle Bürger gleich Vita Cusumana, Smithiano. Ebenda. 91 SilviaSpaventa, Discorsi, S.419. 89 90

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vor dem Gesetz sind."92 Er hielt jene Gesellschaft für zivil, wo nicht nur wenigen, sondern vielen Bürgern Wissen und Besitz zur Verfügung stehen, und wo sowohl Bildung als auch Wohlfahrt gefördert werden - was er zu den wichtigsten Aufgaben des modernen Staates zählte. Spaventa kann zusammen mit Persönlichkeiten wie Francesco De Sanctis und Attilio Brunialti als Vertreter der "prosaischen Zeit der Verwaltung"93 Italiens interpretiert werden, d. h. einer Zeit, in der die staatlichen Maßnahmen für die Entwicklung der Gesellschaft an Bedeutung gewannen. Das in Italien zu vernehmende Echo der deutschen Debatte über die soziale Frage betraf zunächst die allgemeine Rolle des liberalen Staates als solchen und führte erst später zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit dieser spezifischen Frage. Trotzdem kann aus kleinen Anzeigen in der Nuova Antologia von 1875 geschlossen werden, dass damals bereits schon Überlegungen zu dieser besonderen Thematik angestellt wurden. 94 Der Bollettino Bibliografico der Zeitschrift v,ries auf Schriften des "ereins für Sozialpolitik hin (i;ber .4./ters- und Invalidencassenfür Arbeiter, 1874; Über Bestrafung des Arbeitsvertragsbruches, 1874 und Verhandlungen der zweiten Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik, 1874), die die Rezeption der deutschen Diskussion über die Sozialgesetzgebung widerspiegelten. 95 Die kurze italienische Besprechung von Gustav Schmollers Strass burg zur Zeit der Zunftkämpfe und die Reform seiner Verfassung und Verwaltung im XV Jahrhundert (Strassburg 1875) kennzeichnete die deutsche Hochschullehre in wirtschaftspolitischer Geschichte sogar als "exzellent."96 Im gleichen Band wurde auch das Buch von Lujo Brentano Über das Verhältniß von Arbeitslohn und Arbeitszeit zur Arbeitsleistung (Leipzig 1876) besprochen, worin der Verfasser konstatierte, dass der Erhöhung des Arbeitslohns und dem Abnehmen der Arbeitszeit stets auch eine Zunahme der Arbeitsleistung entsprach. Die Zeitschrift betonte darüber hinaus die Behauptung von Brentano, dass die Verdienste der Fabrikgesetzgebung nicht der Manchesterschule zu verdanken waren. 97 Die Auswirkung der deutschen Debatte über die soziale Frage auf das politische und verwaltungsmäßige System Italiens kann unter dem Stichwort germanesimo zusammengefasst werden, das sich auf verschiedenen Ebenen - nämlich den wirtschaftlichen, verwaltungsmäßigen und juristischen Bereich - bezieht. Ebenda, S.419f. Vgl. Raffaella Gherardi, Arte; dies., Disziplinierung. 94 In den 1870er Jahren, unter dem Einfluss der Pariser Kommune, setzte sich die Regierungsklasse der Historischen Rechten mit der sozialen Frage auseinander, wobei ihre wichtigste Tribüne die Zeitung Gazzetta d' Italia darstellte. Es handelte sich aber um eine Frage, die zu wenig soziale Schärfe hatte, um "die Physiognomie einer Partei der Katholiken zu bekommen, die die Interessen der katholischen Gesellschaft gegenüber dem liberalen Staat vertreten wollte" (Aldo Berselli, Govemo, S. 295. Zum Thema vgl. ders., Questione). Bzgl. der Debatte über die soziale Frage in Italien siehe auch den interessanten Beitrag von Federico Chabod, Storia, S.324ff. 9S Nuova Antologia, Bd.29, 1875, S. 994f. 96 Ebenda, Bd. 30, 1875, S. 909. 97 Ebenda, Bd. 30, 1875, S. 910. 92

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Einlass fand der germanesimo in Italien aber zunächst über die Außenpolitik: Es war Bismarcks Rolle innerhalb des europäischen Systems, das die italienische Regierungsklasse sowohl erschreckte als auch faszinierte. Wenn daher Politiker wie Ruggiero Bonghi Bismarck sehr kritisch beurteilten,98 weil Letzterer mit seiner Macht und seinem Autoritarismus die liberalen Prinzipien ignoriert hatte, bewunderten andere wie Quintino Sella oder Marco Minghetti von der Destra Storica und Francesco Crispi von der Sinistra Storica eben diese Merkmale. Italien trat mit Deutschland und Österreich in den Dreibund ein, um internationale Anerkennung zu erhalten. Zusammen mit der Außenpolitik wurden in Italien die deutsche Innenpolitik und das wissenschaftliche System, auf das Erstere sich stützte, bewundert und rezipiert. Interessant ist für diese Überlegungen vor allem die Regierungszeit von Francesco Crispi 99 ab Ende der 80er J abre des 19. Jahrhunderts und jene von Giovanni Giolitti in den ersten fünfzehn Jahren des 20. Jahrhunderts. Das Projekt Crispis, die Unabhängigkeit der Regierung auszubauen, musste sich unbedingt auf eine Stärkung der Verwaltung stützen, wofür ihm Deutschland als Vorbild diente. lOo Die Reformen Crispis - das System der verwaltungsmäßigen Justiz, das Provinz- und Gemeindegesetz, die Einführung einer modernen Ordnung der staatlichen Gesundheit, die Reform des Polizeisystems - bezogen sich auf das deutsche Modell, das sich wiederum auf die bereits vorgestellte Lehre Steins von der Zentralität der Verwaltung stützte. Die Verwaltungsreformen Crispis folgten dem Vorbild der deutschen Reformen, vor allem dem Beispiel der Bismarckschen Sozialgesetzgebung, welche die soziale Frage, die Italien besonders in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre beherrschte, zu einer partiellen Lösung führte. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die deutsche Situation sich in Italien sowohl in ihren theoretischen und praktischen Ansätzen wie auch in ihren sozialen Ängsten niederschlug. Auch das System der Verwaltungsgerichtsbarkeit, mit dessen Einführung Crispi einen Mangel der italienischen Ordnung beseitigte, stand unter dem Einfluss des deutschen Vorbildes. Wenn im Jahre 1865 das System der verwaltungsrechtlichen Justiz ganz stark unter dem Einfluss von kulturellen und institutionellen Modellen wie "Tocqueville und Constant und der belgischen Verfassung von 1831" stand, so Ruggiero Bonghi, Bismarckismo. Francesco Crispi, (1818-1901), Redakteur, Rechtsanwalt und Politiker. Im Risorgimento trat er aktiv gegen die Regierung der Bourbonen in Süditalien ein und kämpfte er für die Einheit und Unabhängigkeit Italiens. Er war ein wichtiger Vertreter der italienischen Linken und bekleidete verschiedene Regierungsämter. So war er im Jahre 1877 Innenminister und im Jahre 1887 wurde er Ministerpräsident. Als Nationalist trat Crispi 1877 gegen Cairoli auf, weil dieser seiner Ansicht nach die italienischen Interessen gegenüber Bismarck auf dem Berliner Kongress (1878) nicht entschieden genug vertrat. Zwischen 1887 und 1891, als Crispi zum ersten Mal Ministerpräsident war, erzielte er wichtige Erfolge in der Außenpolitik, u. a. stellte er eine engere Beziehung zu Deutschland her. Neu über Crispi: Francesco Bonini und Daniela Adorni. 100 Zum Thema vgl.lstituto per la Scienza dell'Amministrazione Pubb/ica, Riforme. 98

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wandte sich das Interesse im Jahre 1889, als die IV. Sektion des Staatsrats eingeführt wurde, nun der institutionellen Entwicklung Deutschlands und der angesehenen Stimme Rudolf von Gneists zu. 101 In diesem Sinne bedeutete ,,Deutschtum die Wahrnehmung seitens der juristischen und politischen Wissenschaft Italiens, neben den ,traditionellen' verfassungsmäßigen Bildern Englands und Frankreichs, des Bestehens des ,Muster Deutschlands', das auf ein großartiges Niveau von der Reichsgründung, der Bismarckschen Regierung und dem Sieg von Sedan gestellt wurde."I02

Die Berücksichtigung des reellen Italien, mit dem sich die Regierung der Historischen Rechten schon kurz nach der Staatsgründung beschäftigte, wurde durch die Beschleunigung der Industrialisierung als dringend empfunden und von deutschen Mustern beeinflusst. 103

TL Kategorien des politischen Organisationswesens im deutschen Liberalismus des 19. Jahrhunderts 1. Organismus, Organisation, Partei Das 19. Jahrhundert könnte als Jahrhundert der Organisation betrachtet werden, in dessen Verlauf der Organisationsbegriff seine Blütezeit in verschiedenen Bereichen erlebte. Von der Korpus- und Mechanismusvorstellung ging man über zu Organisations- und Organismuskonzepten, welche die Kausalität der deterministischen Theorien ersetzten. 104 Besonders seit der Romantik war die Idee des Organismus als Teil der theoretischen Bemühungen anzutreffen,105 den ,,natürliche[n] oder künstliche[n] Zusammenhang der einzelnen Theile eines Ganzen"l06 zu erfassen. Um das Ziel des Körpers zu verwirklichen, ist somit die Zusammenarbeit der Glieder notwendig. Die Brüder Grimm gaben dem Wort eine präzisere Bedeutung: Organismus sei "die vereinigung von verschiedenen organen zu einem lebensfähigen ganzen und die einrichtung desselben: das leben ist eine wiederholte bewegung und wechselseitige einwirkung aller elemente in einem individuellen körper."107 101 Bernardo Sordi, S. 534. 102 Ebenda, S.535. 103 Wenn auch der Prozess der Staatsreform von Deutschland sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf verwaltungsmäßiger Ebene stark beeinflusst wurde, blieb die Organisationsform der Liberalen in beiden Ländern doch sehr unterschiedlich. Hauptgrund dafür waren die jeweiligen Staatsformen. Dazu vgl. die Schlussbetrachtungen. 104 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Organ. lOS Mit dem Konzept des Organismus beabsichtigen die Romantiker, den Staat nicht als "eine Summe von Atomen zu betrachten, sondern ihn als Ganzes zu erfassen, als Einheit, als Organismus" (Friedrich Müller, S. 89). 106 Art. Organismus, in: Theodor Heinsius, S. 335. 107 Art. Organismus, in: Jakob und Wilhelm Grimm, S. 1339.

11. Kategorien des politischen Organisationswesens im deutschen Liberalismus

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Selbstverständlich wirkten sich diese Gedanken auf die politische Gestalt des Staates aus, wobei sich der statische Staatskörper, der von der Herrschaft eines Teils (dem Souverän) dominiert wurde, auflöste und zum Organismus wurde. Jeder Teil des Staates brauchte und setzte jetzt die Mitwirkung anderer Teile voraus, wie das im Übrigen auch in der Philosophie dargelegt wurde. So Kant in seiner Kritik der Urtheilskraft: "Soll ( ...) ein Ding als Naturprodukt in sich selbst und seiner innem Möglichkeit doch eine Beziehung auf Zwecke enthalten, d. i. dass Naturzweck und ohne die Causalität der Begriffe von vernünftigen Wesen außer ihm möglich seien: so wird( ... ) dazu erfordert: daß die Theile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind."los

Nach Bluntschli hat der liberale Staatsbegriff einen "psychologischen Charakter. ( ... ) Er ist ein lebendiges Ganzes mit lebendigen Gliedern, und seine Einheit schützt die Freiheit Aller (... )."109 Die Idee vom Organismus als einem zusammenhängenden Ganzen betraf aber nicht nur die staatliche, sondern auch die gesellschaftliche Ebene, die sich in Vereinen und Parteien organisierte. Sowohl im staatlichen als auch im gesellschaftlichen Gefüge trat die Idee von der Arbeitsteilung und ihrer entsprechenden Koordination in den Vordergrund: So wurde die "Organisation", als "organische[r] Bau eines Körpers", als "Bildung, Einrichtung eines belebten Körpers"IlO zum wichtigsten Element des Organisierens. Sich auf Herder, Schiller und Kant berufend, definierten die Brüder Grimm den Begriff Organisation "passivistisch, die durch organische thätigkeit hervorgebrachte bildung, einrichtung und beschaffenheit eines organischen wesens (. .. ) in bezug auf einen staats- oder gesellschaftskörper: man kaM einer gewissen verbindung, die aber auch mehr in der idee, als in der wirklichkeit angetroffen wird, durch die analogie mit den unmittelbaren naturzwecken licht geben. so hat man sich bei einer neuerlich unternommenen gänzlich umbildung eines groszen volkes zu einem staate des wortes ,organisation' häufig für einrichtung der magistraturen u. s. w. und selbst des ganzen staatskörpers sehr schicklich bedient." III

Während die Rede vom Organismus auf das koordinierte und sich ergänzende Funktionieren eines Körpers verweist, d. h. auf sein inneres Wesen, wird Organisation zur fonnellen Gestalt. Schließlich wies die Metapher vom Organismus als ein sich entwickelndes Ganzes auf eine Dynamik hin, die die Organisation zum Prozess, d. h. zum veränderlichen Gegenstand, umgestaltete. Jmmanuel Kant, S. 373. Johann K. Bluntschli, Charakter, S. 130. 110 Art. Organisation, in: Theodor Heinsius, S. 335. 111 Art. Organisation, in: Jakob und Wilhelm Grimm, S. 1339. So auch Jmmanuel Kant, S. 375. "Denn Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum seiner Stelle und Function nach bestimmt sein" (ebenda, S. 375). 108

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Inwieweit der Organismus begriff im politischen Leben des 19. Jahrhunderts zentral war, ist am Beispiel Rudolf von Virchows zu erhellen. Gegen die Metapher "Organismus versus soziale Institution" (Gesellschaft oder Staat), die am Anfang des Jahrhunderts vorherrschend war, stellte Virchow die Termini der Metapher um: soziale Institution (Gesellschaft oder Staat) versus Organismus. Es handelt sich hierbei um eine freie Interpretation des Gedankens von Virchow, da dieser selbst es nie offen erklärte: Die sozialen Metaphern und Analogien, die Vrrchow verwendete, - so die Interpretation - stellten nämlich eine Basis für die weitere Entwicklung seines naturwissenschaftlichen Gedankens dar. ll2 Die Umstellung dieser Termini, soziale Institution oder Organismus, zeigt die Zentralität des Organismus begriffs im politischen und sozialen Feld, nämlich im Staat und in der Gesellschaft (der wiederum durch Vereine und Parteien Form gegeben wird). Eine Partei soll unter verschiedenen und sich ergänzenden Aspekten des Organismus und der Organisation berücksichtigt werden, wobei ihre poiitischen Zieie ais die wesentlichen Gründe ihres Bestehens zu betrachten sind. 113 Als Organismus entwickelt sich eine Partei unter Berücksichtigung jenes Teils der Gesellschaft, den sie vertreten will. Die Organisationsform musste daher an den entsprechenden Organismus bzw. an seine Elemente - das politische Milieu - angepasst werden. 1848 stellte eine Zeit der Umstrukturierung der Gesellschaft in Parteien dar. Wie Friedrich Naumann betonte, entstanden die Parteien erst, "als das ganze Volk einmal gerüttelt wurde"114 und damit zu dem Bewusstsein gelangte, Teil des gesamten Staatslebens zu sein. Seit der 48er Revolution entwickelte sich allmählich eine Beziehung zwischen den Wählern und den Fraktionen, denn bis zu diesem Zeitpunkt waren die Abgeordneten ihrem Vorsitzenden und nicht einem Parteiprogramm gefolgt. Langsam wurden daher die Parteien zu Organisationen, die zwischen Bevölkerung und Volksvertretung vermittelten. Im Gegensatz zu jenen Vereinigungen, die für bestimmte Zwecke gegründet werden und keine Partei bilden, weist die Partei etwas Besonders auf: ,,zum Begriff der Partei gehört Kampf, Stellungnahme gegen andere, gegen Leute, die abweichende Zwecke wollen." Mit anderen Worten, es gehört der "Wille zur Macht"115 und das Streben danach in Konkurrenz zu anderen sozialpolitischen Kräften zum Begriff der Partei. Nach Grimms Wörterbuch ist die Partei Renato G. Mazzolini, Stato; ders., Analogien. In diesem Zusammenhang wird auf eine systematische Darstellung der Entwicklung des Parteibegriffs in seiner negativen sowie positiven Bedeutung verzichtet. Zum Thema vgl. Klaus von Beyme. 114 Friedrich Naumann, Parteien, S. 102. IIS Hermann Rehm, Parteien, S. 1. Und weiter: "Partei ist eine Gruppe von Menschen, die das Streben vereinigt, gemeinsame Anschauungen und Interessen gegen andere (anders Gesinnte, anders Interessierte) durchzusetzen. (... ) Die Parteien kämpfen um die Staatsmacht" (ebenda, S. 1). 112

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"eine gesamtheit gleichgesinnter personen und die von ihnen vertretene richtung in religiösen, politischen, socialen oder wissenschaftlichen dingen im gegensatze zu anders gesinnten und im kampfe mit denselben, wie ja auch das lat. pars und partes von politischen gegenparteien gebraucht worden ist. "116

Schon zwanzig Jahre vorher hatte Bluntschli betont: "Die Partei ist, wie schon das Wort (pars) bedeutet, allerdings nur ein Theil eines größeren Ganzen, niemals dieses Ganze selbst. Die politische Partei kann daher auch nur das Bewußtsein eines Theils der Nation in sich haben; sie darf sich niemals mit dem Ganzen, dem Volk, dem Staat identificieren. ,,117

Kurz vor der Einheit Deutschlands erkannte Bluntschli die Bedeutung der politischen Parteien für die Organisation der Gesellschaft, indem er sie als die eigentlichen Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft definierte. Da für ihn aber der Staat der eigentliche Vertreter der ganzen Gesellschaft war, sollte dieser den Parteien stets übergeordnet werden. 118 "Wir sprechen im eigentlichen Sinne von politischer Partei, wenn dieselbe von einem politischen Princip beseelt ist und eine politische Tendenz verfolgt. Politisch im vollen wahren Sinn des Worts ist aber nur, was auf der Existenz des Staats beruht und daher mit dem Staate verträglich ist, nur was der gemeinen Wohlfahrt dient. Die politische Partei kann große Mängel des Charakters an sich haben, sie kann leichtsinnig nach Neuerung streben oder überängstlich das Hergebrachte bewahren wollen. Sie kann zu verkehrten Mitteln greifen, und deshalb ihr Ziel verfehlen, sie kann sogar ein thörichtes Ziel anstreben ( ... )."119

2. Das politische Vereinswesen Hauptmerkmal der Modernität ist sicherlich die Zentralität des Individuums und seiner Rechte, unter welchen besonders das Recht zur Freiheit zu betonen ist. Deswegen zählt die Umwandlung vom Stände- zum Rechtsstaat, deren Verwirklichung die größte Leistung der liberalen Bewegung sein wird, zu den grundlegenden Errungenschaften im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Die alten Stände waren Verbände korporativer Art, die alle Bereiche des Lebens ihrer Mitglieder erfassten, so dass das Leben des Einzelnen außerhalb des bestimmten Kontextes des Standes überhaupt nicht verstanden werden konnte. Darüber hinaus oder gerade dadurch wies dieses System eine große soziale Ungleichheit bei der Verteilung der Rechte auf: "Personen," - definierte das Allgemeine Landrecht I I § 6 - "welchen vermöge ihrer Geburt, Bestimmung oder Hauptbeschäftigung gleiche Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft beigelegt sind, machen zusammen einen Stand des Staates aus." Siehe Art. Partei, in: Jakob und Wilhelm Grimm, S.1467. Johann K. Bluntschli, Charakter, S. 3. 118 Ebenda, S. IOf. 119 Ebenda, S. 10. 116 117

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1. Kap.: Realpolitik und Organisation im deutschen Liberalismus

Im Unterschied dazu waren Verein und Korporation kein umfassender Lebensverband, sondern interessenbestimmte und freiwillige Zweckverbände, deren Gründung, Tätigkeit und Auflösung in den Händen ihrer Mitglieder lag. Der Unterschied bestand darin, dass die Korporation fast das ganze Leben ausfüllte und somit der korporative Verbandstypus den Status bestimmte. Der Verein hatte hingegen einen partiellen Zweck, der die Mitglieder in ihrer Person auch nur partiell berührte. 120 Auf jeden Fall kann man nicht von einer allgemeinen Umwandlung des Rechtssystems sprechen, da die Mitglieder der Vereine oder der Korporationen nicht mit dem Volk insgesamt zu identifizieren waren, sondern mit bestimmten Klassen und, speziell für den Verein, höchstens mit den Bürgern. Es war nämlich nur das Bildungsund Wirtschaftsbürgertum, das aufgrund von Bildung und Reichtum die Vorteile des Vereinswesens genießen konnte. Das Vereinswesen war die organisatorische Hauptfonn des bürgerlichen Lebens in kultureller wie politischer Hinsicht, wobei in der deutschen Geschichte seit den Gilden und Zünften des Mittelalters eine generelle Tendenz zum Zusammenschluss ausgemacht werden kann. Das Streben nach der Organisation der Gesellschaft kann möglicherweise als Bestandteil deutscher Freiheit aufgefasst werden. Demzufolge ist das Vereins wesen, das gerade vom Bürgertum genutzt wurde, als bevorzugte Organisationsfonn, als adäquate Wahl zu verstehen, um die damalige Gesellschaft zu erobern. Dies wird durch den Erfolg des Vereinswesens bei der nation building Deutschlands und bis zu einem gewissen Zeitpunkt auch durch die Wirksamkeit der Vereine in der politischen Organisation der bürgerlichen Parteien bestätigt. Es genügt, an den Erfolg des Liberalismus während des Vonnärzes in Ländern wie Baden und Bayern, aber auch in Preußen und im preußisch-deutschen Reich bis etwa Mitte der 1880er Jahre zu erinnern. In der Tat fand die Vorliebe des liberalen Bürgers für das kritische Räsonnement und den Entwurf politischer Programme gerade in den Vereinen einen angemessenen Raum. Im 19. Jahrhundert war das Streben der Gesellschaft nach Se1bstrepräsentation und Eigenorganisation durch das Vereinswesen (association) kein rein deutsches, sondern ein europäisches Phänomen, wobei die Parteivereine im Vergleich zu den übrigen Vereinen einen anderen Stellenwert einnahmen. Während Letztere konkrete organisatorische Realitäten waren, bezogen sich Erstere auf den Begriff Partei als große, auf die idem de republica veUe et noUe gegründete Bewegung. Das hat zweierlei Implikationen: Einerseits sind die Vereine einer Partei Teile des Ganzen, das von dem Zugehörigkeitssinn zur Partei bestimmt wird. Andererseits gibt dieses Gesinnungsbewusstsein den Parteivereinen eine im Vergleich zu den anderen Vereinen ideellere Bedeutung, die nicht auf die Verwirklichung konkreter Ziele eingeschränkt sein kann. 121 Vgl. Friedrich Müller, S. 15. Zurecht merkte Kar! Brater an, dass die politischen Vereine sich ,,mit den öffentlichen Angelegenheiten - des Staates, der Kirche, der Gemeinde - beschäftigen", wobei es sich entweder um die ,.Belehrung über öffentliche Angelegenheiten, politische Bildung der Mitglieder 120 121

H. Kategorien des politischen Organisationswesens im deutschen Liberalismus

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In der Tat lag während der parteipolitisch sehr bewegten Zeit vor und nach der Reichsgründung der eigentliche Sinn dieser Vereine in der Gesinnungsgemeinschaft und nicht in der Aktion, obwohl sie allmählich in der Politik, besonders während der Wahlzeit, tätig wurden. 122 Wie später ausführlicher dargestellt wird, war die Organisation durch Vereine vor allem für die Fortschrittspartei notwendig: Sie trugen wesentlich zur Mobilisierung oppositioneller Wahlerpotenziale und zu ihrer Einbindung in das Parteimilieu bei. 123 Der Unterschied zwischen politischen und nichtpolitischen Vereinen ist schließlich im Hinblick auf die Gesetzgebung zum politischen Vereinswesen sehr wichtig, da Erstere wesentlichen Einschränkungen unterlagen. Üblicherweise wird angenommen, dass die politischen Parteien der Bismarcksehen und der Wilhelminischen Ära eine verfassungspolitische Funktion nur als Elemente der Verfassungswirklichkeit gehabt hätten: Im Verfassungsrecht des Reichs waren sie nämlich nicht vorgesehen. Es gibt aber auch dieser Ansicht widersprechende Auffassungen, wonach auch das positive Staatsrecht der Bismareksehen Zeit die politischen Parteien als unentbehrliche Faktoren des Verfassungslebens anerkannte. 124 Die Frage besteht aber vor allem darin, ob die Parteien in der Verfassungswirklichkeit eine bestimmende Rolle gespielt haben, also ob sie tatsächlich eine reelle Macht Bismarck gegenüber ausgeübt haben. Betrachtet man die Anstrengungen Bismarcks für eine Regierungsmehrheit sowie die Bemühungen der Parteien hinsichtlich der Wahlen, dann müsste die Frage bejaht werden. Nach dem § 17 des Reichswahlgesetzes von 1869 125 genossen die Wahlvereine der Parteien zur Wahlzeit all die Vorrechte, die allein einen freien Wahlkampf und damit eine legitime Bildung der Volksrepräsentation möglich machten. 126 Organisationsrechtlich gehörten daher die politischen Parteien, seit sie überhaupt eine Organisaoder auch der außerhalb des Vereins Stehenden" oder um die "unmittelbare Einwirkung auf den Gang der öffentlichen Angelegenheiten" handeln konnte (Karl Brater, Vereine [1867], S. 756). 122 So auch Thomas Nipperdey, Organisation (1961), S. 75, der hinzufügt: "Es gab bei der Vorbereitung politischer Aktionen immer Leute, die etwa sagten: , Wenn aus dieser Sache überhaupt etwas werden soll, muß zuerst einmal ein Verein gegründet werden.' Verein konnte ein Fetisch sein, ein Surrogat für energische und planmäßige Aktionen oder auch nur eine Demonstration dafür, daß man überhaupt existierte ( ...)" (ebenda, S. 75). 123 Ebenda, S. 79. 124 "Die oft wiederholte These," - so Huber - "das Bismarcksche Staatsrecht habe von den politischen Parteien keine Notiz genommen, ist eine Legende. Zwar erwähnte die Verfassungsurkunde die Parteien nicht. Doch erschöpft sich das materielle Staatsrecht nicht in den ausdrücklichen Bestimmungen der Verfassungsurkunde. Es umfaßt darüber hinaus eine Reihe weiterer fundamentaler staatsrechtlicher Gesetze, unter denen das Wahlgesetz das wichtigste ist ( ... )" (Ernst R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd.3, S. 866f.). 125 ,Die Wahlberechtigten haben das Recht, zum Betrieb der den Reichstag betreffenden Wahlangelegenheiten Vereine zu bilden und in geschlossenen Räumen unbewaffnet öffentliche Versammlungen zu veranstalten' (ebenda, S. 867). 126 V gl. Ernst R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 4. 4 Cioli

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1. Kap.: Realpolitik und Organisation im deutschen Liberalismus

tionsfonn angenommen hatten, dem privaten Vereinsrecht an. 127 Indem daher ihre Organisation dem Bereich des bürgerlichen Rechts unterlag, waren die Parteien als private und nicht als öffentliche Institutionen für die innere Struktur der Vereine zuständig. Sie waren aber funktionsrechtlich dem Bereich des Verfassungsrechts zugeordnet, da ihre Teilnahme an der nationalen Willensbildung, wie z. B. der Wahlagitation, der Aufstellung von Kandidaten usw., durch den § 17 des Reichswahlgesetzes sanktioniert wurde. Es handelte sich hierbei um eine höchst interessante Mischung aus privatem und öffentlichem Recht, die eine ganz spezifische bürgerlich-öffentliche Rechtsfigur erzeugte, welche wiederum emblematisch die Verwicklungen zwischen den liberalen und den konservativen Merkmalen jener Verfassung widerspiegelte. Eine solche Behauptung kann vielleicht in der damaligen Vereinsgesetzgebung eine Bestätigung finden. Nach dem preußischen Vereinsgesetz (Verordnung über die ~'erhüiung eines die gesetzliche Fieiheit und Ordnung gefährdenden ~A,1issbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechtes) vom 11. März 1850"28 das im Deutschen Reich noch gültig war, war laut § 8 die Verbindung politischer Vereine verboten: Die Vereine, "welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern", unterliegen neben anderen Einschränkungen auch der, dass sie "nicht mit anderen Vereinen gleicher Art zu gemeinsamen Zwecken in Verbindung treten" dürfen, "insbesondere nicht durch Komitees, Ausschüsse, Zentralorgane oder ähnliche Einrichtungen oder durch gegenseitigen Schriftenwechsel."129 Wenn auch nach § 21 das Verbot für die Wahlvereine nicht galt, 130 wurde als Wahlverein jedoch 127 Die Geschichtsschreibung ist sich nicht einig dariiber, wann die Parteien eine bestimmte Organisationsform annahmen. Laut Huber z.B. gewannen die Parteien "erst im preußischen Verfassungskonflikt und in den deutschen Einigungskämpfen ( ... ) ihre organisatorische Form, ihr verbindliches Aktionsprogramm, ihren festen Mitgliederbestand, ihre rechtlich autorisierte Vorstandschaft" (Ernst R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd.4, S. 4). Andere wie Langewiesche, Boldt und zuletzt Cervelli sehen schon in der Revolution von 1848/49 die Anfänge der Parteiorganisation (zum Thema vgl. Werner Boldt; Dieter Langewiesche, Anfänge; Innocenzo Cervelli, Rivoluzione). Laut Langewiesche "erweist sich die Revolution von 1848/49 als die Geburtsstunde des modemen deutschen Parteiwesens" (Dieter Langewiesche, Anfänge, S. 361). So berichtete Ludwig Bamberger in seinen Erinnerungen: ,Die Parteiorganisation, weIche wir damals schufen, überlebte in ihrer Überlieferung die Reaktionszeit der fünfziger Jahre, und als ich nach veränderten Umständen und in einer wesentlich anderen Richtung meinen Wahlfeldzug führte, waren es noch die Grundlagen jener alten Vereinsbildung und ihrer Methode, weIche zu meinem Erfolg ein gutes Stück beitrugen und so mir die Friichte einer längst vergangenen Arbeit einbrachten' (zit. in: Michael Wettengel, S. 736). 128 Verordnung über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Missbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechtes, in: Ernst R. Huber (Hrsg.), Dokumente, Dok. Nr 197, S.519ff. 129 Verordnung über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Missbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechtes, ebenda, S. 520. 130,,( ... ) Wahlvereine unterliegen den Beschränkungen des § 8 nicht" (Verordnung über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Missbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechtes, ebenda, S. 521).

II. Kategorien des politischen Organisationswesens im deutschen Liberalismus

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nur der betrachtet, der einzig und allein für Wahlen aktiv wurde. Indem eine nationale Koordination der Vereine ausgeschlossen wurde, war der Verein förmlich kein Organ der zentralisierten nationalen Partei, keine Ortsgruppe, sondern eine Organisation der Partei anhänger im Wahlkreis. Selbstverständlich konnte die Partei, durch Vereine organisiert, eine Verbindung mit und zwischen diesen herstellen, die, wenn auch nicht in organisierter Form, eine ganz wesentliche Bedeutung für das Funktionieren der Partei hatten. 131 Schließlich stellte die vorgesehene staatliche Genehmigung der Rechtspersönlichkeit eine weitere Beschränkung des Vereinsrechts dar. Das staatliche Verleihungssystem der Rechtspersönlichkeit wurde in Deutschland mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) überwunden, als das Vereinsrecht durch das allgemeine Recht geregelt wurde. Es handelte sich hierbei um eine Regelung, die den Vereinen eine Rechtspersönlichkeit zubilligte und die Willkür der einzelnen Regierungen aufhob. Desweiteren unterstanden die Vereine der Regelung des Privatrechts, wobei wesentliche Einschränkungen für katholische und politische Vereine von der Staatsverwaltung eingeführt werden konnten. 132 Dies war eine wichtige Entwicklung im liberalen Sinne, die der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 folgte. 133 Wenn diese durch das Vereinsrecht auferlegten Einschränkungen auch hinderlich für das Funktionieren einer Partei waren, gelang es den Liberalen dennoch, wichtige Beziehungen auf- und auszubauen, die zur Koordination ihrer Parteien beitrugen. Neben der ordentlichen Gesetzgebung hat die Vereinsgeschichte weitere Einschränkungen durch die sogenannten Ausnahmegesetze, die Katholische Kirche und die Sozialisten betreffend, Ende der 1870er und Anfang der 1880er Jahre erfahren. 3. Die parteipolitischen Gruppierungen der deutschen Liberalen Da Vereinswesen und Bundeswesen zu den verfassungsmäßigen Faktoren der deutschen Politik im 19. Jahrhundert zählten, lohnt es sich zu überprüfen, ob und inwieweit sie für das vorliegende Thema relevant sein können. 131 Eine neue Regelung des Vereins- und Versammlungswesens wurde erst mit dem Reichsgesetz vom 19. April 1908 getroffen. Bis dahin beschäftigte sich der Reichstag häufig mit dieser Frage. Vgl. Eugen Richter, Freiheit. Staatsrechtliche Literatur zum Thema: Karl Brater, Vereine (1867); ders., Vereine (1872); Heinrich Geffken; loachim Eberlein; lose! Baron; Friedrich Müller; Klaus Küchenhoff; Hans Til/mann; Alfons Hueber. 132 Zum Thema vgl. u. a. Carsten Albrecht. 133 In einer vergleichenden Perspektive auf Deutschland und Frankreich hat kürzlich Francesca Sofia das italienische Vereinsrecht am Ende des 19. Jahrhunderts im liberalen Italien untersucht und dabei interessante Überlegungen zur Diskussion gestellt. Sie legt dar, dass Deutschland und Frankreich schon Ende des 19. Jahrhunderts allgemeine Rechtsvorschriften im Vereinsrecht einführten, was Italien bis heute noch nicht verwirklicht hat. Das Resultat ist laut Sofia ein System, das zwischen der Bewahrung von Minderheitsrechten und der Fortsetzung der Staatskontrolle schwebt (Francesca Sofia, Diriuo).

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1. Kap.: Realpolitik und Organisation im deutschen Liberalismus

Wie Reinhart Koselleck feststellte, kann der Bundesbegriff durch Gegenbegriffe wie Verein, Gemeinschaft, Gesellschaft und Verband abgegrenzt werden. 134 Der Terminus Bund, fährt Koselleck fort, gehört zu einer älteren Gemeinschaftsform, die die Bundes- und Innungsformen der Stände miteinbezog. Einer moderneren Gesellschaft entsprechen daher eher Terminii wie Bündnis und Allianz. 135 Historisch gesehen kann der Bund seit Beginn des 19. Jahrhunderts als vorstaatlich, außerstaatlich, innerstaatlich, zwischenstaatlich und überstaatlich und im Spezialfall als bundesstaatlich interpretiert werden. Bündnis und Allianz füllen den Bundesbegriff nicht aus. Während mit dem Begriff Allianz meistens die territoriale Allianz gemeint ist, also ein Bündnis zwischen unterschiedlichen Entitäten, bezieht sich das Wort Bund auf die Einheit und vor allem auf die komplizierte Überlagerung von verschiedenen Ebenen oder Entitäten. Um zu erklären, was der Bund ist und welche Auswirkungen er auf die deutsche Geschichte hatte, beruft sich Thomas Nipperdey auf die Begriffe Depluralisierung und Neupluralisierung. Seiner Ansicht nach kann die moderne Welt als eine Welt der wachsenden Vielfalt oder Plur.alität beschrieben werden, wenn man den Akzent auf Reformation, Renaissance oder Aufklärung legt; sie kann aber als Welt der Vereinheitlichung verstanden werden, wenn man den Akzent auf Absolutismus und Revolution legt. 136 Modernisierer können radikal sein und sich zur Priorität der Vereinheitlichung bekennen, oder aber gemäßigt. Letztere nehmen für jede Depluralisierung der Voraussetzungen und Bedingungen "jenen kritischen Einwand von der Gefährdung wahrer Vielfalt durch Vereinheitlichung der Voraussetzungen ganz ernst."13? Als Beispiel für die gemäßigten Modernisierer zitiert Nipperdey die Liberalen, welche die alte Pluralisierung durch eine Neupluralisierung ersetzen wollten. So die treffenden Worte Nipperdeys: "Die Gewaltenteilung, der Föderalismus, die Selbstverwaltung, das Assoziationswesen sind berühmte Beispiele solch eingebauter und eingeplanter Neupluralisierung, das sind die checks and balances gegen die Uniformität der radikalen bloßen Individualpluralisierung. Dabei übernehmen die Liberalen sogar dies und das aus den Traditionspluralitäten, sie arrangieren sich realpolitisch mit dem Status quO."138 Das 19. Jahrhundert scheint daher von einer Dialektik geprägt, d.h. von dem, was Nipperdey Entpluralisierung und Neupluralisierung nennt. "Herkunft und Kampf für den Leistungs- und Individualpluralismus der Zukunft, das ist das Konzept der Frühliberalen wie ihres Verbündeten, des bürokratischen Staates. Der Angelpunkt ist bekanntlich die Rechtsgleichheit und die Eigentumsfreiheit, die Entfeudalisierung Vgl. Reinhart Kasel/eck, Bund. Dies ist für Koselleck Indikator der wachsenden Hoheitsrechte der Landesherrschaften, die das alte Reich auflösten (ebenda, S.209). 136 Thamas Nipperdey, Einheit. 1)7 Ebenda, S. 8. 138 Ebenda, S. 9. 134 135

H. Kategorien des politischen Organisationswesens im deutschen Liberalismus

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und Dekorporierung der Gesellschaft, die weitgehende Deregulierung der Privatsphäre. Das Ziel ist eine homogene Gesellschaft der pluralisierten Individuen."139

Die Neupluralisierung im Sinne des Bundesstaates ist ihrerseits von der dialektischen Spannung zwischen Einheit und Vielheit gezeichnet, wobei Letztere das Moment der Einheit auch verstärken kann. Der Bundesstaat stellt somit eine Verbindung her zwischen der Modernität, dem Parlament der Nation, und der Vergangenheit, dem Fürstenstand. 140 Die Bundesstaatlichkeit und das Vereinswesen stellten ein wichtiges Instrument für die Vermehrung und Anwendung von Ansehen 141 dar und waren demnach we139 Ebenda, S. 10. 140 In Bezug auf das deutsche Reich von 1871 fasst Thomas Nipperdey die neue Synthese folgendermaßen zusammen: "Der neue Staat verband unterschiedliche Traditionen und Prinzipien der mächtigen Kräfte der Zeit in einer kunstvollen, vielleicht künstlichen Synthese: die nationalunitarischen, die föderativen, die hegemonialen, die liberalen und die obrigkeitlich-antiparlamentarischen Prinzipien. Art und Funktion des deutschen Föderalismus von 1871 werden erst in diesem Zusammenhang deutlich" (Thomas Nipperdey, Föderalismus, S. 96). Wenn auch die Präambel der Verfassung von 1871 den neuen Staat als Bund der Fürsten und Städte definiert, so handelte es sich hierbei dennoch um keinen Fürsten- und Städtebund, wie Juristen, Politiker und Historiker gelegentlich daraus abgeleitet haben: "Reich, Reichsverfassung und ihre Organe (der Reichstag etwa) beruhten auf dem Zusammenhang von Fürsten, Regierungen und einzel- und gesamtstaatlichen Parlamenten" (ebenda, S.97). Als politisches und staatsrechtliches Hauptfaktum bleibt die Tatsache, dass das Deutsche Reich "ein Bund, eine Föderation von Gliedstaaten, ein Bundesstaat war" (ebenda, S.98). Zum Thema vgl. Oliver Jantl Pierangelo SchieralHannes Siegrist. 141 Verschiedene Werke und Autoren dienen in diesem Zusammenhang als Belege für die Anwendung des Begriffs des Ansehens. So wird hier auf Max Webers Werke, "Wirtschaft und Gesellschaft" und "Politik als Beruf", hingewiesen. Zutreffend scheint auch die "auf Respekt beruhende Gemeinschaft" (also "Deference Community"), die von D. C. Moore auf das England des 19. Jahrhunderts angewendet wird: ,Deference Community' ist für Moore "the community of men who lived in elose contact with another, who had the same occupation or were connected by the same ,interest', and - most important of all- who recognized the same individual, or individuals, as their social, economic and ideologicalleader or leaders( ... )" (D. C. Moore, S. 36). Das Ansehen ruft die ,,distinction" Pierre Bourdieus ins Gedächtnis, die sehr genau die Ebene der erstrebten sozialen und politischen Distinktion des Bürgers gegenüber anderen gesellschaftlichen "Schichten" beschreibt: ,,Bewußt eingeschlagene Strategien - in deren Verfolgung man sich zum einen von der (tatsächlich oder vermeintlich) niedrigeren Gruppe als einer Art Kontrastfolie absetzt und sich gleichzeitig mit der (tatsächlich oder vermeintlich) ranghöheren Gruppe identifiziert, die auf diese Weise zum Besitzwahrer des legitimen Lebensstils aufsteigt - tragen lediglich dazu bei, daß die automatische und unbewußte Dialektik von Seltenem und Gewöhnlichem, Neuem und Altem - eine Dialektik, die der objektiven Unterschiedenheit der Soziallagen und Dispositionen immanent ist- ihre volle Wirksamkeit erreicht, weil sie, was ohnehin geschieht, intentional verdoppelt" (Pierre Bourdieu, Unterschiede, S. 382). Und weiter: "Die, welche für ,distinguiert', für ,besonders' gelten, besitzen das Privileg, sich um ihr Anderssein keine Gedanken und keine Sorgen machen zu brauchen - in diesem Punkt ist auf die objektiven Mechanismen, Garanten ihrer Unterscheidungsmerkmale, nicht minder Verlaß wie auf ihr ,Gespür für Distinktion', das sie allem ,Gemeinen' aus dem Wege gehen läßt" (ebenda, S. 388). Das gilt aber auch für die Anfänge der neuzeitlichen Konzeption der Politik. Bei Montesquieu war die reputation der konstitutive Faktor der Politik: Im Jahre 1725 stellte er einen Un-

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1. Kap.: Realpolitik und Organisation im deutschen Liberalismus

sentliche Bestandteile liberaler Organisation. Das Ansehen war mit dem politischen Stil der Liberalen eng verbunden. Es handelte sich hierbei um einen Stil, der sich stark durch Momente der Se1bstrepräsentation, der Eigendarstellung, kennzeichnete. Diese Momente bestanden eher aus symbolischen denn aus institutionellen Elementen, die sich auf die Person bezogen und eine emblematische Vertretungskraft entfalteten. Von der Verwendung dieser Elemente, die von Kleidung und Haarschnitt bis hin zur Teilnahme an bestimmten Vereinigungen reichten, konnte eine beachtliche gesellschaftliche Anerkennung und Markierung der liberalen Führungspersönlichkeit abhängen. Der Herrschaftsbegriff erschöpft aber nicht die Kategorie des Ansehens: Zu dieser gehört auch der Beruf, der Familienname und nicht zuletzt die Geschicklichkeit der Person. Die organisatorische Struktur der liberalen Parteien war von historischen, technischen, politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten bedingt. Besonders das deutsche Siaaisleben hat die liberalt:n Parteien geprägt, indem Letztere gemäß dem föderalistischen Staatsaufbau auch föderalistisch organisiert waren. Wie die Kapitel über die liberalen Organisationsformen deutlich machen werden, stellten die verschiedenen politischen Zentren des Reichs mehrere Momente dar, die zur Erlangung und Festigung einer öffentlichen Legitimation beitrugen. Die relative Souveränität der Mitgliedsstaaten wurde zum Mittel für den Erwerb und die Festigung des Ansehens, da die Teilnahme der Parteimitglieder an den lokalen Institutionen der Mitgliedsstaaten (Landtage bzw. Stadtverwaltungen) ein wichtiges Element des Ansehens war. Zusammen mit dem Bundeswesen bildete die Form der Vereinsorganisation einen konstitutiven Faktor der Partei, insofern die Partei im Lande, d. h. die Partei, die außerhalb des Parlaments und durch Wahlvereine organisiert war, unmittelbar mit der bürgerlichen Gesellschaft in Verbindung trat. Die hohe Verbreitung des Vereinswesens, die große Teilnahme an seinen Sitzungen, die Vorträge von angesehenen Parteiführern beweisen, dass die Vereine, d. h. die hauptsächliche organisatorische Form der Basis der liberalen Parteien, ein wichtiges Moment bei der Vermehrung des Ansehens der Parteianhänger darstellten. Wegen der starken sozialdemokratischen Opposition und der oft oppositionellen Haltung der Fortschrittspartei gegenüber Bismarck wurde der Verein zum bevorzugten Instrument der Fortschrittler. Sie beriefen sich weniger auf das Bundeswesen als Mittel zur Verstärkung des Ansehens, und es bleibt die Tatsache festzuhalten, dass ihre Partei sich besonders um die Figur von Eugen Richter sammelte. Die Nationalliberalen hingegen bezogen sich stärker auf die Bundesstaatlichkeit. Das hat damit zu tun, dass sie ihre Partei vor allem auf personelle Beziehungen terschied zwischen consideration und reputation fest, wobei Erstere als private und Letztere als öffentliche Eigenschaft betrachtet wurden. Während die consideration die Schätzung persönlicher Qualitäten sei, sei die reputation eine zur Verfolgung politischer Ziele notwendige soziale Anerkennung (Louis Montesquieu).

H. Kategorien des politischen Organisationswesens im deutschen Liberalismus

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stützten, die ihrem Honoratiorenwesen entsprachen. Was schließlich die Sezessionisten betrifft, kann man bei ihnen von einer Synthese beider Formen sprechen: Als Mittel zur Förderung bzw. Vermehrung ihres Ansehens orientierten sie sich sowohl am föderativen Prinzip als auch am Verein, dem sie eine allgemeinere Struktur zu geben versuchten. Die Liberalen blieben sowohl länger als auch in stärkerem Maße Honoratiorenparteien 142 als die anderen großen Parteien. Eine Honoratiorenpartei zu sein bedeutete, dass nicht dauerhafte Organisationen die Partei zusammenhielten, sondern einflussreiche Personen, die in ein dichtes Netz von Bekanntschaften, Gremien, Vereinen, Provinzen und einzelnen Staaten eingebunden waren. 143 Zur Modernität des Liberalismus gehört vielleicht gerade die Fähigkeit, ein sozio-politisches Lager durch seine Werte und traditionellen Verbindungen auszubilden. Implizit liegt dieser Annahme zugrunde, dass die deutsche Gesellschaft sich damals durch Ansehen verständigte und handelte.

4. Partizipation und Leitung Im Hinblick auf die oben genannten Begriffe von Organisation und Partei kann abgeleitet werden, dass die Organisationsform der Partei besonders im Verhältnis zu ihrer Basis betrachtet werden muss. Die Ebene der Integration und der Äußerung divergierender Meinungen wird daher zum Schlüssel für die Auslegung der politischen Organisationsform, die hier in zwei verschiedene und sich ergänzende Momente unterteilt wird. Einerseits wird das Element der Partizipation hervorgehoben, d. h. eine mehr oder weniger starke Teilnahme der Parteianhänger an bedeutenden Ereignissen des Parteilebens. Andererseits wird das Element der Leitung dargestellt, nämlich die Seite der Parteiführung, deren Ansehen und politische Handlungsfahigkeit eine zentrale Bedeutung für die Lösung des Konflikts hatten. 142 "Honoratioren" - schreibt James J. Sheehan - "waren Amateure, die es sich leisten konnten, ein öffentliches Amt ohne finanzielles Entgelt zu bekleiden, und sie waren angesehene Persönlichkeiten, deren sozialer Status nicht durch ihre politische Rolle definiert wurde" (James J. Sheehan, Führung, S. 82). So auch Dieter Langewiesche: ,,Ein liberaler Politiker sollte gebildet sein, und er mußte sich Politik leisten können. Das erwarteten auch seine Parteifreunde und Wähler von ihm. Aus einer bekannten Familie zu stammen, war förderlich, ,Vererbung' der politischen Stellung nicht selten" (Dieter Langewiesche, Liberalismus [1988], S. 145). Ludovica Scarpa, die die Tätigkeit der Honoratioren in der Berliner Luisenstadt im 19. Jahrhundert erforscht hat, betont: "Als Honoratioren wurden jene Bürger geehrt, die sich der öffentlichen Angelegenheiten ihrer Gemeinwesen - scheinbar - uneigennützig annahmen. Selbstverantwortung, freier Ermessensspielraum und Überschaubarkeit aller ihrer Handlungen waren feste Spielregeln dieses Systems" (Ludovica Scarpa, Gemeinwohl, S.5). Und weiter: "Die Honoratioren bildeten einen Stand, dessen ökonomische Lage seinen Angehörigen eine gewisse Abkömmlichkeit vom Erwerbsleben einräumte (... )" (ebenda, S.4f.). Ein lebendiges Bild des Honoratiorenturns vermittelt das Buch von Lothar Gall über die Familie Bassermann: Lothar GaU, Bürgertum (1989). 143 Vgl. Dieter Langewiesche, Liberalismus (1988), S.145.

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1. Kap.: Realpolitik und Organisation im deutschen Liberalismus

Der Identifizierung dieser beiden Elemente in der Deutschen Fortschrittspartei, der Nationalliberalen Partei und der Liberalen Vereinigung sind die folgenden Kapitel gewidmet. Es wird ein Überblick über die allgemeine und nationale Dimension des Liberalismus gegeben und dargestellt, wie sich seine Organisation aus der Beziehung zwischen der in der Reichstagsfraktion sitzenden Parteileitung und der Basis entwickelt hat. Beide Seiten stellten keine getrennten Ebenen dar, sondern beeinflussten und inspirierten sich gegenseitig. Es handelt sich deshalb um eine eher typologische Unterscheidung, die es erlaubt, bestimmte Elemente des Parteilebens zu erfassen. Hat man erst einmal festgestellt, wodurch die Parteileitung sich kennzeichnet, wie sie funktioniert und welche Akteure die Szene beherrschen, dann werden auch die Beziehungen zwischen dem Zentrum und der Peripherie der Partei deutlich. Ausgehend von den Begriffen Organisation und Partei muss eine Untersuchung, die das Funktionieren der Partei zum Thema hat, gerade diese Verbindungen besonders betonen. Im Übrigen widmet sich die neuere Forschung einer Parteiengeschichte, die entweder nur die Handlung der Partei im Reichstag oder aber ihre Organisation und Tätigkeit in einem bestimmten Mitgliedsstaat untersucht. 144 Es handelt sich bei dieser Arbeit somit um eine neue Perspektive der Betrachtung, die eine Ergänzung der bereits vorliegenden Beiträge darstellen soll. Die Aspekte der Leitung und der Partizipation kommen in den drei Parteien unterschiedlich zum Ausdruck: Während das Moment der Leitung in der Fortschrittspartei klar festzustellen ist, sind die Beziehungen zwischen Zentrale und Peripherie in der Nationalliberalen Partei vielschichtiger ausgebildet. Die Liberale Vereinigung versuchte dagegen, überspitzt gesagt, eine Verbindung zwischen den beiden Typologien zu schaffen, wobei die formelle Arbeit der Vereinigungsorgane sich mit dem Verbindungsnetz der nichtformalisierten Beziehungen überlagerte. Wenn es sich auch um drei verschiedene Organisationsformen handelt, so gibt es dennoch viele Berührungspunkte, besonders hinsichtlich der gewählten Struktur. In diesem Zusammenhang wird jedoch besonders ein Idealtyp hervorgehoben, durch den eher die Unterschiede als die Analogien betont werden. Diese Vorgehensweise erlaubt es, ein Bild der liberalen Organisationsform aufzuzeigen, das über die Bezeichnung des liberalen Partei wesens als Honoratiorenpartei hinausgeht und seine Komplexität und Vielfältigkeit zum Ausdruck bringt.

144 So z. B. Anna G. Manca, Prassi; dies., Sfida; Thorsten Wehber; Thomas Kühne, Dreiklassenwahlrecht; ders., Liberalen; Ansgar Lauterbach, Reichstagsfraktion; Andreas Biefang, Fortschrittspartei (1996); ders., Fortschrittspartei (1997); Karl H. Pohl, Überlegungen.

Zweites Kapitel

Die Deutsche Fortschrittspartei 1878-1884 1 Die Geschichte der Deutschen Fortschrittspartei von ihrer Gründung im Jahre 1861 bis 1877(78 ist gekennzeichnet von einem Dualismus zwischen Kooperation und Opposition gegenüber dem preußisch-deutschen Reich, wobei sich ihre Opposition im Staat und nicht gegen den Staat entfaltete. Die Verwirklichung bzw. Entwicklung des Rechtsstaates sollte sich im Kontext des staatlichen Gefüges ergeben: Die Fortschrittspartei beteiligte sich am politischen Leben, ohne jedoch zur parlamentarischen Mehrheit beizutragen, und wirkte in entscheidenden Fragen der Wirtschafts-, Kulturkampf- und Rechtspolitik mit, wobei aber ein wesentlicher Bestandteil ihrer Politik auch die Opposition war. Nach zwanzig Jahren ihres Bestehens blieb die Deutsche Fortschrittspartei nach wie vor ihrem Programm treu: "Nicht fort mit dem Fürsten Bismarck ist die Parole der Fortschrittspartei, sondern für die Freiheit, für Deutschland mit dem Fürsten Bismarck. ( ...) Die Grundzüge deutschen Lebens und deutschen Wesens, das sei die Grundlage der Fortschrittspartei. Unser Programm ist die Sicherstellung der bürgerlichen Freiheit, die Hebung der materiellen und sittlichen Wohlfahrt des Volkes und Stärkung der Volksrechte. (... )"2

Die Behauptung, dass sich die Fortschrittspartei Bismarck unterwarf und damit ihre Ideologie verriet, 3 scheint daher übertrieben. Vielmehr trug das Bewusstsein, dass die Zusammenarbeit mit dem preußisch-deutschen Reich notwendig war, um ihren liberalen Entwurf zumindest teilweise zu verwirklichen, zu jener Kooperation bei, die somit im Zusammenhang mit dem Pragmatismus dieser Partei gesehen werden muss. Die Angst vor einer sozialen Revolution, verstärkt durch die Wahlniederlage und den entsprechenden Erfolg der Sozialdemokratie im Jahre 1877, machte die StelI Ein immer noch wichtiger Beitrag zur Geschichte der Deutschen Fortschrittspartei ist: Ursula Steinbrecher; Gustav Seeber, Bebel; ders., Fortschrittspartei. Zur neueren Literatur über die Fortschrittspartei gehören: Anna G. Manca, Prassi; dies., Sfida; Andreas Biefang, Fortschrittspartei (1996); ders., Fortschrittspartei (1997). 2 Rede des Abgeordneten Albert Träger, in: Volks-Zeitung. Organ für Jedermann aus dem Volke, Nr.244, v. 19.10.1881, in: BArch, N2008 (NL L. Bamberger), Bd. 237, B1.32. Albert Träger, (1830-1912), Preußischer Abgeordneter, Rechtsanwalt in Berlin, evangelisch. Studierte in Halle und Leipzig Rechts- und Staatswissenschaften. 1862 Rechtsanwalt in Cölleda, 1875 in Nordhausen, seit 1891 in Berlin. Mtg. des Reichstags 1874-1878 für Reuß i. L., 1880 für Berlin V., 1881-1884 Berlin IV, 1884-1887 für GTÜnberg-Freystadt. 3 So Gustav Seeber, Bebei, S. 8 ff.

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2. Kap.: Die Deutsche Fortschrittspartei 1878-1884

lung der Fortschrittspartei problematisch und veranlasste sie zur Reaktion. Man wollte sich nämlich einerseits Bismarck entgegensetzen und gleichzeitig die Bedrohung durch die Massen einschränken: So stimmte man dem Bismarckschen Sozialistengesetz aus prinzipiellen Erwägungen nicht zu, wobei zu dessen Ablehnung "eine sehr interessante Mischung von prinzipiellen und taktischen Motiven"4 beitrug; andererseits verzichtete man aber 1877/78 nicht auf eine antisozialistische Kampagne. Die Fortschrittspartei fürchtete die Vorherrschaft der Sozialdemokratie, was sogar dazu führte, dass sie die ideellen Prinzipien des Rechtsstaates zugunsten taktischer Maßnahmen vernachlässigte. Gerade in einer Zeit der Diskreditierung der wirtschaftlichen Ansätze des Liberalismus und im Anschluss an das Erreichen der mit der Staatseinheit verknüpften Ziele nahm die Fortschrittspartei eine Erneuerung ihrer Organisationsform in Angriff. Schon während der Reichstagssession von 1877 wurde eine Neuorganisation als dringend notwendig empfunden, zumal angesil;hLs eim:f Parieifüluung, die "in Partei angelegenheiten stets sehr lose und locker"s gewesen war. Besonders hinsichtlich der Bismarckschen Wende wurde die Dringlichkeit einer geschlossenen und starken Partei deutlich. Dies bezeugt z. B. ein Flugblatt der Fortschrittspartei für die Wahlen von 1881: "Die Fortschrittspartei ist der Meinung, daß die gegenwärtigen ungünstigen Erwerbsverhältnisse nicht zum Geringsten verschuldet werden durch das fortwährende Auftauchen neuer, die Grundlage vieler und großer Erwerbszweige in Frage stellender Projekte von neuen Steuern, Monopolen und wirtschaftlichen Umgestaltungen aller Art. Die Unsicherheit der Gesetzgebung schwächt das Vertrauen, lähmt den Unternehmungsgeist und verhindert die nutzbringende Verwendung von Kapital und Arbeit."6

Ein starker Reichstag war von daher erforderlich, um die konservative Wende zu stoppen. "Nur ein Reichstag, welcher selbständige Kraft und Bedeutung besitzt, nicht zwischen einer konservativ-klerikalen und konservativ-liberalen Mehrheit hin- und herschwankt, sondern von festen liberalen Grundsätzen geleitet wird, vermag der Nation Bürgschaft zu geben für eine kräftige Wahrung ihrer Interessen im vorgedachten Sinne, für die Rückkehr des öffentlichen Vertrauens, für ein Wiederaufleben von Handel und Wandel. Ein solcher Reichstag aber setzt als Eckpfeiler voraus eine starke und geschlossene Fortschrittspartei. Einen solEbenda, S.48. Eugen Richter, Reichstag, S.23. Eugen Richter, (1838-1906), Politiker und Schriftsteller, speziell volkswirtschaftliche Schriften. Stadtverordneter. Begründer der Freisinnigen Zeitung, Mtg. des konstituierenden Reichstages u. des Reichtages (Fortschrittspartei, dann Deutsche Freisinnige Partei, später Freisinnige Volkspartei), Mtg. des preuß. Abg.hauses. Leiter der Fortschritts- später der Deutschen Freisinnigen Partei. Entschiedener Gegner Bismarcks, mit großem Einfluss auf Presse und Reichstag. Evangelisch. Über Richter vgl. Franz Mehring, Richter; Felix Rachfahl, Richter (1908); ders., Richter (1912); Hermann Pachnicke, S. 25 ff.; Ralph Raico. 6 Die deutsche Fortschrittspartei und die nächsten Reichstagswahlen, o. D. (1881), in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Polizeipräsidium, Tit. 94, Nr.14070, BI. 60-61rv. 4

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I. Momente und Elemente der Partizipation

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chen in den Wahlen von 1881 zu schaffen, hat sich die Fortschrittspartei durch Vervollkommnung ihrer Organisation und Verbreitung einer planmäßigen Agitation seit 1878 in jeder Richtung angelegen sein lassen. ( ... )" 7

Deshalb war die Einheit der Partei eine zentrale Vorbedingung für ein positives Wahlergebnis der Fortschrittler: Betrachtet man den Ausgang der Wahlen, bei denen die Stimmen im Vergleich zu 1878 verdoppelt wurden, zeigt sich, dass die Partei durch die Stärkung der Organisation den gewünschten Erfolg erzielt hatte. Von 6,7% der Stimmen im Jahre 1878 konnten die Fortschrittler ihren Anteil auf 12,7% im Jahre 1881 verbessern, wobei die Wahlbeteiligung von 63,4 % auf 56,3 % gefallen war. 8

I. Momente und Elemente der Partizipation Die Jahre 1877 und 1878 können daher als Einschnitte in der Geschichte der Deutschen Fortschrittspartei interpretiert werden, die nun eine bewusste und systematische Neukonstituierung auf der Grundlage eines neuen Programms und Organisationsstatuts anstrebte. Diese Erneuerung war wichtig für die Partei, weil die Fortschrittler - wie alle Liberalen - durch die nationale Einheit Deutschlands ihre konstitutiven Ziele erfüllt hatten und daher wichtige Elemente ihrer früheren Mobilisierungskraft an Wirksamkeit verloren. Das war außerdem verhängnisvoll für die politische Stärke der Fortschrittspartei, weil sie sich nun, mehr denn je, mit den Folgen des allgemeinen, gleichen und unmittelbaren Wahlrechts auseinandersetzen musste. Wenn auch das Sozialistengesetz den Zugang der breiten Masse in die Politik beschränkte und verzögerte, führte das Wahlrecht dennoch zur Politisierung bzw. Mobilisierung der Massen. Neben dem allgemeinen Wahlrecht brachten das System der Wahlzettel,9 der Mehrheitswahl und der Stichwahlen ein Erstarken der Organisation der politischen Parteien mit sich, auf das die Liberalen mit einer Umwandlung ihrer Struktur reagieren mussten. Diese Umstrukturierung war von größter Bedeutung, da das Fortbestehen der alten Wahlkreiseinteilung eine massive Übervorteilung des ländlichen gegenüber dem städtischen Deutschland, der Konservativen und des Zentrums gegenüber den Liberalen (vor allem aber den Sozialdemokraten) bedeutete. Ebenda. Gerhard A. Riuer/Merith Niehuss, S. 39. 9 Der Wähler brachte einen Wahlzettel mit ins Wahllokal, den er ausfüllte, faltete und in die Urne warf. Da die Verteilung der Wahlzettel den Parteien überlassen wurde, waren sie gezwungen, sich im Lande zu verbreiten. Dies war deshalb ein wichtiger Antrieb zur Organisation der Partei und zur Beeinflussung der Wahlen. Wenn auch das System der Wahlzettel die geheime Stimmabgabe gefährdete, so gibt die Forschung doch ein Bild von relativ freien Wahlen wieder. Vgl. dazu Thomas Nipperdey, Geschichte, Bd.2, S.498f.; Margaret L. Anderson, S.45ff. Im Besonderen gibt Margaret Lavinia Anderson eine neue Intepretation des allgemeinen Reichswahlrechts. Das Reichswahlsystem hatte eine demokratische Praxis eingeführt, was Deutschland in seinem "practicing democracy" nicht weniger modem als andere europäische Länder machte. 7

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2. Kap.: Die Deutsche Fortschrittspartei 1878-1884

Was die Fortschrittspartei im Besonderen betrifft, so stellte das Stichwahlsystem einen bedeutenden Nachteil für sie dar: Die Kompromisse mit anderen Parteirichtungen, die die Stichwahl mit sich brachte, mussten nämlich der Fortschrittspartei zwangsweise schaden, da sie Kompromisse generell nur sehr widerwillig schloss. Auf das Ende der liberalen Ära, auf die Folgen des Reichstagswahlrechts und auf die entsprechende Organisation der Sozialdemokratie antwortete die Fortschrittspartei mit der Umwandlung ihrer Organisation, die vorrangig auf eine stärkere Verbindung und Kommunikation zwischen den Parteimitgliedem selbst sowie zwischen diesen und der Parteiführung hinauslief. Das war das wesentliche Merkmal der neuen fortschrittlichen Parteiorganisation, die auf der Entwicklung bzw. Konsolidierung von Instrumenten wie dem Programm, dem Parteitag, dem Vereinswesen, der Leitung, der Presse und den informellen Beziehungen beruhte.

1. Das Programm und seine Entwicklungen in den Jahren 1861-1878 In diesem Zusammenhang wird zunächst die Bedeutung des Programms als Integrationsmittel der Partei betont, wo Meinungen ausgetauscht und eventuelle Konflikte ausgelöst wurden. Da die Partei von der föderalistischen Struktur des Reichs tief geprägt war, hatte das Programm für die Koordination zwischen den verschiedenen Teilen der Partei große Bedeutung. Bei Landtagswahlen z. B., die einem bestimmten Wahlrecht und besonderem Wählerverhalten unterworfen waren, konnte die Verabschiedung des Parteiprogramms eine conditio sine qua non für Wahlbündnisse zwischen unterschiedlichen Richtungen des Liberalismus sein. Dies brachte ein liberaler Urwähler 1878 in seinem Schreiben an den Partei führer und Bürgermeister von Berlin, Max von Forckenbeck, anschaulich zum Ausdruck: 10 "Herr Bürgenneister, soll die liberale Partei nicht völlig desorganisiert bei den Landtagswahlen erscheinen, so ist es durchaus nothwendig, daß ein Parteiprogramm erscheint. In demselben muß betont werden, daß die wirtschaftlichen Fragen, die stets dem Reichstag gehören, 00. (?) zum Abschluß gekommen sind. (00') Um solch ein Programm, mit Namen von guten Liberalen klar ausgestattet, wird sich bald eine liberale Partei sammeln. Obwohl ich zur Fortschrittspartei gehöre, erwünschte ich doch, daß ein Aufruf von Ihnen, von nationalliberaler Seite ausging. (... )" 11 10 Max von Forckenbeck, (1821-1892). Zu von Forckenbeck vgl. das dritte Kapitel über die Nationalliberale Partei. 11 Liberaler Urwähler an Forckenbeck. 0.0., o.D. [1878], in: GSPK, NL M. von Forckenbeck, Rep.92, B2/m, BI. 193-194. Es handelte sich um die preußischen Landtagswahlen von 1879, die dem sogenannten Dreiklassenwahlrecht unterworfen waren. Entscheidend war hierbei die Tatsache, dass das Wahlrecht ungleich war, da das Gewicht der Stimme von der Steuerleistung abhing. Die Steuerleistung einer Gemeinde oder, bei sehr kleinen Gemeinden, eines Bezirks wurde gedrittelt: die Wähler, die das erste Drittel aufbrachten, bildeten die erste Klasse, die des zweiten Drittels die zweite, der Rest die letzte. Das preußische Wahlrecht war nicht geheim, denn die Stimmen

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Bis 1878 hatte die Partei kein anderes Programm gehabt als jenes vom 9. Juni 1861, das selbstverständlich im Jahr 1878 als überholt erscheinen musste. Dies sollte nun in "eine neue, den politischen Veränderungen Deutschlands angepaßte Form" 12 gebracht werden, denn das politische Manifest von 1861 hatte sich vor allem auf die Frage der Einheit Deutschlands konzentriert und war dabei der Einsicht gefolgt, der Nationalstaat müsse im Kontext einer preußischen Hegemonie entstehen: "Bei den großen und tiefgreifenden Umwälzungen in dem Staatensysteme Europas haben wir ( ... ) nicht minder die klare Einsicht gewonnen, daß die Existenz und die Größe Preußens abhängt von einer festen Einigung Deutschlands, die ohne eine starke Zentralgewalt in den Händen Preußens und ohne gemeinsame deutsche Volksvertretung nicht gedacht werden kann."13

Das Programm vom 25. November 1878 14 strebte nun nach der Festigung des "verfassungsmäßigen Bodens des Bundesstaates,"IS was im Jahre 1861 noch völlig unvorstellbar war. Unitarismus bedeutete für die Deutsche Fortschrittspartei nicht Zentralismus,16 d. h. die relative Hoheit der Bundesstaaten musste mit der nationalen Ebene des Reichs in Einklang gebracht werden. Hierin liegt im Übrigen eine Erklärung dafür, warum die Liberalen für den Bundesstaat und nicht für den Staatenbund eintraten: Letzterer war sehr eng mit der Souveränität des Fürsten bzw. des Staates verbunden. So traten die Liberalen für den Föderalismus ein, der die Vertrewurden offen abgegeben, und es war nicht direkt, sondern indirekt: Der Wähler ("Urwähler") wählte zunächst Wahlmänner, die dann erst die eigentlichen Kandidaten wählten. Für das Wahlrecht Preußens sind die Arbeiten von lllOmas Kühne wichtig: Thomas Kühne, Dreiklassenwahlrecht; ders., Liberalen. Vgl. dazu Kap. 5, S.193ff. 12 Erster Parteitag der deutschen Fortschrittspartei, in: Die Post (1878). LHA Potsdam, Pr. Br. Rep.30, Berlin C, Polizeipräsidium, Tit. 95, Nr. 15131, BI. 14-15 rv. 13 Gründungsprogramm der Deutschen Fortschrittspartei. Berlin, 9. Juni 1861, in: Wolfgang Treue, S.52f. 14 In der Tat wurde bereits im Februar 1877 in den Vereinen der Fortschrittspartei die Frage eines neuen Programms aufgeworfen (Ursula Steinbrecher, S. 31ff, S. 183 u.223. Über den Entstehungsprozess des Programms vgl. auch Gustav Seeber, Bebel, S. 20ff.; S.50ff.). 15 Programm der deutschen Fortschrittspartei (festgestellt auf dem ersten Parteitage der deutschen Fortschrittspartei), Berlin, 25. November 1881 (aber 1878), in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Polizeipräsidium, Tit. 94, Nr. 14070, BI. 102. Das Programm wurde von der Fortschrittspartei weit verbreitet. Dies geschah mittels Flugblättern (neben dem oben genannten Programm z.B. durch: Die deutsche Fortschrittspartei und die nächsten Reichstagswahlen, o. D. [1881], in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Polizeipräsidium, Tit. 94, Nr. 14070, BI. 6O-61rv.), durch den Vereinskalender von 1882 (Vereinskalender der Deutschen Fortschrittspartei zum Handgebrauch für das Jahr 1882, Berlin 1882, in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Polizeipräsidium, Tit. 95, Nr. 15131) und durch die Parlamentarische Korrespondenz. Das Programm findet man heute abgedruckt u. a. in: Wolfgang Treue und Wilhelm Mommsen, Parteiprogramme. 16 Im Jahre 1878 gab es eine Polemik in der fortschrittlichen Vossischen-Zeitung gegenüber der Nationalliberalen Korrespondenz, welche in der Nationalliberalen Partei eine "centralistische Strömung" wahrnahm. Die Zeitung interpretierte diese Strömung als unitaristisch und kritisierte sie deshalb, wobei die Fortschrittspartei für "eine Erweiterung der Rechte des Reichs" in keinem unitarischen Kontext eintrat (Vossische-Zeitung, Nr.269, v. 15.11.1878, in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Polizeipräsidium, Tit. 94, Nr. 14070, BI. 18).

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2. Kap.: Die Deutsche Fortschrittspartei 1878-1884

tung der Nation durch den Reichstag sicherstellte und den Ländern bestimmte Zuständigkeitsgebiete überließ. 17 Wenn daher im Jahre 1861 die Fortschrittspartei "in dem doppelten Kampfe um die Einigung des deutschen Vaterlandes und um die Wahrung der verfassungsmäßigen Rechte der Volksvertretung" entstanden war, hatte sie jetzt zum obersten Ziel, "dem deutschen Staatswesen immer festere Grundlagen zu schaffen durch Sicherstellung der bürgerlichen Freiheit, durch Hebung der sittlichen und materiellen Wohlfahrt des Volkes, durch Kräftigung der konstitutionellen Rechte seiner Vertretung ( ... )." 18 Die Fortschrittspartei trat entschieden für die Förderung des Freiheitsprinzips ein, was eine Stärkung des Reichstags mit sich brachte und, wie im Gründungsprogramm von 1861 verankert, 19 nach der Schaffung einer verantwortlichen Regierung verlangte: "Die Entwicklung der parlamentarischen Verfassung durch Kräftigung der Rechte des Reichstages, und durch Einrichtung eines demselben verantwortlichen Reichsministeriums. (... ) Gewährung von Diäit!n an dit! Rt!il:hSlagsmitglieder."20 In einer Broschüre von ca. 1881 erklärte die Deutsche Fortschrittspartei ihre ablehnende Haltung gegenüber der Verfassung des Norddeutschen Bundes, gerade weil diese die von der Partei angestrebten Ziele nicht anerkannt hätte: "Allerdings hat die Fortschrittspartei 1867 gegen den Entwurf der Verfassung des norddeutschen Bundes gestimmt. Es geschah dies, weil die Verfassung im Gegensatz zu den Verfassungen der Einzelstaaten kein verantwortliches Ministerium enthielt, das Budgetrecht in Bezug auf die Einnahmebewilligung und den wichtigen Militäretat beschränkt war, den Abgeordneten die Diäten entzogen waren. Die Ablehnung der Verfassung wegen der Minderung der Volksrechte in derselben geschah nicht in dem Sinne, weil die deutsche Fortschrittspartei die deutsche Einheit nicht wollte, sondern in dem Bewußtsein (... ), daß das Bündnis und die Einheit vollständig an sich feststeht, daß es aber besser ist, es wird dem Reichstag ein neuer Verfassungsentwurf vorgelegt. ,,21

Beabsichtigt war außerdem sowohl die Erhaltung "des allgemeinen, gleichen, directen und geheimen Wahlrechtes ( ... )" als auch die volle Verwirklichung "des Rechtsstaates, insbesondere Gleichheit vor dem Gesetze ohne Ansehen des Standes 17 Nach Thomas Nipperdey traten die Liberalen für die föderalistische Lösung ein, weil sie den Kontinuitäten und dem Erbe der deutschen Tradition verpflichtet waren (Thomas Nipperdey, Föderalismus, S. 88). Die liberale Wahl der föderalistischen Struktur kann damit erklärt werden, daß die Honoratioren besser durch die Einzelstaaten als durch deren Einheit ihre Macht bzw. ihre Freiheit wahren konnten. 18 Vossische-Zeitung, Nr.269, v. 15.11.1878, in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep.30, Berlin C, Polizeipräsidium, Tit. 94, Nr.14070, BI. 18. 19 "Wir verlangen dann weiter endlich Erlaß des in Art. 61 der Verfassung in Aussicht gestellten Gesetzes über Verantwortlichkeit der Minister" (Gründungsprogramm der Deutschen Fortschrittspartei. Berlin, 9. Juni 1861, in: Wolfgang Treue, S. 52). 20 Programm der deutschen Fortschrittspartei (festgestellt auf dem ersten Parteitage der deutschen Fortschrittspartei). Berlin, 25. November 1881 [aber 1878], in: LHA Potsdam, Pr.Br. Rep.30, Berlin C, Polizeipräsidium, Tit. 94, Nr. 14070, BI. 102. 21 Die Deutsche Fortschrittspartei und die nächsten Reichstagswahlen, o. D. [1881], in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Polizeipräsidium, Tit. 94, Nr. 14070, BI. 60-61rv.

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und der Partei; Aburtheilung von politischen und Preß vergehen durch Geschworene; Sicherung der Preß-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit."22 Die Öffnung der Partei gegenüber demokratischen Forderungen begleitete ihre Angst vor der Sozialdemokratie. So lautete eine Rede von Rudolf von Virchow über das neue Programm auf dem ersten Parteitag der Fortschrittspartei: "Die Sozialdemokraten und ihre Stimmen wollen wir nicht haben, der Sozialdemokrat, der mit Bewußtsein kein Ziel verfolgt, ist unser direkter Gegner, mehr noch als ein Konservativer. (00') Wir müssen als unabhängige Männer uns nach oben gegen die Regierung, nach unten gegen die die Gesellschaft bedrohenden Massen richten. (00') Wir wollen auch nicht auf die wankelmüthigen Männer der Bourgeoisie rechnen, auf die Männer des großen Kapitals, die wir 1862-64 auch hatten; wir müssen unsere Unterstützung nach rechts suchen aus denjenigen Personen, die in der Gesellschaft eine gewisse Bedeutung haben."23

Auf diese Weise bestätigte die Partei ihren bürgerlichen Ursprung und erkannte diejenigen, die über eine gewisse soziale Legitimation (also über Ansehen) verfügten, als ihre Vertreter an. Die Fortschrittspartei stimmte gegen das Sozialistengesetz,24 das gerade im Jahre 1878 verabschiedet wurde. Es fehlte nicht an Parteimitgliedem, die die Bedeutung 22 Programm der deutschen Fortschrittspartei (festgestellt auf dem ersten Parteitage der deutschen Fortschrittspartei). Berlin, 25. November 1881 [aber 1878], in: LHA Potsdam, Pr.Br. Rep.30, Berlin C, Polizeipräsidium, Tit. 94, Nr.14070, BI. 102. 23 Erster Parteitag der deutschen Fortschrittspartei, in: Die Post (1878). LHA Potsdam, Pr. Br. Rep.30, Berlin C, Polizeipräsidium, Tit. 95, Nr. 15131, BI. 14-15 rv. Der Kampf gegen die Sozialdemokratie kam auch in einem Aufruf der deutschen Fortschrittspartei zur Reichstagswahl von 1878 klar zum Ausdruck, wobei dies ,,keine neue Aufgabe" für die Fortschrittspartei darstellte. "Sie hat von jeher in der fordersten Linie des Kampfes gegen die Sozialisten gestanden. Von dem ersten Auftreten Lassalle's gegen Schulze-Delitzsch an bis an die letzten Tage des aufgelösten Reichstages ist sie stets einer Partei entgegentreten, von der sie sofort erkannte, daß deren Bestrebungen unvereinbar seien mit der politischen und gesellschaftlichen Ordnung der Nation, verderblich für die wirtschaftliche Entwickelung und die Freiheit des Ganzen, wie jedes Einzelnen. Die Fortschrittspartei hat den Kampf gegen die Sozialdemokratie aufgenommen zu einer Zeit, wo es noch zweifelhaft erschien, ob nicht die Regierung sich des Beistandes derselben gegen die Liberalen versichern wollte. (00') Aber die Fortschrittspartei muß es ablehnen, den Gegensatz der Klassen, wie ihn die Sozialdemokratie thatsächlich aufreißt, gesetzlich anzuerkennen ( ... )" (Wahlkorrespondenz, Nr. 1, v.18.6.1878). 24 Das Gesetz galt von 1878 bis 1890. Es ermächtigte die Behörden zum Verbot von Vereinen und Versammlungen, Druckschriften und deren Verbreitung, Geldsammlungen und allen anderen Aktivitäten, die sozialistische Bestrebungen oder den Umsturz der bestehenden Ordnung zum Ziel hatten. Zu betonen ist auch die Tatsache, dass die Polizei, d. h. die verwaltungsmäßige, politische Macht und nicht die richterliche Gewalt das Recht hatte, die Anwendung und Ausführung des Gesetzes zu bestimmen. Die Sozialdemokraten konnten aber kandidieren, Wahl- und Parlamentsreden halten, was bedeutete, dass sie aus der Verfassungspraxis nicht ausgeschlossen waren. Obwohl sie zu Verfassungs-, Staats- und Gesellschaftsfeinden erklärt wurden, wobei auch ihre bürgerliche, private Existenz stark behindert war, konnte die Partei fortbestehen und öffentlich wirken. Die mögliche Wahlbeteiligung bot ständige Anknüpfungspunkte für organisierte Verbindungen im Wahlkreis: Es handelte sich hierbei nicht nur um Ersatzverbindungen, wie z. B. gesellige Skat-, Rauch- oder Bildungsklubs, sondern auch und vor

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2. Kap.: Die Deutsche Fortschrittspartei 1878-1884

einer Strategie der Integration gegenüber der roten Gefahr betonten, indem sie eine größere Beachtung der sozialen Frage forderten. So enthielt das neue Programm laut einiger Teilnehmer des ersten Parteitags eine "ungenügende Berücksichtigung der sozialen Frage,"25 die aber Eugen Richter seinerseits verkannte und mit bürgerlichen Phrasen beantwortete. 26 Die im Programm gestellten Forderungen fanden ihre Umsetzung in der Organisation, welche für die Bestimmung der konkreten politischen Ziele und Maßnahmen grundlegend war. 27 Nach dem Eintreten für die Einheit und nach der liberalen Ära, die ihre Kraft in der ,Macht der Ideen' 28 gefunden hatte, sah sich die Fortschrittspartei nun mit der Opposition ihrer politischen Gegner, mit der Öffentlichkeit und mit den Regeln des politischen Spiels konfrontiert, was einen neuen organisatorischen Entwurf erforderlich machte. Obwohl sich in dem Partei programm keine Hinweise mehr auf die Machtkonzentration Preußens fanden, die welterhm existierte, lehnte die Partei ihren preußischen Ursprung nicht ab: Sie blieb de facto und organisatorisch stark borussisch ausgerichtet. Das Verfahren der Programmverabschiedung zeigt sowohl die zentralisierte und borussische Leitung der Partei als auch ihre demokratische Neigung: Im Kontrast zu dem Programm, das auf Richters Initiative von der Reichstagsfraktion und von der Fraktion im preußischen Abgeordnetenhauses vorgelegt wurde, wurden auf dem Parteitag andere Programmentwürfe aufgestellt. Als Parteivertreter aus Berlin, Dortmund, Leipzig und Magdeburg mit eigenen Entwürfen auftraten, kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung, wobei es der Parteiführung gelang, ihr Programm durchzusetzen. 29 Dieses Verfahren bestätigt außerdem die Rolle des Parteitages als wichtiges Integrationsmoment der Partei. Mit dem Organisationsstatut wurden die bisherigen Leitungsverhältnisse legitimiert und das Zentralwahlkomitee zum entscheidenden Organ der Partei erklärt. Im Anschluss an die schon bestehende Ordnung wurde die Gesamtheit der parlamentarischen Vertreter als Zentralwahlkomitee konstituiert und ein geschäftsführender allem um geheime Verbindungen. VgI. u. a. Thomas Nipperdey, Organisation (1961), S. 306 ff.; ders., Geschichte, Bd. 2, S. 398 ff. Zur Rekonstruktion der parlamentarischen Debatte über das Sozialistengesetz vgI. Marina Cattaruzza. 25 VgI. Eugen Richter, Reichstag, S. 86. 26 So Eugen Richter in einer Rede: ,,Eine besondere soziale Frage( ... ) existirt für uns nicht. Die soziale Frage ist die Gesamtheit aller Kultur/ragen. Eine Partei, an deren Spitze Männer wie Schulze-Delitzsch stehen, hat es nicht nötig, ihre sozialen Bestrebungen noch besonders zu betonen. Die Fortschrittspartei ist (... ) eine Fortsetzung nicht bloß der demokratischen Partei von 1848; 1861 haben sich in Preußen Demokraten und Konstitutionelle geeinigt, den alten Zwist fahren zu lassen, und deshalb die deutsche Fortschrittspartei begründet (... )" (ebenda, S.86f.). 27 ,,Zur Durchführung des Programms hat der Parteitag von 1878 der Fortschrittspartei eine bestimmte Organisation gegeben" (Die Deutsche Fortschrittspartei. [Flugblatt 1883?], in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Polizeipräsidium, Tit. 94, Nr. 14070, BI. 236). 28 VgI. Ludwig von Rochau, S.45. 29 Über diese Debatte ausführlich Gustav Seeber, Fortschrittspartei, S.640ff.

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Ausschuss 30 von fünf Personen bestellt. 31 Die Systematisierung der Organisation im Statut vollendete die parteipolitische Aufspaltung des Gesamtliberalismus: Organisationsänderungen, so auch eventuelle Zusammenschlüsse mit anderen Teilen des Liberalismus, waren von nun an der verabschiedeten Disziplin des Statuts unterworfen, was das Programm zum Kristallisationspunkt der Organisationsgeschichte der Partei machte. Das Programm von 1878 32 blieb lange Zeit unverändert und stellte die Basis für andere Entwicklungen dar. So gab die Parlamentarische Korrespondenz von 1880 die Einberufung eines neuen Parteitages bekannt, der auf der Grundlage des Programms von 1878 "ein besonderes Programm für die Aufgaben des Reichstags in der Legislaturperiode 1881/84" formulieren sollteY

2. Der Parteitag als Ort der Konfrontation Ausgangspunkt der Neuorganisation der Fortschrittspartei auf der Grundlage eines neuen Programms war der Berliner Parteitag vom 24.-26. November 1878. Er wurde von Eugen Richter einberufen und von führenden Parlamentariern, von Vertretern örtlicher Organisationen und von Journalisten - insgesamt 249 Personen - besucht: "Bei diesem Parteitag waren 91 Wahlkreise vertreten und zwar durch 89 derzeitige und frühere Abgeordnete der Partei, 132 Delegierte fortschrittlicher Versammlungen und 28 Redakteure und Verleger fortschrittlicher Zeitungen."34 Seine Einberufung war notwendig, damit das von Reichstagsfraktion und Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus entworfene Programm- und Organisationsstatut geprüft und verabschiedet werden konnte. Kurz vor dem Parteitag von 1878 wurde in der Parlamentarischen Korrespondenz ein Entwurf des Programmes und der Organisation den Teilnehmern des Parteitags vorgestellt. Was die Organisation betrifft, so wurde entschieden, dass "ein allgemeiner Parteitag der Fortschrittspartei (... ) innerhalb jeder Legislaturperiode des Reichstags mindestens einmal zu berufen [ist]. Die Berufung liegt dem Zentralwahlkomite, eventuell nach Maßgabe der vom letzten Parteitag darüber gefaßten Beschlüsse ob. Zur Theilnahme am Parteitag sind berechtigt: die gegenwärtigen und die früheren Mitglieder des Reichstages und der Einzellandtage, welche zur Partei gehören, die zur Partei gehörenden Redakteure und Verleger fortschrittlicher Zeitungen, die Delegierten von Parteiversammlungen. Die Zahl der Letzteren darf für jeden Reichswahlkreis fünf nicht übersteigen."H 30 Indem der geschäftsführende Ausschuss jährlich in der Parlamentarischen Korrespondenz Bericht über die Verwendung der ParteigeJder erstatten musste, sicherte er die Transparenz der inneren Parteiprozesse. 31 Vgl. Eugen Richter, Reichstag, S. 85-90. 32 Vgl. dazu auch Ursula Steinbrecher, S.40f. 33 Parlamentarische Korrespondenz, Nr.3, v.26.3.1880. 34 Die deutsche Fortschrittspartei und die nächsten Reichstagswahlen, o. D. [1881], in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Polizeipräsidium, Tit. 94, Nr. 14070, BI. 60-61 rv. 35 Parlamentarische Korrespondenz, Nr.24, v.8.11.1878.

5 Cioli

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2. Kap.: Die Deutsche Fortschrittspartei 1878-1884

Der Parteitag nahm den Vorschlag bis auf die Änderung an, dass "ein allgemeiner Parteitag der Fortschrittspartei nach Bedürfnis zu berufen [sei] ( ... ).,,36 Auf dem ersten Parteitag von 1878 wurde auch beschlossen, dass derartige Zusammenkünfte zur Beratung der Parteiangelegenheiten dienen sollten: "Dem Parteitag ist vom Centralwahlkomite Bericht über die Partei bewegung im ganzen Reiche und über die Verwendung der Parteigelder zu erstatten.'037 Die Teilnahme an organisatorischen und programmatischen Fragen der gesamten Partei stellte eine demokratische Öffnung in der linksliberalen Organisation dar. Der Parteitag wurde daher zum Ort der Kommunikation zwischen Leitung, Partei und Mitgliedern: Auf diese Weise galt er als Integrationsmoment divergierender Vorstellungen und stellte die Verbindung zwischen Fraktion und Partei im Lande sicher. 38 Schließlich wurde dann 1878 der Parteitag auch zum Zweck der Mobilisierung einberufen: "Der Parteitag empfiehlt dringend die Bildung von Wahlvereinen der Fortschrittspartei in allen Reichswahlkreisen; er fordert alle für die Agitation und Organisation der Partei thätigen Parteimitglieder zum Abonnement auf die Parlamentarische Korrespondenz auf, ersucht die Wahlvereine, für alle ihre Mitglieder auf dieselbe zu abonniren und bittet die Parteigenossen, sich die Verbreitung der von der Partei herausgegebenen Broschüren (Politische Zeitfragen) wie die Unterstützung der im Sinne der Partei redigirten Zeitungen angelegen sein zu lassen."39

Außer dem allgemeinen Parteitag sah das organisatorische Statut von 1878 ebenso Provinzialparteitage vor, die mehrere Reichstagswahlkreise koordinierten: Ein ad hoc gegründeter Provinzialausschuss hatte die Kompetenz, die Provinzialpartei36 V gl. Der erste Parteitag der deutschen Fortschrittspartei, S. 56. In der Parlamentarischen Korrespondenz vom 8.11.1878 wurde auch das Verfahren für die Wahl der Delegierten für den bevorstehenden Parteitag sehr genau bestimmt: "Wo Wahlvereine der Fortschrittspartei bestehen, schließt sich zweckmäßig unmittelbar an einen während der Sitzung des Wahlvereins bezw. an einen darin gehaltenen allgemeinen politischen Vortrag die Versammlung an, in der die Delegierten gewählt werden. Da an dieser Versammlung auch die nicht zum Wahlverein gehörenden Parteigenossen - welche der Sitzung des Wahlvereins als Gäste beigewohnt haben - Theil nehmen, so ist vor der Wahlhandlung zur Wahl eines Vorsitzenden aufzufordern. (... ) Wo keine Wahlvereine der Fortschrittspartei bestehen, die Fortschrittspartei aber ansehliche Verbreitung hat, wird zu einer Versammlung der Fortschrittspartei von dem Vorsitzenden oder von einem Mitglied des letzten Wahlkomites durch die Zeitung eingeladen und schließt sich dann die Wahlhandlung zweckmäßig einem Vortrag über die Fortschrittspartei, die letzte Reichstagssession und den Parteitag an. Wo die Fortschrittspartei nur sporadlich verbreitet ist, übernimmt es ein Anhänger derselben, die ihm als Gesinnungsgenossen bekannten Männer aus dem Wahlkreise zu einer privaten Besprechung über die Verschickung des Parteitags einzuladen. Auf die Zahl der Theilnehmer an den Wahlhandlungen kommt es für die Gültigkeit der Delegiertenlegitimation nicht an. Alle diese Zusammenkünfte und Besprechungen sind aber geeignet, auch im Uebrigen die Organisation und Agitation für die Fortschrittspartei zu fördern" (Parlamentarische Korrespondenz, Nr.24, v. 8.1 1.1878). 37 Der erste Parteitag der deutschen Fortschrittspartei, S. 56. 38 So auch Thomas Nipperdey, Organisation (1961), S.198f. 39 Der erste Parteitag der deutschen Fortschrittspartei, S.56.

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tage einzuberufen und ihre Beschlüsse vorzubereiten. 40 Von Zeit zu Zeit versammelten sich "Parteigenossen aus dem Bereich größerer, mehrere Reichswahlkreise umfassender Bezirke zu Provinzialparteitagen oder Landesparteitagen. Die Berufung der Parteitage und die Vorbereitung ihrer Beschlüsse liegt einem Provinzialausschuss ob, zu welchem die Reichstags- und Landtagsabgeordneten des Bezirks gehören."4! Sie waren verantwortlich für die Vorbereitung der Landtags- und Reichstagswahlen, obwohl sie "hauptsächlich zum Zwecke eine vertrauliche Besprechung der Vertrauensmänner und Partei führer aus den einzelnen Wahlkreisen in Bezug auf die Auswahl von Kandidaten, die Stellung zu verwandten Parteien und die gegenüber schwebenden Fragen der Gesetzgebung in der Wahlbewegung einzunehmende Haltung"42 hatten. So wurde z. B. 1882 ein Parteitag für Nordwestdeutschland einberufen, dessen Tagesordnung "die Berichterstattung aus den einzelnen Wahlkreisen, die Resolutionen über politische Tagesfragen und die Besprechung über die Organisation, insbesondere über die Eintheilung Nordwestdeutschlands in mehrere Geschäftsbezirke der Partei"43 vorsah. Ausdrücklich betont wurde die Geschlossenheit des Parteitags, an dem nur Eingeladene teilnehmen durften,44 um störende und oppositionelle Elemente verhindern zu können. 45 In der Diskussion waren auch kritische Äußerungen gegenüber der Partei zu hören, die, wenn sie auch zu keiner Veränderung der grundSätzlichen politischen Konzeption der Partei führten, so doch zumindest wichtige Fragen aufwarfen. So wurden der Fortschrittspartei und ihrer Programmkommission von Kritikern vorgeworfen, dass sie zu sehr nach rechts tendierten. Es ging hierbei um die Forderung nach einer 40 Parlamentarische Korrespondenz, Nr.4, v. 1.5.1882. Da bis 1882 nur die Provinzialparteitage und nicht die Provinzialausschüsse eingeführt wurden, schlug die Korrespondenz vor: "In der Hauptsache wird (00') die Vorbereitung der Provinzialparteitage immer dem Lokalausschuß der Parteigenossen am Ort des Parteitages in Verbindung mit dem geschäftsführenden Ausschuß in Berlin anheimfa1len" (ebenda). 41 Der erste Parteitag der deutschen Fortschrittspartei, S. 56. "Die Ausführung der Beschlüsse des Ausschusses wird durch einen Geschäftsführer des Parteitags besorgt. Bei den Provinzial- oder Landesparteitagen hat sich das Zentralwahlkomite durch einen Delegierten vertreten zu lassen; es ist demselben deshalb von der Berufung des Parteitages und den vorbereiteten Beschlüssen rechtzeitig Kenntniß zu geben. Es bleibt der Beschlußfassung der Provinzialparteitage überlassen, den Provinzialausschüssen für ihre Bezirke auch die Befugnisse von Zentralwahlkomites zu verleihen sowie auch an SteHe des Geschäftsführers am Vorort einen geschäftsführenden Ausschuß (Provinzialkomite) nach Analogie von Nr.2 zu besteHen" (ebenda). 42 Parlamentarische Korrespondenz, Nr.2, V.6.3.1882. 43 Parlamentarische Korrespondenz, Nr.5, v.5.2.l882. Den ersten Parteitag für Nordwestdeutschland gab es im Jahre 1880 in Hamburg. Vgl. Erster nordwestdeutscher Parteitag der Fortschrittspartei in Hamburg, in: die Volkszeitung, Nr.239, v.12.10.1880. 44 "Die Einladungen zum Parteitag für Nordwestdeutschland werden insbesondere ergehen an die Parteigenossen in Hannover, Oldenburg, Hamburg, Lübeck und dem südlichen Holstein" (Volkszeitung, Nr.239, v.12.1O.l880). 45 Die Parlamentarische Korrespondenz vom 6. März 1882 sprach von der Notwendigkeit einer "Legitimationskarte," um an der "vertraulichen Besprechung" teilnehmen zu dürfen (Parlamentarische Korrespondenz, Nr. 2, v. 6.3.\ 882).

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klaren Abgrenzung gegenüber dem Nationalliberalismus, um sich nicht die Möglichkeit zu verbauen, später eventuell eine liberale Gesamtpartei zu gründen. Die Oppositionellen richteten sich auch gegen die scharfe Abgrenzung von der Sozialdemokratie, wie sie besonders Virchow in der Eröffnungsrede formuliert hatte. 46 Am Parteitag von 1884, auf welchem die Verschmelzung der Deutschen Fortschrittspartei mit der Sezession beschlossen wurde, nahmen 400 Delegierte teil. Preußen bildete die stärkste Sektion und stellte alleine mehr als den doppelten Anteil der Delegierten aller nicht-preußischen Staaten zusammen. "Erschienen waren über 400 De1egirte. In der ersten Präsenz-Liste sind 377 Delegirte verzeichnet, welche insgesammt 128 Reichtags-Wahlkreise vertreten, nämlich 88 preußische (Ostpreußen 10, Westpreußen 5, Berlin 6, sonstiges Brandenburg 14, Pommern 5, Posen 4, Schlesien 8, Sachsen 8, Hannover 6, Schleswig-Holstein 6, Westfalen 6, Rheinland 4, Hessen-Nassau 6) und 40 außerpreußische (Baiern 5, Sachsen 12, Württemberg 1, Hessen 3, ~1ccklcnbürg

3, Sachsen-Weimar 2, Sachsen-.L\ltenburg 1, Koburg 1, _Ä.nhalt L 01den-

burg 2, Schaumburg-Lippe 1, Lippe-Detmold 1, Schwarzburg-Rudolfstadt 1, Reuß i. L. 1, Hansestädte 5). Dazu ist jedoch im Laufe des Vormittags noch eine größere Anzahl De1egirte für die nämlichen und für andere Wahlkreise hinzugetreten... 47

3. Das Vereinswesen des Fortschritts Eine weitere Ebene der Integration waren die Vereine, in denen Programme entworfen, diskutiert und kritisiert werden konnten. Die Konkurrenz der Sozialdemokratie und die oft oppositionelle Haltung der Deutschen Fortschrittspartei gegenüber der Regierung machten die Organisation in Vereinen für die Fortschrittler besonders wichtig. Der Verein wurde zum bevorzugten Instrument der Fortschrittspartei, insofern er in der Lage war, "Erfolge zu erzielen (.,,), oppositionelle Stimmungen aufzufangen, für die Wahlen auszunutzen und so gewonnene Wähler möglichst festzuhalten."48 a) Der Wahlverein als lokales Rekrutierungsmittel Die verbreitetste Assoziationsform war daher der Wahl verein, der im Allgemeinen nur während der Wahlkampagne tät\g war. Der Wahl verein stellte das eigentliche Organisationsorgan der Deutschen Fortschrittspartei dar, welches für die Verbreitung der liberalen Prinzipien und für die Koordination der Partei auf lokaler Ebene schlechthin verantwortlich war. 49 Gustav Seeber, Bebel, S.53. Der Parteitag der Deutschen Fortschrittspartei, in: Berliner Tageblatt, Nr. 42, vom 17.3.1884 (LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Tit. 95, Nr.15131, BI. 42rv.). 48 Thomas Nipperdey, Organisation (1961), S. 79. 49 So die Wahlkorrespondenz im Jahre 1878: "(00') Unsere Wahlvereine tragen wesentlich die gesammte übrige Organisation der parlamentarischen Fortschrittspartei; sie haben die Verbrei46

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Bedeutend ist auch die Forderung nach einer Verbindung zwischen Wahl vereinen und Fraktion, weil "nur die Anlehnung an eine bestimmte, in sich einige und geschlossene parlamentarische Partei den Vereinen im Lande volle Festigkeit und den rechten Zusammenhang unter einander [gibt]."50 Schließlich stellte der Wahlverein ein bedeutendes Werkzeug dar, "um sich mit anderen Liberalen bei den Wahlen zu verständigen. ,,51 Erst mit dem Programmstatut von 1878 wurde eine Resolution erlassen, welche die Bildung von Wahlvereinen forderte. 52 Der Vereinskalender der Deutschen Fortschrittspartei für das Jahr 1882 veröffentlichte sogar einen Statutentwurf eines Vereins der Fortschrittspartei, der als Vorbild für die Vereinsgründung gelten sollte: ,,§ a.l. Zweck des Vereins. Der Wahlverein der deutschen Fortschrittspartei zu X. hat die Aufgabe, die Grundsätze der deutschen Fortschrittspartei nach Maßgabe des auf dem Parteitage im November 1878 festgesetzen Programms im Volke zu verbreiten und dadurch bei den Wahlen zum Reichstag, zur Landesvertretung sowie zu anderen Vertretungen - Letzteres sofern es von der Generalversammlung ausdrücklich beschlossen wird - die Wahl von Männem durchzusetzen, welche sich zu diesen Grundsätzen bekennen und kein Recht des Volkes aufgeben."s3

Die Mitgliedschaft war einer Beitragszahlung von mindestens drei Mark jährlich unterworfen und schloss das Abonnement der Parlamentarischen Korrespondenz mit ein. Die Generalversammlung des Wahlvereins, die die Strategie für die Wahlen festlegte, wählte einen Vorstand, der über die Geldmittel des Vereins verfügen konnte. Zur Unterstützung des Vorstands bestellte dieser einen Ausschuss, der insbesondere für die Verteilung der Druckerzeugnisse, für die Veranstaltung von Lokalversammlungen und die Bildung einzelner Wahllokalkomitees zuständig war. tung der ,Parlamentarischen Korrespondenz' ermöglicht, welche sich jetzt als Wahlkorrespondenz fortsetzt. Mit ihrer Hülfe ist der Broschürenfonds geschaffen, dessen Ergebnisse uns gerade jetzt zum besonderen Vortheil gereichen. Auch die Provinzialparteitage, welche für Brandenburg, Schlesien, Hessen-Nassau und Rheinland-Westfalen stattfanden, fanden an den Wahlvereinen einen festen Anhalt. Die Organisation der Fortschrittspartei befindet sich noch in den Anfangen, aber schon um diese Anfange beneiden uns größere Parteien, welche solcher Organisation entbehren. Das Vorhandensein von sechs Wahlvereinen in Berlin, die unter dem Zentralbüreau stehend schon am Tage, nachdem der Antrag auf Auflösung im Bundesrath eingebracht war, auf dem Kampfplatz erschienen, hat den Berliner Reichstagswahlen sofort die bestimmende Richtung gesichert" (Wahlkorrespondenz, Nr. 3, v. 24.6.1878). Die Zeitung gab die Orte bekannt, wo Wahlvereine 1878 existierten. "Es bestehen solche Wahlvereine aus alter oder neuer Zeit in den 6 Berliner Kreisen, in Teltow-Charlottenburg, in Peiz, in Breslau, Frankfurt a. M., Hanau, Gelnhausen, Hersfeld, Rotenburg-Hünefeld, Dortmund, Apolda, Altona, Weißenfels, Dresden, Oschatz, Elberfeld, Barmen, Solingen, Leipzig, Köln, Darmstadt, Mitweida, Höchst, Magdeburg, Hannover" (Wahlkorrespondenz, Nr. 3, v.24.6.1878). 50 Ebenda. 51 Ebenda. 52 Der erste Parteitag der deutschen Fortschrittspartei, S. 56. 53 Statutentwurf eines Vereins der deutschen Fortschrittspartei, in: Vereinskalender der Deutschen Fortschrittspartei zum Handgebrauch für das Jahr 1882.

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Die Einführung eines Statutentwurfs hatte bedeutende Auswirkungen auf die Organisation der Partei oder besser auf ihren Erfolg. Obwohl der Wahlverein nur für konkret anstehende Wahlen vom Verbindungsverbot zwischen den Vereinen ausgeschlossen war, stellte die oben genannte Bestimmung des § 1 des Statutentwurfs einen wichtigen Ausgangspunkt für die innere Abstimmung in der Partei dar, also für das Funktionieren der Parteiorganisation zur Wahlzeit. Da die Partei außerdem nicht selten das im Vereinsrecht festgesetzte Verbot für politische Vereine, mit Vereinen gleicher Art außerhalb der Wahlzeit in Verbindung zu treten, zu überwinden suchte, konnte eine solche Anordnung zur parteiinternen Kommunikation und Abstimmung über allgemeine politische Fragen beitragen. 54 Schließlich ließ die Bestimmung des § 1 des Statutentwurfs die Möglichkeit offen, eine gesamtliberale Bewegung aufzubauen. Der fortschrittliche Wahlverein hatte zwar in diesem Sinne die Aufgabe, die Wahl von Männern zu fördern, welche sich zu den Grundsätzen der Partei bekannten. aber nicht unbedingt Parteimitgliedern sein mussten. Es scheint aber, dass ein Gesamtliberalismus die Peripherie, die Partei im Lande, betreffen sollte, wobei die Leitungsverhältnisse dennoch stark von der Leitung der Fortschrittspartei um Eugen Richter geprägt bleiben sollten. Im Übrigen hielten die Fortschrittler die Trennung zwischen ihrer Partei und den Nationalliberalen für eine "historische Thatsache", die in vielen Teilen des Reichs nicht wahrgenommen wurde. 55 Gegenüber der Bismarckschen Wende und dem Aufschwung der Sozialdemokratie war es für die Partei sehr wichtig, die Spannungen zwischen den unterschiedlichen liberalen Richtungen zu überwinden: "Darüber aber kann und darf kein Zweifel sein, daß die liberalen Parteien im jetzigen Wahlkampfe allen Hader unter einander vermeiden und die Angriffe auf den Liberalismus Schulter an Schulter zurückweisen müssen. Die Späne der Vergangenheit seien vergessen, und an Stelle der kleinlichen lokalen Rivalitäten walte auf beiden Seiten volle Loyalität! Niemand wird sich anmaßen, von einem Centralpunkte aus für das gegenseitige Verhalten der Parteien im ganzen Lande bestimmte Direktiven zu geben. Für den allgemeinen Vertheidigungskampf gegen die reaktionären Tendenzen aber ergiebt sich die taktische Losung von selbst: Getrennt marschieren, vereint sch/agen!"56

Aufgrund der Resolution von 1878 zur Vereinsgründung entstanden in der Folgezeit mehrere Vereine, die eine gewisse Bedeutung erlangten, "weil damit Organisationszentren politisch aktiver Anhänger der Partei geschaffen wurden, in denen die wichtigsten politischen Probleme diskutiert werden konnten."57 Es entwickelte sich 54 Siehe zum Beispiel eine Landesversammlung in Hessen 1884: ,,( ... ) zur Hebung und Förderung des Parteilebens erachtet die Landesversarnrnlung ein engeres Aneinanderschließen der einzelnen Parteigenossen in Vereinen und einen engeren wechselseitigen Verkehr derselben für geboten und beauftragt darum die Vereinsvorstände, das Geeignete in dieser Beziehung veranlassen zu wollen" (Parlamentarische Korrespondenz, Nr.l, v.30.1.1884). 55 Das Verhältniß der nationalliberalen Partei zur Fortschrittspartei, in: Wahlkorrespondenz, Nr.2, v.20.06.1878. 56 Ebenda. 57 Gustav Seeber, Bebel, S. 54.

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die Idee, dass die Vereine nicht bloß oppositionell, sondern auch politisch offensiv sein mussten. 58 Aus der Sicht der Partei sollten die Wahlvereine eine bestimmte politische Richtung vennitteln, was nicht einfach durch den Begriff ,liberal' geschehen konnte. 59 Wenn auch seit 1878 die Organisation der Fortschrittspartei wesentlich verbessert wurde, so berichtete die Korrespondenz im Jahre 1881, dass dies mehr für die zentrale, als für die lokale Organisation der Partei gelte. "Die lokale Organisation der Partei" - so die Korrespondenz - "läßt noch sehr viel zu wünschen übrig. ,,60 Aufgabe der Partei bei den bevorstehenden Wahlen war es, auf I ()() Mitglieder im Reichstag zu kommen. "Um dieses Ziel zu erreichen, wird die zentrale Organisation hauptsächlich solche Kreise unterstützen müssen, welche bei den letzten Wahlen unterlegen sind, oder in welchen bisher Kandidaten der Fortschrittspartei überhaupt noch nicht aufgestellt waren."61 Während die Zentrale solche Kreise unterstützen musste, sollten die lokalen Organisationen der Fortschrittspartei dort, wo sie die Mehrheit bei den letzten Wahlen hatte, sich "derart vervollständigen, daß sie bei den nächsten Wahlen sich vollständig selbst zu helfen im Stande sind. ,,62 Des Weiteren wurden die grundlegenden Faktoren der lokalen Parteiorganisation wie folgt bestimmt: ,,zur lokalen Organisation gehören Vertrauensmänner, Redner und Geldmittel. Alles dies schafft für den Wahlkampf nur eine ständige Organisation in Form eines politischen Vereins. Der politische Verein muß gewissermaßen das Landwehrbezirkskommando darstellen, welches im Stande ist, bei der Mobilmachung für den Wahlkampf sofort starke Truppen aufzustellen. Der Wahlverein bildet in seinen Mitgliedern und Vorständen die Kadres für die Vertrauensmänner. Die periodische Abhaltung von Versammlungen eines Vereins erzieht geeignete Redner für den Wahlkampf. In jedem Wahlkreise würde es viel mehr politische Redner geben, wenn sich mehr Gelegenheit zur Übung im politischen Reden darböte. "6) 58 Laut der Volkszeitung mussten sie zeigen, "daß sich ihre Opposition gegen das System richtet, aber zugleich keinen Zweifel darüber lassen, daß in Preußen augenblicklich mehr als sonst Person und System ganz dasselbe sind. Die Parole: ,Gegen Bismarck' kann ja überhaupt nur den Sinn haben, daß darunter ein Widerstand zu verstehen ist, der sich dadurch nicht beirren läßt, daß der Reichskanzler entweder für seine Forderungen oder gegen diejenigen der Majorität seine Persönlichkeit einsetzt (... )" (Volkszeitung, Nr. 238, v. 11.10.1879). 59 So die Parlamentarische Korrespondenz im Jahre 1878: ,,L. i. M. Vom ,liberalen' Wahlverein halten wir nicht viel; sie zeigen sich meist gerade wenn sie wirken sollen, als eine sehr unzuverlässige Stütze. Nur der Anschluß an eine gegebene parlamentarische Partei gibt den Wahlvereinen eine Bedeutung auch nach der Wahl und über die Thätigkeit für die Wahl einer bestimmten Persönlichkeit hinaus. Wahl vereine aber, welche nicht nach der Wahl in Thätigkeit bleiben, vermögen auch für die nächste Wahl nichts Sonderliches zu leisten. Was nennt sich heut nicht Alles liberal? Sogar Treitschke, Gneist, Oetker, Cuny!" (Parlamentarische Korrespondenz, Nr.24, v.8.11.1878). 60 Parlamentarische Korrespondenz, Nr.11, V.12.12.1881. 61 Ebenda. 62 Ebenda. 6) Ebenda. ,,Ein Verein bildet die Möglichkeit," - schrieb die Korrespondenz weiter - "durch die, wenn auch geringen Jahresbeiträge einer großen Mitgliederzahl einen Wahlfonds anzu-

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b) Politische Vereine als Mobilisationsmittel

Die Vereinsgründungen erlebten deshalb seit 1879 eine wahre Blütezeit. Äußerst rege war die Organisation der Fortschrittspartei in Hamburg, wo z. B. im Mai 1879 ein Verein für demokratischen Fortschritt entstand, der sich, wenn auch mit einem schärferen Programm, an die Fortschrittspartei anlehnte. 1882 organisierte der Zentralvorstand des Vereins der Fortschrittspartei in Hamburg eine Delegiertenversammlung, um die Frage einer Ausdehnung der Vereinstätigkeit auf kommunale Angelegenheiten zu besprechen. 64 Ende 1879 aktivierte sich auch ein Wahlverein in Dortmund, um das Parteiprogramm zu diskutieren, eine offensivere Politik und eine konsequentere Haltung in der Wahlrechtsfrage einzufordem. 65 1882 hatte sich nach dem Vorbild des fortschrittlichen Vereins Waldeck in Berlin ein Verein lungdeutschland gebildet, welcher beabsichtigte, die Jugend für die freiheitlichen Ideen heranzubilden und die Mitgliedschaft schon ab dem achtzehnten Lebensjahr zu ermöglichen. 1881 existierten ca. 100 Vereine der Fortschrittspartei im Lande: u. a. in Tilsit, Insterburg, Bartenstein, Königsberg in Pr., Danzig, Posen, Görlitz, Breslau, Berlin, Potsdam, Magdeburg, Kiel. 66 Die Parlamentarische Korrespondenz forderte im Jahre 1882 zur Gründung weiterer Vereine auf: "Bildet Vereine der Fortschrittspartei! Der unmittelbar bevorstehende Kampf um das Tabakmonopol macht es nothwendig, in Wahlkreisen, wo noch keine Wahl vereine der Fortschrittspartei bestehen, ungesäumet mit der Errichtung solcher Vereine vorzugehen. Die Bildung derselben ermöglicht es, durch Mitgliederbeiträge von jährlich 1 Mark an allmählich einen Wahlfonds anzusammeln, ohne daß einzelne Personen allzu sehr in Anspruch genommen zu werden brauchen. Zugleich bildet ein solcher Verein Agitationskräfte heran und formt einen festen Parteistab auch schon vor der Ausschreibung von Neuwahlen."67 sammeln. Nach den Erfahrungen der letzten Wahlen sollte kein Kreis ohne einen solchen, mehrere Tausend Mark betragenden Wahlfonds sein. Die Vereinsthätigkeit erleichtert es zugleich, die als Reichstagskandidaten geeigneten Personen rechtzeitig ausfindig zu machen" (ebenda). 64 An der Versammlung beteiligten sich 400 Personen. Es wurde die folgende Resolution verabschiedet: "a) Es ist Pflicht des Vereins, sich auch mit den vaterstädtischen Angelegenheiten zu beschäftigen; b) der Verein hat sich bei den im Anfang 1883 stattfindenden Neuwahlen zur Bürgerschaft zu betheiligen und dahin zu streben, daß solche Abgeordnete gewählt werden, die sich zu den Grundsätzen der Fortschrittspartei bekennen. Der Verein spricht den Wunsch aus, daß die Gewählten sich zu einer Fraktion der deutschen Fortschrittspartei vereinigen; c) die Aufstellung der Kandidaten und die Wahlagitation geschieht in den Distrikten; d) die geschäftsmäßigen Anordnungen trifft der Centralvorstand (... )" (Parlamentarische Korrespondenz, Nr. 5, v.2.6.1882). 65 Ebenda. 66 Die deutsche Fortschrittspartei und die nächsten Reichstagswahlen, o. D. [1881], in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Polizeipräsidium, Tit. 94, Nr. 14070, BI. 60-61rv. 67 Parlamentarische Korrespondenz, Nr.2, v.6.3.1882.

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Von entscheidender Bedeutung war die Entwicklung der Vereinsorganisation in Berlin, der Hochburg der Fortschrittspartei. Hier entstanden Ende 1877 der Verein Waldeck und im November 1879 die Freie Vereinigung der Fortschrittspartei, die sowohl für die Mobilisierung als auch für die Integration oppositioneller Kräfte wichtig waren. Im Januar 1878 teilte die Parlamentarische Korrespondenz mit, dass sich, unter dem Namen Fortschrittlicher Verein Waldeck 68 , ein Verein gebildet habe, der bei seinen Mitgliedern politisches Verständnis und Interesse an öffentlichen Versammlungen wecken wollte, und an dessen Bestrebungen die fortschrittlichen Abgeordneten interessiert seien. 69 Ein an die "jungen Bürger" gerichteter Aufruf erklärte, dass es dem Verein Waldeck vor allen Dingen um die politische Erziehung und Beeinflussung der Jungwähler ging: "Bereits mit dem 25. Lebensjahr tritt der junge Mann auf Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts in den Volll>esitz seiner politischen Rechte und Pflichten, meistens ohne über die Tragweite derselben irgendwie unterrichtet zu sein. Der fortschrittliche Verein, Waldeck' hat es, in Erkenntnis dieses Übelstandes, sich zur Aufgabe gemacht, politisches Interesse in die Kreise der jungen Bürger hineinzutragen und dieselben auf die bewußte Ausübung ihrer Rechte und Pflichten vorzubereiten. Der Verein huldigt den freisinnigen Ideen, deren Verwirklichung die Geschichte als die Ziele der Volkerentwicklung vorgezeichnet hat. Auf diesem Boden suchen wir zu wirken durch Rede und Schrift, in diesem Geist sind wir bestrebt, für die Pflege der hohen Ideale von Freiheit und Volkswohl die Herzen der Jugend zu gewinnen, die noch unbeeinflußt ist von kleinlichen Sorgnissen und selbstsüchtigen Interessen. ,,70

Seine Aktivität bestand vor allem in der Abhaltung von Versammlungen, in denen Vorträge über die gegenwärtige politische Situation gehalten wurden und an denen führende Persönlichkeiten der Fortschrittspartei wie Eugen Richter oder Ludwig Löwe teilnahmen. Es handelte sich hierbei um ein Forum, das unmittelbare Auswirkungen auf die parlamentarische Tätigkeit der Fortschrittspartei zu erzielen suchte und sich infolgedessen auf die gesamte Reichspolitik niederschlug. Das Engagement des Vereins Waldeck wirkte sich in einer erheblichen Zunahme seiner Mitgliederzahlen aus. Im April 1878 hatte er anfänglich nur 67 Mitglieder, am Ende des ersten Vereinsjahres war die Zahl auf über 300 Personen angewachsen und im Laufe der nächsten fünf Jahre stieg sie auf nahezu 2.000 Mitglieder. Des Weiteren veranstaltete der Verein 187828 Vorträge über politische, volkswirtschaft68 Über den Verein Waldeck vgl. Huga Reiwald; Gustav Seeber, Bebel, S. 61 ff. und die Akten in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Tit. 95, Nr.15566-15571. Der beachtliche Umfang des Materials im LHA Potsdam erklärt sich dadurch, dass der Verein Waldeck unter dem Vereinsgesetz und dem Sozialistengesetz zu leiden hatte. Die Broschüre des Vereins beklagte die "Macht der persönlichen Entscheidung" bei den Organen der Polizei, "denen die Überwachung der Versammlung übertragen war" (Huga Reiwald, S. 13). 69 Parlamentarische Korrespondenz, Nr.2, V.28.2.1878. 70 Parlamentarische Korrespondenz, N r. 23, v. 23. 10.1878.

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liche und allgemein wissenschaftliche Fragen, "welche mit den sich anschließenden Diskussionen geeignet waren, zur politischen Belehrung der Hörer beizutragen."71 Der Verein Waldeck vertrat die aktivere Seele der Partei, jene nämlich, die für eine offensivere, eher demokratische Politik eintrat. Nach wie vor standen staatsrechtliche Prinzipien für den Verein im Vordergrund: ,,( ... ) Der Dienst der Freiheit" - erklärte Albert Träger am 10. Januar 1881 bei dem dritten Stiftungsfest des Vereins - "ist ein schwerer Dienst; er ist keine Volksbelustigung, ist kein Sport, es ist ein heiliger Opferdienst und darum ist es unsere Pflicht, ist es die Pflicht des Volkes, das Volk und sich selbst zur Freiheit zu erziehen.',n 1881 war die Fülle der zu erledigenden schriftlichen Arbeiten so groß, dass sogar ein ständiges Büro für den Verein eingerichtet werden musste. Insbesondere die Wahlvorbereitungen machten eine Zentralstelle erforderlich und gerade die Wahlarbeit bot eine gute Gelegenheit, die Mitglieder zusammenzubringen. 73 Auch die Jahre 1882 und 1883 waren dem inneren Ausbau der Vereinsorganisation gewidmet. Erwähnenswert ist die Stellungnahme des Vereins von 1881 gegen das Tabakmonopol und gegen jede weitere Erhöhung der Steuern und Zölle auf Tabak. Zu dieser Zeit nahm der Verein auch zur Frage einer eventuellen gesamtliberalen Partei Stellung. So sprach sich der Verein im Jahre 1882 zwar für einen Zusammenschluss mit den Sezessionisten bei den Landtagswahlen aus, beschloss aber zugleich, "daß dagegen eine Vereinigung der liberalen Fraktionen zu einer großen Partei im Interesse der liberalen Sache zur Zeit nicht rathsam ist."74 Als die beiden Fraktionen der Fortschrittspartei und der Liberalen Vereinigung zusammentraten, fand eine lebhafte Diskussion im Verein statt, wobei sich einige Redner für und andere gegen die Fusion aussprachen. Eine Art von Kompromiss wurde schließlich vom Vorstand dergestalt vorgebracht, dass die neue Partei nichts weiter bedeuten sollte als eine Fortentwicklung und Verkörperung der Ideen, für welche die Deutsche Fortschrittspartei seit ihrer Gründung eintrat. Der Verein stimmte deshalb einer Hegemonie der Fortschrittspartei über die Sezessionisten zu - wie sie dann auch in der Tat in der Deutschen Freisinnigen Partei verwirklicht wurde. Der Verein Waldeck beschäftigte sich auch mit lokalen Fragen der Fortschrittspartei. So hielt er im Oktober 1883 eine Wanderversammlung in Berlin ab, auf der die bevorstehenden kommunalen Wahlen besprochen werden sollten. 7s 71 Hugo Reiwald, S. 7. Im Jahre 1881 war die Mitgliederzahl auf 482 angestiegen und die Versammlung des Vereins wurde von ca.4.000 Personen besucht (ebenda, S.lO). 72 Ebenda, S.lO. 73 "Die Schaffung einer Organisation der Mitglieder nach den einzelnen Wahlkreisen machte es möglich, die über die ganze Stadt wohnenden Mitglieder in den einzelnen Bezirken bei der Wahlarbeit einander näher zu bringen" (ebenda, S.ll). 74 Ebenda, S. 14. 75 Tatsächlich wurde die Vereinsversammlung jedoch nach zehn Minuten polizeilich aufgelöst, weil antisemitische Anhänger der Deutschen Bürgerpartei die Versammlung gestört hatten (Berliner Zeitung Nr. 232, v.5.10.83).

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Die Freie Vereinigung der Fortschrittspartei 76 trat für eine aktivere Politik und für den Zusammenschluss oppositioneller Kräfte ein. 77 Sie hatte nämlich die Absicht, gegen die Kompromisspolitik der Fortschrittspartei anzugehen und damit die Partei weiter nach links auszurichten. Zu den Begründern der Vereinigung gehörten E. Keilpflug und der Chefredakteur der Volkszeitung Adolph Phillips. 78 Für sie war die Vereinigung notwendig um den Niedergang der Fortschrittspartei zu verhindern, damit, wir nicht Steuern bezahlen, daß uns die Augen übergehen.' 79 Unter der Bezeichnung "freie Vereinigung der Fortschrittspartei" lud Keilpflug 80 Mitte November in Berlin "Abgeordnete, Redakteure, Vereinsvorstände und sonstige Mitglieder der Fortschrittspartei zu Versammlungen" ein, wo Vorträge und Reden gehalten werden sollten. Es handelte sich hierbei um ein Diskussionsforum, das sich Organisations- und Partei angelegenheiten sowie politischen Zeitfragen widmete. So wurde z. B. im Jahre 1879 über die Organisation der Partei debattiert, wobei einige Teilnehmer der Meinung waren, "daß aus dieser ,freien Vereinigung' eine ,wahrhafte Centralstelle der Partei' hervorgehen würde."81 Da aber der Einfluss von Berlin auf die ganze Partei schon für zu groß gehalten wurde, nahm man von dieser Idee Abstand: "In den Provinzen erachtet aber die Fortschrittspartei den Einfluß der Berliner innerhalb der Partei schon jetzt eher für zu groß als zu gering. Niemand in der Provinz würde einer solchen ,Freien' Berliner Versammlung, in welcher die Provinzen stets nur in einer kleinen 76 Material über die Freie Vereinigung befindet sich in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Tit. 95, Nr.15129. 77 So die Aufforderung des Zigarrenfabrikanten E. Keilpflug zur Teilnahme an der Freien Vereinigung: "Geehrter Herr! Der vielseitige Wunsch, eine Annährung wahrhaft freisinniger Elemente zu bewirken, hat im kleineren Kreise zu dem Entschluß geführt, unabhängige und politisch gebildete Männer zu regelmäßigen Besprechungen aller, das öffentliche Interesse berührenden Tagesfragen und zur gegenseitigen Belehrung, zu vereinigen! In diesem Sinne beehre ich mich Sie im Namen von Parteifreunden ( ... ) einzuladen" (LHA Potsdam, Pr. Br. Rep.30, Berlin C, Ti!. 95, Nr. 15129, BI. 2., 0.0., o. D. [November 1879]). 78 ,,( ...) Seitens des Dr. Phillips, ,Redakteur der Volkszeitung' , wurde der Antrag gestellt, eine freie Vereinigung der Fortschrittsparthei zu gründen. Der Antrag wurde auch angenommen. Daß die ganze Agitation nur den Zweck hat, die sogenannten ... (?) Mitglieder des Fortschritts auszuscheiden und die übrigen mit der neuen deutschen Volksparthei zu verschmelzen, hat Keilpflug mit Philipps übereinstimmend in einer Privatunterhaltung persönlich geäußert" (LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Tit. 95, Nr.15129, BI. 5. Berlin, den 8.11.1879). 79 Versammlungsbericht der freien Vereinigung. Berlin, 5.12.1879, in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 3D, Berlin C, Ti!. 95, Nr.15129, BI. 28-29rv. 80 So Keilpflug bei der Vereinigungsversammlung am 7. November 1879: "Es konstatirt das Bedürfnis, ,eine Consolidation derjenigen Leute zu bilden, welche mit dem, was geschieht, nicht zufrieden sind' ( ... )." Es wurde auch geäußert: ,Wir wollen zwischen der Demagogischen und der Nationalliberalen Partei eine feste Burg bilden, die nach beiden Seiten die anderen verdrängt' (Versammlungsbericht der freien Vereinigung. Berlin, den 7.11.1879 [Versammlung zur Besprechung öffentlicher Angelegenheiten und gegenseitiger Belehrungl, in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Ti!. 95, Nr. 15129, BI. 8-12 rv). 81 Eine ,freie Vereinigung der Fortschrittspartei' in Berlin, in: Parlamentarische Korrespondenz, Nr.l0, v.20.12.1879.

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2. Kap.: Die Deutsche Fortschrittspartei 1878-1884 Minorität vertreten sein wtirden, - soweit gerade Abgeordnete oder Durchreisende aus der Provinz anwesend wären, - formell oder materiell eine besondere Autorität für die gesammte Partei beizumessen geneigt sein. (00.)"82

Nötig war die Gründung eines geselligen Mittelpunkts für die Kreise von "Abgeordneten, Redakteuren, Vereinsvorständen, Stadträthen, Stadtverodneten", die das Bedürfnis hatten "in der zwanglosen Form der Privatunterredung Bekanntschaften zu machen, Ansichten auszutauschen, Erkundigungen einzuziehen, Anregungen zu geben und zu empfangen und selbst öffentliche Kundgebungen zu verabreden."83 Auf der Tagesordnung der Vereinigung konnte auch eine Diskussion über das Programm stehen: So wurde im gleichen Jahr das Programm vom Juni 1861 kritisiert, da es nur( ... ) ein "Compromiß- und ad hoc Programm" war. Ebenso wurde auf die mangelhafte Organisationsform der Partei verwiesen. 84 "Wolle man den Boden [der Fortschrittspartei] wieder gewinnen" - erklärte Dr. Wolff 1879 -, "so solle man große Versammiungen mit Vortragen durch die Wahivereine arrangieren und sich so die Majorität erzwingen und viel Geld sammeln, wie es die Sozialdemokraten gemacht haben, die sich Mittel geschaffen, wie keine andere Partei. "85 In diesen Gesprächen zeigten sich die Verbindungen der Freien Vereinigung zum Verein Waldeck: Durch eine gemeinsame Politik konnten die Fortschrittler darauf hoffen, die Partei nach links zu orientieren und wieder an Boden zu gewinnen. 86 Wichtig war u. a. das Ziel der Volkserziehung, das darin bestand, dass die Wahler mit den Abgeordneten in der Vereinigung zusammentrafen,87 wo Vorträge über die politische Situation der Gegenwart gehalten und die Geschichte der Fortschrittspartei 88 dargestellt wurden. Die demokratische Position der Freien Vereinigung zeigt sich in ihrer Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie. "Die liberale Partei" - erklärte Ludwig Löwe - ,,habe sich zu lange gegen die Berechtigung der socialdemokratischen Forderungen gewehrt." Dieses Problem musste gelöst werden, damit die Fortschrittspartei ihre liberalen Ideen weiter entwickeln konnte: "Erst, wenn der Arbeiter wieder vollerstrebend ist, wird die Fortschrittspartei für die Verwirklichung der Ideen eintreten."89 Ebenda. Ebenda. 84 Ebenda. 85 Ebenda. 86 Im Übrigen verzeichnete bereits "im November 1879 die Polizei, daß die ,Freie Vereinigung' mit dem ,Verein Waldeck' Ftihlung genommen hatte" (Gustav Seeber, Bebel, S.62). 87 So äußerte sich Träger bei der Versammlung vorn 21.11.1879 (Versarnrnlungsbericht der freien Vereinigung. Berlin, 21.11.1879, in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep.30, Berlin C. Tit. 95, Nr.15129, BI. 17-20rv). 88 V gl. Versammlungsbericht der freien Vereinigung. Berlin, 5.12.1879, in: LHA Potsdam, Pr.Br. Rep.30, Berlin C, Tit.95, Nr.15129, BI. 28-29rv. 89 Versammlungsbericht der freien Vereinigung. Berlin, 15.1.1880, in: LHA Potsdarn, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Tit.95, Nr. 15129, BI. 49-50 rv. 82 83

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Generell interessant ist die nicht unbedingt oppositionelle Haltung der Vereinigung gegenüber der Regierung, wobei sie auch eine eventuelle Übereinstimmung mit der Nationalliberalen Partei nicht ausschloss - was das Streben nach einer gesamtliberalen Bewegung verdeutlichte. 90 Des weiteren wurden die wöchentlich stattfindenden Versammlungen der Vereinigung für die Fortschrittler zum Ort der Diskussion, der Kritik, der politischen Transparenz. Nach einem unsicheren Anfang, der vor allem auf die mangelnde Organisation der Vereinigung 91 zurückzuführen war, erlebte die Vereinigung 1880 einen großen Aufschwung. Die Zahl der an den Versammlungen teilnehmenden Personen stieg zusehends: So waren es am 11. Dezember 1879 erst 72 Personen, am 9. Januar 1880 bereits 250, am 15. Januar 1880 schon 270 und bei einer großen Veranstaltung im April 1880 sogar zwischen 1.200 und 1.300 Teilnehmer. Angesichts der 1880 im Reichstag zu erörternden Militärvorlage gewannen die Diskussionen in den Vereinen an Bedeutung. Diese Einrichtungen wurden immer aktiver, und es fanden auch große Protestversammlungen gegen den Militäretat statt. Das Sozialistengesetz wurde von ihnen abgelehnt und sogar ein Zusammenschluss mit der Sozialdemokratie in einigen politischen Fragen angeregt. Im Vergleich zu den Jahren 1877 und 1878, als die Fortschrittspartei das Sozialistengesetz abgelehnt, gleichzeitig aber nicht auf eine antisozialistische Kampagne verzichtet hatte, dämpfte sie jetzt ihren Antisozialismus deutlich. Sie verstand nämlich, dass eine Annäherung an die Massen nur unter Verzicht auf eine antisozialistische Politik möglich war. Die Umorientierung in der fortschrittlichen Politik wurde von der konservativ ausgerichteten Post registriert, die aber die Partei durch ihren Chefredakteur Leopold Kayßler scharfer Kritik unterzog: ,,(... ) Seit der Annahme des Sozialistengesetzes hat die Fortschrittspartei in mehr oder weniger positiver Weise bei jeder Gelegenheit erklärt, daß sie der Regierung nun in dem Kampfe gegen die Sozialdemokratie nicht mehr helfen werde. Der Regierung kann das Versagen dieser Unterstützung allerdings sehr gleichgültig sein, denn die Fortschrittspartei hat die Sozialdemokratie stets mit solchem Erfolge bekämpft, daß das Anwachsen der letzteren schließlich im rapidesten Galopp erfolgte. (... ) 90 Franz Duncker schlug 1880 vor, gegen die Militärvorlagen anzugehen, "um eine Verkürzung der Dienstzeit durchzusetzen. Die Constellation der Partei läßt die Vorlage als einen Punkt in der Zerfahrenheit ansehen und eine Vereinigung mit den National Liberalen ist nicht außer dem Bereich der Möglichkeit. Die Partei muß, wo die Vorlage sich dem Prinzip nähert, zustimmen, sonst ablehnend sich verhalten" (Versammlungsbericht der freien Vereinigung. Berlin, 6.2.1880, in: LHA Potsdarn, Pr. Br. Rep.30, Berlin C, Tit. 95, Nr.15129, BI. 58-60rv.). Gustav Franz Duncker, (1822-1882), evangelisch, Begründer der Deutschen Fortschrittspartei 1861; Mtg. des preußischen Landtags und später des Reichstags. "Seine Lieblingsschöpfung" war die Berliner Volkszeitung, "ein Blatt streng demokratischer Richtung (... )" (Karl Friedrich Pjau/Hugo Rösch, S. 99). 91 Versammlungsbericht der freien Vereinigung. Berlin, 11.12.1879, in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Tit. 95, Nr. 15129, B1.30-31rv.

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2. Kap.: Die Deutsche Fortschrittspartei 1878-1884 Während die nationalliberale Partei das liberale Bürgertum für sich in Beschlag nimmt (... ), weist die Tradition der Fortschrittspartei sie auf die Herrschaft über die Massen, speziell über die sogenannten Klassen hin. So lange sie diese Herrschaft besaß, war die Fortschrittspartei eine Macht. Die Sozialdemokratie hat ihr die Herrschaft über diese Klassen entrissen und die Fortschrittspartei fühlt sehr wohl, wie weit sie von der Möglichkeit entfernt ist, jemals diese Herrschaft wieder zu erlangen. Ohne Muth, ohne einen sicheren politischen Gedanken dreht sie sich deshalb immer im Kreise herum, und spricht von ihrem Gegensatz zu der Sozial-Demokratie, während sie die allergrößte Lust hätte, mit den abgefallenen Massen ein Compromiß zu schließen, bei welchem die Sozialdemokratie Alles erreichen würde, was sie nur wünschen kann. Allerdings wird ihr dies nicht gelingen, denn alle ihre Zärtlichkeiten werden von den Sozialdemokraten ( ... ) zurückgewiesen, da diese Letzteren, wenn sie überhaupt stark genug sind, die Herrschaft zu erobern, dieselbe jedenfalls für sich allein haben und nicht etwa mit den fortschrittlichen Biedermännern von der Art der Herren Löwe, Eugen Richter und Parisius theilen wollten."92

Der Aufschwung der politischen Organisation der Deutschen Fortschrittspartei ging mit einer tiefen Aufspliuerung in zwei große Richtungen einher, die sich schon beim Parteitag von 1878 offenbarte. Die eine Gruppierung trat für die Verständigung mit Bismarck und den Nationalliberalen ein (zu diesem Flügel gehörte auch Richter), die andere machte sich für eine offensivere Politik gegenüber der Regierung stark (u. a. Virchow).93 Die Tätigkeit des Vereins Waldeck, der Freien Vereinigung und jener Vereine, die in anderen Großstädten wie Hamburg und Dortmund entstanden waren und für eine offensivere Politik eintraten, zeigt, dass in der Partei verschiedene politische Mentalitäten und Richtungen zusammenlebten und dass sich die politische Tätigkeit nicht nur auf den Wahlkampf begrenzte. 94 92 Die Fortschrittspartei und die Sozialdemokraten, in: Die Post, Nr. 215, v. 8.8.1879 (LHA Potsdarn, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Polizeipräsidium, Tit. 94, Nr. 14070, BI.38). Dennoch konnte es geschehen, daß die Fortschrittler sich mit den Sozialdemokraten für bevorstehenden Wahlen auf lokaler Ebene verbanden. Dazu siehe unten das fünfte Kapitel über Berlin. 93 "Die Doppelströmung, welche sich innerhalb der Fortschrittspartei neulich in so drastischer Weise kundgab, trat auch Mittwoch in der Versammlung der ,freien Vereinigung' , dieser jüngsten Schöpfung des Berliner Fortschritts, scharf hervor. Auf der Tagesordnung stand das Thema ,die Parteiverhältnisse', und man beschäftigte sich ,mehrere Stunden' mit der Frage: ,wie kann die bankrotte Fortschrittspartei wieder zu Ehren kommen.' Keiner der Redner habe öffentlich gesagt, ,das Volk habe sich von der Fortschrittspartei gewandt, weil es zur Einsicht gekommen, daß der Weg, den die Fortschrittspartei handelt, in den Abgrund führt.' Die Meinung der Anwesenden teilte sich über die Mittel, welche die Partei benutzen sollte, um ihre Zersplitterung, bzw. ihren Untergang zu vermeiden: ,die Einen wollen die Konservativen und Nationalliberalen bis zum Äußersten bekämpfen, die Anderen wollen den Anschluß nach Rechts hin suchen, um die ,radikalen Elemente der Nationalliberalen' für den Fortschritt zu gewinnen.' Diese Rezept hatte keine Übereinstimmung gefunden, da die große Mehrzahl für die ,Rückkehr zu den Prinzipien von 1848: für die wahre und echte Demokratie [war]. (... ) Fassen wir das dort Gesagte zusammen, so ergibt sich, daß die Fortschrittspartei die Zeit für gekommen erachtet, ihre abtrünnige Tochter, die SO:i!:ialdemokratie, wieder zu gewinnen (... )." (Norddeutsche Allgemeine-Zeitung, Nr. 167, vom 10.4.1880, in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Tit. 95, Nr.15129, BI. 96). 94 Die Freie Vereinigung und der Verein Waldeck dienten als Muster für die Gründung anderer Vereine. So hatte z. B. 1884 die Fortschrittspartei in Köln die Absicht, "einen förmlichen

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Die stetige Zunahme von Vereinsgründungen und Mitgliederzahlen95 zeigt, wie stark die Organisationsform des Vereinswesens verbreitet war und wie sehr sie sich der entsprechenden Gesellschaft anpasste. Obwohl die zentralisierte Organisation der Deutschen Fortschrittspartei nicht vergessen werden darf, die gerade in dem zu betrachtenden Zeitraum von Eugen Richter hegemonisiert wurde, gewann auch die demokratische Ebene der Partei, vor allem die Verbreitung des Vereinswesens, also die Partizipation der Basis der Partei, zunehmend an Bedeutung. Schließlich waren die Zusammenkünfte der Parteigenossen untereinander und mit der Leitung durch die Versammlungen (der Vereine, der Vertrauensmänner und der Parteigenossen) gesichert. Die Versammlungen waren insbesondere wichtig für die liberalen Honoratiorenparteien, da das Ansehen bzw. die soziale Anerkennung das erste und unmittelbare Kriterium der Legitimation darstellte. Es gab verschiedene Ebenen dieser Zusammenkünfte: Reichs-, Länder-, Kommunal- und Wählerversammlungen. Die Organisation der Versammlungen (nämlich ihre Häufigkeit, die für ihre Beschlussflihigkeit erforderliche Teilnehmerzahl usw.) hing entweder von Vereinsstatuten, von spontanen Entscheidungen der Wähler oder aber von den Parteigenossen ab. Interessant ist das Echo der Presse auf diese Versammlungen, welche die nächsten Treffen ankündigte und oft über deren Hergang berichtete. Es war nicht nur die Parteipresse wie die Parlamentarische Korrespondenz oder die linksgerichtete Volkszeitung, die über die Versammlungen informierte, sondern auch die lokale Presse wie z. B. das Berliner Tageblatt. Die Teilnahme von Reichstagsabgeordneten und Führungspersönlichkeiten am politischen Vereinswesen diente der Vermehrung ihres Ansehens und auf diese Weise der Konsolidierung und Legitimation der Deutschen Fortschrittspartei. Der Aspekt des Ansehens stellte nämlich ein wichtiges Element für die Mobilisierung der Partei - gerade in Wahlzeiten - dar und hatte, wenn auch nicht unmittelbar, bedeutende Auswirkungen auf die Organisationsform der Fortschrittspartei. 96 Verein" zu organisieren, da "eine Anzahl Parteimitglieder (... ) eine festere Organisation für nothwendig" erachtete. Da aber eine Parteiversammlung einen solchen Vorschlag abgelehnt hatte, wollte "die Minderheit (Geschäftsführer Apotheker Schneider) sich in einem besonderen Verein organisieren. Unter Umständen können solche besonderen Organisationen, wie die Waldeck-Vereine beweisen, der Partei von Nutzen sein. Um bei allgemein praktischen Fragen ein Zusammengehen zu erleichtern, ist es wünschenswerth, daß wenigstens die leitenden Personen des besonderen Vereins auch im allgemeinen Verbande verbleiben" (Parlamentarische Korrespondenz, Nr.I, v.30.1.1884). 95 "Der erst vor einigen Wochen neu gegründete Bremer Verein der Fortschrittspartei" - berichtete die Parlamentarische Korrespondenz - "zählte in der vorigen Woche bereits 350 Mitglieder(. ..)" (Parlamentarische Korrespondenz, Nr.5, v.2.6.1882). 96 So wurden Personen mit Ansehen auch zu Versammlungen privaten Charakters eingeladen: "Wo die Fortschrittspartei nur sporadisch verbreitet ist, übernimmt es ein Anhänger derselben, die ihm als Gesinnungsgenossen bekannten Männer aus dem Wahlkreise zu einer privaten Besprechung über die Beschickung des Parteitags einzuladen. (... ) Alle diese Zusammen-

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2. Kap.: Die Deutsche Fortschrittspartei 1878-1884

11. Momente und Elemente der Leitung 1. Führungskräfte und zentrale Parteistrukturen 97 Die Politisierung und Differenzierung der Gesellschaft spiegelte sich in den Parteien wider, wobei die Parteiführung durch den Ausgleich der unterschiedlichen Interessen eine wichtige Rolle spielte. Die Arbeit der Parteiführer musste selbstverständlich von einer bestimmten Organisation begleitet werden: Nach der Periode der Ideen, d. h. des National- und zum Teil Rechtsstaates, als auch die Fortschrittspartei zu Macht und Einfluss gelangte, machte die realpolitische Periode eine bestimmte Organisationform erforderlich - was sich im Übrigen am Parteitag von 1878 zeigte. Das Jahr i879, so schrieb die Pariameniariscne Korrespondenz, "bringt wieder politische Kämpfe im Reichstage von ernster und vielleicht auf lange Zeit hin entscheidener Bedeutung. (...) Im Herbst desselben Jahres folgen Neuwahlen für das preußische Abgeordnetenhaus. Die Fortschrittspartei muß sich hierbei auf einen heißen Kampf gefaßt machen und durch weitere Ausbildung ihrer Organisation, planmäßige Vorbereitung und energische Führung der Agitation darauf rüsten (... ). "98 Eine starke Führung war gerade bei dieser Partei unvermeidlich, weil nur so die durch demokratische Partizipation nebeneinander bestehenden Elemente zusammengehalten werden konnten. Es darf auch nicht vergessen werden, dass die energische Leitung der Fortschrittspartei besonders auf Eugen Richter zurückzuführen ist, d. h. auf eine charismatische Persönlichkeit, die die Entwicklung der Partei tief geprägt hat. Darauf wird im Folgenden noch ausführlicher eingegangen werden. Die eigentliche Leitung der Partei lag auf der parlamentarischen Ebene, der Fraktion, die noch locker aufgebaut und Ausdruck der preußischen Hegemonie war. Das Zentralwahlkomitee war seit 1873 das Organ der parlamentarischen Partei, das sich aus den beiden fortschrittlichen Fraktionen der in Berlin tagenden Parlamente zusammensetzte. 99 Theoretisch konnten auch Vertreter der Provinzen auf Vorschlag der Abgeordneten hinzugezogen werden, dazu kam es aber nur selten. künfte und Besprechungen sind aber geeignet, auch im Uebrigen die Organisation und Agitation für die Fortschrittspartei zu fördern" (Die Wahl von Delegierten zum Parteitage durch Parteiversammlungen, in: Parlamentarische Korrespondenz, Nr.24, v.8.11.1878). 97 Es wird hier auf eine ausführliche Darstellung der formellen Leitung der Partei verzichtet, weil die Literatur die Aufgaben, die Zusammensetzung und das Funktionieren der Parteileitung schon ausreichend geschildert hat. VgI. Ursula Steinbrecher, S. 65 ff.; Thomas Nipperdey, Organisation (1961), S.196ff. 98 Parlamentarische Korrespondenz, Nr.24, v.8.11.1878. 99 VgI. Ursula Steinbrecher, S. 68; Thomas Nipperdey, Organisation (1961), S.196.

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"Die Verbreitung der Partei grundsätze, die Vorbereitung der Wahlen und die Organisation der Partei liegt in oberster Instanz dem Zentralwahlkomite der deutschen Fortschrittspartei ob. Das Zentralwahlkomite hat seinen Sitz in Berlin( ... )."I()()

Seine Aufgabe war es vornehmlich, die Wahlen vorzubereiten, Aufrufe zu verfassen und zu verschicken sowie Einfluss auf die Aufstellung der Kandidaten auszuüben. Außerdem wählte das Komitee einen geschäftsführenden Ausschuss: "Das Zentralwahlkomite wählt bei seiner jedesmaligen Konstituierung aus seiner Mitte einen aus fünf in Berlin wohnhaften Mitgliedern bestehenden geschäftsführenden Ausschuß für die Dauer der Legislaturperiode des Reichstages."101 Auf dem Parteitag von 1878 wurde entschieden, dass der geschäftsführende Ausschuss des Zentralwahlkomitees den Parteitag zu berufen hatte sowie zur konkreten Vorbereitung desselben sich zu einem Lokalkomitee zu erweitern und dem Parteitag Vorschläge hinsichtlich der Geschäftsordnung und Tagesordnung zu unterbreiten hatte. 102 In diesem Zusammenhang ist besonders die Rolle des Ausschusses zu erörtern, weil ihm die Korrepondenz mit den Wahlkreisen oblag: "Der Aufstellung der fortschrittlichen Kandidaten ist eine sehr lebhafte Korrespondenz des geschäftsführenden Ausschusses mit den Wahlkreisen einerseits und den Kandidaten andererseits vorhergegangen, namentlich in solchen Wahlkreisen, welche nicht im Stande waren, einen Eingesessenen des Wahlkreises als Kandidaten zu gewinnen. Von den 59 gewählten Abgeordneten ist bei 39 die Kandidatur durch den geschäftsführenden Ausschuß vermittelt worden."I03

Fast zwei Drittel der Abgeordneten wurden daher vom geschäftsführenden Ausschuss gewählt, was die nationale Ausrichtung der Politik der Forschrittspartei beweist. Insofern ist die vereinheitlichende Rolle des Ausschusses, seine Führungsfahigkeit und damit seine Funktion als Interessenvertreter der ganzen Partei bemerkenswert. Einen weiteren Beweis für diese Nationalisierung der Politik liefert die Zusammensetzung des Zentralwahlkomitees im Jahre 1879, wie sie vom geschäftsführenden Ausschuss vorgeschlagen wurde. 104 100 Tagesordnung für den ersten Parteitag der deutschen Fortschrittspartei (Berlin 1878), in: Parlamentarische Korrespondenz, Nr. 24, v. 8.11.1878. 101 Ebenda. 102 Auf Anregung des Ausschusses hin fanden im Laufe des Jahres 1881 sieben Parteitage statt. 103 Rechenschaftsbericht des geschäftsführenden Ausschusses des Centralwahlkomites der deutschen Fortschrittspartei pro 1881, in: Parlamentarische Korrespondenz, Nr.2, v. 6.3.1882. 104 So die Parlamentarische Korrespondenz vom Februar 1879: ,,( ... ) Auf Vorschlag des geschäftsführenden Ausschusses wurden in das Zentralwahlkomite kooptirt: 1) Dr. jur. Levy, Mitglied der Bürgerschaft zu Hamburg, 2) der Bayrische Landtagsabgeordnete Krämer (früherer Reichstagsabg.) zu Nümberg. Letzterer, Vorsitzender des Komite's der Deutschen Fortschrittspartei in Franken, soll außerdem aufgefordert werden, zwei Mitglieder aus diesem Komite in Vorschlag zu bringen, deren Kooptation dann dem geschäftsführenden Ausschuß des Zentralwahlkomite's übertragen wird. Es wird beschlossen, von jedem Mitgliede der preußischen

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2. Kap.: Die Deutsche Fortschrittspartei 1878-1884

Dabei ist besonders die Tatsache beachtenswert, dass im Zentralwahlkomitee sowohl Nord- als auch Süddeutschland vertreten waren, und nicht nur Preußen, auch wenn dieses immer noch eine zentrale Rolle einnahm. 1881 entfaltete der Ausschuss eine lebhafte Aktivität, die sogar zur Einrichtung eines ständigen Büros unter der Leitung von Eugen Richter und Ludolf Parisius führte. Vor den Reichstagswahlen richtete sich die Aufmerksamkeit des Ausschusses auf die Bewegung der Gegner und darum wurde "eine große Zahl von Zeitungen gehalten und durch einen besonderen Beamten gelesen und ausgezogen." Darüber hinaus veröffentlichte der Ausschuss von Anfang Januar bis Ende Juni eine wöchentlich erscheinende Wahlkorrespondenz, die den Zweck hatte, "den Angriffen insbesondere der offiziösen Presse auf die Fortschrittspartei entgegenzutreten."105 Man bedauerte aber auch die Tatsache, dass der Ausschuss nicht durch eine in Berlin erscheinende Zeitung unterstützt wurde, welche, wie es bei anderen Parteien der Fall war, der Stimmung 10 der parlamentarischen Partei getreuen Ausdruck gab. Für seine Mitteilungen stand dem geschäftsführenden Ausschuss nur die monatlich erscheinende Parlamentarische Korrespondenz zur Verfügung. 106 Zentral war die Rolle des geschäftsführenden Ausschusses schließlich auch, wenn es darum ging, die für den Wahlkampf nötigen Gelder von den Parteigenossen einzusammeln. 107 Für die Wahlen von 1878 wurde ein Zentralbüro eingerichtet, das für "die Beantwortung eingehender Briefe, die Ermittelung geeigneter Kandidaten aus der Fortschrittspartei, die Verhandlungen mit dem Zentralbüreau der nationalliberalen Partei über gemeinsame Kandidaturen, die Redaktion der Wahlkorrespondenz, der Agitationsbroschüren und Flugblätter, die Veranstaltung von Reiseagitationen"

zuständig war. 108 Während der Stadt Berlin ein eigenes Wahlbüro zur Verfügung stand, war das Zentralbüro für das ganze übrige Land zuständig. 109 Die Fortschrittspartei versuchte vor allem in der zweiten Hälfte der I 870er Jahre, die Leitung der Partei zu zentralisieren. Auf diese Weise übte das Zentralwahlkomitee beträchtlichen Einfluss auf die lokalen Organisationen aus: Letztere standen nämlich in Verbindung mit der Zentrale, nahmen auf sie Bezug und verzichteten ziemlich schnell auf die anfangs noch üblichen eigenen Programme. Die lokale Organisation der Partei sah provinzielle Geschäftsführer vor, die auf die Bildung von Vereinen und Komitees hinzuwirken hatten. Nach Bedarf oblag es Landtagsfraktion einen Beitrag von 30 Mark zum Wahlfonds für die nächsten Landtagswahlen einzuziehen" (Parlamentarische Korrespondenz, Nr. 2, v. 25.2.1879). 105 Ebenda. 106 Ebenda. 107 So die Parlamentarische Korrespondenz, Nr. I, v.30.1.1884. 108 Wahlkorrespondenz, Nr.l, 18.6.1878. 109 Ebenda.

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ihnen, auswärtige Redner und Kandidaten zu vermitteln. Des Weiteren sollten sie auch bei Ersatzwahlen "die Hülfeleistung der Parteigenossen in den benachbarten Kreisen" organisieren. 110 Das Geschäft dieser provinziellen Führungskräfte war klar geregelt, wie z. B. bei ihren Reisen: "Jeder Besuch eines Ortes im Geschäftsbereich muß in einer Halbtagsreise bewerkstelligt werden können. Persönliche Einwirkung hilft mehr als Korrespondenz."lll Es wurde betont, dass es sich nicht um Berufspolitiker handelte: "Da die Geschäftsführer auch nicht Politiker von Beruf sind, darf die Summe ihrer Obliegenheiten infolge eines zu großen Geschäftsbereiches nicht zu groß werden."ll2 Durch die Parlamentarische Korrespondenz von 1881 wurden die "Parteigenossen" gebeten, "welche sich für diese Fragen interessiren und selbst eine Geschäftsführung der Partei in diesem Sinne für einen Bezirk zu übernehmen geneigt sind( ... ), ihre Ansichten dem geschäftsführenden Ausschuß unter der Adresse des Abg. Eugen Richter zu geben." 113 In der Anlage ließ die Korrespondenz einen Entwurf zu einer Instruktion für die Geschäftsführer folgen, der abermals die zentrale Rolle der Berliner Parteileitung betonte. 114 Anders als bei den Nationalliberalen hatten die Mittelinstanzen zunächst bei den Linksliberalen geringere Bedeutung. Dies hing von der Tatsache ab, dass die Fortschrittspartei sich vor allem auf Preußen konzentrierte, wobei außerpreußische Fortschrittler im Allgemeinen in Essen-Darmstadt, Mecklenburg und Bayern zu einer gesamtliberalen Landespartei gehörten. Erst später, als die Liberale Vereinigung entstand, die im Jahre 1884 mit den Fortschrittlern zusammenschmolz, entsprach dieser Konstellation in Preußen auch die Aufteilung in den einzelnen Ländern, und die Provinzial- und Länderorganisationen gewannen somit an Bedeutung. 1lS 110 Unsere Geschäftsführer in den Provinzen, in: Parlamentarische Korrespondenz Nr.4, v.Ol.05.1881. 111 Ebenda. 112 Ebenda. 113 Ebenda. 114 ,,§ I. Die Geschäftsführer der Fortschrittspartei in den Provinzen werden bestellt von den Provinzialparteitagen, beziehungsweise vom geschäftsführenden Ausschuß in Berlin vorbehaltlich der Bestätigung der Provinzialparteitage. § 2. Aufgabe des Geschäftsführers ist es, in Übereinstimmung mit dem geschäftsführenden Ausschuß in Berlin die Agitation für die Partei zu fördern. § 3. Jedem Geschäftsführer wird zu diesem Zweck eine Anzahl von Wahlkreisen ausschließlich zugewiesen. § 4. Der Geschäftsführer hat in seinem Bereich auf Bildung von Vereinen oder Komite's der Fortschrittspartei hinzuwirken, den Parteigenossen im Bedürfnißfalle aUSWärtige Redner zu Versammlungen sowie auswärtige Wahlkandidaten zu vermitteln, bei Ersatzwahlen die Unterstützung der Parteigenossen in benachbarten Wahlkreisen zu organisiren, das Centralwahlkomite der Partei in der Sammlung von Beiträgen für die Partei zu unterstützen und auf den Absatz der herausgegebenen Broschüren, auf das Abonnement der ,Parlamentarischen Korrespondenz' und ähnlicher Organe der Partei hinzuwirken. § 5. Die Geschäftsführer erhalten Ersatz ihrer baren Auslagen an Porti, Telegrammgebühren sowie Eisenbahnfahrkosten auf Erfordern aus dem Centralwahlfonds nach Maßgabe im voraus zu bestimmender Pauschalsummen vergütet" (ebenda). 115 So auch Thomas Nipperdey, Organisation (1961), S.192.

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2. Kap.: Die Deutsche Fortschrittspartei 1878-1884

Im Vergleich zu der Nationalliberalen Partei und der Sezession, deren Leitung sich in zwei Ebenen teilte - die der eigentlichen Parteileitung und die der Mittelsmänner -, war die Direktion der Fortschrittspartei besonders von der Person Eugen Richters beherrscht, der 1875 die Leitung der Partei übernahm. Als Berufspolitiker hatte er die Möglichkeit, der Verwirklichung seiner Ziele viel Zeit zu widmen und in kürzester Zeit eine bedeutende Stellung innerhalb der Fraktion zu erlangen. Seine Kenntnisse im Bereich der Rechts- und Staatswissenschaften, die er während seines Studiums unter dem Einfluss von Robert von Mohl und Karl Heinrich Rau entwickelte, führten dazu, dass er bald eine bemerkenswerte Position in der Fortschrittspartei einnahm. Mohls liberale Rechtsstaatstheorie wurde zum Postulat und politischen Konzept Richters, "wonach es die Aufgabe des Rechtsstaats war, diejenigen Hindernisse, welcher Art auch immer, zu beseitigen, die Freiheit, Sicherheit und Wohlfahrt des Individuums gefährdeten."116 Während seiner Parlamentstätigkeit trat Richter uneingeschränkt für die reine Freihandelslehre und die Ablehnung von Sozialpolitik ein, die er "als bei der natürlichen Gesetzmäßigkeit des wirtschaftlichen Lebens nach Maßstab der völlig freien Konkurrenz nur schädlich" beurteilte. 1I7 Die parlamentarische Tätigkeit Richters begann im Jahr 1867: Es handelte sich hierbei um einen Einschnitt in der Geschichte zunächst Preußens und dann des preußisch-deutschen Reichs, der die liberale Politik von da an stark prägte. Das Ziel, Freiheit und Einheit gleichzeitig zu erlangen, erwies sich als momentan unerreichbar, und so wurde der Einheit von einem Teil der Liberalen der Vorrang eingeräumt. Daraus leitete sich die Spaltung des Liberalismus ab, der von da an durch eine eher pragmatische oder aber eine eher doktrinäre Haltung gegenüber dem Staat gekennzeichnet war. Die oppositionelle Haltung von Richter und der (preußischen) Fortschrittspartei findet in der Geschichte Preußens eine Erklärung. Sowohl die jüngere Epoche - also die liberale Ära, die Reaktion, der Verfassungskonflikt unter der Regie Bismarcks - als auch die ältere Tradition als Hohenzollernmonarchie und nicht zuletzt das junkerische und konservative Gepräge Preußens liefern zahlreiche Anhaltspunkte für diese oppositionelle Haltung ll8 dem Staat gegenüber. Hinzu kommt die Tatsache, dass Richter den Grundsätzen des sogenannten Manchestertums verpflichtet war, die zusammen mit seinem preußischen Ursprung Richters Einstellung bezüglich der Bismarckschen Regierung zu erklären vermögen. Richter war nicht nur Politiker, sondern auch Publizist. Seine politischen Publikationen - Broschüren und Zeitungen - stellten ein wirkungsvolles FührungsinstruIna S. Lorenz, S. 28. Ebenda, S. 28. 118 Sachlich und persönlich stand Richter denjenigen Elementen der Fraktion nahe, die den Kampf gegen Bismarck fortsetzten und die Bewilligung von Indemnität für die bisherige budgetlose Regierung nicht akzeptierten. 116

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ment dar. Er betrieb eine äußerst aktive Broschüren-Agitation, gründete zusammen mit Ludolf Parisius die Zeitschrift Der Reichsfreund und veröffentlichte die Parlamentarische Korrespondenz: Jede dieser beiden Publikationen hatte etwa 20.000 Abonnenten. 1l9 1885 gründete er Die Freisinnige Zeitung, die er bis 1904 herausgab und deren Defizite er durch seine eigenen, recht begrenzten Mittel deckte. Durch Parteiveröffentlichungen wie die Parlamentarische Korrespondenz war Richter in der Lage, mit den Organisationen an der Basis in Fühlung zu bleiben und sie zu leiten. Des Weiteren schuf Richter als Parteiführer eine straff gefügte Parteiorganisation mit zentralem Wahlfonds und örtlichen Wahlkomitees. Unter seiner Führung gewann z. B. der Ausschuss besonders seit 1878 an Einfluss. Im Hinblick auf die Reichstagswahlen von 1881 betonte Richter selbst seine Hegemonie: ,,( ... ) hatte ich im Auftrage unseres geschäftsführenden Ausschusses eine planmäßige Organisation der Partei für allgemeine Neuwahlen zum Reichstage in die Hand genommen. Am 8. Mai leitete ich namens des geschäftsführenden Ausschusses durch Zirkular die vertraulichen Verhandlungen ein über die Auswahl der Kandidaten für die interessierenden Wahlkreise. Zur selben Zeit leitete ich namens unseres Ausschusses durch vertrauliche Zirkulare Geldsammlungen ein, um wo möglich einen Fonds von 100 000 M. zusammenzubringen, welcher teilweise auch zur Gewährung von Diäten an die Reichstagsabgeordneten bestimmt sein sollte behufs Erleichterung der Aufstellung von Kandidaten. Zugleich organisierte ich namens des Ausschusses die Abhaltung auswärtiger Vorträge durch Abgeordnete und Parteigenossen unter Entschädigung für die Reisekosten ( ...)." 120

Sowohl in ihrer Zusammensetzung, als auch in ihrem Verhalten wurde die Reichtagsfraktion unter der Ägide Richters einheitlicher - was dazu führte, dass man ihn als Tyrannen bezeichnete. 121 In diesem Sinne fiel auch das Urteil von Felix Rachfahl über Richter aus: "Umfassende Kenntnisse, ungewöhnliche Redegabe, rastlose Arbeitskraft, eiserne und furchtlose Energie und Selbstlosigkeit des Charakters, - das waren die Vorzüge, die Freund und Feind dem Heimgegangen neidlos zugestanden. Er war der beste Kenner der Reichsund Staatsfinanzen durch viele Jahrzehnte hindurch, nicht minder des Verfassungs- und Verwaltungsrechts im Kreise der praktischen Politiker, ein Kritiker ersten Ranges von scharfer und zersetzender Verstandeskraft; Illusionen und Phantastereien konnten vor ihm nicht bestehen. ( ... ) Er war ein geborener Volksredner und Agitator, von imposanter Erscheinung und hinreißender Beredsamkeit, der die Massen zu packen wußte, ein schlagfertiger Debatter( ... ). Im persönlichen Verkehr jovial und liebenswürdig, wenn er wollte, hielt er schon durch die Wucht und die Überlegenheit seines persönlichen Wesens die Parteigenossen von sich in 119 120

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Kurt Koszyk, S.153. Eugen Richter, Reichstag, S. 170. Vgl. Thomas Nipperdey, Organisation (1961), S. 203 f.

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2. Kap.: Die Deutsche Fortschrittspartei 1878-1884 Abhängigkeit; dazu kam das konsequente Festhalten an der Doktrin, um sein Übergewicht zu befestigen." 122

Neben Richter nahm Albert Hänel 123 eine führende Position in der Fortschrittspartei ein. Hänel war ein bekannter Jurist und hatte großen Anteil an der 1869 verabschiedeten schleswig-holsteinischen Städteordnung, der ,freiheitlichsten von ganz Preußen.' 124 Er wirkte auch an anderen Gesetzeswerken seiner Wahlheimat mit. 1859 wurde er Mitglied des Nationalvereins und 1861 schloss er sich der Fortschrittspartei an. Als Staatsrechtslehrer gewann Hänel in den 1870er Jahren, als die Fortschrittspartei an der Ausarbeitung von wichtigen Gesetzeswerken beteiligt war, großes Ansehen. "Politisch tendierte er zur nationalliberalen Taktik. Wie die Hannoveraner in der Nationalliberalen Partei, so verkörperte der ,Schleswig-Holsteiner' Hänel in der Fortschrittspartei die kompromißbereiten Kräfte."I25 So wurde er mehr und mehr zum Gegenspieler Richters. Eine "Affaire Hänel-Richter" entstand z. B. im Jahre 1882, als die Berliner Zeitung der Ansicht war, dass ,,(...) ,die taktischen Angriffe der Kieler Zeitung auf den Abgeordneten Richter' - darunter ist die maßvolle Weise zu verstehen, in welcher dieses Blatt sich weigerte, eine Diktatur Richters innerhalb der Fortschrittspartei zu unterstützen - ,eine energische Abwehr herausfordern.' Die liberale Partei von Schleswig-Holstein hat das Kapitalverbrechen begangen, einen Wahlkompromiß zu schließen, ohne das Centralwahlkornitee der Fortschrittspartei um die Zustimmung dazu zu ersuchen."126 Richter erklärte in seinem Journal, dem Reichsfreund, vom 30. August 1882 seine Position: ,( ... ) In Wahlkreisen, welche nur mit einer Verständigung mit anderen liberalen Parteien zu bewahren sind, biete ich bei entsprechender Betheiligung der Fortschrittspartei an den Kandidaturen gern die Hand zu einer Einigung.' Demgemäß waren in den letzten Wochen ,entweder unter meiner Mitwirkung oder doch unter meiner ausdrücklichen Billigung in 26 Wahlkreisen Vereinbarungen zu Stande gekommen ( ... ).' 127 Es war aber auch klar, dass Richter die Fortschrittspartei für Liberale anderer Richtungen nicht öffnen wollte. 128 122 Felix Rachfahl, Richter (1910), S. 301 f. Rachfahl urteilte abschließend: ,)edenfalls ist er eine der markantesten Gestalten in der inneren Geschichte des neu geeinigten Deutschlands, und als der unermüdlichste und konsequente Vertreter und Vorkämpfer der liberalen Gedanken stellt er in sich dar eine Art von Gegenstück und Ergänzung zu dem, den er sein Leben lang so leidenschaftlich bekämpft hat, zu Bismarck, in dem der realpolitische Genius, preußisch-deutscher Machttrieb und mächtiges Selbstbewußtsein verkörpert waren: ihnen und nicht jenen gehörte die Zeit" (ebenda, S. 303f.). 123 Albert Hänel, (1833-1918), Professor der Rechtswissenschaft in Kiel, Mtg. der Schleswig-Holsteinischen Landespartei und MitbegTÜnder der liberalen Partei, evangelisch. 124 Gustav Seeber, Bebel, S.107. 12S Ebenda, S.107. 126 Deutsches Tageblatt Nr. 239, V.2.9.1882. 127 Ebenda. 128 ,Dagegen würde ich glauben, die Partei ihrer Auflösung entgegenzuführen, wenn ich in Kreisen, wo die Fortschrittspartei bei den letzten Reichstagswahlen die Nationalliberalen ge-

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Anders als Richter glaubte Hänel fest an die Möglichkeit, eine große liberale Partei gründen zu können, und dementsprechend war er einer der Hauptakteure bei der Vorbereitung und Durchführung der Fusion zwischen Fortschrittspartei und Liberaler Vereinigung. Hänels politische Macht war tief in Schleswig-Holstein verankert, was zur Vergrößerung seines Ansehens in der Fortschrittspartei und in den Augen Richters beitragen sollte. Im Übrigen nahm er 1864 an der Schleswig-Holstein-Frage 129 aktiven Anteil, als er entschieden für die Trennung des Landes von Dänemark eintrat. Diesen Kampf führte er zunächst durch wissenschaftliche Schriften wie Das Recht der Erstgeburt in Schleswig-Holstein (Kiel 1864) oder Die Garantie der Grossmächte für Schleswig (Leipzig 1864) und auch als leitendes Mitglied der Landespartei. Hänel hatte bedeutende Ämter im föderalistischen System Deutschlands inne, die von seiner Tatigkeit als Professor und lurist 130 abhingen - was wiederum zu seiner Schlüsselposition innerhalb der Fortschrittspartei führte. Er war Mitglied des Reichstags zwischen 1867 und 1893, in dessen zweiter Legislaturperiode er als zweiter Vize-Präsident amtierte, und des preußischen Landtags von 1867 bis 1888, wo er 1876 zum ersten Vize-Präsidenten ernannt wurde. schlagen hat, auch konservative Kandidaten ernstlich nicht in Frage kommen, meine Parteigenossen bewegen wollte, nunmehr im Landtage unter Verzicht auf eigene Kandidaten wieder nationalliberal zu wählen. Im Gegentheil halte ich alle fortschrittlichen Organisationen für verpflichtet, die Parteigenossen in solchen Kreisen zur Wahrung ihres Standpunktes auf das nachdrücklichste zu unterstützen (...)' (ebenda). Das Deutsche Tageblatt hielt eine solche Position für diktatorisch. "Wenn seine kategorischen ,Ich bin', ,Ich will', ,Ich werde', ,Ich habe' noch nicht im pluralis majestatis erscheinen, so darf man die Schuld kaum der Bescheidenheit des Herrn Richter beimessen" (ebenda). Ähnlich auch die Beurteilung der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung: ,,Es ist beachtenswerth, daß Herr Richter und nicht der Centralauschuß die Erklärung erläßt, da letzterer doch, wie Herr Richter sagt, mit ihm einverstanden sein soll. Herr Richter spricht überhaupt ausschließlich von sich, von seiner ,Billigung', seiner ,Mitwirkung' usw. ( ... ) Krasser hat Herr Richter seine Diktatur wohl nie in den Vordergrund gestellt, wie in diesen Sätzen ( ...)" (ebenda). 129 Nach den sogenannten Londoner Protokollen von 1852 wurde das Problem SchleswigHolstein international geregelt: Der dänische Gesamtstaat sollte erhalten bleiben und in allen Landesteilen, auch in Holstein und Schleswig, sollte die weibliche Erbfolge gelten. Als im November 1863 das Herzogtum Schleswig von Dänemark, mit dem es bisher nur in Personalunion gestanden hatte, förmlich annektiert wurde, wurde Deutschland von patriotischer Erregung ergriffen. In den Parlamenten und in der Öffentlichkeit forderte man die Entfesselung eines deutschen Nationalkrieges gegen Dänemark. Bismarck erkannte aber die Herrschaftsrechte des dänischen Königshauses in Schleswig"Holstein an, was England, Frankreich und Russland zufriedensteIlte, plante aber dennoch den bewaffneten Einmarsch in die Elbherzogtümer, weil er durch die Einverleibung Schleswigs in den dänischen Staat alte schleswig-holsteinische Sonderrechte verletzt sah. Während seit Januar der Krieg Preussens und Österreichs gegen Dänemark bedeutende militärische Erfolge errang, war damit die liberale Öffentlichkeit sehr unzufrieden. Der Krieg endete mit dem Frieden in Wien vom 1.8.1864, der zur Abtrennung der Herzogtümer bis zur Eider von Dänemark führte. 130 Als Staatsrechtslehrer veröffentlichte Hänel u. a.: Studien zum deutschen Staatsrecht, Leipzig 1873.

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Verwickelt in dieses Netzwerk deutscher Ämter war auch Ludwig Löwe, J3I der einen gewissen Einfluss auf die Politik der Fortschrittspartei ausübte. Mit 27 Jahren wurde er zum Stadtverordneten gewählt, was er bis zu seinem Tode blieb, und bald war er einer der führenden Männer der liberalen Gruppe. In der kommunalen Tatigkeit beschäftigte sich Löwe mit Fragen des Schulwesens und der Finanzwirtschaft der Stadt. Im Jahre 1876 wurde er ins preußische Abgeordnetenhaus und ein Jahr darauf in den Deutschen Reichstag gewählt. Die gleichzeitige Ausübung von drei Mandaten - Stadtverordnetenversammlung, Landtag und Reichstag - hinderte ihn nicht daran, auch noch einen Großbetrieb zu leiten. Ein weiterer wichtiger Parteileiter war der berühmte Gelehrte Rudolf Virchow, 132 dessen wissenschaftliche Autorität und politische Vergangenheit sein Ansehen und seinen Einfluss in der Fortschrittspartei begründeten. Virchow beteiligte sich an der demokratischen Bewegung von 1848 und gehörte zu den Mitbegründem der Fortschrittspartei. Am Anfang der 1870p.r Jahre spielte Virchow 1'.1ne große Rolle in der Auseinandersetzung Bismarcks mit dem Zentrum und von ihm stammte denn auch die Bezeichnung Kulturkampf Klar und deutlich war die Ansicht Virchows über kirchliche Fragen, die, zusammen mit der sozialen Frage, die politische Debatte jener Jahre beherrschten. 1878 erklärte Virchow in einer großen Berliner Wählerversammlung die Haltung der Fortschrittspartei gegenüber der Sozialdemokratie und der Religion: ,,(...) Ich muß ernstlich konstatiren, daß auf diesem Gebiet gar keine Verwandtschaft zwischen uns besteht. Unsere Stellung ist ganz klar. Die Religion ist für uns die Angelegenheit jedes einzelnen Menschen, nicht die des Staates, der sich in keiner Art darum kümmern soll, was die Einzelnen in Bezug auf übersinnliche Dinge für wahr halten. Ich frage keinen Kollegen nach seinem Glauben, habe auch gar kein Recht, ihn zu examiniren. (... ) Der Glaube muß herausgelassen sein aus politischen Dingen, die Politik soll nichts mit der Religion zu schaffen haben. Wir sagen: Schafft jedem guten Glauben in Preußen Freiheit und gebt für Alle gleiches Recht! Keine Staatsreligion, keine Synoden, keinen Bischof! Stellt den König nicht an die Spitze einer Kirche; bringt Alles aus dem Gebiet der Politik heraus und legt es in das Privatleben des einzelnen Bürgers."133

Als echter Protestant konnte Virchow nicht akzeptieren, "daß das, was Synoden und Päpste vorschreiben, besser sein kann als die Religion, die sich jeder Mensch in 131 Ludwig Löwe, (1837-1886), mos., Industrieller. Gründete eine Nähmaschinenfabrik in amerikanischem Stil (Präzision bei Massenfabrikation), in der 4.000 Arbeiter beschäftigt waren. Erhielt nach Produktionserweiterung bedeutende Heeresaufträge. Stadtverordneter. Parlamentarier (1876 ins preußische Abgeordnetenhaus und dann in den Deutschen Reichstag gewählt). Fortschrittspartei (vgl. Salomon Wininger, National-Biographie, Bd.4, S.16O; Heinz Kullnick). 132 Rudolf Ludwig Karl Virchow, (1821-1902), evangelisch, Geh. Medizinalrat, Pathologe, Professor der Anatomie und Pathologie, Direktor des pathologischen Instituts und Rektor der Berliner Universität. Politiker. 1848 wirkte er im liberalen Sinn und bekannte sich als Demokrat. 1880-1893 Mtg. des Reichstags. Als Parlamentarier erwarb er sich große Verdienste um die soziale Fürsorge. Bedeutender Forscher. Vorsitzender der Berliner Thmerschaft (vgl. Rudolf Virchow). 133 Wahlkorrespondenz, Nr. 7, v.8.7.1878.

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seiner Brust giebt, die nur allein auf Überzeugung beruhen kann, während jede Zwangsform und Vorschrift die wahre Religion, die aus dem Innern kommende Sittlichkeit nicht besitzt."134 Er betonte, dass sich auch in religiöser Hinsicht die Einstellung der Fortschrittspartei von der der Sozialdemokratie unterschied: "Unser ganzes Streben geht dahin, die staatliche Regelung der Religion entbehrlich zu machen, und darin unterscheiden wir uns durchaus von der Sozialdemokratie, die absolutistisch in der Politik, auch in der Religion Alles von oben her dekretiren würde."13S Die sozialwissenschaftliche Tatigkeit Virchows musste zwangsläufig zu seinem Ansehen beitragen, weIches wiederum entscheidend für sein politisches Engagement in der Fortschrittspartei war. 136 Sein Prestige wurzelte in Berlin, wo Virchow seine wissenschaftliche und politische Tatigkeit ausübte. So waren die verschiedenen Berliner Vereinsversammlungen, an denen er teilnahm, stets von zahlreichen Personen besucht. Virchow leistete eine hervorragende kommunale Arbeit in Berlin, wo er wesentlich beteiligt war an der Gründung der großen städtischen Krankenhäuser und ganz besonders am Bau der Wasserleitungen und der Kanalisation. 137 Der Naturforscher Virchow ist vom Politiker nicht zu trennen: Medizin, Naturforschung und Politik standen in einer engen Verbindung und durchdrangen sich wechselseitig. So stellte Virchow eine Kongruenz zwischen Zellenlehre und Staatslehre fest, da beide seiner Meinung nach denselben Ausgangspunkt hatten. Der Arzt habe ,den einzelnen Bürger', ,der diesem Staat angehört', zum Gegenstand seiner Untersuchung. Und als Naturwissenschaftler habe er die einzelne Zelle zum Ausgang seiner Betrachtung zu machen; denn es sei ,der eigentliche Bürger, der berechtigte Repräsentant der Einzel-Existenz, wie es jeder von uns sich einbildet', der diese menschliche Gesellschaft und auch diesen Staat konstituiert. 138 Das bedeutete, dass der Ausgangspunkt des natürlichen und politischen Organismus die Zelle war, was im politischen Bereich zu einer individualistischen Sichtweise führte. Virchow stellte daher einen wechselseitigen Einfluss zwischen Naturwissenschaft und Politik Ebenda. Ebenda. Die Beurteilung der Sozialdemokratie als Negation der individuellen Freiheit taucht in Virchows Reden immer wieder auf. Vgl. z. B. die Wahlkorrespondenz, Nr. 13, v.27.7.1878. 136 Vgl. dazu Götz von Seile, Nr. 284 und Von Hansemann, S. 358. 137 Was die politischen Aktivitäten Virchows angeht, ist bemerkt worden, dass diese ,,sich vor dem Hintergrund der Ablösung des älteren Typus des Honoratiors durch Berufspolitiker und professionelle Experten" bewegten. Auch im Bereich der Berliner Stadtverwaltung, die "ebenfalls vom allgemeinen Trend zur Ablösung des Honoratiors durch den professionellen Experten erfaßt wurde", stellte Virchow eine Art Übergangsform dar, "indem er Honoratior und Experte in einer Person verkörperte. Der Bereich, in dem er agierte, umfaßte von der Einführung der städtischen Fleischbeschau über Planung und Bau des Schlachthofes, der Kanalisation, von Kranken- und Irrenhäusern, Obdachlosen asylen, Schulen, Museen usw. ein breites Spektrum vor allem wiederum von Angelegenheiten der Gesundheitspolitik und Bildung. Dabei verfocht er seine Ziele einerseits mit Hilfe seiner Einbindung in das soziale Netzwerk liberaler Honoratioren (... )" (Constantin Goschier, S. 70). 138 Walter Bußmann, Virchow, S. 279. 134 135

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fest, wobei Letztere mit ihren Maßstäben sich in der Naturforschung niederschlagen konnte. Mit anderen Worten hatte demnach die Politik für Virchow einen semantischen Vorrang vor der Naturwissenschaft, also vor der Wissenschaft im reinsten Sinne des Wortes. Ludolf Parisius 139 arbeitete engstens mit Eugen Richter zusammen, so z. B. bei der Herausgabe des Volksfreundes (1868-1872), der Parlamentarischen Korrespondenz (nach 1877) und des Reichsfreundes (nach 1882). Mit Schulze-Delitzsch redigierte er die Blätter für Genossenschaftswesen. Er gab sich ganz der publizistischen Tlitigkeit hin 140 und verfasste eine Biographie über Hoverbeck. 141 Schließlich bleibt noch Hugo Hermes 142 zu erwähnen, der die Kassengeschäfte der Fortschrittspartei besorgte und als Eugen Richters Sprachrohr galt. Richter war zweifellos der beherrschende Mann in der Parteileitung, dem hauptsächlich die Fraktionsdisziplin und die zentrale Leitung der politischen Aktionen und der Wahlbewegung zu verdanken waren.

2. Der Brief als Mittel politischer Kommunikation Ein weiteres bedeutendes Instrument für die internen Kontakte der Fortschrittspartei war der Brief. Es handelte sich hierbei um ein Mittel, das für alle politischen Bewegungen im 19. Jahrhundert von größter Bedeutung war. Die Wichtigkeit eines solchen Mittels liegt auf der Hand, obwohl es nicht immer ausreichend als einziges Übertragungs- und Verbindungsmittel betont wird. Das Internetsystem mit der damit verbunden Mailmöglichkeit hat eine Kommunikationsebene geschaffen, die sich auf informelle und oft unbekannte Kontakte stützt und die Tragfähigkeit der brieflichen Korrespondenz im 19. Jahrhundert vergessen lässt. Der politische Zusammenhalt, das ist dagegen zu unterstreichen, bestand damals aus persönlichen Netzwerken, die durch Briefe und Reisen aufrechterhalten wurden. Um Wahlpropaganda zu machen und Anhängerschaft bzw. Stimmen zu gewinnen, 139 Ludolf Parisius, (1827-1900), evangelisch, Kreisrichter in Gardelegen, ein Amt, das er wegen politischer Wahlagitationen als Mtg. des fortschrittlichen Centralwahlkomitees bereits 1864 niederlegen musste. Publizist und Schriftsteller. Mtg. (Fortschrittspartei) des preußischen Landtages (seit 1862), später des Reichstages (1874-1877; 1881-1887). Deutschfreisinniger. Gehörte ständig zum geschäftsführenden Ausschuss der Fortschrittspartei bzw. der Deutschen Freisinnigen Partei (vgl. Adolf Hinrichsen, S. 1013). 140 Ludolf Parisius, Parteien; ders., Fortschrittspartei. 141 Ludolf Parisius, Hoverbeck. 142 Hugo Herrnes, (geb. 1837), Rentier in Berlin. Evangelisch. Mtg. des preußischen Abgeordnetenhauses 1876--79 für Westhavelland-Zauch-Belzig, seit 1880 für Berlin IV. Mtg. des Reichstags 1877-81 für Jüterbog-Luckenwalde, Zauch-Belzig, 1881-87 für Parchim-Ludwigslust.

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waren nämlich Wahlreisen sehr wichtig, wie auch die Reden von Parteiführern oder ihre Teilnahme an Banketten. 143 Der Brief stellte die Beziehung der Parteigenossen untereinander, zu den Parteileitern und zu den Wahlkreisen her. Durch Briefe gaben sie die Situation der Partei in den Provinzen oder im Reichstag weiter und forderten von den Leitern Rede und Antwort. Der Brief wurde daher zu einem der wichtigsten Mittel bei der Ermittlung von Informationen und dem Austausch derselben, was die Zeitgenossen auch selbst so empfanden. So schrieb 1881 Ludolf Parisius an Eduard Lasker, dass die Partei ihre Mitglieder durch Briefe zu politischer Tätigkeit anspornen sollte. 144 Verbreitet war auch der sogenannte vertrauliche Brief, der über Parteiangelegenheiten berichtete, aber auch bestimmte politische Strategien bzw. Haltungen einforderte. Vertrauliche Briefe hatten die Absicht, das politische Bewusstsein der Parteimitglieder zu wecken und es für politische Ziele zu nutzen, wobei die Verbindung auf privater Ebene hergestellt wurde. Auch bei der Arbeit des geschäftsführenden Ausschusses im Vorfeld der Wahlen von 1884, als Schritte überlegt wurden, wie Geld von den Parteigenossen einzusammeln sei, spielte diese Kommunikationsform eine wesentliche Rolle. Man ging so vor wie schon bei den Wahlen von 1881: "Ein vertrauliches Cirkular wurde im Oktober 1880 an einzelne Parteigenossen versendet und dann gleichzeitig mit einem allgemeinen Aufrufe und einer ersten Liste der eingegangenen Beiträge für die ganze Partei veröffentlicht."'4s Zwischen Ende 1883 und Anfang 1884 wurde dann im Deutschen Volksfreund (einem Blatt der Deutschen Fortschrittspartei) ein Schreiben des Vorstandes veröffentlicht, das sich an die einzelnen Parteifreunde richtete, um die für die nächsten Wahlen nötigen Gelder zusammenzubekommen: ,Wir wenden uns zu diesem Zweck zunächst nicht an die Öffentlichkeit, sondern privatim und vertraulich an einzelne uns bekannte wohlhabendere Männer, welche zu unserer Partei gehören oder doch in entscheidenden Punkten die Bestrebungen der Partei teilen und an ihrem Wahlerfolge Interesse haben.' 146 Außer jenen institutionellen Organen - wie Vereinen und Leitungsorganen -, deren Zweck und Organisation im Programm bzw. im Statut der Partei vorhergesehen waren, bestand die Kraft der Partei aus informellen, nicht geschriebenen Regeln. Es waren Mittel wie die Briefe, die das politische Spiel bestimmten, da sie besonders bei den Honoratiorenparteien eine wesentliche Ausdrucksform darstellten. 143 Die Bedeutung der Reise als Mittel politischer Kommunikation des Bürgertums im 19. Jahrhundert hat Christian Jansen zurecht betont: vgl. Christian Jansen, Einheit, S. 91 ff. 144 Vgl. Ludolf Parisius (für den geschäftsführenden Ausschuss der Deutschen Fortschrittspartei) an Eduard Lasker. BerJin, den 9.9.1881, in: BArch, N 2167 (NL E. Lasker), Bd.230, BI. 11. Die Person Eduard Laskers wird im Kapitel über die Nationalliberale Partei besprochen. 145 Parlamentarische Korrespondenz, N r. 1, v. 30.1.1884. 146 Der Reichsbote, Nr.21, v. 25.1.1884, in: LHA Potsdam, Pr.Br. Rep. 30, Berlin C, Tit. 94, Nr.14071, BI. 9rv.

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2. Kap.: Die Deutsche Fortschrittspartei 1878-1884

3. Die Publizistik als Bildungsinstrument Die Publizistik zählte zu den wichtigsten Pfeilern der Partei, da sie zur Bildung der Partei anhänger und der Sympathisanten wesentlich beitrug. Denkt man daran, dass die Publizistik im 19. Jahrhundert den einzigen Weg darstellte, um über Parteitendenzen und -aktivitäten zu berichten, liegt ihre Bedeutung als Bildungsmittel auf der Hand. Dies galt zumal für die Fortschrittspartei, die sich mehr auf Prinzipien und weniger auf persönliche Verbindungen stützte. Unter dem Begriff Publizistik werden hier veröffentlichte Quellen berücksichtigt, die zur politischen Propaganda beitrugen, d. h. sowohl Presseorgane der Partei als auch sympathisierende Tageszeitungen; sowohl Broschüren als auch Flugblätter. Gemäß ihrer jeweiligen Natur wirkten sich diese Veröffentlichungen auf die organisatorische Leistung der Partei natürlich unterschiedlich aus. Auf dem Parteitag von 1878 wurde die Parlamentarische Korrespondenz l47 als Organ des Zentralwahlkomitees und des geschäftsführenden Ausschusses sanktioniert. Sie kann als weiterer Knoten im Beziehungsnetz zwischen der Partei im Parlament, d. h. der Fraktion, und der Partei im Lande verstanden werden. Dieser Rolle konnte sie insofern gerecht werden, als sie unter den Parteigenossen verbreitet war und damit als Vereinsblatt galt. 143 Zwischen 1877 und 1881 nahm die Zahl der Abonnements der Korrespondenz erheblich zu, was der große Anstieg der Auflage - von ca. 2.000 im Jahre 1877 bis ca. 20.000 im Jahre 1881- belegt. 149 Darüber hinaus zeigte die Zunahme der Abonnenten, daß die Parlamentarische Korrespondenz immer mehr ihrer Bestimmung gemäß zu einem Vereinsblatt der fortschrittlichen Vereine wurde. ISO 147 Der genaue Titel ist: Aus der deutschen Fortschrittspartei. Parlamentarische Korrespondenz, hrsg. v. den Abgeordneten Ludolf Parisius und Eugen Richter. 148 "Sie ist aber dazu nur befähigt, wenn die Parteigenossen sich um ihre gleichmäßige Ausbreitung durch das ganze Land derart bemühen, daß die ,Korrespondenz' in die Hände aller Personen kommt, welche im politischen Kampfe an den einzelnen Orten und den einzelnen Bezirken als Führer und Vertrauensmänner gelten. Insbesondere ist es Aufgabe der Vorstände der Wahlvereine der Fortschrittspartei, die Verbreitung der ,Korrespondenz' unter den Vereinsmitgliedern in die Hand zu nehmen. Die ,Korrespondenz' vertritt zugleich die Stelle eines Vereinsblattes. Für Vereinsmitglieder, welche zwei Mark oder mehr jährlich Vereinsbeitrag zahlen, sollte die Korrespondenz von Vereinswegen abonniert werden. Solche Verbreitung der ,Korrespondenz' wird dazu beitragen, unter den Mitgliedern das Parteiinteresse und damit zugleich das Vereinsinteresse lebendig zu erhalten" (Tagesordnung für den ersten Parteitag der deutschen Fortschrittspartei [Berlin 1878] in: Parlamentarische Korrespondenz, Nr. 24, v. 8.11.1878). 1879 hatte sich die Zahl der Wahlvereine, welche für ihre sämtlichen Mitglieder die Korrespondenz abonnierten, erheblich vermehrt. "Bis jetzt haben bezogen oder werden beziehen 4 Berliner Vereine, Vereine in Elberfeld-Barmen, Breslau, Hanau, Frankfurt a. M., Darmstadt, Gevelsberg, Stallupönen, Lennep, Lüdenscheid, Breckerfeld, Köln, Solingen, Kassel, Ronsdorf, Offenbach, Haspe, Insterburg" (Parlamentarische Korrespondenz Nr. 10, v.20.12.l879). 149 Gustav Seeber, Fortschrittspartei, S.624. 150 V gl. Parlamentarische Korrespondenz, Nr. I, v.6.2.1882.

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Auch wenn die Fortschrittler die Bedeutung der monatlichen Korrespondenz zu würdigen wussten, beklagten sie dennoch das Fehlen einer wöchentlichen Zeitschrift, wie sie den Sezessionisten und den Konservativen zur Verfügung stand: "Die Organisation der Fortschrittspartei übertrifft diejenige der Sezessionisten; aber jene haben eine eigentliche Parteizeitung in Berlin, eine Wochenschrift, eine Zeitungskorrespondenz. Uns fehlt dies Alles, obgleich die Organisation für alles dies alsbald eine breite Unterlage schaffen könnte. (... ) die Wochenschrift muß zunächst geschaffen werden. Sogar die Partei Stöcker hat eine solche Wochenschrift. Die Parlamentarische Korrespondenz als offizielles Parteiblatt, als Organ für die gesammte Organisation und Agitation und eigentliches Vereinsblatt, muß daneben in ihrer bisherigen Art als Monatsblatt bestehen bleiben (... )." 151

In der Tat gab es dann ab 1882 den wöchentlich erscheinenden Reichsfreund, der von Hugo Hermes, Ludolf Parisius und Eugen Richter herausgegeben wurde. Er wurde in Berlin veröffentlicht und seine Auflage stieg von ca. 10.800 im Jahre 1883 auf ca. 24.000 im Jahre 1884. 152 Durch die Parlamentarische Korrespondenz bemühte sich die Fortschrittspartei, den Reichsfreund in Deutschland zu verbreiten. Sie schrieb im Dezember 1882, dass er sich bemühe "ein freisinniges politisches Wochenblatt zu sein und zugleich zur gemüthlichen Unterhaltung zu dienen, nur eigene Artikel in gemeinfaßlicher Sprache für Jedermann im Volke zu bringen,im politischen Theile neben einer Wochenschau kräftige Leitartikel, kurze Berichte über merkwürdige Neuigkeiten und was sonst zur Anregung und Belehrung in Reichs- Staatsund Gemeindeangelegenheiten nützlich ist,in dem zur Unterhaltung, auch für die Frauen bestimmten Theile spannende Erzählungen, Schilderungen aus dem Leben deutscher Freiheitskämpfer, frische Lieder und Sprüche und lustige Geschichten und allerlei für Haus, Gewerbe und Landwirtschaft Wissenswerthes." 153

Die Rolle der Parlamentarischen Korrespondenz blieb davon aber unberührt, wie im Übrigen die Partei selbst 1884 betonte: "Die Parlamentarische Korrespondenz ist durch den ,Reichsfreund' keineswegs überflüssig geworden. Die ,Parlamentarische Korrespondenz', das offizielle Organ des geschäftsführenden Ausschusses, ist für alle Vereinsleiter, Agitatoren, Redner, Vertrauensmänner der deutschen Fortschrittspartei durchaus nothwendig; sie giebt Auskunft über die Wirksamkeit und Haltung der parlamentarischen Partei, über die von der Parteileitung getroffenen Einrichtungen und über wichtige Vorgänge innerhalb des Parteilebens."I54

So die Korrespondenz weiter: "Alle fortschrittlichen Vereine sollten für ihre sämmtlichen Mitglieder nach wie vor auf die ,Parlamentarische Korrespondenz' abonnieren."lss Parlamentarische Korrespondenz, Nr.5, V.2.6.I882. Gustav Seeber, Fortschrittspartei, S.624. 153 Parlamentarische Korrespondenz, Nr.I2, v.30.I2.I882. 154 Parlamentarische Korrespondenz, Nr.I, v.30.l.l884. 155 Ebenda. 151

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2. Kap.: Die Deutsche Fortschrittspartei 1878-1884

Für die Wahlen von 1878 wurde entschieden, dass die Wahlkorrespondenz anstelle der Parlamentarischen Korrespondenz bis nach den Wahlen erscheinen solle. Die Wahlkorrespondenz erschien einmal wöchentlich und sollte den Wahlkampf unterstützen. "Die Wahlkorrespondenz wird Leitartikel über Wahlfragen, Nachrichten über die Stellung der Fortschrittspartei zu anderen Parteien, über Kandidaturen und Kandidaten, sowie geschäftliche Mittheilungen bringen. Sie wird auch soweit wie möglich Erwiderungen auf gegnerische Angriffe enthalten (... )."156 Fast jede Nummer der Wahlkorrespondenz enthielt Aufrufe an die Wähler, um neue Wahlvereine der Fortschrittspartei zu gründen. Des Weiteren berichtete die Zeitschrift über Wahlfondsbeiträge, was die Tendenz der Partei zur Transparenz gegenüber den Parteigenossen zeigt. Dies sollte aber auch Parteisympathisanten anregen, eigene Wahlbeiträge zu überweisen. Ohne offizielle Parteiorgane zu werden, gab es andere größere Tageszeitungen, die der Deutschen Fortschrittspartei nahestanden und für diese eine wesentliche Integrations- und Mobilisierungsrolle hatten: die Volkszeitung (Berlin 1878-1884; Auflage: 15.000 bis 22.000) und die Vossische Zeitung (Berlin 1878-1884; Auflage: ca. 18.000 bis 24.(00).157 Schließlich veröffentlichten zahlreiche Lokalzeitungen Informationen über örtliche Parteiangelegenheiten, wie z. B. die Aufstellungen von Kandidaten, Situationen in den jeweiligen Wahlkreisen und auf Parteitagen. Des Weiteren sind auch die Flugblätter hinzuzurechnen, die zur Wahlzeit erschienen und bestimmte Kandidaten förderten l58 oder auf besonders apologetische Weise die Stärke der Fortschrittspartei gegenüber anderen Parteien, selbst gegenüber anderen liberalen Mitstreitern, betonten. 159 Zahlreiche Broschüren dienten dem inneren Konsens und der Legitimation, wurden meist anläßlich von Jubiläen veröffentlicht und stellten die Geschichte einer bestimmten Institution der Fortschrittler oder der Partei selbst dar. Besonders bei bevorstehenden Wahlen gab die deutsche Fortschrittspartei Broschüren über politische 156 Wahlkorrespondenz, Nr.l, V.18.6.1878.

Gustav Seeber, Fortschrittspartei, S.624. Darüber berichtete z. B. die Parlamentarische Korrespondenz von 1882: ,,Der geschäftsführende Ausschuß hat 21 für alle Wahlkreise brauchbare Flugblätter erscheinen lassen. Von diesen Flugblättern wurden 200 000 Exemplare theils als Proben für die Vertrauensmänner, theils zur direkten Unterstützung einzelner Wahlkreise gratis verwandt ( ...)" (Parlamentarische Korrespondenz, Nr. 2, v.6.3.1882). 159 So war z. B. in einem Flugblatt der Fortschrittspartei um 1883 zu lesen, dass diese Partei seit 1881 die größte liberale Partei im deutschen Reichstag war. Sie zählte nämlich 61 Mitglieder, die Nationalliberale Partei hingegen nur 44 und die Liberale Vereinigung nur 45. Und weiter: "Bei den Reichstagswahlen im Jahre 1881 wurden in 113 deutschen Wahlkreisen mehr als je 1000 Stimmen auf Kandidaten der Fortschrittspartei abgegeben. Im Ganzen sind nach der amtlichen Statistik beim ersten Wahlgange auf Kandidaten der Fortschrittspartei Stimmen abegegeben worden 649,286 bei den Stichwahlen 721,745. Da bei den Reichstagswahlen im Jahre 1878 auf Kandidaten der Fortschrittspartei nur 388,007 Stimmen abgegeben waren, so hat sich die Fortschrittspartei bis zur Reichstagswahl von 1881 nahezu verdoppelt" (Die Deutsche Fortschrittspartei, [Flugblatt], o. D. [1883?], in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Tit.94, Nr.14070, B1.236). 157

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Zeitfragen heraus, die für das Verständnis der Wahlbewegung besonders lesenswert waren. Zwischen 1878 und 1879, als die Partei die Stärke der Sozialdemokraten mehr als die konservative Wende Bismarcks befürchtete, veröffentlichte die Fortschrittspartei verschiedene Broschüren, die diese politische Positionierung widerspiegelten: Attentat und Sozialistengesetz, Fortschrittspartei und Sozialdemokratie und Selbstverwaltung und Beamtenregierung, Die Sozialdemokraten, was sie wollen und wie sie wirken von Eugen Richter, Die deutsche Fortschrittspartei von 1861-1878 von Ludolf Parisius, Sozialismus und Reaktion und Die Beschränkung der Redefreiheit im Reichstage von Rudolf Virchow. Es handelte sich in erster Linie um Veröffentlichungen von Reden, die die genannten Parteiführer im Reichstag gehalten und als solche an die Parteimitglieder im Allgemeinen gerichtet hatten. Für die Parteizwecke wurde ein parlamentarischer Almanach, der Vereinskalender der Deutschen Fortschrittspartei eingeführt, den die Parteigenossen erhielten, um "auf dem Laufenden über die innerhalb der Partei bestehende Organisation"l60 zu bleiben. Der Kalender beinhaltete die Adressen der Mitglieder des geschäftsführenden Ausschusses, der Vorstände der Lokalvereine, der Hauptgeschäftsführer für die einzelnen Provinzen, das Verzeichnis der Abgeordneten, die letzte Wahlstatistik, das Programm und das Organisationsstatut. Die Parlamentarische Korrespondenz warb im Jahre 1880 wie folgt um die Publikation: "Der Kalender schließt nicht an das Kalenderjahr, sondern an das parlamentarische Jahr an, welches von Juli 1880 bis Juli 1881 reicht. Der Kalender enthält die parlamentarische Parteichronik vom Juli 1879 bis Juli 1880 mit den Gedenktagen der Fortschrittspartei, sodann das Programm der Partei, das Organisationsstatut, die Adressen des Centralwahlkomites und des geschäftsführenden Ausschusses, Nachrichten über die Parlamentarische Korrespondenz und des Broschürenfonds, das Verzeichniß der erschienenen Broschüren, die Adressen der Provinzialauschüsse und Lokalvereine der Fortschrittspartei, das Mitgliederverzeichniß der Fortschrittspartei des Reichstages mit Personalnotizen, das Mitgliederverzeichniß der Fraktion der Fortschrittspartei im Preußischen Abgeordnetenhause und in der zweiten Kammer des Königreichs Sachsen und ein Verzeichniß der Mitglieder der Fortschrittspartei im Herrenhause, in der Bayerischen Abgeordnetenkammer, in der zweiten Kammer des Großherzogthums Hessen und im Landtage von Lippe-Detmold."161

Im Mittelpunkt standen die Wähler und deren Bedürfnisse: So gelangten Auszüge aus dem Reichswahlgesetz, dem Wahlreglement, dem preußischen Vereinsgesetz, dem Sozialistengesetz und dem Reichspreßgesetz, "soweit es sich um Paragraphen handelt, die im politischen Leben häufig Anwendung finden", 162 zum Abdruck. Es handelte sich hierbei um ein politisches Handbuch für die Parteimitglieder, das für politische Agitation in allen äußeren Dingen die notwendigste Auskunft gab und auch eine Übersicht über die Stärke, Ausdehnung und Parteiorganisation im Ganzen 160 Die Deutsche Fortschrittspartei (Flugblatt), o. D. [1883?l, in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Tit. 94, Nr. 14070, BI. 236. 161 Der neue Vereinskalender der Fortschrittspartei, in: Parlamentarische Korrespondenz Nr.6, v.4.6.1880. 162 Ebenda.

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2. Kap.: Die Deutsche Fortschrittspartei 1878-1884

bot. Der Kalender sollte eine Ergänzung des ABC-Buches bilden, "insofern Letzteres über materielle politische Fragen, der Kalender über äußere Dinge, welche die Partei interessiren, Auskunft gibt." 163 Um Konsens zu schaffen und aufrechtzuerhalten, wurde das Politische ABC Buch der Fortschrittspartei eingeführt. Im September 1879 erschien das ABC Buch zum ersten Mal anlässlich der bevorstehenden preußischen Landtagswahlen mit dem Titel: Der liberale Urwähler oder was man zum Wählen wissen muß. Es wurden politische ,,zeit- und Streitfragen in 88 nach dem Alphabet geordneten Überschriften auf fünf Druckbogen" abgehandelt. 164 Die Reichstagswahlen von 1881 "riefen das dringende Verlangen einer Ergänzung und eingehenderen Bearbeitung der das gesammte Reich interessirenden Zeitfragen hervor."165 So erschien im Februar 1881 eine neue überarbeitete Auflage: Die Zahl der Artikel hatte sich verdoppelt und war auf 172 angestiegen. Im Jahre 1883 wies das Buch nun 267 Artikel auf, so dass es nun als umfassendes Lexikon parlamentarischer Zeit- und Streitfragen angesehen werden konnte. Es enthielt Artikel über neue Steuerprojekte, über Militärfragen und sozialpolitische Zeitfragen. Im Vorwort stand, dass das ABC Buch die parlamentarischen "Streitfragen vom Standpunkte der Fortschrittspartei (ohne jedoch eine authentische Interpretation dieses Standpunktes zu beanspruchen) [behandelt], die abweichenden Ansichten anderer Parteien kennzeichnet und allen Politikern ohne Unterschied ein reiches, durch amtliche Zahlen und Nachrichten erhärtetes Material zur Beurtheilung der einschlagenden Verhältnisse bietet ( ... )." 166 Zur Öffentlichkeitsarbeit gehörten schließlich auch die Aufrufe, die zu verschiedenen Zwecken an unterschiedliche Adressaten gerichtet waren. So gab es Wahlaufrufe, die die Wahl eines bestimmten Kandidaten forderten, und Aufrufe, die sich an die Parteifreunde wendeten, wobei diese u. a. dazu dienten, zu Spenden zu animieren. 167 Die Reichstagswahlen von 1881 bedeuteten einen großen Erfolg für die Deutsche Fortschrittspartei, da ihre Stimmenzahl von 385.100 (1878) auf 649.300 stieg. l68 Ebenda. Neues bzw. politisches ABC -Buch, 1884, S. IIIf. 165 Ebenda, S. III. 166 Ebenda, S. IV. 167 Zum Beispiel veröffentlichte die Parlamentarische Korrespondenz im Jahre 1882 einen Aufruf, der für die bevorstehenden preußischen Landtagswahlen und Reichstagswahlen Gelder einwarb: ,,Auch wir haben planmäßig und rechtzeitig ( ... ), unsere Vorbereitungen zu treffen. Dazu sind aufs Neue beträchtliche Mittel erforderlich. Wir bitten daher unsere Freunde dringend, alsbald einen Beitrag zu unserem Centralwahlfonds unter der Adresse des Abgeordneten Hugo Hermes ( ... ) zu leisten" (Parlamentarische Korrespondenz, Nr. 2, v. 6.3.1882). 168 Der Stimmenanteil der Fortschrittspartei lag bei 6,7 % im Jahre 1878 und bei 12,7% im Jahre 1881 (vgl. Gerd Hohorst/Jürgen KockalGerhard A. Ritter, S. 173). Schon vor den Wahlen von 1881 war die Partei sehr stark: ,.zur Zeit vertritt die Deutsche Fortschrittspartei im Reichs163

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11. Momente und Elemente der Leitung

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1884 kündigte sich die Verschmelzung der Fortschrittspartei mit der Liberalen Vereinigung 169 an. Dies wurde auf dem Parteitag von 1884 170 beschlossen, wobei Richter den Schritt schon im Januar desselben Jahres vorausgesehen hatte: "Wir sind in der That eine arme Partei. Die Gewonheit, für politische Zwecke Geld auszugeben, ist in Deutschland noch sehr schwach. Engländer und Amerikaner würden darüber lachen und eine so arme Partei, wie die unsrige, gar nicht für lebensfähig halten. Wir haben nicht so viel Mittel, außerhalb Berlins ein Central-Comitee zu erhalten, besitzen nichts für einen Preßfonds, nichts für ein eigenes Organ. Die Erfolge verdanken wir dem Umstande, daß so viele Männer der Partei ihre Dienste zur Verfügung stellen."111

4. Schlussbetrachtung Die Analyse der Organisationsform der Deutschen Fortschrittspartei zeigt den zentralistischen Charakter der Partei: So war bei wichtigen Parteibeschlüssen, wie etwa der Aufstellung der Kandidaten, die Partei spitze bestimmende Instanz. Der Einschnitt in der Geschichte der fortschrittlichen Organisationsform ist auf die große Krisenzeit zurückzuführen, welche die Partei in Folge der Bismarckschen Wende Ende der 1870er Jahre erlebte. Die Reorganisation wurde über Mittel wie Programm und Parteitag durchgeführt, was zu einer stärkeren Koordination der Partei führte. Auch das Vereinswesen und die Presse erlebten eine neue Blütezeit durch zahlreiche Neugründungen und einen rapiden Anstieg der Auflagen. Der Wahlerfolg der 1880er Jahre ist ein wichtiges Indiz dafür, dass die Partei nunmehr in größerer Übereinstimmung und Geschlossenheit handelte. tag 5 von 6 Berliner Wahlkreisen, sodann von großen Städten u. a. Darmstadt, Hagen, Lübeck, Nürnberg, Potsdarn, Spandau, Kiel, Charlottenburg, Altona, Gotha, Wiesbaden, Zwickau, Kassel, Altenburg, Weimar, im preußischen Abg.haus Königsberg, Danzig, Frankfurt a. M., Tilsit, Insterburg, Meme!, Posen, Elberfeld-Barmen, Elbing, Hanun, Thom, Graudenz usw. Unter den Landtagsabgeordneten der Fortschrittspartei befinden sich ländliche Guts-und Hofbesitzer und außerdem noch zahlreiche Grundbesitzer( ... )" (Die deutsche Fortschrittspartei und die nächsten Reichstagswahlen, o. D. [1881], in: LHA Potsdarn, Pr. Br., Rep.30, Berlin C, Tit.94, Nr.I4070, BI. 6O-61rv.). 169 Richter versuchte, diesen Schritt als nötige Umwandlung zu rechtfertigen: ,,Je größer eine Partei ist, desto unabhängiger wird sie in ihrer Entwicklung von einzelnen Personen, desto mehr vermag Theilung der Arbeiten den Einzelnen die Vollkraft zu erhalten. (... )" So auch Hänel: ,,Man sagt, die Fortschrittspartei gebe die alte Fahne auf. Nichts kann falscher sein, als das. Wir geben ein kleines Abzeichen an dieser Fahne auf, nicht die Standarte selbst; sie bleibt nach wie vor dieselbe. (... ) Der Glaube an die Ausführbarkeit des Programms ist es, was den politischen Mann und die politische Partei macht. Diesen Glauben haben wir verstärken wollen. Das ist der Grundgedanke der Bildung der neuen Partei (... )" (Die deutsche Fortschrittspartei und die nächsten Reichstagswahlen, o. D. [1881], in: LHA Potsdam, Pr. Br., Rep.30, Berlin C, Tit. 94, Nr. 14070, BI. 60-61 rv.). 170 Der Parteitag der Deutschen Fortschrittspartei, in: Berliner Tageblatt, Nr. 42, v. 17.3.1884 (LHA Potsdarn, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Tit. 95, Nr.15131, BI. 42 rv). 111 Eine arme Partei, in: Preußische Zeitung, Nr.25, 30. Januar 1884 (BAreh, N2008 [NL L. Bamberger], Bd. 119, BI. 28). 7 Cioli

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2. Kap.: Die Deutsche Fortschrittspartei 1878-1884

Nach wie vor war die Forderung nach einem starken Parlament für die Fortschrittspartei zentral: Der Reichstag schien als Kraft wichtig, um die Bismarcksche Reaktion einzuschränken. Es scheint aber, dass die Fortschrittspartei zur Zeit der Bismarckschen Wende entschieden für eine Lösung der sozialen Frage eintreten musste, wodurch sie ihr Milieu vergrößern und die sozialdemokratische Macht einschränken konnte. Seit den 1880er Jahren versuchte die Partei, den Massen entgegenzutreten, wobei die divergierenden Meinungen der Führungspersönlichkeiten eine klare Parteilinie verhinderten. Auf diese Widersprüche, die im Grunde genommen ins Bild jener Zeit passten, ist der langsame Untergang der Partei zurückzuführen. Die vorhandenen Unterschiede innerhalb der Deutschen Fortschrittspartei betrafen allgemeine Fragen, die in erster Linie nationale Tragweite hatten. Dies gilt z. B. für die Spaltung der Deutschen Fortschrittspartei im Jahre 1866, als der rechte Flügel - der sich zur Nationalliberalen Partei formierte - die Politik Bismarcks zur Errichtung eines deutschen Nationalstaates durch eine Revolution von oben billigte. Was schließlich die Frage einer großen liberalen Einheitspartei betrifft, so war die Fortschrittspartei dazu nur mit Vorbehalt bereit. Sie betonte nämlich immer wieder ihre Geschlossenheit gegenüber anderen liberalen Richtungen, d. h. man wäre bereit gewesen, Kompromisse an der Partei basis zu schließen, wobei die Leitung aber stets von der Führungsspitze der Fortschrittspartei abhängen sollte. Daran ließ auch die Parlamentarische Korrespondenz im Jahre 1879 keinen Zweifel: ,,( ... ) Unsere Organisation ist niemals ein Hinderniß gewesen, sich mit befreundeten Parteien zu verbinden; die alte Fortschrittspartei der Konfliktzeit hat mit der damaligen Partei des linken Centrums beständig in der engsten Beziehung gestanden. Die Fortschrittspartei kann in ihren geschlossenen Organisationen sich auch für einzelne besondere Zwecke mit anderen dafür bestehenden Organisationen verbinden ( ... ). Für den jetzt tobenden Kampf hat die Fortschrittspartei ihre Organisationen geschaffen; inmitten jedes Kampfes gilt es vor Allem, an dazu vorgebildeten Organisationen festzuhalten. Mag was überhaupt noch nicht organisirt ist und nicht in unsere Organisation paßt, sich ihm passende Organisationen suchen - wir werden solche Bestrebungen gewiß nicht bekämpfen, sondern lebhaft unterstützen; aber wir selbst wollen gerade im gemeinsamen liberalen Interesse uns nicht zersplittern, sondern alle Organisationen festhalten, die wir glücklicherweise schon besitzen."172

172 Der Appell an das thatkräftige Bürgerthum, in: Parlamentarische Korrespondenz, Nr.5, v.31.5.1879.

Drittes Kapitel

Die Nationalliberale Partei 1878-1884' "Möge die Partei niemals verlernen die eherne Sprache der Geschichte zu verstehen, der Geschichte des deutschen Volkes wie der Geschichte des deutschen Liberalismus, möge sie nie vergessen, daß ein Liberalismus in Deutschland, der nicht mit den nationalen Bedürfnissen des Volkes geht, elend verdorren muß, daß ein Liberalismus, der in Formeln und Dogmen erstarrt, sich selbst zur Unfruchtbarkeit verdarnmt!"2

Diese wenigen Worte drücken das innere Wesen des deutschen Nationalliberalismus aus, des pragmatischen Liberalismus im wahrsten Sinne des Wortes. Es handelte sich hierbei um eine Bewegung, die sich ab 1866 entschieden gegen einen "doktrinären Liberalismus" wandte, gegen "einen blutleeren Liberalismus, unfähig zu praktischer Arbeit."3 So erklärte sich nach Meinung der Nationalliberalen "die Tragödie in der Geschichte des Liberalismus, daß der Gewaltige seinen Weg im wilden Kampf mit demselben Liberalismus bahnen mußte, dessen altes Ideal eines freien, eines einigen Deutschlands er seiner Erfüllung entgegenführte.'" Für diese Liberalen musste es Ziel des Liberalismus sein, politische Überzeugungen den vaterländischen Interessen zu unterwerfen, was de facto die Anerkennung ihres pragmatischen Wesens bedeutete: "Die nationalliberale Partei hat ihre liberalen Überzeugungen weder im Kampf mit der Regierung und den Konservativen um eine freie Ausgestaltung der Verfassung, noch im Kampf mit dem Centrum im sogenannten ,Kulturkampf' verleugnet. Sie hat freilich nicht alle Forderungen durchsetzen können, sie hat weder das verantwortliche Bundesministerium, noch Diäten für die Abgeordneten errungen. Sie durfte sich aber um so mehr auf den Boden des Erreichbaren stellen. als die Fülle der Aufgaben einerseits und die noch unsichere Lage des jungen Reiches andererseits die Vermeidung innerer Konflikte zu einer zwingenden Pflicht machte. ,,5 I Über die Nationalliberale Partei vgl. Thomos Nipperdey, Organisation (1961); Herbert Schwab; Gustav Schmidt; Heide Barmeyer, Nationalliberalen; Gustav SeeberlC/audia Hohberg. Zur neueren Literatur über die Nationalliberale Partei siehe: Karl H. Pohl, Nationalliberalen (1991); Ansgar Lauterbach, Reichstagsfraktion; Kar! H. Pohl, Nationalliberalen (1995); Andreas Biefang, Streit; Oded Heilbronner; Ansgar Lauterbach, Vorhof; Dieter Langewiesche, Bismarck. 2 Nationalliberale Partei, in: Politisches Handbuch der Nationalliberalen Partei, S. 765 ff., S.775. 3 Ebenda, S. 765. 4 Ebenda, S. 765. 5 Ebenda, S. 767. "Die Liberalen" -schrieb Erich Brandenburg im Jahre 1917 - "waren immer in der Opposition und verfielen daher leicht in den gemeinsamen Fehler aller oppositio-

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Nach der Zeit des Verfassungsausbaus zwischen 1866 und 1878,6 welcher die konservative Wende Bismarcks ein Ende gesetzt hatte, erhielt der nationalliberale Pragmatismus eine neue Bedeutung, die dem Begriff Opportunismus sehr nahe kam. Trotz der protektionistischen Wirtschaftspolitik Bismarcks orientierten sich die Nationalliberalen weiterhin an ihm, um, wie sie hofften, in der Regierung weiter mitbestimmen zu können. Inwieweit die Zustimmung zu Bismarcks Wende den bürgerlichen Interessen der Nationalliberalen entsprach, ist bereits erwähnt worden.' Was dennoch in diesem Zusammenhang interessant sein mag, ist die Fortentwicklung des nationalliberalen Pragmatismus besonders hinsichtlich der Organisationsstruktur, die in den 1870er Jahren eine grundlegende Änderung erleben musste. 8 nellen Parteien, das Überwuchern der Kritik und eines auf theoretischen Grundsätzen aufgebauten Doktrinarismus gegenüber der praktischen Kunst des Regierens (... )" (Erich Brandenburg, S.3). 6 Für eine problembewusste Bewertung der nationalliberalen Zusammenarbeit mit der Bismarckschen Regierung zwischen 1867 und 1878, mit ausführlichen bibliographischen Hinweisen zur Literatur, welche darüber nach wie vor geteilter Ansicht ist, siehe: Gustav Schmidt; Ansgar Lauterbach, Reichstagsfraktion. Einen umfassenden Blick auf die Leistungen des Nationalliberalismus auch nach der Zeit der liberalen Ära eröffnet Karl H. Pohl, Die Nationalliberalen (1991). 7 Vgl. Gustav Seeber, Nationalliberale Partei. Die Nationalliberalen erklärten ihre Entscheidung, Bismarcks Politik weiter zu unterstützen, mit dem Ziel, die Staatseinheit weiter festigen zu wollen. So lautete der Wahlaufruf der Nationalliberalen für die Wahlen im Sommer 1878: ,,( ... ) Die politische Organisation des Deutschen Reiches ist noch nicht erstarkt. Das Finanz- und Steuersystem harrt einer umfassenden Reform. In dieser Lage ergeht die Aufforderung der Reichsregierung an die Nation, aufs neue Vertreter zu entsenden, welche bereit und entschlossen sind, ihr Hilfe und Unterstützung zu gewähren in dem Kampfe gegen die Ausschreitungen der Sozialdemokratie. (... ) Unsere politischen Freunde werden auch im neuen Reichstage es als ihre erste Pflicht erachten, der Reichsregierung in der Verteidigung der Grundlagen gesellschaftlicher Ordnung und staatlicher Sicherheit entschlossen zur Seite zu stehen, und überall, wo eine aufmerksame und energische Handhabung der bestehenden Gesetze nicht ausreicht, die erforderlichen gesetzlichen Vollmachten und Befugnisse ohne Schwanken zu gewähren. (...)" Und schließlich: "Die Nationalliberale Partei, welche seit den ersten Tagen nationaler Einigung bestrebt war, an der Errichtung und dem Ausbau des Deutschen Reiches auf den Grundlagen bürgerlicher Freiheit und Gesittung mitzuwirken, wird auch in Zukunft, allen Angriffen zum Trotz, ihren bisherigen Grundsätzen getreu bleiben (... )" (Wahlaufruf der Nationalliberalen Partei, den 16.6.1878, in: Paul Wentzcke, S. 201 f. hier S. 201). Brandenburg sprach später von der,,Erhaltung der Staatsmacht": "Wahrend die Liberalen auf dem Gebiet der auswärtigen Politik und der reinen Verfassungsfragen allmählich gelernt hatten, dem Machtgedanken als dem Grundprinzip alles staatlichen Lebens Rechnung zu tragen, waren sie auf wirtschaftlichem Gebiet noch nicht zu der gleichen Erkenntnis gelangt, sondern huldigten noch doktrinären Ideen, die von einer feststehenden prinzipiellen Überzeugung aus das für die Erhaltung der Staatsmacht Notwendige verwarfen" (Erich Brandenburg, S.19). 8 So äußerte sich die Partei: ,,Die Struktur der Parteiorganisation hat im Lauf der Jahre wesentliche Änderungen erfahren. In der ersten Zeit der Macht der Partei herrschten die Parteibegründer in gewissem Sinne ohne Statut und allmächtig innerhalb der Fraktion des Reichstags und des preußischen Abgeordnetenhauses: es war dies möglich, weil unter den 150 Mitgliedern im Reichstag in der Tat naturgemäß die Strömungen in allen Teilen des Reichs ausgiebig vertreten waren. Mit der Absplitterung der Sezession Ende der 70er und nach den schweren Nie-

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Als Wendepunkt in der Geschichte der nationalliberalen Organisationsform können die Reichstagswahlen vom 10. Januar 1877 verstanden werden. Sie fuhren "wie ein elektrischer Strahl durch das ganze Nervensystem unseres bürgerlichen Lebens."9 Die Wahlen belegten außer dem Verlust der Nationalliberalen Partei, deren Stimmenanteil von 30,1 % im Jahre 1871 und 29,7% im Jahre 1874 auf letztendlich 27,2 % fiel,IO den Aufstieg der Sozialdemokratie. ll Zu den Gründen des nationalliberalen Bedeutungsverlustes zählten zweifellos die Wirtschaftskrise, die die Richtigkeit der liberalen Prinzipien in Frage stellte, und die Verwirklichung der nationalen Einheit, die einen hohen Stellenwert im nationalliberalen Programm eingenommen hatte. Die nationalliberale Überzeugung, das ganze Volk zu vertreten, geriet ins Wanken. Im Übrigen konnten nicht nur die Sozialdemokraten einen politischen Aufstieg verbuchen, sondern auch die Konservativen. Nun gewannen neue Entwürfe eines politischen Systems den Vorrang. Die Selbstanalyse der Partei betraf vorerst (und vielleicht ausschließlich) ihre Organisationsform, die es zu festigen galt. Darin waren sich die Parteimitglieder einig: ,,( ... ) Meinen Sie nicht," - schrieb Karl Baumbach an Eduard Lasker im Jahre 1877 - "daß es dringend wünschenswerth, ja nothwendig ist, daß die Partei bis zur nächsten Wahl ( ... ) fester organisiert werde? Ich habe in den letzten Monaten so oft mit Parteigenossen darüber verhandelt und gesprochen, und man war stets derselben Meinung. (... )" 12 Nicht dem Programm der sozialdemokratischen Partei, sondern deren Organisation schrieben sie den großen Erfolg zu: "Sie betreiben ihre Agitation Jahr aus Jahr ein mit Hülfe einer bis in die feinsten Gliederungen ausgedachten und durch reichlich fließende Geldmittel im Gang erhaltenen Organisation. In dieser Organisation, nicht in ihren Lehren liegt einzig und allein das Geheimnis ihrer Kraft, während die Schwäche der liberalen reichstreuen Mehrheit hauptsächlich dem Umstande zuzuschreiben ist, daß deren schon an sich schwer beweglichen Bestandtheile ganz unzureichend unter einander verbunden sind (... )." 13

Die Behauptung von Thomas Nipperdey, dass bis in die 1890er Jahre der Druck der bestehenden Lage nicht stark genug gewesen wäre, "daß er die auf der Organiderlagen Anfang der 80er Jahre war aber die Verbindung mit vielen Gebieten des Reichs plötzlich wie abgeschnitten. Nun mußte der Anfang der Organisation gemacht werden. Damals entstand der Zentralvorstand, der die Verbindung mit allen Teilen des Reichs wiederherstellte" (Nationalliberale Partei, in: Politisches Handbuch der Nationalliberalen Partei, S. 776). 9 National-Zeitung, Nr.22, v.12.1.1877. 10 Gerhard A. Ritter/Merith Niehuss, S. 38. 11 Die Sozialdemokratie wuchs von 6,8 % Stimmenanteile im Jahre 1874 auf9,1 % im Jahre 1877 an. Laut Engels fürchtete das Bürgertum die Sozialdemokratie, weil sie die Arbeiterbewegung bisher "so hingestellt hatte, als schrumpfe sie zur Bedeutungslosigkeit zusammen" (Friedrich Engels, S.120). 12 Karl A. Baumbach an Eduard Lasker. Saalfeld, 14.11.1877, in: BArch, N 2167 (NL E. Lasker), Bd. 16, BI. 45 rv. 13 Rundschreiben des Centralwahlcomites der nationalliberalen Partei. Berlin, 20.2.1877, in: BArch, N2167 (NL E. Lasker), Bd.358, BI. 20.

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3. Kap.: Die Nationalliberale Partei 1878-1884

sationsunwilligkeit des Bürgertums beruhende Honoratiorenstruktur und die dementsprechende geringe Aktivität gewandelt hätte," scheint daher übertrieben. Ebenso der Schluss, es sei zweifelhaft gewesen, "ob organisatorische Maßnahmen die Wahlen entscheidend beeinflußen konnten."14 Die Überzeugung, dass sich die Gesellschaft allmählich und irreversibel differenzierte und politisierte, ging mit dem Glauben an die Pluralität der parlamentarischen Vertretung einher. Zu dieser Einschätzung waren die Liberalen schon kurz nach der 1848er Revolution gekommen und diese Erkenntnis zwang sie, sich mit der Sozialdemokratie und ihrer Organisation auseinanderzusetzen. Schon seit 1863, als Lassalle den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein mit dem Ziel gründete, den Massen eine politische Organisation zu geben, strebten die sozialdemokratischen Parteiführer danach, eine zentralisierte Massenpartei aufzubauen. Nach Erreichen ihres ersten Zieles, des allgemeinen Wahlrechts, sollte die sozialdemokratische Organisation die Öffentlichkeit gewinnen und die politischen Entscheidungen beeinflussen. Im Gegensatz zum Nationalverein, der nach der Errichtung eines kleindeutschen Bundesstaates unter der Führung eines nach liberalen Prinzipien regierten preußischen Staates strebte, wollte die Sozialdemokratie eine Macht im Staat und im Parlament werden und bleiben: "Sie war von vornherein im eminenten Sinne als Partei gedacht."ls Die Organisation der sozialdemokratischen Partei basierte vornehmlich auf einer straffen Zentralisation und einer Ein-Mann-Leitung. 16 Die Zentralisation wurde durch die Abstimmung nach Mitgliederzahlen (und nicht nach Orten), durch die einheitliche Wahl der Parteiführung, die Verteilung der Finanzmittel und die Institution der Bevollmächtigten gewährleistet. Außerdem konnten die Mitglieder nur durch die zentrale Generalversammlung Einfluss nehmen, wobei ihnen keine Selbständigkeit zugebilligt wurde. Mit anderen Worten, die Masse sollte durch Disziplin und Zentralisation gewonnen und zusammengehalten werden. Trotz des Sozialistengesetzes war es vielleicht u. a. gerade eine solche Organisationsform, die den Aufstieg der Partei gewährleistete. Die zentralisierte Leitung ermöglichte eine Disziplin, die besonders zur Ausführung koordinierter Aktionen beitrug. So war es möglich, ein Netz von organisiertem Widerstand und Zusammenschlüssen zu errichten, das auch zum Faktor sozialistischer Integration wurde. Selbstverständlich konnte die Organisationsform der Arbeiterbewegung für die Liberalen, zumal für die Nationalliberalen, nicht als Muster gelten. Es war einfach 14 Thomas Nipperdey, Organisation (1961), S. 87.

IS Ebenda, S.294. "Der Gründungsapell" - fügt Nipperdey hinzu - "enthielt die eindringliche Aufforderung zur Massenorganisation und -agitation und setzte zahlenmäßig Ziele, die damals ganz unerreichbar und jedenfalls höchst erstaunlich erschienen. Ein für allemal hat damit Lassalle der Arbeiterbewegung die Notwendigkeit einer einheitlichen Massenorganisation eingeprägt" (ebenda, S.294f.). 16 vgl. u. a. Franz Mehring, Geschichte und Thomas Nipperdey, Organisation (1961), S.294ff.

I. Momente und Elemente der Partizipation

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unvorstellbar, dass die Liberalen auf ihre Selbständigkeit verzichteten, um eine starke Zentralisation aufzubauen. Unbestritten aber war, dass sie sich organisatorisch umstrukturieren mussten. Die Reichstagswahlen von 1878 zeigten die Beschleunigung des nationalliberalen Stimmenverlusts: Von 27,2 % im Jahre 1877 schrumpften ihre Stimmenanteile auf23,1 %. Kurz nach den Wahlen traten sie für eine "kräftige Organisation der Partei" ein, und es galt "zu diesem Zwecke ohne Säumen eine dauernde und planmäßige Thätigkeit zu entwickeln."17 Da im nächsten Jahr die Neuwahl der Abgeordneten für die Landesvertretungen stattfinden und auch die Reichstagswahl vielleicht noch vor Ablauf der dreijährigen Legislaturperiode vorgenommen werden sollte, waren "längere und umfassendere Vorarbeiten" erforderlich. "Tritt die nationalliberale Partei bei den nächsten Wahlen nicht von vornherein besser vorbereitet und organisiert in den Wahlkampf ein, so wird sie auf weitere Verluste sich gefaßt machen müssen."IS Ein für allemal war es nötig, ein breites Netz unter den Parteigenossen zu entwickeln, das die Koordination der Bewegung gewährleisten konnte. Außerdem musste es sich um dauerhafte Verbindungen handeln, die von glaubwürdigen Vertrauensmännern geleitet werden sollten. "An Sie, geehrter Herr Kollege, ergeht daher die dringende Bitte, schleunigst dahin zu wirken, daß die Parteigenossen in Ihrem Wahlkreise sich organisieren, daß insbesondere in allen Bezirken und Ortschaften Ihres Wahlkreises zuverlässige und thötige Vertrauensmänner gewonnen werden, mit welchen eine dauernde Verbindung zu unterhalten sein wird; daß Wahlvereine gebildet werden, in denen von Ihren und anderen geeigneten Männem Berichte erstattet und Vorträge gehalten werden; daß unsere Partei und deren Bestrebungen fortdauernd auch in der localen Presse Ihres Wahlkreises vertreten werden."19

I. Momente und Elemente der Partizipation Als erstes scheint es wichtig, den Honoratiorencharakter der Nationalliberalen Partei zu betonen: Es lag vor allem an den Honoratioren und weniger an internen Institutionen, die Verbindungen innerhalb der Partei herzustellen. Ihre Funktion schloss aber die Errichtung von Institutionen nicht einfach aus, sondern verstärkte deren Wirkung. Um dieses politische Netz zu begreifen, ist es sinnvoll, die Parteiorganisation von ihren Institutionen ausgehend darzustellen. 17 Heinrich Rickert (für das Zentralwahlkomitee der Nationalliberalen Partei) an Franz v. Stauffenberg. W. Berlin, 12. November 1878. BAreh, N 2292 (NL F. von Stauffenberg), Bd. 180, BI. 1 ff. 18 Ebenda. 19 Ebenda. Und Rickert weiter: "Seitens des Central Wahl Komites wird beabsichtigt. in Zukunft eine dauernde Verbindung mit den zuverlässigen Hauptvertrauensmännern unserer Partei im Lande zu unterhalten. Zu diesem Zweck ist erforderlich vor Allem, daß die Namen derselben von Neuem bezeichnet werden unter genauer Angabe der Adresse derselben. Sie haben wohl die Güte dies schleunigst zu veranlassen C... )" (ebenda).

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3. Kap.: Die Nationalliberale Partei 1878-1884

1. Programme und Erklärungen

Die Erklärung, die als Instrument der Partei galt, war eine Art Parteiprogramm, wobei die beiden Begriffe jedoch nicht verwechselt werden dürfen. Während die Erklärung als einfache Verdeutlichung eigener Positionen verstanden werden kann, weil es sich vor allem um eine Kundgebung, eine Äußerung handelte, hatte das Programm eine gewissenhafte Darstellung von Zielen und Mitteln zur Aufgabe. Demzufolge war das Programm verbindlicher als die Erklärung. Wenn die Presse manchmal Erklärungen als Programme bezeichnete,20 so spiegelte sie damit möglicherweise den auf die Unabhängigkeit der Personen gegründeten Parteicharakter wider, d. h. eine allgemeine Tendenz zur inneren Selbständigkeit. Infolge der politischen und organisatorischen Krise und angesichts der bevorstehenden Reichstagswahlen von 1881 wurde Rudolf von Bennigsen zum Initiator und Autor der Erklärung vom 29. Mai 1881, die von 197 Abgeordneten des Reichstages und der Länderparlamente unterschrieben wurde. Im Mittelpunkt stand die Haltung der Partei gegenüber der Regierung: Die Partei wollte sich nun nicht länger gegen die Schutzzollpolitik und die Bismarcksche Sozialgesetzgebung stellen. Außerdem unterstützte sie das Anliegen eines friedlichen Verhältnisses zwischen Staat und Kirche. Die Nationalliberalen beabsichtigten eine "unbefangene und sachliche Prüfung aller Regierungsvorlagen auf dem Gebiete der inneren Gesetzgebung, namentlich auch zu den Vorschlägen für die Förderung der Wohlfahrt der arbeitenden Classen. Positive Maßregeln für das Wohl derselben, nicht lediglich Gewaltmaßregeln zur Niederhaltung der socialen Bewegung."21 Also wollte sich die Partei eine gewisse Selbständigkeit erhalten,22 welche im Übrigen auch dazu dienen sollte, neue Anhänger zu gewinnen. Obwohl in der Partei auch jene Stimmen nicht fehlten, die wie Bennigsen gegen eine Annäherung an die Konservativen waren, interessierte sich jetzt die Mehrheit für die konservative Umwandlung. Demzufolge resignierte Bennigsen 1883 und zog sich aus den Parlamenten zurück. Die Führung der Partei übernahm nun Johannes 20 So z. B. die Kölnische Zeitung Nr. 307, v. 5.11.83, in: LHA Potsdam Rep. 30, Berlin C, Tit. 94, Nr. 11978, BI. 1. 1884 nannte auch die Nationalliberale Korrespondenz die ,,Berliner Erklärung" von 1881 "Parteiprogramm" (National-Zeitung Nr. 191, v. 26.4.1884, in: LHA Potsdarn Rep. 30, Berlin C, Tit. 94, Nr. 11978, BI. 2). 21 Das national-liberale Parteiprograrnm vom 29. Mai 1881, in: Kölnische Zeitung, Nr.307, v.5.11.1883 (LHA Potsdarn, Rep. 30, Berlin C, Tit. 94, Nr.1l978, BI. 1 rv). 22 Das Streben nach Autonomie charakterisierte nach wie vor die Partei anhänger. 1879 schrieb man an Forckenbeck: ,,( ... ) Wir müssen alle Dinge genau wissen, welche Stellung die bisherigen Parteiführer der Regierung gegenüber einnehmen wollen. (... ) Der Entwickelung eines langen Programms wird es nicht bedürfen, wohl aber wäre ein kurzes ( ... ) Unsere Agitation im Lande kann nur von Erfolg sein, wenn wir erklären: daß unser politisches Programm durch die Vorgänge im Reichstage keine Änderung erlitten hat ( ... )" ([unleserlicher Absender] an Max v. Forckenbeck. Thon, 12.8.1879. GSPK, NL M. von Forckenbeck, Rep.92, B2/m 1879, BI.I04-105rv).

I. Momente und Elemente der Partizipation

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von Miquel, der am 23. März 1884 die Heidelberger Erklärung entwarf. 42 Vertreter der Nationalliberalen Partei aus den vier süddeutschen Staaten - "der nationalen und liberalen Partei in Baden, der deutschen Partei in Württemberg, der nationalliberalen Richtung in Baiern diesseits und jenseits des Rheins, der hessischen Fortschritts partei und der nationalliberalen Partei der Provinz Hessen-Nassau"23 - versammelten sich und besprachen die politische Lage Deutschlands. Es wurde entschieden, dass die Partei alle Forderungen zur Stärkung des Militärs sowie den Abschluss der Zollgesetzgebung billigen werde. Außerdem wurde die Situation der deutschen Landwirtschaft analysiert und versprochen, ihren Fortbestand weiterhin zu sichern. Schließlich stellte man auch eine Verschmelzung mit anderen Parteien grundsätzlich außer Frage, was eine eindeutige Absage an die Befürworter einer großen liberalen Partei bedeutete. Mit dieser Erklärung öffnete sich die Nationalliberale Partei zum ersten Mal den Konservativen.

2. Der Parteitag als Ort des formellen Zusammenhalts Der Parteitag kann als eine Art Ergänzung zu den Parteierklärungen betrachtet werden, da er in den Jahren 1881 und 1884 im Anschluss daran abgehalten wurde und über die Erklärungen zu entscheiden hatte. In einem Artikel über das Programm von 1881 schrieb die Kölnische Zeitung, dass "am 29. Mai 1881" - wenige Monate nach der Sezession - "die Mitglieder der national-liberalen Fractionen des deutschen Reichstags und der Einzellandtage Deutschlands in der stattlichen Zahl von 184 Abgeordneten sich in Berlin versammelten und daß aus ihren Beratungen, welche die Ziele der großen Mittelpartei feststellen sollten, ein Programm hervorging."24 Nicht die Delegierten der Partei im Lande also, sondern jene aus den Fraktionen des Reichstags und den einzelnen Parlamenten hatten die Berechtigung, am Berliner Parteitag teilzunehmen. Der Form nach war auch die Versammlung der Vertrauensmänner im Jahre 1870 eine Art Parteitag, bei dem sich die Partei mit der Organisation und der Aufstellung eines Programms befasste. In der Tat hatten schon Forckenbeck im Jahre 1878 und Rickert 1880 erwogen, einen Parteitag einzuberufen, um die Partei nach links auszurichten und die Sezession zu vermeiden. 25 Erst nach der vollzogenen Sezession schien es der Leitung notwendig, der Partei ein Programm zu geben, ihr also eine einheitliche Grundlage zu verschaffen und neue Anhänger zu finden. Am 18. Mai 1884, kurz nach der Heidelberger Erklärung, fand ein neuer Parteitag statt, um eine Stellungnahme der Gesamtpartei zu erarbeiten. Zum ersten Mal wurde 23 National-Zeitung Nr. 191, v. 26.4.1884, in: LHA Potsdam Rep.30, Berlin C, Tit.94, Nr.1l978, B1.2. 24 Das national-liberale Parteiprogramm vom 29. Mai 1881, in: Kölnische Zeitung, Nr. 307, v.5.11.1883 (LHA Potsdam, Rep. 30, Berlin C, Tit. 94, Nr.11978, BI. I rv). 25 So Thomas Nipperdey, Organisation (1961), S.125.

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3. Kap.: Die Nationalliberale Partei 1878-1884

er von Vertretern der Organisationen im Lande, ca. 550 Personen, besucht. Der Parteitag, der die Gültigkeit der Erklärungen von 1881 und 1884 betonte,26 stellte einen Versuch dar, mit Rücksicht auf die Entscheidungsgewalt des Einzelnen eine gemeinsame Parteigesinnung aufzubauen: Die Partei "erwarte seitens der Gesinnungsgenossen in allen Theilen Deutschlands die gleiche Entschiedenheit und jene, den Gegensatz örtlicher Interessen überwindende Einigkeit, welche den Erfolg verbürgt."27 Klar und deutlich war aber nach wie vor die Anerkennung der regionalen Selbständigkeit, welche ihrerseits auf einer grundlegenden Autonomie der Honoratioren basierte. "Mit den nationalliberalen Landesparteien Süddeutschlands" - so die Erklärung des Kongresses - "theilt die Partei die Ueberzeugung, daß die Aufrechterhaltung des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie zur Zeit noch eine Nothwendigkeit war."28 Die nicht institutionalisierte Organisationsform der Nationalliberalen zeigt sich auch darin, dass die Einrichtung des Parteitags erst im Statut von 1892 formell festgelegt wurde. Wie die Fortschrittler fingen auch die Nationalliberalen in Krisenzeiten an, den Parteiausschuss einzuberufen: Der Kongress bot den geeigneten Diskussionsort für die Partei, um die Krise zu bewältigen, eventuell ein neues Bewusstsein zu schaffen und das Gefühl der Zugehörigkeit zu erneuern. 29 3. Der Verein als Ort sozialer Anerkennung Im Vergleich zur Fortschrittspartei stützten sich die Nationalliberalen weniger auf die Vereine als vielmehr auf die Notabeln. Diese Konzentration der Partei auf die Macht der Honoratioren entsprach der Ansicht, dass diese Persönlichkeiten die Or26 So die allgemeine Erklärung des Parteitages: "Die nationalliberale Partei hält an der Grundlage des Programms vom 29. Mai 1881 fest; sie steht in unverbrüchlicher Treue zu Kaiser und Reich, sowie zu der ungeschmälerten Aufrechterhaltung der durch die Reichsverfassung verbürgten Rechte der Volksvertretung. (... ) Sie begrüßt mit lebhafter Befriedigung die auf dem Boden jenes Programmes stehende Heidelberger Kundgebung süddeutscher Parteigenossen Vom 23. März d. J. (...)." Die Heidelberger Erklärung sei ,,nichts als eine Erklärung nationalliberaler Parteigenossen, die (... ) uns eine Antwort auf die wichtigen Fragen geben, die heute an uns herantreten (...)" (Der nationalliberale Parteitag, in: Das kleine Journal, Nr. 137, v.19.5.1884 [LHA, Pr. Br. Rep.30, Berlin C, Tit. 94, Nr.1l978, BI. 6rv]). 27 Ebenda. 28 Ebenda. Das gehört zum pluralistischen Merkmal der Partei, auf das im Folgenden noch ausführlicher eingegangen wird. 29 Bedeutend ist in diesem Zusammenhang nach wie vor Nipperdeys Beurteilung des Parteitags: Er "war ein Element der innerparteilichen Meinungsbildung, er war ein Forum, auf dem die Parteianhänger ihre Meinung vorbrachten, auf dem die stark divergierende Partei sich jeweils einigermaßen zusammenband, auf dem die Führung sich um Resonanz bemühte und solche gewann. Direkt hatte er keinen Einfluß, aber für die Stellung der Partei in der Öffentlichkeit und für die Orientierung der Fraktion hatte er doch eine gewisse Bedeutung. Er hatte nicht zu entscheiden, aber man konnte ihn nicht ignorieren, man mußte seine Stimmung beachten, man mußte durch die Art der Politik seine mögliche Opposition verhindern (... )" (Thomas Nipperdey, Organisation [1961], S. 149).

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ganisation stärkten, dass die Person durch ihr lokal verwurzeltes Ansehen der geeignetste trait d'union zwischen dem Zentrum (der Leitung) und der Peripherie (der Partei im Lande) waren. a) Wahlvereine und andere Vereine

Neben den Wahlvereinen, die sich im Hinblick auf Wahlen engagierten, - wie auch für die Legitimierung der Parteiführung, für die Gewinnung der Anhängerschaft, für den Aufbau der Gesinnungsgemeinschaft überhaupt - förderte die Partei auch die Gründung von außerhalb der Wahlzeit agierenden Vereinigungen, welche zur Festigung der Partei beitragen sollten. 1884 ließ dann das Zentralwahlkomitee der Nationalliberalen Partei tatsächlich eine Zuschrift an die Parteigenossen ergehen, die ermahnt wurden, die "durch den Wahlkampf in Fluß gekommene Parteibewegung nicht ins Stocken gerathen zu lassen und den neuentfachten Eifer unserer Freunde wach zu erhalten. In allen Wahlkreisen, ob wir dasselbst in der Mehrheit oder Minderheit sind, müssen politische Vereinigungen, wo sie noch nicht bestehen, gegründet, wo sie aber schon vorhanden, befestigt und geklärt werden. Wenn nur irgend möglich, muß sich in jedem größeren Ort eines Wahlkreises ein nationalliberaler Verein bilden, jedenfalls muß aber in allen Orten des Kreises eine genügende Anzahl von Vertrauensmännern gewonnen werden. "30

Es handelte sich hierbei um die Forderung nach einer Organisation, die nach den siegreichen Wahlen von 1884 auch spätere Erfolge der Nationalliberalen Partei gewährleisten sollte. In diesem Sinne stellte das Zentralwahlkomitee vorausblickend fest: "Wir sind weit davon entfernt, die Organisationen innerhalb unserer Partei, wie sie sich in den verschiedenen Gegenden Deutschlands nach deren Eigenart entwickelt und bewährt haben, nach einer Schablone umändern zu wollen, wir glauben aber, daß hierbei Richtpunkte in Betracht kommen, welche sich an der Hand der Erfahrung als gemeinsame bezeichnen lassen. Zu diesen rechnen wir in erster Linie die Sammlung und Organisierung der Parteigenossen in Vereinen, auch in der Zeit vor den Wahlen, damit Jahr aus Jahr ein das Interesse an der Partei lebendig erhalten und ein ständiger Wirkungskreis für die Förderung der Parteibestrebungen geschaffen werde. Es ist eine unleugbare Thatsache, daß die Versuche, solche Vereinigungen erst unmittelbar vor den Wahlen zu begründen, fast immer zu spät kommen und höchstens halbe Erfolge erzielen. Im politischen Kampf ist der Einzelne machtlos, nur feste, dauernde Vereinigungen, das haben die letzten Wahlkämpfe aufs Neue bewiesen, sichern den entscheidenden Einfluß. (... )"31 30 Berliner Morgen-Zeitung (?), Nr.293, v. 24.12.1884, in: LHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Tit. 94, Nr. 11978, BI. 10. Der Name der Zeitung ist im Brandenburgischen Landeshauptarchiv handschriftlich wiedergegeben. Da die Berliner Morgen-Zeitung aber erst im Jahre 1889 gegründet wurde, liegt hier vermutlich ein Fehler vor. Wahrscheinlich handelte es sich um die Berliner Zeitung (siehe Anhang, Überblick der Zeitungen und Zeitschriften). 31 Ebenda.

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Im Übrigen lernte die Nationalliberale Partei schon vor 1884 diverse Formen des Vereinswesens kennen, die eine kontinuierliche Arbeit der Partei garantieren sollten. So wurde 1880 in Bremen ein Reichsverein gegründet, der trotz seines Namens nur innerhalb Bremens tätig war. Ohnehin aber war es nach der Vereinsgesetzgebung verboten, reichsweite Vereine zu gründen. Dieser Verein nun hatte die Absicht, die Sezession im Lande zu antizipieren und eine entsprechende Stimmung unter den Parteianhängern zu fördern. 32 Durch den Verein wollten sich also die Nationalliberalen in Bremen für die baldige Trennung des linken Flügels von der Partei aussprechen und damit die Notwendigkeit einer neuen Parteibildung zum Ausdruck bringen.J3 Somit war der Reichsverein ein Ort, wo die Verbindung, wenn auch informell und locker, zwischen Fraktion und Partei im Lande aufrechterhalten wurde, in dem Sinne, dass der Verein der Fraktion die Interessen eines Teils der Partei übermittelte. Obwohl der Verfasser des oben zitierten Briefes, Albert Gröning, den Wunsch jener Nationalliberalen vertrat, die "eine Trennung aus Anlaß der Militärfrage" für ungünstig erachteten, weil sie damit "von vornherein eine unpopuläre Position einnehmen"34 würden, hielten sie an der Entscheidung der Parteiführung fest. Es handelte sich hierbei um eine Solidaritätserklärung der Partei gegenüber ihrer Leitung im Reichstag. Nun sah man sich mit dem Problem konfrontiert, die "unentschiedenen Elemente" auf die Seite der Sezessionisten zu ziehen; aber Gröning riet davon ab, die Militärfrage als Grundlage für diesen Schritt zu sehen. 35 Wenige Tage später wiederholte Gröning seine Taktik, mit dem Unterschied, dass er nun definitiv wusste, dass der linke Flügel der Nationalliberalen im Reichstag aus der Fraktion austreten würde, "nicht aus Anlaß der Militärvorlage, sondern mit einer allgemein gehal32 So Albert Gröning an von Stauffenberg im März 1880: "Wir haben hier [in Bremen] seit dem vorigen Sommer den lebhaften Wunsch gehegt, daß die Vertreter der Freiheit auf jedem, auch dem wirtschaftlichen Gebiete je eher, je lieber sich von dem großen Trümmerhaufen der Nationalliberalen Partei lossagen möchten, und haben unsererseits im hiesigen ,Reichsvereine' diesen Schritt sogar schon antizipiert" (Albert Gröning an Franz v. Stauffenberg. Bremen, 6.3.1880, in: Paul Wentzcke, S. 297-299, hier S. 297). 33 So schrieb Alexander Georg Mosle an Heinrich von Treitschke 1879: ,,( ... ) In unserer Presse wie im Reichsverein greift hier eine theorisierende, kritisierende und oppositionelle Stimmung immer mehr um sich; der Reichsverein hat sogar neulich beschlossen, der Nationalliberalen Partei für ihre Haltung in der Eisenbahnfrage im Abgeordnetenhaus und in der Zollfrage im Reichstag ein Mißvertrauensvotum zu geben, und dabei die Hoffnung ausgesprochen, daß sich im Interesse der Klärung der Parteiverhältnisse in Deutschland eine Partei herausbilde, welche übereinstimmend in politischen und wirtschaftlichen Fragen die liberalen Grundsätze zur Geltung bringt( ... )" (Alexander G. Mosle an Heinrich v. Treitschke. Bremen, 1.12.1879, in: Paul Wentzcke, S. 280f., hier S. 280). Alexander Georg Mosle. (1827-1882), Kaufmann in Bremen, evangelisch, Reichstagsabgeordneter (1871-1881). 34 Albert Gröning an Franz v. Stauffenberg. Bremen, 6.3.1880, in: Paul Wentzcke, S. 297299, hier S. 297. 35 Ebenda, S.297.

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tenen, die politische und wirtschaftliche Freiheit betonenden Erklärung, deren Wortlaut Sie ja ohne Zweifel bereits kennen werden."36 Jedenfalls war er jetzt sicher, "daß es nicht schwer fallen würde, den hiesigen Reichsverein zu einer Zustimmung dazu zu veranlassen", und bestätigte, die Parteiführung unterstützen zu wollen: "Wir im Lande bereiten uns inzwischen nach Kräften vor, um Ihnen alsdann wirksam beistehen zu können."37 Nach der Sezession, als sich ein Teil der nationalliberalen Fraktion abspaltete und die Liberale Vereinigung gründete, stimmte auch der Reichsverein in Gotha ZU. 38 Der Reichsverein in Gotha hatte auch im Kampf gegen die Sozialdemokratie eine wichtige Rolle, wie Müller 1879 an Stauffenberg schrieb: ,,( ... ) Die Sozialdemokratische Partei, die eine Zeitlang sehr mächtig war, hatten wir durch den Reichsverein schon vor dem Sozialistengesetz geschlagen. ( ... )"39 Während die Fortschrittspartei zentralistisch durch eine Ein-Mann-Leitung organisiert war, zeichnete sich die Nationalliberale Partei durch die Pluralität ihrer Führungsspitze und durch eine entsprechende regionale Vielfalt aus. Dies brachte eine ziemlich lockere Form der funktionalen Abläufe innerhalb der Partei mit sich. Des Weiteren war kein Land in dieser Pluralität, die das föderalistische System Deutschlands widerspiegelte, so dominierend wie Preußen für die Deutsche Fortschrittspartei. Wenn auch die Geschichte der Nationalliberalen Partei in dem betrachteten Zeitraum bereits eine gewisse Tendenz zu Vereinsgründungen zeigt, so verstärken sich diese lokalen Aktivitäten erst wirklich in den 1890er Jahren. 40 Dies war die Zeit des Übergangs vom Agrar- zum Industriestaat und der damit verbundenen sozialen Umschichtung, die die moderne industrielle Massengesellschaft kennzeichnete. Hinzu kamen die Aufhebung des Sozialistengesetzes, mit der damit einhergehenden Erhöhung des Politisierungs- und Organisationsgrades der Sozialdemokratie, und der Eintritt der organisierten Interessen in die Politik - Faktoren, die eine Umstrukturierung der nationalliberalen lokalen Organisation erforderlich machten. 41 Bis zu den 1890er Jahren war daher die lokale Organisation durch Vereine für die Nationalliberale Partei von geringerer Bedeutung als für die Fortschrittler. Da die Nationalliberalen sich besonders auf das Honoratiorennetz stützten, d. h. auf perso36 Albert Gröning an Franz v. Stauffenberg. Bremen, 18.3.1880, in: Paul Wentzcke, 304f., hier S.304. 37 Ebenda, S. 304. 38 ,,( ... ) Aus den Zeitungen haben Sie vielleicht ersehen," - schrieb Julius Hopf an Stauffenberg - "daß unser Reichsverein zur Sezession Stellung genommen hat ( ... )" (Or. Julius Hopf an Franz v.Stauffenberg. Gotha, 16.10.1880, in: BArch, N2292 [NL F. von Stauffenberg], Bd.35, BI. 1). 39 Ernst A. Müller (Rechtsanwalt und Notar) an Franz v. Stauffenberg. Gotha, 7.8.1879, in: BArch, N 2167 (NL E. Lasker), Bd.300, BI. 20-25 TV. 40 So Thomas Nipperdey, Organisation (1961), S. 86ff. 41 So auch ebenda, S. 89 f.

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nelle Beziehungen, war das Mittel des Vereins wesens als kapillare Organisation der Parteianhänger für die eher institutionsorientierte Fortschrittspartei von größerer Bedeutung. Dazu kam, dass das Reichswahlrecht, d. h. das Mehrheitswahlsystem mit den damit verbundenen Stichwahlen, den Kompromiss wie von selbst mit sich brachte, was dem pragmatischen nationalliberalen Gedanken entgegenkam. Für diese kompromissbereite Politik war die Person und ihr Netz von Kenntnissen wichtiger als der Vereinsapparat. 42

b) Das Vereinswesen als Interessenvertretung Von großer Bedeutung in der Geschichte der Nationalliberalen Partei waren jene Einrichtungen, die, wenn sie auch nicht im unmittelbaren Dienste der Partei standen,.so doch wichtig für die Verwirklichung ihrer Ziele waren. Es handelte sich dabei um Organisationen, die als Interessenvertretungen agierten und darauf angewiesen waren, von einer Partei politisch vertreten zu werden. So versuchten z. B. die Schutzzöllner im Mai 1879, als die Nationalliberale Partei aufgrund der Auseinandersetzungen über freihändlerische und schutzzöllnerische Fragen zerrüttet war und der Deutsche Handelstag für den Freihandel eintrat, sich eine angemessene Vertretung bei der Zolltarifkommission zu sichern. ,,(... ) In der Sitzung des Auschusses des deutschen Handelstages zeigte es sich, daß die freihändlerische Partei, mit der Delbruck und Soetbeer Hand in Hand gehen, unsere Majorität nicht anerkennt und nicht zur Geltung kommen lassen will. (... ) Unsere Freunde in der nat.[ional] lib.[eralen] Partei bemühen sich, bei der Zusammensetzung der Zolltarif Commission eine angemessene Vertretung zu erlangen. Ich kann Ihnen vertraulich mittheilen, daß wir gestern Abend eine Liste aufgestellt haben, nach der wir den Versuch machen, außer Herrn v. Bennigsen, noch Dr. Buhl, Dr. Rentzsch, v. Hölder und mich durchzusetzen. Ob es gelingt, ist eine andere Frage. Ich zweifle aber nicht, daß die Commissionen in der Majorität einen vernünftigen Standpunkt einnehmen, und daß das Zollgesetz im großen Ganzen glücklich zu Stande kommen wird. (... )"43

Außerdem war schon am 20. November 1858 in Dortmund ein Vereinfür die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund gegründet worden, mit dem Ziel, sich für die Belange der Bergbauindustrie einzusetzen: Nur "mit vereinten Kräften und in gegenseitigem Austausch der Ansichten und Erfahrungen konnten die Bergbautreibenden des Bezirks hoffen, die Schwierigkeiten der neuen Situation, in die der Bergbau eingetreten war, mit durchschlagendem Erfolge zu überwinden."44 42 Dies bedeutet aber nicht, dass die Nationalliberalen auf das Vereinswesen verzichteten. Denn der Verein stellte auch ein wichtiges Mittel für die Pflege und Vergrößerung des Ansehens dar. 43 Friedrich Hammacher an Hugo HanieI. Berlin, 7.5.1879, in: BArch, N2105 (NL F. Hammacher), Bd. 21, BI. 10-11 rv. 44 Jahresbericht des Vereins für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund für 1882. Mit einem Rückblick auf die fünfundzwanzigjährige Thätigkeit des Vereins von 1858-1883, Essen (1884), in: BArch, N2105 (NL F. Harnrnacher), Bd.67, BI.lO-20rv, S.lO.

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So strebte der Verein nach einer Vertretung, die sich für die Zollinteressen des nicht-freihändlerischen Bürgertums einsetzen sollte. Im Jahre 1879 bemühte sich der Verein darum, eine Reichstagsdebatte zur Frage der Eisenzölle zu erreichen. 45 Als sich 1880 der freihändlerische Flügel der Partei allmählich organisierte, wurde dem Verein bewusst, dass eine befriedigende Antwort seitens der Schutzzöllner nur durch eine Zusammenarbeit zwischen Partei und Verein möglich sein würde und nur dadurch die politische Organisation gestärkt werden konnte. So schrieb Friedrich Hammacher an Hugo Haniel: 46 ,,( ... ) [ich] drücke (... ) Ihnen meine große Freude aus, daß es Ihrem Einflusse gelungen ist, die Bestimmung wegen eventl. Modification des Fördervertrages pro 1881 durchzusetzen. Praktische Gefahren hat [die Bestimmung] durchaus nicht, wohl aber schützt uns derselbe gegen grobe Mißdeutungen unserer Geschäftsziele, und das ist ein unberechenbarer Gewinn. ( ... ) Nach meiner Überzeugung ist es dringend nothwendig, daß wir den Bestrebungen der bambergischen Freihandelspartei gegenüber uns zeitig rühren, uns womöglich eine feste Organisation schaffen. ( ... ),,47

Selbstverständlich sollte der Verein der Partei die Wählerschaft sichern. Zudem stimmten die Ziele der Partei und des Vereins in vielen Punkten überein. Denn nicht zufällig waren die Mitglieder des Vereins herausragende Persönlichkeiten der Partei, welche sowohl parteipolitische als auch materielle Interessen hatten. So war z. B. Friedrich Hammacher sowohl Mitglied des Vereins als auch als Nationalliberaler Abgeordneter des Reichstags. 48 Ende der 1870er und Anfang der 1880er Jahre hatte die Zollpolitik Bismarcks "in den beIgbautreibenden Kreisen Westfalens und insbesondere im Verein von Anfang an eine sympatisehe Aufnahme gefunden. Der Verein begrüsste die Bemühungen der Reichsregierung, welche darauf gerichtet waren, die heimische Industrie gegen eine übermässige Konkurrenz des Auslandes auf eigenem Boden sicher zu stellen, und erachtete einen solchen Schutz, namentlich bei der mit dem Steinkohlenbergbau so enge verschwisterten Eisenindustrie, nach den traurigen Erfahrungen in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, als eine durch die Verhältnisse gebotene Notwendigkeit( ... )" (ebenda, S.55). 4S V gl. Dr. Gustav N atorp an Friedrich Hammacher. Essen, 21.5.1879, in: BAreh, N 2105 (NL F. Hammacher), Bd. 34, BI. 83-84 rv. 1882 war Dr. Gustav Natorp Geschäftsführer des Vereins (Jahresbericht des Vereins für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund für 1882. Mit einem Rückblick auf die fünfundzwanzigjährige Thätigkeit des Vereins von 1858-1883, Essen [1884], in: BAreh, N2105 [NL F. HammacherJ, Bd. 67, BI.I0-20rv.). 46 Friedrich Hammacher, (1824-1904), Dr.jur., Rentner in Berlin, Vorsitzender des Vereins für die bergbaulichen Interessen in Dortmund, Mtg. des preußischen Abgeordnetenhauses (1863-1898) und des Reichstages (1867-1898), nationalliberal. Evangelisch. Huga Hanie/, (1854-1896), Fabrikbesitzer, Teilhaber von Haniel und Lueg in Düsseldorf und Franz Haniel & Co. in Ruhrort, Mitarbeiter in zahlreichen industriellen Unternehmen. Geheimer Kommerzienrat, Vorstandsmitglied des Vereins für bergbauliehe Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund. 47 Friedrich Hammacher an Hugo Haniel. Berlin, 30.5.1880, BAreh, in: N2105 (NL F. Hammacher), Bd. 21, B1.38. 48 Im Jahre 1882 gehörten zu den Mitgliedern des Vereins: Dr.jur. Friedrich Hammacher, Vorsitzender Berlin; Landgerichtsrat Edmund Heintzmann, Hessen, erster stellvertretender

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Im Verein wurde auch die Sozialpolitik Bismarcks debattiert, was die nationalliberalen Politiker sowohl in der Partei als auch im Verein intern spaltete. Das Zögern der Partei wird emblematisch verkörpert in der Haltung Friedrich Hammachers. 49 Im Jahre 1884, als es immer dringlicher erschien, das Volk in der bestehenden Ordnung zu berücksichtigen, trat Hammacher für die Sozialgesetzgebung ein. Nun war er davon überzeugt, "daß der Staat die Verpflichtungen habe, durch die Gesetzgebungen und socialen Einrichtungen den Schwächeren zu Hilfe zu kommen (00.)."50

11. Momente und Elemente der Leitung Da die Literatur die Zentralorgane der Nationalliberalen Partei schon ausreichend beschrieben hat,51 werden in diesem Zusammenhang in erster Linie die tatsächlichen Verbindungen zwischen den Partei führern untersucht. Die Analyse konzentriert sich hauptsächlich auf die informelle Tätigkeit der Führungspersönlichkeiten, da - wie das Archivmaterial gezeigt hat - die Leitung der Nationalliberalen Partei entscheidend auf den Beziehungen zwischen den führenden Personen und den verschiedenen Instanzen und Richtungen der Partei beruhte. Es handelt sich demnach um einen ergänzenden Beitrag zur Geschichte des liberalen Parteiwesens, das unter dieser Perspektive von der Forschung bislang kaum berücksichtigt worden ist. Vorsitzender; Geheimer Kommerzienrat Hugo Haniel in Ruhrort, zweiter stellvertretender Vorsitzender; Bergrat Amold von der Becke, Dortmund; Bergrat Heinrich Heintzmann in Bochum; Bergassessor E. Krabler in Altenessen; Bergrat Wilhelm von Velsen in Dortmund als "Mitglieder des fungierenden Ausschusses" (Jahresbericht des Vereins für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund für 1882. Mit einem Rückblick auf die fünfundzwanzigjährige Thätigkeit des Vereins von 1858-1883, Essen [1884], in: BArch, N 2105 [NL F. Hammacher], Bd.67, BI.I0-20rv). 49 Im Jahre 1881 hatte er nämlich als orthodoxer Liberaler den Entwurf abgelehnt: ,,M. H., ich bin nichts weniger als ein Mann, der den Staat nur als einen Nachtwächter ansieht. Ich habe niemals vermöge des Einflusses, den mein Gefühlsleben auf meine gesammte Thätigkeit äußert, den Standpunkt der Partei des laisser aller, laissez faire, oder wenn Sie wollen, des Manchestertums eingenommen; als Ihr Vertreter glaube ich Ihnen bewiesen zu haben, daß ich die Aufgaben des Staates weiter stecke, als dies seitens eines großen Theils meiner politischen Freunde geschehen ist. So bin ich für die Verstaatlichung der Eisenbahnen eingetreten, obwohl ich mir der Gefahren bewußt war, die darin liegen. Ich bin fest durchdrungen von der Überzeugung, daß die Gesetzgebung aller Kulturstaaten in Zukunft einen ganz anderen Inhalt, als es in der Vergangenheit der Fall war, haben wird. Aber soll die Socialgesetzgebung gefördert und verfolgt werden um den Preis der Entmannung der Bevölkerung, unter einer wesentlichen Einbuße der Selbstthätigkeit, hat dieselbe den Erfolg, daß der Einzelne das Vertrauen auf die Kraft der Selbsthülfe verliert, dann, fürchte ich, wird die Lösung dieser Aufgabe zusammenfallen mit dem Untergang unserer Kultur, mit dem Untergang unserer bürgerlichen Gesellschaft. (Bravo!)" (Aus der Wahlrede vom 16. Oktober 1881, in: BArch, in N2105 [NL F. Hammacher], Bd.72, BI. 40-45). 50 Aus der Wahlrede zu Eppinghofen vom 19. Oktober 1884, in: BArch, in N2105 (NL F. Hammacher), Bd.72, BI. 46-58. SI ZU den zentralen Parteiorganen vgI. Thomas Nipperdey, Organisation (1961), S. 120ff.

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Der Briefwechsel der Partei anhänger, der den Nachlässen entnommen werden kann, macht es notwendig, innerhalb der Parteileitung zwei verschiedene Ebenen zu unterscheiden: die der tatsächlichen Direktion und die der sogenannten Mittelsmänner. Die Kriterien, die eine solche Unterscheidung möglich machen, haben einerseits mit den Personen in den Leitungsorganen der Partei und andererseits mit ihrer Rolle zu tUn. So werden als Leiter diejenigen bezeichnet, die der Reichstagsfraktion angehörten, welche als Führungsorgan der Partei galt, und die gleichzeitig - ausgehend von den Korrespondenzbeziehungen - über ein bestimmtes Maß an Autorität Unter den Parteigenossen verfügten. Als Mittelsmänner hingegen werden diejenigen betrachtet, die eine vermittelnde Rolle zwischen den Leitern und der Partei im Lande, d. h. den lokalen Anhängern der Partei, einnahmen. Die Untersuchung wird zeigen, dass die Vermittlungstätigkeit dieser Personen vor allem zwischen den Leitern und ihren Wahlkreisen erfolgte.

1. Die nationalliberalen Führungskräfte und der Bund Die nationalliberale Parteiführung war pluralistisch und bestand aus mehreren Persönlichkeiten, die über ein bestimmtes Maß an Ansehen verfügten. Im Übrigen war sich die Nationalliberale Partei seit ihrem Entstehen darüber im Klaren, dass ihre Macht gerade von diesen Persönlichkeiten abhing. 1869 schrieben Die Grenzboten, dass "eine Fraktion in sich eine so große Anzahl von talentvollen Männem [vereinigt], welche, aus den verschiedenen Kreisen des Volkslebens heraufgekommen, zum Theil durch harte Verfassungskämpfe geschult, mit vielem Detail der Gesetzgebung und Verwaltung bekannt, in den großen Culturfragen der Gegenwart wohlbewandert, als warme Patrioten, verständige, ehrliche, billig denkende Männer in allgemeinem Ansehen stehen."52

Sie fügten hinzu, dass fast allen Leitern "die Autorität und die Sicherheit der Herrschaft [fehlte], welche nur glücklich geleitete Staatsgeschäfte, eine in verantwortlicher Stellung erprobte Tüchtigkeit und die Anhänglichkeit von Millionen, d. h. eine große Popularität gegenüber den eigenen Parteigenossen zu verleihen vermögen."S3 52 Die nationale Partei, in: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik und Literatur 28, 1869, S.481 ff., hier S.481. 53 Ebenda, S.482. "Käme der Tag," - so war in der Zeitschrift weiterzulesen- "an welchem die Herren v. Forckenbeck, Bennigsen u. A. in die großen Geschäfte gerufen würden, so wäre bei der gegenwärtigen Organisation der Partei zu befürchten, daß ein Theil der bisherigen Parteigenossen ihnen Mißtrauen statt Hingabe, Eigenwillen und vielleicht hier und da die Abneigung gekränkter Eitelkeit erweisen würde; und die höchste Leitung des Bundes dürfte für den guten Willen, in der nationalen Partei eine Stütze zu finden, dadurch bezahlt werden, daß ein Theil der Partei ihre Führer verläßt, und daß sich aus den Eigenmächtigen neue Oppositionsfraktionen bilden" (ebenda, S.483). 8 Cioli

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3. Kap.: Die Nationalliberale Partei 1878-1884

Wie die folgenden beispielhaften Ausführungen zeigen werden, versuchten die Liberalen, die Koordination der Partei in gewissem Sinne auf persönliche Verbindungen zu stützen. Das zeigt, dass die liberale Organisationsform, zumal jene der Nationalliberalen, als eine Struktur von Verbindungslinien verstanden werden kann, welche sowohl von unten nach oben als auch in die entgegengesetzte Richtung verliefen. Diese Verbindungen schlossen aber die Rolle der konventionellen Führungsorgane nicht aus. Ganz im Gegenteil verstärkte die gesellschaftliche Position der jeweiligen Mitglieder auch die institutionellen Aufgaben dieser Organe. Formell war das Führungsorgan der Partei der Zentralvorstand, der aus den Vertretern der Landschaften und den Vorständen der Berliner Fraktionen bestand. 54 Was die Führungspersönlichkeiten 55 angeht, waren sie ihrer Ausrichtung nach in zwei Gruppen geteilt: Einerseits gab es eine Reihe von Parteiführern, die der Bismarckschen Regierung besonders nahestanden. Diese bildeten die Gruppe, die die Schutzzollpolitik des Kanzlers und sein Bündnis mit den Konservativen unterstützte. Andererseits existierte eine Gruppe, die die konservative Wende Bismarcks ablehnte: Diese bildete die Sezession von 1881, welche sich 1884 mit der Fortschrittspartei zusammenschloss.

a) Der konservative Flügel der Parteiführung Ein bedeutender Leiter der Nationalliberalen Partei war in der betrachteten Zeit (1878-1884) Rudolf von Bennigsen. Er bekleidete von 1872 bis 1891 das Amt des Parteivorsitzenden und war von 1867 bis 1883 Vorsitzender der Reichstagsfraktion. 56 Da die Parteiführung der Liberalen insgesamt bei der Fraktion lag, versteht sich die herausragende Rolle Bennigsens innerhalb der Partei von selbst. "Der Führer ( ... ) dieses Liberalismus und zugleich der zweite Vizepräsident des Reichstages ist der ehemalige Präsident des Nationalvereins von Bennigsen ( ... ).,,57 Bennigsen kann als eigentlicher Exponent des Nationalliberalismus verstanden werden, indem er dessen Tendenz zum Kompromiss vertrat. Des Weiteren schien Vgl. dazu Thomas Nipperdey, Organisation (1961), S. 130. Zur nationalliberalen Reichstagsfraktion als "informeller Führungszirkel" vgl. Ansgar Lauterbach, Vorhof, S. 68 ff. 56 Rudolf von Bennigsen, (1824-1902), Mtg. der zweiten hannoverschen Kammer (1867-1888), später des Reichstages (1867-1883, Wkr. Neuhaus-Seestemunde [Hannover 19] und dann von 1887 an); Nationalliberaler, Präsident des preußischen Abgeordnetenhauses (1873-1879), Mtg. der preußischen zweiten Kammer; Oberpräsident von Hannover seit 1888, Landesdirektor der Provinz Hannover 1868-1888, Wirklicher Geheimer Rat zu Hannover. Evangelisch. Vgl. Hermann Oncken, Bennigsen (1902); ders., Bennigsen (1910); Adolf Kiepert; Paul Ostwald; Dietrich Sandberger. 51 Wilhelm Rothert, S.40. 54 55

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ihm die Partei einheit, die über die unmittelbaren Grenzen des Bundeslandes hinausgeht, unverzichtbar, um eine erfolgreiche liberale Politik auszuüben, was eine Strategie des lustemilieu förderte. Bennigsen stammte aus einer hannoverschen Adelsfamilie, ohne "daß in ihr die Enge eines traditionell-partikularistischen Geistes den freien Blick in die andere deutsche Umwelt gehindert hätte."58 So erklärte Bennigsen: ,Zuerst bin ich ein Deutscher, dann ein Hannoveraner, dann ein Kalenberger [das Heimatdorf Bennigsens lag im Kalenbergsehen Lande], dann ein Edelmann. Dieses ist die Stufenfolge meiner politischen Interessen.' 59 Die Wichtigkeit der nationalen Dimension bei Bennigsen wurde bei den Reichstagswahlen von 1878 deutlich, als er in zwei Wahlkreisen -dem 19. Hannoverschen und dem 3. Braunschweiger- gewählt wurde, sich für den Ersteren entschied und für Braunschweig Stauffenberg empfahl. Gegen den Einwand, dass Stauffenberg "ein Ausländer, ein Bayer ist", setzte Bennigsen seine Ansicht, "daß Nord und Süd gemeinsam zueinander stehen zu Schutz und Trutz. "60 Dies sei für ihn die Grundlage des Reichs, "zu dem wir endlich durch die Taten des Kaisers und seines Kanzlers und die Opfer des ganzen Volkes gelangt sind. Die Mainlinie ist politisch verschwunden, lassen Sie also auch hier sie beseitigt sein."61 Die Problematik zeigt ganz deutlich die Tragfähigkeit der lokalen Dimension im deutschen Reichsstaat, wo die nationale Dimension nicht unbedingt Integration bedeutete. Dieser Tatsache waren sich die Liberalen bewusst, wenn sie entschieden für das Bundeswesen und gegen die Staatseinheit eintraten. In diesem Sinne führte Bennigsen über sich selbst und Stauffenberg aus: "Wir beide haben, seitdem wir am politischen Leben teilnehmen, uns an das historisch Bestehende angeschlossen und es für gefährlich, ja für unmöglich gehalten, ohne Rücksicht auf dieses die zukünftige Verfassung Deutschlands zu gestalten. Das ist unsere Politik seit 1848, das ist die Politik des deutschen Nationalvereins gewesen, dessen Präsident zu sein ich die Ehre hatte, und der immer gegen den Einheitsstaat eingetreten ist. ( ... ) Also Einheitsstaatler sind wir Nationalliberalen nicht; und sollte, was noch lange ausbleiben möge, Braunschweig vor die Frage nach seiner staatlichen Zukunft gestellt werden, dann wird dessen Verfassung und Volksvertretung zunächst maßgebend sein; von uns haben sie jedenfalls nicht zu fürchten, daß wir Ihnen Gewalt antun. (Lebhaftes Bravo)"62 Paul Ostwald, S. 3. Ebenda, S.3. "Die politischen Vorgänge in seinem engeren Hannoverschen Heimatlande" - so Ostwald weiter - "interessierten ihn nur insoweit, als sie der gesamten nationalen Bewegung förderlich oder hinderlich waren. Scharfe Worte konnte er nicht genug finden, wo er in Hannover ultramontane und partikularistisch wirkende Kräfte an der Arbeit sah ( ...)" (ebenda, 58

59

S.8).

60 Rede Rudolf von Bennigsens bei einer Wahlversammlung in Kreiensen, 18. August 1878, in: Walther SchultzelFriedrich Thimme, Bd. 1, S. 396ff., hier S. 397. 61 Ebenda, S. 397. 62 Ebenda, S. 398. Die Bemerkung über die staatliche Zukunft Braunschweigs bezog sich darauf, dass nach dem Tod des regierenden Herzogs Wilhelm von Braunschweig die hannoversche Linie sukzessionsberechtigt war.

8"

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3. Kap.: Die Nationalliberale Partei 1878-1884

Dazu kam die konfessionelle Ebene, da Stauffenberg Katholik war. Das Problem war nämlich, wie Stauffenberg sich zur ultramontanen Partei stellte, "weIche noch heute dem Deutschen Reiche und dem Kaisertum der Hohenzollern widerstrebt, und weIche in dem Gegensatz zwischen Staat und Kirche im heftigsten Kampfe gegen die Regierung steht. "63 Bennigsens Worte erklären eindeutig die Position des Liberalismus gegenüber der religiösen Frage: "Wenn man ( ... ) darauf die vollste Beruhigung erhält, dann darf man einem Katholiken, der sich frei und unabhängig und reichstreu von Anfang an gezeigt hat, wie das Herr von Stauffenberg stets getan hat, gerade doppeltes Vertrauen schenken. (Lebhafter Beifall)."64 Mit anderen Worten betraf die Religion für die Liberalen nicht die politische Ebene, sondern die private des Glaubens und Gewissens. So kann auch der Umstand geklärt werden, warum protestantische, katholische und jüdische Liberale - wie Bennigsen, Stauffenberg und Lasker - in derselben Partei zusammenlebten und -arbeiteten. Die konfessionelle Frage hatte bei der parteipolitischen Spaltung der 1880er Jahre kein Gewicht. Seines adligen Standes bewusst studierte Bennigsen Jura 65 und blieb im Staatsdienst bis zum Sieg der Reaktion in den 1850er Jahren, als er in die Politik eintrat, um die bürgerlichen Rechte wieder zur Geltung zu bringen. So wurde er im Jahre 1855 in die zweite Hannoversche Kammer gewählt. 66 Sein Stand, seine Fähigkeiten und seine konsequente Vertretung des Bürgertums machten Bennigsen zur volkstümlichen Persönlichkeit, die bald über die Grenze von Hannover berühmt wurde. 67 Da er über ein so großes Ansehen verfügte, bekleidete Bennigsen, oft auch gleichzeitig, wichtige Reichs- und Landesämter. Bis 1883 war Bennigsen sowohl Mitglied des Reichstags als auch des preußischen Abgeordnetenhauses, wo er zum Präsidenten und Vizepräsidenten gewählt wurde: ,,Ehren und Würden, aber auch die damit verbundene große Arbeitslast sind ihm in seinem parlamentarischen Leben reichlich zuteil geworden. (...) Kein Wunder also, wenn er im Reichstage 1872{73 wieder zum 2. Vizepräsidenten gewählt wurde, wie er es bereits im konstituierenden und Norddeutschen Reichstage gewesen war, wenn er lange Jahre hindurch im Reichstage Vorsitzender der Budgetkommission und anderer Kommissionen war, kein Wunder, wenn ihn auch das preußische Abgeordnetenhaus in den Jahren 1867-73 zum 2. Vizepräsidenten und in den Jahren 1873-79 sogar zum Präsidenten machte."68 Ebenda, S. 397. Ebenda, S.397. 65 In diesem Sinne schrieb Bennigsen im Jahre 1846 an seinen Vater: ,,Da der Soldatenstand in Friedenszeiten mich nicht sehr anzog, wählte ich das juristische Studium, auch nicht aus Vorliebe - ich kannte ja gar nicht, was ich wählte - sondern vielmehr, weil der juristische Staatsdienst mir als Adligem fast als das einzige andere Fach erscheinen mußte" (Paul Ostwald, S.5). 66 Über die Tätigkeit Bennigsens in der zweiten Hannoverschen Kammer vgI. AdolfKiepert. 67 Ebenda, S.16. 68 Ebenda, S. 38. 63

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11. Momente und Elemente der Leitung

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Die Ämterhäufung vergrößerte Bennigsens Ansehen und verhalf ihm zu einer führenden Stellung in der Nationalliberalen Partei. Das Bundeswesen mit der damit verbundenen Pluralität der Ämter wirkte somit als wichtiges Instrument für die Aufrechterhaltung und Vermehrung des Ansehens der Honoratioren, d. h. als verfassungsmäßiger Faktor der liberalen Politik. Zur Zeit der großen Wende vertrat Bennigsen die konservative Haltung der Nationalliberalen Partei, die er am 6. Mai 1879 durch seine Rede anlässlich der Generaldebatte zu den Steuer- und Tarifgesetzen deutlich zum Ausdruck brachte. 69 Laut Lasker schlossen Inhalt und Ton der Rede jede Möglichkeit der Verständigung aus, "und nicht allein bei uns, sondern ganz überwiegend in der Partei mit Ausschluß der reinen Schutzzöllner und völlig nach rechts strebenden Mitglieder, überraschte und verstimmte die Rede."70 Als Bennigsen im Sommer 1879 andeutete, dass er sich von der parlamentarischen Tätigkeit zurückziehen wolle, brachten verschiedene Mitglieder der Partei ihre Freude darüber zum Ausdruck. Wenn auch Lasker den Rücktritt Bennigsens als Schaden für die Partei ansah, weil seine "bedeutende Kraft und Persönlichkeit (... ) schwer zu missen" waren, betrachtete er gleichzeitig den angekündigten Schritt als notwendig: "Freilich" - so Lasker - "muß ich in ganzer Aufrichtigkeit hinzufügen, daß er seine eigentlichste Geltung erst erlangen würde, wenn er den Hinhaltungen Bismarcks entsagte und mit voller Entschiedenheit Macht gegen Macht einsetzte."7l Laut Lasker war es die konservative Haltung Bennigsens, die sein parlamentarisches Ausscheiden notwendig machte: ,,( ... ) Bennigsens Zurücktritt von dem politischen Schauplatz, der sehr wahrscheinlich ist, bildet ein Symptom, daß die liberale Partei zunächst auf praktische Erfolge nicht zu rechnen hat. Der Verlust eines Mannes von so bedeutendem Geiste und wichtiger Persönlichkeit trifft recht schwer, aber ich verschweige mir nicht, daß Bennigsen uns von Nutzen sein würde, wenn er endlich entschiedene Stellung ergriffe und mit voller Energie einträte. Dies will er nicht, weil er kein Zutrauen zu der Stimmung des Volkes, zum Standpunkt seiner Partei69 Bei dieser Rede hatte Bennigsen, wie Lasker an Miquel schrieb, "das Ausscheiden einzelner nach links hin dissentierender Mitglieder, wie ich annehme schlechtweg unser Ausscheiden, vor Augen gehabt und die Rede danach eingerichtet. ( ... ) Nicht die Differenzen über den Tarif schufen die Situation, obschon auch hier die Lage weit über jede Vorausschätzung sich geändert hatte. Die Trennungsgedanken Bennigsens waren dadurch bedingt, daß er, nach den Strömungen im Volke, die Zeit gekommen glaubte in stärkerem Anschluß an die beiden konservativen Parteien eine Mehrheit zu schaffen und mit seinem Anhang, als welche der weit größte Teil aller Fraktionsgenossen zurückgehalten werden sollte, in der Mehrheit zu bleiben und eine leitende Stellung zu erringen" (Eduard Lasker an Johannes v. Miquel. Berlin, 29.6.1879, in: Paul Wentzcke, S. 248 ff., hier S.249). "In der Rede" - so Lasker weiter- "akzeptierte Bennigsen, unter einigem formalisierenden Vorbehalten und wenig praktischen Einschränkungen, nicht allein den Tarif, sondern die gesamte Handels- und Finanzpolitik, sogar die agrarischen Tendenzen Bismarcks( ... )" (ebenda, S.249). 70 Ebenda, S. 249. 11 Eduard Lasker an Johannes v. Miquel. Berlin, 1.8.1879, in: Paul Wentzcke, S. 260f., hier S.260.

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3. Kap.: Die Nationalliberale Partei 1878-1884

genossen hat. Darum ist sein Rücktritt nur Symptom, nicht der Verlust selbst. Ein großer Gewinn wäre, wenn wir ihn ganz für die liberale Sache haben könnten. (.. .)"72

Es ist bemerkt worden, dass Bennigsen "die wirtschaftlichen Meinungsverschiedenheiten in seiner Partei [unterschätzte]. ( ... ) Er erlebte sodann mit Schmerz, daß der freihändlerische linke Flügel seiner Partei unter Forckenbeck mit 28 Mitgliedern 1880 in die Sezession trat.'