Postsouveräne Territorialität. Die Europäische Union und ihr Raum [1. ed.] 9783868546415, 9783868542875

163 74 1MB

German Pages 302 [295] Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Postsouveräne Territorialität. Die Europäische Union und ihr Raum [1. ed.]
 9783868546415, 9783868542875

Citation preview

Ulrike Jureit | Nikola Tietze (Hg.)

Postsouveräne Territorialität Die Europäische Union und ihr Raum

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2015 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-641-5 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © 2015 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-287-5 Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras Typografie und Herstellung: Jan und Elke Enns Satz aus Stempel Garamond von Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt Ulrike Jureit | Nikola Tietze

Postsouveräne Territorialität. Eine Einleitung

I . Europäischer Raum: Visionen – Begriffe – Ordnungskonzepte

7 25

Achim Landwehr

Im Zoo der Souveränitäten. Oder: Was uns die Präsouveränität über die Postsouveränität lehren kann 27 Susanne Rau

Einheit Europa? Visionen und Figuren der Vormoderne

51

Nikola Tietze

»Räume und Träume«: Ordnungsimaginationen in der Europäischen Union

70

II . Wachsende Räume und regulierte Nachbarschaften. Die Europäische Union und ihre Erweiterungslogiken

95

Jochen Kleinschmidt

Europäische Raumsemantiken. Überlegungen zu einem post-geopolitischen Selbstverständnis

97

Ulrike Jureit

Wachsender Raum? Die Europäische Union kommentiert ihre territorialen Erweiterungen

119

Steffi Marung

Die wandernde Grenze. Territorialisierungsentwürfe nach der EU -Osterweiterung 2004

136

III . Innen und Außen: Grenzkonstellationen im erweiterten Europa

167

Lena Laube

Postsouveräne Räume: Makroterritorien und die Exterritorialisierung der europäischen Grenzpolitik

169

Tobias Chilla

Grenzüberschreitende Verflechtung – ein Fall von postsouveräner Raumentwicklung?

191 5

Sebastian M. Büttner

Mobilisierte Regionen. Zur Bedeutungsaufwertung des subnationalen Raums in einem erweiterten Europa

210

IV . Europäischer Superstaat? Facetten einer räumlichen Transformation

231

Jens Wissel | Sebastian Wolff

Die Europäische Union als multiskalares StaatsapparateEnsemble. Zum Zusammenhang von gesellschaftlicher Regulation und strategischer Raumproduktion

233

Monika Eigmüller

Die Entwicklung des europäischen Rechtsraums als sozialpolitischer Anspruchsraum: Raumdimensionen der EU -Sozialpolitik

255

Petra Deger

Die Europäische Union als Gestaltungsraum – Postsouveräne Territorialität oder das Ende moderner Staatlichkeit?

273

Zu den Autorinnen und Autoren

298

Zu den Herausgeberinnen

303

6

Ulrike Jureit | Nikola Tietze

Postsouveräne Territorialität. Eine Einleitung

Im Zuge der Ausdifferenzierung von globalen Märkten, von digitalen Kommunikationsformen und transnationalen Verflechtungsdynamiken scheint die territoriale Ordnung von Staaten mehr und mehr an Bedeutung zu verlieren. Umso erstaunlicher ist es, dass im Rahmen soziologischer, politikwissenschaftlicher sowie historischer Forschungen zum Wandel von Staatlichkeit in der (Post-)Moderne meistens der Souveränitätsbegriff im Mittelpunkt von Theorie- und Konzeptionalisierungsanstrengungen steht, während die Interdependenz zwischen postsouveräner Staatlichkeit und territorialer Ordnung weitgehend unberücksichtigt bleibt.1 An dieser Schnittstelle, das heißt am gegenwärtig zu beobachtenden Wandel von Souveränitätsansprüchen, Staatlichkeitstheorien und räumlichen Ordnungskonzepten, setzen die insgesamt zwölf Beiträge dieses Bandes an. Sie fokussieren im Kontext der fortschreitenden Europäisierung einen signifikanten Veränderungsprozess, durch den sich nicht nur individuelle Rechtsansprüche und Zugangsbedingungen zu Märkten und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen gravierend verändern, sondern durch den vor allem regionale, nationale und supranationale Zugehörigkeiten variiert und anders konfiguriert werden. Denn mit dem Konzept der Postsouveränität, also der Vorstellung einer geteilten, sich überlappenden und damit nicht mehr klassisch-auto1

Vgl. John W. Meyer u. a., »World Society and the Nation-State«, in: American Journal of Sociology 103, Nr. 1 (1997), S. 144–181; Stephan Hobe, »Der kooperationsoffene Verfassungsstaat«, in: Der Staat 37 (1998), S. 521–546; Neil MacCormick, Questioning Sovereignty. Law, State, and Nation in the European Commonwealth, Oxford 1999; Saskia Sassen, Territory, Authority, Rights, Princeton 2006; Aleksandra Lewicki, Souveränität im Wandel. Zur Aktualität eines normativen Begriffs, Münster 2006; Thomas Risse/Ursula Lehmkuhl, »Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 20–21 (2007), S. 3–9; Philipp Genschel/Bernhard Zangl, »Die Zerfaserung von Staatlichkeit und die Zentralität des Staates«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 20–21 (2007), S. 10–16.

7

nomen Souveränität, stellt sich die Frage der territorialen Verfasstheit von Ordnungssystemen und damit auch die der jeweiligen Zugehörigkeitskonzepte faktisch neu. Bisherige, vor allem nationalstaatlich verfasste Angebote, werden immer stärker »supranational übergangen oder ethnisch-regional unterlaufen«2, ohne dass diese Verformungen politisch bewusst gestaltet oder gar wissenschaftlich hinreichend reflektiert werden. An die Stelle klassisch-territorialer Differenzmarkierungen treten indes immer häufiger »invisible frontiers«, die eben nicht mehr nur auf herkömmlichen Raumparametern, sondern auf institutionalisierten, regulatorischen Verfahren innerhalb und jenseits der nationalstaatlichen Ordnungen beruhen. Inwiefern Zugehörigkeit, Letztinstanzlichkeit und Herrschaftsmonopol in politischen Systemen wie dem der Europäischen Union überhaupt noch territorial zu denken sind, stellt eine bisher allenfalls aufgeworfene, aber keineswegs hinreichend analysierte Forschungsfrage dar, und das, obgleich supranationale Systeme wie die Europäische Union nationalstaatliche Territorialkonzepte nachhaltig konterkarieren. Folglich kann Territorialität in solchen supranationalen Gefügen nicht mehr auf gleiche Weise oder zumindest nicht mehr uneingeschränkt als räumliches Organisationsprinzip und damit als ein Kernelement staatlicher Souveränität definiert sein. Möglicherweise hat Territorialität als konstitutives Element europäischer Souveränitätskonzepte sogar ausgedient oder bleibt als völkerrechtliches Anerkennungselement nur noch materieller Bestandteil einer nunmehr »pooled and shared sovereignity«3. Dieser Sammelband greift das in der Forschung bisher allenfalls grob skizzierte Themenfeld Postsouveräne Territorialität auf und zielt darauf, es sowohl theoretisch wie auch empirisch zu erschließen. Die insgesamt zwölf Beiträge markieren dabei durchaus unterschiedliche, aus verschiedenen Fachdisziplinen hergeleitete Analyseperspektiven, mit denen das Thema am Beispiel der Europäischen Union systematisch ausgelotet und vermessen wird. Der europäische Schwerpunkt ist nicht nur aufgrund aktueller Integrationsdebatten und Krisenszenarien eine Herausforderung, ihm liegt 2

3

Claus Leggewie, »Space – not time? Raumkämpfe und Souveränität. Skizzen zu einer ›Geopolitik‹ multikultureller Gesellschaften«, in: Transit (1994), Heft 7, S. 27–42, Zitat S. 27. Lewicki, Souveränität im Wandel, S. 86.

8

darüber hinaus die Annahme zugrunde, dass es ein spezifisch europäisches Verständnis von Raum und Territorium gibt, mit dem gemeinhin soziale Prozesse fixiert, politische Zugehörigkeiten definiert sowie Herrschafts- und Gültigkeitsräume gerahmt werden. Dieses spezifische Verständnis wird auch im Zuge der europäischen Integrations- und Erweiterungspolitik immer wieder sichtbar, denn schließlich stellt der Raumbegriff schon seit Längerem ein zentrales Element im Selbstverständnis der Europäischen Union (EU ) dar. So dient er unter anderem dazu, die Rechtsbeziehungen zwischen den EU -Bürgern wie auch deren Verhältnis zu den EU -Institutionen zu beschreiben. Folglich fasst die EU -Kommission ihre Politik im Hinblick auf die Grundrechtsgarantie, die Justiz und innere Sicherheit unter dem Titel Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zusammen.4 Darüber hinaus beruhen die EU -Grundfreiheiten – die Freiheit des Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehrs – unweigerlich auf der Vorstellung eines Raums, der die Hoheitsgewalten der EU -Mitgliedstaaten überwölbt, der als »Raum ohne Binnengrenzen« Freizügigkeit ermöglicht und die voneinander abgegrenzten nationalstaatlichen Territorien miteinander verbindet. Gleichzeitig ruft der Raumbegriff historisch gewachsene Semantiken auf. Denn anders als der englische Terminus area ist Raum seit der Frühen Neuzeit mit einem Territorialisierungsprozess assoziiert, der im Zuge der europäischen Nationalstaatsbildung nach dem Dreißigjährigen Krieg zwar erst allmählich an Wirkungs- und Gestaltungskraft gewann, der aber schließlich im 19. Jahrhundert zu der entscheidenden Semantik nationaler Gemeinschaftsbildung avancierte.5 Seither gehört es zur Grundausstattung europäischen 4

5

Europäischer Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts: http://europa. eu/legislation_summaries/institutional_affairs/treaties/lisbon_treaty/ai0022_ de.htm [8. 9. 2014]. Während sich vor allem mit Benedikt Andersons Buch »Die Erfindung der Nation« der Nationenbegriff mit einer bemerkenswerten Durchschlagskraft dynamisierte, blieben Untersuchungen zur räumlichen Verfasstheit lange Zeit auf die rechtliche Vereinheitlichung zum Staatsgebiet konzentriert. Dieser Stillstand geriet erst in Bewegung, als Charles S. Maier in seinem ebenso instruktiven wie viel rezipierten Aufsatz Territorialität zum Schlüsselbegriff für die Periodisierung des letzten Jahrhunderts erklärte. Zwischen 1860 und 1970 habe – so Maier – Territorialität die Organisation von Gesellschaften so nach-

9

Staatsverständnisses, dass der nationale Staat nicht ein Territorium besitzt, sondern aus einem solchen besteht. Dabei herrscht die Auffassung vor, dass das Staatsgebiet nicht nur für die Existenz eines Staates unabdingbar sei, sondern »ein Moment am Staatssubjekt« selbst darstelle. Das »Sein des Staates selbst, nicht das Haben einer ihm zugehörigen Sache erzeugt den Anspruch auf Respektierung des Gebietes«.6 Georg Jellinek bezieht sich dabei zustimmend auf Hugo Preuß: »Eine Verletzung des Reichsgebiets ist eine Verletzung des Reichs selbst, nicht eines Besitzobjektes desselben, sie entspricht gewissermaßen einer Körperverletzung, nicht einem Eigentumsdelikt.«7 Während noch bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts die Auffassung anzutreffen war, ein Staat könne – zumindest theoretisch – sein Gebiet verlassen und gewissermaßen umziehen, galt dieser spätestens um die Jahrhundertwende staatsrechtlich als sesshaft. Mit anderen Worten: Der Staat hat nicht ein Staatsgebiet oder herrscht über ein solches, sondern er ist ein Staatsgebiet. Mit dieser eben nicht mehr sachlichen, sondern personalen Rechtskonstruktion wird zudem die negative völkerrechtliche Funktion begründet: Aus der räumlichen Integrität des Staates und seiner Persönlichkeit

6 7

drücklich geprägt, dass ihre fundamentale Rolle erst im Zuge der Globalisierung und der damit einhergehenden Transformation nationalstaatlicher Ordnung erkannt wurde. Dabei versteht Maier Territorialität nicht als zeitloses Attribut, sondern als historisch gewachsene Formation, die sich seit dem Westfälischen Frieden allmählich als europäisches Raumordnungsprinzip entwickelt habe. Ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts sieht Maier das Konzept der Territorialität nicht nur durch die Verfestigung von Grenzsystemen realisiert, sondern er will darunter auch eine neue Beschaffenheit nach innen verstanden wissen. Der politische Raum sei nun durch die Ausbildung einer zentralen Regierungsgewalt, durch industrielle Erschließung, Infrastrukturprojekte und Ressourcenabbau sowie durch den Aufstieg neuer Eliten anders »gefüllt« als jemals zuvor und habe sich erst aufgrund dieser neuen Qualitäten zu einem »identity space« entwickeln können. Territorialität »means simply the properties, including power, provided by the control of bordered political space, which until recently at least created the framework for national and often ethnic identity«. Vgl. Charles S. Maier, »Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era«, in: American Historical Review 105 (2000), S. 807–831. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1914), 3. Auflage, Berlin 1929, S. 397. Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften (Berlin 1889), S. 394, zit. n. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 398, Anmerk. 1.

10

folgt der »Anspruch auf Unterlassung aller sie rechtswidrig schädigenden Handlungen fremder Staaten«.8 Die Gleichzeitigkeit von europäischen Territorialisierungs- und Staatsbildungsprozessen einerseits und der Karriere einer politischen Raumsemantik andererseits, die zumindest in Teilen Europas am institutionellen Flächenstaat orientiert war, führte schließlich nicht nur zu einer begrifflich kaum noch zu differenzierenden Verschmelzung von Nationalstaat und Territorium, sondern auch zu Zugehörigkeitskonstruktionen, die jenseits ihres ethnischen, völkischen oder rassischen Gemeinschaftsversprechens eben auch räumlich konnotiert waren und sind. Neben diesem nationalstaatlichen Territorialverständnis existiert ein weiteres, nicht weniger einflussreiches Raumkonzept, das sich – selbstverständlich nicht ohne Bezüge zum Nationalstaat – aus den imperialen Traditionen des europäischen Herrschaftsverständnisses entwickelte. Bei aller Unterschiedlichkeit der zum Beispiel britischen, habsburgischen oder osmanischen Imperialarchitektur und ihrer zudem in Größe und Struktur erheblich divergierenden Kolonialreiche formierte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein Verständnis von politischen Großräumen, das jenseits oder in Erweiterung nationalstaatlicher und imperialer Verfasstheit europäische Herrschaft ordnete, strukturierte und hierarchisierte. Vor allem im und nach dem Ersten Weltkrieg stabilisierte sich international ein weltpolitisches Ordnungsdenken, das vor allem im »Großraum« die effektivste Form territorialer Herrschaft identifizierte.9 Ob ökonomisch, militärisch oder kulturell – in der Eroberung, Besiedlung oder zumindest doch politischen Beherrschung von Großräumen lag fortan für diejenigen Staaten, die auf längere Sicht zu den weltpolitisch einflussreichsten Kräften zählen wollten, die politische Herausforderung. Für das 20. Jahrhundert avancierte supranationale Großraumpolitik zum zentralen Ordnungsmodell. Während das 19. Jahrhundert ein Zeitalter der europäischen Großmächte mit spezifischen Diplomatie- und Bündnispolitiken wie auch mit ihren imperialen Herrschaftsformen darstellte, wurde Weltpolitik nach dem

8 9

Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 397. Vgl. Werner Köster, Die Rede über den »Raum«. Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts, Heidelberg 2001; Rüdiger Voigt (Hg.), GroßraumDenken. Carl Schmitts Kategorie der Großraumordnung, Stuttgart 2008.

11

Ersten Weltkrieg in allen politischen Lagern zunehmend in Großräumen gedacht und konzipiert. Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehenden Begrifflichkeiten, Konzepte und Modelle solcher Großraumtheorien können als zeitgenössische Antworten auf tiefgreifende Veränderungen globaler Machtbalancen begriffen werden: Hierzu zählte erstens der Zerfall imperialer Systeme wie des Habsburger und des Osmanischen Reiches, hierzu zählte zweitens der Aufstieg neuer Nationalstaaten mit globalen politischen, ökonomischen und/oder kulturellen Führungsansprüchen (wie zum Beispiel der USA ), hierzu zählte drittens die Ausbildung globaler Wirtschaftsstrukturen, mit denen sich jenseits politischer Territorialitätsordnungen ökonomische Herrschaft in großräumlichen Einheiten etablierte und der »Markt«, vor allem der »Weltmarkt« als räumliche Ordnungsform wie auch als politische Bezugsgröße, an Relevanz gewann, und hierzu zählte viertens der bis weit nach 1945 andauernde Dekolonisierungsprozess, der mit Verweis auf das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« weltweit eine enorme Durchschlagskraft erlangte. Großraumtheorien lebten in gewisser Weise von der Konkursmasse imperialer Herrschaftsgefüge wie auch von der globalen Ökonomisierung internationaler Verflechtungen, ihre sowohl wissenschaftlichen wie auch politischen Protagonisten verfolgten dabei vornehmlich das Ziel, das beginnende Zeitalter der Nationalstaaten mit supranationalen Ordnungsentwürfen zu flankieren. Im Ergebnis zeigt sich, dass das spezifisch europäische Raumverständnis sowohl regionale, nationalstaatliche wie auch globale Momente umfasst, die gegenwärtig auf eine eigenwillige Mischung aus weltgesellschaftlichen Globalisierungs- und nationalen Beharrungsdynamiken treffen. Begrifflich muss hier allerdings klar unterschieden werden: Die Europäische Union ist weder Imperium noch Nationalstaat. Sie ist heute ein aus 28 Mitgliedsstaaten bestehender Zusammenschluss, der sowohl auf der territorialen Verfasstheit seiner Einzelstaaten fußt als auch eine auf »geteilter Souveränität« beruhende Ordnung darstellt.10 Ihr Raum ist somit doppelt verankert: zum einen in der einzelstaatlichen Territorialität, die für bestimmte Politikfelder weiterhin den alleinigen Referenzrahmen bildet, zum

10

MacCormick, Questioning Sovereignty.

12

anderen in einem supranationalen Gebilde, das sich durch vertraglich abgetretene Souveränitätsrechte und durch staatsübergreifende regulatorische Verfahren konstituiert, das jedoch territorial über keinen anderen Raum als denjenigen verfügt, der sich aus der Summe nationaler Staatsgebiete ergibt. Gleichzeitig ist es ein strukturelles Kernelement dieses europäischen Raumes, dass sich in ihm national wie supranational garantierte Herrschafts- und Souveränitäts- wie auch gewährleistete Rechts- und Solidaritätsansprüche überlagern. Aus dieser räumlichen Grundfigur ergeben sich folgende forschungsleitende Prämissen: Jenseits des unergiebigen Streits darüber, wie groß Europa ist oder sein sollte, erscheint es ergiebiger zu fragen, welche territorialen Leitbilder für die Europäische Union konstitutiv waren beziehungsweise bis heute noch sind. An welchen Modellen supranationaler Verfasstheit orientierte und orientiert sich die EU sowohl hinsichtlich ihrer Herrschaftsarchitektur als auch bezüglich ihres Selbstverständnisses? Welche ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Handlungsrationalitäten folgen aus einer räumlichen Konstituierung, die sich sowohl von imperialen wie auch von nationalstaatlichen Verfasstheiten gelöst hat, sie aber letztlich nicht vollständig aufgibt? Welche Konsequenzen ergeben sich aus einer solchen territorialen Konstruktion für das Verständnis der Binnen- wie auch der EU -Außengrenzen? Wie transformiert sich nicht nur der Nationalstaat selbst innerhalb eines solchen supranationalen Systems, sondern wie lässt sich Territorialität angesichts dieser spezifischen räumlichen Figuralität überhaupt denken? Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes verfolgen das Ziel, diesen und weiteren Fragen nach dem territorial-räumlichen Überlagerungsgeschehen, das in mancherlei Hinsicht den Vergleich mit frühneuzeitlichen Herrschafts- und Zugehörigkeitsarchitekturen anregt, historisch wie gegenwartsdiagnostisch nachzugehen und seine Implikationen für die Selbstbeschreibungen der Europäischen Union zu analysieren. Angesichts der seit Jahrhunderten gewachsenen und sich bis heute wandelnden Räume in Europa ist es naheliegend, das, was wir uns angewöhnt haben, den europäischen Raum zu nennen, zunächst einmal historisch zu vermessen. Dabei soll es in dem hier zu diskutierenden Kontext weniger darum gehen, die bereits detailliert erforschte politische Geschichte Europas darzulegen oder die spezifischen Entwicklungsdynamiken der Euro13

päischen Union ereignis- und politikgeschichtlich zu rekonstruieren.11 Raumtheoretisch ist vielmehr die Überlegung relevant, welche Konzepte und Traditionen für ein europäisches Raumverständnis struktur- und handlungsleitend waren und bis heute sind, beziehungsweise welche räumlichen Bilder, Vorstellungen und Konzepte zum Kernbestand des europäischen Selbstverständnisses gehören. Definiert man die Europäische Union vor allem als ein supranationales Gefüge, in dem sich regionale, nationalstaatliche wie auch postsouveräne Raumbezüge überlagern, dann drängt sich ein vergleichender Blick mit der Vormoderne nahezu auf, nicht um sich an präsouveränen Europaideen zu erfreuen oder um vermeintlich defizitäre Vorläufermodelle zu identifizieren, sondern um den Blick für die Vielfalt von verfügbaren Souveränitäts- und Territorialkonzepten und ihren jeweils spezifischen Handlungslogiken zu schärfen. Achim Landwehr erzählt genau aus diesen Gründen eine andere Geschichte der Souveränität(en), die nicht einfach vormoderne Ordnungen mit der Gegenwart des 21. Jahrhundert kurzschließt, sondern umgekehrt die Pluralität frühneuzeitlicher Souveränitätsund Territorialitätsmodelle ausbreitet und ihre historisch signifikanten Uneindeutigkeiten der gegenwärtigen Diskussion über Souveränität gegenüberstellt. Postsouveräne Territorialität erscheint vor dem Hintergrund einer nicht auf bestimmte (nationalstaatlich-autonome) Souveränitätsvorstellungen fixierten Betrachtung als eine historisch gewachsene, wenn auch durchaus einzigartig komplexe Raumkonstellation, die sich weder mit präsouveränen Konzepten gleichsetzen noch ohne sie hinreichend analysieren lässt. Wie ergiebig ein methodisch reflektierter Vergleich ausfallen kann, zeigt auch der Beitrag von Susanne Rau. Sie konkretisiert die historische Perspektive anhand von vormodernen Einheitsvorstellungen über Europa, die seit dem 15. Jahrhundert entstanden und die – nicht anders als heute – ebenso vielfältig wie widersprüchlich ausfielen. Die zahlreichen Versuche, Europa als Einheit zu imaginieren, verweisen weniger auf einen – wie auch immer – definierten natürlichen Zusammenhang des Kontinents, sondern umgekehrt auf die allzu offensichtlichen Unterschiede und Heterogenitäten, die durch europäische Zugehörigkeitskonstruktionen wie auch durch räumliche

11

Hierzu beispielhaft: Wilfried Loth, Der Weg nach Europa, Göttingen 1990.

14

Ordnungskonzepte gerade überwunden werden sollten. Historisch erweist es sich daher als ergiebig danach zu fragen, wann und von wem mit welchen Zielen welche Raumkonzepte konzipiert, idealisiert oder in Anspruch genommen wurden. Hinsichtlich der europäischen Integration ginge es dann zunächst darum, sich dem historischen Moment anzunähern, in dem sich das, was wir heute Europäische Union nennen, zu formieren begann. Dieser Moment scheint vor allem durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, durch sicherheitspolitische Überlegungen (insbesondere gegenüber Deutschland) sowie durch die großräumliche Blockbildung des Kalten Krieges gekennzeichnet gewesen zu sein. In diesem Koordinatensystem konfiguriert sich ein Europa, das den Nationalstaat zwar einerseits überwinden, ihn andererseits jedoch als politisches und ökonomisches Kern- und Sicherungselement bewahren und in ein supranationales System integrieren will.12 Nikola Tietze analysiert dieses Wechselspiel im Rahmen eines historischen Streifzuges durch fünfzig Jahre europäische Einigungs- und Vertragsgeschichte. Zwischen den Römischen Verträgen (1957) und dem Vertrag von Lissabon (2007) identifiziert sie einen mehrstufigen Integrationsprozess, der sich nicht nur, aber doch konstitutiv räumlicher Semantiken bediente. Zwischen dem »Raum ohne Binnengrenzen« (1986) und dem gegenwärtigen »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes« (1999/2007) vertieft sich nicht nur die ökonomische, politische und administrative Vergesellschaftung unter den EU -Mitgliedsstaaten, die Europäische Union stützt darüber hinaus mit diesen und zahlreichen daraus abgeleiteten Raumbildern ein politisches Ordnungssystem ab, in dem sich postterritoriale Handlungszusammenhänge konstituieren und fortschreiben. Der historische Abriss führt unweigerlich zu der Herausforderung, mit welchen Begriffen sich supranationale Systeme wie die Europäische Union raumtheoretisch überhaupt beschreiben lassen. Dekliniert man die für solche Herrschaftskonstellationen verfügbaren Modelle durch, zeigt sich relativ schnell, dass klassische Konzepte wie Empire, Imperium, Staatenbund oder Bundesstaat der Komplexität von postsouveränen Herrschaftsordnungen kaum gerecht werden und sich damit allenfalls noch Teilaspekte zutreffend

12

Alan S. Milward, The European Rescue of the Nation-State, London 1992.

15

kategorisieren lassen. Jochen Kleinschmidt betont daher in seinem Beitrag die Vielfalt räumlicher Selbstbeschreibungen, die im Rahmen europäischer Integrations- und Identitätsdiskurse regelmäßig aufgerufen werden. Dieser scheinbaren Beliebigkeit liegt seiner Meinung nach eine strukturelle Mehrfachidentität zugrunde, die für die Darstellung des Eigenen stets auf alteritäre Raumsemantiken angewiesen bleibt. Diesem vor allem historisch begründeten Dilemma begegnet die Europäische Union mit räumlichen Selbstbeschreibungsformeln, die zwar bewusst »anti-geopolitisch« ausfallen, die aber gerade wegen dieser negativen Verklammerung den in geopolitischen Semantiken eingelagerten Determinismus und Antipluralismus latent halten. Ein Selbstverständnis, das sich zu einem erheblichen Teil aus der Negation konfliktorientierter Herrschaftsmodelle herleitet, hat paradoxerweise zur Konsequenz, ihre binären Codierungen zu übernehmen und sie trotz ihrer historischen Kontaminierung fortzuschreiben. So erweist sich beispielsweise die Hintergrundannahme von wachsenden Räumen für die EU -Erweiterungspolitiken als elementar und löst aufgrund ihres historischen Horizonts unweigerlich Irritationen aus, auch wenn Brüssel nicht müde wird zu betonen, dass es Wachstum hier nicht im Sinne kolonialer Eroberungen verstanden wissen will. Ulrike Jureit analysiert in ihrem Beitrag solche im Rahmen der EU -Erweiterungsprozesse verwendeten Wachstumssemantiken und fragt nach ihren historischen Bedeutungszusammenhängen und Handlungsrationalitäten. Dabei erweist es sich für die Selbstdarstellungen der EU als konstitutiv, solche Raumkonzepte einerseits aufzugreifen und für das eigene Selbstverständnis in Anspruch zu nehmen, sie gleichzeitig aber durchbrechen zu wollen, um sie mit anderen Bedeutungsinhalten aufzuladen. Wachstumssemantiken eignen sich für ein solches Vabanque-Spiel besonders schlecht. Sie sind bekanntermaßen historisch heikel, nicht nur weil sie imperiale Traditionen aufrufen, sondern weil sie mit Großraumtheorien assoziiert sind, die im gegenwärtigen europäischen Identitätsdiskurs ohnehin intensiv und kontrovers diskutiert werden. Analytisch ist es vor diesem Hintergrund überaus ertragreich, europäische Erweiterungs- und Integrationspolitiken nicht nur semantisch, sondern eben auch konkret als Prozesse der Grenzverschiebungen in den Blick zu nehmen. Steffi Marung erzählt eine solche Geschichte vom Wandel einer Grenze. Sie tut dies am Beispiel der EU -Ostgrenze, ist es doch vor 16

allem diese Außengrenze, die in den letzten Jahren in Bewegung geraten ist und das Selbstverständnis der Europäischen Union signifikant verändert hat. Mithilfe mehrerer Perspektivwechsel macht die Autorin deutlich, dass nicht nur in Brüssel, sondern auf zahlreichen Ebenen und unter Mitwirkung verschiedenster Akteure, sei es in Warschau, Lublin oder L’viv, über das verhandelt wurde, was mittlerweile als erweiterter EU -Raum gilt. Die Autorin identifiziert den Prozess der Osterweiterung somit nicht nur als markante Grenzverschiebung, sondern beschreibt die gleichzeitige Etablierung eines umfassenden EU -Grenzregimes, das einerseits auf gemeinsam verwalteten Außengrenzen, andererseits auf der Errichtung und Überformung von »Ergänzungsräumen« basiert, wie sie unter anderem seit 2002 im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP ) konzipiert und institutionalisiert werden. Für die europäische Erweiterungs- und Integrationspolitik hat es sich als grundlegend herausgestellt, dass die zwischenstaatlichen Verträge, aus denen der gegenwärtige EU -Raum hervorgegangen ist, von vornherein eine Logik der räumlichen Erweiterung wie auch eine Logik der politischen Vertiefung vorsahen und der gesamte Europäisierungs- und Institutionalisierungsprozess bis heute zwischen diesen beiden Herausforderungen hin- und herschwankt. Die räumlichen Besonderheiten des EU -Raumes manifestieren sich dabei vor allem an seinen Grenzen. Die Europäische Union unterhält weder Binnen- noch Außengrenzen, die sich im klassischen Sinne als nationalstaatlich bezeichnen lassen, vielmehr wird die Abschottung und Durchlässigkeit des Raumes jenseits der äußeren Markierungen durch institutionalisierte, regulatorische Verfahren gewährleistet, die in der konventionellen Vorstellung einer territorialen Umschließung nicht mehr aufgehen. Lena Laube demonstriert eindrucksvoll, dass postsouveräne Territorialität nicht nur veränderte Grenzregime gegenüber Drittstaaten hervorbringt, sondern dass die verschärfte Kontrolle der EU -Außengrenzen zudem flankiert wird durch eine Grenz- und Sicherungspolitik, die zunehmend strategisch wichtige Orte außerhalb des Makroterritoriums einbezieht. Exterritoriale Mobilitätssteuerung heißt die Strategie, die sich für postsouveräne Grenzkonstellationen, wie sie die Europäische Union mittlerweile unterhält, als handlungsleitend herauskristallisiert. Sie erzwingt nicht nur eine europäische Verständigung über Asyl-, Flüchtlingsund Migrationsfragen, sie impliziert auch Kooperationen mit den17

jenigen Herkunfts- und Transitstaaten, auf deren Territorium exterritoriale Kontrollen durchgeführt werden. Während sich Lena Laube mit veränderten Praktiken der Grenzsicherung nach außen auseinandersetzt, konzentriert sich Tobias Chilla auf die grenzüberschreitende Verflechtung innerhalb der Europäischen Union. Begrifflich favorisiert er für die Identifizierung postsouveräner Territorialitätslogiken das Konzept der »soft spaces«, mit dem sich am ehesten die Gleichzeitigkeit verschiedener Raumbezüge im Mehrebenensystem wie auch die Komplexität der mittlerweile etablierten Instrumentarien grenzüberschreitenden Regierungshandelns erfassen lassen. Auch wenn in der Praxis damit eine gewisse Aushöhlung des Territorialitätsprinzips einherzugehen scheint, bleibt festzustellen, dass die Raumbezüge europäischen Ordnungshandelns zwar deutlich komplizierter, nicht aber unbedingt schwächer werden. Das hängt unter anderem auch damit zusammen, dass jenseits der nationalstaatlichen und supranationalen Ebene andere politische Raumeinheiten wie zum Beispiel regionale Gebietskörperschaften an Einfluss gewinnen. Sebastian Büttner untersucht die subnationalen Regionen als Orte der Um- und Durchsetzung einer europäischen Kohäsionspolitik, wie sie seit 1989 systematisch verfolgt wird. Sie versteht sich als regionalpolitische Initiative, die vornehmlich darauf zielt, die »Entwicklungsunterschiede« zwischen Regionen und Mitgliedsstaaten durch gezielte strukturpolitische Maßnahmen zu verringern. Europäische Kohäsionspolitik erweist sich aufgrund der mit ihr forcierten lokalen und grenzüberschreitenden Handlungszusammenhänge zugleich als ein spezifisches Instrumentarium postsouveräner Territorialisierungspolitik, das allerdings wegen seines zweifelhaften Kosten-Nutzen-Verhältnisses und der insgesamt diffusen Zielvorgabe, Europa durch ökonomischen Ausgleich territorial harmonisieren zu wollen, durchaus strittig ist. Insgesamt wird deutlich, dass die Europäische Union überlieferte Raumbegriffe und verfügbare, vor allem nationalstaatliche Raumkonzepte aufgreift und variiert. Gleichzeitig wird jedoch erkennbar, dass der EU -Raumbegriff keinen geschlossenen Rechtsraum im nationalstaatlichen Sinne beschreibt, sondern als Ordnungs-, Kommunikations- und Beobachtungsform verstanden werden kann, die es erlaubt, Alteritäten zu markieren, Zugehörigkeiten neu zu bewerten, EU -spezifische Handlungszusammenhänge zu institutionalisieren sowie die durch das Mehrebenensystem entstehenden Ver18

fahrensdefizite auszugleichen. Fragt man also nach dem Raum der Europäischen Union, gerät unweigerlich ein Verflechtungsgeschehen in den Blick, das immer wieder die Frage nach dem Verhältnis von Nationalstaat und supranationalem System berührt beziehungsweise die Transformation nationalstaatlicher Funktionssysteme vor Augen führt. Jens Wissel und Sebastian Wolff greifen die seit den 1990er Jahren geführte Debatte über den Wandel von Staatlichkeit auf und lenken den Blick auf die räumlichen Dimensionen dieses Transformationsgeschehens. Im Zentrum steht dabei die Entstehung eines multiskalaren Staatsapparate-Ensembles, in dem Akteure und Institutionen auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen miteinander verknüpft und in ein kooperativ-kompetitives Verhältnis gesetzt werden. Dabei zeigt sich, dass dieser Umbau keineswegs eine einseitige Aufwertung der europäischen Ebene auf Kosten der Mitgliedsstaaten zur Folge hat, sondern sich das europäische Staatsprojekt quasi durch die Nationalstaaten hindurch ins Werk setzt. Die Autoren sehen in der multiskalaren Form von Staatlichkeit die Grundlage für die fortschreitende Aushebelung demokratischer Prozesse, die sich im Zuge der europäischen Verschuldungs-, Wirtschafts- und Finanzkrise dramatisch fortsetze und die Ausbildung autoritärer Herrschaftsformen begünstige. Fakt ist sicherlich, dass seit dieser Krise besonders intensiv und besonders kontrovers über die Herausforderungen einer europäischen Sozialpolitik gestritten wird. Monika Eigmüller zeigt in ihrem Beitrag, wie sich die historisch gewachsene Interdependenz von Wohlfahrtsstaatlichkeit und nationalem Territorium im Zuge der fortschreitenden Europäisierung gravierend verändert hat. Aufgrund der zunehmenden politischen Verflechtung sehen sich die EU -Mitgliedsstaaten derzeit einer räumlichen Entgrenzung ihrer sozialen Sicherungssysteme gegenüber, da sie über einige fundamentale Prinzipien sozialpolitischer Gewährleistung nicht mehr souverän entscheiden. Der Sozialraum Europa entwickelt sich zu einem sozialpolitischen Anspruchsraum, der die nationalen Systeme zwar nicht ersetzt, sie aber sehr wohl ergänzt und gerade dadurch verändert. Gleichzeitig befördern diese postsouveränen Anspruchslogiken supranationale Vergesellschaftungsprozesse, und das vor allem dann, wenn die Unionsbürgerschaft mit sozialen Rechten gegenüber der europäischen Ebene verknüpft wird und sich so neue Rechtsverhältnisse unter Umgehung der nationalstaatlichen Ebene ausbilden. Auch Petra Deger knüpft 19

mit ihrem Beitrag an die Debatte über den Wandel von Staatlichkeit an und beleuchtet diese Transformation hinsichtlich des Verhältnisses von Souveränität und Territorialität. Die Autorin benennt vor allem zwei Mechanismen, die sie als Kernelemente europäischer Staatlichkeit verstanden wissen will: Zum einen vertieft sich die europäische Integration durch die Ausgestaltung einheitlicher Verfahren in immer mehr Politikfeldern, zum anderen konstituiert sich eine signifikante Beziehung zwischen Unionsbürgern und der EU , die durch die Gewährleistung individueller Schutzrechte gegenüber dem jeweils eigenen Nationalstaat gekennzeichnet ist. Souveränitätsgewinner ist hier in erster Linie der EU -Bürger, der zur Durchsetzung seiner Individualschutzrechte auf EU -Richtlinien rekurrieren kann, auch und vor allem dann, wenn er seine Ansprüche an einen EU -Mitgliedstaat adressiert, dessen Staatsbürgerschaft er nicht besitzt. Trotz der fachlich eigenständigen und naheliegenderweise heterogenen Zugänge der einzelnen Beiträge dieses Bandes zeigt sich im Ergebnis, dass raumtheoretische Zugriffe überaus ertragreiche Strategien darstellen können, um das Selbstverständnis der Europäischen Union wie auch ihre Integrations-, Territorial- und Erweiterungspolitiken zu analysieren. Räumliche Darstellungsmuster dienen im europäischen Integrationsprozess generell dazu, territoriale Einheit zu imaginieren, soziale Unterschiede einzuebnen sowie neue Differenzen zu kennzeichnen. Raum erweist sich in diesen Zusammenhängen als eine hochfrequentierte Selbstbeschreibungsformel, die als Ordnungs-, Beobachtungs- und Kommunikationsform mithilfe der Differenz hier/dort gesellschaftsspezifische Unterscheidungen zu markieren erlaubt.13 In dieser Logik fungiert Raum immer wieder als Kontingenzunterbrecher und bedient in einem komplexen wie verworrenen Europäisierungsprozess das offenbar ungebrochene Verlangen nach Übersichtlichkeit, Ordnung und

13

Diese Formulierung in Anlehnung an: Marc Redepenning, Wozu Raum? Systemtheorie, Critical Geopolitics und raumbezogene Semantiken, Leipzig 2006. Zur sozialwissenschaftlich/gesellschaftsanalytisch orientierten Geografie vgl.: Robert David Sack, Conceptions of Space in Social Thought. A Geographic Perspective, Minneapolis 1980; Benno Werlen, Gesellschaftliche Räumlichkeit, 2 Bde., Stuttgart 2009; ders., Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, 2 Bde., Stuttgart 1995 und 1997.

20

Struktur. Vor allem seit 2008 scheint die Rede vom »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« eine Art Bewältigungsstrategie darzustellen, die Komplexität reduzieren, Unsicherheiten einebnen und stabile Ordnungen suggerieren hilft. Geordnete Räume scheinen im globalen wie auch im europäischen Durcheinander – so eine treffende Formulierung von Marc Redepenning – »irgendwie immer glücklich zu machen«.14 Nicht nur historiografisch, sondern auch gegenwartsdiagnostisch gehört die Analyse von Territorialisierungsprozessen daher mittlerweile zu den zentralen Forschungsgegenständen einer raumtheoretisch fundierten Gesellschaftsanalyse. Raum im Sinne von Territorialität stellt in diesen Zusammenhängen den zentralen Begriff dar, mit dem sich eine Dimension von »Weltbindung« analytisch beschreiben lässt.15 Territorialisierungen sind demnach gesellschaftsspezifische Ordnungsprozesse, die in der Regel auf Identifizierung, Kontrolle und Herrschaft über einen mehr oder weniger metrisch definierten Raum zielen. Während damit üblicherweise makrosoziologische Herrschaftsordnungen wie Nationalstaat oder Imperium aufgerufen sind, eröffnet ein Forschungsansatz, wie er mittlerweile fachübergreifend im Sinne eines »making geography«16 diskutiert wird, die theoretische wie empirische Möglichkeit, supranationale Herrschaftsordnungen in ihren raumtheoretischen Logiken zu reflektieren. Die Europäische Union ist hierfür ein ebenso einzigartiger wie auch ertragreicher Forschungsgegenstand, bildet ihre strukturelle Ausdifferenzierung doch einen komplexen Wandlungsprozess ab, mit dem sich nicht nur Vorstellungen von Herrschaft, Souveränität und Staatlichkeit gravierend verändern, sondern mit dem sich darüber hinaus eine signifikante Raumkonstellation konstituiert, die wir Postsouveräne Territorialität genannt haben. Was lässt sich über diese spezifische Form der räumlichen Weltbindung bisher sagen?

14

15

16

Marc Redepenning, »Eine selbst erzeugte Überraschung: zur Renaissance von Raum als Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft«, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn – Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 317–340, hier: S. 333. Benno Werlen, Gesellschaft und Raum: Gesellschaftliche Raumverhältnisse. Grundlagen und Perspektiven einer sozialwissenschaftlichen Geographie, in: Erwägen – Wissen – Ethik 24 (2013), Heft 1, S. 3–16. Ebenda, S. 11.

21

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich trotz bestehender Forschungslücken einige Kernelemente benennen: Postsouveräne Territorialität ist weder Höhe- noch Endpunkt einer wie auch immer zu erzählenden Geschichte moderner Souveränitäten, sondern sie stellt eine historisch gewachsene, wenn auch bisher einzigartige Form kontinentaler Raumordnung dar, die sich im Zuge der europäischen Integration ausgebildet hat und die sich gegenwärtig (und mit durchaus offenem Ende) weiter fortschreibt. Geht man davon aus, dass eindeutige oder gar absolute Souveränitätsverhältnisse historisch allenfalls Ausnahmeerscheinungen sind und sich Souveränitätsverhältnisse im Allgemeinen eher in der Professionalität ihres Defizitmanagements unterscheiden, dann ist Postsouveränität kein Verlustmodell, sondern eine komplexe Variante bereits eingeübter wie auch neuartiger Mechanismen geteilter Herrschaftsausübung. Für die territoriale Konstellation der Europäischen Union erweist sich die vertraglich vereinbarte Übertragung und Auffächerung staatlicher Souveränitätsrechte (»pooled and shared souvereignity«) als ebenso konstitutiv wie die Verschränkung von lokalen, nationalstaatlichen und supranationalen Herrschafts- und Handlungsebenen. EU -Raumbilder wie beispielsweise der »Raum ohne Binnengrenzen«, der EURO -Raum oder der »Schengen-Raum«, generieren vielfältige postterritoriale Handlungszusammenhänge, die durch vereinheitlichte Verfahren in europäisch verzahnten Entscheidungsund Handlungsstrukturen gekennzeichnet sind. Sie bringen in dieser Hinsicht zum einen EU -spezifische Institutionen, wie zum Beispiel die Generaldirektionen, die die Kompetenzbereiche der europäischen Exekutive gliedern, hervor. Zum anderen schaffen sie neuartige Handlungsbühnen, auf denen individuelle wie kollektive Akteure Interessen, Ideen und Rechte durchsetzen können. Europäische Staatlichkeit entsteht also vor allem dort, wo Souveränitäten geteilt, Hoheitsgewalten kombiniert und neue Akteure zur Durchsetzung europäischer Ordnungszusammenhänge institutionalisiert werden. Aufschlussreich ist dabei, wie sich Nationalstaatlichkeit gerade durch die Verklammerung mit supranationalen und lokalen Systemen verändert. Sie verliert vor allem ihre Exklusivität als Adressatin für grundrechtliche und sozialrechtliche Ansprüche. Nicht nur die Praxis geteilter Souveränitäten zeigt hier ihre Wirkungsmacht, auch verbleiben bestimmte Ordnungsfunktionen, wie beispielsweise die Generierung von Identitäts- und Herkunftsange22

boten, in der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten. Uneindeutige oder konflikthafte Elemente in Identitätsbestandteilen werden auf diese Weise an die Mitgliedsstaaten delegiert oder können im Konfliktfall jederzeit (re)nationalisiert werden. Postsouveräne Territorialität manifestiert sich darüber hinaus vor allem in der europäischen Erweiterungs-, Grenz- und Migrationspolitik. Während sich die EU einerseits von konfliktorientierten und geopolitisch aufgeladenen Selbst- und Fremdzuschreibungen nachdrücklich distanziert, erzeugt die Interdependenz von garantierter Freizügigkeit im Inneren und einer immer rigideren Abschottung nach außen genau jenen territorialen Grundkonflikt, den sie doch eigentlich zu überwinden hoffte. Die langjährige Strategie einer zwar nicht geopolitisch, wohl aber wertorientierten Expansionspolitik stößt seit 2007 sprichwörtlich an ihre Grenzen und ist mittlerweile einer Territorialisierungslogik gewichen, die vor allem Schadensbegrenzung betreibt und sich darum bemüht, die einst popularisierten Wachstumsdynamiken durch gezielte Nachbarschaftspolitiken halbwegs geräuschlos wieder stillzustellen. Grenzsoziologisch folgt aus dieser territorialen Umbruchssituation, dass sich die Konstituierung des EU -Raumes einerseits auf die Kontrolle der Außengrenzen konzentriert, andererseits jedoch strategisch wichtige Orte außerhalb des Makroterritoriums zunehmend einbezogen werden und sich Grenzpolitik dadurch räumlich erheblich flexibilisiert. Postsouveräne Territorialität konkretisiert sich hier wie auch im Rahmen subnationaler Förderungs- und Kohäsionspolitiken als grenzüberschreitendes Regierungshandeln, das vor allem durch eine Vielzahl von lokalen, nationalen und globalen Akteuren getragen, durch widersprüchliche und manchmal erstaunlich anpassungsfähige Interessenlagen beeinflusst sowie durch eine Gemengelage aus historischen und gegenwartsbezogenen Erfahrungshorizonten geprägt ist. Obgleich sich durch die Europäisierung von politischen Handlungskontexten das Territorialitätsprinzip gravierend verändert, werden die Raumbezüge politischen Ordnungshandelns in der Europäischen Union keineswegs schwächer, wohl aber komplexer. Territorialisierung ist weiterhin eine zentrale Strategie, mit der soziale Prozesse gerahmt, politische Zugehörigkeiten anerkannt sowie Herrschafts- und Gültigkeitsräume definiert werden, nur liegen die Zuständigkeiten hierfür nicht mehr nur bei einem, sondern bei einer Vielzahl von (nunmehr einge23

schränkten) Souveränen, die sich mittlerweile gewissen PoolingEffekten, wie beispielsweise der atemberaubenden Dynamisierung politischer Entscheidungs- und Handlungsabläufe, gegenübersehen. Das macht politische Handlungsabläufe weder transparenter noch demokratischer. Gerade weil sich nationalstaatliche Prinzipien der territorialen Ordnung nicht einfach auf eine supranationale Ebene übertragen lassen, bleibt der Europäisierungsprozess darauf verwiesen, eigene Formen von Staatlichkeit auszubilden. Das ist kein additiver Vorgang. Die Konflikte um eine europäische Sozialpolitik verdeutlichen die damit einhergehenden Umgestaltungen beispielhaft: Die Ausdifferenzierung europäischer Staatlichkeit vollzieht sich als umfassendes, sich früher oder später auf alle Ebenen staatlichen Handelns auswirkendes Transformationsgeschehen, das vor allem durch die Dichte seiner Austauschprozesse sowie durch die Angleichung politischer Verfahren vorangetrieben wird und das durch die Institutionalisierung postterritorialer Handlungszusammenhänge ordnungspolitische Stabilitäten sowie neue Rechtsverhältnisse zwischen Unionsbürgern und supranationaler Ebene erzeugt. Postsouveräne Territorialität erweist sich im Ergebnis als eine kontinentale Raumkonstellation, die europäische Ordnungszusammenhänge nicht nur rahmt, sondern Formen europäischer Staatlichkeit innerhalb und jenseits lokaler und nationalstaatlicher Systeme räumlich konstituiert.

24

I. Europäischer Raum: Visionen – Begriffe – Ordnungskonzepte

Achim Landwehr

Im Zoo der Souveränitäten. Oder: Was uns die Präsouveränität über die Postsouveränität lehren kann Von Fröschen und Vögeln Die Welt ist aufgeteilt. Unterschiedlich eingefärbte Puzzleteile, die sich in enormer Variationsbreite hinsichtlich Form und Größe über den Globus verteilen. Kein Fleckchen Erde, das nicht erfasst wäre. Kein Platz mehr frei. Die Welt ist verstaatet. Wenn wir über Politik sprechen und über Souveränität, über Staaten und über deren Territorien, dann sehen wir vor unserem geistigen Auge säuberlich geordnete Landmassen, durch eindeutige Demarkationslinien voneinander geschieden. Wenn wir an Staaten denken, denken wir an hochkomplexe Gebilde, die für die Organisation und Verwaltung des von ihnen okkupierten Oberflächenausschnitts unseres Planeten zuständig sind. Eine staatenlose Welt ist – zumindest in der Theorie – undenkbar geworden. Und selbst in Regionen, in denen man davon auszugehen hat, dass es keine funktionierende Staatlichkeit gibt, Somalia oder Afghanistan beispielsweise, setzen wir eben eine solche zumindest voraus, um sie mit einem negativen Vorzeichen versehen zu können: failed states. Der Vorteil von mental maps, von Landkarten also, die wir in unseren Köpfen mit uns herumtragen, ist offensichtlich: Sie ermöglichen Orientierung, verorten den Einzelnen mitsamt seiner Umgebung in einem größeren Zusammenhang, verbinden geografische Stichworte mit visuellen Eindrücken und (zumindest näherungsweisen) Zuordnungen zu bestimmten Weltregionen. Die Tatsache, dass bereits Kinderzimmer mit Weltkartenpostern und Globen ausgestattet sind, dass die allabendlichen Fernsehnachrichten selbstverständlich durch erläuternde Landkarten illustriert werden oder dass geografische Informationen jederzeit und überall zur Verfügung stehen, hat dazu geführt, dass es politisch einigermaßen aufmerk27

same Zeitgenossen vor keine allzu großen Probleme stellt, eigenhändig die ungefähren Umrisse der Kontinente der Erde zu zeichnen oder die Lage der größeren Länder Europas zu bestimmen. Mental maps sind sicherlich keine genauen Landkarten, aber es sind Bilder, die Stichworte in kartografische Informationen übersetzen können.1 Diese vermeintlichen Selbstverständlichkeiten gilt es sich vor Augen zu halten – weil sie alles andere als selbstverständlich sind.2 Versucht man ihnen auf den Grund zu gehen, dann mag es noch unmittelbar einsichtig sein, dass es sich bei der Verstaatlichung der Welt um das Ergebnis einer langfristigen historischen Transformation handelt. Aber ein Leben, in dem man weitgehend auf Vorstellungen davon verzichten muss, wie die Gestalt der Erde aussieht, wie die Konturen des eigenen Kontinents beschaffen sind, in welchem Land man lebt oder wo man sich selbst politisch-räumlich befindet – das mag für uns schwer vorstellbar sein. Und doch ist genau das die Situation, die für den weitaus größten Teil der europäischen Geschichte vorherrschend war, dass nämlich die erdrückend große Anzahl der Bevölkerung keine Ahnung davon hatte, in welchen staatlich-geografischen Zusammenhängen sie sich befand. Diesem Phänomen will ich im Folgenden nachgehen und zunächst den Zusammenhang von Raum, Staat und Souveränität für die europäische Geschichte zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert in aller Kürze und vergröbernder Vereinfachung beleuchten. Das lohnt sich für den genannten Zeitraum besonders, weil man gemeinhin mit aller Berechtigung davon ausgeht, dass in ihm die europäischen Staatsgewalten ein erhebliches Wachstum erfahren haben, sich also auch die Kategorien »Raum« und »Souveränität« verändert haben müssen. Dieses historische Streiflicht soll sodann dazu dienen, eine andere Seite des Konzepts der Postsouveränität zu beleuchten. Wenn in der Frühen Neuzeit der politische Raum aufgrund anderer technischer Voraussetzungen nicht unseren Vorstellungswelten 1

2

Frithjof Benjamin Schenk, »Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung«, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 493–514; Susanne Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, Frankfurt am Main/New York 2013, S. 180–182. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 42 f.

28

entspricht, dann heißt das nicht, dass keine geografischen Kenntnisse vorhanden gewesen wären.3 Sie haben sich nur anders konstituiert: eher aus der Frosch- denn aus der Vogelperspektive. So konnte sich beispielsweise über Jahrhunderte hinweg, also vor der allgemeinen und selbstverständlichen Verfügbarkeit von Landkarten in nationalen, kontinentalen oder globalen Maßstäben, das Raumwissen kaum in Form ausgedehnter Flächen ausprägen, sondern war vielmehr durch Punkte und Linien bestimmt. Die Erfahrung des Raums war geprägt durch die Er-Fahrung des Raums, also durch die Art und Weise, wie man sich in ihm bewegte: reisend, Verkehrswege benutzend und konzentriert auf markante Punkte wie Städte und andere zivilisatorisch bedeutende Orte. Wie lange es dauern konnte, ein flächiges und staatlich-territoriales Raumwissen zu etablieren, wird ersichtlich, wenn in der Schweiz noch in den 1880er Jahren eine mehrere Quadratmeter große topografische Karte auf Tournee durch zahlreiche Orte gehen konnte, auf der das Land in seiner ganzen Ausdehnung zu sehen war – und sich ein vielköpfiges Publikum diese neue Sichtweise auf den Raum, in dem es lebte, nicht entgehen lassen wollte.4 Bis es allerdings so weit war, organisierte man den Raum wie der Frosch im Teich: Hervorstechende Landschaftsmerkmale wie Wälder oder Gebirge wurden als Raumbegrenzungen konzipiert;5 politische Räume wurden nicht als flächige Territorialstaaten, sondern über die persönlichen Bindungen und Beziehungen zur Herrschaft konstituiert: Das Zentrum der Macht

3

4

5

Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Achim Landwehr, Die Erschaffung Venedigs. Raum, Bevölkerung, Mythos 1570–1750, Paderborn u. a. 2007, S. 21–192. Vgl. auch Achim Landwehr, »Raumgestalter. Die Konstitution politischer Räume in Venedig um 1600«, in: Jürgen Martschukat/Steffen Patzold (Hg.), Geschichtswissenschaft und »performative turn«. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 161–183. David Gugerli/Daniel Speich, »Der Hirtenknabe, der General und die Karte. Nationale Repräsentationsräume in der Schweiz des 19. Jahrhunderts«, in: WerkstattGeschichte 23 (1999), S. 61–81. Renate Blickle, »Das Land und das Elend. Die Vier-Wälder-Formel und die Verweisung aus dem Land Bayern. Zur historischen Wahrnehmung von Raum und Grenze«, in: Wolfgang Schmale/Reinhard Stauber (Hg.), Menschen und Grenzen in der Frühen Neuzeit, Berlin 1998, S. 131–154; Daniel Nordman, Frontières de France. De l’espace au territoire, XVI e-XIX e siècle, Paris 1998, S. 75–79.

29

befand sich nicht an einem geografisch fixierten Punkt, sondern an dem Ort, an dem man seine Abgaben zu entrichten hatte.6 Und die Vogelperspektive? Welche Ahnung hatten die Obrigkeiten früherer Jahrhunderte von der Gestalt ihres eigenen Machtbereichs? Ab wann besaßen sie genauere kartografische Kenntnisse von dem Territorium, das sie beherrschten? Die Feststellung dürfte nicht überraschen, dass wir es mit recht verwickelten Zuständen und Prozessen zu tun haben, die sich kaum auf einen einfachen Nenner bringen lassen. Möchte man jedoch aus Gründen der Übersichtlichkeit eine etwas vergröberte Zusammenfassung wagen, so erweist sich das politische Territorium seit dem 16. Jahrhundert zunächst als Kollateraleffekt der Gesetzgebungskompetenz. Europäische Obrigkeiten herrschten nicht vorrangig über Räume, sondern über Menschen. Sie besaßen Herrschaftsrechte der unterschiedlichsten Art über eine mehr oder minder große Anzahl von Personen, und erst aus diesen Rechtsverhältnissen ergab sich sekundär der Raum, der einer Herrschaft unterstand. Zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert begannen sich jedoch die Gewichte zwischen Recht und Raum allmählich zu verschieben (sehr viel genauer kann man den Zeitraum nicht angeben, weil die Entwicklungen innerhalb Europas zu unterschiedlich sind). Es bildete sich eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Kategorie des politischen Raums aus, sodass sich Obrigkeiten nicht mehr nur als Herrscher über Personen, sondern auch als Herrscher über Territorien verstehen konnten.7 Nur dass sie über diese Territorien zum Teil herzlich wenig wussten: Ausdehnung, Topografie, Grenzverläufe, Landschaftsformationen, Bodenqualität, Einwohnerzahl – von all diesen Dingen besaß man vielfach nur ungefähre Kenntnisse. Man könnte also sagen: Die herrschaftliche Vogelperspektive konnte nicht einfach eingenommen, sie musste hart erarbeitet werden.8

6

7

8

Ralf-Peter Fuchs, »›Ob zeuge wisse, was das Burggraftum Nürnberg sei?‹ Raumkenntnisse frühneuzeitlicher Untertanen«, in: Achim Landwehr (Hg.), Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens, Augsburg 2002, S. 93–114. James J. Sheehan, »The Problem of Sovereignty in European History«, in: American Historical Review 111 (2006), S. 1–15, hier S. 3–6. Vgl. allgemein zu diesem Zusammenhang Peter Collin/Thomas Horstmann, (Hg.), Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis, Baden-Baden

30

Insbesondere seit der Mitte des 17. Jahrhunderts kann man beobachten, wie sich europäische Souveräne intensiver darum bemühten, genauere geografische und topografische Kenntnisse über ihren Herrschaftsraum zu erlangen. Groß angelegte Vermessungsvorhaben wurden initiiert und zogen sich, wie in Frankreich, über eineinhalb Jahrhunderte hin. Erste Ergebnisse machten das ganze Ausmaß einer solchen veränderten Erfassung von Herrschaftsräumen deutlich. Ludwig XIV. soll auf die Vorlage einer Karte Frankreichs durch die Académie des Sciences gesagt haben, dass ihn die Arbeit der Kartografen ein Drittel seines Königreichs gekostet habe.9 Am deutlichsten zeigt sich dieser Wandel wohl bei Grenzfragen. Souveräne Territorien zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie durch eindeutige Grenzlinien eine klare Differenz zwischen dem Hier und dem Dort etablieren.10 Was aber, wenn gerade diese Trennlinie gar nicht so eindeutig ist, wie man dies zur Sicherstellung der eigenen Souveränität benötigt und wie es politische Karten (unabhängig davon, aus welchem Jahrhundert sie stammen mögen) immer wieder suggerieren? Was, wenn die Obrigkeiten gar nicht so genau wussten, wo ihr Herrschaftsbereich endete und der nächste begann?11 Mit Blick auf Grenzziehungsfragen kann man ab dem 16. Jahrhundert grob zwei Entwicklungsstränge unterscheiden. Einerseits wurde versucht, den politischen Raum des eigenen Herrschaftsbereichs vollständig zu »vernähen«.12 Soll heißen: Räumliche Abgren-

2004; Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich (Hg.), Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien, Münster 2008. 9

10

11

12

Norman J. W. Thrower, Maps and Civilization. Cartography in Culture and Society, Chicago/London 1996, S. 106; Guy P. Marchal, »Grenzerfahrung und Raumvorstellungen. Zur Thematik«, in: ders. (Hg.), Grenzen und Raumvorstellungen (11.–20. Jh.). Frontières et conceptions de l’espace (11e-20e siècles), Zürich 1996, S. 11–25, S. 16–20. Hierzu grundlegend Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012. Vgl. Achim Landwehr, »Der Raum als ›genähte‹ Einheit. Venezianische Grenzen im 18. Jahrhundert«, in: Lars Behrisch (Hg.), Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main/ New York 2006, S. 45–64. Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2000, S. 246 f., Anm. 1.

31

zungen mögen an denjenigen Stellen schon recht lang relativ eindeutig gewesen sein, an denen man ohnehin in engem Kontakt mit den jeweiligen Nachbarterritorien stand; aber in Gegenden mit dünner Besiedlung oder von wirtschaftlich geringer Bedeutung bestand zunächst kein Bedarf, hüben und drüben millimetergenau voneinander zu scheiden. In Bergregionen, großen Waldgebieten, Sümpfen oder anderen sowohl politisch als auch ökonomisch unattraktiven Gegenden hörte das eigene Territorium nicht selten irgendwo auf – wo genau, wusste niemand zu sagen. Diese Lücken im Grenzsaum wurden im Verlauf der Frühen Neuzeit allmählich geschlossen.13 Möglich wurde diese Abschließung des eigenen Territoriums andererseits aufgrund einer diskursiven Verschiebung, welche die Produktion von Grenzen betraf. Im Kontext einer sakralen Begründung weltlicher Herrschaft14 kann es kaum verwundern, dass auch der politische Raum des Mittelalters und der Frühen Neuzeit religiös aufgeladen wurde. Seine Gestalt und insbesondere seine Grenzen wurden als göttlich gegeben angesehen, sodass Grenzziehungsvorgänge über Jahrhunderte hinweg vor allem Grenzfindungsvorgänge waren. Denn unter religiös-christlichen Vorzeichen konnten der politische Raum und seine Grenzen nicht gemacht, sie konnten nur gefunden werden. Im Falle der Unkenntnis eines genauen Grenzverlaufs musste man also das eigentlich schon immer vorhandene, aber inzwischen verloren gegangene Wissen über die Grenze wiederfinden, zum Beispiel in den Zeichen der Natur, im Wissen der ältesten Bewohner der lokalen Bevölkerung oder in möglichst alten Dokumenten (ein Wissen, das in den meisten Fällen tatsächlich alles andere als »alt« war). Auch hier lässt sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts ein Wandel feststellen, der an die Stelle des Findens das Machen von Grenzen setzte. Man verzichtete zunehmend auf eine sakrale Auffassung des politischen Raums (ohne deswegen schon automatisch Anhänger einer wie auch immer gearteten Säkularisierung zu sein), um stattdessen die territorialen Probleme mittels der Techniken zu lösen, die teils schon geraume Zeit zur Verfügung 13

14

Eine exemplarische Studie hierzu bei Peter Sahlins, Boundaries. The Making of France and Spain in the Pyrenees, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1989. Römer 13,1: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet«.

32

standen: politische Verhandlungen, Einsetzung von Expertenkommissionen, Landvermesser und Triangulationen wurden bemüht, um Grenzen in einem politischen Aushandlungsprozess festzulegen und dem Land und seinen Menschen zu oktroyieren – nicht selten unter Missachtung des vermeintlich »alten Wissens« um die Grenzen, das man über Jahrhunderte hinweg (und vielfach erfolglos) gepflegt und bemüht hatte. Wir würden nun mit der Erwartungshaltung des frühen 21. Jahrhunderts annehmen, dass man sich in Fällen von Grenzauseinandersetzungen auch zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert des Mediums der Karte bediente, um möglicherweise Klarheit über die topografischen Verhältnisse zu erlangen. Das tat man auch, aber bei Weitem nicht in dem Maße wie man denken möchte. Entsprechend der Froschperspektive, für die sich der Raum durch die Verkettung von Orten konstituierte, die entlang von Verbindungswegen wie an einer Perlenschnur aufgereiht waren, versuchte man diesen politischen Raum üblicherweise auch zu erfassen: zum Beispiel durch itinerarische Landkarten, die außer Orten, Wegen und Umrissen von Landmassen kaum weitere Informationen enthielten, oder durch »Wortkarten«, also durch tabellarische (und nicht kartografische) Auflistungen derjenigen Ortsnamen, die der eigenen Herrschaft zugeschrieben wurden. Es genügte dann, die Städte und Dörfer untereinander aufzulisten, die für den eigenen Herrschaftsbereich beansprucht wurden. Der Rest des Raumes konnte auf befremdliche Weise unausgefüllt bleiben oder mit hilflos anmutenden topografischen Informationen versehen werden (wie ein ungefährer Flusslauf oder eine wenig aussagekräftige Anhäufung von »Maulwurfshügeln«, die eine Gebirgskette darstellen sollte). Nicht dass man nicht technisch komplexere und grafisch aufwendigere Karten hätte herstellen können – das konnte man sehr wohl, wie sich beispielsweise anhand von Portolankarten zeigen lässt, die seit dem 14. Jahrhundert mit großer Genauigkeit den Verlauf von Küstenlinien verzeichneten.15 Aber von vielen anderen Karten wurde diese Funktion der Genauigkeit überhaupt nicht verlangt. Sie dienten eher künstlerischen, dekorativen oder illustrierenden Zwe15

Tony Campbell, »Portolan charts from the late thirteenth century to 1500«, in: James Brian Harley/David Woodward (Hg.), The History of Cartography, Bd. 1, Chicago/London, S. 371–463.

33

cken und waren weniger eine maßstabsgerechte Übersetzung des Raums in das Medium der Karte. Wissenschaftliche Genauigkeit war bei der Darstellung des politischen Raums in Europa also lange Zeit nicht unbedingt gefragt – obwohl die technischen Voraussetzungen dafür (das Planimetrum, das Astrolabium oder die Vermessungstechnik der Triangulation) schon seit dem frühen 16. Jahrhundert bekannt waren. Wenn politische Obrigkeiten auf diese Hilfsmittel verzichteten, dann weil sie für die Konstitution des Territoriums als unbedeutend angesehen wurden. Vorrangig war zunächst die feudalrechtliche Verfügungsgewalt über Personen (genauer: Familien) und Orte, nicht die genaue Bestimmung des eigenen Herrschaftsraums als Fläche in seinen topografischen Details. Auch in der politischen Kartografie war die Bestimmung des Herrschaftsraums also lange Zeit ein Kollateraleffekt der Herrschaft über die Menschen. Und auch in der Kartografie änderte sich dieser Zustand merklich mit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Seit dieser Zeit kann man in ganz Europa Bemühungen beobachten, den politischen Raum nun auch als geodätisch genau ausgemessenen und kartografisch exakt erfassten Raum zu bestimmen. Nun wäre es natürlich ein Leichtes, in typisch modernisierungstheoretischer Manier ein süffisantes Lächeln aufzusetzen und der so genannten »Vormoderne« vorzurechnen, wozu sie noch nicht in der Lage war, welche technischen Möglichkeiten sie noch nicht zur Hand hatte und welche Erkenntnismöglichkeiten ihr verwehrt blieben – nicht ohne den gebührenden Dank abzustatten, dass die Grundlagen für all diese Fertigkeiten ja in eben diesem Zeitraum gelegt wurden. Aber diese reflexartig eingenommene Haltung, in der sich die Arroganz einer Gegenwart gegenüber allem Vergangenen äußert (wollten wir denn aus der Zukunft derart belächelt werden?), ist nicht nur hochnäsig, sondern versperrt vor allem historische Einsichten. Man sollte die Konstitution von (politischen) Räumen bis in das 17. und 18. Jahrhundert hinein also nicht als identisch mit dem Unsrigen ansehen, aber eben auch nicht als von minderer Qualität, sondern als anders geartet, um seinen Eigenheiten und Qualitäten gerecht zu werden.

34

Von Hennen und Eiern Im Verlauf des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit stand also in einem zähen, wahrlich nicht linear verlaufenden und schon gar nicht immer intentional zu erklärenden Prozess die Eroberung des Raums durch wachsende Territorialherrschaften auf dem Programm, und zwar sowohl in Form einer inneren wie auch einer äußeren Kolonisierung. Politische Gewalt griff über einzelne Punkte der Machtkonzentration hinaus und breitete sich allmählich in die Fläche aus. Auch die Souveränitätsvorstellungen, die seit dem 16. Jahrhundert in Europa formuliert wurden, waren ganz wesentlich durch eine spezifische Form der Territorialität geprägt. Politische Herrschaft sollte sich demnach nicht mehr ausschließlich durch die persönlichen Beziehungen zwischen Obrigkeit und Untertanen organisieren, sondern durch die territoriale Reichweite der Gesetzgebungsgewalt.16 Neu am Souveränitätsmodell von Jean Bodin, dem wichtigsten Stichwortgeber in diesem Zusammenhang, ist die Idee, dass Herrschaften nicht mehr zur Souveränität aufsteigen müssen, sondern dass Souveränität eine inhärente Qualität jeglicher Herrschaft ist. Diese Souveränität ist zeitlich unbegrenzt und äußert sich vornehmlich in der Gesetzgebungskompetenz, aus der alle weiteren Souveränitätsrechte abgeleitet werden, zum Beispiel die Entscheidung über Krieg und Frieden, die Einsetzung von Beamten, die Hoheit über die Münze oder der Anspruch auf Treue und Gehorsam der Untertanen.17 Daraus leitet sich in einer weiteren Folgerung auch die politische Territorialität ab, insoweit sie ebenso weit reicht wie die Gesetzgebungsgewalt des Souveräns. Mit einem solchen Souveränitätsmodell konnte man zwischen Inländern und Ausländern, zwischen Freunden und Feinden, zwischen Untertanen und allen anderen unterscheiden, und diese Diffe16

17

Daniel Loick, Kritik der Souveränität, Frankfurt am Main/New York 2012, S. 39 f. Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat, übers. v. Bernd Wimmer, hg. v. P. C. Mayer-Tasch, 2 Bde., München 1981–1986; Hans Fenske u. a., Geschichte der politischen Ideen. Von Homer bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 1987, S. 296–301; Michael Stolleis, »Die Idee des souveränen Staates«, in: Reinhard Mußgnug (Red.), Entstehung und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens, Beiheft 11 zu »Der Staat«, Berlin 1996, S. 63–101, hier S. 70 f.

35

renz förderte neben anderen Faktoren auch die Ausbildung eines nationalen Identitätsbewusstseins. Politische Herrschaft bezog sich damit auf die Menschen und auf den Raum und auf die Sicherung territorialer Grenzen. Die Kontrolle grenzüberschreitender Bewegungen wurde ebenso zum Gegenstand politischen Handelns wie die Unterscheidung von innerer und äußerer Souveränität.18 Aber wer war zuerst da? Henne oder Ei? Hat sich zunächst die souveräne Staatsmacht flächenmäßig über ein entsprechendes Territorium ausgebreitet, oder war es zuerst die politische Kartografie seit dem 16. Jahrhundert, die dafür gesorgt hat, ein Verständnis von der Räumlichkeit des eigenen Herrschaftsbereichs hervorzurufen und so der Souveränitätstheorie auf die Beine zu helfen? Es erscheint zunächst plausibel, dass die Henne namens Souveränität das Ei der Territorialisierung legte. Durchaus naheliegend, dass eine ausgefeilte politische Theorie sich seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert intensive Gedanken über das Konzept der Souveränität machte und man in deren Folge Bemühungen beobachten kann, den Raum dieses (noch nicht) souveränen Staates nach außen eindeutig zu markieren, in seiner tatsächlichen Ausdehnung zu kartieren und nach innen zu beherrschen. Eine solche Reihung würde auch zu der erwartbaren Nacherzählung der Geschichte der Souveränität passen, wie sie schon so oft zur Darstellung gebracht worden ist.19 Die gesamte historische Debatte um die Souveränität ist wesentlich bestimmt von der Suche nach Eindeutigkeit und Klarheit. Wie schon Jean Bodin in seinen »Six livres de la République« mit Blick auf die (ständische) Einteilung der Bevölkerung eines Staates festgestellt hat: »Nichts aber ist schöner anzuschauen als Ordnung, nichts bereitet dem Geist größeres Ver18

19

Dieter Grimm, Souveränität. Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, Berlin 2009, S. 77 f. Zur Diskussion von Grenzen unter den Bedingungen einer veränderten Souveränität vgl. Georg Vobruba, Der postnationale Raum. Transformation von Souveränität und Grenzen in Europa, Weinheim/Basel 2012, S. 89–111. Nur stellvertretend seien hier genannt: Helmut Quaritsch, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806, Berlin 1986; Hans Boldt u. a., »Staat und Souveränität«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 1–154; Grimm, Souveränität.

36

gnügen, nichts eignet sich mehr zur praktischen Nachahmung«, während zugleich »nichts schlimmer auf uns wirkt als der Eindruck der Verwechselung und des Durcheinanders«.20 »Vermischung vermeiden«21 – das ist seit dem Spätmittelalter zunehmend zum erklärten Ziel politischer Obrigkeiten geworden. In der Konkurrenz sich formierender Territorialstaaten wurde die Vereinheitlichung und Vereindeutigung des eigenen Machtbereichs von einem impliziten zu einem expliziten Ziel. Erreicht worden ist es nie. Und das scheint ein ganz wesentliches Problem in all den Souveränitätsdebatten zu sein, ein Problem, das sich als »Bodins Dilemma«22 bezeichnen lässt: Bodin und zahlreiche ihm nachfolgende politische Theoretiker argumentieren so, als handelte es sich bei »Souveränität« um ein überzeitliches, gewissermaßen ewiges Phänomen, das im Sinne einer hegelianisch inspirierten Geschichtsphilosophie nur darauf gewartet habe, sich endlich historisch manifestieren zu können. Es geht um einen normativen, der Zeit enthobenen Zustand, der paradoxerweise gerade mithilfe der historischen Bezüge, in die er eingeordnet wird, enthistorisiert werden kann: Mit dem sicheren Wissen um die Existenz des fundamentalen Prinzips »Souveränität« können die jeweiligen historischen Zustände als deren Abweichungen oder Erfüllungen klassifiziert werden.23 Auch die Diskussion um die Postsouveränität ist nicht frei von einer solchen historisierenden Enthistorisierung, zumindest dann nicht, wenn sie implizit als Geschichte des Verlusts von Souveränität konzipiert wird. Wenn die Geschichte der Souveränität nicht zuletzt darin bestehen soll, die Geschichtslosigkeit der Souveränität vorzuführen, dann mag man versucht sein, dies als Fortsetzung des Paradoxons anzusehen, das der Souveränität per se innewohnt. Schließlich ist sie durch unübersehbare Widersprüche geprägt, wie die Einheit der Ge20 21

22

23

Bodin, Sechs Bücher, S. 547. Anton Tantner, Vermischung vermeiden. Seelenkonskription, Hausnummerierung und Vermischung um 1770, in: Landwehr (Hg.), Geschichte(n) der Wirklichkeit, S. 147–172. Albrecht Koschorke u. a., Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt am Main 2007, S. 108. Eine traditionelle Darstellung des Souveränitätskonzepts, die zwischen Historisierung und überzeitlichem Modell pendelt, findet sich bei Robert Jackson, Sovereignty. Evolution of an Idea, Cambridge/Malden 2007.

37

gensätze Singularität/Allgemeinheit, Willkür/Gesetz oder Gewalt/ Vertrag. Als Basis dieser Widersprüche fungiert das Grundparadox, ob oder auf welche Weise der Souverän der eigenen Souveränität unterworfen sein kann.24 In monarchischen Staaten wird der Souverän üblicherweise als der eigenen Gesetzeskraft enthoben gedacht, weshalb auch so viel Tinte für die Frage vergossen werden kann, wie denn die Selbstbeherrschung des Herrschers gelingen möge. Die eigene souveräne Macht gegen sich selbst zu wenden, kann in Monarchien nur als religiös-moralische Anforderung an den von Gott eingesetzten König formuliert werden – die Gefahr des Scheiterns immer eingeschlossen. Mit der Formel von den zwei Körpern des Königs25 – dem physischen und dem politischen Körper – oder der Trennung einer privaten von einer öffentlichen (Amts-)Person wird versucht, diese Schizophrenie einzufangen.26 In Volkssouveränitäten versucht man bekanntermaßen, dieses Problem mittels der Fiktion des Gesellschaftsvertrages zu lösen, in dem das Volk als Souverän seine Macht an Stellvertreter delegiert, die Gesetze erlassen, gegen die der ursprüngliche Souverän dann nicht mehr verstoßen darf: ein wesentlich effektiveres Mittel als in monarchischen Zuständen, um den Souverän vor dem Missbrauch der eigenen Macht zu schützen. Mir geht es aber nicht so sehr darum, diese hinreichend bekannten Paradoxien noch einmal auszubreiten, sondern ihre dynamisierenden Konsequenzen auszuloten. Denn solche Formen des Widerstreits erzeugen Reibungen, provozieren Konflikte – und ermöglichen Widerspruch. Leerstellen, die durch solche Paradoxien entstehen, eröffnen die Möglichkeit, andere Verknüpfungen herzustellen und der Dynamik politischer und gesellschaftlicher Veränderungen eine andere Richtung zu geben – wohin auch immer. Unschwer zu erkennen, dass auch die Konstitution politischer Räume zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert von dieser Paradoxie der Souveränität infiziert ist. Dabei haben wir es in einem wesentlich fassbareren, konkreteren Sinn mit Leerstellen zu tun, die zwar nicht gefüllt werden können, aber unsichtbar gemacht werden sollen. 24

25

26

Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002, S. 25–40. Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, Stuttgart1992. Koschorke, Der fiktive Staat, S. 113–117.

38

Landkarten werden dann zu einem sprechenden Ausdruck dieses Bemühens (und die historische Kartografie zur Visualisierung vergangener Zustände setzt diese Tradition nicht selten fort). Solche Karten können zeigen, wie es europäischen Staaten seit dem 17. Jahrhundert gelang, die Leerstellen zu invisibilisieren, die nach außen und nach innen faktisch bestanden. Und damit ist es durchaus fraglich, ob die Souveränitätstheorie tatsächlich der politischen Territorialisierung vorausging. Denn im 17. oder 18. Jahrhundert war in vielen Fällen weder klar, wo genau die Grenzen zu anderen Territorien verliefen, noch konnte man im Inneren des eigenen Souveränitätsbereichs immer problemlos behaupten, tatsächliche Herrschaft auszuüben. Die Territorien waren also keineswegs vereinheitlicht, und die Herrschaftspraxis entsprach nicht der Souveränitätstheorie. Die politischen Karten suggerierten aber nicht selten das Gegenteil und übernahmen daher die Funktion von des Kaisers neuen Kleidern:27 Solange die Invisibilisierung von allen mitgetragen wurde, konnte das politische Territorium als einheitliches und geschlossenes wahrgenommen werden. Und eben das ist der Nachteil politischer Kartografien und inkorporierter mental maps der politischen Welt: Sie suggerieren Eindeutigkeit, wo möglicherweise gar keine besteht. Man kann die Henne-Ei-Frage also auch umkehren: Möglicherweise war nicht zuerst die voll ausgebildete staatliche Souveränität da, die nur noch angemessen in politischen Karten abgebildet werden musste, sondern es waren die Karten selbst, welche die Überzeugung nährten, dass Staaten die gesamte Erdoberfläche im Griff hätten. Landkarten würden sich dann als mediale Repräsentationen einer politischen Theorie sowie einer angeblich weitgehend stringenten historischen Entwicklung erweisen, die auf eine vollständige Verstaatlichung der Welt hinausläuft, um alle Abweichungen von dieser Norm zumindest als deren negative Erfüllung zu denunzieren. Die Leerstellen in der Entwicklung souveräner Territorialität, die nicht beherrschten Räume und die unklaren Grenzverläufe, werden medial verdeckt, verschwinden dadurch aber nicht. Zugleich erweist sich diese (politische) Leere des Raums als ein wesentlicher Antrieb für die Ausbildung von Souveränität. Denn sie galt es im In27

Thomas Frank u. a., Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte – Bilder – Lektüren, Frankfurt am Main 2002.

39

teresse einer wachsenden und sich konstituierenden Staatsgewalt zu füllen. Aber was geschieht in dem Moment, in dem diese Leere gefüllt ist (oder gefüllt zu sein scheint)? Es tun sich andere Leerstellen auf, die andere Formen der Souveränität erfordern.

Von Hasen und Igeln Und mit einem Mal wachen wir in der angeblichen Welt der Postsouveränität auf, in der sich dieses vermeintlich eindeutige Bild unserer politischen Welt in komplexere Zustände aufzulösen scheint, in der wir also feststellen, dass der Nationalstaat überhaupt nicht mehr das Standardmodell ist, sondern durch zahlreiche Alternativen und Konkurrenten in seiner Staatlichkeit angegriffen wird. Beispiele für diesen Befund sind allenthalben in vielfacher Form zu entdecken. Ob es sich um suprastaatliche Organisationen wie die Europäische Union, die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds oder den Internationalen Strafgerichtshof handelt, ob es um die Auswirkungen von Finanzkrisen geht, bei denen spekulative Missgriffe privater Geldinstitute umstandslos vergemeinschaftet werden, ob es um die Entmündigung verschuldeter Staaten oder um den Einfluss von Rating-Agenturen über das Wohl und Wehe von Volkswirtschaften geht, ob es um die Abtretung staatlicher Kernkompetenzen, wie die Ausübung des Gewaltmonopols, an private Anbieter oder um die Auslagerung öffentlicher Infrastrukturen wie Wasser- und Energieversorgung an Wirtschaftsunternehmen geht – an diesen und an vielen anderen Stellen sind zentrale Fragen staatlicher Souveränität tangiert, die nicht mehr durch den Souverän entschieden werden (können).28 Stattdessen kann man dem Befund ohne Weiteres zustimmen, dass wir Zeitgenossen einer Privatisierung und Internationalisierung von Staatlichkeit sind, die in der Geschichte politischer Organisationsformen fraglos eine Novität darstellt. Auch wenn die kulturelle Ordnungsleistung namens »Staat« 28

Oliver Nachtwey, »Postsouveränität und Postdemokratie«, in: Stephan Braun/ Alexander Geisler (Hg.), Die verstimmte Demokratie. Moderne Volksherrschaft zwischen Aufbruch und Frustration, Wiesbaden 2012, S. 43–49; Loick, Kritik der Souveränität, S. 21 f.

40

deswegen noch nicht verschwinden muss, so verändert sie doch ihre Gestalt: Sie zerfasert. An die Stelle der Monopolisierung von Herrschaftsaufgaben tritt die Koordination der unterschiedlichen Akteure, die solche Aufgaben nun in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichen Interessen übernehmen. Aus dem einst souveränen Herrschaftsmonopolisten wird der postsouveräne Herrschaftsmanager.29 Nicht zuletzt ist die Territorialität von Staaten davon betroffen. In der Europäischen Union wird dies am ehesten offensichtlich, weil hier neben den ohnehin schon bestehenden Konkurrenzen in Sachen Souveränität noch diejenige zwischen den nationalstaatlichen und den europäischen Herrschaftsansprüchen hinzukommt. Die Einzelstaaten der EU sind eben schon längst nicht mehr Herren im eigenen Haus. Sie müssen daher zwangsläufig auf einen erheblichen Teil der territorialen Souveränität verzichten, und das, obwohl es auf europäischer Ebene noch keinen Superstaat gibt. Haben wir auf nationalstaatlicher Ebene also etablierte Staaten, die in ihrer Souveränität beschnitten sind, existiert auf europäischer Ebene noch kein Bundesstaat, der aber schon zahlreiche souveräne Rechte ausübt.30 Unabhängig davon, ob man solche Entwicklungen nun positiv oder negativ konnotieren möchte, ob man sie als Ermöglichung oder Gefährdung einschätzt, drängt sich im Sinne einer geschichtlichen Kontrastierung die Frage nach dem Vorher auf: Wenn wir es hier und jetzt mit einer kompositorisch zusammengesetzten, auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelten Form der (Post-)Souveränität zu tun haben, dann muss doch davor der eindeutige Zustand klassischer, staatlicher Souveränität geherrscht haben? Und an dieser Stelle kann sie dann wieder einsetzen, die historische Standarderzählung zu Fragen der Souveränität, die nicht selten mit den immer gleichen Versatzstücken arbeitet, mit Jean Bodin und Thomas Hobbes, mit der Französischen Revolution und der Ausbildung von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert. Die argumentative Strategie ist hierbei häufig dieselbe, insofern zentrale theoretische Texte und nicht 29

30

Philipp Genschel/Bernhard Zangl, »Die Zerfaserung von Staatlichkeit und die Zentralität des Staates«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 20/21 (2007), S. 10–16. Grimm, Souveränität, S. 104; Neil MacCormick, »On Sovereignty and Postsovereignty«, in: ders., Questioning Sovereignty. Law, State, and Nation in the European Commonwealth, Oxford 1999, S. 123–136.

41

minder zentrale historische Ereignisse als Belege für die erreichten Etappenziele auf dem Weg zu einer eindeutigen staatlichen Souveränität ausgemacht werden. Um nicht missverstanden zu werden: Diese theoretischen Texte waren und sind ohne Frage von zentraler Bedeutung für den Souveränitätsdiskurs, ebenso wie die politisch-historischen Veränderungen klare Indikatoren für eine wachsende und an Macht zunehmende Staatlichkeit sind. Wie sehr es der Organisationsform »Staat« in einem langen Prozess gelang, Machtmittel zu akkumulieren und zu zentralisieren, wird allein schon anhand der Wirkungen deutlich, die damit erreicht werden konnten. In einem positiven Sinn mag man die auf vielen Ebenen angesiedelte territoriale Verdichtung (zum Beispiel beim Ausbau einer öffentlichen Infrastruktur) anführen, die nur durch ein funktionierendes und seine Souveränität angemessen einsetzendes Staatswesen bewerkstelligt werden kann. Auf der negativen Seite sind die schrecklich beeindruckenden und gigantomanischen »Leistungen« jahrelanger Weltkriege oder systematischer Völkermorde zu nennen, die in ihrer industriellen Perfektion nicht weniger eines solchen Staates bedürfen. Es besteht aber die Gefahr, mit dem Stichwort der Postsouveränität das grundsätzliche Paradox der Souveränität auf neue Weise fortzuführen: Wenn man auf der einen Seite den Souveränitätsdiskurs nicht mit der politischen Praxis verwechseln sollte, kann man auf der anderen Seite im Rahmen der Postsouveränität nicht das Abweichen des Diskurses von dieser Praxis beklagen.31 Was also fehlt, ist die Eindeutigkeit und Klarheit einer Souveränität, die als Wirklichkeit gewordene Entsprechung eines theoretischen Programms daherkäme. Die Souveränität, wie sie sich Bodin und Hobbes und viele andere vorgestellt haben, hat in dieser Form – falls überhaupt – nur in Ausnahmefällen existiert. In der historischen Konkretion waren die Dinge dann doch etwas verworrener. Gerade deswegen ist es so wichtig, sich auf einen bestimmten Bereich (vermeintlicher oder tatsächlicher) staatlicher Souveränität zu konzentrieren – zum Beispiel auf den Raum, um an ihm zu zeigen, ob und wie Staatlichkeit verwirklicht wurde.

31

Neil Walker, »Late Sovereignty in the European Union«, in: ders. (Hg.), Sovereignty in Transition, Oxford/Portland 2003, S. 3–32, hier S. 6 f.

42

Wenn also das Zeitalter der klassischen souveränen Territorialität inzwischen an sein Ende gekommen ist – wann hat es dann angefangen? Dass die Antwort auf diese Frage weder eindeutig noch einfach ist, kann man anhand knapper historischer Zwischenhalte ersehen. Die westfälische Ordnung von 1648 und der Absolutismus werden regelmäßig als Stichworte genannt, um einen entsprechenden historischen Ort zu markieren. Und abgesehen davon, dass sich das Tableau auf einige wenige Standardmodelle reduziert (Frankreich, Brandenburg-Preußen, Dänemark, England), neben denen zahlreiche Abweichungen existieren, wurde insbesondere der Absolutismus von der historischen Forschung inzwischen über Bord geworfen. Wenn der Absolutismus als Programm die unumschränkte Herrschaft des Monarchen über sein Territorium proklamierte, so zeigt sich in der soziopolitischen Wirklichkeit, dass Herrschaft nicht ohne die Mitwirkung konkurrierender Gewalten (Kirche, Adel, Gemeinden) auskam und dass die Administration nicht in einem umfassenden Maß zentralisiert war, sondern dass alte Machtstrukturen eher gefestigt, als dass neue an deren Stelle gesetzt wurden. Der Absolutismus hat also nie stattgefunden.32 Aber danach, so scheint allgemein bekannt zu sein, hat doch seit dem beginnenden 19. Jahrhundert das goldene Zeitalter der voll ausgebildeten Souveränität begonnen, herrschten die eindeutigen Verhältnisse des Nationalstaates mit seinen klaren Grenzen, seiner zentralisierten Staatsmacht und seiner einheitlichen Staatsbevölkerung? Sicherlich, zumindest für die wenigen, die Mitglieder in diesem exklusiven Klub waren. Denn auch im langen 19. Jahrhundert war Souveränität nur für diejenigen da, die sie mit hinreichenden Mitteln erkämpfen und bewahren konnten. Dazu muss man noch nicht einmal auf das allzu offensichtliche Beispiel der europäisch kolonialisierten Welt blicken, sondern wird auch innerhalb Europas fündig:

32

Nicholas Henshall, The Myth of Absolutism. Change and Continuity in Early Modern European Monarchy, London/New York 1992; Ronald G. Asch/Heinz Duchhardt (Hg.), Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550–1700), Köln/Weimar/ Wien 1996; Achim Landwehr, »Absolutismus oder ›gute Policey‹? Anmerkungen zu einem Epochenkonzept«, in: Lothar Schilling (Hg.), Absolutismus, ein unersetzliches Forschungskonzept? Eine deutsch-französische Bilanz, München 2008, S. 205–228.

43

Mit der territorialen Souveränität Polens sind dessen Nachbarn im ausgehenden 18. Jahrhundert beispielsweise so nachlässig umgegangen, dass davon nach mehreren Teilungen nichts mehr übrig blieb. Mit der inneren Souveränität hatten hingegen Vielvölkerstaaten wie Österreich-Ungarn oder Russland ihre liebe Müh’, weil es ihnen nicht gelang, den vielfältigen Autonomiebestrebungen zu begegnen. Begibt man sich erst einmal auf die Suche, findet man zahlreiche Varianten, Souveränität zu gestalten – oder auszuhöhlen. Die Souveränität wird man dabei kaum finden. Und schon sind wir in der oben beschriebenen Postsouveränität angelangt. Denn kaum hat eine eher übersichtliche Anzahl zumeist westlicher Staaten den Höhepunkt ihrer Herrschaftskonzentration genossen, mussten sie selbige aufgrund allfälliger Missbrauchsmöglichkeiten in Form von Weltkriegen und Genoziden auch schon wieder abgeben. Auf ihrem Höhepunkt wurde die staatliche Souveränität zu einer Kippfigur. Oder ist es gar noch fataler? Könnte es nicht sein, dass, wenn der Hase der Souveränität sein Rennen beendet und das Ziel der Postsouveränität erreicht hat, dort schon der Igel der Präsouveränität auf ihn wartet? Supranationale Organisationen, Auffächerung souveräner Zuständigkeiten, Herrschaftsmanagement statt Herrschaftsmonopol und Plurisouveränität – ist das nicht alles schon einmal da gewesen? In der Tat gibt es Versuche, genau in diese Richtung zu argumentieren. So wurde beispielsweise das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, dieser Zusammenschluss einer Vielzahl von Einzelsouveränen zu einem undefinierbaren Gesamtgebilde, der lange Zeit der Alptraum aller Staatstheoretiker und das Unding in der Geschichte der territorialen Nationalstaatswerdung darstellte, in jüngerer Zeit zum Vorbild für das 21. Jahrhundert erklärt. Eine Europäische Union avant la lettre, in dem ein Mitteleuropa der Regionen bereits historisch vorgebildet gewesen sei, das aufgrund seiner politischen Vielfalt ideale Voraussetzungen für eine kulturelle Diversität geboten habe und das sich aufgrund seiner konfessionellen Gemengelage schon früh (wenn auch nicht freiwillig) in praktizierter Toleranz habe üben müssen.33 33

Peter C. Hartmann, Kulturgeschichte des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1806. Verfassung, Religion und Kultur, Wien/Köln/Graz 2011. Eine demgegenüber nationalstaatliche Interpretation findet sich bei Georg Schmidt, Geschichte

44

Aber ganz so leicht kann man es sich nicht machen. Es wirkt nicht sonderlich überzeugend, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation mit der Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts kurzzuschließen. Dagegen sprechen nicht nur zahlreiche faktische Gründe, sondern auch einige geschichtstheoretische Argumente. Wir kehren in Zeiten der Postsouveränität nicht einfach zu präsouveränen Verhältnissen zurück, können uns auch nicht mal eben im Arsenal des 17. Jahrhunderts bedienen, um unsere eigene Gegenwart zu gestalten. Ein genauer Blick auf historische Souveränitätsverhältnisse ist also weniger dazu geeignet, Identifikationsangebote zu machen, als zur kritischen Befragung der Differenz einzuladen – auch und gerade der Differenzen innerhalb der eigenen Meistererzählung über die Souveränität.34 Die Umkehrung ist aber ebenfalls kaum befriedigend, wenn man dem Problem der Souveränität gestern und heute auf den Grund gehen will, nämlich von historischer Warte einfach nur die Abweichungen zwischen theoretischen Modellen (von Souveränität oder was auch immer) und ihrer unvollkommenen Konkretisierung zu konstatieren. Das klingt nicht nur besserwisserisch, sondern verkennt auch die Relationen von Theorie und Praxis.35 Aber genau diese Beziehungen zwischen souveränen Ansprüchen und den Möglichkeiten herrschaftlicher Umsetzungen gilt es auszuloten, um dem Phänomen der Souveränität in historischer Perspektive gerecht zu werden.

34

35

des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999. Eine kritische Diskussion solcher Deutungen bei Wolfgang Reinhard, »Frühmoderner Staat und deutsches Monstrum. Die Entstehung des modernen Staates und das Alte Reich«, in: Zeitschrift für Historische Forschung 29 (2002), S. 339–357. Studien zu historischen Formen der Präsouveränität finden sich bei Hans-Jürgen Becker (Hg.), Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Europäischen Verfassungsgeschichte, Berlin 2006. Sheehan, The Problem of Sovereignty, S. 2 f.

45

Vom Schnabeltier In der historischen Betrachtung der souveränen Territorialität taucht mitunter ein ähnliches Problem wie in der politischen Kartografie auf, dass nämlich Verhältnisse eindeutiger dargestellt werden, als sie es tatsächlich sind. Die Geschichte der Souveränität in einem modernisierungstheoretischen, möglicherweise sogar teleologischen Sinn wiederzugeben, evoziert Eindeutigkeiten, wo Vielfältigkeiten warten, und erzeugt Klarheiten, wo undurchsichtige Gemengelagen an der Tagesordnung sind. Die Vergangenheit wird damit einmal mehr zu einem unterkomplexen Vorhof aktueller Zustände degradiert, dem man von der Warte gegenwärtigen Hochmuts (ob bewusst oder unbewusst) ein rasches »Die waren eben noch nicht so weit« zurufen kann. Die Geschichte einer eindeutigen Souveränität erzählen zu wollen, macht aus diesem Gegenstand einen schattenhaften Sparringspartner, von dem sich die »eigene« postsouveräne Gegenwart markant abheben kann. Man kann und darf aber »historische Vorläufer« nicht in der Art simplifizieren, muss sie vielmehr in ihrer Komplexität sichtbar machen. Bei nur etwas genauerem Hinsehen wird aus der vermeintlich eindeutig bestimmbaren und exakt definierten Gattung namens »Souveränität« flugs ein Schnabeltier, das sich jeder klaren Kategorisierung entzieht.36 Genau wie das australische Lebewesen, bei dem man sich trefflich darüber streiten kann, ob es sich um ein Säugetier, einen Vogel oder ein Reptil handelt, verflüchtigt sich bei einer näheren Betrachtung auch die vermeintliche Eindeutigkeit der Souveränität. Bevor wir also allzu schnell die Leerstellen überdecken, die sich in diesem kategorialen Durcheinander ergeben, lohnt es sich möglicherweise, genau auf diese Leerstellen zu achten, um einer anderen Geschichte der Souveränität auf die Spur zu kommen.37 Denn die Lücke und die Negation sind ja nicht negativ, bösartig oder unwahr – sie sind vor allem Verweise auf etwas anderes. Das Nichts steht immer in einem relationalen Verhältnis zu einem Etwas,

36 37

Umberto Eco, Kant und das Schnabeltier, München 2003. Hilfreich zu einer historischen Einordnung der Debatte um die Postsouveränität ist der Band von Samuel Salzborn/Rüdiger Voigt (Hg.), Souveränität. Theoretische und ideengeschichtliche Reflexionen, Stuttgart 2010.

46

auf das es verweist, auf das es bezogen und von dem es abhängig ist (ebenso wie das Etwas vom Nichts abhängig ist). Kein Loch ohne Rand – und umgekehrt.38 Unternimmt man vor diesem Hintergrund den Versuch einer negativen Geschichte der Souveränität, dann lohnt sich ein genauerer Blick auf die elementaren Bestandteile neuzeitlicher Staatlichkeit, auf die Gewaltausübung, die Bevölkerung und den politischen Raum. Staatlichkeit erweist sich dann möglicherweise als in höchstem Maß paradox besetzt, insofern der europäisch-westliche Staat der Neuzeit ein enorm erfolgreiches Modell ist – das beständig scheitert. Seine Leistungen in der Organisation öffentlicher Angelegenheiten unterschiedlicher Art sind beeindruckend – obwohl er permanent mit Steuerhinterziehern, Kriegsdienstverweigerern, Auswanderern, Immigranten, Gewalttätern, Arbeitslosen oder Piraten zu tun hat, mit drückender Konkurrenz vor allem aus der Wirtschaft, aber auch aus diversen politischen Strömungen, die ihm aus unterschiedlichen Motiven die Arbeit schwer machen. Diese Paradoxie ist nicht aufzulösen – aber man kann beschreiben, unter welchen Bedingungen solche Spannungen trotzdem zu einer funktionierenden Staatlichkeit führen, und in welchen Fällen dies nicht gelingt. Im absolutistischen Souveränitätsmodell zeigen sich die Leerstellen aus der historischen Rückschau nur allzu offensichtlich (deshalb dient es ja so leicht als temporale Kontrastfolie). Stehen auf der einen Seite vollmundige Souveränitätsansprüche, existiert auf der anderen Seite ein politischer Alltag, in dem die vermeintlich unumschränkte Macht des Monarchen kurz hinter den Grenzen des eigenen Schlossparks endet. Danach beginnt die Sphäre der Aushandlung, des Kompromisses und der Konkurrenz. Deswegen absolutistische Proklamationen als schönen Schein abzutun, führt aber kaum weiter, denn nicht nur die Tatsache, dass Forderungen nach der Zentralisierung von Herrschergewalt aufgestellt werden konnten, hat diskursive Auswirkungen gehabt, sondern war zudem wichtige Voraussetzung für einen langwierigen Prozess staatlicher Machtkonzentration. Der »Absolutismus« (der außer als politisches Programm nie stattgefunden hat) hatte also durchaus Folgewirkungen39 – nur nicht in Form eines »Absolutismus« in der politischen und sozialen Wirklichkeit. 38 39

Dirk Baecker, Beobachter unter sich. Eine Kulturtheorie, Berlin 2013, S. 148. Koschorke, Der fiktive Staat, S. 106.

47

Dieses Souveränitätsmodell versucht also, faktisch bestehende Leerstellen dadurch zu kaschieren, dass es auf der Anspruchs- und Repräsentationsebene teilweise einen erheblichen und auch sehr lauten Aufwand betreibt, um über diese Lücken hinwegzutäuschen.40 Seine Leerstellen hat es am ehesten auf einer zeitlichen Ebene: Der Anspruch zur umfänglichen souveränen Herrschaft ist bereits voll ausgebildet, aber die tatsächlichen politischen Zustände vermögen dem nicht zu entsprechen, hinken diesem Anspruch möglicherweise sogar hinterher. Das Idealbild des Absolutismus sah vor, ein souveränes Zentrum auszubilden, um das herum sich ein großes machtloses Nichts ausbreiten sollte. Die politische Praxis zeigt aber eine zentrale Souveränität, die selbst zahlreiche Leerstellen aufweist. Im nationalstaatlichen Souveränitätsmodell öffnen sich die Lücken nicht auf der zeitlichen, sondern auf der räumlichen Ebene. Denn während Souveränitätsanspruch und politische Realität im 19. Jahrhundert weitgehend zur Deckung gekommen zu sein scheinen, zeigt sich zugleich, dass nur wenige von dieser Koinzidenz profitieren durften. Nur diejenigen europäisch-westlich ausgerichteten Nationalstaaten, die ihren Weg erfolgreich bestritten haben, konnten sich einer solchen Souveränität erfreuen. Alle anderen mussten in kolonialen Verhältnissen verharren oder sich auf die Ausbildung nationalistischer Unabhängigkeitsbewegungen konzentrieren. Es gibt also souveräne Staaten klassischen Formats – allerdings in eher übersichtlicher Anzahl. In Zeiten der Postsouveränität hat sich möglicherweise die räumliche Verzerrung als Ergebnis von Dekolonisation und Globalisierungsprozessen etwas entschärft, soll heißen: Auch nicht europäischen, nicht westlichen Staaten kann nicht mehr ohne Weiteres die eigenständige Souveränität abgesprochen werden. Dafür machen sich wieder zeitliche Verzerrungen bemerkbar. Während vielfach immer noch am Ideal des Nationalstaats festgehalten wird, sind die supranationalen Zusammenschlüsse schon längst nicht mehr zu übersehen – ohne dass sie die Aufmerksamkeit oder die Wertschätzung erhielten, die sie verdienten. Demokratie ist noch immer eine auf das nationale Territorium fixierte Angelegenheit, auch wenn die Zeiten der Postsouveränität längst konstatiert sind. Die Leerstelle,

40

Peter Burke, Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Berlin 2009.

48

die sich in diesem Spannungsverhältnis auftut, ist die Demokratie. Während in Phasen der Präsouveränität Staatlichkeitsdefizite dadurch kaschiert wurden, dass man reklamiert, was man gar nicht besitzt, wird in Zeiten der Postsouveränität die Aushöhlung und Entleerung der Demokratie dadurch kaschiert, dass man sie allenthalben als unverzichtbares Ideal hochhält. Trotzdem darf man den Eindruck haben, dass, je mehr von Bewahrung der Demokratie die Rede ist, diese Demokratie umso mehr in Gefahr gerät. »Demokratie« ist in diesem Sinn ein ideales Beispiel für einen leeren Signifikaten.41 Zugleich entledigt sich der Souverän seiner Souveränität selbst, wenn er die letzten Reste seiner Einflussmöglichkeiten freiwillig aufgibt, wenn also beispielsweise bei Wahlbeteiligungen immer neue Minusrekorde aufgestellt werden. Die geschichtstheoretische Krux aller »Postismen« ist, dass sie immer nach irgendetwas kommen müssen. Wenn das Stichwort der Postsouveränität so tut, als gebe es ein eindeutiges Leben nach der eindeutigen Souveränität, dann muss man festhalten, dass eindeutige Souveränitäten Ausnahmefälle sind, die kaum zur Standardisierung taugen, sondern eher unserem Wunsch nach Klarheit und Durchschaubarkeit entsprechen. Aber wenn es keine eindeutige Souveränität gab – gibt es dann eine Postsouveränität? Was es gibt (und gab), sind unterschiedliche Souveränitätsmodelle, die in einer jeweiligen Gegenwart jeweils unterschiedlich anschlussfähig sind. Stellt sich nun die Frage, wessen Problem das ist. Man könnte von einem theoretisch fundierten Idealmodell von Souveränität ausgehen, dessen Verwirklichung als Erfolg qualifiziert, dessen Nichterfüllung als Scheitern, Abweichung oder Sonderweg denunziert werden kann. Oder man erkennt an, dass Souveränität einerseits vielgestaltig ist42 und dass sie andererseits wandert,43 und zwar durch die Räume und die Zeiten hindurch, um immer wieder neue Gestalt anzunehmen. Die Uneindeutigkeit, die ich eingangs bei der Konstitution räumlicher Souveränität zu zeigen versucht habe, findet sich demnach auf allen Ebenen und zu allen Zeiten der Souveränitätsgeschichte wieder. Lücken, Leerstellen und Unzulänglichkeiten bleiben für Souve41 42 43

Ernesto Laclau, Emanzipation und Differenz, Wien 2000, S. 65–78. Grimm, Souveränität, S. 114 f.; Walker, Late Sovereignty, S. 4. Koschorke, Der fiktive Staat, S. 107.

49

ränitäten genauso konstitutiv wie die Versuche, diese Negationen unsichtbar zu machen. Will man diesem Phänomen historisch auf die Schliche kommen, ginge es meines Erachtens weniger darum, die Geschichte der Souveränitätsmodelle um eine weitere Phase in die Länge zu ziehen, sondern diese Geschichte von vornherein zu verbreitern, um auf die Gleichzeitigkeit und Unterschiedlichkeit diverser Souveränitätsmodelle zu achten. Welche Konsequenzen kann es aber haben, sowohl synchron auf politisch-organisatorischer Ebene wie auch diachron in verschiedenen Phasen von einer Pluralität der Souveränitäten auszugehen?44 Feiern wir nach dem Ende der eindeutigen Souveränität einfach den fröhlichen Pluralismus der Souveränitätsvielfalt und verzichten damit auf jegliche Form der Verbindlichkeit? Ja. Und nein. Denn sich von einer eindeutig bestimmbaren Souveränität zu verabschieden, ist keine wie auch immer geartete Willensbekundung, sondern Ergebnis einer halbwegs nüchternen Analyse der Geschichte der Souveränität(en). Es steht nicht zu vermuten, dass sich daran großartig etwas ändern wird. Zudem haben es notorisch komplexe politische Prozesse wie die Ausbildungen und Umformungen von Souveränitätsverhältnissen an sich, schwerlich vorhergesagt werden zu können. Was aber zuweilen von denjenigen übersehen wird, die sich nach der Klarheit eindeutiger Verhältnisse sehnen: Pluralität (bei Souveränitäten und anderswo) heißt nicht Beliebigkeit, sondern Uneindeutigkeit. Und diese ist das Ergebnis komplexer und keineswegs immer erfreulicher Verhältnisse, Dispositionen und Diskurse. Die Pluralität der Souveränitäten zu beschreiben, sollte daher nicht mit einer Feier des bunten Lebens der Politik verwechselt werden. Diese Pluralität zu beschreiben, ist Ausgangspunkt für eine kritische Auseinandersetzung mit den bestehenden und sich beständig wandelnden Herrschaftszuständen.

44

MacCormick, On Sovereignty; Stolleis, Idee des souveränen Staates, S. 66–69.

50

Susanne Rau

Einheit Europa? Visionen und Figuren der Vormoderne

Einleitung »Die Europäische Union lässt sich als entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer politisch verfassten Weltgesellschaft begreifen.«1 Der Philosoph Jürgen Habermas hat in seinem Essay zur Verfassung Europas dafür plädiert, die politischen Handlungsfähigkeiten über nationale Grenzen hinaus zu erweitern, zuerst im Rahmen einer politisch handlungsfähigen EU , dann im Rahmen einer Weltgesellschaft. Angesichts der anhaltenden Euro-Krise und eines global entfesselten Kapitalismus müsse man auf eine Transnationalisierung der Demokratie hinwirken.2 Zum heutigen Zeitpunkt (2014) ließe sich eine inzwischen breit artikulierte EU -Skepsis, die sich in den jüngsten Wahlergebnissen widerspiegelt, als Ausweitung der Krise auf anderer Ebene bezeichnen. Was auch immer man davon hält, aus historischen oder gegenwartsbezogenen Diagnosen die Notwendigkeit einer modernisierten Großraumordnung abzuleiten, die Diagnose als solche klingt anders als die Selbstdarstellungen der Europäischen Union auf den Brüsseler Webseiten oder in ihren Werbebroschüren. In einer »Europa in Bewegung« betitelten, von der Europäischen Kommission herausgegebenen und vom Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften in elf Sprachen publizierten Broschüre lässt sich das Verständnis, das die EU -Institutionen von der Europäischen Union haben, exemplarisch analysieren.3 Hier stehen nicht Skepsis und Krise, sondern Einheit im 1

2

3

Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Frankfurt am Main 2011, S. 40. Ebenda, S. 75–82 (auf europäischer Ebene), S. 82–96 (auf der Ebene einer politisch verfassten Weltgesellschaft). Europäische Kommission, Mehr Einheit und mehr Vielfalt. Die größte Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union, Luxemburg 2003, http://

51

Vordergrund. Insbesondere der Raumbegriff scheint dafür ein großes Verführungspotenzial zu haben. Der Broschüre lassen sich eine ganze Reihe von Raumbegriffen entnehmen, die einen recht unterschiedlichen Status haben. Wir finden einen expansiven Raumbegriff vor, der sich sowohl auf die Geografie als auch auf die Mitglieder bezieht. Europa wird als räumliche Wertegemeinschaft beschrieben, aber auch als einheitlicher Rechtsund Wirtschaftsraum. Die Euro-Länder stellen zudem noch einen einheitlichen Währungsraum dar. Unter dem Aspekt der Mobilität wird dagegen an Bewegungsfreiheit im Raum gedacht, deren Gegenstück der Aufbau und der Schutz von Grenzen nach außen ist. Europa ist also Ausdehnung, Bewegung und Substanz (Recht, Werte) zugleich. Theoretisch sind die Konzepte schwer zusammenzubringen. Und genau darin zeigt sich die Komplikation, die entsteht, wenn aus Vielfalt eine Einheit gemacht werden soll. Für mindestens ebenso problematisch halte ich eine Reihe von Implikationen, die sich allein schon aus den einzelnen EU -Raumbegriffen ergeben. Europa und die Erweiterung: Gleich der erste Satz der Broschüre, die Europäische Union sei »ihrem Wesen nach dazu bestimmt, zu wachsen«,4 ist ein Statement, über welches man etwas genauer nachdenken sollte. Ein Lebewesen ist vielleicht zum Wachsen bestimmt, ganz gewiss aber kein Land und keine Föderation: Eine solche kann wachsen oder schrumpfen, wie sich unschwer in der Geschichte beobachten lässt, aber sie würde nicht nicht existieren, wenn sie sich nicht mehr verändert. Es bleibt zu hoffen, dass es bei der biologistischen Aufladung bleibt und dass diese nicht noch in eine politische Handlungsmaxime umschlägt, nach der sich die EU immer mehr Staaten einverleibt. Auf derselben Seite der Broschüre ist auch noch von den neuen Mitgliedstaaten als Neuankömmlingen die Rede. Der Begriff impliziert durchaus ein neokolonialistisches Moment, insofern daran gedacht wird, den Neuen die etablierten Gepflogenheiten beizubringen. Als Konkretisierungen werden die Unterstützung im Demokratisierungsprozess sowie »technische und finanzielle Hilfe bei der Einführung der Marktwirtschaft« genannt.5

4 5

bookshop.europa.eu/de/mehr-einheit-und-mehr-vielfalt-pbNA4702389/ [11. 7. 2014]. Ebenda, S. 3. Ebenda.

52

Europa als Wertegemeinschaft: Europa wird auch als Wertegemeinschaft bezeichnet, die als solche ebenfalls räumlich umschrieben wird, und zwar als Raum des Friedens, des Wohlstands und der Stabilität,6 ein Raum, in dem Menschenrechte, unveräußerliche Freiheiten und Demokratie gelten. Dass Europa ein Kontinent mit einer über Jahrhunderte gewachsenen Wertegemeinschaft sei, wird im Übrigen auch von der Bundesregierung geteilt: »Was hält die Europäische Union (EU ), einen Staatenbund von 27 [Stand: 2011] vielfältigen Ländern, im Kern zusammen? Es sind vor allem gemeinsame Werte, die wir alle teilen – Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Rechtstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte. Werte, die vor allem durch das Christentum und die Aufklärung geprägt worden sind.«7 Europa als Rechtsraum: Verwandt mit der Vorstellung von Europa als einer Wertegemeinschaft ist das Bild von der EU als einheitlichem Rechtsraum. Hier liegt der Gedanke zugrunde, dass räumliche Zugehörigkeit durch eine Bindung an ein gemeinsames Recht konstituiert werden könne. Dabei sollen für alle die gleichen Rechte und Pflichten gelten. Diese sind für die Neuankömmlinge nur bedingt verhandelbar, da sie schon durch die älteren Mitgliedstaaten normiert wurden. Es handelt sich dabei um den sogenannten »gemeinschaftlichen Besitzstand«.8 Ausgebildet hat sich die Vorstellung eines einheitlichen europäischen Rechtsraums seit der Frühen Neuzeit, insbesondere in den Friedensverhandlungen von Münster und Osnabrück (1645–1648). Allerdings ist das EU -Recht keineswegs das einzige Recht innerhalb der EU . Es ist supranational, das heißt, dass gleichzeitig das jeweilige nationale Recht gilt. Diese Rechtssituation spiegelt sich auch in der Frage der Bürgerschaft wider: Innerhalb der EU sind wir zugleich Unionsbürger und Bürger einer europäischen Nation. Die Unionsbürgerschaft ergänzt damit nur die nationale Staatsangehörigkeit, ohne diese zu ersetzen.

6 7

8

Ebenda, S. 4. Europa als Wertegemeinschaft, http://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/ DE /Europa/Ausstellung 50 JahreEuropa/Wertegemeinschaft/wertegemein schaft.html [14. 11.2011/Link nicht mehr aktiv: 5.2.2015] Europäische Kommission, Einheit, S. 4, 7, 11.

53

Europa als Wirtschaftsraum: Dass die EU auch einen einheitlichen Wirtschaftsraum darstellen möchte, entspricht nicht zuletzt ihrer Geschichte, fing doch alles mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG ) an. Der Broschüre nach scheinen die wirtschaftliche Prosperität der Mitgliedstaaten und der (angeblich) damit einhergehende allgemeine Wohlstand das Hauptargument für die EU und deren Erweiterung zu sein. Die neuen Mitgliedstaaten seien zwar ärmer, das Wachstum in den übrigen Mitgliedstaaten werde zwar kurzfristig geringer ausfallen, doch langfristig wird ein Aufschwung für alle versprochen: mehr Geschäftsmöglichkeiten in der EU , mehr Arbeitsplätze, höhere Steuereinnahmen. Außerdem könne die größere EU ihre Wettbewerbsposition auf dem Weltmarkt verbessern.9 Augenscheinlich wird hier die Vorstellung der wirtschaftlichen Prosperität neben der Gründungserzählung (Beginn der EU , Verweis auf historische Wurzeln) und der Wertegemeinschaft als dritte Legitimationserzählung für die EU gesetzt. Die Wirtschaft ist dabei allerdings der fragilste Rahmen, fast eine Wette auf die Zukunft. Denn dieser Rahmen ist nur so lange stabil, wie die Prosperität funktioniert. Wie anfällig Europa in diesem Punkt ist, zeigte sich insbesondere in den Finanzkrisen der letzten Jahre. Die Finanzprobleme sind keine reinen Finanzprobleme, sondern stürzen meist gleich die gesamte EU in eine politische Krise. Dies passiert, einer inzwischen weit verbreiteten Meinung nach, deshalb, weil die Europäische Union keine politischen Steuerungskompetenzen besitzt, um bei Finanz- und Währungsproblemen eingreifen beziehungsweise sich gegenüber Finanzspekulationen behaupten zu können.10 Europa als begrenzter Raum: Räume, die über soziale Mechanismen von Inklusion und Exklusion konzipiert werden, wie es bei der EU der Fall ist, haben auch ein spezifisches Verhältnis zu Grenzen. Die EU hat gleichwohl nicht nur Außengrenzen, die sie wachsam verteidigt: durch Zölle und gegen illegale Einwanderung von außen.11 Genauer betrachtet hat die EU drei Grenzkonzepte: Das erste 9 10 11

Ebenda, S. 7. Vgl. dazu Habermas, Verfassung, S. 79–81. Europäische Kommission, Einheit, S. 4 f.; zur digitalen Sicherung der Außengrenzen vgl. Hedwig Wagner, »Les frontières extérieures de l’Europe et leur sécurisation numérique«, in: Thierry Paquot/Michel Lussault (Hg.), Murs et frontières, Paris 2012, S. 130–137.

54

liegt in dem expansiven Raumverständnis verborgen. In der Dynamik der Erweiterung steckt eine neue Form der frontier, eine bewegliche Grenze, eine Zivilisationsscheide, die immer dann weiter vorrücken kann und soll, wenn sich das jenseitige Gebiet der alteuropäischen Zivilisation freiwillig einordnen möchte.12 Das zweite Grenzverständnis besteht in der Abschaffung der Binnengrenzen, was sich konkret im Verwaisen der Grenzhäuschen an den ehemaligen Landesgrenzen und im Schengen-Abkommen zeigt. Latent sind die Grenzen zwischen den EU -Staaten immer noch vorhanden, aber sie zeigen sich nur noch in sporadischen Kontrollen oder sporadischen, da nicht immer aktiven Grenzposten. Explizites Ziel, welches man mit dem Abbau der Binnengrenzen verfolgt, ist die Erhöhung von Bewegungsfreiheit und Mobilität im Raum der EU . Diese Grenzkonstruktion ist allerdings leicht paradoxal, weil sie nur funktioniert, wenn man gleichzeitig die äußeren EU -Grenzen verstärkt und auch permanent verteidigt. Folglich hat die EU zur Verteidigung dieser Außengrenzen, bei denen es sich um den dritten Grenztypus handelt, erhebliche Finanzmittel und modernste Technologie zur Verfügung gestellt.13 Diese unbestritten knappe Analyse zeigt, dass die Vision der Europäischen Kommission im Grunde genommen ein Wunschbild ist, in dem viele Widersprüche stecken. Insbesondere der Raumbegriff ist schillernd. Er ist aber nicht primär deshalb problematisch, weil er nicht auf der Höhe der aktuellen sozialwissenschaftlichen Debatte ist,14 sondern weil die Kommission dieses »Europa in Bewegung«, also das sich in Ausdehnung befindliche Europa, containerisiert, statt nach den menschlichen Lebenswelten zu fragen, die in der Regel eigene Räume, soziale Ordnungen und Raumkonzepte hervorbringen. Wer umgekehrt vorgeht, begreift den Raum deterministisch. Des Weiteren werden historische Kontinuitäten konstruiert, die nicht wirklich haltbar sind. Der Politologe Olaf Asbach hat in

12

13 14

Das Konzept der frontier wurde ursprünglich von Turner auf die Ausdehnung Amerikas nach Westen angewandt, vgl. Frederick Jackson Turner, The Frontier in American History, 2007 [1920], http://www.gutenberg.org/files/22994/ 22994-h/22994-h.htm [29. 6. 2014]. Europäische Kommission, Einheit, S. 4 f., 13, 20. Vgl. einführend Susanne Rau, Räume. Konzepte – Wahrnehmungen – Nutzungen, Frankfurt am Main 2013.

55

seiner begriffsgeschichtlichen Untersuchung gezeigt, dass Europa keineswegs eine Einheit darstellt, die schon seit Jahrtausenden existiert.15 Selbst aus geografischer Sicht gibt es diskursivere Ideen zu Europa als die der europäischen Institutionen. Jacques Lévy etwa spricht davon, dass Europa ein Objekt sei, das es erst noch zu konstruieren gelte.16 Es gehe jedenfalls nicht darin auf, dass man es in einen festen Rahmen »vom Atlantik bis zum Ural« presse. Europa sei vielmehr seit rund tausend Jahren hergestellt worden – und dies in immer wieder neuen Konstellationen, angesichts immer wieder neuer Herausforderungen. Die These, die ich im Folgenden als Historikerin vertreten möchte, lautet: Europa wurde lange Zeit nicht als territoriale, geschweige denn politische Einheit verstanden; eher als Idee, die sich jedoch in vielen verschiedenen Formen und mit verschiedenen Facetten zeigen konnte. Genau dies, also die territoriale Einheit Europas, wird jedoch im heutigen Europadiskurs (der Europa-Optimisten) häufig suggeriert. Außerdem verwischen sich in diesem Diskurs leicht die Grenzen zwischen Europa und Europäischer Union. Die Behauptung historischer Kontinuitäten mag vielleicht nicht einmal immer bewusst geschehen, sondern ist ein unbewusster Nebeneffekt einer institutionellen Legitimationsstrategie.17 Wenn man die Geschichte genauer betrachtet, war Europa auch in der Vergangenheit weniger einheitlich als vielmehr zersplittert und zerstritten. Dies muss kein Vorbild für heute sein, aber es könnte helfen, von der Idee Abstand zu nehmen, dass in prästabilisierten Harmonien der Segen der Menschheit liege – wenigstens aber doch, um die gegenwärtigen Dissonanzen etwas zu relativieren. Diese Thesen möchte ich im Folgenden entlang verschiedener Aspekte darlegen: Begriff und Historiografie, Ikonografie beziehungsweise Kartografie sowie Erfahrungsraum und Recht.18 15

16 17

18

Olaf Asbach, Europa – vom Mythos zur Imagined Community? Zur historischen Semantik »Europas« von der Antike bis ins 17. Jahrhundert, Hannover 2011. Jacques Lévy, Europe, une géographie. La fabrique d’un continent, Paris 2011. Vgl. dazu Asbach, Europa, S. 17: »Die Versuche, ›die Geschichte Europas zu schreiben‹, führen dabei oft dazu, dass letzten Endes in quasi-teleologischer Manier ›Europa eine Geschichte geschrieben‹ wird.« Zum Konzept institutioneller Stabilisierung vgl. Gert Melville/Hans Vorländer (Hg.), Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln u. a. 2002. Auf die politikwissenschaftliche Debatte darüber, ob das aktuelle Europa eher ein Imperium, ein supranationaler Staat oder einfach nur eine Vertragsgemein-

56

Europa in der Vormoderne Da Europa, dem Politologen Asbach folgend, frühestens 1648 zu einer Leitkategorie politischen Denkens geworden ist, werde ich die davorliegenden Epochen nur kursorisch abhandeln. Das Römische Reich (Imperium Romanum) jedenfalls war kein europäisches Reich, sondern ein Weltreich.19 Im Selbstverständnis erstreckte es sich auf den orbis terrarum und deckte Teile Europas, Afrikas und Asiens ab. Dabei waren nur »Africa« und »Asia« Provinzen. Eine Provinz »Europa« gab es nicht. Jenseits der römischen Provinzen gab es dann noch einen variablen Gürtel von Regionen, die – zumindest aus römischer Sicht – als abhängig galten. Das Territorium aber galt nur dann als integrativ, wenn man sich von »Barbaren«, also von Nicht-Römern, abgrenzen wollte. Bisweilen wurde auch ihnen politische Teilhabe zugesprochen, zumindest den Eliten. Kaiser Claudius etwa hat 48 n. Chr. den gallischen Notabeln in einer Rede vor dem Senat in Rom den Zugang zum Senat zugesagt.20 Kurzum: Selbst die Grenze zu den »Barbaren« war potenziell durchlässig und verhandelbar. Auch im Mittelalter gab es nicht wirklich ein europäisches Bewusstsein, jedenfalls nicht im Hinblick auf eine politisch-territoriale Einheit.21 Für das Christentum, das als Religion einen großen verbindenden Charakter hatte, war nicht Europa der Rahmen, sondern die Welt im Sinne des christlichen Universalismus. Dies gilt trotz der vereinzelten Geburtsmomente Europas, die es während des Mittelalters gegeben haben mag, wie sie der französische Historiker Jacques Le Goff herausgearbeitet hat.22 Einheitsvorstellungen spie-

19

20

21 22

schaft darstellt, werde ich nur peripher eingehen, weil diese Frage in den vormodernen Konzepten eine geringe Relevanz besitzt. Asbach, Europa, S. 40–64; vgl. auch Claude Nicolet, L’inventaire du monde. Géographie et politique aux origines de l’Empire romain, Paris 1988. Ich danke meinem Kollegen Veit Rosenberger für die sachkundige Erläuterung. Die Rede findet sich auch auf der berühmten Claudischen Bronzetafel, von der zwei Fragmente im 16. Jahrhundert wiedergefunden wurden; vgl. dazu Camille Germain de Montauzan, »L’Antiquité«, in: Arthur Kleinclausz (Hg.), Histoire de Lyon, Bd. 1: Des Origines à 1595, Lyon 1939, S. 24 f. und Tafel III . Asbach, Europa, S. 64–93. Jacques Le Goff, Die Geburt Europas im Mittelalter, München 2004; vgl. auch Rudolf Hiestand, »›Europa‹ im Mittelalter, vom geographischen Begriff zur

57

gelten sich wohl eher in Begriffen wie Christianitas, Sacerdotium und Imperium wider.23 Erst mit der Auflösung der Idee des christlichen Universalismus wurde Europa im 17. Jahrhundert zu einer Leitkategorie des politischen und sozialen Denkens. Der Europabegriff der Neuzeit bezeichnet allerdings eine Vielfalt von Konfessionen, rivalisierenden Staaten und unterschiedlichen Kulturen und Sprachen, also zunächst alles andere als eine Einheit. Die Vielfalt und die Konflikte, die es trotz und neben einer sich auch allmählich entwickelnden Einheitsvorstellung gab, sollen im Folgenden nachgezeichnet werden.24 Begriff und Historiografie: Europa wurde zu Beginn der Neuzeit sowohl ex negativo als auch inhaltlich – über die Geschichte, Kultur und Sitten der europäischen Völker25 – definiert. Das Profil des europäischen Kontinents entstand vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Anderen. Unbeschadet einzelner Belege für ein positives Europa-Bewusstsein war es vor allem die Eroberung Konstantinopels durch das Osmanische Reich, welche um das Jahr 1500

23

24

25

politischen Idee«, in: Hans Hecker (Hg.), Europa – Begriff und Idee, Historische Streiflichter, Bonn 1991, S. 33–48. Christianitas steht für die Gesamtheit der Gläubigen des lateinischen Abendlands, die sich damit als Gemeinschaft gegenüber allen Nichtchristen (Heiden, Juden, später auch den muslimischen Arabern) abgrenzten. Sacerdotium bezeichnet die Sphäre der geistlichen im Gegensatz zur weltlichen Gewalt (Regnum, Imperium), wobei Sacerdotium und Regnum im Frühen Mittelalter nicht strikt getrennt, sondern Teil der übergreifenden Ordnung der Ecclesia waren. Imperium bezieht sich auf das Heilige Römische Reich, verstanden als Fortsetzung des Römischen Reichs (Imperium Romanum). Vgl. dazu R. Manselli, »Christianitas«, in: Lexikon des Mittelalters 2 (1983), Sp. 1915 f.; T. Struve, »Sacerdotium«, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), Sp. 1220–1222. Als kompakter Forschungsüberblick, der auch hier herangezogen wurde, ist empfehlenswert: Heinz Duchhardt/Martin Wrede, »Europa«, in: Enzyklopädie der Neuzeit 3 (2006), Sp. 594–619. Der Volksbegriff hatte in der Frühen Neuzeit ein breites Bedeutungsspektrum. Dieses reichte vom theologischen Gottesvolk, über das militärische Kriegsvolk, das Staatsvolk (lat. populus) bis zum – eher abwertend gemeinten – gemeinen Volk (lat. vulgus). Er war jedenfalls nicht mit dem späteren nationalstaatlichen noch mit dem völkischen Prinzip verbunden. Im oben verwendeten Zusammenhang verweist der Begriff auf das Staatsvolk, ein Begriff, der sich in der staatsund völkerrechtlichen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts herausgebildet hat. Vgl. dazu Reinhard Stauber/Florian Kerschbaumer, »Volk«, in: Enzyklopädie der Neuzeit 14 (2011), Sp. 376–384.

58

grundsätzliche Überlegungen zu der Frage auslöste, was denn die Eigenart Europas (und damit der Grund für dessen Verteidigung) sei.26 Das Nachdenken über diese Frage entstand also in einer Situation der Bedrohung und der daraus erwachsenen Notwendigkeit der Verteidigung. Es waren Gelehrte wie Enea Silvio Piccolomini (der spätere Papst Pius II .), der im Übrigen noch 1454 zu einem Kreuzzug zur Rückeroberung eines verloren gegangenen Teils Europas aufrief, Pierfrancesco Giambullari oder Lodovico Guicciardini, die zwischen dem Ende des 15. und der Mitte des 16. Jahrhunderts Geschichten Europas verfassten.27 Gerade Letzterer schloss bereits den Norden Europas ein, ließ allerdings Litauen und das Moskowiterreich noch unberücksichtigt. Mit Jacques Auguste de Thou und seiner »Geschichte der eigenen Zeit« war es dann weitgehend etabliert, dass die Geschichten Europas auch den Osten mit in den Blick nahmen.28 Die östliche Grenze Europas wurde in der Regel, darin Ptolemaios folgend, entlang des Flusses Don gesehen. An der Konstruktion von Europa-Bildern, insbesondere an der Konstruktion Europas als einer räumlichen Konstellation, haben auch die Kartografen mitgewirkt, die seit der Renaissance Weltkarten und Europakarten produzierten. Anhand der neuen Weltkarten, die im Zuge der Entdeckungsreisen entstanden sind, lässt sich untersuchen, wie Europa im Vergleich zum Rest der Welt ins Kartenbild gesetzt und mit welchen Attributen dieser Erdteil versehen wurde. Doch auch spezielle Europakarten konnten auf ihre Weise die Wahrnehmung beeinflussen und politische Botschaften transportieren.

26

27

28

Bodo Guthmüller (Hg.), Europa und die Türken in der Renaissance, Tübingen 2000; Almut Höfert, Den Feind beschreiben. »Türkengefahr« und europäisches Wissen über das osmanische Reich 1450–1600, Frankfurt am Main/New York 2004. Johannes Helmrath, »Enea Silvio Piccolomini (Pius II .), ein Humanist als Vater des Europagedankens?«, in: Rüdiger Hohls (Hg.), Europa und die Europäer, Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart 2005, S. 361–366; Pierfrancesco Giambullari, Historia dell’Europa, Venezia, 1566 (postum, unvollendet); Lodovico Guicciardini, Commentarii delle cose piu memorabili seguite in Europa, Antwerpen 1565. Jacques Auguste de Thou, Historia sui temporis, 5 Bde., Baden u. a. 1626–1630 [Erstausgabe 1604].

59

Heinrich Bünting, Europa Prima Pars Terrae In Forma Virginis (1548)29

Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entwickelte sich also eine Europa-Ikonografie und -Kartografie, die auf visuellem Weg die Vorstellung von einem einheitlichen Europa verbreitete. Im 16. Jahrhundert liefen allerdings noch mindestens zwei ikonografische Stränge parallel, die an zwei markanten Karten und deren Spezifika kurz vorgestellt werden sollen: an der Europa-Allegorie in Gestalt einer Jungfrau und an einer topografischen Karte, mit der nicht nur das ptolemäische Weltbild endgültig korrigiert wurde, sondern die zudem für kartografische Exaktheit steht. 29 Neben dem Bemühen um korrekte, das heißt maßstabsgerechte Darstellung gab es jedoch noch eine andere Europa-Ikonografie, deren Ziel nicht primär die Umsetzung geometrischer Maßstäbe war. Eine dieser Ikonografien war die bereits erwähnte Karte Europas in Form einer Jungfrau. Anthropomorphe Vorstellung und räumlichgeografische Deutung Europas waren hier in einer Karte verschmol29

Heinrich Bünting, Europa Prima Pars Terrae In Forma Virginis (1548), Hannover, circa 1581 [Rare Variant edition], https://www.raremaps.com/gallery/ detail/ 21632 /Europa_Prima_Pars_Terrae_In_Forma_Virginis_ 1548 _Rare_ Variant_edition/Bunting.html [29. 6. 2014].

60

zen. Eine solche Karte war in das Reisebuch (»Itinerarium sacrae scripturae«, 1581 u. ö.) des protestantischen Theologen und Chronisten Heinrich Bünting (1545–1606) integriert. Bei dem Itinerar handelt es sich um eine geografische Beschreibung von Stätten des Alten und Neuen Testaments. Bünting war wohl nie selbst ins Heilige Land gereist, doch zeichnete er die Reisewege biblischer Figuren nach und bezog Informationen aus zeitgenössischen oder älteren Reiseberichten ein. Neben der Europakarte enthält das Reisebuch zwei weitere Karten mit emblematischen Elementen, so eine Darstellung Asiens als Pegasus und eine Weltkarte mit einem dreiblättrigen Kleeblatt – eine Hommage an seine Heimatstadt Hannover, die ein Kleeblatt im Wappen trägt.30 Die Europa-Darstellung als Jungfrau, vielmehr Reichskönigin (mit Krone, Zepter und Reichsapfel), tauchte erstmals 1537 bei dem Tiroler Kartografen Johannes Putsch auf. Sie war Ferdinand I . gewidmet, der bei der Teilung des Habsburgerreichs die Kaiserkrone erbte: Haupt und Krone befinden sich in Spanien und Portugal; das Herz liegt in Böhmen, wo Ferdinand seit 1526 König war. Bünting hatte die Karte dann 1587 in eine Ausgabe des Itinerars integriert. Die Erklärungen dazu fanden sich gleich auf der Rückseite. 1588 wurde sie auch in eine Ausgabe von Sebastian Münsters »Cosmographei« übernommen. Im Kontext des Unabhängigkeitskampfs der Niederlande gegen die spanische Krone tauchte die Europa-Virgo auch auf Flugblättern auf und blieb noch in den Folgeauflagen (mind. 60 Auflagen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts) von Büntings Itinerar präsent. Zu einer Veränderung des Europabildes trugen im 16. Jahrhundert auch topografische Karten bei.31 Der in Flandern geborene Gerhard Mercator (1512–1594), eigentlich Gerard de Kremer, hatte nach seinem Studium in Löwen die Gelegenheit, von etwa 1534 bis 1537 bei Gemma Frisius die Herstellung von Erd- und Himmelsgloben zu erlernen. 1552 übersiedelte er nach Duisburg, einem Ruf des Her30

31

Hank A. M. van der Heijden, »Heinrich Büntings Itinerarium Sacrae Scripturae, 1581. Ein Kapitel der biblischen Geographie«, in: Cartographica Helvetica 23/24 (2001), S. 5–14; Karljosef Kreter, Heinrich Büntings Weltkarte 1584. »Die gantze Welt in ein’ Kleeberblat«, Hannover 2000. John Hale, Die Kultur der Renaissance in Europa, München 1994, S. 27–40, bes. S. 31.

61

Gerhard Mercator, Europa (1554)32

zogs von Jülich-Kleve-Berg folgend, der dort eine neue Universität zu gründen beabsichtigte. Mercator schuf eine Reihe von Karten, von denen insbesondere zwei wichtig sind, die in seiner Duisburger Phase entstanden sind: eine Europakarte und eine Weltkarte. Bei beiden handelt es sich um großformatige Wandkarten. 1554 schuf er die Europakarte, auf der die Relationen der europäischen Länder zum ersten Mal maßstabsgerecht dargestellt sind, was zugleich einer Korrektur des ptolemäischen Weltbildes gleichkam. 32 Mercators Europa-Karte verkaufte sich allein in einer Antwerpener Boutique zwischen 1558 und 1576 gleich 850 Mal.33 Sie wurde 32

33

http://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Mercator#mediaviewer/Datei: 1589_Europa_Mercator.jpg [11. 7. 2014]. Robert W. Karrow, Mapmakers of the Sixteenth Century and Their Maps. BioBibliographies of the Cartographers of Abraham Ortelius, 1570, Chicago 1993, S. 386 f.; Francesca Fiorani, »Cycles of Painted Maps in the Renaissance«, in: David Woodward (Hg.), The History of Cartography, Bd. 3,1: Cartography in the Renaissance, Chicago/London 2007, S. 804–827, hier S. 805 f. u. 816.

62

zum Vorbild für die nächsten rund 150 Jahre. Dagegen verschwand die Jungfrau-Allegorie allmählich aus dem kartografischen – wenn auch nicht aus dem publizistischen – Diskurs. Parallel existierten freilich noch weitere Europa-Karten. So zeichnete auch Abraham Ortelius (1527–1598) für seinen Atlas, der 1570 erstmals publiziert wurde und in den ersten vierzig Jahren rund vierzig Auflagen erlebte, eine Karte von Europa.34 Bei einer Gegenüberstellung fällt nicht nur auf, dass die Farbwahl eine andere ist als bei Mercator, er hat auch eine Kartusche gewählt, die auf die Europa-Figur der griechischen Mythologie verweist. Trotz aller Bemühungen am Beginn der Neuzeit, Europa auch kartografisch zu fixieren, muss man doch auch feststellen, dass die Karten damals noch sehr unterschiedliche Aspekte Europas betonten und damit unterschiedliche Raumbilder generierten. Europa als Erfahrungsraum: Neben Schriftstellern und Kartografen haben noch andere Akteure an der Konstruktion Europas mitgewirkt. Ein europäischer Erfahrungsraum bildete sich auch über räumliche Praktiken heraus. Er konnte sich zum einen über das Reisen, zum anderen über den Ausbau des Kommunikationsnetzes entwickeln. Zu denken ist dabei an die akademischen Peregrinationen der Studenten seit dem späten Mittelalter.35 Ferner an die jungen Adligen, die im Rahmen ihrer Grand Tour über viele Monate durch Europa reisten, um dabei verschiedene kulturelle Zentren Europas 34

35

Abraham Ortelius, Theatrum Orbis Terrarum (Nürnberg 1572), mit einer Einführung und Erläuterungen von Ute Schneider, Darmstadt 2007. Ortelius definierte Europa einerseits geografisch, andererseits religiös (ebenda, S. 122): »Stösset gegen Mitternacht und Morgen an den Oceanum, Gegen Mittag scheydet es das Mare Mediterranum von Africa. Darnach gegem Auffgang wirt es durch das Mare Aegœum (jetzund Archipelagus das Ertzmeer) Pontium Euxinum (jetzt Mare Maggiore) dem See Meotidem (jetzt Mare delle Zabacche genandt) und den Isthmum oder kleine Land/so von der Quelle oder ursprung des flus Tanais (sonst Don genandt) in einer stracken Lini sich gegen Mitternacht strecket, von Asia abgetheylet, wie Glareanus bezeuget. […] Diß unser Europa, hat außerhalb des Römischen Reichs so billich die gantze Welt ehren sol wann man die vierzehen, welche, wie Damianus schreibt, inn Spanien sein sollen, auch darzu rechnet, in die 28. unterschiedliche Reich, die sich alle zum Christlichen Glauben bekennen, daher dann leicht die Würde und Herrligkeyt dises Landes zu erachten.« Stephanie Irrgang, Peregrinatio academica. Wanderungen und Karrieren von Gelehrten der Universitäten Rostock, Greifswald, Trier und Mainz im 15. Jahrhundert, Stuttgart 2002.

63

und andere Höfe kennenzulernen.36 Durch ihr teilnehmendes Lernen wurden die jungen Adligen zu »Medien einer grenzübergreifenden Adelskultur«.37 Eine andere reisende Gruppe waren Soldaten, die in Kriegs- wie in Friedenszeiten (dann auf der Suche nach Arbeit) durch die Lande zogen,38 und freilich die Gesellen.39 Das Postwesen wurde in der Frühen Neuzeit ausgebaut, zunächst zur Beförderung von Briefen, dann von Menschen.40 Seit dem 16. Jahrhundert lässt sich zudem eine intensive Gelehrtenkorrespondenz mit zunehmend europäischer Reichweite erkennen, angefangen bei den Humanisten im 16. Jahrhundert bis zur Respublica litteraria im 17. und 18. Jahrhundert.41 An dieser Briefkorrespondenz beteiligten sich schließlich auch Frauen.42 Man muss hierbei selbstverständlich immer die individuelle und die kollektive Ebene unterscheiden. Durch die genannten Raumpraktiken erschloss sich freilich nicht jeder einzelne Student, Adlige oder Gelehrte (tatsächlich lange nur auf das männliche Geschlecht bezogen) ganz Europa, sondern aufgrund der individuellen Auswahl bestimmter Orte immer nur einen speziellen Ausschnitt. Die Überschneidungen oder Überlappungen bestimmter sozialer Netzwerke und Ortskonstellationen, also etwa der auf Reisen oder Wanderungen besuchten Orte oder der in Gelehrtenkorrespondenzen 36

37 38

39

40

41

42

Rainer Babel/Werner Paravicini (Hg.), Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Ostfildern 2005. Michael Sikora, Der Adel in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2009, S. 113. Peter Burschel, Söldner im Nordwestdeutschland des 16. und 17. Jahrhunderts: sozialgeschichtliche Studien, Göttingen 1994; Holger Th. Gräf (Hg.), Söldnerleben am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges. Lebenslauf und Kriegstagebuch 1617 des hessischen Obristen Caspar von Widmarckter, Marburg an der Lahn 2000. Sigrid Wadauer, Die Tour der Gesellen. Mobilität und Biographie im Handwerk vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2005. Wolfgang Behringer, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003. Stephen Ryle (Hg.), Erasmus and the Renaissance Republic of Letters. Proceedings of a conference to mark the centenary of the publication of the first volume of Erasmi epistolae by P. S. Allen, Corpus Christi College, Oxford, 5–7 September 2006, Turnhout 2014. Marie-Claire Hoock-Demarle, L’Europe des lettres. Réseaux épistolaires et construction de l’espace européen, Paris 2008, zum Europa der Briefeschreiberinnen bes. S. 261–326.

64

eingeschlossenen Orte, trugen aber durchaus zu einer Ausbildung eines gedachten oder auch gelebten Raumes Europa bei. Flankiert wurden solche europäischen Erfahrungsgemeinschaften von Entwicklungen im Rechtswesen, die schließlich zur Ausbildung einer europäischen Wertegemeinschaft führten. Ein erster Schritt dazu war die – schon im Hochmittelalter beginnende, ab dem 16. Jahrhundert verstärkte – Rezeption des Römischen Rechts in dem insgesamt noch recht partikularen Rechtssystem.43 Ab dem 17. Jahrhundert bildete sich dann ein Rechtsnormenkodex heraus, der zwischen den Völkern44 und Staaten Geltung erlangte. An der Ausbildung des Ius Publicum Europaeum war der niederländische Jurist Hugo Grotius nicht unwesentlich beteiligt, dessen »Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens« (1625) zur Standardlektüre der Juristen und Diplomaten in ganz Europa wurden.45 Schließlich aber dürfen wir bei der Ausbildung einer Europa-Vorstellung und der Entstehung eines Erfahrungsraums nicht vergessen, dass das frühneuzeitliche Europa ein religiös und konfessionell zersplittertes Gefüge war, welches von drei konkurrierenden Großkonfessionen dominiert wurde und das sich zudem gegen eine große Anzahl nicht anerkannter konfessioneller Bewegungen, vor allem gegen Juden und Muslime, zu behaupten versuchte. Eine weitere Grundsignatur der Frühen Neuzeit sind daher die Religionskriege und die europäischen Staatenkriege, genauer gesagt: Staatenbildungskriege, die sich, wenn nicht aus Erbfolgestreitigkeiten, so teils auch aus religiösen Konflikten ergaben.46 Der Westfälische Friede

43

44 45

46

Für die Bandbreite der Rezeption stellvertretend: Iole Fargnoli/Stefan Rebenich (Hg.), Das Vermächtnis der Römer. Römisches Recht und Europa, Bern u. a. 2012. Vgl. Anm. 25. Michael Stolleis/Notker Hammerstein (Hg.), Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, München 1995. Anton Schindling, »Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Erfahrungsgeschichte und Konfessionalisierung«, in: Matthias Asche/Anton Schindling (Hg.), Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Münster 2001, S. 11–51; Johannes Burkhardt, »Die Fried-

65

setzte dem kein endgültiges Ende, auch wenn der Krieg selbst, durch Gewalt und Migration wie auch durch die Friedensverhandlungen, die Menschen einander gewiss auch ein Stück näherbrachte. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Seit etwa 1500 entwickelte sich die Vorstellung einer Einheit des europäischen Kontinents: durch Historiografie und Ikonografie, durch das Recht sowie durch entstehende Kommunikations- und Erfahrungsräume. Gleichwohl muss diese Aussage in zweierlei Hinsicht relativiert werden. Zum einen waren die Vorstellungs- und Erfahrungsräume keineswegs deckungsgleich wie auch von unterschiedlichem Ausmaß; auch über die Frage, wo Europa territorial endet, wurde noch lange Zeit (und im Grunde bis heute) gestritten. Zum anderen gab es immer schon viele unterschiedliche Europa-Vorstellungen und folglich auch eine Reihe von Dissonanzen. Mit diesen Dissonanzen konnten, ja mussten die Zeitgenossen damals leben. In der Geschichtswissenschaft wird inzwischen sogar die Ansicht vertreten, dass man diese religiösen und zwischenstaatlichen Konflikte gar nicht ausschließlich negativ bewerten sollte. So erläutert der in Frankreich lehrende Historiker Wolfgang Kaiser: »Im 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war der europäische Raum ohne Zweifel ein Laboratorium zur Entwicklung von Formen der Konfliktregulierung; die Religionskriege stellten in dieser Hinsicht einen wichtigen Gärstoff dieses Prozesses dar.«47 Die verschiedenen Konflikte seien ein Laboratorium gewesen, um Konfliktregulierung zu erlernen – kein Bremsfaktor also, sondern eher ein Beschleunigungsfaktor. In dieselbe Richtung argumentiert die zunächst etwas paradox erscheinende Ansicht, dass sich in der religiösen Konkurrenzsituation seit dem 16. Jahrhundert eine religiöse Pluralität herausbildete, die auch Chancen eröffnete. Konfessionalisierung bedeutete eben nicht nur Disziplinierung, Verfolgung oder Flucht, sondern ermöglichte auch eine ganze Bandbreite an Handlungsoptionen: Konversionen, Rekonversionen, situative Anpassungsleis-

47

losigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas«, in: Zeitschrift für Historische Forschung 24 (1997), S. 509–574. Wolfgang Kaiser, »Quelle Europe?«, in: ders., L’Europe en conflits. Les affrontements religieux et la genèse de l’Europe moderne vers 1500 – vers 1650, Rennes 2009, S. 11–16, hier S. 13 (Übersetzung von Nikola Tietze).

66

tungen und religiöse Indifferenz eingeschlossen.48 Konflikte wie die religiöse Pluralität sind also auch eine wirkungsmächtige Signatur des frühneuzeitlichen Europa. In diesem Sinne stellt sich in der Tat die Frage nach dem Raum nochmals neu: Wo liegt dieses Europa, wie weit reicht es, wie ist es konstituiert? Muss man es überhaupt lokalisieren? Wenn im Zuge der europäischen Integration in jüngerer Zeit vermehrt von Europa als Raum die Rede ist, dann ist Europa als politischer Raum dabei für viele immer noch eher Ideal als Realität. Dagegen sind der Schengen-Raum, der europäische Wirtschaftsraum, der europäische Rechtsraum, der europäische Forschungsraum oder auch das Europa der Regionen (im Plural) etablierte Begriffe räumlicher Ordnungen. Historisch betrachtet ist die räumliche Komponente allerdings eine relativ junge Erscheinung. Peter Burke folgend, war Europa lange Zeit eher eine Idee als ein Ort.49 Der Name stammt von einer Figur der griechischen Mythologie, im Mittelalter stand der Begriff vor allem für die christliche Ökumene. Hinzu kommt, dass Europa sich nicht einmal territorial so leicht als Figur der Einheit konstruieren ließ, weil der Kontinent nur den westlichen Teil der eurasischen Landmasse ausmacht, seine Grenzziehung zu Asien immer wieder ausgehandelt wurde und dessen östliche Grenze sich im Laufe der Geschichte mehrfach verschoben hat. Trotzdem war Europa auch in der Frühen Neuzeit schon etwas mehr als eine Idee: Obgleich geografisch nicht leicht zu fixieren, war Europa ein von Konflikten geprägter Erfahrungsraum, ein durch die Kunst des Handelns und des Arrangements konstituierter, vor allem dynamischer Raum. Diese Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen sind vielleicht auf den ersten Blick unbefriedigend, doch andererseits liegt genau darin eine Chance, die Komplexität von Raumkonstitutionsprozessen zu studieren und genauer zu bestimmen. Es bleibt natürlich die Frage, weshalb das heute verbreitete Gefühl der Teilung oder Zersplitterung so viel Unwohlsein, bisweilen auch Protest, auslöst und wes48

49

Vgl. dazu Susanne Rau, Lutherische Konfessionalisierung in Hamburg. Zur Verstetigung eines kulturellen Ordnungsmusters (ca. 1550–1750), 2013, http:// www.db-thueringen.de/servlets/DocumentServlet?id=22398 [11. 7. 2014]. Peter Burke, »Did Europe Exist before 1700?«, in: History of European Ideas 1 (1980), S. 21–29.

67

halb viele Menschen entweder die europäische Einheit suchen oder ihr, im Gegenteil, den Rücken zukehren. Vielleicht benötigen manche Menschen die Fiktion der Einheit Europas, andere die Fiktion der Autonomie der Regionen. In beiden Vorstellungen liegen Fiktionen einer besseren Gesellschaft, die auf eine möglichst homogene Konstitution gesellschaftlicher Raumordnungen abzielen.

Konsequenzen für gegenwärtige Europa-Konzepte Lebten wir noch in der Frühen Neuzeit, könnte man sagen, man müsse aus der Geschichte lernen (»historia magistra vitae«). Heute hat Geschichte andere Funktionen als die der Lehrmeisterin. Dennoch lässt sich aus der kurzen Skizze zu Europa als Begriff, Vorstellung und Raum in der Vormoderne etwas ableiten: zum einen, dass man die heute gesuchte Einheit Europas nicht gerade in die Geschichte hineinprojizieren muss, um daraus ein Argument für die Gegenwart abzuleiten, wie Europa sein sollte; zweitens, dass es auch schon in der Geschichte Dissonanzen und Heterogenitäten gegeben hat. Vielleicht wäre dies dann ein Schluss, den man aus der Geschichte ziehen könnte? Jedenfalls scheint es mir eine falsche Annahme zu sein, dass sich europäische Identitäten notwendigerweise auf einen territorialen Raum beziehen müssen. Schließen möchte ich daher mit einer Überlegung des Historikers Jochen Hoock, die dieser im Zusammenhang mit der Entwicklung des europäischen Völkerrechts formuliert hat.50 In der »Kritik der reinen Vernunft« schrieb Kant gegen die Monadologie von Leibniz gewandt: Die Verschiedenheit der Örter mache die Vielheit und Unterscheidung der Gegenstände als Erscheinungen, ohne weitere Bedingungen, schon für sich nicht allein möglich, sondern auch notwendig. Auf den hier diskutierten Zusammenhang bezogen, könnte damit gemeint sein: Europa lässt sich – aufgrund der Verschiedenheit der Örter und Regionen sowie der Vielfalt der Grenzsituationen – nicht auf eine einzige Raumordnung reduzieren. Etienne Balibar hat im Anschluss 50

Jochen Hoock, »Jus Publicum Europaeum. Zur Praxis des europäischen Völkerrechts im 17. und 18. Jahrhundert«, in: Der Staat 50 (2011), S. 422–435, bes. S. 434 f.

68

an Edward Said51 daraus den Schluss gezogen, dass es unmöglich sei, die Geschichte Europas als eine Geschichte reiner Identitäten (»pure identities«) darzustellen. Europa ähnele, so gesehen, einer Reihe ineinandergefügter Randzonen; die Heterogenität der Regionen könne in dieser Hinsicht nur mediatisiert und nicht eliminiert werden.52 Das ist auch ein Plädoyer dafür, Europas Heterogenität zu akzeptieren, gerade weil sie politisch vermittelt werden kann.

51

52

Said war der Ansicht, dass »Geografie«, also die Festlegung eines begrenzten Territoriums, nicht die Lösung für den Konflikt zwischen Israel und Palästina sei. Etienne Balibar, Europe as Borderland. The Alexander von Humboldt Lecture in Human Geography, University of Nijmegen, 10. November 2004, S. 13, http://gpm.ruhosting.nl/avh/Europe%20as%20Borderland.pdf [11. 7. 2014]. Vgl. ebenda, S. 13: »Which leads to the political conclusion that Europe’s heterogeneity can be politically mediated, but cannot be eliminated. In this sense, only a ›federal‹ vision of Europe, preserving its cultural differences and solidarities, can provide a viable historical project for the ›supra-national‹ public sphere«.

69

Nikola Tietze

»Räume und Träume«: Ordnungsimaginationen in der Europäischen Union »Die Raumbilder sind Träume der Gesellschaft«, erklärt Siegfried Kracauer.1 Sie verweisen auf gesellschaftliche Ordnungszusammenhänge, die soziale und politische Wirklichkeiten festlegen, deren wirklichkeitskonstituierende Macht jedoch nicht thematisiert wird. Bezieht man Kracauers methodische Überlegungen auf die Europäische Union (EU ), gewinnt man den Eindruck, dass in der EU viel und verworren geträumt wird. Spätestens mit der im Februar 1986 unterzeichneten Einheitlichen Europäischen Akte, die den »Binnenmarkt« als »einen Raum ohne Binnengrenzen« definiert, taucht der Raumbegriff in deutschsprachigen Beschreibungen der Verfahren, Organisationen und rechtlichen Ausgestaltungen der EU wie auch in Sinnzuschreibungen zum politischen Gebilde, welches die EU darstellt, auf.2 Dadurch entstehen Raumbilder, mit denen, gesellschaftliche Handlungszusammenhänge fixiert, normative Geltungsbereiche differenziert und politische Kompetenzen verteilt wie auch 1

2

Siegfried Kracauer, »Über Arbeitsnachweise. Konstruktionen eines Raumes« (1926), in: ders., Schriften, Frankfurt am Main 1990, Bd. 5, S. 185–192, hier S. 186. Kracauer beschreibt in seinem Text »Über Arbeitsnachweise« die Stellung der Arbeitslosen in Berlin Ende der 1920er Jahre. Dafür besuchte er unter anderem Arbeitsvermittlungsstellen, um so den »Raum des Arbeitsnachweises« erfassen und »die Wirklichkeit« der Arbeitslosen beschreiben zu können (ebenda, S. 186). Artikel 13, Einheitliche Europäische Akte, Amtsblatt der Europäischen Union L 169. Für das deutsche Wort Raum in offiziellen EU -Dokumenten wird zum Beispiel im Englischen area, im Französischen espace, im Polnischen przestrzen, ´ im Tschechischen oblast und im Schwedischen område gebraucht. Das französische Wort espace kommt der deutschen Bedeutung des Worts Raum nah. Das schwedische Wort område kann auch für Territorium benutzt werden, während das tschechische Wort oblast so viel wie Bereich heißt. Das polnische Wort przestrzen´ bezeichnet einen topologischen Raum, etwa ein mathematisches Feld. Das englische Wort area verweist auf ein Gebiet, ein Distrikt oder auch auf ein Territorium; vgl. Rob Shields, »Knowing Space«, in: Theory Culture Society 23 (2006), Heft 2–3, S. 146–149.

70

Zugehörigkeiten definiert und hierarchisiert werden. Im Hinblick darauf stehen die »Räume und Träume« für die Imagination von Ordnungen in der EU . »Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne störende Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrücken.«3 Es mag dahingestellt bleiben, wie unbewusst die Raumbezeichnungen in der EU sind oder, mit Kracauer formuliert, wie luzid auf der Basis von Interessenkonkurrenzen und wechselnden Machtkonstellationen Räume in der EU geträumt und Ordnungen imaginiert werden. An dieser Stelle liegt das Augenmerk lediglich darauf, dass die Räume der EU politische Ordnungsversuche widerspiegeln, begründen sowie bekräftigen. Die Beschreibungskategorie »Raum« schwemmt gewissermaßen die Träume der EU an eine beobachtbare Oberfläche und öffnet dadurch die mit dem Raumbild imaginierte Ordnung für Deutungen.4 Im Hinblick darauf wird im Folgenden zunächst der Karriere des Raumbegriffs in der EU nachgegangen. Daran anschließend soll am Beispiel des Bilds vom »Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts« nach den Handlungszusammenhängen, die mit diesem Raumbild organisiert und strukturiert werden, gefragt werden. Hier gilt das Untersuchungsinteresse vor allem den Rechtsbeziehungen, die mit dem »Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts«5 geschaffen werden. Schließlich geht es um die Semantiken, die durch die Beschreibungskategorie »Raum« im Zusammenhang mit der EU aufgerufen werden. Die Antworten auf diese Fragen werden aus EU -Dokumenten herausgearbeitet: aus Verträgen, Richtlinien, Erklärungen im EU -Internet-Portal, Broschüren der EU etc. Diskutiert wird dabei jeweils das Verhältnis, in dem die Raumsemantiken der EU zur Territorialität ihrer Mitgliedstaaten stehen. Der empirische Blick konzentriert sich auch in diesem Zusammenhang auf den

3 4

5

Kracauer, »Über Arbeitsnachweise«, S. 186. Kracauer verstand Oberflächenphänomene als Zugang zur Grundstruktur gesellschaftlicher Verhältnisse und bezeichnete solche Oberflächenphänomene als Traumbilder, die durch eine Oberflächenanalyse gedeutet werden müssen, vgl. Helmut Stalder, Siegfried Kracauer. Das journalistische Werk in der »Frankfurter Zeitung«, Würzburg 2003, S. 168–169. Die Europäische Kommission, http://europa.eu/legislation_summaries/justice _freedom_security/index_de.htm [24. 7. 2014].

71

»Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts«, den die Mitgliedstaaten der EU mit dem Amsterdamer Vertrag beschließen und den die EU -Organe – vor allem die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, der Rat der EU und der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) – ab 1999 organisatorisch wie rechtlich ausgestalten.

Die Karriere des Raumbegriffs in der EU Vor der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA , unterzeichnet am 17. Februar 1986 in Luxemburg) spielte der Raumbegriff in den Dokumenten der Europäischen Gemeinschaften keine prominente Rolle. Im Vertrag von Rom zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG -Vertrag, unterzeichnet am 25. März 1957) fehlt er vollkommen. Doch setzt dieser Vertrag die Voraussetzungen für die Karriere des Raumbegriffs in der EU . »ENTSCHLOSSEN , durch gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Länder zu sichern, indem sie die Europa trennenden Schranken beseitigen«,6 legten die unterzeichnenden Mitgliedstaaten der EWG die Grundfreiheiten – Warenverkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit – fest, die für die Europäischen Gemeinschaften und für die Europäische Union spezifisch sind. Dreh- und Angelpunkt der europäischen Grundfreiheiten ist das Verbot »jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit«7. Das vorrangige Ziel der EWG -Staaten war 6 7

Präambel des EWG -Vertrags, S. 3 (Hervorhebung im Original). Artikel 7 EWG -Vertrag. Zur Verbindung zwischen den Grundfreiheiten der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union erklärt Theresa Wobbe: »Mit dem Diskriminierungsverbot aufgrund der Staatsangehörigkeit (eines Mitgliedstaates) wird ein Prinzip in die Gründungsverträge eingeführt, das die Gleichheit des Zugangs zu den nationalen Rechtsordnungen vorgibt. Die Verknüpfung von Diskriminierungsverbot mit den vier Grundfreiheiten stellt ein wichtiges Vehikel zur Herstellung einer staatsübergreifenden Gleichheit im Binnenmarkt dar.« Theresa Wobbe, »Die ›Europäische Union‹ als transnationale Vergesellschaftung: Eine inklusionstheoretische Sicht«, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Transnatio-

72

die »Errichtung eines Gemeinsamen Marktes«, durch den sie sich für das jeweils eigene Land – in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet – wirtschaftliches Wachstum versprachen.8 Dem Konstrukt des Gemeinsamen Marktes liegt das Bild eines Wirtschaftsraums zugrunde, der mithilfe der europäischen Grundfreiheiten und dank des Diskriminierungsverbots fixiert worden ist. Mit Kracauer kann er als Traum verstanden werden, der auf eine supranationale Ordnung ökonomischer Handlungszusammenhänge zielt. Zugleich generiert dieser Traum Handlungszusammenhänge und Ordnungsversuche, die für den Gemeinsamen Markt spezifisch sind. Diesen Zusammenhang zwischen Ordnungsimagination und Genese von Handlungszusammenhängen verdeutlichen zum Beispiel die europäisch transnational mobilen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für die die offizielle Kategorie des europäischen Arbeitnehmers geschaffen und eine Reihe von Regelungen getroffen wurde: etwa Vereinbarungen zur Verhinderung von Doppelbesteuerung, besondere Sozialversicherungsbestimmungen, eigene Status wie etwa der des Grenzgängers oder auch eine Richtlinie »über die schulische Betreuung der Kinder von Wanderarbeitnehmern«.9 Die Antworten auf die Interessen und Bedürfnisse europäisch mobiler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer standen von Beginn des Gemeinsamen Marktes an in einer Konkurrenz mit oder auch im Widerspruch zu Regelungen und Gewährleistungen nationalstaatlicher Arbeits- und Sozialordnungen. Sie übten darüber hinaus zunehmend Einfluss auf arbeits- und sozialrechtliche Regulierungen europäisch nicht mobiler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus. Vor diesem Hintergrund wurde es – unabhängig davon, ob das Grundrecht der Freizügigkeit wahrgenommen wurde oder nicht – auf der politischen Ebene erforderlich, die arbeitsrechtlichen und sozialrechtlichen Ordnungen der Mitgliedstaaten zu vergleichen und gegebenenfalls anzugleichen.

8 9

nale Vergesellschaftungen. Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main 2010, Wiesbaden 2013, S. 169–181, hier S. 174. Artikel 2 EWG -Vertrag. Vgl. Amtsblatt der Europäischen Union, L199, 6. 8. 1977, Richtlinie 77/486/EWG . Der Status des Grenzgängers bezieht sich auf Personen, die in einem Mitgliedsland arbeiten, ihren Wohnsitz aber in einem anderen Mitgliedsland haben.

73

Die Verabschiedung der EEA 1986, in der der Gemeinsame Markt als »Raum ohne Binnengrenzen« bezeichnet worden ist, kann als eine politische Antwort auf die Konkurrenzen und Widersprüche zwischen der imaginierten Ordnung des Gemeinsamen Marktes und den nationalstaatlichen Ordnungsimaginationen seiner Mitglieder gewertet werden. Die EEA steckte mit dem Bild vom »Raum ohne Binnengrenzen« den Rahmen ab, in dem seit Inkrafttreten der EEA die Mitgliedstaaten wie auch europäisch mobile und nicht mobile Unternehmerinnen, Unternehmer, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Konkurrenzen und Widersprüche zwischen den Ordnungen in Kompromisse oder auch Angleichungen auflösen müssen. Das Bild vom »Raum ohne Binnengrenzen« zwingt die Mitgliedstaaten wie auch die wirtschaftlichen Akteure dazu, die gesellschaftlichen Verhältnisse in dem abgesteckten Rahmen zu vergleichen. Bettina Heintze hat den Vergleich als ein konstitutives Element der Ordnung bezeichnet.10 Folgt man Heintzes Verständnis, wird mit dem – ein Vergleichen und Angleichen erzwingenden – Bild vom »Raum ohne Binnengrenzen« eine europäische Ordnung für die gesellschaftlichen Verhältnisse imaginiert. Diese Ordnung adressiert die Vertreter der territorialstaatlichen Mitglieder wie auch die nicht staatlichen Akteure. Umgekehrt, kann und muss sie von diesen Akteuren als eine politische Ebene adressiert werden. Das Bild vom »Raum ohne Binnengrenzen« verwischt die Unterscheidung zwischen den ökonomischen Handlungszusammenhängen eines Wirtschaftsraums und dessen nicht ökonomischen Handlungszusammenhängen. Im Hinblick darauf erhebt es den Anspruch, ein allgemeines Ordnungsprinzip für die gesellschaftlichen Beziehungen widerzuspiegeln. Im Vertrag von Maastricht über die Europäische Union (unterzeichnet am 7. Februar 1992) wurde dieser Anspruch politisch präzisiert: Der »Raum ohne Binnengrenzen«, den die EEA für den Gemeinsamen Markt postulierte, zielte nunmehr auf »die Förderung eines ausgewogenen und dauerhaften wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts, insbesondere durch Schaffung eines Raumes ohne Binnengrenzen, durch Stärkung des 10

Bettina Heintz, »Numerische Differenz. Überlegungen zu einer Soziologie des (quantitativen) Vergleichs. Numerical Difference. Toward a Sociology of (Quantitative) Comparisons«, in: Zeitschrift für Soziologie 39 (2010), Heft 3, S. 162–181, hier S. 163.

74

wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts und durch Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion […]«.11 In dieser Formulierung geht es nicht nur um wirtschaftliches Wachstum und ökonomische Regulierung, sondern auch um »sozialen Fortschritt« und »sozialen Zusammenhalt«. Das Bild vom »Raum ohne Binnengrenzen« hat dadurch eine neue Qualität erworben: Die imaginierte Ordnung will über die ökonomischen Handlungszusammenhänge hinausweisen und sich auf die gesellschaftlichen Beziehungen insgesamt richten. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass die Bezeichnung »Europäischer Wirtschaftsraum« (EWR ) nach dem Vertrag von Maastricht für den Zusammenschluss der EU mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA ) benutzt wurde – einem Zusammenschluss, der den Gemeinsamen Markt in seiner marktwirtschaftlichen Reichweite (nicht aber den »Raum ohne Binnengrenzen« in seiner allgemeinen gesellschaftlichen Reichweite) auf Island, Liechtenstein und Norwegen ausdehnte. Mit dem Bild vom »Raum ohne Binnengrenzen« wird die europäische Ebene zu einer allgemeinen politischen Ordnungsdimension erklärt, die potenziell sämtliche gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge und potenziell alle Bereiche der gesellschaftlichen Beziehungen betrifft. Das Konzept des multilevel governance, das Liesbet Hooghe und Gary Marks in den 1990er Jahren entwickelt haben, ist letztendlich ein Ausdruck dafür, dass diese Ordnungsimagination sozialwissenschaftlich zur Kenntnis genommen worden ist und nunmehr als gesellschaftliche Wirklichkeit analysiert wird.12

11

12

Artikel B, Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992, Amtsblatt C191. Vgl. zum Beispiel: Gary Marks/Liesbeth Hooghe/Kermit Blank, »European Integration since the 1980s. State-Centric versus Multi-Level Governance«, in: Journal of Common Market Studies 34 (1996), Heft 3, S. 341–378. Den räumlichen Begriff arena [Arena, Bühne] verwendend, erläutern Liesbet Hooghe, Gary Marks und Kermit Blank für die Handlungszusammenhänge in der EU : »[…] political arenas are interconnected rather than nested. While national arenas remain important for the formation of state executive preferences, the multi-level model rejects the view that subnational actors are nested exclusively within them. Instead, subnational actors operate in both national and supranational arenas, creating transnational associations in the process. […] In this perspective, complex interrelationships in domestic politics do not stop at the nation-state, but extend to the European level« (ebenda, S. 346).

75

Der Vertrag von Amsterdam (unterzeichnet am 17. Januar 1997) hat den Vertrag über die Europäische Union fortgeschrieben. Neben institutionellen Reformen und Aufbau einer EU -Außenpolitik zielte er darauf, die Bedingungen für eine europäische Beschäftigungspolitik und für die Gewährleistung der zivilen Rechte der Bürgerinnen und Bürger in der EU zu schaffen. Diese beiden Zielsetzungen bekräftigten den Anspruch der EU , eine Ordnungsinstanz für sämtliche (nicht nur ökonomische) Handlungszusammenhänge im »Raum ohne Binnengrenzen« zu sein. Die Einigung der unterzeichnenden Mitgliedstaaten, einen »Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts« aufzubauen, führt dies deutlich vor Augen. Mit ihm kam in der Ordnungsimagination ein weiteres zentrales Raumbild ins Spiel, dem im Folgenden genauer nachgegangen wird. Hier sei lediglich bemerkt, dass mit diesem Raumbild der »Raum ohne Binnengrenzen« Außengrenzen erhält. Denn »der Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts« »vergemeinschaftet« die Erteilung von Asylrecht, Visavergabe, Einwanderungspolitik und andere Politiken des freien Personenverkehrs.13 In dieser Hinsicht erklärte die EU Kommission: »[…] die Abschaffung der Binnengrenzen erfordert eine strengere Kontrolle der Außengrenzen der Union sowie strengere Vorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen aus Drittstaaten.«14 Das Raumbild des zivil- und mobilitäts- sowie einwanderungsrechtlichen Ordnungsanspruchs steht in einem engen Zusammenhang mit dem des »Schengen-Raums«, der auf die zwischenstaatlichen Schengener Abkommen einiger EU Mitgliedstaaten 1985 zurückgeht und durch gemeinsame Bestimmungen und Verfahren in der Visavergabe, Bearbeitung von Asylanträgen und bei Grenzkontrollen definiert worden ist.15 13

14

15

http://europa.eu/legislation_summaries/institutional_affairs/treaties/amster dam_treaty/a11000_de.htm [24. 7. 2014]. Vgl. Auch Monika Eigmüller, Grenzsicherungspolitik. Funktion und Wirkung der europäischen Außengrenze, Wiesbaden 2008. http://europa.eu/legislation_summaries/justice_freedom_security/free_movement_of_persons_asylum_immigration/index_de.htm [25. 7. 2014]. Nicht alle EU -Mitgliedstaaten, die im »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« eingeschlossen sind, gehören dem »Schengen-Raum« an. Irland wie Großbritannien und Rumänen wie Bulgarien wollen entweder die Grenzkontrollen nicht abschaffen oder aber erfüllen nicht die Voraussetzungen, um die Regeln der Schengener Abkommen anzuwenden. Die Schweiz wiederum ist seit

76

In der Retrospektive betrachtet, setzten die EU -Mitgliedstaaten mit dem Vertrag von Amsterdam die Voraussetzungen für die Produktion immer weiterer Raumbilder: Im Mai 1999 einigen sich die für Raumentwicklung zuständigen Minister der EU -Mitgliedstaaten auf das sogenannte Europäische Raumentwicklungskonzept (EUREK ), mit dem »sich Mitgliedstaaten und Kommission auf gemeinsame räumliche Ziele beziehungsweise Leitbilder für die zukünftige Entwicklung des Territoriums der Europäischen Union [verständigen].«16 Mit der Bologna-Erklärung vom 19. Juni 1999 entwarfen die Bildungsminister der EU -Mitgliedstaaten einen »Europäischen Hochschulraum« (EHR ).17 Auf dem Europäischen Rat 2000 in Lissabon wurde der »Europäische Forschungsraum« (EFR ) ins Leben gerufen.18 Die EU -Kommission und die Europäische Zentralbank (EZB ) sprechen vom »Euroraum«, der – wie eine interaktive Karte auf der Internetseite der EZB zeigt – von 1999 bis 2014 immer mehr nationalstaatliche Hoheitsgebiete innerhalb der EU umschließt.19 In ihren Erläuterungen zur Infrastrukturpolitik haben die Vertreter der EU -Kommission einen »europäischen Verkehrsraum« konzipiert, für den die »Schaffung eines einheitlichen europäischen Luftraums« grundlegend ist.20 Insgesamt führen diese Raumbilder in den »Raum 2008 Mitglied des »Schengen-Raums«, ohne Mitglied des »Raums der Freiheit,

16

17

18

19

20

der Sicherheit und des Rechts« zu sein. Allerdings ist mit dem schweizerischen Referendum zur Einwanderung am 9. Februar 2014 der freie Personenverkehr in der Schweiz eingeschränkt worden. Insofern stellt sich die Frage, ob die Schweiz noch als ein volles Mitglied des »Schengen-Raums« angesehen werden kann. Europäische Kommission (Hg.), EUREK . Europäisches Raumentwicklungskonzept. Auf dem Wege zu einer räumlich ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung der Europäischen Union, Luxemburg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 1999. Vgl. dazu auch Tobias Chilla und Sebastian Büttner in diesem Band. Vgl. The Bologna Declaration of 19 June 1999, in der die Schaffung der »European Higher Education Area« angekündigt wird, http://europa.eu/legislation _summaries/education_training_youth/lifelong_learning/c11088_de.htm [25. 7. 2014]. http://europa.eu/legislation_summaries/employment_and_social_policy/ eu2020/growth_and_jobs/i23037_de.htm [25. 7. 2014]. https://www.ecb.europa.eu/euro/intro/html/map.de.html [25. 7. 2014]. Die Kommission benutzt für den Euroraum auch die Schreibweise »Euro-Raum«. Vgl. zum Beispiel die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialaus-

77

ohne Binnengrenzen« Strukturen ein, die die gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge ordnen und, wie Maurizio Bach und Georg Vobruba erklären, Europa zu einem »Konfliktraum« werden lassen.21 Die Vertreter der EU -Organe scheinen die konflikttheoretische Perspektive der beiden Soziologen auf das politische Gebilde der EU nicht zu teilen. Folgt man einer Broschüre der Kommission zur Erweiterung der EU von 2004, entsteht der Eindruck, dass erst dank solcher strukturierender »Unterräume« der gesamte »EU Raum« zu einem Hort »des Friedens, des Wohlstands und der Stabilität« mit »einer größeren Sicherheit für alle Bürger« wird.22 Als ein solcher Hort weist die Europäische Union, die selbiger Broschüre zufolge im Übrigen »ihrem Wesen nach dazu bestimmt [ist], zu wachsen«,23 über die nationalstaatlichen Territorien der EU -Mitglieder hinaus beziehungsweise überlagert sie.

»Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts«: Handlungszusammenhänge ordnen Angesichts der Tatsache, dass die Raumbilder der EU über die nationalstaatlichen Territorien der EU -Mitglieder hinausweisen oder diese überlagern, stellt sich die Frage, welche Handlungen und Handlungskonstellationen mit dem EU -Raumbegriff beschrieben und aufeinander bezogen werden und welche Konsequenzen dies für die nationalstaatliche Territorialität der EU -Mitglieder hat. Dem soll im folgenden Abschnitt am Beispiel der Einrichtung des »Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts « nachgegangen werden.

21

22

23

schuss und den Ausschuss der Regionen COM (2012) 556 final, Brüssel, den 27. 9. 2012. Maurizio Bach/Georg Vobruba, »Einleitung zum Plenum: Europa als Konfliktraum. Soziale Konflikte und institutionelle Integration der Europäischen Union«, in: Soeffner (Hg.), Transnationale Vergesellschaftungen, S. 167–168, hier S. 167. Generaldirektion Presse und Kommunikation der Europäischen Kommission, Mehr Einheit und mehr Vielfalt. Die größte Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union, Luxemburg 2003, S. 4. Ebenda, S. 3.

78

Beschlossen mit dem Vertrag von Amsterdam 1999 und politisch bekräftigt im Vertrag von Lissabon 2007, umschließt der »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« verschiedene, in den EU Mitgliedstaaten im Allgemeinen institutionell oder organisatorisch differenzierte Ordnungszusammenhänge: die Grenzkontrolle, die Verwaltung und Regulierung von Asyl wie auch Einwanderung, die justizielle Zusammenarbeit in Zivil- wie Strafsachen und die polizeiliche Kooperation zwischen den EU -Mitgliedern. Das Raumbild lässt diese verschiedenen Ordnungszusammenhänge ineinander greifen. Jedoch strukturieren zwei Generaldirektionen der Kommission – die Generaldirektion Justiz und die Generaldirektion Inneres – den »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts«, wodurch letztendlich im Raumbild eine Gewaltenteilung zwischen Judikative und Exekutive nach dem Modell der national- und rechtsstaatlich organisierten Demokratie hergestellt wird. Die Generaldirektion Justiz ist für die Ausgestaltung des Raumbildes nach innen zuständig, das heißt für »die Schaffung eines Europäischen Rechtsraumes«,24 den in normativer Perspektive die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Unionsbürgerschaft und die Verträge der Europäischen Gemeinschaften wie der Europäischen Union umreißen. Gegliedert in vier Direktionen koordiniert sie die Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen zwischen den EU -Mitgliedsstaaten und hat zur Aufgabe, die Gleichbehandlung der Unionsbürgerinnen und -bürger zu gewährleisten, Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit wie auch aufgrund der Religion, Herkunft, des Alters etc. zu bekämpfen und die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern.25 Im Hinblick auf diese Aufgabe setzt die Generaldirektion Justiz das Diskriminierungsverbot um 24

25

http://ec.europa.eu/justice/ ev/mission/vision/index_de.htm [10. 8. 2014]. . m Europäischen Rechtsraum auch Monika Eigmüller in diesem Band. Die vier Direktionen der Generaldirektion Justiz sind Ziviljustiz, Strafjustiz, Grundrechte sowie Unionsbürgerschaft und Gleichstellung. Darüber hinaus stützt sich die Generaldirektion Justiz auf vier Agenturen: die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht in Lissabon (EBDD ), die Einheit für justizielle Zusammenarbeit der EU in Den Haag (Eurojust), die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte in Wien (FRA ) und das Europäische Institut für Gleichstellung in Vilnius (EIGE ). Diese Agenturen beraten die Direktionen, erarbeiten Strategien zur Umsetzung der Politik der Generaldirektion und erstellen Berichte zu den einzelnen Tätigkeitsfeldern der Generaldirektion.

79

und durch, das, wie im vorausgehenden Abschnitt schon erwähnt, für die Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen in der EU fundamental und konstitutiv ist. Das Diskriminierungsverbot wurde zunächst marktfunktional verstanden und sollte die Gleichbehandlung der Staatsangehörigen im Wettbewerb um Beschäftigung, Absatz- und Produktionssteigerung sicherstellen. Im Zuge der Integration des »Raums ohne Binnengrenzen« entwickelte es dann jedoch eine eigene Dynamik und musste auf immer weitere Gleichbehandlungsgebote ausgeweitet werden.26 Die Generaldirektion Inneres sichert den »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« nach außen ab. Die Aufgaben und Kompetenzen der sie gliedernden Direktionen – Innere Sicherheit, Migration und Asyl, Koordination sowie Verwaltung des Schengenraums und schließlich »Strategie und Ergebnissteuerung« – ziehen die Grenzen dieses Raumbilds.27 Allerdings handelt es sich bei diesen Grenzen weder um lineare Grenzen, die mit denen der nationalstaatlichen Territorien der EU -Mitglieder vergleichbar sind, noch um bewegliche frontiers, an denen die EU ihre Expansion aushan26

27

Die europäische Politik zur Gleichstellung von Frauen und Männern beginnt mit der Gründung des Gemeinsamen Marktes. Auf Betreiben Frankreichs, wo seit 1946 die Lohngleichheit von Frauen und Männern verfassungsrechtlich verankert ist und aufgrund dessen Wettbewerbsnachteile auf dem Gemeinsamen Markt befürchtet wurden, ist in Artikel 119 EWG -Vertrag der Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit festgelegt worden. Die europäische Gleichstellungspolitik richtete sich also zunächst auf die Regulierung des Wettbewerbs auf dem europäischen Arbeitsmarkt, bevor sie etwa in Form von Gender Mainstreaming oder Quotierungsempfehlungen für Aufsichtsräte ihre Perspektive auf die allgemeinen gesellschaftlichen Beziehungen ausweitete. Vgl. Theresa Wobbe/Ingrid Biermann, Von Rom nach Amsterdam. Die Metamorphosen des Geschlechts in der Europäischen Union, Wiesbaden 2009. Wie die Direktionen der Generaldirektion Justiz werden die Direktionen der Generaldirektion Inneres durch Agenturen unterstützt. Die Direktion Innere Sicherheit arbeitet mit der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht in Lissabon (EBDD ), mit Europol in Den Haag und der Europäischen Polizeiakademie (Cepol) in Bramshill (Großbritannien) zusammen. Die Direktion Migration und Asyl erhält ihre Expertise vom Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO ) in Malta. Die Direktion für die Koordination und Verwaltung des Schengenraums baut auf der Europäischen Agentur für operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (Frontex) mit Sitz in Warschau und der Europäischen Agentur für IT-Großsysteme in Tallin auf.

80

delt oder erstreitet. Vielmehr führen die Aufgaben und Kompetenzen der vier Direktionen der Generaldirektion Inneres dazu, dass sich diese Außengrenzen in bestimmten Handlungszusammenhängen materialisieren und dadurch an verschiedenen Orten – geografisch gesehen an Orten in den einzelnen Mitgliedsländern (etwa auf einem Flughafen oder Autobahnmautstelle) und an Orten außerhalb des europäischen Kontinents (etwa in der marokkanischen Hafenstadt Tanger) – sichtbar werden.28 Mit den Strukturen des »Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts«, die durch die Aufgaben und Kompetenzen der Generaldirektionen Justiz und Inneres manifest werden, werden die mit dem europäischen Integrationsprozess entstehenden Handlungszusammenhänge und die aufgrund dessen charakterisierten Probleme der Handlungskoordination ein- und zugeordnet – wie etwa die Regelung des Sorgerechts für Kinder nach Ehescheidungen, wenn ein Elternteil in ein anderes EU -Mitgliedsland umzieht, oder die Gewährleistung sozialer Sicherheit für europäische mobile Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder die Förderung von Regionen an den sogenannten Außengrenzen der EU . Dank dieser Strukturen können einerseits verschiedene Akteure – von der individuellen Unionsbürgerin und dem individuellen Unionsbürger über Korporationen wie zum Beispiel Gewerkschaften oder Wohlfahrtsverbände bis hin zu den EU -Mitgliedstaaten selbst – sich im »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« verorten und diesen für ganz unterschiedliche, mitunter widerstreitenden Zielsetzungen adressieren und nutzen, um ihre Interessen zu verfolgen.29 Andererseits führen diese Strukturen hierarchisierende Kategorisierungen und Verfahren ein, durch die das Bild vom »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« ein Instrument zur Durchsetzung von EU -spezifischen Herrschaftsformen wird und zugleich Machtverhältnisse in der EU widergespiegelt werden. So mussten zum Beispiel Bürgerinnen und Bürger aus Rumänien und Bulgarien bis 2014 warten, um wie deutsche oder französische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger die volle Freizügigkeit in der EU in Anspruch nehmen zu können. Nicht zuletzt führen die Kriterien, die die EU -Mitgliedstaaten gemeinsam und in Rückbindung an die Generaldirektion 28 29

Vgl. dazu auch Lena Laube und Steffi Marung in diesem Band. Vgl. dazu auch Steffi Marung in diesem Band.

81

Inneres und deren Koordination des Schengenraums für die VisaErteilung anwenden, die Hierarchien im Zugang zu Handlungszusammenhängen in der EU vor Augen. Darüber hinaus generieren die Strukturen des »Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« EU -spezifische Akteursgruppen. Exemplarisch dafür stehen die Agenturen, die die Generaldirektionen Justiz und Inneres unterstützen. So erarbeitet etwa die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA ) Informationen und Daten im Hinblick auf die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger in der EU und bereitet diese auf, um einerseits die Öffentlichkeit über die Grundrechte zu unterrichten wie auch aufzuklären und um andererseits Strategien für die Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik der Generaldirektion Justiz zu entwickeln. FRA gliedert ihre Daten ebenso wie ihre Expertise thematisch und differenziert diese nicht (oder zumindest nicht in erster Linie und zentraler Weise) zwischen den EU -Mitgliedstaaten. Mit dieser thematisch ausgerichteten Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse unterscheidet sie sich von der European Commission against Racism and Intolerance (ECRI ) – der der FRA äquivalenten Organisation des Europarats, der aufgrund seines Selbstverständnisses als Staatenbund seine Politikbereiche nicht in Gestalt von europäischen Raumbildern ausgestaltet. Geht man den Handlungszusammenhängen nach, die mit dem Bild vom »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« geordnet und generiert werden, wird deutlich, dass dieses Raumbild ein Handlungsfeld bezeichnet und nicht topografisch-räumlich zu verstehen ist.30 Verallgemeinernd formuliert, strukturieren die EU Raumbilder – über die territorialen Räume der EU -Mitgliedsstaaten hinweg oder auch durch diese hindurch – Handlungszusammenhänge, hierarchisieren die in ihnen involvierten Akteure und rechtfertigen die In- oder Exklusion von Akteuren in oder aus den Handlungszusammenhängen. Gleichzeitig eröffnen sie vielfältigen (staatlichen wie auch nicht staatlichen, ökonomischen, wissenschaftlichen, justiziellen etc., in privater oder öffentlichen Angelegenheit handelnden) Akteuren die Möglichkeit, jenseits von den territorial30

Vgl. Petra Deger, »Europäisierung – Dimensionen der Genese europäischer Räume«, in: dies./Robert Hettlage (Hg.), Der europäische Raum: die Konstruktion europäischer Grenzen, Wiesbaden 2007, S. 145–165.

82

staatlichen Kategorien, Klassifizierungen oder auch Maßstäben der EU -Mitglieder Handlungsprobleme zu beschreiben, Herrschaftsformen wie auch Machtverhältnisse zu kritisieren und Handlungsbühnen für die Durchsetzung ihrer Interessen zu finden. Nicht zuletzt dienen die Raumbilder aufgrund ihrer Funktionen für die Ordnung und Generierung von Handlungszusammenhängen dazu, die EU und ihre Kompetenzen sowie deren Erweiterung zu legitimieren. Ein konstitutives Element dieser Legitimation sind das europäische Recht und seine kontinuierliche Fortentwicklung durch den EuGH . Die EU -Vertreter und Protagonisten stellen die nationalen territorialstaatlichen Geltungsbereiche für Rechtsetzung und -durchsetzung durch das europäische Recht und seine Fortentwicklung nicht infrage, gleichwohl aber verändern sie diese. Deutlich wird dies am Beispiel der Gewährleistung von Unionsbürgerstatus und Freizügigkeit – zwei zentralen Elementen des Aufgabenbereichs der Generaldirektion Justiz. Zwar besitzt jedes EU -Mitglied weiterhin die Souveränität, darüber zu bestimmen, wer Staatsangehöriger ist oder werden kann. Doch hat er einmal darüber entschieden, entlässt er seine Staatsangehörigen als Unionsbürgerinnen und -bürger in den »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« und verleiht ihnen das Recht auf Freizügigkeit, das die anderen EU Mitglieder ungefragt zu gewähren haben. Diese dürfen eine Unionsbürgerin oder einen Unionsbürger wie auch ihre oder seine Familienangehörigen nicht daran hindern, in ihrem Staatsgebiet zu wohnen, zu arbeiten, Bildungsförderungen und Gesundheitsdienste in Anspruch zu nehmen oder auch Sozialleistungen geltend zu machen.31 Im Ergebnis führen der Unionsbürgerschaftsstatus und die Freizügigkeit also dazu, dass alle EU -Mitgliedstaaten die souveräne Entscheidung eines der Mitglieder miteinander teilen.32 31

32

In einer umfangreichen Rechtsprechung hat der EuGH das Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger ausgestaltet, vgl. dazu Monika Eigmüller in diesem Band. Insofern hat er maßgeblich zur Schaffung des »Europäischen Rechtsraums« beigetragen, den die Generaldirektion Justiz umzusetzen versucht. Seit Februar 2004 erlaubt nicht nur die Unionsbürgerschaft, sondern auch eine aufgrund langfristigen rechtmäßigen Aufenthalts in einem Mitgliedsstaat erworbene Territoriumsangehörigkeit einer Person, das Recht auf Freizügigkeit in der EU wahrzunehmen, vgl. Amtsblatt der Europäischen Union, L16, 23. 11. 2003, Richtlinie 2003/109/EG betreffend der langfristig aufenthaltsberechtigten Dritt-

83

Die staatliche Souveränität zu teilen, hat jedoch in der EU zur Konsequenz, dass sich die für das Nationalstaatsmodell charakteristische symbiotische Verbindung zwischen nationalem Territorium und staatlichem Gewaltmonopol lockert. Das Handlungszusammenhänge ordnende Bild vom »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« schiebt sich gewissermaßen zwischen nationales Territorium und staatliches Gewaltmonopol. Das nationalstaatliche Territorium wie auch die Angehörigkeit zu diesem Territorium via Staatsangehörigkeit und Aufenthaltstiteln verlieren dadurch nicht an Bedeutung für die mit dem Raumbild adressierten Handlungszusammenhänge. Vielmehr werden sie zu einer eigenständigen Variablen in den jeweils adressierten Handlungszusammenhängen. Darüber hinaus verwandeln die Strukturen und organisatorischen Verfahren des »Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« – insbesondere im Bereich der Aufgaben und Kompetenzen der Generaldirektion Inneres – die nationalstaatlichen Territorien der EU Mitglieder mitunter in ausführende Verwaltungseinheiten, etwa um die Zuständigkeit der Bearbeitung eines Asylantrags zu bestimmen.33 Die europäische Ordnung der Handlungszusammenhänge wird hier ohne Umweg über die nationale Hoheitsgewalt mit den nationalstaatlichen Verwaltungsstrukturen verzahnt.34

33 34

staatenangehörigen. Im Hinblick darauf ist festzuhalten, dass sämtliche EU Mitgliedstaaten auch die Entscheidung eines Mitgliedstaats, einer Person einen langfristigen Aufenthaltstitel für sein Hoheitsgebiet zu erteilen, anzuerkennen haben und insofern miteinander teilen müssen. Zum Begriff der geteilten Souveränität in rechtswissenschaftlicher und politiktheoretischer Hinsicht vgl. Neil MacCormick, Questioning Sovereignty. Law, State, and Nation in the European Commonwealth, Oxford 1999. Kerstin Rosenow, Die Europäisierung der Integrationspolitik, Münster 2007. An dieser Stelle sei auf die Kritik von sozialwissenschaftlicher Seite an der europäischen Asylpolitik hingewiesen, die die Garantie von Menschenrechten und Grundfreiheiten wie auch die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit infrage stelle. Vera Gowlland-Debbas betont in Bezug auf die Harmonisierung der Asylregeln im Schengenraum und der daraus folgenden Einschränkungen des nonrefoulement-Prinzips: »[…] by the development of what has been termed a two-tier human rights system – that is, one that grants citizens in most sophisticated protection from human rights abuses yet excludes from full human rights protection unwanted aliens branded as ›illegal‹ or those in an ›irregular‹ situation – Europe faces the risk of undermining this very identity.« Vera GowllandDebbas, »European Asylum Policies and the Search for a European Identity«,

84

Vor dem Hintergrund der beschriebenen Wirkungen des »Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« auf das Verhältnis von nationalem Territorium und staatlicher Souveränität der EU -Mitglieder erscheint der »Europäische Rechtsraum«, in dem die Organe der EU in Zusammenarbeit mit und gleichzeitig in Konkurrenz zu den EU -Mitgliedern Recht setzen, auslegen und durchsetzen, einerseits als ein zwischen den Gewaltmonopolen der EU -Mitglieder vermittelndes Rechtsinstitut. Er stützt hier gewissermaßen den Prozess ab, in dem die EU -Mitglieder ihre staatliche Souveränität teilen und eine europäische Form der Staatlichkeit aus Elementen ihrer einzelnen Hoheitsgewalten kombinieren. Andererseits handelt es sich um ein Rechtsinstitut, das rechtliche Zusammenhänge zwischen den nationalstaatlichen Territorien der EU -Mitglieder schafft, indem es Handlungsfelder festlegt und entsprechende Handlungszusammenhänge miteinander verkoppelt.

Raumsemantiken der imaginierten Ordnungen der Europäischen Union Am Beispiel des »Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« wird deutlich, welche Wirkungskraft die EU -Raumbilder auf die Strukturierung und Organisation von Handlungszusammenhängen besitzen und wie sie dadurch die Rechtsbeziehungen zwischen Individuen und nationalen EU -Mitgliedstaaten wie auch zwischen den EU -Mitgliedstaaten verändern. Doch können die EU Raumbilder diese Wirkungskraft und Veränderungen der Rechtsbeziehungen nur entwickeln, weil mit ihnen bestimmte – von den strukturierten und organisierten Handlungszusammenhängen relativ unabhängige und weit über die Rechtsbeziehungen hinaus generalisierbare – Bedeutungen aufgerufen werden.35 Im Hinblick darauf

35

in: Lars-Erik Cederman (Hg.), Constructing Europe’s Identity. The External Dimension, Boulder/London 2001, S. 213–229, hier S. 222. Zu raumbezogenen Semantiken im Allgemeinen vgl. Marc Redepenning, »Eine selbst erzeugte Überraschung: Zur Renaissance von Raum als Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft«, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 317–340.

85

gilt es, die Semantiken zu untersuchen, die dem Raumbegriff in EU Dokumenten zugeordnet werden und die in die EU -Raumbilder, insbesondere in das vom »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts«, einfließen. 1973 stellten die Verfasser des Dokuments über die europäische Identität fest, dass die Europäischen Gemeinschaften auf einem »gemeinsame[n] Erbe« beruhen, das sich aus den »Grundsätze[n] der repräsentativen Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit […] sowie der Achtung der Menschenrechte« zusammensetzt.36 Die Bekräftigung der politischen Kultur und des politischen Ethos, die in dem Dokument über die europäische Identität als Gemeinsamkeiten der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften herausgestellt worden sind, ist in variierenden Formulierungen bis heute ein fester Bestandteil der Vertragspräambeln und Erklärungen der EU -Organe. In den Kopenhagener Kriterien von 1993 ist zum Beispiel der Beitritt zur EU an die Gewährleistung dieser politischen Kultur und dieses politischen Ethos gebunden worden.37 In ihrer Abschlusserklärung des Europäischen Rates von Tampere erklärten die Regierungschefs der EU -Mitgliedstaaten 1999: »Die Europäische Integration war von Anfang an fest auf ein gemeinsames Bekenntnis zur Freiheit gegründet, das sich auf die Menschenrechte, demokratische Institutionen und Rechtsstaatlichkeit stützt. Es hat sich erwiesen, daß diese gemeinsamen Werte unerlässlich sind, um in der Europäischen Union Frieden zu gewährleisten und Wohlstand zu entwickeln. Sie werden auch Ecksteine für die Erweiterung der Union sein.«38 Um dieser politischen Kultur und diesem politischen Ethos gerecht zu werden, empfehlen sie eben jene »Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts«.39 Was aus dieser Empfehlung auf der strukturellen und organisatorischen Ebene geworden ist, wurde im vorausgehenden Abschnitt eingehender in den Blick genommen. Wesentlich für den hier entwickelten Gedankengang ist nunmehr die Tatsache, dass die Regierungsvertreter der EU -Mitgliedstaaten die von ihnen nachhaltig 36 37 38

39

Dokument über die europäische Identität 1973. Vgl. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Kopenhagen 1993. Europäischer Rat von Tampere, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 15./16. Oktober 1999, http://www.europarl.europa.eu/summits/tam_de.htm [12. 8. 2014]. Ebenda.

86

bekräftigte politische Kultur und das damit verbundene politische Ethos mit einem Raumbild – dem »Raum der Freiheit, des Rechts und der Sicherheit« – identifiziert haben. Indem eine politische Kultur und ein politisches Ethos auf ein Raumbild bezogen worden sind, wurden diesem Raumbild Kultur- und Ethiksemantiken zugeschrieben. Bemerkenswert für die semantische Konfiguration des »Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« ist, dass die Autoren entsprechender EU -Dokumente die Kultur- und Ethiksemantiken des Raumbegriffs in eine unmittelbare Nähe zum Begriff Sicherheit stellen. Dies führt zu Wechselwirkungen zwischen den grundrechtlichen, sozialrechtlichen und straf-, zivilrechtlichen Bedeutungen, die in EU -Dokumenten mit dem Raumbild zusammengefasst werden. Zum Beispiel bekommt das Recht auf Freizügigkeit der Unionsbürgerinnen wie Unionsbürger und Drittstaatenangehörigen mit langfristigen Aufenthaltstiteln im Zusammenklang mit dem Sicherheitsbegriff eine strafrechtliche Konnotation: »Freiheit und Recht können in der Realität nur in einem sicheren Umfeld gelebt werden«, erläutert die Kommission, weil die Bürgerinnen und Bürger nur »in einem sicheren Umfeld ihren Alltag bewältigen und ihren Geschäften nachgehen können, vor Verbrechen geschützt sind und gleichberechtigten Zugang zur Justiz haben, egal wo sie sich innerhalb der EU aufhalten.«40 Darüber hinaus steht das Freizügigkeitsrecht der Unionsbürgerinnen wie Unionsbürger und Drittstaatenangehörigen mit langfristigen Aufenthaltstiteln in Verbindung mit dem Sicherheitsbegriff unwillkürlich im Kontext mit der »Überwachung der Außengrenzen«, die sowohl in den einzelnen EU -Mitgliedstaaten als auch auf der Ebene der Europäischen Union kontinuierlich problematisiert wird. »Die Freiheiten können nur voll in Anspruch genommen werden, wenn die Europäische Union ihre Außengrenzen effektiv schützt.«41 Der Schutz der Außengrenzen »erfordert wiederum«, wie die Regierungsvertreter auf dem Ratstreffen in Tampere 1999 unterstrichen haben, »daß die Union gemeinsame Asyl- und 40

41

Europäische Kommission, Freiheit, Sicherheit und Recht für alle. Justiz und Inneres in der Europäischen Union, Generaldirektion Presse und Kommunikation 2004, http://ec.europa.eu/archive /publications/booklets/move/42/de.pdf [15. 10. 2010], S. 3. Ebenda, S. 23.

87

Einwanderungspolitiken entwickelt und dabei der Notwendigkeit einer konsequenten Kontrolle der Außengrenzen zur Beendung der illegalen Einwanderung und zur Bekämpfung derjenigen, die diese organisieren und damit zusammenhängende Delikte im Bereich der internationalen Kriminalität begehen, Rechnung trägt.«42 Dadurch, dass EU -Dokumente im Zusammenhang mit den Erläuterungen der europäischen Freiheits- und Grundrechte wie auch der europäischen Wirtschaftsordnung den Sicherheitsbegriff einführen, thematisieren sie kontinuierlich im Kontext von Rechtsstaatlichkeit und Gleichheitsgeboten illegale Zuwanderung, Drogenund Menschenhandel, Geldwäscherei und Terrorismus sowie die Kontrolle der »Außengrenzen«.43 Insofern gehen die kultur- und ethiksemantischen Zuschreibungen zu den Raumbildern mit der Definition von Alteritäten einher. Die Verfasser der EU -Dokumente bezeichnen mithilfe der Wechselwirkungen zwischen den Begriffen Freiheit, Recht und Sicherheit die Differenz zwischen dem, was zur EU gehören, und dem, was nicht zur EU gehören soll. »Wer schwere Straftaten begeht, soll keinen sicheren Zufluchtsort finden«, erklärt die Europäische Kommission.44 Hingegen steht der »Raum ohne Binnengrenzen« den ausländischen Arbeitskräften offen, die »die Bevölkerung verjüngen« und dem »Arbeitskräftemangel entgegenwirken«.45 Solche Arbeitskräfte werden gewissermaßen 42

43 44 45

Europäischer Rat von Tampere, Schlussfolgerungen des Vorsitzes. Semantische Wechselwirkungen haben Konsequenzen für die Ausrichtung staatlicher Politik und ihre Umsetzung, wie an Jef Huysmans Analyse der Migrationspolitik in der EU deutlich wird. Diese Politik sei ursprünglich unter sozio-ökonomischen Gesichtspunkten verhandelt und dann in den politischen Kontext der inneren Sicherheit gestellt worden: »The 1985 Schengen Agreement, now incorporated in the Treaty of Amsterdam, is an exemplary case of a political discourse that places the problem of migration explicitly in a security context in which questions of border controls, terrorism, crime, drugs, and immigration and asylum are interrelated.« Jef Huysmans, »European Identity and Migration Policy«, in: Lars-Erik Cederman (Hg.), Constructiong Europe’s Identity. The External Dimension, Boulder/London 2001, S. 189–211, hier S. 189. Vgl. Europäische Kommission, Freiheit, Sicherheit und Recht für alle. Ebenda, S. 12. Ebenda, S. 9. Ein Video auf der Internetseite, auf der die Generaldirektion Inneres ihre Politik im Bereich Immigration erläutert, erklärt nicht nur den Arbeitskräftemangel in einigen Wirtschaftsbereichen, sondern problematisiert auch den Zusammen-

88

als interne – rechtmäßige und gewinnbringende – Andere im Hort des »Friedens, des Wohlstands und der Stabilität« der EU anerkannt.46 In der Betrachtung der Karriere des Raumbegriffs in der EU ist herausgestellt worden, dass das Bild vom Raum ohne Binnengrenzen im Unterschied zum wirtschaftsräumlichen Bild vom Gemeinsamen Markt den Anspruch der EU vor Augen führt, eine allgemeine Ordnung für die gesellschaftlichen Beziehungen insgesamt zu errichten – und nicht nur für die ökonomischen Handlungszusammenhänge in den gesellschaftlichen Beziehungen. Die kultur- und ethiksemantischen Zuschreibungen zum »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« bekräftigen diesen Anspruch. Doch treten in der oben angedeuteten Definition der Alteritäten und in der Unterscheidung zwischen externen (außerhalb der EU -Grenzen situierten) und internen Alteritäten die ökonomischen Beweggründe der mit dem Anspruch verbundenen Ordnungsimagination hervor, das heißt beschäftigungspolitische und marktwirtschaftliche Interessen wie auch Anliegen bezüglich der Finanzierung von Sozialversicherungen.47 Sie implizieren, dass Unionsbürgerinnen und Unionsbürger wie Drittstaatenangehörige ohne Beschäftigung, ohne Krankenkassenversicherung und ohne ausreichende finanzielle Mittel aus der Ordnungsimagination der EU herausfallen. Diese Personengruppe ist, mit Kracauer formuliert, nicht Teil des Traums der

46

47

hang zwischen der alternden Bevölkerung in der EU und der Rentenfinanzierung, http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/what-we-do/policies/immigration/ index_en.htm [12. 8. 2014]. Generaldirektion Presse und Kommunikation der Europäischen Kommission, Mehr Einheit und mehr Vielfalt, S. 4. Diese ökonomischen Beweggründe treten auch in den gegenwärtig geltenden Bestimmungen des Freizügigkeitsrechts zutage. Obgleich der Unionsbürgerstatus und die Rechtsprechungen des EuGH die Bedingungen zur Wahrnehmung dieses Rechts und den sozialrechtlichen Schutz der dieses Recht wahrnehmenden Unionsbürgerinnen und Unionsbürger auf Drittstaatenangehörige ausgedehnt sowie die Einschränkungen, das Recht wahrnehmen zu können, begrenzt haben, so haben sie dennoch die beschäftigungspolitischen und marktwirtschaftlichen Interessen wie auch Anliegen bezüglich der Finanzierung der Sozialversicherungen nicht zum Verschwinden gebracht. Vgl. Das Europäische Parlament, Kurzdarstellungen zur Europäischen Union, Freizügigkeit der Arbeitnehmer, http://www.europarl.europa.eu/aboutparliament/de/displayFtu. html?ftuId=FTU _3.1.3.html [12. 8. 2014].

89

europäischen Gesellschaft, sondern gebunden an die national- und territorialstaatlichen Ordnungen der EU -Mitglieder sowie an deren jeweilige wohlfahrtsstaatliche Praxis.48 Die Kultur- und Ethiksemantiken, die den Raumbildern in der EU zugeordnet sind, schließen – nicht zuletzt aufgrund des Gleichbehandlungsgebots in der EU und seiner Tendenz, das Diskriminierungsverbot auf immer weitere Aspekte der gesellschaftlichen Beziehungen auszudehnen – die Achtung der »Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen« ein.49 Doch obliegt es den EU -Mitgliedstaaten zu bestimmen, wie weit diese Achtung und Gewährleistung des kulturellen Pluralismus gehen kann. Denn die »Union achtet« ebenfalls »die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten«, wie wiederum der EU -Vertrag festgelegt hat.50 Die mittels der Raumbilder imaginierte Ordnung der EU findet also eine Grenze dort, wo sie auf die nationalen Identitäten der EU -Mitglieder trifft und deren Kompetenz berührt, die »Verwurzelung« ihrer Staatsangehörigen sowie der bei ihnen langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen sicherzustellen.51 Aufgrund dieser Begrenzung können 48

49 50 51

Das Informationsblatt von EU -Info.Deutschland zur Freizügigkeit der Unionsbürger präzisiert: »Auch wer nicht erwerbstätig sist [sic], hat als Bürger eines Mitgliedstaates der Europäischen Union das Recht, in jedem EU -Land zu leben. Das Aufenthaltsrecht ist an zwei Bedingungen geknüpft: Das ›Finanzpolster‹ muss ausreichen, um den Lebensunterhalt im betreffenden EU -Land bestreiten zu können (ausreichende ›Existenzmittel‹). Wer in einem anderen EU -Land leben will, muss außerdem krankenversichert sein. […] Wer in ein anderes EU Land umziehen möchte, ohne erwerbstätig zu sein, muss deshalb nachweisen, dass er dort keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen wird. Die Messlatte ist dabei in der Regel der örtliche Sozialhilfesatz: Man muss belegen, dass die eigenen Einkünfte in der Zeit des geplanten Aufenthalts so hoch sind, dass Ihnen nach spanischem Recht keine Sozialhilfe zusteht.« EU -Info. Deutschland, Aufenthaltsrecht: Freizügigkeit für Unionsbürger, http://www.eu-info.de/leben-wohnen-eu/aufenthaltsrecht-eu/7218/ [12. 8. 2014]. An dieser Stelle ist anzumerken, dass es dänische Staatsangehörige (Fähringer und Grönländer) und Staatsangehörige der britischen Krone (im Prinzip die Einwohner der Isle of Man und der Kanalinseln Guernsey und Jersey) ohne Unionsbürgerschaftsstatus gibt. Diese sind prinzipiell aus der Gewährleistung des Freizügigkeitsrechts ausgenommen. Artikel 22 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Artikel 6 Absatz 3 Vertrag über die Europäische Union. Amtsblatt der Europäischen Union, L16, 23. 11. 2003, Richtlinie 2003/109/EG . Der Begriff der »Verwurzelung« wird in der Richtlinie in Bezug auf die ökono-

90

Konflikte über die Strukturen, Regelungen und Verfahren der imaginierten Ordnung der EU immer auch dadurch ausgetragen oder verhindert werden, dass die jeweils strittigen Elemente in Identitätsbestandteile der EU -Mitglieder umgedeutet und als Identitätsfragen (re)nationalisiert werden.

Nationalstaatliche Territorialität in der EU Vergleicht man die imaginierte Ordnung, die in den Raumbildern der EU zum Ausdruck kommt, mit den Ordnungsimaginationen des Europarats, geraten die Veränderungen des Verständnisses von nationalstaatlicher Territorialität in der EU in den Blick. Der Europarat ist im Unterschied zur EU als ein internationaler Staatenbund konzipiert, dessen Mitglieder – bis auf die beanspruchte europäische Menschenrechts- und Grundrechtsgerichtsbarkeit – keine supranationalen Ambitionen hegen. Im Europarat wird nationalstaatliche Souveränität daher nicht geteilt. Die Europaratsmitglieder verknüpfen, so lässt sich zumindest aus den Konventionen, Abkommen und Berichten des Europarats herauslesen, das nationalstaatliche Territorium als souveränitätsrechtliche Kategorie und ordnungsbeschreibendes Raumbild mit Kultur- und Ethiksemantiken. Letztere sind auf der inhaltlichen Ebene mit den semantischen Zuschreibungen zum Raumbild der EU geradezu identisch. Allerdings stellen die Europaratsmitglieder die Kultur- und Ethiksemantiken nicht in einen Zusammenhang mit dem Sicherheitsbegriff, noch führen sie ihre Konzeption des nationalstaatlichen Territoriums explizit oder implizit auf ökonomische Beweggründe zurück. Aber sie verbinden in ihrer Territoriumskonzeption die Kultur- und Ethiksemantiken mit Identitätssemantiken und verschachteln die Bedeutungsfelder der politischen Kultur, des politischen Ethos und der nationalen Identität ineinander, bis zu dem Punkt, dass die Grenzen mische und alltagspraktische Inklusion von Immigranten verwendet. Er kann m.E. jedoch darüber hinaus auf alle nationalstaatlichen Politiken (im Sinne von politiques publiques) bezogen werden, die auf eine nationale Sozialisation der Staatsangehörigen wie auch der Immigranten zielen, etwa die Bildungspolitik, oder aber eine solche indirekt bewirken, zum Beispiel Religionspolitik.

91

zwischen diesen Bedeutungsfeldern verschwimmen.52 Als EU -Mitglieder transferieren hingegen selbige Europaratsmitglieder Kulturund Ethiksemantiken in die imaginierte Ordnung der EU – und zwar mit dem Ziel, »eine[n] grenzenlosen Raum[]« zu schaffen.53 Hier ordnen sie ihre nationalstaatlichen Territorien der imaginierten EU -Ordnung unter und schreiben ihnen zugleich die Funktion zu, identitätsrelevante »Verwurzelung« zu gewährleisten.54 Die Verwurzelungsfunktion des nationalstaatlichen Territoriums von seinem kultur- und ethiksemantischen Inhalt abzulösen, kann als ein Element postsouveräner Territorialität in der EU angesehen werden. Ein weiteres Element postsouveräner Territorialität in der EU ergibt sich aus der Differenzierung von Alteritäten, die die kultur- und ethiksemantischen Zuschreibungen in ihrer Verbindung mit dem Sicherheitsbegriff und mit der wirtschaftsgemeinschaftlichen Geschichte in die Raumbilder der EU einführen: Die nationalstaatlichen Territorien stellen in der imaginierten Ordnung der EU Orte dar für die Wohlfahrtspflege von unproduktiven Anderen ohne Beschäftigung, ohne Krankenversicherung und ohne ausreichend finanzielle Mittel, für die Verwaltung von Asylanträgen und die Bestrafung von illegalen Anderen, die kriminelle Handlungen begangen oder die europäischen Einwanderungsregeln missachtet haben. Diese Aufgaben fallen auch nach dem Verständnis des Europarats unter die Kompetenz der nationalen Hoheitsgewalten seiner Mitglieder. Doch werden sie mit der imaginierten Ordnung der EU sowie entsprechenden EU -Raumbildern aus den institutionellen Kontexten, in die sie nach dem Territoriumsverständnis des Europarats eingebettet sind, herausgetrennt. Dieses Heraustrennen macht die nationalstaatlichen Territorien in der EU zu Orten der Bewältigung von bestimmten Problemkonstellationen in den gesellschaftlichen Beziehungen. Darüber hinaus entsteht postsouveräne Territorialität in der EU dadurch, dass die Handlungsfelder, die mit der Ordnungsimagination in der EU ausdifferenziert werden, mit insti52

53 54

Zur semantischen Topografie der Konzeption des nationalstaatlichen Territoriums im Europarat vgl. Nikola Tietze, Imaginierte Gemeinschaft. Zugehörigkeiten und Kritik in der europäischen Einwanderungsgesellschaft, Hamburg 2012, S. 148–178. Europäische Kommission, Freiheit, Sicherheit und Recht für alle, S. 23. Amtsblatt der Europäischen Union, L16, 23. 11. 2003, Richtlinie 2003/109/EG .

92

tutionalisierten Strukturen und Verfahren in den EU -Mitgliedstaaten verkoppelt werden. Die jeweiligen nationalen Institutionen werden dadurch nicht zu Organisationen degradiert, die gewissermaßen als Transformationsriemen EU -Politik durchsetzen. Doch verändert sich unter den Bedingungen der postsouveränen Territorialität in der EU die Legitimität der nationalstaatlichen Institutionen, die für die Handlungsfelder der EU relevant sind: Ihre Legitimität ergibt sich nunmehr zusätzlich aus den durch sie rationalisierten Ideen und Interessen in Bezug auf die EU -spezifischen Handlungsfelder und nicht mehr ausschließlich aus den in ihnen rationalisierten Ideen und Interessen der jeweiligen nationalstaatlichen Hoheitsgewalt.55 Insgesamt betrachtet, entsteht der Eindruck, dass postsouveräne Territorialität in der EU in einer übereinandergreifenden Projektion zweier Raumbilder entsteht – dem Bild vom Raum ohne Binnengrenzen und dem Bild vom souveränen Nationalstaat, der in einem Territorium seine Verkörperung findet. Diese übereinandergreifende Projektion baut auf keinem eigenen Konzept von Souveränität oder Territorialität auf. Vielmehr geht sie aus den Handlungszusammenhängen hervor, die sich seit dem EWG -Vertrag im europäischen Integrationsprozess entwickeln, eigene Dynamiken ausbilden wie auch spezifische Problemkonstellationen produzieren. Die europäisierten Handlungszusammenhänge verändern die Wirkungsmacht der nationalstaatlichen »Träume der Gesellschaft« für die Imagination von gesellschaftlichen Ordnungen. Aber sie bringen diese »Träume« nicht zum Verschwinden, weil sie mit nationalstaatlichen Ordnungsimaginationen intrinsisch verbunden sind. Die sukzessiv entwickelten und immer weitere Gesellschaftsbereiche adressierenden EU -Raumbilder, die die europäisierten Handlungszusammenhänge generieren und zugleich ordnen, legen sich über die nationalstaatlichen Raumbilder. In diesem Prozess kommt es zu den oben genannten semantischen Transpositionen, institutionellen Verschiebungen wie auch strukturellen Verkoppelungen und Verfahrensverknüpfungen zwischen dem »Raum ohne Binnengrenzen« und den in Territorien verkörperten Nationalstaaten.

55

Zum Zusammenhang zwischen der Rationalisierung von Ideen sowie Interessen und Institutionen vgl. Rainer M. Lepsius; Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990.

93

II. Wachsende Räume und regulierte Nachbarschaften. Die Europäische Union und ihre Erweiterungslogiken

Jochen Kleinschmidt

Europäische Raumsemantiken. Überlegungen zu einem post-geopolitischen Selbstverständnis Die EU als Ensemble multipler Verräumlichungen Die historische Entwicklung der Europäischen Union hat eine Vielzahl von sozial- und politikwissenschaftlichen Befunden inspiriert, die auch den räumlichen Charakter dieses Integrationsprojekts zu beschreiben versuchen oder eine solche räumliche Beschreibung zumindest implizieren. Dementsprechend variiert die Spannbreite solcher EU -bezogenen Raumbegrifflichkeiten ganz erheblich: Die von der Kontinuität territorialstaatlicher Politik innerhalb eines neuen, föderal gedachten europäischen Rahmens ausgehenden Ansätze – bis hin zur Annahme einer künftigen Finalität der EU als europäischem Bundesstaat – sehen tendenziell keine Notwendigkeit der Anpassung überkommener Territorialitätskonzepte, da eben solche ja den klassischen Föderalismustheorien zugrunde liegen.1 Andere, eher postmodernen Konzepten zuneigende Autoren begreifen den Prozess der europäischen Integration wahlweise als regionale Umsetzung von Globalisierungsimperativen, als Element der Pluralisierung politischer Herrschaftsformen im Rahmen eines unübersichtlichen »neo-medievalism« oder gar als Schritt auf dem Weg hin zu einer völligen Auflösung räumlich codierter Machtverhältnisse.2 Während diese Sichtweisen im Rahmen der theoretischen Debatten über Moderne und Postmoderne als ideengeschichtliche Katego1

2

Michael Burgess, »Territoriality and Federalism in the Governance of the European Union«, in: ders./Hans Vollaard (Hg.): State Territoriality and European Integration, London/New York 2006, S. 100–119, hier: S. 104 f. Benno Teschke, »The Metamorphoses of European Territoriality. A Historical Reconstruction«, in: Michael Burgess/Hans Vollaard (Hg.): State Territoriality and European Integration, London/New York 2006, S. 37–67, hier: S. 37 f.

97

risierungen und die ihnen entsprechenden Vorstellungen von Staatlichkeit und internationaler oder globaler Politik verbleiben, weisen andere Befunde raumtheoretisch über deren Dichotomie hinaus. Dazu wären insbesondere zahlreiche Versuche in Betracht zu ziehen, die EU als Imperium zu beschreiben – dies resultiert allerdings je nach theoretischer Präferenz der Autoren in jeweils recht unterschiedlichen räumlichen Charakterisierungen: In manchen Fällen ist damit ein heterogener Raum bezeichnet, der über unterschiedliche Zentren politischer Macht und Autorität verfügt und lediglich fallweise bestimmte Befugnisse zur Wahrnehmung externer Interessen an gemeinsame außenpolitische Institutionen delegiert – auch wenn diese meist ohne Zwangsmittel über die normative Attraktion des europäischen Projekts als »empire by example« fungieren.3 Eine andere imperiale Beschreibung der EU hingegen sieht durchaus eine Zukunft für traditionell gedachte Formen der interessengeleiteten Projektion »harter« Macht. Die sanfte Form des Managements interner und externer Heterogenität wäre dann als Vorstufe zur durchaus traditionellen Durchsetzung von Machtansprüchen in der Peripherie Europas zu werten, selbst wenn auch im Fall der EU ein im Vergleich zu klassischen Imperien eher konsensorientiertes Vorgehen unterstellt wird.4 Beide Modelle eines imperialen Europas gehen indes kaum über bereits etablierte imperientheoretische Beschreibungsmuster hinaus – wie auch bei den vergleichsweise zahlreichen Versuchen einer imperialen Beschreibung der amerikanischen Weltmachtrolle sind entsprechend unterschiedlicher außenpolitischer Präferenzen auch höchst differente Gewichtungen von militärischen und wertebasierten Mitteln der Machtprojektion zu beobachten.5 Über solche oft in der Form historischer Analogien gefasste Beschreibungen mit meist recht eindeutiger politischer Intention hinaus sind den imperientheoreti3

4

5

Jan Zielonka, »Europe as a Global Actor: Empire by Example?«, in: International Affairs (2008), Heft 3, S. 471–484, hier: S. 475. Parag Khanna, Der Kampf um die Zweite Welt. Imperien und Einfluss in der neuen Weltordnung, Berlin 2008, S. 46 f. Sebastian Huhnholz, »Imperiale oder Internationale Beziehungen? Imperiumszyklische Überlegungen zum jüngeren American-Empire-Diskurs«, in: Herfried Münkler/Eva Marlene Hausteiner (Hg.): Die Legitimation von Imperien. Strategien und Motive im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2012, S. 194–230, hier: S. 197 f.

98

schen Ansätzen zur EU meist nur relativ wenige raumtheoretisch gehaltvolle Aussagen zu entnehmen. Oberflächlich ähnliche, aber mit vergleichsweise eindeutigen ideengeschichtlichen Bezugspunkten operierende Ansätze beschreiben die EU hingegen als »Großraum« – also in der auf Carl Schmitt zurückgehenden Begrifflichkeit als eine von einem Zentrum aus dominierte Vielheit von Einzelstaaten. Diese nimmt aber im Gegensatz zu den tendenziell universalistischen Imperien einen eher defensiv anmutenden, supra-territorialen, externe Interventionen in beide Richtungen allgemein ausschließenden Charakter an.6 Teilweise erscheinen diese europäischen Großraumkonzepte durchaus als Projekt einer antihegemonialen Einflusszone, die von einem noch zu definierenden »Kerneuropa« aus vermuteten, insbesondere amerikanischen Dominanzansprüchen und Universalismen entgegengestellt wird.7 Andere Autoren heben wiederum die homogenisierende, wirtschafts-, währungs- und infrastrukturpolitische Komponente der Unionspolitiken hervor, die mit ihrer staatenübergreifenden »Funktionalisierung und Technisierung« der territorialen Räume und der entsprechenden Schaffung transnationaler Einflussräume ebenfalls gewisse Analogien zu Schmitts Doktrin aufweisen.8 Man könnte diese drei einfachen, sicherlich noch weiter zu untergliedernden Perspektiven auf die werdende politische Räumlichkeit der Europäischen Union – die EU als Territorium, als Imperium oder als Großraum – raumbegrifflich auf verschiedene Weise einordnen. Es scheint sich etwa die dreigliedrige Typologie von Walker

6

7

8

Rüdiger Voigt, »Denken in Großräumen. Imperien, Großräume und Kernstaaten in der Weltordnung des 21. Jahrhunderts«, in: ders., (Hg.): Großraum-Denken. Carl Schmitts Theorie der Großraumordnung, Stuttgart 2008, S. 27–45, hier: S. 38 f. Auf den denkbaren Einwand, dass die in hohem Maße von Rohstoffimporten und Industrieexporten abhängige EU eben keinen »wirtschaftlichen Großraum« (ebenda: S. 38) im Sinne Schmitt’scher Autarkiegedanken darstellen könne, sei lediglich am Rande hingewiesen – entscheidend ist hier nur die Fungibilität der Großraumtheorie als politischer Raumsemantik, nicht die Frage ihrer potenziellen Realitätsadäquanz. Carlo Masala, »Carl Schmitts Großraumtheorie: Eine Theorie der internationalen Politik? Drei Lesarten und eine Anwendung«, in: Voigt (Hg.), GroßraumDenken, S. 180 f. Andreas Anter, »Die Europäische Union als Großraum«, in: Voigt (Hg.), Großraum-Denken, S. 66.

99

anzubieten, der die globale Politik der Gegenwart von Grenzziehungen gekennzeichnet sieht, die gleichermaßen »international«, »imperial« und »exceptional« sein können:9 Im ersten Fall als Demarkierung der Souveränität prinzipiell gleichberechtigter Staaten im Sinne eines im klassischen internationalen System normativ gewünschten Normalzustands, im zweiten Fall als Markierung hierarchischer Ungleichheit im weltpolitischen System insbesondere für den Fall der auch zwangsweisen Durchsetzung völkerrechtlicher oder ethischer Normen und drittens schließlich zur Bezeichnung von solchen Gebieten, in denen im Rahmen räumlich begrenzter Ausnahmezustände – wie etwa im Rahmen von Flüchtlingslagern oder auch in der Figur der failed states – eine Durchbrechung derartiger Normen zur neuen Normalität wird. Akzeptiert man diese Grenztypologie, so erschiene es weiterhin vielleicht als konsequent, die durch die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Kooperationsregimes im Rahmen der EU erzeugten politischen Räume jeweils prioritär den einzelnen Typen zuzuordnen. So könnte die Eurozone als supranationales Integrationsprojekt zur währungspolitischen Homogenisierung eher als territorial, die Schengen-Zone als ein auf der Exklusion bestimmter Personenund Staatengruppierungen beruhendes Grenzregime eher als verräumlichter Ausnahmezustand,10 mithin also als »exceptional«, und die Europäische Union an sich – insbesondere im Hinblick auf die Effekte der Konditionalitäten ihrer Erweiterungspolitik in prospektiven Mitgliedsstaaten – schließlich als tendenziell »imperial« klassifiziert werden.

9

10

R. B. J. Walker, »Lines of Insecurity: International, Imperial, Exceptional«, in: Security Dialogue (2006), Heft 37, S. 65–82, hier: S. 66. Henk van Houtum, »Human Blacklisting: the Global Apartheid of the EU ’s External Border Regime«, in: Environment and Planning D: Society and Space (2010), Heft 28, S. 957–976.

100

Identitäts- und Alteritätssemantiken der EU In einer solchen – simplizistisch anmutenden und sicherlich unter raumtheoretischen Gesichtspunkten weiter diskussionsbedürftigen – Typologie von Verräumlichungen der EU sind sicherlich auch traditionelle, historisch lange vor der EU etablierte Semantiken europäischen Selbstverständnisses wiederzuerkennen. Zu nennen wäre hier zunächst die Semantik der Überlegenheit, die auf eine Geschichte kolonialer Dominanz und eine kulturelle Sonderstellung als vermuteter geografischer Ursprungsort der Moderne rekurriert.11 In raumpolitischer Hinsicht lassen sich derartige Sinngehalte zur Legitimation von abgestufter politischer Ungleichheit verwenden – vom institutionell hochintegrierten »Kerneuropa« über die noch nicht in Eurozone oder Schengen-Raum integrierten neuen Mitglieder über aktuelle oder potenzielle Beitrittskandidaten bis hin zu der durch verschiedene Nachbarschaftspolitiken definierten »Peripherie« im Süden und Osten, deren historisch-politischer Telos jeweils in der linearen Annäherung an die im Kern der EU herrschenden politischen, rechtlichen und sozial-ökonomischen Verhältnisse gesehen wird.12 Daneben existieren auch im akademischen Europadiskurs Vorstellungen, die auf eine besondere Fortschrittlichkeit der EU aufgrund ihrer angenommenen Tendenz zur Öffnung von territorialen Mobilitätshindernissen abstellen und somit eine globale Modellfunktion postulieren.13 Als solchen Überlegungen geradezu diametral entgegengesetzt lassen sich zahlreiche Aktualisierungen der Semantik eines »bedrohten Europa« beobachten, die an historische Niedergangserfahrungen, wie etwa den Bedeutungsverlust der europäischen Großmächte gegenüber den USA und Asien nach den beiden Weltkriegen, aber 11

12

13

Theresa Wobbe, »Die Verortung Europas in der Weltgesellschaft. Historische Europasemantik und Identitätspolitik der Europäischen Union«, in: Bettina Heintz/Richard Münch/Hartmann Tyrell (Hg.), Weltgesellschaft. Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen, Stuttgart 2005, S. 348–373. Vgl. auch Barry Buzan/Ole Wæver, Regions and Powers. The Structure of International Security, Cambridge 2003, S. 353. Besonders prägnant formuliert in dieser Hinsicht Dietrich Thränhardt, »Offene Grenzen in der EU – Todesmauer in der NAFTA . Entwicklungen, Strukturen und Diskurse«, in: Leviathan (2010), Heft 38, S. 65–88.

101

auch an weiter zurückliegende Ereignisse, wie etwa die militärische Konfrontation mit dem Osmanischen Reich, geknüpft sind.14 Im heutigen Kontext werden diese Momente einer für Europa als bedrohlich empfundenen Alterität insbesondere dann erinnert, wenn es um die Versicherheitlichung und die grenzpolitische Abwehr von Migrationsströmen geht.15 In anderen sicherheitspolitischen Kontexten wäre eine entsprechende semantische Erinnerung ebenfalls plausibel, sie kann auch bei der räumlichen Unterscheidung zwischen einem wirtschaftlich stabilen »Norden« und einer prekarisierten »Peripherie« in »Europas Süden« vermutet werden.16 Und schließlich ist auch die Semantik der europäischen Integration als Teil einer »universalen Modernisierung«17 verbreitet. Diese stellt weit weniger als die beiden anderen hier genannten Europasemantiken auf die räumliche Abgrenzung Europas gegenüber den als unterlegen, fremdartig oder bedrohlich wahrgenommenen Weltgegenden ab, sondern beschreibt heute – vor allem in ihren politikwissenschaftlichen, häufig governancetheoretischen Varianten – das europäische Projekt beispielsweise als Möglichkeit zur Teilhabe an einem weltweiten historischen Prozess der Entwicklung neuer, etwa netzwerkförmiger Optionen politischer Entscheidungsfindung. Daneben existieren aber auch Ansätze, die eine zukünftige Finalität der EU im Sinne eines klassischen Territorialstaats – etwa als die gegenwärtig in der politischen Rhetorik populären »Vereinigten Staaten von Europa« – erwarten oder zumindest als möglich erachten.18 Gemeinsam ist beiden Varianten, dass sie das Entstehen und die Evolution der EU als Antwort auf makrosoziale Prozesse wie etwa wirtschaftliche Globalisierung oder fortschreitende funktionale Differenzierung im Sinne der Systemtheorie begreifen und insofern 14 15

16

17 18

Vgl. Wobbe, Verortung Europas, S. 349; 352. Vgl. Luiza Bialasiewicz, »Off-shoring and Out-sourcing the Borders of Europe: Libya and EU Border Work in the Mediterranean«, in: Geopolitics (2010), Heft 17, S. 843–866. Philip Manow, »Politikkolumne. Rentabilität im Süden«, in: Merkur (2014), Heft 2, S. 149–154, hier: S. 149. Wobbe, Verortung Europas, S. 349. Thomas Diez, »Politics, Modern Systems Theory and the Critical Purpose of International Relations Theory«, in: Mathias Albert/Lena Hilkermeier (Hg.), Observing International Relations. Niklas Luhmann and World Politics, London 2004, S. 30–43, hier: S. 31.

102

die EU – sei es nun als Mehrebenensystem, Politiknetzwerk oder als zukünftiger »Superstaat« – als vermittelnde politische Struktur zwischen globalen Prozessen und den kleinteiligeren, als zunehmend in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkten Nationalstaaten verstehen wollen.19 Mit einer derartigen Vielheit an räumlichen Beschreibungen scheint sich die Europäische Union weder empirisch noch konzeptuell keinem der in der Politikwissenschaft gängigen Raumkonzepte zu verschließen, sondern sich vielmehr je nach Präferenz zur beliebigen Positionierung in den entsprechenden akademischen und politischen Debatten zu eignen. Die Existenz einer Pluralität von Raumsemantiken zu ihrer Beschreibung ist auch zunächst keineswegs verwunderlich, entspricht sie doch sehr weitgehend der Außenwirkung der EU , die in der internationalen Politik tendenziell immer noch »als Konglomerat, nicht aber als Block wahrgenommen« wird.20 Auch raumtheoretisch ist diese Multiplizität eher begrüßenswert als problematisch, wird doch auch die historische Welt des 19. und 20. Jahrhunderts in ihrer klassischen Form der Selbstbeschreibung als Welt von Nationalstaaten immer mehr infrage gestellt – die tatsächliche operative Strukturierung des Raums jener Epoche sei durch eine einfache Territorialisierung keineswegs adäquat beschrieben, vielmehr sei auch hier von einer großen Bandbreite räumlicher Phänomene der Begrenzung und Vernetzung auszugehen.21 Insofern ist es keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal der Europäischen Union, wenn deren interne und externe räumliche Strukturierung und die Modalitäten ihrer Legitimation stets auch Ergebnis und Anlass von und zu politischen Debatten, Auseinandersetzun19

20

21

Poul F. Kjaer, »The Societal Function of European Integration in the Context of World Society«, in: Soziale Systeme (2007), Heft 13, S. 369–380, hier: S. 372. Kai-Olaf Lang/Gudrun Wacker, »Die Anderen und die EU : Vermessung einer Beziehungswelt«, in: Diess. (Hg.), Die EU im Beziehungsgefüge großer Staaten. Komplex – kooperativ – krisenhaft, Berlin 2013, S. 9–16, hier: S. 14. Vgl. Michael Mann, »Some Long-term Trends in the Multiple-Boundedness of Societies«, in: Claudia Honegger/Stefan Hradil/Franz Traxler (Hg.), Grenzenlose Gesellschaft? Verhandlungen des 29. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, des 16. Kongresses der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie, des 11. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Freiburg i.Br. 1998, Opladen 1999, S. 68–76.

103

gen und Konflikten darstellen. Dennoch kann man – wohl gerade auch aufgrund der ungeklärten Finalität der EU – davon sprechen, dass Europa mehr noch als weitgehend territorial definierte und häufig über langfristig tradierte Geschichtsbilder und relativ stabile Institutionalität verfügende Nationalstaaten eine eigene Vorstellung von Alterität benötigt, um seine Existenz mittels fungibler Narrative darzustellen und zu plausibilisieren.22 Und neben anderen,23 an dieser Stelle nicht auszuführenden Faktoren dürften es insbesondere die durch kartenförmige Darstellung mögliche Objektivierung und Visualisierung sein, die eine Verräumlichung politischer Identitätssemantiken besonders erfolgversprechend erscheinen lassen: Identität und Alterität können ohne zusätzliche Kausalitätsannahmen oder gar Theorieleistungen als Selbstverständlichkeit gewissermaßen nebenbei kommuniziert werden.24 Dementsprechend war es zumindest seit der Erfindung und Verbreitung der neuzeitlichen Kartografie eine zentrale und in den oben skizzierten Raumsemantiken fast immer mitbeantwortete Frage, wo denn das identitätskonstituierende Andere im Raum zu finden sei. Jochen Walter identifiziert in einer ausführlichen Studie zu diesen politikgeografischen Narrativen die historischen Optionen »Islam«, »Orient«, »die Sowjetunion beziehungsweise Russland«, »die USA «, den »Balkan«, »die Türkei« sowie nicht zuletzt »die eigene Vergangenheit«.25 Ich möchte daran anschließend die Ansicht vertreten, dass bis auf die letztgenannte Alternative alle potenziell für die Selbstbeschreibung der EU konstitutiven und in räumlichen Begriffen definierten Alteritäten viel zu konfliktträchtig wären, um – außer vielleicht punktuell und taktisch – in thematisch beschränkten politischen Debatten erfolgreich verwendet zu werden. 22

23

24 25

Ich gehe dabei von einem prozessualen Verständnis des Verhältnisses von Identität und Alterität aus, ein solches vertritt etwa Xavier Guillaume, »Unveiling the ›International‹: Process, Identity and Alterity«, in: Millennium (2002), Heft 35, S. 741–759, hier: S. 742 f. Für eine weiterführende Diskussion sei hier insbesondere empfohlen: Marc Redepenning, Wozu Raum? Systemtheorie, critical geopolitics und raumbezogene Semantiken, Leipzig 2006. John Agnew, Geopolitics. Re-visioning World Politics, London 1998, S. 18 f. Jochen Walter, Die Türkei – ›Das Ding auf der Schwelle‹. (De-)Konstruktionen der Grenzen Europas, Wiesbaden 2008, S. 43 (im Original hervorgehoben).

104

Für eine EU -weite Identitätssemantik eignen sich diese geografischen Abgrenzungen jedoch wohl kaum: Die ersten beiden vielleicht als kulturalistisch zu bezeichnenden Optionen zur Abgrenzung des Eigenen stellen in einer Zeit zunehmender kultureller und religiöser Pluralisierung Europas jenseits partieller sicherheitspolitischer Bedenken kaum mehr realistische Optionen dar.26 Gleichzeitig wird die unmittelbare Nachbarschaft der EU in der islamischen Welt vorrangig durch eine »mediterrane« Semantik beschrieben, die dann auch eine eher durch Partnerschaft als durch Bedrohung gekennzeichnete Sicherheitspolitik implizieren soll.27 Und während sich die imperial-bedrohliche Sowjetunion sicherlich in der Rolle des Anderen hervorragend bewährt hat, ist das aus ihr hervorgegangene rohstoffexportierende Hybridregime schlicht zu offensichtlich und intensiv mit den Wirtschaftsinteressen wichtiger EU -Mitglieder verknüpft, um diese Rolle noch erfolgreich spielen zu können.28 Im Zuge der gegenwärtigen Krise in der Ukraine erscheint es vielleicht wieder eher denkbar, dass sich Alteritätssemantiken aus der Zeit des Kalten Krieges oder entlang älterer, kulturalistischer OstWest-Unterscheidungen wieder etablieren könnten. Der insbesondere von Aleksandr Dugin als imperiale russländische Staatsideologie vertretene Neo-Eurasismus setzt sogar ganz explizit auf die Abgrenzung eines traditionalistischen, autoritären Russlands vom als dekadent empfundenen, liberalen Westeuropa.29 Dies bedeutet aber noch lange nicht, dass derartige Semantiken auch für die EU identitätskonstituierende Wirkung haben müssten: Zumindest gegenwärtig fehlt es ihnen noch an definitorischer Durchschlagskraft – »Russland ist kein programmatischer Bezugspunkt für andere Staaten

26

27

28

29

Vgl. William Walters, »Mapping Schengenland: Denaturalizing the Border«, in: Environment and Planning D: Society and Space (2002), Heft 20, S. 561–580, hier: S. 570. Pinar Bilgin, »A Return to ›Civilisational Geopolitics‹ in the Mediterranean? Changing Geopolitical Images of the European Union and Turkey in the PostCold War Era«, in: Geopolitics (2004), Heft 9, S. 269–291, hier: S. 274. Vgl. Stefan Hedlund, »Such a Beautiful Dream: How Russia Did Not Become a Market Economy«, in: The Russian Review (2008), Heft 67, S. 187–208, hier: S. 192 f. Natalia Morozova, »Geopolitics, Eurasianism and Russian Foreign Policy Under Putin«, in: Geopolitics (2009), Heft 14, S. 667–686, hier: S. 670 f.

105

mehr«.30 Tatsächlich werden die konkreten Wertentscheidungen, die mit der traditionalistischen Semantik einhergehen – insbesondere Homophobie, Antiamerikanismus und Imperialismus im Sinne einer Sonderrolle Russlands gegenüber seinen Nachbarstaaten –, in der externen Wahrnehmung sehr viel eher mit der Ideologie der europäischen extremen Rechten identifiziert.31 Sie werden also als Einstellungen betrachtet, welche zwar problematisch, aber innerhalb der EU ebenfalls virulent sind – wenn auch nicht im gleichen Ausmaß wie in Russland. Als Ausdruck von Alterität sind sie damit kaum zu verstehen. Ob sich mit einer eventuell denkbaren zukünftigen Verschärfung der Lage in der Ukraine auch die Verortung Russlands als eines zwar peripheren, aber nicht essenziell andersartigen Raums hin zur Wahrnehmung einer externen Bedrohung verändert, bleibt abzuwarten. Die USA hingegen eignen sich aufgrund offensichtlicher Gemeinsamkeiten in Bezug auf Wirtschafts- und Sozialstruktur, politische Systeme und die fortwährend beschworene Relevanz der transatlantischen Partnerschaft auf verschiedenen Gebieten, so insbesondere im Rahmen der NATO , wohl noch weniger als Russland für die Rolle als identitätsstiftender Anderer. Zwar mögen sie dies gelegentlich für politische Parteien oder zivilgesellschaftliche Bewegungen leisten, wenn etwa das Klischee gepflegt werden soll, »Europa sei pazifistischer, multilateraler, weniger marktliberal und umweltbewusster als die USA «.32 Tatsächlich aber werden derartige

30

31

32

Björn Hawlitschka, »Früher war mehr Lametta!«, in: ADLAS (2014), Heft 1, S. 6–11, hier: S. 10. Vgl. Mitchell A. Orenstein, »Putin’s Western Allies. Why Europe’s Far Right is on the Kremlin’s Side«, in: Foreign Affairs (2014), http://www.foreignaffairs. com/articles/141067/mitchell-a-orenstein/putins-western-allies [4. 6. 2014]. Johannes Thimm, »Die USA und die EU : Kein einheitlicher Blick auf den europäischen Partner«, in: Kai-Olaf Lang/Gudrun Wacker (Hg.), Die EU im Beziehungsgefüge großer Staaten. Komplex – kooperativ – krisenhaft, Berlin 2013, S. 88–98, hier: S. 91. Ein aktuelles massenmediales Beispiel für die fortgesetzte Fungibilität derartiger Klischees findet sich in grotesk überzeichneter Form bei Jakob Augstein, »Jetzt geht es um die Macht in Europa«, in: SPIEGEL ONLINE , http://www.spiegel.de/politik/deutschland/jakob-augstein-die-euro-entscheidung-des-bundesverfassungsgerichts-a-952466.html [10. 2. 2014]; dort ist von einem Amerika die Rede, in dem »die wichtigen Weichen […] zwischen Big Money, Big Data und den Big Guns gestellt [werden]«, während die EU dazu

106

Semantiken auf beiden Seiten des Atlantiks und auf beiden Seiten des jeweiligen politischen Spektrums zur Selbstpositionierung genutzt – hier dürfte es sich trotz des polemischen Potenzials um eine gemeinsame Definition politischer Verortungen handeln, die die häufig geschmähte Vorstellung einer »euroatlantischen Wertegemeinschaft« als zumindest auf einer konsensualen Beschreibung ihrer internen Differenzen beruhend erscheinen lässt.33 Hinzu kommt, dass EU und USA jenseits ihrer wechselseitigen Selbst- und Fremdwahrnehmung in der politikgeografischen Begriffswelt des »globalen Südens« und insbesondere der mutmaßlich an weltpolitischer Relevanz gewinnenden Schwellenländer wie Brasilien oder Indien immer noch vornehmlich als »the West« vergemeinschaftet werden, was insbesondere in Abgrenzung zu der diesem Westen zugeschriebenen ökonomischen Dominanz und militärischen Interventionsfreudigkeit geschieht.34 Es bleibt abzuwarten, ob diese Semantik des »Westens« durch eine andere abgelöst wird oder ob sie – was angesichts nach wie vor divergierender Interessen etwa im Bereich der globalen Wirtschaftspolitik wahrscheinlicher erscheint – weiterhin verwendet werden wird und mit dem zunehmenden Gewicht dieser Schwellenländer in den internationalen Beziehungen eventuell auch für Europa und die USA wieder identitätsprägend wirken könnte. Was schließlich den »Balkan« anbetrifft, so handelt es sich bei den dazu anzutreffenden Raumsemantiken weniger um eine geografische Abgrenzung von Südosteuropa als etwas völlig Anderem, etwas nicht und auf keinen Fall Dazugehörigem, sondern vielmehr um »[e]ine spezielle Form des temporalen Anderen« – also um eine verräumlichte Vorstellung der Präsenz einer eigenen blutigen Vergangenheit »innerhalb Europas«.35 Es geht also eher um eine Historisierung der Gegenwart als um eine definitive, permanente Aus-

33

34

35

(ebenso unhinterfragt) als politisch tendenziell linke, potenziell moralisch höherwertige Alternative propagiert wird. Vgl. Merje Kuus, »Cosmopolitan Militarism? Spaces of NATO expansion«, in: Environment and Planning A (2009), Heft 41, S. 545–562, hier: S. 545. Oliver Stuenkel, »Identity and the concept of the West: the case of Brazil and India«, in: Revista Brasileira de Política Internacional (2011), Heft 54, S. 178–195, hier: S. 180. Walter, Die Türkei, S. 50.

107

grenzung. Eine ähnliche Entwicklung ist möglicherweise im Fall der Türkei zu beobachten: Hier waren historisch und sind gegenwärtig – übrigens auch in den türkischen Debatten zur eigenen Verortung zwischen der EU und anderen, asiatischen Optionen oder als potenzielle »Brücke« zwischen diesen – sicherlich auch teils dominante Semantiken kultureller und religiöser Fremdheit zu beobachten.36 Mit den aktuellen Protesten gegen die Regierung Erdogan ˘ werden aber solche Überlegungen – zumindest gegenwärtig – abgelöst durch Interpretationen, die räumliche Differenzierungen temporalisieren: Die Demonstranten vom Gezi-Park erscheinen dann als Vertreter einer modernen, liberalen, aufgeklärten Gesellschaft, die von EU -Europa nicht sehr weit entfernt sein kann, und die von ihnen kritisierte Regierung gewissermaßen als Wiedergänger der eigenen finsteren Vergangenheit in Gestalt autoritärer, gewaltsam durchgesetzter Politik.37 Zusammenfassend könnte man das systemische Dilemma der räumlichen Selbstbeschreibung der EU also folgendermaßen beschreiben: Aufgrund ihrer strukturellen Mehrfachidentität – als politische Einheit, potenzieller oder tatsächlicher weltpolitischer Akteur, Freihandelszone, Währungsgebiet, als Zone der Reisefreiheit im Innern und Migrationshindernis nach außen – kann sie keine der gängigen politischen Raumsemantiken, etwa Territorium, Imperium oder Großraum, aus ihrer eigenen Operationsweise heraus plausibel darstellen. Sie bleibt daher auf alteritäre Raumsemantiken angewiesen, also auf die Darstellung des Eigenen durch Abgrenzung vom Anderen. Dies wiederum führt zu der Problematik, dass denkbare Abgrenzungen in der Gegenwart kaum noch unionsintern konsensfähig sein dürften – einerseits, weil die potenzielle Zugehörigkeit zu EU -Europa selbst keineswegs auf unumstrittenen »Fakten« beruht, und andererseits, weil die meisten der traditionell alteritären Räume heutzutage Gegenstand oft wichtiger Unionspolitiken der Kooperation, etwa in Migrations- oder Wirtschaftsfragen, sind.38 Es bliebe der Raumsemantik der EU zur Alteritäts- und in36 37

38

Bilgin, Civilisational Geopolitics, S. 284 f. Nilüfer Göle, »Gezi – Anatomy of a Public Square Movement«, in: Insight Turkey (2013), Heft 15, S. 7–14, hier: S. 9. Karen E. Smith, »The Outsiders: the European Neighbourhood Policy«, in: International Affairs (2005), Heft 81, S. 757–773, hier: S. 760.

108

sofern Identitätsbildung somit, wie bereits angedeutet, der Rückgriff auf die europäische Vergangenheit.

Europäische Raumsemantik als Anti-Geopolitik Die für derartige Beschreibungen herangezogene »europäische Vergangenheit« ist selbstredend ihrerseits ein komplexitätsreduzierendes Modell der realen Vielgestaltigkeit politischer Strukturen und deren Verräumlichungen, die Europa vor der Gründung der Europäischen Union ausmachten. Die Europäische Union würde sich in ihrer politischen Raumsemantik demzufolge tendenziell als Gegenmodell zur politischen, militärischen und ökonomischen Großmächtekonkurrenz der Vergangenheit präsentieren – schließlich stellt ihre wohl wichtigste Legitimationsquelle nach wie vor die Selbstbeschreibung als Ursache der Überwindung alter zwischenstaatlicher Feindschaften im Rahmen der fortschreitenden Integration und EU -Erweiterung dar.39 Die These, die ich dazu aufstellen möchte, ist: Eine entsprechende räumliche Selbstbeschreibung der Europäischen Union wird bewerkstelligt durch die Präsentation eines klassischen geopolitischen Semantiken direkt entgegengesetzten Textes – oder, wie von John Agnew als Desiderat zur Bezeichnung der im Rahmen von Transnationalisierungsprozessen erzeugten Multiplizität von Räumen gefordert, durch »a kind of ›anti-geopolitics‹ built upon a commitment to treating places and people as if they counted independently of their global economic and military ›significance‹«.40 Diese räumliche Selbstbeschreibung erfolgt unabhängig von den konkreten politischen Prozessen und Inhalten, die im jeweiligen Kontext verfolgt werden – gewissermaßen als legitimierender geografisch-historischer Subtext der spezifischen mit diesen Prozessen und Inhalten verbundenen Raumformen, so etwa den oben diskutierten territorialen oder imperialen Varianten. 39

40

Thomas Diez, Stephan Stetter, Mathias Albert, »The European Union and Border Conflicts: The Transformative Power of Integration«, in: International Organization (2006), Heft 60, S. 563–593, hier: S. 760. Agnew, Geopolitics, S. 119.

109

Das räumliche Selbstverständnis der EU kann somit kaum aus einer besonderen räumlichen Demarkierung entstehen, die ja über die Mitgliedsstaaten meist bereits gegeben ist, sondern funktioniert wohl eher durch die Abgrenzung von der Leitsemantik einer an geografisch prädeterminierter, militarisierter Staatenkonkurrenz im Sinne stetiger räumlicher Ausdehnung des Staatsgebiets orientierter Politik – eben von der klassischen Geopolitik beispielsweise im Sinne von Friedrich Ratzel.41 Darunter werden Texte verstanden, die die politische Welt als durch physische Gegebenheiten, also Klimazonen, Landschaftsformen oder die Unterscheidung von Land und Meer, determiniert beschreiben und diese Welt mit als Organismen verstandenen Staaten bevölkern. Diese befinden sich in einem ebenfalls als natürlich betrachteten Konkurrenzverhältnis. Man könnte die klassische Geopolitik somit auch als Kombination von Geodeterminismus, Staatsorganizismus und Sozialdarwinismus definieren – sie geht von einem zwangsläufig gewalttätigen oder zumindest gewaltanalogen, antagonistischen Konkurrenzverhältnis zwischen Staaten aus, in dem letztlich geografische Kriterien wie Größe, strategische Lage und Ressourcenvorkommen über die Überlebensfähigkeit einzelner politischer Einheiten entscheiden – »natural advantage gave rise to national advantage«.42 Die vielleicht bisher letzte akademisch akzeptierte Formulierung einer solchen geopolitischen Identität für Europa findet sich wahrscheinlich im Werk Ludwig Dehios,43 der die Geschichte als eine Reihe von Kämpfen zwischen – letztlich durch ihre physische Geografie determinierten – Land- und Seemächten beschrieb, eine Reihe, die aber mit dem Zweiten Weltkrieg als dem letzten derartigen Kampf abgelöst wurde durch eine entsprechende globale Auseinandersetzung zwischen den beiden Supermächten des Kalten Krieges.44 Allgemein kann man heute von einem Konsens sprechen,

41 42

43

44

Friedrich Ratzel, Politische Geographie, München/Leipzig 1897. Carolyn Gallaher u.a., Key Concepts in Political Geography, London 2009, S. 89. Ludwig Dehio, »Deutschland und die Epoche der Weltkriege«, in: Historische Zeitschrift (1952), Heft 173, S. 77–94. Vgl. auch Mischa Hansel, »Keine neue Weltordnung mehr? – Ludwig Dehios ›Gleichgewicht oder Hegemonie‹ als Beitrag zur Theoriebildung in den Internationalen Beziehungen«, in: Leviathan (2010), Heft 38, S. 533–558, hier: S. 548.

110

dass es sich bei der klassischen Geopolitik um eine Depolitisierungsstrategie handelte – anstatt Entscheidungen über Rüstungsausgaben, Krieg und Frieden, einzugehende Bündnisse und dergleichen mehr als genuin politische, also kontingente Entscheidungen zu behandeln, sind diese im Rahmen der klassischen Geopolitik bereits durch überlebenswichtige Umweltanforderungen determiniert, deren Missachtung dann keine legitime politische Option, sondern vielmehr Dysfunktionalität oder Pathologie darstellt.45 Die Europäische Union als Nachfolgerin von Organisationen, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem zur Vermeidung weiterer Kriege gegründet wurden, pflegt hingegen die Legitimationssemantik der Kriegsverhinderung durch aktive, bewusste, ökonomische und schließlich potenziell auch politische Vereinigung des Kontinents – und zwar typischerweise, wie oben ausgeführt, ohne die angestrebte Vereinigung als Bündnis gegen äußere Feinde zu beschreiben. Diese Legitimationssemantik markiert Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zur EU über die Negierung der Plausibilität deterministischer geopolitischer Narrative im solchermaßen erzeugten »Innenraum«, und sie gibt somit Antwort auf die im Rahmen herkömmlicher politischer Raumbeschreibungen nicht zu entscheidende Frage: »Wie entwickelt die EU eine stabile InnenAußen-Perspektive, die einen symbolischen und strukturellen Bezug zur Verfügung stellt […]?«46 Die vielleicht definitive Formulierung dieser Selbstbeschreibung ist die der EU als »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger«.47 Diese tritt an die Stelle der für zahlreiche geopolitische Texte durchaus maßgeblichen Vorstellung, den Bürger aufgrund eines angenommenen naturanalogen, quasi-physischen Zwangs zur permanenten Konfrontation mit anderen, entsprechend determinierten Gebilden in den Dienst des Staates stellen zu wol-

45

46 47

Vgl. Gearóid ÓTuathail, »Geopolitik – zur Entstehungsgeschichte einer Disziplin«, in: Verein Kritische Geographie (Hg.), Geopolitik. Zur Ideologiekritik politischer Raumkonzepte, Wien 2001, S. 9–28, hier: S. 10. Wobbe, Verortung Europas, S. 369. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger, http://eur-lex.europa.eu/ LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM :2009:0262:FIN :DE :PDF [12. 1. 2014].

111

len.48 Die räumliche Identität der EU basierte dann also auf der Vorstellung, einen politisch gestalteten Raum der Freiheit und des Konsenses an die Stelle einer im Wortsinne von Natur aus stets konfliktgeladenen Region gesetzt zu haben. Das Vorliegen einer derartigen anti-geopolitischen Identitätssemantik soll im Folgenden kurz anhand einer Broschüre49 der Europäischen Kommission plausibilisiert werden, die eine seltene, explizit mit der räumlichen Identität befasste Dokumentation eines derartigen Raumverständnisses darstellt. Dies hat insbesondere den Vorteil, dass es sich bei dieser Broschüre um ein offizielles Produkt einer EU -Behörde handelt – also um Aussagen, die innerhalb der multinationalen Bürokratie offensichtlich konsensfähig sind und somit zur Grundlage von quasi-verbindlichen Selbstbeschreibungen gemacht werden können. Spezifische Verräumlichungen, wie etwa die Vorstellung der EU als zukünftiger territorialer »Superstaat« – und auch wesentlich bescheidenere Integrationsprojekte, wie etwa eine umfassende Bankenunion –, oder erst recht eine verbindliche Festlegung auf die räumlichen Grenzen EU -Europas, sind hingegen stets an konfligierenden Vorstellungen der Mitgliedsstaaten gescheitert.50 Es handelt sich somit bei dieser Broschüre um eines der insgesamt recht wenigen Beispiele für »practical geopolitics« auf der Ebene der EU – also im Sinne der kritischen Geopolitik um die Vermittlung von handlungsbezogenen räumlichen Weltbildern politischer Eliten und deren durch räumliche Skripte reproduzierten Legitimationsstrategien51 –, deren Funktionieren hier kurz betrachtet werden soll. Gleich zu Beginn des Textes taucht mit dem Postulat eines nicht weiter erläuterten Wachstumszwangs – »[d]ie Europäische Union ist ihrem Wesen nach dazu bestimmt, zu wachsen« – ein eigentlich

48

49

50

51

David T. Murphy, The Heroic Earth. Geopolitical Thought in Weimar Germany, 1918–1933, Kent, OH 1997, S. 7. Europäische Kommission, Mehr Einheit und mehr Vielfalt. Die größte Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union, Brüssel 2003. Thomas Wright, »Europe’s Lost Decade«, in: Survival (2013), Heft 55, S. 7–28, hier: S. 9 f. Gearóid ÓTuathail, »Understanding Critical Geopolitics: Geopolitics and Risk Society«, in: Colin S. Gray/Geoffrey Sloan (Hg.), Geopolitics. Geography and Strategy, London/Portland, S. 107–124, hier: S. 110–120.

112

klassischer Topos der Geopolitik auf.52 Im Gegensatz zu jener aber wird räumliches Wachstum, in diesem Fall also der Beitritt zusätzlicher Kandidatenländer im Zuge der EU -Erweiterung, nicht über geodeterministisch bestimmte Naturzwänge, sondern über geteilte, universelle ethisch-politische Ziele (Freiheit, Demokratie, Wohlstand) und die Wahrnehmung eines »natürlichen Platzes« in der EU erklärt.53 Worin allerdings die »Natürlichkeit« dieses Platzes jenseits der häufig und recht detailliert erläuterten ökonomischen Vorteile besteht, wird nicht expliziert. Eine anscheinend automatisch wirksame und stetig wachsende Zustimmung zu universellen Normen anstelle ebenso automatisch wirksamer geodeterministischer Faktoren bestimmen also das »naturgemäße« Wachstum der Europäischen Union – ohne aber darauf einzugehen, dass für Staaten mit doch sehr ähnlichen vorherrschenden Wertvorstellungen (wie etwa die Schweiz oder Norwegen) dieser Automatismus bisher nicht wirksam geworden ist. Es entsteht der Eindruck, dass unter raumtheoretisch umgekehrten Vorzeichen einige Tropen der klassischen Geopolitik – in diesem Fall der deterministische Expansionsdruck – in der europäischen Raumsemantik erhalten bleiben. Statt von einer geodeterministischen könnte man so vielleicht von einer »wertdeterministischen« Raumbeschreibung sprechen. Das Thema der Ausweitung europäischen Einflusses taucht noch an mehreren Stellen des Dokuments auf. So wird auf die erweiterten Einflussmöglichkeiten kleinerer Mitgliedsstaaten auf der internationalen Bühne verwiesen, die mit der EU -Mitgliedschaft verbunden sind. Interessanter ist aber der Abschnitt über die EU -Nachbarschaftspolitik, in dem explizit angekündigt wird, nicht etwa nach der EU -Erweiterung 2004 »neue Trennlinien« zu ziehen, sondern vielmehr die politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der Nachbarländer im Süden und Osten ebenfalls mehr und mehr den Gegebenheiten innerhalb der EU anzupassen.54 Man mag hierin einen Soft-Power-Expansionismus statt eines HardPower-Expansionismus wie in alteuropäischen Imperialismen oder in der klassischen Geopolitik erblicken und diesen plausibel als unter normativen Aspekten wünschenswerter beurteilen – problema52 53 54

Europäische Kommission, Mehr Einheit und mehr Vielfalt, S. 3. Ebenda. Ebenda, S. 21.

113

tisch ist aber die mangelnde Angabe von politischen Faktoren, die einen solchen Prozess befördern oder behindern könnten. Stattdessen werden an dieser Stelle nur einerseits recht diffuse Wertmaßstäbe, an denen zukünftige Partnerstaaten sich zu messen hätten, andererseits aber rein technokratisch bestimmte Möglichkeiten zu deren Heranführung an die EU beschrieben. Es entsteht der Eindruck, es ginge der EU letztlich um die verwaltungsmäßige Umsetzung eines durch ihre Wertmaßstäbe bereits hinreichend beschriebenen politischen Programms – analog zu der in der klassischen Geopolitik beschriebenen Umsetzung naturräumlich gegebener Imperative. Geradezu paradox erscheint, dass im gleichen Dokument umfangreich auf die massive Aufrüstung der EU -Außengrenzen gegen Migration und Kriminalität hingewiesen wird.55 Ganz offensichtlich gilt die Abwesenheit von Trennlinien nur in eine Richtung. Hier wird eine Spannung zwischen offensichtlich universal gedachten Werten (Freiheit, Demokratie, Wohlstand) einerseits und dem Partikularismus einer offensichtlich doch irgendwie zu begrenzenden Europäischen Union sichtbar. Deutlich zeigt sich diese Spannung auch bei der Behandlung eines möglichen Beitritts der Türkei, der wieder unter einerseits wertebasierten und andererseits rein technokratischen Gesichtspunkten (Erfüllung der Kriterien und die Implementation des Beitritts) abgehandelt, nicht aber als politische Entscheidung mit potenziellen Alternativen und potenziell widerstreitenden Interessen verstanden wird.56 Ebenso deterministisch wird die Integration der neuen Mitgliedsländer beschrieben – es geht um die Erreichung wirtschaftlicher und administrativer Kenndaten – und nicht um die Evolution eines politischen Projekts, in das die neuen Mitglieder möglicherweise eigene Interessen und Normen einbringen könnten.57 Wieder entsteht durch die implizite Behauptung eines Automatismus der Eindruck einer Semantik der Depolitisierung – tatsächlich ist jeder Schritt auf dem Weg der EU Erweiterung Gegenstand heftiger politischer, medialer und intellektueller Debatten gewesen.58 55 56 57 58

Ebenda, S. 13. Ebenda, S. 20. Zielonka, Europe as a Global Actor, S. 482 f. Walter, Die Türkei, S. 35.

114

Ein entsprechender depolitisierender Harmonismus ist auch bei der Beschreibung potenzieller politischer Differenzen unter den Mitgliedsstaaten zu beobachten, die an einer Stelle immerhin zur Sprache kommen: Bereits unter den früheren EU -Staaten hätten Meinungsverschiedenheiten »keinen ständigen Charakter« gehabt und »lediglich Einzelfragen« betroffen.59 Wie absurd eine solche Darstellung eigentlich ist, sollte nicht nur vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krise der Eurozone deutlich werden. Dass dem so nicht ist, hätten bereits die ständigen Auseinandersetzungen um die Agrarzuschüsse, die Erweiterung um bestimmte Länder oder – genau zur Zeit der Erstellung der Broschüre – die heftigen Auseinandersetzungen um den Irak-Krieg zeigen können. Hier wurden schließlich auch für nur peripher interessierte Beobachter sehr andersartige außenpolitische Orientierungen sichtbar. Die Charakterisierung der EU in der Broschüre ist somit die eines Raumes prästabilisierter Harmonie, nicht die auch denkbare – und auch positiv darstellbare! – einer Arena der verregelten Austragung politischer Konflikte.60 Insofern – und hier wird eine gewisse Parallelität zum Staatsorganizismus der klassischen Geopolitik sichtbar61 – scheinen genuin politische, also in Form entgegengesetzter Normen oder Interessen formulierbare Konflikte, in der EU keinen Platz, also mithin vielleicht sogar pathologischen Charakter zu haben. Oder etwas milder ausgedrückt: Die Beschreibung hinterlässt einen nicht sonderlich pluralistischen Eindruck. Die hier vertretene Vorstellung von Diversität scheint sich auf aneinander anzugleichende Wohlstandsniveaus, Vielsprachigkeit und die Verfügbarkeit vieler verschiedener Mineralwassersorten und potenzieller Urlaubsziele62 zu beschränken. Normativ ist dies sicherlich begrüßenswerter 59 60

61

62

Europäische Kommission, Mehr Einheit und mehr Vielfalt, S. 18. Eine derartige Beschreibung der Funktionsweise der Europäischen Union findet sich etwa bei Werner Link, Die Neuordnung der Weltpolitik. Grundprobleme globaler Politik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, München 2001, S. 100. Vgl. Thomas Mackubin Owens, »In Defense of Classical Geopolitics«, in: Naval War College Review (1999), Heft 52, S. 59–76, hier: S. 64. Ebenda, S. 16. Generell ist bei den in der Broschüre zu findenden Beschreibungen der neuen Beitrittsländer eine Art »Anti-Geopolitik« im Sinne des beharrlichen Ignorierens politischer oder strategischer Relevanzen festzustellen – die Länderbeschreibungen könnten sich fast genauso in einem Katalog eines Reiseunternehmens finden. Vgl. Agnew, Geopolitics, S. 119.

115

als der Sozialdarwinismus der Geopolitik. Kognitiv ist die Beschreibung aber ähnlich unterkomplex. Eine ähnlich gelagerte Problematik tritt auch bei der Beschreibung der EU -Außenbeziehungen und der – nicht wirklich explizit angesprochenen – Finalität der Grenzen Europas auf:63 Wenn lediglich universelle Werte und deren administrative Verwirklichung Kennzeichen der EU sind, wo kann dann legitim ihr Wachstum enden? Wenn das einzige Ziel der EU -Außenbeziehungen die Ausbreitung dieser universellen Werte ist, wie kann man dann die doch teils drastisch unterschiedlichen Orientierungen in der Außen- und Sicherheitspolitik berücksichtigen? An einigen Stellen liest sich diese Raumbeschreibung der Europäischen Union wie der Versuch, an die Stelle jeglicher politischer Differenz einen unterstellten moralischen Konsens zu projizieren, der aber bei jeglichem Realitätskontakt zerbrechen muss. Man fühlt sich unwillkürlich an die Probleme der »Protestmoral« in der poststrukturalistischen Geografie erinnert, mit der nach Ansicht eines Kritikers »Fest-Stellungen von Hegemonie, Imperialismus, Eurozentrismus etc. die Hoffnung auf eine bessere, dekolonisierte und glaubwürdigere zukünftige Gesellschaft entgegengesetzt wird« – und die somit »eine Kohärenz und Eindeutigkeit suggeriert«, aber »blind für die unterschiedlichen Formen gesellschaftlicher Interessenskonflikte ist« und insofern ebenfalls zur Eliminierung von Kontingenz in der politischen Kommunikation beitragen kann.64 Gemeinsam haben beide Semantiken in jedem Fall, dass sie zentrale Grundlagen des politischen Zusammenlebens außerhalb der Reichweite politischer Entscheidung stellen.

Fazit: Zur Krisenanfälligkeit einer alteritären Raumsemantik Die Europäische Union scheint sich in ihrer Raumsemantik weitgehend ex negativo zu definieren – durch die Abwesenheit von Konflikten, durch die Abwesenheit politischer oder ökonomischer Interessenkonkurrenzen, durch die weitgehende Abwesenheit interner 63 64

Europäische Kommission, Mehr Einheit und mehr Vielfalt, S. 22. Marc Redepenning, »Die Moral der critical geopolitics«, in: Geographische Zeitschrift (2007), Heft 95, S. 91–104, hier: S. 98.

116

Differenzen zwischen Mitgliedsstaaten oder Gruppierungen von Mitgliedsstaaten; ja, in der Konsequenz eventuell sogar durch die Abwesenheit definitiver geografischer Grenzen – was allerdings lediglich angedeutet wird.65 Mit der bloßen Negation der konfliktorientierten geopolitischen Semantik des frühen 20. Jahrhunderts wird aber zudem deren Determinismus und deren Antipluralismus latent gehalten – wenn auch unter umgekehrten normativen Vorzeichen. Geodeterminismus, Staatsorganizismus und Sozialdarwinismus als intellektuelle Fundamente tauchen meines Erachtens in der Broschüre jeweils in einer negierten Form als Teil einer alteritären Identitätssemantik der EU wieder auf. Damit einhergehend kommt es innerhalb dieser Semantik zu einer Depolitisierung der Grenzen Europas. Problematisch dürfte diese Form der Selbstbeschreibung vor allem dann werden, wenn sie Erfolg hat, sich also Zukunftserwartungen an ihr orientieren, während die in der Broschüre als einziges Ziel der europäischen Einigung hervorgehobenen Wohlstandssteigerungen ausbleiben.66 Damit ist in der ökonomischen Krise der Gegenwart wohl zu rechnen. Es wäre zu hoffen, dass es der Europäischen Union gelingt, ihre Selbstbeschreibung von der hier kritisierten »Protestmoral« auf eine komplexere Basis zu stellen, die dann den tatsächlich existierenden und legitimen politischen Auseinandersetzungen Platz bieten sollte. Überlegungen zu einer »Geografie der Unterscheidung« in verschiedensten epistemologischen Formen, die versuchen, »die soziale Welt konsequent als eine durch beständige Setzungen, durch beständige Ein- und Ausschlüsse konstituierte Welt zu begreifen«, könnten hier womöglich auch seitens der Sozialwissenschaften einen notwendigen kritischen Impuls liefern.67 Denn moralisch bedenklichere, weil als selbsterfüllende Prophezeiungen potenziell riskantere Alternativen zu einer solchen differenzorientierten Selbstbeschreibung, die wieder an überwunden geglaubte Determinismen und Homogenisierungen anknüpfen, stehen ja bereits wieder in zunehmender Zahl zur Verfügung.68 Es wäre ge65 66 67 68

Europäische Kommission, Mehr Einheit und mehr Vielfalt, S. 21. Wright, Europe’s Lost Decade, S. 24. Redepenning, Die Moral der critical geopolitics, S. 100. Ein Beispiel für eine wieder an geopolitische Beschreibungen europäischer Politik anknüpfende – wenn auch mit etwas mehr Kontingenz operierende – Arbeit

117

radezu ironisch – und wohl auch tragisch – wenn die durch die Euro- und Schuldenkrisen mitverursachte Identitätskrise der sich bisher in anti-geopolitischen Termini selbstbeschreibenden EU zu einer Wiederbelebung geopolitischer Denkmuster mit ihrer Betonung naturhafter Konkurrenz führen würde. Eine aktuelle Studie sieht dies dann als wahrscheinlich an, wenn das Zusammentreffen internationaler Krisenereignisse und dazu passender materialistischer Denkstile ein derartiges Revival plausibel erscheinen lässt.69 Als sowohl in politischer als auch intellektueller Hinsicht dringliche Aufgabe sollte daher die Arbeit an der Weiterentwicklung kontingenzbasierter Denkstile zur Beschreibung politischer Räumlichkeit gelten.

69

findet sich aktuell bei Robert D. Kaplan, The Revenge of Geography, New York 2012, S. 348 f. Eine ebenfalls hochgradig konfliktive, aber eher kulturdeterministisch erscheinende Provokation zur Zukunft Europas lieferte Giorgio Agamben, Que l’Empire latin contre-attaque!, in: Libération, http://www.liberation. fr/monde/2013/03/24/que-l-empire-latin-contre-attaque_890916 [12. 1. 2014]. Stefano Guzzini, »The Mixed Revival of Geopolitics in Europe«, in: ders. (Hg.), The Return of Geopolitics in Europe? Social Mechanisms and Foreign Policy Identity Crises, Cambridge, S. 219–250, hier: S. 221.

118

Ulrike Jureit

Wachsender Raum? Die Europäische Union kommentiert ihre territorialen Erweiterungen Tote im Mittelmeer Die Meldungen sind so alarmierend wie fast schon alltäglich. Am 5. Mai 2014 starben im griechisch-türkischen Seegebiet 22 Flüchtlinge bei dem Versuch, die Insel Samos zu erreichen. Seit Bulgarien und Griechenland mithilfe der EU -Grenzagentur Frontex ihre Anstrengungen verstärkt haben, die Landgrenzen zur Türkei abzuriegeln, sterben immer wieder Menschen bei dem Versuch, über den Seeweg nach Europa zu gelangen. In diesem Fall waren es mindestens 65 Flüchtlinge, die vermutlich von der türkischen Küste aus auf einer Segeljacht mit Barkasse gestartet waren. Sie stammten aus Somalia, Syrien und Eritrea. Ihr Fluchtversuch über die Ägäis lässt sich halbwegs rekonstruieren. Nachdem offenbar ein Notrufsignal abgesetzt wurde und die Boote durch ein finnisches Frontex-Patrouillenboot gekentert worden sein sollen, werden 36 Menschen von der griechischen Küstenwache gerettet und nach Samos gebracht. Für 22 Menschen, unter ihnen drei Kinder und eine schwangere Frau, kommt indes jede Hilfe zu spät, weitere Flüchtlinge bleiben trotz intensiver Suche vermisst.1 Die griechisch-türkische Seegrenze in der Ägäis ist nicht die einzige EU -Außengrenze, an der sich solche Flüchtlingskatastrophen ereignen: Lampedusa, Malta, Kanarische Inseln – die Liste ließe sich weiter fortsetzen. Von Libyen nach Malta sind es 340 Kilometer, vom Senegal nach Fuerteventura etwa 1500 Kilometer Seeweg. Lampedusa ist schon deswegen ein stark frequentiertes Fluchtziel, weil 1

Vgl. zu diesem und anderen Fällen u.a. die Berichte von PRO ASYL , http:// www.proasyl.de/de/news/detail/news/das_sterben_in_der_aegaeis_geht_ weiter_mindestens_22_fluechtlinge_starben_von_samos/ [13. 10. 2014].

119

es von der tunesischen Küste »nur« 138 Kilometer entfernt liegt. Wer mit zumeist seeuntauglichen Booten unterwegs ist, wählt den kürzesten, aber oft eben auch den gefährlichsten Weg. Allein für das Jahr 2011 verzeichnet die Europäische Union 64300 illegale Einwanderungen über die zentrale Mittelmeerroute. Doch die Zahl derjenigen, die bei diesen Fluchtversuchen nach Griechenland, Italien oder Spanien ums Leben kommen, registriert die Europäische Union nicht. Auch die einzelnen EU -Mitgliedsstaaten ziehen es vor, die Todesfälle an ihren gemeinsam verwalteten Außengrenzen undokumentiert zu lassen. Zumindest existiert keine offizielle Statistik, die über die ständig wachsende Zahl von Opfern zuverlässig Auskunft erteilt. Zu den Leichen, die beispielsweise nach Bootsunfällen von den nationalen Küstenwachen geborgen oder die irgendwo an (europäisches) Land gespült werden, gibt es kaum zuverlässige Angaben. Sie werden in der Regel anonym bestattet.2 Eine Arbeitsgruppe europäischer Journalisten arbeitet seit einiger Zeit daran, diese Anonymität zu durchbrechen und verlässliches Datenmaterial zu sammeln. Eine interaktive Karte macht mittlerweile zu Flüchtlingsrouten, Vermisstenlisten und Todesraten gesicherte Angaben.3 Das Projekt »The Migrants’ Files«, an dem die Neue Zürcher Zeitung, die spanische Tageszeitung El Confidencial und die französische Le Monde diplomatique beteiligt sind, korrigiert die bisher existierenden Schätzungen, unter anderem die des UN -Flüchtlingswerkes UNHCR , nach oben auf 23258 Tote seit dem Jahr 2000. Die mit Abstand meisten Opfer fordern die Fluchtrouten über das Meer. Alle Organisationen, die sich mit Datenerhebungen zur illegalen Migration nach Europa befassen, gehen allerdings trotz dieser bereits dramatischen Zahl von einer erheblichen Dunkelziffer und somit von noch weitaus höheren Todesraten aus. Das Mittelmeer ist zum Massengrab geworden.

2

3

Vgl. den Bericht von PRO ASYL vom 31. März 2014: http://www.proasyl.de/ de/news/detail/news/neue_schaetzung_mindestens_23000_tote_fluechtlinge _seit_dem_jahr_2000/?cHash=4c83c21450553a8e13c4de754559222b&no_cache =1&sword_list%5B0 %5D=neue&sword_list%5B1 %5D=sch%C3 %A4tzun gen [13. 10. 2014]. Zu diesem Projekt vgl. http://www.journalismfund.eu/migrants-files [13. 10. 2014].

120

Angesichts dieser Grenzrealitäten sieht sich Brüssel schon seit Längerem massiver Kritik gegenüber. Die Europäische Union schotte sich gegenüber ihren Nachbarn, vor allem im Mittelmeerraum, rigoros ab und praktiziere eine immer rigidere und zuweilen rechtlich fragwürdige Grenzsicherungspolitik.4 Vor allem die völkerrechtswidrigen Pushbacks in der Ägäis seien Bestandteil und Konsequenz einer europäischen Abwehrpolitik, die unter Inkaufnahme Tausender Tote auf Grenzschließung statt auf Flüchtlingsschutz setze. Die EU -Grenzagentur Frontex diene dem Kampf gegen illegale Migration, sie sei integraler Bestandteil eines auf Flüchtlingsabwehr zielenden europäischen Grenzregimes und eben keine – wie es ebenso zutreffend wie zynisch heißt – Seenotrettungsorganisation. Die Europäische Union setzt trotz massiver Kritik ihre bisherige Grenzsicherungspolitik fort und streitet sich unterdessen über die Verteilungsquoten für Asylsuchende. Die allein von Italien finanzierte Marineoperation »Mare Nostrum« zur Rettung von Flüchtlingen ist mittlerweile ausgelaufen. Und das 2013 ins Leben gerufene europäische Grenzüberwachungssystem EUROSUR sieht zwar die Identifikation von Flüchtlingsbooten vor, konzentriert sich aber auf deren Ortung und Überwachung. Ob der Einsatz von Drohnen und Offshore-Sensoren tatsächlich dazu führen wird, dass deutlich weniger Flüchtlinge an den EU -Außengrenzen sterben, oder damit eher die generelle Strategie der Migrationsabwehr unterstützt wird, ist überaus strittig. Derweil kostet EUROSUR jedenfalls sehr viel Geld, und die jüngsten Positionspapiere der EU -Innenminister lassen eine Kurskorrektur in der europäischen Grenzsicherungspolitik nicht erkennen: Die Mitgliedsstaaten setzen auf Grenzabschottung, auf exterritoriale Grenzkontrollen sowie auf eine vorgelagerte Steuerung »problematischer Menschenströme«, wie es im Behördenjargon mittlerweile heißt.

4

Zur Grenzschutzagentur Frontex liegen bisher vor allem rechtswissenschaftliche Studien vor, vgl. beispielsweise: Matthias Lehnert, Frontex und operative Maßnahmen an den europäischen Außengrenzen: Verwaltungskooperation – materielle Rechtsgrundlagen – institutionelle Kontrolle, Baden-Baden 2014; Simon Neumann, Die europäische Grenzschutzagentur Frontex: integrierter Außengrenzschutz und humanitäre Standards, Berlin 2014; Juliane Seehase, Die Grenzschutzagentur Frontex: Chance oder Bedrohung für den europäischen Flüchtlingsschutz, Baden-Baden 2013.

121

Angesichts solcher Grenzrealitäten stellt sich die Frage nach der territorialen Verfasstheit der Europäischen Union zweifellos mit einer gewissen Brisanz. In der Forschung wird in diesem Zusammenhang intensiv über die Interdependenzen von De- und Re-Territorialisierungsprozessen wie auch über Konturen einer bisher allenfalls schemenhaften Postterritorialität diskutiert.5 Wer aber will vor dem Hintergrund derartiger Grenzzwischenfälle, wie sie nahezu täglich in den Nachrichten gemeldet werden, ernsthaft behaupten wollen, Territorialität verliere im Zeitalter postsouveräner Herrschaftsordnungen ihre raumordnende und zuweilen auch konfliktgenerierende Wirkung? Der These, in postsouveränen Systemen würden territoriale Markierungen zunehmend bedeutungslos, wurde an verschiedenen Stellen bereits dezidiert und zu Recht widersprochen.6 Trotzdem ist das, was sich in den letzten Jahrzehnten im Zuge der europäischen Integration und vor allem nach der sogenannten Osterweiterung 2004/2007 territorial verändert hat, in mehrfacher Hinsicht gravierend, schließlich unterhält kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union heute Grenzen, die sich im klassischen Sinne noch als nationalstaatlich bezeichnen lassen. Dieser territoriale Wandel soll im Folgenden zunächst anhand von Selbstbeschreibungen der Europäischen Union nachgezeichnet und anschließend in seinen Dynamiken und Referenzrahmungen reflektiert und analysiert werden. Dabei wird die Beobachtung im Mittelpunkt stehen, dass die Interdependenz von garantierter Freizügigkeit im Inneren und einer zunehmend rigideren Abschottung nach außen mit einem Selbstverständnis in Konflikt gerät, das diesen territorialen Grundwiderspruch eigentlich überwinden möchte, ihn aber letztlich auf supranationaler Ebene maßstabsgerecht reproduziert. Welche Kon5

6

Vgl. Gilles Deleuze/Felix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II (1980), Berlin 1992; Akhil Gupta/JamesFerguson (Hg.), Culture, Power, Place. Explorations in Critical Anthropology, Durham 2003; für die deutsche Debatte zentral: Charles S. Maier, Transformations of Territoriality 1600–2000, in: Gunilla Budde/Sebastian Conrad/Oliver Janz (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 32–55; Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt am Main 2006. Vgl. hierzu beispielhaft: Schroer, Räume, Orte, Grenzen; vor allem S. 207–227; Tobias Chilla, Punkt, Linie, Fläche: Territorialisierte Europäisierung, Frankfurt am Main 2013.

122

sequenzen ergeben sich aus dieser räumlichen Spannung für das Verständnis der eigenen territorialen Verfasstheit und vor allem für die Grenzpraktiken an den Binnen- wie auch an den EU -Außengrenzen? Welche Handlungsrationalitäten folgen aus einer räumlichen Konstellation, die sich sowohl von imperialen wie auch von nationalstaatlichen Raumkonzepten distanziert, sich aus diesen räumlichen Ordnungslogiken aber nicht vollständig gelöst hat? Die Grenzrealitäten in Europa verdeutlichen, dass klassische Konzepte wie Empire, Imperium, Staatenbund oder Bundesstaat der Komplexität von postsouveränen Herrschaftsordnungen kaum gerecht werden und sich damit allenfalls noch Teilaspekte zutreffend kategorisieren lassen. Abschließend soll es daher um Überlegungen gehen, ob und wie sich die Europäische Union als supranationaler Raum verstehen und beschreiben lässt.

Größer, schneller, weiter? Wachstumssemantiken in europäischen Selbstbeschreibungen Kaum eine andere politische Institution investiert wohl vergleichbar viel Energie, Sorgfalt und Ressourcen in ihre politische Selbstdarstellung nach außen wie nach innen. Unzählige Broschüren, Flyer, Kartenwerke und Schriftenreihen sind gedruckt oder online in zumeist mehreren Sprachen verfügbar, flankiert mit speziellen Angeboten für die kleinen Unionsbürger, denen Geschichte, Zielsetzung und Entwicklung der europäischen Integration als Comic, Quiz oder als spannende Fortsetzungsgeschichte nahegebracht werden sollen.7 Die Europäische Union bemüht sich um ein Image, das auf Vgl. die entsprechenden Online-Portale, beispielsweise: Europäische Kommission (Hg.), Die Europäische Union verstehen. Mach dich schlau mit Superjhemp, Brüssel 2012, http://bookshop.europa.eu/de/die-europaeische-unionverstehen-pbID3209182/ [15. 10. 2014]; dies. (Hg.), Der Krieg ums Himbeereis. Ein Comic für junge Leute über ein friedliches Europa ohne Grenzen, Brüssel 1998, http://bookshop.europa.eu/de/ er krie m him eerei 10 1 0/ [15. 10. 2014]; kartografisch umgesetzt in der Zeichnung: In Vielfalt 7

123

Bürgernähe, Transparenz und Partizipation zielt. Das europäische Projekt will wegen seiner einzigartigen und nicht immer leicht zu durchschauenden Architektur offenbar immer wieder neu begründet, erklärt und vermittelt werden. Dafür bedient sich die EU nicht nur, aber doch in signifikanter Weise unterschiedlicher Raumsemantiken, um die territoriale Ordnung Europas in ihrer Entstehung wie auch in ihrer aktuellen Gestalt zu veranschaulichen. Zwei Formeln stehen dabei im Zentrum: zum einen die vom »Raum ohne Binnengrenzen«, die seit den 1980er Jahren in erster Linie die ökonomische Integration der Mitgliedsstaaten kennzeichnet und darüber hinaus die Freizügigkeit innerhalb der EU betont, zum anderen die Rede vom »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts«, die seit 1999 verstärkt auf die politische Integration Europas abhebt und damit die gewünschte Vertiefung der europäischen Verflechtung zum Ausdruck bringt.8 Gleichzeitig etablierte die Europäische Union in den letzten fünfzig Jahren weitere davon abgeleitete Raumbilder. So gehören beispielsweise seit 1985 immer mehr europäische Staaten zum sogenannten Schengen-Raum, in dem die Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedsstaaten weitgehend abgebaut sind, und die 1999 eingeführte Gemeinschaftswährung konstituiert seither den viel beschworenen Euro-Raum. Im Unterschied zum klassischen Bild des räumlichen Containers, der ja mit eher starren Konzepten von Territorialität assoziiert ist, wird dem EU -Raum eine Dynamik eingeschrieben, die auf Bewegung und Entwicklung zielt. Ob man die Römischen Verträge liest, sich die Übereinkünfte von Maastricht und Lissabon anschaut oder aber die Kopenhagener Kriterien zugrunde legt: Semantisch kreisen die Vorstellungen der eigenen territorialen Verfasstheit um den schillernden Begriff des Wachstums, der ja sowohl historisch wie auch gegenwartsdiagnostisch nicht frei von Ambivalenzen ist. In einer Schriftenreihe der Europäischen Union, »in deren Rahmen die Aktivitäten der EU in unterschiedlichen Politikfeldern, die Gründe ihrer Einbindung und die Ergebnisse erläu-

8

geeint, hg. von der Europäischen Kommission, Brüssel 2014, http://bookshop. europa.eu/de/in-vielfalt-geeint-pbKC0113689/?CatalogCategoryID =5giep2Ix SeYAAAE u.lwD0UdL [15. 10. 2014]. Vgl. hierzu den Beitrag von Nikola Tietze in diesem Band.

124

tert werden«9, findet man detaillierte Ausführungen zu den EU -spezifischen Wachstums- und Erweiterungsprämissen seit Gründung der EU . Programmatisch heißt es dazu in einer 2003 verfassten Kommissionsbroschüre, dass »die Europäische Union (…) ihrem Wesen nach dazu bestimmt (ist), zu wachsen«.10 Sie stehe allen europäischen Staaten offen, die in der Lage seien, die wirtschaftlichen Herausforderungen der Mitgliedschaft zu bewältigen und das EU -Recht anzuwenden. Anlässlich der bevorstehenden Osterweiterung 2004 erklärte die Kommission zudem, dass alle zehn Beitrittskandidaten demnächst hinzukommen werden, »weil sie ihren natürlichen Platz in der EU sehen und die Ziele Freiheit, Demokratie und Wohlstand mit ihr gemeinsam haben«.11 Der seit 2010 für Erweiterungsfragen zuständige Kommissar Sˇtefan Füle betont darüber hinaus, dass die Erweiterungspolitik Europa sicherer und stabiler mache. Sie »ermöglicht uns, zu wachsen, unsere Werte voranzubringen und unsere Rolle als Global Player auf der Weltbühne wahrzunehmen«.12 Konsequenterweise zielt die jüngst beschlossene Agenda »Europa 2020« dann auch vordringlich »auf intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum«.13 Bei so viel Steigerungsrhetorik ist es dann kaum noch verwunderlich, dass das Kinderquiz unter dem Titel »Europa wächst« auf die dichte Besiedlung in Europa aufmerksam macht und mit Verweis auf insgesamt 500 Millionen Unionsbürger scheinbar ahnungslos fragt: »Wo wird’s eng?«14 Auf die historischen Referenztexte, die mit solchen Formulierungen aufgerufen sind, wird hier an späterer Stelle noch zurückzukom-

9

10

11 12 13

14

Vgl. die offiziellen Erläuterungen der EU zu dieser Schriftenreihe, so beispielweise in der Broschüre: Europäische Kommission (Hg.), Erweiterung. Die europäischen Werte und Standards in mehr Länder tragen, Brüssel 2014, S. 2, http://bookshop.europa.eu/de/erweiterung-pbNA7012019/ [15. 10. 2014]. Europäische Kommission (Hg.), Mehr Einheit und mehr Vielfalt. Die größte Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union, Brüssel 2003, S. 3 (Hervorhebung U. J.), http://bookshop.europa.eu/de/mehr-einheit-und-mehr-vielfalt-pbNA4702389/ [15. 10. 2014]. Ebenda (Hervorhebung U. J.). Vgl. Europäische Kommission (Hg.), Erweiterung. Vgl. zur Wachstumsstrategie der EU die entsprechenden Verlautbarungen und Richtlinien vom 2. Juni 2014, http://ec.europa.eu/europe2020/europe-2020-ina-nutshell/flagship-initiatives/index_de.htm [15. 10. 2014]. Europäische Kommission (Hg.), Mach dich schlau mit Superjhemp, S. 23.

125

men sein. Einstweilen erweist sich Wachstum in diesen und vielen anderen Selbstzeugnissen der EU als ein zentrales Element europäischen Selbstverständnisses. Im Rahmen der Brüsseler Entwicklungs- und Integrationspolitik dienen Wachstumssemantiken dazu, Modernisierungs- und Fortschrittsnarrative zu unterfüttern. Nahezu naturgesetzlich scheinen in dieser Logik zurückliegende, gegenwärtige wie auch zukünftige Entwicklungsprozesse in Europa nur durch stete Zuwächse möglich und herstellbar zu sein. Folglich lautet die Antwort auf vielerlei Problemlagen innerhalb der Europäischen Union – sei es die grassierende Jugendarbeitslosigkeit, das strukturelle Demokratiedefizit oder der fehlende Infrastrukturausbau – immer wieder und vor allem: Wachstum. Dabei lassen sich mindestens drei Ebenen unterscheiden, die nicht nur mit einschlägigen Wachstumssemantiken belegt werden, sondern die sich über die Hintergrundannahme wachsender Räume auf spezifische Weise konstituieren. Wachstum bezieht sich in den Selbstbeschreibungen der EU zum einen auf die territoriale Ausdehnung der Europäischen Union, zum anderen auf erreichte oder angestrebte ökonomische Zuwächse und darüber hinaus auf die Vertiefung der politischen Integration unter den Mitgliedsstaaten. Historisch ist die Vorstellung wachsender Räume eng mit imperialen und kolonialen Expansionsbestrebungen des 19. und 20. Jahrhunderts verwoben. Im Zuge der Biologisierung geografischer Wissensbestände wurden organizistische Staats- und Territorialitätsauffassungen mit einem physiologisch-biologischen Vokabular ausgestattet, das es erlauben sollte, imperiale Politik mithilfe von räumlichen Gesetzmäßigkeiten wissenschaftlich zu legitimieren und vor allem zu prognostizieren. Die Auffassung, Staaten seien wie andere Lebewesen auch von »natürlichen« Bewegungsantrieben geprägt, führte unweigerlich dazu, die vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten des räumlichen Wachsens als einen »Kampf um Raum« zu ideologisieren. Da mit dieser evolutionstheoretischen Raummechanik vor allem koloniale Landnahmen legitimiert wurden, gehörte die Vorstellung wachsender Räume schon bald zum Grundwortschatz imperialer Rechtfertigungsdiskurse. Eine zwischen Geo- und Biowissenschaften vermittelnde Biogeografie rechtfertigte koloniale Expansionen, indem sie den politischen Raum nicht mehr nur als Lebensform auffasste, sondern in eine Kategorie des Lebens selbst und damit zu einer Kategorie der Substanz wandelte. Diesen Transfer vollzog die Poli126

tische Geografie und mit ihr die spätere Geopolitik mittels einer geografisch begründeten Evolutions- und Bewegungstheorie, in der die Kräfte des kapitalistisch-industriellen Weltmarktes zu Dynamiken des Lebens naturalisierten und Weltgeschichte als Naturgeschichte konzipiert wurde.15 Damit war auch der Anspruch verbunden, bevölkerungsstarke, kulturell hoch entwickelte Staaten verfügten allein schon wegen ihres hohen Nahrungs- und Ressourcenbedarfs über ein quasi »natürliches« Recht auf koloniale Landnahme. Vor allem in Korrespondenz mit einer anwendungsorientierten Politikwissenschaft entstand eine am Darwinismus konturierte, evolutions- und migrationstheoretische Raumkonzeption, mit der ökonomische Verdichtungseffekte in das Feld staatlicher Territorialisierungs- und Expansionsprozesse transferiert wurden. Historisch stehen die von der Europäischen Union verwendeten Wachstumssemantiken also in einem mehr oder weniger eindeutigen Kontext: Wenn die Kommission davon spricht, die EU sei »ihrem Wesen nach dazu bestimmt zu wachsen«, und ihre Erweiterungsprämissen auch noch mit ökonomischen und demografischen Wachstumslogiken verknüpft, dann lässt sich kaum noch gegen den Eindruck anlesen, hier äußert sich eine moderne imperiale Macht, die ihren Herrschaftsanspruch offensiv vertritt und es gleichzeitig geschickt versteht, die für imperiale Projekte unverzichtbaren Zivilisierungs- und Modernisierungsmissionen zeitgemäß in Szene zu setzen. Im Kontext der damit aufgerufenen historischen Diskurse wirken bestimmte Formate der Selbstdarstellung dann zweifellos befremdlich: Zahlreiche Karten, die die bisherigen Erweiterungsrunden der Europäischen Union zwischen 1952 und 2013 darstellen, visualisieren einen mehrstufigen Expansionsprozess, der sich seit Ende des Zweiten Weltkrieges immer weiter über Europa ausgebreitet hat und der mit der Benennung potenzieller Kandidatenländer

15

Zur Disziplingeschichte der Geografie vgl. Iris Schröder, Das Wissen von der ganzen Welt. Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790–1870, Paderborn 2011; Mechthild Rössler, Wissenschaft und Lebensraum. Geographische Ostforschung im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Disziplingeschichte der Geographie, Berlin 1990; Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012.

127

bereits auf zukünftige territoriale Zugewinne verweist.16 Nicht ohne Stolz wird dann noch verkündet, dass die EU seit 1952 »von sechs auf 28 Mitglieder angewachsen (ist), sie erstreckt sich vom Atlantik zum Schwarzen Meer. In ihr leben heute über 500 Millionen Menschen.«17 Die Europäische Union gleicht demnach einem wachsenden Organismus, und die Expansions- und Erweiterungsschübe der letzten fünfzig Jahre scheinen genau das zu bestätigen, was Geopolitiker schon immer wussten: Europa ist ein wachsender und ökonomisch leistungsfähiger Kontinent, der sich aufgrund natürlicher Bewegungsantriebe weiter ausbreiten und mithin »die europäischen Werte und Standards« in immer mehr Länder tragen will und wird. Wo dieser Prozess mal sein Ende finden könnte, bleibt offen, schließlich liegt die mit dem »Wesen der EU « begründete Erweiterungsdynamik »im Interesse sowohl der Mitgliedsstaaten als auch der beitretenden Länder. Sie macht Europa sicherer und wohlhabender, vor allem durch Förderung von Demokratie und Grundfreiheiten, Rechtsstaatlichkeit und Binnenmarkt.«18

Raum ohne Grenzen? Die Europäische Union auf der Suche nach ihrer territorialen Verfasstheit Während die Wachstumssemantiken auf historische Referenzen verweisen, die nicht nur im weitesten, sondern schon im engeren Sinne als geopolitisch bezeichnet werden müssen, konterkariert die Europäische Union den eigenen Selbstentwurf durch die gleichzeitige Behauptung, die eben noch als »natürlich« ausgegebene Erweiterungsdynamik beruhe (zugleich oder trotz allem) auf dem freiwilligen Beitritt derjenigen demokratischen Staaten, die die Voraussetzungen im Sinne der Kopenhagener Kriterien uneingeschränkt erfüllen. Der Wachstumsmechanismus, der für die bisherigen Erweiterungsschübe der Europäischen Union als maßgeblich erachtet wird, wäre demnach normativ und nicht (nur?) geopolitisch bestimmt. Die Eu-

16 17 18

Europäische Kommission (Hg.), Erweiterung, S. 4. Europäische Kommission (Hg.), Erweiterung, S. 3. Ebenda.

128

ropäische Union »ist in erster Linie eine Wertegemeinschaft. Wir sind eine Familie demokratischer europäischer Länder, die sich gemeinsam für Frieden, Freiheit, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit einsetzen. Wir verteidigen diese Werte.«19 Die Erweiterungspolitik der EU scheint also an Bedingungen geknüpft zu sein, die hauptsächlich normativ, im Konkreten dann ökonomisch, rechtlich und politisch gefasst sind. Wie sind diese beiden widersprüchlichen Argumentationsfiguren miteinander zu vereinbaren? Es wird deutlich, dass die Europäische Union immer dann, wenn es um allgemeine und grundlegende Identitätszuschreibungen geht, Raumbilder verwendet, die in erster Linie auf »natürliche« Gegebenheiten, auf naturgesetzliche Entwicklungen oder Voraussetzungen rekurrieren. In diesen Kontexten spricht sie von ihrem zum Wachstum neigenden »Wesen«, von »natürlichen« Zugehörigkeiten in einem Europa, das sie geografisch herleitet und als eindeutig identifizierbar ausgibt. Europa »ist der zweitkleinste Kontinent unserer Erde. Aber kein anderer Kontinent ist so reich gegliedert. Im Osten grenzt er an Asien, die Grenzlinie bildet das Gebirgsmassiv des Ural. Der Rest des Kontinents wird von Meeren umgeben: im Westen und im Nordwesten vom Atlantischen Ozean und seinen Nebenmeeren, im Süden vom Mittelmeer.«20 Noch Fragen? Sämtliche Kontroversen über die Größe Europas, über die Zugehörigkeiten bestimmter Länder und Regionen sind offenbar gegenstandslos, wenn die Europäische Union sich selbst in der Sprache einer wissenschaftlich längst überholten Landschaftsgeografie beschreibt. Während also auf dieser Ebene substanzialistische Selbstbilder vorherrschen, ist der Mechanismus der Erweiterung gleichzeitig normativ beziehungsweise politisch-ökonomisch gefasst. Wachstum erweist sich dann nicht nur als Erlösungsformel für europäische Notlagen aller Art, Wachstum ist auch das begriffliche Bindeglied für die zwischen biologischen und politisch-kulturellen Mustern changierenden Selbstreflektionen. Die Gemengelage aus geopolitischen, teils auch biologistisch aufgeladenen Bildern einerseits und politisch-normativen Raumsemantiken andererseits macht die Angelegenheit nicht nur missverständlich und kompliziert, sie zieht auch gewisse Handlungsrationalitäten mit eklatanten Folgen nach sich. Die EU greift im Rahmen 19 20

Ebenda. Europäische Kommission (Hg.), Mach dich schlau mit Superjhemp, S. 8.

129

ihrer ordnungspolitischen Selbstbeschreibungen auf ein Reservoir an Herkunfts- und Ursprungsnarrativen zurück, aus dem sich bislang vor allem nationalstaatliche, imperiale wie auch ethnisch-völkische Systeme bedient haben. Wer seinen »natürlichen« Gegebenheiten und seinem eigenen »Wesen« politische Relevanz zuspricht, wer auf Gesetze wachsender Räume verweist, der rekurriert auf kollektive Selbstbeschreibungen, die Homogenität als Strukturprinzip verankert haben. Mittlerweile ist ja hinlänglich bekannt, dass es sich auch bei diesen Herrschaftsordnungen allenfalls um imaginierte Gemeinschaften handelt, gleichwohl gehen damit bestimmte politische Handlungsrationalitäten einher, die ihren Einheitsnarrativen eingeschrieben sind. Dass die Vorstellung homogener Gemeinschaften für europäische Verflechtungs- und Integrationspolitiken gewisse Legitimationsprobleme mit sich bringt, scheint auch der EU nicht entgangen zu sein – sie setzt den Kontrapunkt mit dem Slogan »Mehr Einheit und mehr Vielfalt«, doch die politischen Herausforderungen, die latente Homogenitätsstrukturen nach sich ziehen, lassen sich nicht mit einem noch so gut gemeinten Kulturpluralismus entschärfen. Homogene Herrschaftssysteme entwickeln spezifische Antworten auf Fragen von Staatlichkeit, Migration, Staatsbürgerschaft und Grenzsicherung – um nur einige zu nennen. Nationalstaaten sind eben Nationalstaaten, weil sie ihre Einheitsvorstellung als Nation durch mehr oder weniger rigide Abgrenzungen gegenüber anderen Kollektiven immer wieder herstellen und bestätigen müssen. Territorial heißt das, Grenzen zu errichten, sie zu kontrollieren, sie zu verwalten, ihre Durchlässigkeit zu regulieren wie auch genügend Abschottung nach außen herzustellen und zu garantieren. Europäische Nationalstaaten haben komplexe Grenzregime institutionalisiert, die nicht nur relativ effektiv das Eigene vom Fremden unterscheiden, sondern die darüber hinaus nach bestimmten räumlichen Grundprinzipien funktionieren. Denn für das Homogenitätsversprechen nach innen bleibt die räumliche Unterscheidung hier/dort gegenüber denjenigen, die nicht zum eigenen Kollektiv zählen, konstitutiv. Oder anders gesagt: Die Interdependenz von garantierter Freizügigkeit im Inneren und einer immer rigideren Abschottung nach außen erzeugt genau jenen territorialen Grundkonflikt, den die Europäische Union eigentlich zu überwinden hoffte. Für ihr Selbstverständnis erweist es sich in der Praxis hingegen als maßgeblich, nationalstaatliche Grenzkonzepte aufzugreifen und für 130

das eigene Selbstverständnis in Anspruch zu nehmen, sie gleichzeitig aber durchbrechen zu wollen, um sie mit anderen, postsouveränen Bedeutungsinhalten aufzuladen. An der europäischen Grenzpolitik zeigt sich besonders eindringlich, welche gravierenden Folgen ein solches Vabanque-Spiel haben kann. Die EU -Außengrenzen sind zwar aufgrund geteilter Souveränitäten keine nationalstaatlichen Grenzen, sie werden aber nach Prinzipien verwaltet und kontrolliert, die im Rahmen europäischer Nationalstaatsbildung entwickelt wurden und die den zugrunde liegenden Homogenitätsvorstellungen Rechnung tragen. Migrationsabwehr ist beispielsweise ein Kernelement nationalstaatlicher Grenzsicherung. Nation war und ist ein Kollektivversprechen, das erst einmal hergestellt sein will und anschließend immer wieder reproduziert werden muss. Postsouveräne Systeme wie die Europäische Union stehen daher vor der Herausforderung, nicht nur ihre Hoheitsrechte zu teilen und hoheitsrechtliche Aufgaben gegebenenfalls an einzelne Mitgliedsstaaten zu delegieren, sondern gänzlich andere, eben postsouveräne Grenzregime zu entwickeln. Da reicht es nicht, von der Vielfalt in Europa zu schwärmen, denn schließlich meint die EU damit ja auch nur eine bestimmte, gleichwohl europäisch definierte Pluralität, die ebenso wenig ohne Alteritäten auskommt wie der Nationalstaat. Die räumliche Differenzierung zwischen Hier und Dort lässt sich auf diese Weise jedenfalls nicht aushebeln. Die Europäische Union hat bis vor Kurzem versucht, diesem Dilemma zu entkommen, indem sie eine aktive Expansions- und Erweiterungspolitik verfolgte. Wandernde Grenzen und wachsende Räume eröffneten die Möglichkeit, die realen Grenzschließungs- und Abschottungsmaßnahmen im Dickicht einer nicht näher differenzierten Postterritorialität verschwinden zu lassen. Wer offensiv behauptet, Europa stehe allen Ländern, die sich den Werten der Europäischen Union verpflichtet fühlen, grundsätzlich offen, der zielt territorial auf dynamische Grenzverhältnisse. Die Bewegungsdynamik, die mit Vorstellungen wachsender Räume verbunden ist, suggeriert dann eine territoriale Offenheit, die die faktischen Grenzziehungen als provisorisch erscheinen lässt und ihnen unter der Hand eine gewisse Vorläufigkeit attestiert. Die damit verbundene Strategie, die Containerisierung der Europäischen Union durch eine aktive und normativ aufgeladene Erweiterungspolitik zu durchkreuzen, war indes so erfolgreich, dass sie ebenso rasant wie durchschlagend scheitern musste. 131

Wachstum ohne Erweiterung? Die Europäische Union als postsouveräner Raum Mit der sogenannten Osterweiterung 2004/2007 vollzog die Europäische Union eine Erweiterungsrunde, deren Auswirkungen vorher vielleicht geahnt, aber in ihrer Tragweite nicht wirklich erkannt worden sind. Der Beitritt von insgesamt zehn neuen Mitgliedsstaaten hat die Gesamtbevölkerung der EU um mehr als 20 % erhöht und die EU -Außengrenzen im Osten, Süden und Südosten signifikant verschoben. Doch vor allem stellte die Osterweiterung die Europäische Union als postsouveräne Ordnung vor völlig neue Aufgaben und Herausforderungen. Nicht nur waren die ökonomischen Unterschiede zwischen Beitritts- und Mitgliedsstaaten weitaus gravierender als bei den vorherigen Erweiterungsrunden, auch erreichte die Komplexität der politischen Entscheidungs- und Handlungsprozesse ein ganz anderes Niveau. Georg Vobruba bezeichnet diesen tiefgreifenden Wandel zutreffend als »Erweiterung ohne Integration« und verdeutlicht damit, dass seit 2004/2007 »Integration und Erweiterung zueinander in offenen Widerspruch geraten sind und das europäische Integrationsprojekt seitdem stagniert«.21 Relativ schnell nach dem Beitritt zeichnete sich ab, dass dieser Erweiterungsschritt nicht nur in Form von politischen und ökonomischen Anpassungs- und Angleichungsprozessen zu bewerkstelligen sein würde, sondern sich die Europäische Union als postsouveränes System insgesamt verändern musste, wenn sie nicht scheitern wollte. Territorial konkretisierte sich diese Anforderung mit der Frage, wie die bisherigen Expansions- und Erweiterungsbestrebungen zukünftig reguliert werden sollen, denn dass die EU nicht in gleichem Maße und mit gleichem Tempo weitere territoriale Zugewinne würde verkraften können, war ebenso offensichtlich wie unstrittig. Romano Prodi erklärte bereits 2002, dass jede Erweiterungsrunde neue Nachbarn mit sich gebracht habe und diese dann später häufig selbst Beitrittskandidaten geworden seien. Der Prozess der Selbstperpetuierung ließ auch 2004 nicht lange auf sich warten.22 Polen begann unverzüg21

22

Georg Vobruba, Der postnationale Raum. Transformation von Souveränität und Grenzen in Europa, Weinheim und Basel 2012, S. 65. Vgl. ebenda, S. 74.

132

lich für den Beitritt der Ukraine zu werben, und Rumänien entdeckte sein Herz für Moldawien. Die neuen EU -Mitgliedsstaaten waren alsbald daran interessiert, auch ihre Nachbarn ohne EU -Mitgliedschaft in den Europäisierungsprozess einzubeziehen, nicht nur, weil es sich neben ökonomisch und politisch ähnlichen Verhältnissen besser leben lässt, sondern auch um die konfliktträchtige EU -Außengrenze perspektivisch an die Beitrittskandidaten abgeben zu können. Dieser Effekt der europäischen Erweiterungspolitik verdeutlicht, wie wenig sich die EU der Mechanismen, Dynamiken und Logiken ihrer eigenen territorialen Verfasstheit als postsouveränes Gefüge lange Zeit bewusst gewesen zu sein scheint. Die Tendenz, territoriale Offenheit als Kernelement der eigene Ordnung zu propagieren, gleichzeitig jedoch rigide Praktiken der Grenzschließung gegenüber Drittstaaten zu etablieren, verweist auf einen Grundwiderspruch europäischen Selbstverständnisses. Da die EU weder Nationalstaat, Imperium noch Staatenbund ist und auch nicht sein will und ihre Erweiterungs-, Integrations- und Verflechtungspolitiken nach innen wie nach außen möglichst konfliktfrei und im gegenseitigen Einvernehmen um- und durchsetzen möchte, bleibt ihr Verhältnis zu dem, was man gemeinhin Großraumpolitik nennt, weitgehend diffus. Das hat vor allem historische Gründe.23 Die Europäische Union konstituierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als ökonomische und sicherheitspolitische, erst sehr viel später auch als politische Gemeinschaft. Aufgrund der verheerenden Kriegserfahrungen zielte sie zwar nicht auf die Abschaffung, wohl aber auf die Transformation des europäischen Nationalstaatensystems. Besonders günstig war die weltpolitische Lage dafür nicht. Im Kalten Krieg schien die Europäische Gemeinschaft als ein staatenübergreifendes Gefüge, das auf Kommunikation, Verfahren und politischen Konsens setzte, nicht in die Zeit hegemonialen Großraumdenkens zu passen. Ein gesamteuropäisches Projekt war an der Schnittstelle der beiden Großmachtblöcke jedenfalls vorerst nicht zu realisieren. Es ist daher kein Zufall, dass sich die EU erst seit den 1980er Jahren als dezidiert politischer Zusammenschluss zu formieren begann. Mit dem Übergang von einer primär ökonomisch-sicherheitspolitischen Gemeinschaft 23

Zum Großraumbegriff und zu seinen historischen Implikationen vgl. Rüdiger Voigt (Hg.), Großraum-Denken. Carl Schmitts Kategorie der Großraumordnung, Stuttgart 2008.

133

zu einem postsouveränen Herrschaftsgefüge, zumal in dieser Größenordnung, war und ist allerdings auch die Notwendigkeit verbunden, sich als weltpolitischer Akteur zu konstituieren. Territorial tat sich die Europäische Union damit äußerst schwer. Sie distanzierte sich alsbald von Ordnungsmodellen, die historisch mit Mitteleuropa- und Großraumkonzepten assoziiert waren und die wegen ihrer teils imperialen, teils hegemonialen Grundstruktur als ungeeignet galten. Gänzlich heraustreten konnte sie aus diesem Horizont indes aber nicht. Expansion durch Wachstum hieß die EU ropäische Antwort auf die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, und das offenbar in der irrigen Annahme, Wachstumssemantiken könnten aus ihren historischen Referenzrahmungen einfach herausgelöst und im Sinne der auf Verständigung, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit basierenden Europäisierungspolitik umgedeutet werden. Die langjährige Strategie, den fortschreitenden und letztlich unvermeidlichen Containerisierungsprozess in Europa mit einer zwar nicht explizit imperialen, wohl aber wertorientierten Expansionspolitik zu flankieren und damit die rigorosen Schließungsmaßnahmen an den EU -Außengrenzen abzufedern, kann spätestens seit 2007 als gescheitert gelten. Die bisherige Erweiterungseuphorie ist mittlerweile einer Territorialisierungslogik gewichen, die vor allem Schadensbegrenzung betreibt und die sich darum bemüht, die popularisierten Wachstumsdynamiken durch gezielte Nachbarschaftspolitiken halbwegs geräuschlos wieder stillzustellen. Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP ), wie sie seit etwa 2002 entwickelt und fortgeschrieben worden ist, gehört zu den entscheidenden Neujustierungen, mit denen die europäische Expansions- und Erweiterungspolitik reguliert werden soll. Im Kern geht es dabei um die Installation einer »abgestuften Integration«24, was bedeutet, dass die EU »besondere Beziehungen zu den Ländern in ihrer Nachbarschaft (entwickelt), um einen Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft zu schaffen, der auf den Werten der Union aufbaut und sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet«.25 Das nunmehr abgestufte System der poli24 25

Vgl. Georg Vobruba, Der postnationale Raum, S. 68. Artikel 7a, Vertrag von Lissabon vom 17. Dezember 2007, http://eur-lex.europa. eu/legal-content/ D E / T X T / P D F /?uri= O J :C: 2007 : 306 : F U L L &from= D E [15.10.2014].

134

tischen Vergemeinschaftung konstituiert sich fortan in drei verschiedenen Raumeinheiten: zum einen im »Raum ohne Binnengrenzen« (1986), zum anderen im »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« (1999) sowie drittens im »Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft« (2007). Mit diesem letzten Schritt korrigiert die EU ihre bisherige Integrations- und Kohäsionspolitik elementar, denn sie etabliert mit der ENP erstmals einen Mechanismus abgestufter Integrations- und Rechtsverhältnisse, und zwar sowohl mit wie auch ohne Beitrittsperspektive. Für die Ukraine, für Georgien oder für Marokko – um nur einige Beispiele zu nennen – ergeben sich daraus verschiedene Assoziierungsverhältnisse, deren Nutzen sich in jedem Einzelfall erst noch erweisen muss.26 Die Europäische Union gibt damit das Grundprinzip der einheitlichen Integration zugunsten eines gestuften und somit asymmetrischen Ordnungsmodells auf. Territorial vollzieht sie mit der ENP jedenfalls den Schritt zur postsouveränen Großraumpolitik, die politisch, ökonomisch wie auch rechtlich zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Kernländern und Ergänzungsräumen unterscheidet. Ob sie damit den territorialen Grundkonflikt, nämlich die Interdependenz zwischen garantierter Freizügigkeit nach innen und rigoroser Abschottung nach außen, lösen kann, wird entscheidend davon abhängen, ob und wie sie Migration und damit grenzüberschreitende Mobilität reguliert. Postsouveräne Großraumpolitik ist angesichts ihrer historischen Referenzgrößen ein heikles politisches Unterfangen, die Europäische Union sollte sich mit diesem Kapitel europäischer Geschichte intensiver auseinandersetzen, als sie bisher zu erkennen gibt.

26

Zu den Konstruktionsfehlern der ENP vgl. Hanns-D. Jacobsen/Heinrich Machowski, Dimensionen einer neuen Ostpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (10) 2007, S. 31–38; Steffi Marung, Die wandernde Grenze. Die EU , Polen und der Wandel politischer Räume, 1990–2010, Göttingen 2013; Georg Vobruba, Der postnationale Raum, S. 75–88.

135

Steffi Marung

Die wandernde Grenze. Territorialisierungsentwürfe nach der EU -Osterweiterung 2004 Prolog Beginnen wir am östlichen Rand. Eine Meldung aus dem Sommer 2012 war vermutlich im Crescendo der europapolitischen Hiobsbotschaften jenes Jahres und der darauf folgenden Jahre weitgehend unbeachtet geblieben: Seit Oktober 2011 können Einwohner der russischen Enklave Kaliningrad ohne Visum in die benachbarten polnischen Gebiete reisen. Die Voraussetzung dafür hatte ein bilaterales russisch-polnisches »Abkommen zum Kleinen Grenzverkehr« geschaffen, dem wiederum eine Neuregelung der EU -Grenzbestimmungen vorangegangen war.1 Mit dieser wurde das gesamte Kaliningrader Gebiet zum EU -»Grenzgebiet« erklärt und damit die bisherige Regelung erweitert, nach der darunter ein höchstens 30 km breiter Streifen verstanden werden konnte. Sowohl diese Neuregelung als auch das bilaterale Abkommen gingen auf eine Initiative des polnischen Außenministers Sikorski und des russischen Außenministers Lawrow zurück, die damit nicht nur auf die Klagen der regionalen Interessenvertreter reagierten, sondern gleichzeitig an der 1

Die sogenannte »Verordnung über den kleinen Grenzverkehr« (Verordnung [EG ] Nr. 1931/2006 vom 20. Dezember 2006, AB l. L 405 vom 30. 12. 2006, S. 1) war mit einer Ausnahmeregelung durch die Verordnung (EU ) Nr. 1342/2011 des Rates vom 13. Dezember 2011 (AB l. L 347 vom 30. 12. 2011, S. 41) auf diesen Sonderfall angepasst worden. Dies wurde im Januar 2012 rechtskräftig, wodurch das bilaterale Abkommen zwischen Polen und Russland am 27. Juli 2012 in Kraft treten konnte. Vgl. auch Bericht der Europäischen Kommission an das Europäische Parlament und den Rat (KOM [2014] 74 final) und Kinga Dudzinska/Anna ´ Maria Dyner, »Small Border Traffic With Kaliningrad: Challenges, Opportunities, Threats«, Policy paper des Polski Instytut Spraw Miêdzynarodowych, Nr. 29 (77) 2013.

136

Verbesserung des polnisch-russischen Verhältnisses arbeiteten, das nach dem Flugzeugabsturz von Smolensk im Jahr 2010 durchaus als beschädigt gelten konnte. Dieser kleine, aber – jedenfalls mit Blick auf das Folgende – doch recht bemerkenswerte Vorgang ist Teil der Entwicklung, die hier erkundet werden soll: der Wandel einer Grenze, die gemeinhin als »EU -Außengrenze« apostrophiert wird. Dieser Wandel war sowohl durch die enorme Erweiterungsdynamik der Union in Gang gesetzt worden als auch durch die Neuordnung einer Welt, die durch das Ende des Kalten Krieges nicht nur in Ost und West, sondern auch im globalen Süden aus den Fugen geraten zu sein schien – im guten wie im weniger guten Sinne. Was dieser Vorgang jedenfalls zeigt: Die Außengrenze der Europäischen Union setzt sich offensichtlich nicht nur aus Kontrollpunkten und Grenzübergängen zusammen, die durch eine imaginierte Linie verbunden sind, sondern aus »Grenzgebieten«, das heißt: davor und dahinter liegenden Räumen, die das EU -Grenzregime gleich mit regulieren soll. Und die Union hat mittlerweile ein nuanciertes Instrumentarium entwickelt, das es allem Anschein nach ermöglicht, konkrete Grenzsituationen von einem Zustand in einen anderen zu überführen und das Hoheitsgebiet eines Nicht-Mitgliedsstaates kurzerhand zum EU -Grenzgebiet zu erklären. Allerdings war dies keine reine Angelegenheit von Entscheidungsträgern in supranationalen Institutionen wie Kommission und Rat gewesen, noch wurde dies nach der Auszählung ausschließlich mitgliedsstaatlicher Präferenzen bestimmt. Vielmehr waren an diesem Ergebnis eine Reihe von regionalen und nationalen Akteuren innerhalb und außerhalb der Union beteiligt, die nicht immer kongruente, aber durchaus komplementäre Interessen verfolgten: die russischen und polnischen Anrainer wollten die durch die Osterweiterung gestiegenen Kosten des wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs über die Grenze verringern, die nationalen politischen Eliten Polens und Russlands ein bilaterales Problem lösen und die Union ihre Grenze sichern, ohne die angrenzenden Gebiete zu destabilisieren. Es mag auf den ersten Blick als einigermaßen unzeitgemäß erscheinen, angesichts der aktuellen Dramatik an der ukrainischen Ostgrenze – die gleichzeitig die Ostgrenze des EU -Nachbarschaftsraumes markiert – und der nur wenig gesunkenen Besorgnis über den Zusammenhalt der Europäischen Union in der offensichtlich 137

nur schwer zu beherrschenden Banken-, Finanz-, Schulden- und/ oder Eurokrise ausgerechnet über die Arrondierung des EU -Raums, über die Mechanismen seiner Umschließung oder gar Stabilisierung nachzudenken. Allerdings sei dieser möglichen Skepsis zweierlei entgegengehalten. Zum einen: Dass sich politische Akteure im nationalen, europäischen oder regionalen Rahmen seit Mitte der 1990er Jahre in wachsendem Maße darum bemühten, den politischen Raum der EU zu konsolidieren, ist letztlich als Reaktion auf Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozesse zu verstehen. Es handelte sich dabei um Versuche, eben jene Prozesse zu verstehen und in den Griff zu bekommen, die in der heutigen Situation zu den zentrifugalen Dynamiken führen, um deren Beherrschung sich die politischen Eliten nun erneut bemühen. Zum anderen: Für diese Erschaffung und Stabilisierung des politischen EU -Raums ist nicht nur dessen Umgrenzung notwendig, sondern dies setzt auch eine besondere Fähigkeit bei den politischen Akteuren voraus, nämlich mit der Pluralität der Raumebenen – regional, national, lokal etc. – strategisch umgehen zu können sowie Verflechtungen auf und zwischen diesen Ebenen zu meistern, kurz: das jeu d’échelles2 zu beherrschen. Beide Dimensionen kennzeichnen aber nicht nur den Wandel des politischen Raums in Europa, sondern sind Teil globaler Wandlungsprozesse. Es geht darum, die Dialektik zwischen scheinbar schwer zu kontrollierenden Flüssen – von Kapital, Menschen oder Gütern – und territorial konkretisierten Versuchen ihrer Beherrschung zu verstehen, zwischen konkurrierenden Territorialisierungsprojekten und verschiedenen Ebenen des politischen Raums zu moderieren.3 Dies gilt für national und global tätige Wirtschaftsunternehmen ebenso wie für zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für tendenziell transnationale Themen wie Arbeitnehmerrechte, Umweltschutz oder Menschenrechte engagieren. Wie sehr

2 3

Jacques Revel (Hg.), Jeux d’échelles. La micro-analyse à l’expérience, Paris 1996. Matthias Middell, »Der Spatial Turn und das Interesse an der Globalisierung in der Geschichtswissenschaft«, in: J. Döring/T. Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 103–123; ders.: »Deterritorialization and Territorialization«, in: Helmut K. Anheier/Mark Juergensmeyer (Hg.), Encyclopedia of Global Studies, Thousand Oaks, CA , 2012, S. 407–410.

138

dies aber insbesondere für politische Entscheidungsträger in Europa zu einem komplizierten Problem geworden ist, hat beispielsweise der deutsche Finanzminister, Wolfgang Schäuble, erläutert, als er im September 2011 vom Wochenmagazin Die Zeit nach Wegen aus der eingangs schon zitierten Krise befragt wurde: »Die europäische Einigung ist seit mehr als einem halben Jahrhundert auf eine teilweise Überwindung des Nationalstaats Schritt für Schritt angelegt. Die Europäische Union, in der die Souveränitätsrechte auf verschiedene Ebenen, nämlich da, wo sie am effizientesten genutzt werden können, verteilt sind, ist die Zukunft. Dass die nationalstaatliche Ebene für die Regelung aller Bereiche zuständig ist, ist nicht mehr zeitgemäß. […]. [D]ie Krise, die ja nicht zuletzt durch die in den letzten Jahrzehnten stark gewachsenen Interdependenzen von Staaten und Märkten so potenziell gefährlich wurde, zeigt erstens, dass die europäische Einigung die richtige Antwort auf das 21. Jahrhundert ist. Zweitens, dass wir gar nicht mehr vollständig souverän sind, und zwar seit Langem nicht mehr, denn die Ereignisse in anderen Ländern, anderen Märkten, anderen Systemen beeinflussen unser Leben direkt. […] Das Ziel der europäischen Einigung ist nicht, an die Stelle des Nationalstaats Deutschland einen Nationalstaat Europa zu stellen. Wir brauchen etwas Neues.«4 Wonach Wolfgang Schäuble hier suchte, ist eine Formel für die Reorganisation des politischen Raums in Europa, für ein neues Territorialisierungsregime.

Territorialisierung und Grenzregime Der Begriff Territorialisierung bezeichnet einen Prozess, in dem eine Vielfalt von Akteuren – darunter Politiker, Intellektuelle, Unternehmer, Lehrer oder auch Verwaltungsbeamte, Migranten, Schmuggler oder Militärs – eine Ordnung des politischen Raums entwerfen und diese durchzusetzen versuchen. Der Nationalstaat ist dabei nur eine historisch spezifische Ausprägung einer solchen Raumordnung, die immer auch mit ihren Alternativen konkurrierte. Territorialisierung

4

http://www.zeit.de/2011/40/Interview-Schaeuble [22. 8. 2014].

139

heißt zum einen, das Innere des politischen Raums zu ordnen, Raumebenen abzugrenzen und diese miteinander in Beziehung zu setzen. Aber vor allem heißt Territorialisierung, den politischen Raum zunächst einmal zu umgrenzen. Dies bedeutet auch, dass das Verhältnis zwischen »innen« und »außen« bestimmt wird.5 Im Kern geht es also in diesem Beitrag um die Frage, was mit dem Grenzregime und der politischen Raumordnung einer supranationalen Einheit geschah, als sich dessen Grenze verschob. Um die politisch-räumlichen Qualitäten dieses Gebildes zu beschreiben, wird in der politischen wie in der öffentlichen Diskussion mitunter auf die begrifflichen Derivate von Imperium und Nationalstaat zurückgegriffen, das heißt von Europa als neuem empire oder als Superstaat gesprochen.6 Seine Grenzen erscheinen den einen als fluide oder »fuzzy«, den anderen als Festungsmauern oder hochselektive Filter.7 5

6

7

Auf zentrale Beiträge aus der politisch-geografischen, historischen sowie sozialwissenschaftlichen Diskussion um Territorialität und Territorialisierung – Begrifflichkeiten, die über die Sprachengrenzen hinweg nicht einfach zu transportieren sind – sei hier beispielhaft verwiesen: Robert David Sack, Human Territoriality. Its Theory and History, Cambridge u. a. 1986; David Delaney, Territory. A Short Introduction, Malden, MA u. a. 2005; Charles Maier: »Transformations of Territoriality 1600–2000«, in: Gunilla Budde/Sebastian Conrad/ Oliver Janz (Hrsg): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 32–55; Matthias Middell: »Deterritorialization and Territorialization«, in: Helmut K. Anheier/Mark Juergensmeyer (Hg.), Encyclopedia of Global Studies, Thousand Oaks, CA , S. 407–410; Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012; Neill Brenner: »Beyond state-centrism? Space, Territory, and Geographical Scale in Globalization Studies«, in: Theory and Society 18 (1999), S. 39–78. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf: Konkurrenz für das Empire. Die Zukunft der Europäischen Union in der globalisierten Welt, Münster 2007; Jan Zielonka: Europe as Empire. The Nature of the Enlarged European Union, Oxford 2006. Zur umfangreichen wissenschaftlichen Diskussion um die Beschaffenheit der Außengrenzen der Union vor allem unter Politikwissenschaftlern, politischen Soziologen und Migrationsforschern vgl.: Heather Grabbe, »The Sharp Edges of Europe. Extending Schengen Eastwards«, in: International Affairs 76 (2000) 3, S. 519–536; Didier Bigo u. Elspeth Guild (Hg.), Controlling Frontiers. Free Movement Into and Within Europe, Aldershot 2005, S. 49–99; Monika Eigmüller, Grenzsicherungspolitik. Funktion und Wirkung der europäischen Außengrenze, Wiesbaden 2007; Sabine Hess/Bernd Kasparek (Hg.), Grenzregime. Dis-

140

Ob diese Begriffe helfen können, die Spezifik des Wandels zu verstehen, oder ob es anderer Vorschläge bedarf – diese konzeptionelle Problematik wird am Ende des Beitrags noch einmal aufgegriffen. Zunächst stellt sich jedoch die Frage, wie man den Wandel des Grenzregimes als einen Prozess untersuchen kann, der auf mehreren Ebenen stattfindet und den nicht »die EU « allein steuert, sondern der von »innen« und »außen« mitgestaltet wird. Man kann sich dem Problem zunächst einmal über die Deutungen des politischen Raums und deren Wandel nähern. Dieses symbolische »Raum-Machen« ist eine wichtige, aber nicht die einzige Dimension von Territorialisierung, denn um einen politischen Raum so zu gestalten, um ihn und alles, was darin ist – zum Beispiel Menschen, Güter, Rohstoffe samt ihrer Bewegungen –, verbindlichen Regeln zu unterwerfen, bedarf es auch der Errichtung entsprechender Infrastrukturen für Verkehr und Kommunikation und der Schaffung von Institukurse, Praktiken, Institutionen in Europa, Berlin u.a. 2010; Michael Gehler/ Andreas Pudlat (Hg.), Grenzen in Europa, Hildesheim u. a. 2009; Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.), Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld 2007; Peter Andreas/Timothy Snyder (Hg.), The Wall around the West. State Borders and Immigration Controls in North America and Europe, Lanham u. a. 2000; Joan De Bardeleben (Hg.), Soft or Hard Borders? Managing the Divide in an Enlarged Europe, Aldershot 2005; Thomas Diez, »The Paradoxes of Europe’s Borders«, in: Comparative European Politics 4 (2006) 2/3, S. 235–252. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive vgl. u. a.: Jürgen Osterhammel, »Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas«, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 46 (1995), S. 101–138; Pierre Hassner, »Fixed Borders of Moving Borderlands? A New Type of Border for a New Type of Europe?«, in: Jan Zielonka (Hg.), Europe Unbound. Enlarging and Reshaping the Boundaries of the European Union, London u. a. 2002, S. 38–50. Beiträge aus politisch- und kulturgeografischer Sicht vgl. u. a.: David Newman/ Anssi Paasi, »Fences and Neighbours in the Postmodern World Boundary Narratives in Political Geography«, in: Progress in Human Geography 22 (1998) 2, S. 186–207; David Newman, »The Lines that Continue to Separate Us. Borders in our ›Borderless‹ World«, in: Progress in Human Geography 30 (2006) 2, S. 143–161; James Scott (Hg.), EU Enlargement, Region Building and Shifting Borders of Inclusion and Exclusion, Aldershot 2006; William Walters, »Europe’s Borders«, in: C. Rumford (Hg.), The Sage Handbook of European Studies, London 2009, S. 485–505; Julian Clark/Alun Jones (Hg.), The Spatialities of Europeanization. Power, Governance and Territory in Europe, London u. a. 2010.

141

tionen wie beispielweise ein Passwesen, ein Katasteramt oder Gebietskörperschaften.8 Die symbolische Dimension ist möglicherweise die zugleich sichtbarste und die, so mag es auf den ersten Blick scheinen, am wenigstens politisch wirksame. Doch »Raumbilder« oder »Raumsemantiken«9 vermitteln und legitimieren politische Räume und die durch sie begründeten politischen Ordnungen einerseits, andererseits lassen sie ihre Gemachtheit – und damit auch ihre Veränderbarkeit – vergessen. Konflikte um diese symbolischen Raumordnungen treten deshalb nicht zuletzt in gesellschaftlichen Umbruchsituationen zutage, so wie nach 1989 in vielen ostdeutschen Städten um die Umbenennung von Straßen und Plätzen gestritten wurde oder mit dem Umzug des deutschen Regierungssitzes aus der »Bonner« eine »Berliner Republik« wurde. Ein solcher Umbruch oder Krisenmoment zeichnete sich für die EU seit den 1980er Jahren ab.10 Mit der

8

9

10

Einige wichtige Hinweise für ein solches Verständnis von Territorialisierung verdanke ich u. a. David Delaney, Territory. A Short Introduction, Malden, MA u. a. 2005 und Emanuela Casti, »Towards A Theory of Interpretation: Cartographic Semiosis«, in: Cartographica 40 (2005) 3, S. 1–16. Zur vielfach verdrängten Vielfalt politischer Raumprojekte zumindest in Ostmitteleuropa vgl. auch Steffi Marung/Katja Naumann (Hg.), Vergessene Vielfalt. Territorialität und Internationalisierung in Ostmitteleuropa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2014. Zur Gefahr der »territorial trap« vgl. John Agnew: »The Territorial Trap: the Geographical Assumptions of International Relations Theory«, in: Review of International Political Economy 1 (1994), 1, S. 53–80, und zu variablen Relationen zwischen Raum und Territorium vgl. u. a. John Agnew, »Sovereignty Regimes: Territoriality and State Authority in Contemporary World Politics«, in: Annals of the Association of American Geographers 95 (2005) 2, S. 437–461 sowie das jüngst erschienene Themenheft von Territory, Politics, Governance. Journal of the Regional Studies Association 1 (2013) 1. Dazu außerdem: Saskia Sassen, Das Paradox des Nationalen. Territorium, Autorität und Rechte im globalen Zeitalter, Frankfurt am Main 2008. Und zur Historizität solcher Raumprojekte und deren (partielles) Scheitern: vgl. Jureit, Das Ordnen von Räumen. Vgl. Marc Redepenning, »Eine selbst erzeugte Überraschung. Zur Renaissance von Raum als Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft«, in: Döring/Thielmann (Hg.), Spatial Turn, S. 317–340; siehe auch den Beitrag von Jochen Kleinschmidt in diesem Band. Vgl. Matthias Middell/Ulf Engel, »Bruchzonen der Globalisierung, globale Krisen und Territorialitätsregimes. Kategorien einer Globalgeschichtsschreibung«, in: Comparativ 15 (2005) 5/6, S. 5–38; Matthias Middell »1989 and the Collapse

142

Vollendung des europäischen Binnenmarktes 1985, der Abschaffung der Binnengrenzen durch das Schengener Abkommen 1992, der Auflösung des Ostblocks und einem Erweiterungsprozess, der in einem solchen Umfang ein völliges Novum für die Gemeinschaft bedeutete, begann ein grundlegendes Nachdenken über die Ordnung des politischen Raums, über die Grenzen der Union, über ihr Verhältnis zu ihren Nachbarn, über die Beschaffenheit des gemeinsamen Raums, dessen Gestalt in Europa lange Zeit die globale Ordnung des Kalten Krieges geprägt hatte. Es wird also im Folgenden um Raumdeutungen gehen, und zwar vor allem jene der »Grenze«, genauer: der Ostgrenze, denn sie ist es, die in Bewegung geraten war. Der vergleichende Blick Richtung Süden ist dennoch hin und wieder notwendig, um das Spezifische des Wandels zu verstehen. Ein besonderes Problem besteht nun darin, nicht aus dem Blick zu verlieren, dass es nicht nur eine Perspektive gibt, aus der diese Deutungen entwickelt werden, um mit ihnen politische Argumente durchzusetzen oder politische Handlungen zu legitimieren, sondern dass man es mit einem komplizierten Geflecht von Akteuren zu tun hat. Man könnte sie unterscheiden in europäische, nationale und regionale Interessenvertreter, in der Annahme, dass sich die territorialen Ebenen des Raums klar voneinander trennen und hierarchisch ordnen lassen. Aber: Diese Ordnung der Dinge wird durch das jeu d’échelles der Akteure, ihr Spiel mit diesen Raumebenen, problematisch.11 Mitarbeiter der polnischen und ukrainischen Regionalverwaltungen beispielsweise begründeten ihre Forderungen nach mehr Zuwendung nicht nur mit dem Verweis auf ihre Benachteiligung im nationalen Kontext, sondern adressierten ihre Wünsche auch nach Brüssel mit dem Verweis auf ihre Grenzlage im EU ropäischen Zusammenhang.12 Und polnische Beamte in der EU -Kommission, die

11

12

of Communism«, in: Stephen A. Smith (Hg.), Oxford Handbook of Communism, Oxford 2013, S. 171–184. Vgl. Revel (Hg.), Jeux d’échelles; die Diskussion um die soziale und politische Produktion von Raumebenen ist vor allem in der politischen Geografie geführt worden. Vgl. u. a. David Delaney, »The Political Construction of Scale«, in: Political Geography 16 (1997) 2, S. 93–97; Anssi Paasi, »Place and Region. Looking through the Prism of Scale«, in: Progress in Human Geography 28 (2004) 4, S. 536–546. Steffi Marung, Die wandernde Grenze. Die EU , Polen und der Wandel politischer Räume, 1990–2010, Göttingen 2013, S. 271 ff.

143

vormals in der deutsch-polnischen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit tätig waren, griffen auf diese Erfahrungen – nun auf der supranationalen Ebene – zurück.13 Die Akteure halten sich also nicht an die Trennung der Raumebenen, sie »spielen« mit ihnen. Man könnte sogar vermuten: Je besser sie dieses Spiel beherrschen, desto erfolgreicher können sie ihre Interessen durchsetzen. In diesem Gewirr der Ebenen und Akteure eine stabile Perspektive zu finden, von der aus die Geschichte vom Wandel der Grenze erzählt werden könnte, ist nicht nur keine einfache Aufgabe, sondern sogar eher hinderlich für das hier zu testende Argument. Um dieses Problem zu lösen, sei im Folgenden eine variable Perspektive eingenommen, die in einem gewissen Maße die Suchbewegung der zugrunde liegenden Forschung wiederholt: von Brüssel über Warschau ins polnische Lublin und ukrainische L’viv – von der EU -Migrations- und Grenzpolitik über die polnischen Vorstellungen einer alternativen Ordnung des Raums bis zur polnisch-ukrainischen Zusammenarbeit an der neuen Ostgrenze. Dabei wird für die Zwecke dieses Beitrages ein größeres Augenmerk auf die Brüsseler Aushandlungen gerichtet sein, ohne dass die polnischen oder polnisch-ukrainischen Perspektiven auf diese Weise marginalisiert werden sollen. Es wird sich bei diesem Perspektivenwechsel zeigen, dass es nicht nur eine und noch weniger eine unangefochtene Vorstellung davon gab, wie dick oder porös die Mauern der »Festung Europa« sein sollten, und dass es in der Auseinandersetzung nicht nur um die Mauern und die Zugbrücken der Festung ging, sondern vielmehr auch um die Räume an und hinter der Grenze, gewissermaßen also um den gemeinsamen Vorgarten.

Brüssel Spätestens Mitte der 1990er Jahre »entdeckten« verschiedene Akteure innerhalb der EU -Institutionen und der Mitgliedsstaaten die Außengrenze der EU als Regelungsproblem. Insbesondere Kommission und Rat verstärkten ihre Bemühungen um eine gemein-

13

Ebenda, S. 127 ff. und S. 229 ff.

144

schaftliche Gestaltung des Grenz- und Migrationsregimes. Nachdem durch das Schengener Abkommen die Binnengrenzen der Union abgeschafft worden waren, gewann die Sicherung der Außengrenze – die juristisch bis heute nicht existiert – an enormer Bedeutung. Gleichzeitig wurden die scheinbar unkontrollierbaren Ströme »illegaler« Migranten aus dem globalen Süden und aus Osteuropa zur Ersatzbedrohung nach dem Ende des Kalten Krieges.14 Migrations- und Grenzregime sind dabei weniger die Folgen einer Arrondierung politischer, insbesondere nationalstaatlicher, Territorien als vielmehr ihre zentralen Instrumentarien. Die Demarkierung der Grenze durch vertragliche Festlegungen und materielle Eingriffe wie Grenzpfähle, Zäune und Grenzübergänge15 kann eigentlich erst dann als wirksam betrachtet werden, wenn es den staatlichen Agenturen darüber hinaus gelingt, jenseits von Raumbeherrschungsfantasien die Kontrolle der die Grenze passierenden Ströme effektiv auszuüben. Neben Gütern und Rohstoffen ist dies vor allem die Mobilität von Menschen.16 Deren Erfassung und Steuerung war spätestens seit Beginn der Industrialisierung von politischen Entscheidungsträgern als unverzichtbar für das Wohlergehen des Staates entdeckt worden – zur gewünschten Allokalisierung von Arbeitskräften und Verhinderung ihrer Abwanderung, aber auch zur Planung wohlfahrtstaatlicher Maßnahmen,17 der Besiedlung neuer Gebiete als auch zur Kontrolle der mit den Menschen

14

15

16

17

Sandra Lavenex, »Migration and the EU ’s New Eastern Border. Between Realism and Liberalism«, in: Journal of European Public Policy 8 (2001) 1, S. 24–42; Virginie Guiraudon, »The Constitution of a European Immigration Policy Domain. A Political Sociology Approach«, in: Journal of European Public Policy 10 (2003) 2, S. 263–282. Zur Ikonografie von Grenzen vgl. die vielfältigen Ergebnisse aus dem Kompetenzzentrum »Kulturelle Topographien« mit dem Forschungsschwerpunkt »Kulturelle Grundlagen und Grenzen Europas« der Universität Basel: https:// kultop.unibas.ch [Zugriff 14. 9. 2014]. John Torpey, The Invention of the Passport Surveillance, Citizenship and the State, Cambridge 2000; Adam McKeown, Melancholy Order. Asian Migration and the Globalization of Borders, New York 2008; Marung, Die wandernde Grenze, S. 56 ff. Andrea Komlosy, Grenze und ungleiche regionale Entwicklung. Binnenmarkt und Migration in der Habsburger Monarchie, Wien 2003.

145

reisenden Ideen, die potenziell für Unruhe sorgen konnten.18 Migrationspolitik bringt dabei spezifische Raumformate (mit) hervor oder kann diese verändern, so wie beispielsweise die US -amerikanische Abwehr asiatischer Migration zum Schutz der »white settler nation«, die zum einen zur Umleitung dieser Ströme in andere Weltregionen19 wie auch zur Verfestigung ethnischer Trennlinien zwischen legaler und illegaler Arbeitsverhältnisse auf den nordamerikanischen Arbeitsmärkten führte.20 Die migrationspolitischen Regulierungsversuche gehen dabei immer auch mit der Produktion spezifischer Raumsemantiken in zwei Richtungen einher. Zunächst wird das »Außen«, von dem sich abzugrenzen das Ziel ist, als solches entworfen; daran anschließend werden schließlich Strategien der Ausschließung oder auch der Gestaltung des Außen- und Grenzraums entwickelt. Der durch den EU ropäischen »Gesamtansatz zur Migrationsfrage«21 erzeugte »common migratory space«22 ist zu einem zentralen Element der territorialen Identität der EU geworden. Die EU ropäische Migrations- und Grenzpolitik ist dabei aber nicht als reine Abgrenzungsstrategie zu verstehen, ebenso wie die parallel entstandene Nachbarschaftspolitik (dazu unten mehr) nicht nur als flankierende Strategie der Öffnung und partiellen Integration zu interpretieren ist. Vielmehr sind beide Strategien durch exkludierende und inkludierende Dynamiken gekennzeichnet, sie tragen gemeinsam zur Entstehung variabler (Grenz-)Räume bei.

18

19

20

21

22

So argumentiert beispielsweise Schenk in seiner Geschichte der russischen Eisenbahn: Frithjof Benjamin Schenk, Russlands Fahrt in die Moderne. Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter, Stuttgart 2014, S. 39 ff. Adam McKeown, »Global Migration, 1846–1940«, in: Journal of World History, 2 (15) 2004, S. 155–189. Erika Lee, »Enforcing the Borders. Chinese Exclusion along the U. S. Borders with Canada and Mexico, 1882–1924«, in: Donna R. Gabaccia/Vicki L. Ruiz (Hg.), American Dreaming, Global Realities, Irbana/Ill. 2006, S. 158–189. Council of the European Union: Presidency Conclusions, Brussels European Council 15. 12. 2005, 15914/1/05 REV 1, 30. 01. 2006 und KOM (2006) 735 endg., Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament. Der Gesamtansatz zur Migrationsfrage nach einem Jahr: Schritte zur Entwicklung eines umfassenden europäischen Migrationskonzepts, 30. 11. 2006. Sandra Lavenex/Emek Ucarer, Migration and the Externalities of European Integration, Lanham 2002.

146

Im Wechselspiel von Kommissionsvorschlägen, Ratsentscheidungen und parlamentarischen Stellungnahmen entstand nach und nach nicht nur ein differenziertes Instrumentarium, sondern auch eine nuancierte Begrifflichkeit, um die Außengrenze der EU zu erfassen und zu kontrollieren: Land- und Seegrenzen wurden unterschieden, drei strategische Räume der Grenzkontrolle entworfen, die den EU -Binnenraum ebenso umfassten wie einzelne Drittstaaten, und schließlich wurde nicht »Grenzkontrolle«, sondern »Grenzmanagement« angestrebt. In diesem Zusammenhang war die Schaffung von Frontex, der EU - Grenzschutzbehörde, im Jahr 2004 eine der herausragenden Innovationen.23 Auf dem Gebiet der Migrationspolitik flossen die Bemühungen im selben Jahr im sogenannten Gesamtansatz zur Migrationsfrage zusammen, Migrationsrouten wurden analysiert, Transit- und Herkunftsstaaten identifiziert, zirkuläre Migration als Herausforderung entdeckt und Mobilitätspartnerschaften erprobt. Migrations- und Grenzpolitik wurden auf diese Weise eng miteinander verzahnt.24 Die Herausforderung für die EU ropäischen Politiker bestand dabei zunächst einmal darin, die EU -Außengrenze, von der im strengen (juristischen) Sinne nicht gesprochen werden kann, da sie sich vielmehr aus den entsprechenden Außengrenzen der EU -Mitgliedsstaaten zusammensetzt und diese auch weiterhin unter nationalstaatliche Jurisdiktionen fallen, als gemeinsamen Handlungsraum für EU -Agenturen zu beschreiben und zu konsolidieren. Dies erforderte erhebliche, auch intellektuelle Anpassungsprozesse. Am Beginn der 2000er Jahre setzte dann ein Lernprozess ein, der maßgeblich von der Kommission angestoßen wurde, in dem die »Verhinderung« von Migration und anderen grenzüberschreitenden Strömen in den Hintergrund trat, zugunsten eines Denkens in den Begriffen von »Steuerung« und »border management«. Letzterer Begriff erlebte eine beeindruckende Karriere in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends. Und schließlich wurden »security differentials« an den Grenzen diagnostiziert und entsprechende Instru23

24

Vgl. Marung, Die wandernde Grenze, S. 67 ff. und den Beitrag von Lena Laube in diesem Band. Eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen befassen sich mit der Arbeit dieser Agentur, u. a. Frontexwatch: http://frontex.antira.info/ [14. 9. 2014]. Marung, Die wandernde Grenze, S. 67 ff.

147

Karte 1

mente für ihre Bewältigung gefunden. Auf diese Weise wurde eine variable Geografie der Außengrenze erzeugt,25 die hier anhand einer kartografischen Analyse von EU -Projekten im Rahmen des »Gesamtansatzes zur Migrationsfrage« demonstriert werden soll.26 Diese Projekte, gefördert durch EU -Mittel, mit je unterschiedlichen Eigenbeiträgen der Mitgliedsstaaten, waren ausgesprochen unterschiedlich in Ausrichtung und Zuschnitt: Die Bandbreite reichte von Informationsbeschaffungs- und Risikoanalysevorhaben über den Ausbau von (Grenz-)Infrastruktur, die Schulung von Personal, die Beratung zur Entwicklung migrationspolitischer Strategien und die Schaffung von Foren, in denen der Dialog zwischen EU - und NichtEU -Mitgliedstaaten stattfinden konnte. Die in Karte 1 veranschaulichten Daten stammen aus dem ersten Jahresbericht der Kommission zum Gesamtansatz der Migrationspolitik aus dem Jahr 2006. Deutlich wird hier, dass der Raum, der mit diesen neuen Instrumenten erfasst und kontrolliert werden sollte, 25 26

Ebenda, S. 102 ff. Für die Erstellung dieser Karten auf der Grundlage meiner Datenauswertung danke ich Eric Losang vom Leipniz Institut für Länderkunde.

148

nicht nur als der unmittelbare Grenzraum vorgestellt wurde, sondern sich im Laufe der Zeit bis nach Afrika und Osteuropa ausdehnte und weiter nach Asien, Lateinamerika und in die Karibik. Die geografischen Schwerpunkte der migrations- und grenzpolitischen Projekte und Maßnahmen waren der Mittelmeerraum, aber auch Nord- und Westafrika. Durch diese migrationspolitischen Maßnahmen wurde eine politische Geografie erzeugt, die im Laufe der Zeit zunehmend verfeinerte wurde. Vor allem unterschied Brüssel nun östliche und südliche Nachbarschaften voneinander – wie die Karte 2, deren grundlegende Daten aus dem Bericht zur Übertragung des Gesamtansatzes auf die östlichen und südöstlichen Nachbarregionen stammen, deutlich zeigt. Dieser Bericht erschien 2007, die durch ihn erzeugten Geografien seien hier etwas näher betrachtet. Zunächst mag auf Karte 2 ins Auge fallen, dass der Osten und Südosten der EU in dieser Perspektive bis nach Asien reichten. Verwendet man die Zahl der Projekte pro Land als Indikator, dann rangierte die unmittelbare östliche Nachbarschaft im Handlungsraum der EU in ihrer Wichtigkeit vor dem Westbalkan sowie dem südlichen Kaukasus und Zentralasien.

Karte 2

149

Karte 3

Gemessen an der EU -Förderung pro Land, und zwar in Euro pro Kopf, differenziert sich das Bild noch einmal. Hier wurden einzelne Länder innerhalb der regionalen Cluster stärker gefördert, Russland trat in der östlichen Nachbarschaft ein Stück an den Rand, wie Karte 3 veranschaulicht. Und obwohl die EU in Zentralasien weniger Projekte insgesamt förderte, stand für diese jedoch jeweils mehr Geld zur Verfügung, wie Karte 4 zeigt. In jedem Fall belegten die unmittelbaren östlichen EU -Anrainer wieder die vorderen Plätze. Zieht man den Anteil der EU -Förderung an der Gesamtausstattung der Projekte als Indikator dafür heran, wie stark das Engagement und das Interesse der EU an migrationspolitischen Maßnahmen innerhalb einzelner Regionen war, dann bestätigt sich die große Bedeutung der Ukraine, Weißrusslands und Moldawiens sowie der zentralasiatischen Länder und von Teilen des Westbalkans (siehe Karte 5). Vergleicht man die Projekte der allgemeinen Migrationspolitik mit jenen, die sich vor allem auf die östliche und südöstliche Nachbarschaft beziehen, wird folgendes deutlich: In der südlichen Nachbarschaft standen die Verhinderung illegaler Migration und 150

Karte 4

Karte 5

151

der Schutz der EU -Grenze an vorderster Stelle. Dazu mussten vor allem Informationen gesammelt, die Einsatzfähigkeit des EU Grenzschutzes verbessert und der »politische Dialog« mit den Herkunfts- und Transitstaaten intensiviert werden – was unter anderem die Unterzeichnung von Rückübernahmeabkommen zum Ziel hatte, für die im Austausch mehr Entwicklungshilfe oder »Mobilitätspartnerschaften«27 gewährt wurden. Eine direkte Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteuren und den Migranten selbst schien weder möglich noch beabsichtigt, vielmehr wurde die Zusammenarbeit zwischen den EU -Mitgliedsstaaten gestärkt, und es wurden erste politische Konsultationen auf höchster Ebene organisiert. Diese Nachbarschaft erschien damit einerseits als bedrohlicher und die Abschottung dringlicher, andererseits waren eher politische als gesellschaftliche Interventionen als geeignete Instrumente bestimmt worden. Mit den östlichen und südöstlichen Nachbarregionen wurde die Zusammenarbeit in Migrations- und Grenzfragen im Rahmen der bereits bestehenden Erweiterungs- und Entwicklungszusammenarbeit organisiert. Es ging hier weniger um Grenzschutz und um die Verhinderung illegaler Migration, sondern vielmehr darum, diese Nachbarländer in die Lage zu versetzen, die Flüchtlings- und Migrationsproblematik vor Ort selbst zu bewältigen – und auf diese Weise den Migrationsdruck auf die EU abzufedern. Gesellschaftliche Akteure und Migranten oder Migrationswillige waren dabei wichtige Zielgruppen. Vor allem aber sollten die Mitarbeiter staatlicher Behörden in den Nachbarländern ausgebildet werden, um sich vor Ort mit den EU -Regelungen zur Grenz- und Migrationspolitik vertraut zu machen und diese auch in ihren eigenen Ländern anwenden zu können. All dies wurde in Brüssel nicht nur als »europäisches« Problem definiert, vielmehr sei »[d]ie politische Agenda der EU […] in den

27

KOM (2007) 248 endg., Mitteilung der Kommission an das Europäische Parla-

ment, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Zirkuläre Migration und Mobilitätspartnerschaften zwischen der Europäischen Union und Drittstaaten, 16. 05. 2007; Roderick Parkes, Mobility Partnerships. Valuable Addition to the ENP Repertoire? A Checklist for Revitalising the ENP. SWP - Working Paper FG 1, 2009/03, Berlin 2009.

152

letzten Jahren zunehmend als Reaktion auf die Globalisierung zu verstehen«28, so die Europäische Kommission in einem Strategiepapier im Oktober 2007. Das bedeutete auch, dass Außen-, Sicherheits- und Innenpolitik der EU mehr und mehr ineinandergriffen, eben weil die Außengrenze »Innen« und »Außen« nur schwerlich hermetisch trennen konnte und das, was außerhalb der EU -Grenzen geschah, nicht ohne Folgen für die Entwicklung im Innern blieb.29 Ein besonderes Instrument der EU -Außenpolitik, mit der sie ihre Beziehungen zu ihren (neuen) Nachbarn gestaltete, war die bis heute nicht unumstrittene Nachbarschaftspolitik. Seit etwa 2002 war diese Politik unter anderem auf britische, aber auch auf polnische, schwedische und deutsche Initiative – mit durchaus unterschiedlichen Interessen – entwickelt worden.30 Die Kommission wollte sie verstanden wissen als Ersatz für eine nochmalige Erweiterung der Union, aber vor allem auch als »Hauptinstrument […], um Sicherheit und Stabilität in unsere Nachbarschaft zu projizieren – von der Ukraine bis in den Kaukasus, vom Libanon bis Marokko«31, so Benita Ferrero Waldner vor dem Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft im November 2007. Die Vorstellung von der »Projektion« oder dem Export »europäischer« Normen und Modelle in einen Raum jenseits der EU 32, in einen »ring of friends«33, wie es Javier Solana formu-

28

29

30 31

32 33

KOM (2007) 581 endg., Mitteilung der Kommission an das Europäische Parla-

ment, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Das europäische Interesse: Erfolg im Zeitalter der Globalisierung. Beitrag der Kommission zur Oktober-Tagung der Staats- und Regierungschefs, 03. 10. 2007. Diese Verflechtung wird unter dem Begriff der »external governance« diskutiert, vgl. Sandra Lavenex/Nicole Wichmann, »The External Governance of the EU Internal Security«, in: European Integration 31 (2009) 1, S. 83–102; Sandra Lavenex/Emek Ucarer, Migration and the Externalities of European Integration, Lanham 2002. Marung, Die wandernde Grenze, S. 127 ff. Benita Ferrero-Waldner, Die EU und ihre östlichen Nachbarn – Sicherheit und Wohlstand durch Vernetzung, Rede vor dem Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, Berlin, 15. 11. 2007, SPEECH /07/718. Clark/Jones (Hg.), The Spatialities of Europeanization. Chris Patten/Javier Solana, Gemeinsamer Brief an Per Stig Moller, Vorsitzender des General Affair Council, vom 07. 08. 2002.

153

lierte, beruhte dabei auf zwei Vermutungen: erstens, dass die europäischen Standards die besseren seien, und zweitens, dass sie in der »Nachbarschaft« auch tatsächlich nachgefragt werden würden. Die Nachbarschaftspolitik war dabei ebenso wie die Grenz-und Migrationspolitik Teil des EU ropäischen Globalisierungsmanagements: Mit ihr positionierte sich die Union nach der Erweiterung als global player in einem geopolitischen Umfeld, das auch von der Konkurrenz zu Russland bestimmt wurde.34 Und ebenso, wie die EU -Migrationspolitik mitnichten eine einheitliche Mauer gegen unerwünschte Migranten errichten sollte, geschweige denn dazu im Stande war, resultierte auch die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP ) aus variablen Geografien. Der wissenschaftliche Diskurs über diese umstrittene Spielart der EU ropäischen Außenpolitik war dabei von Beginn an geprägt von einer eigentümlichen Gleichzeitigkeit analytischer und partizipativer Perspektiven, während in der politischen Arena hochgradig symbolische Aufladungen Hand in Hand gingen mit einer marginalen Ressourcenausstattung, die dem politisch bekundeten Stellenwert in keiner Weise entsprach. Begleitet wurde dieser Prozess von einer relativ hartnäckigen öffentlichen Vernachlässigung, die sich immer nur in Krisen wie dem »Arabischen Frühling« 2011 oder der »Ukraine-Krise« 2014 kurzzeitig abschwächte. Zielrichtung und grundlegende Logik der ENP erwiesen sich als schillernd, je nach Perspektive – auch innerhalb der EU -Institutionen. In politischen Reden und Dokumenten aus dem Umfeld der Kommission35 traten mindestens drei Dimensionen zu Tage: Die ENP erstens als Sicherheitspolitik war vor allem das Credo der EU -Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner; die Deutung der ENP zweitens als Vor-Erweiterungspolitik vertraten Abgeordnete und Kommissionsbeamte aus den neuen östlichen EU -Mitgliedsstaaten; und die ENP drittens als Erzeugerin eines gemeinsamen Raums, in dem die politische und normative Transformation der Nachbarn befeuert werden konnte,

34

35

Der Europäische Rat hatte 2004 die Einrichtung von sogenannten »Gemeinsamen Räumen« beschlossen – die Zusammenarbeit hier ist jedoch sehr schnell an Grenzen gestoßen. Vgl. General Affairs and External Relations Council, Luxembourg 14. 06. 2004, 2591st meeting, 10181/04. Marung, Die wandernde Grenze, S. 152 ff.

154

sahen häufig deutsche Vertreter, unter ihnen Günter Verheugen. Diese Vielgesichtigkeit, ein hochgradig dynamisches symbolpolitisches Reservoir, das innerhalb dieser politischen Strategie zum Einsatz kommt, haben Beobachter vielfach als Zeichen ihrer Schwäche gedeutet. Sie kann aber auch als Hinweis auf eine bedeutsame Flexibilisierung raumpolitischer Instrumente im Kontext von globalen Raumveränderungsprozessen verstanden werden. Denn die ENP gewann aus Sicht ihrer Erfinder zunehmend an Bedeutung im Instrumentenkasten des Globalisierungsmanagements der EU . Ähnlich wie bei der Suche nach geeigneten migrationspolitischen Instrumenten, die die EU vor der »globalisierten Welt« gleichzeitig schützen und sie mit dieser verflechten sollten, verfolgte die ENP widerstrebende Ziele: zum einen den Nachbarschaftsraum als hochgradig heterogen und als sich »progressiv differenzierend« anzuerkennen und auch als solchen zu gestalten – sprich, individuelle EUropäisierungsfortschritte der Anrainer durch besseren Zugang zum gemeinsamen Markt und mehr Teilhabe an den EU -Grundfreiheiten zu belohnen, diesen Prozess zum anderen jedoch mit politischen Instrumenten zu steuern, deren Ziel die Vereinheitlichung, die EU politische Kommensurabiltät dieses Raums ist. Letztendlich musste sich dieses Instrumentarium wiederholt als blind für die Komplexität des Nachbarschaftsraums erweisen. Eines der Dinge, die den Brüsseler Entscheidern immer wieder Kopfzerbrechen bereitete, war nicht nur die Frage, mit welchem mehr oder weniger benachbarten Staat überhaupt zusammengearbeitet werden sollte, sondern auch, auf welcher territorialen Ebene Nachbarschaftsvorhaben entwickelt werden sollten – im Falle Weißrusslands beispielsweise wurden bilaterale Abkommen auf nationaler Ebene durch regionale Vereinbarungen im Rahmen polnisch-weißrussischer Europaregionen umgangen. Bei dieser Suche (und ihrem Scheitern) nach der passenden Ebene wird das beschriebene jeu d’échelles36 und die Produktion raumpolitischer scales37 deutlich sichtbar. Mitunter drängte sich der Eindruck auf, dass die verantwortlichen Referate der EU -Kommission gewisse Schwierigkeiten in der Beherrschung des Spiels hat-

36 37

Jacques Revel (Hg.), Jeux d’échelles. Vgl. ebenda.

155

ten, wohingegen nationale und regionale Akteure flexibler zu sein schienen.38

Warschau Verschieben wir die Perspektive also weiter Richtung Osten und auf die nationalstaatliche Ebene. Für die neue östliche EU -Nachbarschaft übernahm Polen eine wichtige Rolle – und dies nicht nur, weil es der mit Abstand größte der Beitrittskandidaten war, sondern auch, weil die Auseinandersetzung mit »dem Osten« in Polen eine lange Tradition besaß.39 In den letzten fünfzehn Jahren traf Polen nicht nur seine Vorbereitungen für den Beitritt zur Union, sondern es bemühte sich auch darum, möglichst frühzeitig in die Ausgestaltung der EU -Grenz- und Nachbarschaftspolitik einbezogen zu werden – und dies zunächst von jenseits, später dann von diesseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Polnische Politiker unternahmen nicht nur enorme politische und legislative Anstrengungen, die »Rückkehr nach Europa« einzuleiten. Sie sahen sich auch vor der nicht minder komplexen intellektuellen Aufgabe, die Zugehörigkeit zum europäischen Raum neu zu begründen, und zwar sowohl gegenüber dem »Westen« als auch gegenüber den östlichen polnischen Nachbarn. Dabei deuteten polnische Politiker die Vergangenheit ihres Landes im polnisch-litauischen Doppelstaat neu und passten sie in die sich schnell verflüssigende politische und kulturelle Geografie des Kontinents ein. Der polnische Außenminister Sikorski erklärte diese Umdeutung vor dem Sejm im Jahr 2008 in einer auf Englisch publizierten Rede folgendermaßen: »Having done so, Poland, just as 600 years ago, has become the standard and model of transformation for our Eastern neighbors, in particular for the kindred nation of Ukraine. Then, in the Jagiellonian era, the Republic spread examples of noble liberty and tolerance, become [sic] the cohesive force that over subsequent centuries kept together the multiethnic mosaic of elites in our region. It is for this reason that we believe that 38 39

Marung, Die wandernde Grenze. Steffi Marung, »Zivilisierungsmissionen à la polonaise. Polen, Europa und der Osten«, in: Comparativ 20 (2010) 1, S. 100–122; dies., Die wandernde Grenze.

156

the mandate of the Lublin Union will be fulfilled only when our Eastern European brothers find themselves within the European Union. This is not an old-new messianism, but a practical observation that strengthening liberty and democracy in our region also serves the interests of our Republic.«40 Nun stellte der Erweiterungsprozess die EU selbst vor die Herausforderung, grundlegende institutionelle Reformen umzusetzen. Der 2003 ratifizierte Vertrag von Nizza sollte dies ermöglichen. Doch nicht nur dieser, sondern auch der später ausgehandelte Verfassungsvertrag scheiterte zunächst in mitgliedsstaatlichen Referenden. Die anschließende »Reflektionsphase« der EU mündete 2007 in den Vertrag von Lissabon, der 2009 nach einem dramatischen Ratifizierungsmarathon in Kraft trat. Die Union befand sich mithin über fast zehn Jahre in einem krisenhaften Dauerzustand der Selbstreflektion und des Institutionenumbaus. Dies wiederum gab auf polnischer Seite Anlass, die eigene Position selbstbewusster zu beschreiben. So erläuterte der polnische Premier Belka im Jahr 2005 vor dem Sejm bei der Vorstellung des Nationalen Entwicklungsplans: »I believe the best way in which we can catch up civilizationally is by using the synergy of three elements: first, Poles are probably the most seasoned of all in weathering change – certainly more than west [sic!] European societies. […] Compared with west [sic!] Europe we do everything at the speed of light. […] We change more in a month than they do in eight years! This of course, is necessary and no cause for exaggerated pride – but it does show our potential.«41

40

41

»Address by Foreign Minister of the Republic of Poland Radoslaw Sikorski at the Sejm, May 7, 2008«, in: Materiały i Dokumenty 5/2008. Die Diskussion um die besondere Rolle Polen im Osten Europas hat vor allem die polnische und ostmitteleuropäische Historiografie beschäftigt. Kürzlich: Alexandra Schweiger, Polens Zukunft liegt im Osten. Polnische Ostkonzepte der späten Teilungszeit (1890–1918), Marburg 2014; vgl. auch Stefan Troebst, »Intermarium und Vermählung mit dem Meer 2002. Kognitive Karten und Geschichtspolitik in Ostmitteleuropa«, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 435–469; Marung, Die wandernde Grenze, S. 201 ff. »Address by Prime Minister Marek Belka at a debate on the 2007–2013 National Development Plan in Warsaw on January 20, 2005«, in: Materiały i Dokumenty 1/2005.

157

Aus der Notwendigkeit eines »zivilisatorischen Aufholens«42 – wie es die polnischen Quellen formulierten – war ein Wettbewerbsvorteil gegenüber einer stagnierenden Union geworden. Die räumliche Hierarchie zwischen Ost und West schien in ihr Gegenteil verkehrt. Polen hatte nach dieser Lesart nicht nur eine Mission im Osten, sondern nun auch im Westen zu übernehmen. Das Selbstbewusstsein, mit dem Polen seine erste EU -Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte des Jahres 2011 übernahm, kam also nicht von ungefähr.

Lublin und L’viv Wäre die Suchbewegung hier zu Ende, so könnte sich der Eindruck aufdrängen, »die Grenze« wird vor allem in den Brüsseler Amtsstuben und in den nationalen Hauptstädten »gemacht«. Und mit dem Ergebnis dieses Planens und Tuns müssten die regionalpolitischen Entscheidungsträger »an der Grenze« dann zurechtkommen. Unbestritten sind die Handlungsspielräume der Regionalverwaltungen in Polen und der Ukraine bei der Ausgestaltung der europäischen Grenz- und Nachbarschaftspolitik beschränkt. Allerdings wird der kurze Ausflug in die Grenzregion zeigen, dass auch hier die Dinge nicht so eindeutig liegen, neue Akteure ins Spiel kommen und die Deutungen der Grenze sowie die Umsetzung der grenzbezogenen regionalpolitischen Programme eine Reihe von Brüchen aufweisen, aus denen sich Handlungspotenziale auch für die Akteure an der Grenze ergeben. An der »Polnisch-Ukrainischen Agentur für grenzüberschreitende Zusammenarbeit« sei dies exemplarisch vorgeführt.43 In ihr hatten sich im Jahr 2001 vier Regionen dies- und jenseits der pol-

42

43

So u. a. »Address by Foreign Minister of the Republic of Poland Radoslaw Sikorski at the Sejm, May 7, 2008«, in: Materiały i Dokumenty 5/2008; »Statement by President of the Republic of Poland Aleksander Kwasniewski on Independence Day, November 11, 2005«, in: Materiały i Dokumenty 11/2005. Steffi Franke, »Die Grenze, die keine sein möchte. Exklusion und Inklusion an der EU -Ostgrenze«, in: Osteuropa 57 (2007) 2/3, S. 145–158; Marung, Die wandernde Grenze.

158

nisch-ukrainischen Grenze zusammengeschlossen: die ukrainischen Oblaste Wolhynien und L’viv sowie die polnischen Woiwodschaften Lublin und Karpatenvorland. Mitglieder waren die jeweiligen Regionalverwaltungen, aber auch Nichtregierungsorganisationen unter anderem in Lublin und L’viv. Ziel der Agentur war es, Erfahrungen über die Grenze auszutauschen, gemeinsame Anträge auf EU -Fördergelder zu stellen und Lösungen für grenzüberschreitende Probleme zu entwickeln – beispielsweise mit der Planung von grenzüberschreitender Infrastruktur einschließlich des Straßen- und Abwassersystems oder durch die Förderung des grenzüberschreitenden Tourismus, vor allem zur Freude der Wanderer in den Karpaten. Mit initiiert und anfänglich gefördert wurde dieses Netzwerk nicht – wie man aus heutiger Sicht zunächst meinen könnte – von der EU , sondern vom britischen Department for International Development (DFID ). Obwohl das DFID die Schwerpunkte seiner Arbeit bis heute vor allem in jenen Weltregionen sieht, die als ehemalige Kolonien historische Bindungen an das frühere imperiale Zentrum besitzen, engagierte es sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vermehrt auch in Osteuropa. Mit diesem Engagement waren die Briten natürlich nicht allein – die United States Agency for International Development (USAID ) gehörte hier zu den größten Geldgebern, außerdem waren insbesondere Schweden, die Schweiz, Kanada und natürlich Deutschland in der Region sehr aktiv. Die geografische und inhaltliche Neuausrichtung der britischen Politik stand im Zusammenhang mit dem übergreifenden Wandel der internationalen Entwicklungshilfe, der unter anderem gekennzeichnet war durch die Hinwendung zu »good governance«, Entdeckung der Zivilgesellschaft als Partner und wachsende Rolle von Wissen als Ressource für die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung. Dieser Prozess hatte mit der Ukraine oder mit der zukünftigen Ostgrenze der EU zunächst einmal nicht unmittelbar zu tun, schlug sich aber eben in der Förderung jener Agentur für grenzüberschreitende Zusammenarbeit nieder. Damit bekamen polnische und ukrainische regionalpolitische Interessenvertreter Ressourcen zur Verfügung gestellt, die sie mit Blick auf die nahende Osterweiterung zu nutzen verstanden. Im Jahr 2001 gegründet, hatte sich die Agentur als Sprachrohr regionaler Interessen bereits etabliert, als die EU 2003 mit den neuen Programmen im Rahmen der Nachbarschaftspolitik ein anderes Fördermodell für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit an der 159

neuen Außengrenze der Union zu erproben begann. Es sollte nun möglich sein, gemeinsame Projekte mit Partnern auf beiden Seiten der Grenze durchzuführen, mit gemeinsamen Budgets, gemeinsamen Zielen, einer gemeinsamen Projektleitung. In diesem Moment fiel es den Mitgliedern des Netzwerks nicht schwer, die Arbeit der Agentur als »Vorbereitung« für die Nachbarschaftsprogramme neu zu deuten und die Kommission aufzufordern, die offiziellen Kontaktbüros der Nachbarschaftsprogramme in den bestehenden Filialen der Grenzagentur einzurichten. Dem folgte die Kommission tatsächlich und machte die Agentur damit zu einem wichtigen Manager der neu aufgelegten regionalpolitischen EU -Fonds, die in der strukturschwachen Region wichtige zusätzliche Mittel bereitstellten. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Zusammenarbeit über die Grenze hinweg war jedoch nicht frei von Irritationen. Zwar wurde Polen von den ukrainischen Partnern vielfach als Vorbild für die gesellschaftliche und politische Modernisierung gesehen und als Anwalt ukrainischer Interessen in der EU dankbar in Anspruch genommen, allerdings wuchs die Unzufriedenheit über die Asymmetrie an der Grenze, über den ungleichen Zugang zu EU -Mitteln insbesondere in der ersten Phase der Nachbarschaftsprogramme. »It is like licking a lollipop through a window«44 – als würde man einen Lutscher durch ein Fenster gereicht bekommen –, so beschrieb ein polnischer Mitarbeiter die Situation, wie sie sich aus ukrainischer Perspektive darstellen müsse. Und ein prominenter Mitarbeiter der Regionalverwaltung für internationale Zusammenarbeit in L’viv, der auch als Publizist tätig und einer der kritischsten Beobachter der Entwicklungen in der Ukraine und in der EU ist, umriss das Problem noch pointierter: »Es hat keinen Sinn, sich an die Regeln der EU zu halten ohne Perspektive, ohne Möglichkeit der Mitgliedschaft in der EU . Wir spielen nach ihren Regeln ohne Belohnung, ohne einen Vorteil zu haben. Das ist wie mit einer Frau: Wir wollen ein bisschen spielen, aber heiraten wollen wir nicht.«45

44

45

Interview der Autorin am 28. 11. 2006, Abteilung für regionale Entwicklung, Marschallamt Woiwodschaft Lublin. Interview der Autorin am 6. 5. 2008, L’viv State Oblast Administration, Department for International Cooperation.

160

Weder die Führungsrolle der EU noch die der Polen blieb in der Grenzregion also unbestritten. Die Grenze war nicht nur auf paradoxe Weise Barriere und polnisch-ukrainische Brücke zugleich, sie war vor allem auch ein Argument regionalpolitischer Interessenvertreter in ihren jeweiligen Hauptstädten und in Brüssel, um die Dringlichkeit nachhaltiger Unterstützung glaubhaft zu machen. Ob es dabei immer darum ging, die Union dabei zu unterstützen, »Sicherheit und Stabilität in [ihre] Nachbarschaft zu projizieren«, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit behaupten. Oder noch anders: Aus Sicht »der Grenzbewohner« ging es darum vermutlich nicht in erster Linie.

Zivilisierungsmission und Ergänzungsraum Mithilfe des vorgeführten Perspektivenwechsels sollte deutlich werden: Innerhalb wie außerhalb der EU , in Brüssel, Warschau, Lublin oder L’viv, wird gleichzeitig über die Art der Ab- und Eingrenzung des EU -Raums, über das Verhältnis zu den Nachbarn und über die Verankerung Europas in globalen Bezügen verhandelt. Wie lässt sich nun die Spezifik dieser Raumordnungsstrategien auf den Begriff bringen? Dazu seien zwei Vorschläge unterbreitet: Man könnte es mit den Konzepten von Zivilisierungsmission und Ergänzungsraum versuchen, doch beide bedürfen der historischen Einordnung.46 Der Begriff der Zivilisierungsmission entstand im Zeitalter des europäischen Hochimperialismus unter anderem als mission civilatrice oder als white man’s burden. Historische Zivilisierungsmissionen waren dabei in ihrer konkreten Ausformung vielfach widersprüchlicher, als es die Idee der Zivilisierungsmission zunächst nahelegt. Die Gefahr der ahistorischen Analogiebildung, die der Übertragung des Begriffs in zeitgenössische Zusammenhänge innewohnt, ist nicht von der Hand zu weisen. Als Idee beruhen Zivilisierungsmissionen auf der Vorstellung, dass bestimmte Normen und

46

Versuche dazu habe ich schon früher unternommen: Marung, Zivilisierungsmissionen à la polonaise; dies., Die wandernde Grenze., S. 42 ff. und 343 ff.

161

gesellschaftspolitische Modelle anderen überlegen sind und dass es unter Umständen notwendig und legitim sein könnte, diesen Normen durch Intervention außerhalb des eigenen Raums zur Umsetzung zu verhelfen.47 Ihnen zugrunde liegt ein je spezifisches Modernisierungsprogramm, mit dem »rückständige« Peripherien Entwicklungen unter Anleitung des »fortschrittlichen« Zentrums »nachholen« sollen. Diese Denkweise fasst Entwicklungsunterschiede nicht nur zeitlich – im Sinne eines »noch nicht« oder »schon« –, sondern auch räumlich als »zivilisiertes« Zentrum und »rückständige« Peripherie. Zumeist waren sie an koloniale Subjekte gerichtet, die auch nach ihrer »Zivilisierung« nicht notwenderweise als gleichberechtigt galten. In unserem Fall tritt der Begriff zunächst aus den polnischen Quellen hervor. Dort ist die Vorstellung einer »westlichen Zivilisation«, zu der aufgeholt werden müsse, zentral.48 Die Idee der Zivilisierungsmission steht hier also nicht in einem kolonialen Kontext, sondern verweist auf das Ringen um Deutungshoheiten in Bezug auf Raumordnungen und räumlich gefasste Hierarchien. Eine Mission in diesem Sinne verfolgte in dem hier vorgeführten Zusammenhang somit nicht nur die EU , sondern auch Polen,49 das die eigene Mission in die EU -europäische einschrieb und diese damit zugleich veränderte, sie gewissermaßen »polono-lithuanisierte« (Stefan Troebst). Der Begriff kann also helfen, darauf aufmerksam zu machen, wie umstritten das EU -Territorialisierungsprojekt ist und dass für dessen Legitimierung historische Narrative unterschiedlich langer Dauer mobilisiert wurden.

47

48

49

Boris Barth/Jürgen Osterhammel, »Vorwort«, in: diess. (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 7–11. U. a. »Address by Foreign Minister of the Republic of Poland Radoslaw Sikorski at the Sejm, May 7, 2008«, in: Materiały i Dokumenty 5/2008; »Statement by President of the Republic of Poland Aleksander Kwasniewski on Independence Day, November 11, 2005«, in: Materiały i Dokumenty 11/2005. Rafał Stobiecki, »Comparing Polish Historiography on the Petersburg Empire. Second Republic – People’s Republic – Exile«, in: Frank Hadler/Mathias Mesenhöller (Hg.), Vergangene Größe und Ohnmacht in Ostmitteleuropa. Repräsentationen imperialer Erfahrungen in der Historiographie seit 1918, Leipzig 2007, S. 281–300; Marung, Die wandernde Grenze.

162

Darüber hinaus sollte die Reise gezeigt haben, dass die Herausbildung des EU -Grenzregimes nicht nur ein Prozess der Vergrenzung ist, sondern – und dies wäre der zweite konzeptionelle Vorschlag – mit der Schaffung eines Ergänzungsraums50 einhergeht. Dieser Begriff verweist für den Fall der EU darauf, dass der benachbarte Raum Funktionen für die Kompensation von Defiziten und die Bewältigung von Krisen übernimmt, die innerhalb der Union diagnostiziert werden und die aus der unhintergehbaren Einbettung in globale Zusammenhänge resultieren. Wenn hier also der Begriff Ergänzungsraum als Interpretament für eine Dimension des untersuchten Territorialisierungsprojekts zum Einsatz kommt, wird damit nicht der Verlängerung der kolonialen Erschließungspraxis in die EU -europäische Gegenwart das Wort geredet, sondern eine spezifische Konstellation erfasst: Es handelt sich um einen Raum, der weder durch Kolonisation noch durch Erweiterung in den EU Raum integriert wird, sondern teilweise institutionell und normativ überformt werden soll, um eine gewisse Ähnlichkeit zu den EU Strukturen herzustellen. Mit der Überformung des Ergänzungsraums sollen gleichzeitig die dort entstehenden und zirkulierenden Ströme – von Menschen wie von Waren – eingehegt werden. Gleichwohl handelt es sich beim EU ropäischen Ergänzungsraum nicht um einen reinen »Projektionsraum«. »Europäische Lösungen« werden nicht einfach nur nach außen hin exportiert, sondern »von außen« mitgestaltet und angeeignet.51 Auch hier droht wieder – wie bei der Zivilisierungsmission – die Gefahr der Ent-Historisierung. Der Begriff wurde in den 1920er Jahren unter anderem vom deutschen Wirtschaftsgeografen Erich 50

51

Es sei hier sofort bemerkt, dass dieser Begriff gerade für die Geschichte Ostmitteleuropas, zumal die des Deutschen und des »Dritten Reiches« darin, mit einer langen Reihe gewaltsamer imperialistischer Projekte verbunden ist. (Vgl. u. a. Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen). Diese seien hier in keiner Weise kaschiert, jedoch auf den historischen Wandel sowohl der Inhalte als auch der Ziele dieser Projekte verwiesen, wobei das konstante Element das der Machtungleichheiten in einem solchen Raum ist. Diese Seite der Vorgänge wird aus politikwissenschaftlicher Sicht zwar anerkannt, aber häufig nicht systematisch rekonstruiert, da hier zumeist die Blickrichtung der scheinbar hegemonialen Akteure eingenommen wird. Vgl. Clark/ Jones (Hg.), The Spatialities of Europeanization; Lavenex/Wichmann, The External Governance, S. 83–102.

163

Obst mit Blick auf Afrika entwickelt.52 Und obwohl Obst das »Prinzip der frohen Bejahung«53 zur Grundlage für die Zugehörigkeit zu diesem Raum erklärte, darf nicht der imperialistische und rassistische Kontext der Begriffsentstehung aus dem Blick geraten. Die Karriere des Begriffs setzte sich über die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft fort bis in die ersten Nachkriegsjahrzehnte und wurde dann im Übergang von einer kolonialen Entwicklungspolitik im Spätkolonialismus zur postkolonialen Entwicklungshilfe zunächst durch andere Vorstellungen, wie dem französischen »Eurafrique«, ersetzt und schließlich ganz verdrängt. Für den Begriff des Ergänzungsraums gilt also Gleiches wie für den der Zivilisierungsmission: Die Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu anderen historischen Projekten müssen sorgsam abgewogen werden. In beiden Fällen ist es entscheidend, die Pluralität der Akteure ernst zu nehmen, die an der Erschaffung dieses Raumes beteiligt sind. Es handelt sich also nicht um eine neokoloniale Setzung, sondern um ein umstrittenes Projekt, das gleichwohl auf Machtungleichheiten beruht. »Ergänzungsraum« verweist stets auf ein Machtgefälle. Der Begriff des »Nachbarschaftsraums« aus der EU Rhetorik verschleiert indes, dass es sich aus Sicht der Union eben nicht um eine gleichberechtigte Partnerschaft handelt.

Epilog Leben wir tatsächlich in einer Welt ohne Grenzen? Wandelt sich die EU zum neuen Superstaat, gar zum neuen »Empire«? Und wer ist am Entwurf neuer politischer Räume beteiligt? Schließlich: Welche politischen und historischen Argumente werden mit solchen Raumsemantiken wie »Grenze der europäischen Zivilisation«, »europäische Nachbarschaft« oder »Festung Europa« transportiert? Mit der Beantwortung solcher Fragen zu beginnen, war Ziel des hier unternommenen Perspektivwechsels.

52

53

Dirk van Laak, Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880 bis 1960, Paderborn u. a. 2004. Zit. in: ebenda, S. 329.

164

Aus den verschiedenen Blickwinkeln lassen sich unterschiedliche Erkenntnisse gewinnen. In Brüssel zeigte sich, dass wir es nicht einfach mit einer »Festung Europa« zu tun haben und dass die Liberalisierung der Migrationspolitik mit neuen Abgrenzungen einhergehen kann. Eine kritische Analyse der europäischen Migrations- und Grenzpolitik müsste sich deshalb nicht nur um das Verständnis dramatischer Vorgänge bemühen – wie die Frontex-Manöver im Mittelmeer oder die zahllosen Migranten aus Afrika, die in Lampedusa stranden oder auf dem Weg nach EU ropa ihr Leben lassen. Es gälte darüber hinaus, die politisch erzeugten variablen Geografien zu verstehen, deren Beherrschung nicht minder voraussetzungsvoll ist. Die »EU -Außengrenze« ist Ergebnis von Aushandlungen, von Interessenkonflikten, und sie spiegelt Bedrohungswahrnehmungen wider, die nach dem Ende des Kalten Krieges die alten Feinde ersetzten. Das heißt aber auch: Sie ist veränderbar. Aus Warschauer Sicht ließ sich besser verstehen, dass nicht die EU allein die Ordnung des Kontinents bestimmt, sondern durch ihre Erweiterung in kulturelle und politische Räume vordringt, die im Westen lange nicht zur Kenntnis genommen worden sind. Diese Traditionen sind nicht verschwunden, sondern werden nun in die politische Raumordnung wieder eingespeist, was wiederum kein Zeichen besonderer Renitenz ist.54 Vielmehr wird klar, dass die Erweiterung des politischen Raums eben auch die Erweiterung des gemeinsamen historischen Horizonts zur Folge hat. In Lublin und L’viv ließ sich beobachten, dass auch hier »die Grenze« nicht nur eine Angelegenheit der EU ist, aber auch nicht nur eine der regionalen Interessenvertreter. Vielmehr sind globale Prozesse – der Wandel von Entwicklungshilfe, die Veränderung von Migrationsrouten, die Herausbildung eines neuen Sicherheitsverständnisses – mit regionalen Entwicklungen verzahnt. Die damit verbundenen Interessen sind – wenig überraschend – nicht notwendigerweise komplementär, und die Vorstellungen darüber, mit welcher Art von Grenze man es denn nun zu tun hat, können weit auseinandergehen. Das Wissen um diese Verflechtungen und Frik-

54

Heather Grabbe, »Poland. The EU ’s New Awkward Partner«, in: Bulletin of the Centre of European Reform, 2004, http://www.cer.org.uk/publications/ archive /bulletin-article/2004/poland-eus-new-awkward-partner [14. 9. 2014].

165

tionen ist bedeutsam, um EU ropäisierenden Verallgemeinerungen aus dem Wege zu gehen. Um sicher sagen zu können, ob tatsächlich eine neue Ordnung des politischen Raums, ein neues Territorialisierungsregime im Entstehen begriffen ist, muss zunächst geklärt werden, welche Deutungen und welche Vorschläge überhaupt entwickelt wurden und wie sich diese zueinander verhalten. Für den vorliegenden Fall lässt sich schlussfolgern: Das Territorialisierungsprojekt der EU setzte sich zusammen aus dem Entwurf ihrer Grenze und ihres Ergänzungsraums. Diese beiden hier unterbreiteten konzeptionellen Vorschläge sollen die neue Qualität des Territorialisierungsprojekts der EU begrifflich schärfen, denn dabei geht es weder um die Reaktivierung imperialer Praktiken noch um die Hochrechnung des Nationalstaats auf die supranationale Ebene – beide Analogien würden in die Irre führen, und zwar sowohl die Kritiker als auch die Befürworter dieser Entwicklung.

166

III. Innen und Außen: Grenzkonstellationen im erweiterten Europa

Lena Laube

Postsouveräne Räume: Makroterritorien und die Exterritorialisierung der europäischen Grenzpolitik Territorialität in der europäischen Grenzpolitik Die territoriale Kontrolle eines nationalen Hoheitsgebietes gehört zu den Kernstücken des Konzeptes von Souveränität moderner Nationalstaaten. Klassisch wird diese Kontrolle an der Grenzlinie des Territoriums ausgeübt. Grenzbeamte identifizieren Personen, die die Grenze überschreiten wollen, und entscheiden über Zutritt oder Zutrittsverbot. Ist ein Staat nicht in der Lage, seine Grenzen und die Bewegungen über diese selbst zu kontrollieren, gilt seine Autorität als stark eingeschränkt. Neben der territorialen Hoheit gibt es weitere Erwartungen, die an einen Nationalstaat gestellt werden. Zu diesen gehören, trotz aller Wandlungsprozesse von Staatlichkeit, die politische Inklusion aller Bürger und die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit. Die Monopolisierung von staatlicher (und polizeilicher) Gewalt, die Steuererhebung, Verwaltung natürlicher Ressourcen und Etablierung einer einheitlichen Rechtsordnung, werden dabei innerhalb der Grenzen eines nationalen Territoriums gedacht.1 Das nationalstaatliche Modell basiert neben dem Prinzip moderner Territorialität auf Konzepten wie Volk, Nation und angestammtem Hoheitsgebiet. Es nahm seinen Ausgangspunkt im Europa des 18. Jahrhunderts und setzte sich nach 1945 – erleichtert durch die Intensivierung weltgesellschaftlicher Kommunikation – weltweit durch.2

1

2

Vgl. Michael Zürn/Stephan Leibfried, »Reconfiguring the National Constellation«, in: diess. (Hg.), Transformations of the State? Cambridge 2005, S. 1–36. Vgl. John W. Meyer u. a. (Hg.), »World Society and the Nation State«, in: American Journal of Sociology (1997), Heft 1, S. 144–181.

169

Indem sie eine territoriale Grenze deklarierten, nahmen moderne Nationalstaaten eine räumliche Begrenzung ihres Hoheitsgebietes vor.3 In der Folge wurden die drei Dimension von »Land, Volk und Herrscher« in der klassischen Staatslehre als deckungsgleich angenommen.4 Nationale Gesellschaften bildeten sich in Abgrenzung zu anderen Nationen heraus, sodass der Staat als »Container des Sozialen« gedacht werden konnte.5 Für die Bevölkerung, die aus Staatsbürgern zusammengesetzt ist, gewinnen territoriale Grenzen an Plausibilität, wenn sie eine (national-ethnische) Identitätsbasis vermitteln, welche allein durch den territorialen Zusammenhalt nicht gegeben wäre.6 Dabei ist diese Art der Territorialität stets nur eine unter vielen denkbaren Formen, wie ein bestimmter – hier national definierter – Raum als Instrument genutzt werden kann, um ein spezifisches Ergebnis zu erzielen, nämlich kollektiv bindende Entscheidungen zu fällen.7 Das Konzept der »Postsouveränität« oder der »postnationalen Konstellation«8 dagegen beinhaltet die Vorstellung von neuen geteilten und sich gelegentlich überlappenden Autoritäten. Als externer Antrieb wird häufig die Globalisierung identifiziert. Andere argumentieren, dass die Globalisierung auch genutzt wird, um gezielt Staatlichkeit und Territorialität zu verändern.9 Weiterhin geht die Theorie der Weltgesellschaft davon aus, dass das politische System der Moderne ein einziges ist und sich nicht sinnvoll in nationalstaat-

3

4 5

6

7 8

9

Vgl. Peter Flora (Hg.), State Formation, Nation-Building, and Mass Politics in Europe: The Theory of Stein Rokkan, Oxford 1999; Rogers Brubaker, »Staatsbürgerschaft als soziale Schließung«, in: Klaus Holz (Hg.), Staatsbürgerschaft. Soziale Differenzierung und politische Inklusion, Wiesbaden 2000, S. 73–91. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Kronberg 1976 [1900], S. 144. Vgl. Peter J. Taylor, »The State as Container: Territoriality in the Modern WorldSystem«, in: Progress in Human Geography (1994), Heft 2, S. 151–162. Vgl. Rudolf Stichweh, Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt am Main 2000. Taylor, The State as Container, S. 151. Jürgen Habermas, »Die postnationale Konstellation – Politische Essays«, Frankfurt am Main 1998. Vgl. Aihwa Ong, »Graduated Sovereignty in South-East Asia«, in: Theory, Culture & Society 7 (2000), Heft 4, S. 55–75; Saskia Sassen, »Territory, Authority, Rights: From Medieval to Global Assemblages«, Princeton 2006.

170

liche Einheiten unterteilen lässt.10 Als »globale Assemblagen« wiederum beschreibt die Soziologin Saskia Sassen staatliche Konstellationen, die dadurch charakterisiert sind, dass sich politische Organisationen auf lokaler, nationaler, supranationaler und globaler Ebene gegenseitig durchdringen. Diese konkurrierenden Ordnungen, in der Politikwissenschaft auch als Multilevel-Governance bezeichnet, machen einerseits Zugehörigkeitsangebote für Staaten und Personen und stellen zugleich Ansprüche auf Entscheidungsgewalt. Doch bleibt in diesen Entwürfen zumeist unklar, welche Entsprechungen eine solche postsouveräne Konstellation auf der Ebene der Territorialitätspolitik hat. So betrachtet etwa Aihwa Ong bei ihrer Analyse einer »graduated sovereignty«11, wie sich das Verhältnis des Staates zur Bevölkerung sowie zur Ökonomie verändert und Souveränität teils freiwillig eingeschränkt wird. Doch wie sich der Staat im Verhältnis zu seinem Ordnungsinstrument, dem Territorium selbst, wandelt, bleibt unbeachtet. Zu selbstverständlich scheinen die territoriale Fixierung des Staates und die daraus abgeleitete territoriale Reichweite der staatlichen Autoritätssphäre. Wie sieht also eine postsouveräne Territorialität aus? Dieser Frage wird der Beitrag in Bezug auf die Kontrollpolitik über territoriale Grenzen, über die Bevölkerung und deren Mobilität nachgehen. Als Fall dient die Europäische Union, die durch die Bildung eines gemeinsamen »Makroterritoriums«12, auf dem mehrere Nationalstaaten gemeinsam wirtschaften und Mobilitätssteuerung betreiben, ein weltweites Novum geschaffen hat.13 Die europäischen Staaten haben die hoheitliche Kontrolle über ihre Landesgrenzen in den vergangenen zwanzig Jahren nach und nach freiwillig abgegeben. Ein funktionales Äquivalent zu diesen Kontrollen an den Binnengrenzen bewahrt diese Staaten davor, staatliche Souveränität tatsächlich auf10

11 12

13

Vgl. Stichweh, Die Weltgesellschaft; Mathias Albert/Rudolf Stichweh, Weltstaat und Weltstaatlichkeit. Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung, Wiesbaden 2007. Ong, Graduated Sovereignty in South-East Asia, S. 55. Vgl. Steffen Mau u.a., Liberal States and the Freedom of Movement. Selective Borders, Unequal Mobility, Basingstoke 2012. Anfänge solcher Entwicklungen einer gemeinsamen Territorialpolitik finden sich jedoch, wenn auch in abgeschwächter Form, auch in anderen Staatenbünden wie der Westafrikanischen Wirtschaftsunion ECOWAS und dem Südamerikanischen Wirtschaftsraum Mercosur.

171

zugeben: die Errichtung einer gemeinsamen EU -Außengrenze, an der stellvertretend immer ein Land für alle anderen EU -Mitgliedstaaten an einem bestimmten Grenzabschnitt den Zutritt zum gemeinsamen Mobilitätsraum kontrolliert. Diskussionen darüber, ob dies einen ausreichenden Schutz im Sinne der jeweiligen nationalen Sicherheit garantieren kann, werden seither lebhaft geführt. Diese einzigartige grenzpolitische Konstruktion in Europa stellt eine »postsouveräne« Territorialität dar und wird als ein Instrument eingesetzt, um ein spezifisches Ergebnis zu ermöglichen: eine gemeinsame europäische Politik. Hauptziel dieser gemeinsamen EU Politik war in den Anfängen die Errichtung eines gemeinsamen (befriedenden) Marktes durch die Schaffung eines Wirtschaftsraums ohne interne Mobilitätsbarrieren. Einen gemeinsamen Rechts- und Wirtschaftsraum zu etablieren, in dem politische Entscheidungen durchgesetzt werden können, überträgt das klassische Konzept des modernen Nationalstaates auf eine supranationale Ebene. Kontrollen über den Zutritt auf die nationalen Territorien der Mitgliedstaaten wurden zugunsten einer freien Mobilität in der EU aufgegeben. Auch in eine einheitliche Identität soll die Bevölkerung sozialisiert werden, nämlich als EU -Bürger, die in diesem Raum gemeinsam wirtschaften und reisen und mit den gleichen Rechten ausgestattet sind. Die Personenfreizügigkeit als eine der »vier Grundfreiheiten« der EU soll die Bürger Europas positiv miteinander verbinden.14 Eine Betonung erfuhr im Zuge dessen die Differenz zwischen EU Bürgern als »in-group« und Drittstaatsangehörigen als der neuen »out-group«. Im Inneren unterstützt die Semantik des »Raums der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts« das Projekt einer Einigung Europas und verweist auf geteilte Werte wie auch auf eine mögliche (gemeinsame) Bedrohung von außen. Das Makroterritorium kopiert die nationale Territorialität als Abgrenzung eines hier einfach nur größeren Gebiets im gemeinsamen Verbund mehrerer Staaten. Doch bei dieser Konstruktion der gemeinsamen Kontrolle eines supranationalen, postsouveränen Makroterritoriums, an dessen Rändern Dritte, als Nicht-EU -Bürger, einer besonderen Kontrolle unterzogen werden, bleibt das europäische Grenzregime nicht ste-

14

Vgl. Catherine Barnard, The Substantive Law of the EU : The Four Freedoms, Oxford 2013.

172

hen. In einem zweiten Schritt werden auch Akteure außerhalb der Europäischen Union in das Grenzregime eingebunden. So können territoriale Kontrollen auch jenseits des EU -Makroterritoriums stattfinden. Es wurden und werden beispielsweise mit den Nachbarstaaten der EU (die zu einem späteren Zeitpunkt auch EU -Mitglieder werden können) gemeinsame Programme aufgelegt, die darauf zielen, dass bereits diese Nachbarn irreguläre Einwanderung in das Gebiet der EU verhindern. Weiterhin werden Übereinkünfte mit den Hauptherkunftsländern von Migranten getroffen. Auch sie sollen sich daran beteiligen, dass bereits an den Flughäfen, von denen Reisende in die EU starten, auf gültige Reisedokumente und ein Schengenvisum hin kontrolliert wird. Diese Tendenz zur Verlagerung von Kontrollorten entspricht einer Exterritorialisierung von Grenzkontrollen und ist eine Strategie der Zielländer, bei der eigene Ressourcen (personeller, logistischer oder finanzieller Art) an einem Ort außerhalb des eigenen nationalen Territoriums eingesetzt werden, um in Personenmobilität, die sich tatsächlich oder potenziell auf das Territorium zubewegt, regulierend einzugreifen. Dabei werden Kontrollen von der Grenzlinie des nationalen Territoriums gelöst und an andere geografische Orte verlegt, die von einer mobilen Person passiert werden, bevor sie den eigentlichen Grenzübertritt verwirklichen kann.15 Obwohl die Grenzlinie des Territoriums lange als der Ort staatlicher Mobilitätskontrolle galt, gibt es heute vielfältige, neue Orte, an denen Zugangskontrollen stattfinden.16 Zum Teil liegen diese neuen Orte außerhalb des europäischen Makroterritoriums und etablieren dort weitere Formen einer »postsouveränen« Territorialität. Jedoch sind diese »postsouveränen« Territorialitäten erst im Entstehen begriffen und nicht gefeit davor, auch wieder zurückgebaut zu werden.

15

16

Siehe ausführlichere Definition exterritorialer Kontrollen in: Lena Laube, Grenzkontrollen jenseits nationaler Territorien. Die Steuerung globaler Mobilität durch liberale Staaten, Frankfurt am Main 2013, S. 51–52. Vgl. Mark B. Salter, »Borders, Passports, and the Global Mobility Regime«, in: Bryan S. Turner (Hg.), The Routledge International Handbook of Globalization Studies, London 2010, S. 514–530; Anssi Paasi, »Bounded Spaces in a ›Borderless World‹: Border Studies, Power and the Anatomy of Territory«, in: Journal of Power 2 (2009), Heft 2, S. 213–234.

173

Der Beitrag vertritt die These, dass diese zweite Form postsouveräner Territorialität der EU in Form neuer EU -Grenzpolitiken außerhalb des Makroterritoriums die Kontrolle bestimmter strategischer Orte gegenüber der Kontrolle eines bestimmten Raumes favorisiert. Die EU -Mitgliedstaaten setzen auf die Verlagerung von Kontrolle, was auch als Exterritorialisierung oder »remote control«17 bezeichnet wird, lösen Kontrollen von den Grenzlinien und bündeln diese an strategischen Orten, die von besonderer Bedeutung für die globale Mobilitätssteuerung sind: an Häfen und Flughäfen, Migrationsrouten über See, in großen Städten und Botschaften. An diesen exterritorialen Orten, die zum Teil auf dem Hoheitsgebiet anderer Staaten liegen, versuchen die EU -Mitgliedstaaten, Steuerungsmöglichkeiten zu erlangen. Weil hier Steuerungsmöglichkeiten in den Hoheitsgebieten anderer Länder gesucht werden, ist der Versuch exterritorialer Mobilitätssteuerung immer schon als postsouverän zu verstehen. Die politische Soziologie hat Perspektiven aufgezeigt, wie Exklusionspraktiken von Staaten gegenüber Migranten analytisch gefasst werden können, auch wenn sich diese nicht an den nationalen Territorien orientieren.18 Notwendig ist eine solche grenzsoziologische Perspektive, um den Wandel von Grenzen nicht fälschlicherweise mit der Auflösung von territorialen Grenzen zu verwechseln. Auch wenn die EU zunächst für den Grenzabbau stand, so bedeutet die Analyse einer Grenzkonstellation unter Globalisierungsbedingungen, »nicht nach der Auflösung, sondern nach Formen des Wandels der Funktionsweise von Grenzen zu fragen«19. Im Folgenden wird zu diesem Zweck zunächst ein kurzer Überblick über den Prozess 17

18

19

Den Begriff »remote control« prägte in den Border Studies Aristide Zolberg. »Archaeology of Remote Control«, in: Andreas Fahrmeir/Oliver Faroun/Patrick Weil (Hg.), Migration Control in the North Atlantic World. The Evolution of State Practices in Europe and the United States from the French Revolution to the Inter-War Period, New York 2003, S. 195–221. Vgl. John Torpey, »Coming and Going: On the State Monopolization of the Legitimate ›Means of Movement‹«, in: Sociological Theory 16 (1998), Heft 3, S. 239–259; Monika Eigmüller/Georg Vobruba, Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes, Wiesbaden 2006; Mau u. a., Liberal States and the Freedom of Movement. Georg Vobruba, »Die postnationale Grenzkonstellation«, in: Zeitschrift für Politik. Organ der Hochschule für Politik München 57 (2010), Heft 4, S. 435.

174

der Vergemeinschaftung der europäischen Grenzpolitik gegeben. Wie stehen diese harmonisierte Grenz- und Migrationspolitik und die Bildung eines europäischen »Makroterritoriums« zur klassischen, nationalstaatlichen Territorialität? Danach werden Instrumente des europäischen Grenzregimes vorgestellt, die Kontrollen exterritorialisieren20 und damit über das Makroterritorium hinausreichen. Diese Übersichten stützen sich auf Dokumentenanalysen von Rechtstexten nationaler Behörden (Gesetze und Berichte) sowie der supranationalen Institutionen der Europäischen Union (Kommissionspapiere, EU -Richtlinien und -Verordnungen). Qualitative Interviews mit grenzpolitischen Akteuren, die zwischen 2008 und 2012 geführt wurden, informieren die Analyse der grenzpolitischen Instrumente. Abschließend werden diese beiden Grenzbeobachtungen in die Gesamtfragestellung des Bandes zur postsouveränen Territorialität eingebunden und darauf verwiesen, dass sich postsouveräne Territorialität zwar räumlich flexibler zeigt, dabei aber für den Staat neue Abhängigkeiten entstehen.

Die Entstehung des europäischen Makroterritoriums Das Schengener Abkommen von 1985 bildet den entscheidenden Ausgangspunkt für die Implementierung eines gemeinsames Grenzregimes in Europa, obwohl die Idee zu einem gemeinsamen Raum des Wirtschaftens und Reisens schon seit den 1950er Jahren bestand. Noch auf der Ebene einer intergouvernementalen Zusammenarbeit jenseits der Europäischen Union einigten sich 1985 dann die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Deutschland und Frankreich auf das Ziel, die gegenseitigen, stationären Kontrollen an den Binnengrenzen abzuschaffen. 1990 legten diese Länder gemeinsame Kontrollstandards im »Schengener Durchführungsabkommen« fest, das seit 20

An anderer Stelle hat die Autorin gezeigt, dass insgesamt dreizehn verschiedene Instrumente von westlichen Staaten oder Staatenverbünden genutzt werden, um Kontrollen an Orten jenseits der eigenen Hoheitsgebiete zu verlagern, siehe Laube, Grenzkontrollen jenseits nationaler Territorien, S. 151. In diesem Beitrag finden jedoch nur diejenigen Instrumente Beachtung, die Teil des gemeinsamen EU -Grenzregimes sind.

175

1993 in Kraft ist, und implementierten die entsprechenden Ein- und

Ausreisekontrollen vor allem für »Drittausländer«21 an den Außengrenzen des so entstehenden Schengen-Raumes. Zehn Jahre nach der Unterzeichnung des Schengener Abkommens fielen zwischen den ersten sieben Ländern die Kontrollen an den Binnengrenzen.22 Parallel zu diesen Entwicklungen etablierten die EU -Mitgliedstaaten 1992 mit dem Vertrag von Maastricht die Migrations- und Asylpolitik sowie den Grenzschutz als Politikfelder, die im gemeinsamen Interesse aller Mitgliedstaaten stehen sollten.23 Auch die gemeinsame rechtliche Bindung an die europäische Menschenrechtskonvention (EMRK ) und die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK ) wird in diesem Vertrag festgehalten. Ziel war es, die Vereinigung Europas auch ideell abzusichern und durch die Freizügigkeit im Inneren die Verwirklichung des gemeinsamen Binnenmarktes voranzutreiben.24 Durch den Vertrag von Amsterdam wurden dann 1997 das Schengener Abkommen sowie weitere bis dato verabschiedete Bestimmungen und Beschlüsse des Schengener Exekutivausschusses in die EU -Gesetzgebung überführt und gelten seither grundsätzlich für alle EU -Mitgliedstaaten.25 Auch die Staaten, die zu einem späteren Zeitpunkt der Europäischen Union beitraten, verpflichteten sich, das Schengener Abkommen zu ratifizieren und in den Folgejahren die entsprechenden Maßnahmen wie Außengrenzkontrollen, Öffnung der Binnengrenzen, Einführung von Schengen-Visa, Teilnahme an der gemeinsamen Asylpolitik (Mindeststandards und Rücknahme von Antragstellern über das Dublin II -Verfahren etc.) zu implementieren. Das Schengener Abkommen bleibt auch deshalb parallel zur EU -Gesetzgebung bestehen, damit europäische Länder, die nicht zur EU gehören, dem Abkommen ebenfalls beitreten können. Die europäische Grenzpolitik baut damit seit drei Jahrzehnten 21

22

23 24

25

Andrew Geddes, The Politics of Migration and Immigration in Europe, London 2003. S. 132. Inzwischen waren Portugal und Spanien dem Schengener Abkommen beigetreten. Vertrag über die Europäische Union, Titel VI , Artikel K1, in Kraft 1993. Vgl. Virginie Guiraudon, »European Integration and Migration Policy: Vertical Policy-making as Venue Shopping«, in: Journal of Common Market Studies 38 (2000), Heft 2, S. 251–271; Virginie Guiraudon/Adrian Favell, Sociology of the European Union, New York 2011. Vgl. Schengen Besitzstand/Schengen Acquis, in Kraft 1999.

176

an einem gemeinsamen geografischen Raum.26 Dass dieser Raum eindeutig definierte Grenzen hat, soll zugleich helfen, eine gemeinsame europäische Identität auszubilden.27 Derzeit verläuft diese Grenze im Osten entlang der nationalen Territorialgrenzen von Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakischen Republik und Ungarn.28 Diese Ländergrenzen bilden den östlichen Abschnitt der EU -Außengrenzen. Die betreffenden Mitgliedstaaten führen stellvertretend in diesen Abschnitten Personen- und Warenkontrollen für den Zutritt in den gesamten EU -/Schengenraum durch. Der geografische Raum der EU und der Schengenraum sind bis heute nicht vollständig deckungsgleich, da in Ausnahmefällen wie oben erwähnt Länder auch Mitglied nur in einer der beiden Organisationen sein können.29 In Bezug auf die freie Personenmobilität ist der Raum des Schengener Abkommens maßgebend. Bürger der 26

27

28

29

Vgl. Jörg Monar, »Cooperation in the Justice and Home Affairs Domain: Characteristics, Constraints and Progress«, in: Journal of European Integration 28 (2006), Heft 5, S. 495–509. Vgl. Hastings Donnan/Thomas M. Wilson, Borders. Frontiers of Identity, Nation and State, Oxford 1999; Jan Zielonka, »How New Enlarged Borders will Reshape the European Union«, in: Journal of Common Market Studies 39 (2001), Heft 3, S. 507–536. Rumänien und Bulgarien traten 2007 der EU bei und bereiteten sich wie gefordert auf einen Beitritt zum Schengener Abkommen vor. Wegen Widerständen unter anderem aus Deutschland, Frankreich und den Niederlanden wurde der Beitritt seitens einiger »alter« EU -Mitgliedstaaten jedoch immer wieder verschoben. Rumänien hat daher vorerst seine Bemühungen eingestellt. Durch den Beitritt Rumäniens und Bulgariens zum Schengen-Raum würde grenzenloses Reisen von Griechenland bis nach Nord-West-Europa möglich. Dieses wird vor dem Hintergrund des hohen Flüchtlingsaufkommens in Griechenland derzeit von den Kernstaaten der EU abgelehnt. Ausnahmeklauseln für die Teilnahme an Schengen-Maßnahmen haben die EU Mitgliedstaaten Großbritannien und Irland durchgesetzt. Sie haben das Schengener Abkommen bisher nicht ratifiziert und auch ihre Binnengrenzen nicht geöffnet. Ausnahmen gelten auch für Dänemark, obwohl das Land an den meisten gemeinsamen Politiken teilnimmt. Die neuen EU -Mitgliedstaaten Zypern, Bulgarien, Rumänien und Kroatien sind auf dem Weg, das Schengener Abkommen umzusetzen (Zypern unter der Bedingung der Lösung des Zypernkonfliktes, zu Rumänien und Bulgarien wie oben ausgeführt). Zudem haben sich mit Island, Norwegen, Liechtenstein und der Schweiz einige Nicht-EU -Staaten dem Schengener Abkommen angeschlossen.

177

Union haben ein verbürgtes Recht, in diesen Raum ohne Hindernisse einzureisen und sich dann ohne weitere Kontrollen frei in diesem zu bewegen. Drittstaatler gegenüber der EU , also Menschen anderer Nationalitäten, brauchen in der Regel eine Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung. Sobald sie den Schengen-Raum betreten haben, sind jedoch auch für sie keine weiteren Kontrollen an den Binnengrenzen vorgesehen. Eine weitere Unterscheidung wurde für zwei Klassen von Drittstaatlern eingezogen: über die inzwischen 28 EU -Staaten hinaus dürfen die Bürger von weiteren 36 Ländern ohne ein Visum in den Schengen-Raum einreisen (Stand Mai 2014). Darunter Länder wie Brasilien, USA und Japan. Die EU plant 2015 weiteren 19 Staaten das visafreie Reisen zu ermöglichen. Die Bürger aller anderen Länder müssen noch vor ihrer Abreise aus dem Herkunftsland ein Visum beantragen und nachweisen, dass sie beabsichtigen, den Schengen-Raum nach Ablauf des Visums auch wieder zu verlassen.30 Alle EU - und Schengen-Staaten haben sich 2001 auf eine gemeinsame Liste von Ländern geeinigt, die der Visumsplicht unterliegen sollen. In vielen Fällen mussten EU -Mitgliedstaaten Visabefreiungsabkommen auflösen, sofern sie sich nicht einig werden konnten, dass die visafreie Mobilität aus diesem speziellen Land ungefährlich sei und nicht zu weiterer irregulärer Einwanderung führen würde.31 Doch werteten und werten die EU -Mitgliedstaaten gemeinsame politische Entscheidungen und deren Umsetzung in der Grenz- und Migrationspolitik als vorteilhafte Strategien, um bestimmte Maßnahmen überhaupt durchsetzen zu können. Die Verlagerung der Entscheidungen auf die Ebene der EU wurde als »venue-shopping«32 bezeichnet, das heißt als Strategie, um politische, normative und institutionelle Beschränkungen auf nationaler Ebene zu umgehen.33 Zudem werden über die supranationale Ebene die Kontrollinteressen der einzelnen Mitgliedstaaten aneinander gebunden. Eine

30

31 32 33

Vgl. Ruben Zaiotti, »Performing Schengen: Myths, Rituals and the Making of European Territoriality beyond Europe«, in: Review of International Studies 37 (2011), Heft 2, S. 537–556. Vgl. Laube, Grenzkontrollen jenseits nationaler Territorien, S. 160. Vgl. Guiraudon, European Integration and Migration Policy, S. 251. Vgl. Sandra Lavenex, »Shifting Up and Out: the Foreign Policy of the European Immigration Control«, in: West European Politics 29 (2006), Heft 2, S. 329.

178

gemeinsame Außengrenze führt dazu, dass alle Staaten die Konsequenzen der Kontrollen gemeinsam tragen und so beginnen, sich gegenseitig zu kontrollieren. Man kann dies als Prinzipal-AgentBeziehung interpretieren, in der jedes Land, das einen EU -Außengrenzabschnitt im Auftrag aller anderen kontrolliert, als Agent der anderen Mitgliedstaaten fungiert. Die Sicherung der Außengrenze wird als Voraussetzung dafür angesehen, die europäischen Binnengrenzen für den Personen- und Warenverkehr vollständig zu öffnen und offen zu halten.34 Bei besonders aufwendigen Aufgaben der gemeinsamen Grenzund Migrationspolitik der EU , wie etwa der Asylpolitik oder dem Außengrenzschutz, wurde zunächst das Prinzip des Lastenausgleichs angestrebt, nicht das der Stellvertretung.35 Besonders herausgeforderte Staaten sollten ihre Lasten innerhalb der Staatengemeinschaft teilen können. Doch diese Idee des Teilens und der Unterstützung weicht seit der Schulden- und Wirtschaftskrise von 2008 dem Ruf, dass die Randstaaten ihre Verantwortung für die Kontrolle nicht ausreichend erfüllen und mit Sanktionen dazu angehalten werden müssen. So drohen zum Beispiel geografisch zentral im Raum liegende Länder wie Österreich, Dänemark oder auch Deutschland mit der Schließung ihrer Grenzen gegenüber den Randstaaten, die ihren Kontrollverpflichtungen nicht ausreichend nachkommen (können). Die Kontrolle eines Makroterritoriums nur an der gemeinsamen Außengrenze führt für die Mitgliedstaaten dazu, dass ein Ersatz für die eigenen Kontrollen der Landesgrenzen jenseits des nationalstaatlichen Territoriums geschaffen wird. Funktioniert dieser Ersatz nur unzureichend, sehen sich die zentralen Länder bedroht, weil die Mobilität auf ihren nationalen Territorien unkontrollierbar wird. Vertrauen in die Kontrollfähigkeit der anderen Mitgliedstaaten ist 34

35

Vgl. Elspeth Guild/Didier Bigo, »The Legal Mechanism. Collectively Specifying the Individual: The Schengen Border System and Enlargement«, in: Malcolm Anderson/Joannen Apap (Hg.), Police and Justice Co-operation and the New European Borders, The Hague 2002, S. 121–138. Stellvertretend für diese Diskussion siehe Emek M. Uçarer, »Burden-Shirking, Burden-Shifting, and Burden-Sharing in the Emergent European Asylum Regime«, in: International Politics 43 (2006), Heft 2, S. 212–240; sowie Gregor Noll, »Risky Games? A Theoretical Approach to Burden-Sharing in the Asylum Field«, in: Journal of Refugee Studies 16 (2003), Heft 3, S. 236–252.

179

die Voraussetzung für die gegenseitige Öffnung. Ein empfindlicher Bereich staatlicher Souveränität wird hier berührt und führt dazu, dass gegenwärtig die mit dem Schengener Abkommen gewährleistete Freizügigkeit, die lange als eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union gefeiert wurde, in die Kritik geraten ist. Länder wie Österreich, Dänemark und Frankreich nahmen die vermehrte Ankunft von Flüchtlingen in Südeuropa seit 2012 zum Anlass, ihre Grenzen zu den Nachbarstaaten nach zum Teil über fünfzehn Jahren Öffnung zeitweise wieder zu schließen und Zollkontrollen zu verstärken. Die EU reagierte und verabschiedete 2013 eine gemeinsame Regelung »für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen unter ungewöhnlichen Umständen«.36 Die europäische Einigung über die Mobilitätsfreiheit auf dem europäischen Binnenmarkt hat damit an Fahrt verloren, vor allem seitdem die Mehrheit der Mitgliedstaaten zeitweise in ernsthafte wirtschaftliche Miseren geraten ist. Nicht nur rechte und populistische Parteien kämpfen inzwischen mit wachsendem Erfolg gegen die Fortsetzung der Harmonisierungspolitik und gegen die Freizügigkeitsrechte der Bürger aus den neuen Beitrittsländern wie Bulgarien und Rumänien. Nichtsdestotrotz richten, zum Teil nach dem Vorbild der EU , auch andere Weltregionen gemeinsame Räume ein, die sich über die Territorien mehrerer souveräner Nationalstaaten erstrecken und in denen freies Reisen, Handeln und der Kulturaustausch gefördert werden. Die Nordamerikanischen Staaten (NAFTA seit 1994) wie die entstehende Eurasische Union (seit 2010) haben sich jeweils auf eine Freihandelszone geeinigt, die jedoch nicht mit Freizügigkeit für Personen einhergeht. Allerdings plant zumindest die Eurasische Union mit den bisherigen Mitgliedstaaten Russland, Kasachstan und Weißrussland in weiteren Schritten die Aufhebung von Grenzkontrollen.37 Westafrika mit der ECOWAS und Südamerika mit Mercosur folgen ebenfalls der postnationalen Idee, Zölle und Mobilitätskontrollen aufzuheben, um freie Ströme von Menschen, Geld, 36

37

Verordnung (EU ) Nr. 1051/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013. Siehe Homepage der Frankfurter Rundschau: www.fr-online.de/ukraine/ russland-ukraine-eu-eurasische-union-putin-fehlt-ein-baustein-zum-glueck ,26429068,27297020.html [23. 6. 2014].

180

Dienstleistungen und Waren über Grenzen hinweg (wieder) in einem neuen, größeren Raum zu ermöglichen.38 Politiken zur supranationalen Binnenraumbildung richten sich aber nicht in jeder Hinsicht auf mehr Freiheit und Liberalität. Bestimmte Mobilitätsformen sind mehr erwünscht als andere. Insofern gehen diese Politiken mit Selektionsmaßnahmen und Abschließungen nach außen einher. So wird bedeutsam, wer überhaupt in diesen Binnenraum darf und welche Waren sich in diesem Raum bewegen dürfen. Auf solche Fragen müssen die Staaten, die sich zu einem Makroterritorium zusammenschließen, gemeinsame postsouveräne Antworten finden. So wurde zum Beispiel die Grenze rund um das europäische Makroterritorium immer selektiver, und die rigorosen Abschottungsversuche der europäischen Grenzschutzbehörden auf dem Mittelmeer sind zum Symbol dieser Exklusion nach außen geworden.

Jenseits des Makroterritoriums Kontrollen jenseits des EU -/Schengen-Raumes sind heute ein zentraler Bestandteil der europäischen Grenz- und Migrationskontrollpolitik, wobei die Kontrolle kurzfristiger, grenzüberschreitender Mobilität auch zur Vorbeugung späterer dauerhafter Einwanderung eingesetzt wird.39 Zentrale Maßnahmen einer verlagerten Grenz-

38

39

Vgl. Mau u. a., Liberal States and the Freedom of Movement; für den westafrikanischen Raum gilt jedoch, dass die Beschränkung von Personenmobilität durch nationale Territorialgrenzen nie ein vollständig durchgesetztes Konzept war, weil es der Mobilität der verschiedenen Ethnien, die sich immer über mehrere Länder erstrecken, nicht entspricht; vgl. Thomas Scheen, »Der Tod kennt keine Grenzen. Das Ebola-Virus verbreitet sich über alle Landesgrenzen hinaus. In Westafrika spielen sie ohnehin keine Rolle. Warum die Epidemie so schwer einzudämmen ist«, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. 8. 2014, www.faz.net/ aktuell/politik/ausland/afrika/ebola-der-tod-kennt-keine-grenzen13084629.html [12. 8. 2014]. Vgl. Laube, Grenzkontrollen jenseits nationaler Territorien; Mau u. a., Liberal States and the Freedom of Movement, sowie Jan Schneider, »Maßnahmen zur Verhinderung und Reduzierung irregulärer Migration. Studie der deutschen Kontaktstelle für das Europäische Migrationsnetzwerk (EMN )«, Nürnberg 2012.

181

kontrollpolitik sind Abkommen mit Drittstaaten, die Visumpolitik, Kontrollen auf hoher See und die Entsendung nationaler Beamter an die Herkunfts- oder Abreiseorte von Migranten und Reisenden. Der Ausbau einer solchen »externen Dimension« der gemeinsamen Grenz-, Asyl- und Migrationspolitik wurde 1999 beim Treffen des Europäischen Rates in Tampere explizit als Ziel formuliert.40 Dort entstand auch die Formel vom gemeinsamen »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts«, die es erlaubt, über diesen Raum als Einheit und über seine Umwelt als Außen zu sprechen. Seither dient die Vorstellung eines gemeinsamen abgegrenzten Raumes als Grundlage für die Zusammenarbeit mit Drittstaaten der EU . Diese Drittstaaten sind in Bezug auf die Personenmobilität nach Europa häufig Herkunfts- und Transitländer von Migranten und Flüchtlingen. Mit dem Ziel, »alle Akteure in der ›Migrationskette‹« einzubeziehen41, werden Drittstaaten zum Beispiel technisch oder finanziell darin unterstützt, Schleusungen und Menschenhandel zu bekämpfen. Partnerschafts- und Kooperationsabkommen werden mit Drittstaaten seitens der Europäischen Gemeinschaft seit 1996 aktiv gesucht und bilden den Kern der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP ).42 Da die EU -Staaten jenseits ihres Makroterritoriums, das heißt auf den Territorien anderer Staaten, die nicht zur EU gehören, nur begrenzt Mobilität kontrollieren können, sind sie auf Vereinbarungen mit diesen Staaten angewiesen. Vor dem Hintergrund der sogenannten Migrationsrouten ergeben sich bestimmte Partner, mit denen Kooperationen angestrebt werden. Zum Teil handelt die Europäische Union stellvertretend für ihre Mitgliedstaaten solche Kooperationen aus, so bei Verhandlungen über Rückübernahmeabkommen oder finanzielle Hilfen zur Grenzsicherung. Ein Beispiel: Die EU verabschiedete 2014 mit Aserbaidschan ein Abkommen über die Rücknahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt in der EU .

40

41

42

Vgl. Sandra Lavenex. »Shifting Up and Out: the Foreign Policy of the European Immigration Control«, in: West European Politics 29 (2006), Heft 2, S. 329–350. Mitteilung der Kommission über eine gemeinsame Politik auf dem Gebiet der illegalen Einwanderung, KOM 2001/0672 endgültig, Abschnitt 3.3. Vgl. Sandra Lavenex/Frank Schimmelfennig. »EU Rules beyond EU Borders: Theorizing External Governance in European Politics«, in: Journal of European Public Policy 16 (2009), Heft 6, S. 791–812.

182

Nicht jeder Mitgliedstaat allein, sondern die EU verhandelte stellvertretend darüber, dass Aserbaidschan wie auch umgekehrt die EU -Mitgliedstaaten sich verpflichten, Personen umstandslos wieder einreisen zu lassen, die ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung auf dem EU -/Schengen-Territorium aufgegriffen werden. Dies gilt für Personen, die entweder aserbaidschanische Staatsbürger sind oder nachweisbar direkt aus Aserbaidschan illegal in die EU eingereist sind, zum Beispiel per Flugzeug. Im letzten Fall hätten die Behörden Aserbaidschans die Ausreise verhindern können und werden durch die Rücknahmen dazu angehalten, illegale Grenzübertritte zukünftig besser zu kontrollieren. Das Entgegenkommen Aserbaidschans im Hinblick auf die Verhinderung illegaler Wanderungsbewegungen wurde im Gegenzug mit einem weiteren zeitgleich verabschiedeten Abkommen »belohnt«. Darin einigen sich die EU und Aserbaidschan darauf, den EU -Bürgern wie auch den Staatsbürgern Aserbaidschans Erleichterungen bei der Visavergabe einzuräumen. Konkret bedeutet das, dass unter anderem der Preis für ein Visum auf 35r gesenkt und für bestimmte Personenkreise der Antragsaufwand reduziert wurde.43 Die Visumspolitik – wie oben angesprochen ein Bestandteil des Schengen-Regimes – ist ein bereits lang bewährtes Instrument exterritorialer Kontrolle. Sie gehört in der EU ausdrücklich zu den »flankierenden Maßnahmen des freien Personenverkehrs in Bezug auf die Kontrolle der Außengrenzen«.44 Die Mitglieder des Schengener Abkommens haben sich auf die stellvertretende Vergabe eines Visums geeinigt, das von einem Land bewilligt wird und zur Einreise auch in alle anderen Schengenstaaten berechtigt. Die hoheitliche Entscheidung über den Zutritt auf das europäische Makroterritorium wird 43

44

So müssen seit April 2014 Studenten und Schüler, die zwischen beiden Gebieten reisen, nur noch eine schriftliche Einladung oder eine Einschreibung bei der betreffenden Bildungsinstitution vorlegen. Personen, die eine Beerdigung besuchen wollen, müssen nur noch »ein amtliches Dokument vorlegen, in dem der Tod sowie die familiäre oder sonstige Bande zwischen dem Antragsteller und dem Toten bestätigt werden«, Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Aserbaidschan zur Erleichterung der Visaerteilung, Amtsblatt der Europäischen Union L128/49, Artikel 4. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über eine gemeinsame Politik auf dem Gebiet der illegalen Einwanderung, KOM (2001) 672 vom 15. 11. 2001.

183

also von einem Mitgliedstaat für alle anderen Mitgliedstaaten gefällt. Eingeführt wurden zu diesem Zweck ein gemeinsamer Kontrollstandard, identische Visumsbeantragungsformulare und eine einheitliche Liste der Staaten, deren Bürger ein Visum beantragen müssen. Um die Entscheidungen über Visaanträge für alle nationalen Regierungsbehörden innerhalb der EU transparent zu machen, wurden das Visa-Informationssystem (VIS ) und das Schengen-Informationssystem (SIS ) entwickelt. In diesen beiden Systemen sind alle Antragsteller zentral vermerkt sowie die beigebrachten Belege und die Entscheidungen festgehalten. Ein Antragsteller kann somit zum Beispiel in der finnischen Botschaft in Kalkutta daraufhin überprüft werden, ob er zu einem früheren Zeitpunkt erfolgreich oder erfolglos ein Visum zum Beispiel in einer spanischen Botschaft in Delhi oder auch Tokio beantragt hat. Damit soll dem »Visa-Shopping« entgegengewirkt werden, das heißt dem Versuch eines Drittstaatlers, nach und nach oder gleichzeitig in mehreren Schengen-Staaten ein Visum für den europäischen Raum zu beantragen und zu testen, wo die größten Chancen auf Bewilligung bestehen.45 Einerseits werden so in den europäischen Botschaften der Herkunftsländer und damit jenseits der EU schon Dokumentenprüfungen vorgenommen. Andererseits hat die Visavergabe aber auch den Effekt, dass andere Akteure, wie die Behörden des Herkunftslandes oder die Transportunternehmen, schon bei der Ausreise erkennen können, ob ein Reisender am Ende Zutritt zu seinem Zielland bekommt oder gegebenenfalls versucht, illegal einzureisen. Ein ausgehändigtes Visum als Nachweis, dass eine Person zur Anreise berechtigt ist, ermöglicht es den Transportunternehmen, zwischen in jedem Fall legalen und zumindest potenziell illegalen Grenzübertritten vorab zu unterscheiden. Diese Bedingungen haben es ermöglicht, staatlicherseits Sanktionen gegen Transportunternehmen zu verhängen, die wider besseren Wissens die Einreise in den europäischen Raum zulassen.46 Sanktionen in Form von Geldstrafen und der Verpflichtung, die il45

46

Vgl. Elspeth Guild, »The Border Abroad. Visas and Border Controls«, in: Kees Groenendijk/Elspeth Guild/Paul Minderhoud (Hg.), In Search of Europe’s Borders, The Hague 2003, S. 87–104. Vgl. Richtlinie 2001/51/EG des Rates vom 28. Juni 2001 zur Ergänzung der Regelungen nach Artikel 26 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985.

184

legal eingereiste Person zurückzubringen, sollen einen Anreiz für Fluglinien und Schifffahrtsunternehmen schaffen, ihrerseits schon vor Abflug und insofern exterritorial die Gültigkeit der Einreisedokumente ihrer Passagiere zu prüfen. Damit übernehmen private Akteure an den Abflughäfen eine Aufgabe im Sinne der Behörden der EU -Mitgliedstaaten. Über das europäische Makroterritorium hinaus reichen auch die Patrouillen auf hoher See. 2004 wurde die Europäische Agentur für operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (Frontex) mit Sitz in Warschau eingerichtet.47 Ihr Hauptziel ist die Stärkung der innereuropäischen Zusammenarbeit bei der Sicherung der EU -Außengrenze vor illegalen Grenzübertritten (See, Land und Luft). Doch ersetzt Frontex nicht die nationalstaatlichen Kontrollen an den jeweiligen Außengrenzabschnitten, sondern koordiniert gemeinsame Grenzschutzoperationen an Orten jenseits der Grenzlinien. Als Beispiel für diese koordinierten Einsätze soll hier die Operation Poseidon dienen. Im griechisch-türkischen Grenzgebiet sowie im östlichen Mittelmeer führen mehrere EU -Mitgliedstaaten gemeinsam unter der Leitung von Frontex seit 2006 Kontrollen durch. Patrouillen auf hoher See identifizieren zwischen der türkischen Küste und den griechischen Inseln Boote, auf denen Migranten illegal in die EU zu gelangen versuchen. Werden solche Boote entdeckt, meldet das Frontex-Einsatzteam, das aus Grenzschutzbeamten verschiedener europäischer Länder besteht, dies der griechischen Küstenwache. Auch hier haben wir es mit einer Form geteilter Souveränität zu tun. In einem Gebiet vor den nationalen Küsten schließen sich Beamte der EU -Mitgliedstaaten zusammen und beobachten und überprüfen Migrantenströme. Wird ein Boot aufgegriffen oder, soweit aus flüchtlings- und menschenrechtlicher Sicht möglich, zurückgewiesen, muss dies jedoch durch einen Beamten des den Einsatz leitenden Landes erfolgen. Von der Kooperation erhoffen sich Länder wie Deutschland, Einfluss auf die Kontrollen zum Beispiel im Mittelmeer zu erhalten und Kontrollpolitiken aktiv mit umzusetzen, während diese Kooperation für die italienischen oder grie-

47

Siehe Verordnung (EG ) 2007/2004 des Rates vom 26. Oktober 2004 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

185

chischen Behörden eine personelle und finanzielle Unterstützung bedeutet. Ein weiteres Instrument exterritorialer Kontrolle zeigt sich in der Entsendung von nationalen Beamten in Drittstaaten, wo vor Ort Einfluss auf Mobilitätssteuerungen gewonnen werden soll. Die europäischen Staaten entsenden seit etwa fünfzehn Jahren sogenannte Verbindungsbeamte für Einwanderungsfragen in die Herkunftsländer von Migranten. Die EU hat zu diesem Zweck 2001 ein Netzwerk etabliert, in dem sich diese Verbindungsbeamten organisieren können. Sie verfassen unter anderem Lageberichte über die jeweiligen Einsatzländer und stellen diese innerhalb des Netzwerkes allen nationalen Behörden der EU -Mitgliedstaaten zur Verfügung. Außerdem werden an den Abflughäfen der wichtigsten Herkunftsländer von Migranten Beamte, zum Beispiel aus Deutschland, stationiert, die dort als Dokumentenberater tätig sind. Zumeist erfolgt dies an Flughäfen von denen viele und vor allem irreguläre Einwanderer nach Europa einreisen. Sie beraten das Flugpersonal bei den Pre-boarding Checks, ob die vorgelegten Reisedokumente und Schengen-Visa gültig sind. Aus Deutschland waren 2014 insgesamt 39 Beamte an ausländischen Flughäfen im Einsatz. Unter den 20 Ländern, in denen deutsche Dokumentenberater tätig sind, finden sich unter anderem Ägypten, China, Indien, Kosovo, Nigeria, Russland und die Türkei.48 Dokumentenberater sind beim Check-in dabei, dürfen aber selbst keine Personenkontrollen durchführen, jemanden zurückweisen oder ein Asylgesuch entgegennehmen.49 Auch hier wird postsouveräne Territorialität deutlich: Die Beamten aus den Schengen-Staaten besitzen in den Zielländern zwar keine hoheitliche Autorität, können aber die dortigen Akteure (Behörden und Fluglinienpersonal) durch Hinweise in ihrem Handeln beeinflussen. Sie bringen ihr Wissen und ihre Expertise ein, ohne selbst Entscheidungen zu fällen.

48

49

Dies geht hervor aus der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE zu »Polizei- und Zolleinsätzen im Ausland«, Drucksache 18/1321, 5. 5. 2014. Virginie Guiraudon, »Enlisting Third Parties in Border Control: a Comparative Study of its Causes and Consequences«, in: Marina Caparini/Otwin Marenin (Hg.), Border and Security Governance. Managing Borders in a Globalised World, Wien 2006, S. 79–96.

186

Die Behörden in den Herkunftsländern besitzen das alleinige Kontrollrecht und müssen den Aufenthalt dieser europäischen Beamten bewilligen. Das erfordert politische Verhandlungen, die vor allem dann zum Erfolg führen, wenn wiederum den Angehörigen der Herkunftsländer Reiseerleichterungen in die EU in Aussicht gestellt werden. Alle diese Maßnahmen führen dazu, dass Reisende und Migranten mit dem Grenzregime der EU in Kontakt kommen, bevor sie das Makroterritorium der EU überhaupt erreichen.

Zwischen räumlicher Flexibilität und Kooperationsnotwendigkeit Das »postsouveräne« Grenzregime der Europäischen Union ist durch die Kombination von Außengrenzschutz des Makroterritoriums und verlagerten exterritorialen Kontrollen gekennzeichnet. Die exterritorialen Kontrollen eröffnen die Möglichkeit, frühzeitig Bewegungen von Migranten zu identifizieren und zurückzuweisen, sodass die Migranten die eigentlichen Grenzlinien der EU nicht erreichen. Das Ziel der Verlagerung ist es, auf lange Sicht den Kontrollaufwand an den Grenzlinien zu reduzieren, Passierzeiten zu verkürzen und willkommene Mobilität von Personen nicht unnötig auszubremsen. Obschon die Exterritorialisierung eine Kontrollform ist, die besser zu den Erwartungen an eine moderne Grenze passt50, erfolgt damit keine einfache Abkehr vom klassischen Territorialmodell. Letztere wird in Form der EU -Außengrenze aufrechterhalten, und exterritoriale Kontrollen sollen die nationalen Territorien schützen. Ähnliches lässt sich in den Vereinigten Staaten beobachten, wo etwa die Verlagerung von Kontrollen an die Übersee-(Flug)Häfen, in Botschaften und auf hohe See nicht dazu führt, dass die Südgrenze zwischen den USA und Mexiko mit weniger Vehemenz verteidigt würde. Sandra Lavenex argumentiert, dass exterritoriale Kontrollen jenseits der EU auch als Strategie angesehen werden können, die Logik

50

Vgl. Lena Laube/Christof Roos, »›A Border for the People‹? Narratives on Changing Eastern Borders in Finland and Austria«, in: Journal of Borderland Studies 25 (2010), Heft 3/4, S. 31–49.

187

der EU -Kooperation auf transnationaler Ebene fortzusetzen.51 Schon die Einigung auf gemeinsame Grenz- und Migrationspolitiken unter den EU -Mitgliedstaaten bedeutet einen deutlichen Eingriff in die souveräne Gestaltung des territorialen Zugangs und ist damit eigentlich unwahrscheinlich.52 Doch gemeinsamen Herausforderungen kann gemeinsam begegnet werden, und bestimmte Politiken lassen sich jenseits der nationalen Parlamente leichter einführen.53 Auch die Kooperationen mit Herkunfts- und Transitstaaten erlaubt zum Teil restriktive Politiken, die sowohl von der EU -Kommission wie auch vom Europäischen Parlament, die einen liberaleren Ansatz in der Grenzpolitik verfolgen, abgelehnt würden.54 Doch bleiben Personenkontrollen, auch wenn sie jenseits des europäischen Makroterritoriums stattfinden, dem Territorialitätsprinzip der Nationalstaaten verpflichtet. Die Mittel und Orte der Kontrolle verändern sich zwar und scheinen in dieser Hinsicht unabhängig vom nationalen oder supranationalen Territorium zu werden. Denn der Ort der Mobilitätskontrolle und die Außengrenze des Territoriums fielen klassisch noch ineinander. Mobile Personen mussten vor allem beim Grenzübertritt damit rechnen, dass ihre Berechtigung zu Mobilität überprüft wurde. Inzwischen sind die nationalen Kontrollen jedoch weder auf die Territorien der Mitgliedstaaten noch auf das europäische Makroterritorium beschränkt. Neue Maßnahmen ermöglichen es, schon dort zu kontrollieren, wo sich potenziell »unerwünschte« Grenzüberschreiter aufhalten und auf den Weg machen könnten. Die Ziele bleiben dabei die gleichen: Erhalt der Entscheidungsgewalt über den Zutritt zum EU -/Schengen-Raum und Schutz der inneren Sicherheit bei gleichzeitiger Freizügigkeit im Inneren des europäischen Raums. Weder die nationalen Territorien der Mitgliedstaaten noch räumliche Strukturen der EU 51

52

53

54

Siehe Lavenex, Shifting Up and Out; sowie Guiraudon, Enlisting Third Parties in Border Control. Vgl. Christof Roos, The EU and Immigration Policies: Cracks in the Walls of Fortress Europe?, Basingstoke 2013. Vgl. Terri Givens/Adam Luedtke, »The Politics of European Union Immigration Policy: Institutions, Salience, and Harmonization«, in: The Policy Studies Journal 32 (2004), Heft 1, S. 145–165. Vgl. Lavenex, Shifting Up and Out; sowie Eiko Thielemann/Nadine El-Enany, »Refugee Protection as a Collective Action Problem: Is the EU Shirking its Responsibilities?«, in: European Security 19 (2010), Heft 2, S. 209–229.

188

werden dabei irrelevant. Territorialität als Strategie, um politische Ziele durch räumliche Maßnahmen zu erreichen, bleibt zentral. Die Exklusionspolitiken an der Außengrenze wie auch Interventionen in den Herkunftsländern sind räumliche Praktiken der europäischen Mobilitätssteuerung. Einen deutlichen Wandel gibt es dabei jedoch in der Gewichtung zwischen Orten und politischen Räumen. Klassisch wird ein politischer Raum entlang einer fest definierten Linie systematisch kontrolliert und der Ein- und Austritt geregelt. Diesem Prinzip folgt die Errichtung der EU -Außengrenze. Die exterritorialen Kontrollen errichten hingegen keine neue Grenzlinie, sondern etablieren einzelne und variierende Orte, wie Botschaften, bestimmte Flughäfen oder Bereiche auf hoher See, an denen Kontrollen stattfinden, sofern irreguläre Grenzübertritte antizipiert werden. Doch wenn Mobilitätskontrolle außerhalb des nationalen Territoriums ausgeübt wird, sind die Behörden auf Arrangements mit anderen Staaten angewiesen. Die EU -Staaten haben sich zu diesem Zweck zusammengeschlossen und kontrollieren die EU -Außengrenze jeweils stellvertretend für alle anderen Mitgliedsstaaten. Illegale Grenzübertritte werden so sehr als Anfechtung der eigenen Souveränität gewertet, dass zu deren Verhinderung geteilte Souveränität in Kauf genommen wird. Als Kooperationspartner fungieren sowohl die EU -Mitgliedstaaten untereinander als auch die Drittstaaten, die eine zentrale Stellung im Migrationsgeschehen einnehmen. In dieser Hinsicht werden Kontrollausübungen räumlich neu skaliert, sodass sich staatliche Grenzschutzbehörden und mobile Grenzüberschreiter unter anderen Vorzeichen begegnen. Dort, wo es in Herkunftsländern oder während der Reise zum frühzeitigen Aufeinandertreffen zwischen Mobilitätsinteressen der Reisenden und Migranten und den Sicherungsinteressen ihrer Zielländer kommt, entstehen exterritoriale Kontrollorte. An diesen sind die Grenzschützer auf die Kooperation anderer – staatlicher oder privater – Akteure (Behörden von Drittstaaten und Transportunternehmen) angewiesen, die dafür Gegenleistungen fordern können. So ergeben sich neue Interessenkonstellationen, die bedacht und bedient werden müssen und ein souveränes Agieren des Staates unmöglich machen. Postsouveräne Territorialität im Bereich neuer Grenzkontrollpolitiken bedeutet also räumliche Flexibilisierung durch die Lösung der Kontrollen vom staatlichen Territorium und einen Zugewinn an Einfluss anderswo wie aber auch die Notwendigkeit, mit anderen 189

staatlichen oder privaten Akteuren zu kooperieren und ihnen Zugeständnisse zu machen. Die Zuweisung politischer Verantwortung für das Geschehen in postsouveränen Räumen besitzt weniger Eindeutigkeit, als dies im nationalstaatlichen Gefüge der Fall war. Hier liegt für die Migranten und Reisenden eine Gefahr und für die Europäische Union die wichtige Aufgabe, neu entstehende »postsouveräne« Kontrollpraktiken auch menschen- und flüchtlingsrechtlich abzusichern.

190

Tobias Chilla

Grenzüberschreitende Verflechtung – ein Fall von postsouveräner Raumentwicklung?

Grenzräume als territoriale Friktionen? Grenzen sind von jeher die Friktionen des nationalstaatlichen Systems: häufig weit entfernt von nationalen Hauptstädten (besonders plastisch im Fall von Paris), nicht selten in ehemals kriegerisch umkämpftem Räumen (zum Beispiel in der Oberrhein-Region zwischen Deutschland und Frankreich), meist strukturschwach im sozio-ökonomischen Sinne. Das Jellinek’sche Postulat der Einheit von Staat, Volk und Territorium ist an den Grenzen mit ihren materiellen Markierungen und historischen Aufladungen weit weniger abstrakt als im Staatsinneren bei Diskussionen anhand von politischen Landkarten. Durch die zunehmende Liberalisierung der EU -Binnengrenzen im Zuge der europäischen Integration hat sich diese Situation sukzessive geändert, und dies vor allem mit der Etablierung der Schengener Abkommen seit den späten 1980er Jahren. Dies hat allerdings nicht dazu geführt, dass Fragen der Territorialität und Souveränität in Grenzräumen politisch eine geringere Rolle spielen würden. Die Liberalisierungsschritte des Schengen-Regimes werden in Grenzräumen typischerweise besonders leidenschaftlich diskutiert – sei es wegen der Furcht vor dem Zustrom »billiger Arbeitskräfte«, vor dem Ansteigen von Kriminalität oder dem Entstehen eines »Fördergefälles«; oder sei es wegen der Hoffnung, von der nationalstaatlichen Peripherie in die »Mitte Europas« zu geraten, dadurch eine »Gateway-Funktion« einzunehmen und so von einem wirtschaftlichen Boom profitieren zu können. Der Umgang mit den territorialen Friktionen in Grenzräumen ist eine Herausforderung, die sich durch alle Politikbereiche im europäischen Mehrebenensystem zieht. In der Grenzraumforschung (Border Studies) ist diese Komplexi191

tät in politisch-geografischer und konzeptioneller Hinsicht erst spät aufgegriffen worden. Nach einer recht langen Zeit eher deskriptiver traditioneller Raumerfassung setzte in den 1990er Jahren der conceptual turn ein, der Raumentwicklung eben nicht nur strukturell, sondern auch anhand von gesellschaftlichen, politischen Diskursen und Machtkämpfen erklärte.1 In diese Zeit fällt auch eine recht pessimistische Sicht auf das Phänomen von nationalstaatlichen Grenzen: Zum einen wird die ethische Dimension von Grenzen problematisiert, die sich in Diskursen um othering, Exklusion und beispielsweise an der »Festung Europas« festmachen.2 Zum anderen wird die nationale und territoriale Organisation von Politik und Gesellschaft in Zeiten einer globalisierten Welt als überholt kritisiert: Faludi kritisiert das Territorialitätsprinzip als conservative principle, das als Bremse für europäische Integration wirke;3 Blatter hat bereits 2004 den Ansatz der spaces of flows auf die Grenzräume übertragen und damit einen wichtigen Schritt für die Konzeptionalisierung von Grenzräumen gemacht.4 Parallel zu diesen »postterritorialen« Überlegungen sind eher pragmatische Diskussionen um konkrete Bedürfnisse in den Grenzräumen geführt worden, die wiederum aufgrund der Vielfalt der Konstellationen, der häufig komplexen technischen Durchdringung und der heiklen politischen Kontexte nur bedingt in postterritorialen Debatten aufgegriffen werden.

1

2

3

4

Als Überblick vgl. David Newman, »Contemporary Research Agendas in Border Studies: an Overview«, in: Doris Wastl-Walter (Hg.), The Ashgate Research Companion to Border Studies, Farnham 2011; John Agnew, »Borders on the Mind: Re-framing Border Thinking«, in: Ethics & Global Politics 1 (2008), Heft 4, S. 175–191; Anssi Paasi, »Boundaries as Social Processes: Territoriality in the world of flows«, in: Geopolitics 3 (1998), Heft 1, S. 69–88. Vgl. zum Beispiel Henk van Houtum/Roos Pijpers, »The European Union as a Gated Community: the Two-faced Border and Immigration Regime of the EU «, in: Antipode 39 (2007), Heft 2, S. 291–309. Andreas Faludi, »Territorial Cohesion and Subsidiarity under the European Union Treaties: A Critique of the ›Territorialism‹ Underlying«, in: Regional Studies 47 (2012), Heft 9, S. 1594–1606. Joachim Blatter, »From ›Spaces of Place‹ to ›Spaces of Flows‹? Territorial and Functional Governance in Cross-border Regions in Europe and North America«, in: International Journal of Urban and Regional Research 28 (2004) Heft 3, S. 530–548.

192

Der vorliegende Beitrag möchte zu dieser Diskussion beitragen, indem am Beispiel von stark urbanisierten Grenzregionen die Integrationsprozesse sowohl in funktioneller als auch in politischer Hinsicht reflektiert werden. Gerade in diesen dynamischen Metropolisierungsprozessen über Grenzen hinweg lassen sich Spannungsverhältnisse, Hybriditäten und Mehrdeutigkeiten plastisch nachzeichnen. Grenzüberschreitende Metropolregionen an europäischen Binnengrenzen sind die Regionen, in denen ein »Überflüssig-Werden« von territorialen Staatsgrenzen am ehesten vermutet werden könnte. Der nähere Blick auf regionale Fallbeispiele zeigt aber eher ein Spannungsverhältnis zwischen postterritorialen und pragmatischen Ansätzen, die sodann näher zu beleuchten sind, bevor auf dieser Basis die jeweiligen konzeptionellen Anschlusspunkte diskutiert werden. Der Beitrag argumentiert in drei Schritten und dabei auf induktive Weise: Zunächst werden grenzüberschreitende Verflechtungen anhand von konkreten Beispielen nachgezeichnet, wobei der Fokus auf sozio-ökonomischen Prozessen liegt. Diese Verflechtungen halten sich nicht an territoriale Zuschnitte und hinterfragen damit zugleich die territorial gebundene Souveränität. Anschließend wird die Suche nach politischen Antwortmöglichkeiten insbesondere auf der regionalen Ebene reflektiert: Das Entstehen von grenzüberschreitenden Governance-Strukturen ist als Versuch zu sehen, souveränes politisches Handeln trotz der räumlich komplexen Dynamik zu sichern. In einem dritten Abschnitt werden sodann drei konzeptionelle Deutungsmöglichkeiten diskutiert: Europäisierungsansätze, Deund Reterritorialisierung sowie die sogenannten soft spaces sollen dabei als komplementäre Konzepte betrachtet werden.

Funktionale Verschränkungen Grenzüberschreitende Integration entlang europäischer Binnengrenzen wird durch politische Liberalisierungen ausgelöst. Die Deregulierung des Grenzen-Überschreitens von Personen, Kapital, Arbeit und Finanzen bildet den Kern der europäischen Integration seit ihren Anfängen in den 1950er Jahren. Dabei erfolgt diese Integration nicht nur räumlich differenziert, wie beispielsweise die Un193

terschiede zwischen Euro-Raum und Schengen-Raum zeigen. Diese Liberalisierungen werden typischerweise auf intergouvernementaler Ebene initiiert, werden also gewissermaßen in den Hauptstädten verhandelt. Die späteren Auswirkungen dieser – immer partiellen – Liberalisierungen zeigen allerdings in den Grenzräumen spezifische Raumwirksamkeiten, zum Beispiel durch den Anstieg von Grenzpendlerstatistiken. Selbst an den EU -6-Binnengrenzen ist die grenzüberschreitende Verflechtung bis in die frühen 1990er Jahre noch ein eher untergeordnetes Phänomen. Dann aber setzte eine stärkere Verflechtung ein,5 die zum einen in grenzspezifischen Regulierungen wie den Schengen-Regularien begründet liegt, aber auch mit generellen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zusammenhängt. Hierzu zählen die zunehmende Internationalisierung, die Mobilität von Arbeitskräften sowie ein Trend zur Metropolisierung, also zur wachsenden Bedeutung von Wirtschaftszentren, die durch ihre verstärkte Einbindung in die globalisierten Wirtschaftsströme eine zunehmende Bedeutung auch für ihr weiteres Umland einnehmen. Wenn heute beispielsweise die sogenannten Großregionen um Luxemburg oder der Öresund mit Kopenhagen und Malmö besonders stark verflochtene und im europäischen Vergleich zugleich erfolgreiche Regionen sind, so ist dies als Europäisierung zu verstehen – also als Ergebnis von vorherigen Liberalisierungs- und Integrations-Prozessen.6 Die Raumwirksamkeit dieser Dynamik in Grenzräumen ist zum Teil erheblich und hat in dieser Hinsicht eine politische Komponente, da sie mit Handlungsdruck und Konflikten einhergeht. Wenn heute täglich mehr als 150000 Grenzpendler aus Frankreich, Belgien und Deutschland nach Luxemburg fahren und dort bei Weitem die Majorität gegenüber der Luxemburger Arbeitsbevölkerung darstellen, so ist dies tagespolitisch durchaus heikel. Auf beiden Seiten der 5

6

Vgl. Gernot Nerb u. a., Scientific Report on the Mobility of Cross-border Workers within the EU -27/EEA /EFTA Countries, 2009, http://ec.europa.eu/social/ main.jsp?langId=en&catId=24 [13. 10. 2014]. ESPON /University of Luxembourg, Metroborder – Cross-border Polycentric Metropolitan Regions, 2010, http://www.espon.eu/main/Menu_Projects/Menu _TargetedAnalyses/metroborder.html [13. 10. 2014]; Christophe Sohn, »The Border as a Resource in the Global Urban Space: A Contribution to the CrossBorder Metropolis Hypothesis«, in: International Journal of Urban and Regional Research 38 (2014), Heft 5, S. 1697–1711.

194

Grenzen werden Vor- und Nachteile dieser Entwicklung gesehen.7 In den Quellregionen umfasst dies vor allem den Kaufkraftzufluss und die Abmilderung der Probleme von demografischem Wandel oder struktureller Arbeitslosigkeit. In der Zielregion gilt der »passgenaue« Zustrom von Fachkräften als wichtige Voraussetzung von Wirtschaftswachstum. Kritisch gesehen wird in den Quellregionen die Verzerrung von Preisverhältnissen und die Verknappungen auf dem Immobilien- und Arbeitsmarkt; in den Zielregionen ist die »Überfremdung« von ausländischen Arbeitskräften, die sich gerade als Tagespendler nur sehr partiell mit dem Zielland befassen müssen, eine häufig geäußerte Furcht. Vor dem Hintergrund dieser Verflechtungen stellt sich die Frage nach Zuständigkeiten, nach Rechten und Pflichten im politischen und gesellschaftlichen Sinne, die nicht mehr unmittelbar aus dem nationalen Souveränitätsprinzip zu beantworten sind. Drei Beispiele sollen dies illustrieren.8 Eine zentrale Frage ist zunächst: Wer zahlt wo nach welchen Vorgaben Einkommensteuer? Diese Frage wird europaweit mit Hunderten von bilateralen Steuerabkommen (sogenannten Doppelbesteuerungsabkommen) geregelt, die erheblich voneinander abweichen: Beispielsweise hat der französische Grenzpendler in Luxemburg seine Steuern in Frankreich zu zahlen, der deutsche Pendler hingegen in Luxemburg. Die europäischen Vorgaben auf dem Gebiet der Fiskalpolitik sind vergleichsweise weit gesteckt. Insofern besteht hier, etwa auf dem Gebiet der Einkommenssteuer, die nationale Souveränität recht uneingeschränkt. Auf dem Gebiet der Versteuerung von Kapitaleinkünften oder von Benzin ist dies zwar europarechtlich etwas stärker reglementiert, im Prinzip aber ähnlich. Vergleichbar ist auch die Situation auf dem Gebiet der Sozialleistungen: Die Frage, wie Kindergeld, Arbeitslosengeld, Rentenzahlungen, Studienbeihilfen etc. zu organisieren sind, haben zwar europarechtlich gesehen dem Diskriminierungsverbot zu folgen und dürfen die Freizügigkeit nicht beschränken, sind aber ansonsten bilateral auszugestalten. 7

8

Tobias Chilla/Estelle Evrard/Christian Schulz, »Grenzüberschreitende Metropolregionen«, in: Geographische Rundschau 62 (2010), Heft 11, S. 22–30. Vgl. auch Christian Wille/Ralf Bläser, »Grenzgänger im Großherzogtum Luxemburg«, in: Geographische Rundschau 60 (2009), Heft 1, S. 36–42.

195

Anders sieht es im Bereich der Raumentwicklung aus: Hier ist die Souveränität ausschließlich innerhalb der nationalstaatlichen Systeme organisiert, die differenziert innerhalb ihrer nationalen Mehrebenenstruktur agieren (Staat, Land, Region, Kanton, Gemeinden etc.). Die Vorstellung, die Raumentwicklung auf dem Territorium des Nachbarstaats zu steuern, ist ein politisches Tabu. Dies sorgt im Alltag aber für schwierige Konstellationen auf regionaler Ebene: Wer ist für den Ausbau von Verkehrsinfrastruktur zuständig, wer darf hier inhaltlich gestalten und wie ist die Finanzierung sicherzustellen? Beispielsweise kann die Rolle des schienengebundenen Nahverkehrs nicht allein von einer Seite erfolgreich gefördert werden. Oder: Wenn durch Zuzug von weiteren Grenzpendlern das Quellgebiet gewissermaßen genötigt ist, Schulen und Krankenhäuser auszubauen, ist es dafür finanziell allein verantwortlich, oder hat das Zielgebiet der Pendler hier eine Mitverantwortung? Diese Fragen sind weder europarechtlich noch bilateral in Gänze geklärt, sondern müssen im Einzelfall ausgehandelt werden – häufig in Package-Deals mit informellem Hintergrund und nicht selten auch durch Einbeziehung des Europäischen Gerichtshof (zum Beispiel jüngst zur Frage, ob staatliche Studienbeihilfen auf Grenzpendler in Luxemburg ausgedehnt werden müssen). Noch heikler sind die konkreten Fragen der Raumplanung: Wenn in unmittelbarer Nähe der Grenze großflächige Einzelhandelsangebote oder Wohnsiedlungen entstehen, so hat dies immer Auswirkungen auf beiden Seiten der Grenze. Formal besteht die Planungshoheit eindeutig auf nationalem Territorium, wo sie von den entsprechenden Gebietskörperschaften ausgefüllt wird. Zugleich ist offensichtlich, dass planerisches Handeln auf der einen Seite immer Auswirkungen auf der anderen hat. Das ist zwar nichts grundlegend Neues und wird vor allem im Zusammenhang mit großräumiger Infrastruktur seit Langem diskutiert (zum Beispiel Atomkraftwerke, Flughäfen). Allerdings ergibt sich in den metropolitanen Grenzräumen aufgrund der hohen Dynamik eine große Anzahl an Planungstätigkeiten, die für entsprechende Unruhe sorgen. In der Zusammenschau lässt sich festhalten, dass die grenzüberschreitende Integration auf regionaler Ebene ganz offensichtlich das Territorialitätsprinzip mit seiner klaren Souveränitätsorganisation herausfordert. Pendlerströme, Immobilien- und Arbeitsmärkte, Einkaufsverhalten enden nicht mehr an nationalen Grenzen – im 196

Gegenteil: Oft sind die Grenzen nicht mehr eine Barriere, sondern können gar als Ressource interpretiert werden, da sie dem Einzelnen Vorteile ermöglichen (attraktive finanzielle Ausgestaltungen von Wohn-/Arbeitsort, Nutzung interessanter Kultur-/Einkaufsmöglichkeiten etc.); zweifellos sind Grenzen hier jedenfalls ein »Kristallisationskern« neuer Dynamiken.9 Im ersten Zugang könnte dieses Bild als Deterritorialisierung gewertet werden, also als eine Schwächung vormals dominanter Regulierungen, welche von territorial organisierter nationaler Souveränität geprägt waren. Gerade die metropolitanen Grenzregionen »knabbern« gewissermaßen an dieser Souveränität, da sie die räumliche Organisation vor Ort diffuser machen. Ein näherer Blick zeigt jedoch, dass es so eindeutig nicht ist: Vielmehr zeigen sich hybride Konstellationen der räumlichen Kompetenzverteilung.

Antworten auf dem Gebiet der Governance Regional governance Gerade auf dem Gebiet der Raum- und Regionalentwicklung besteht heute Einigkeit, dass die Top-down-Planung des governments nicht mehr der alleinige Betrachtungsfokus sein kann. Stattdessen werden die unterschiedlichen Formen der regional governance betrachtet.10 Natürlich sind weiterhin justitiable Vorschriften der Raumordnung im engeren Sinne eine zentrale Größe. Darüber hinaus ist der Kontext aber geprägt durch mehr oder weniger informelle Instrumente der Raumentwicklung, die eine Vielzahl von Akteuren mit einbinden – dies umfasst Wirtschaftsverbände, Planungsbetroffene etc., aber eben auch gebietskörperschaftliche Nachbarn, und zwar dies- und jenseits von nationalstaatlichen Grenzen.11 Ge-

9 10

11

Sohn, The Border as a Resource in the Global Urban Space, S. 1697–1711. Dietrich Fürst, »Steuerung auf regionaler Ebene versus Regional Governance«, in: Informationen zur Raumentwicklung (2003), Heft 8/9, S. 441–450. Jean Peyrony/Olivier Denert, »Planning for Cross-border Territories: The Role Played by Spatial Information«, in: Raumforschung und Raumordnung 70 (2012), Heft 3, S. 229–240.

197

rade in Grenzräumen kommt den »weichen« Verfahren der Raumentwicklung zentrale Bedeutung zu, da wenige »harte« Verfahren zu Verfügung stehen. Es ist undenkbar, das Territorium jenseits der eigenen Grenzen »beplanen« zu wollen. Insbesondere vor dem Hintergrund kriegerischer Auseinandersetzungen in Europa vor 1945 sorgt es schnell für Unruhe bei den Nachbarn, wenn kartografische Darstellungen in Planungsdokumenten auch Aussagen für nachbarstaatliches Gebiet treffen. Gleichzeitig ist eine Raumentwicklungspolitik auf der Grundlage ausschließlich informeller Mittel nicht vorstellbar, allenfalls bliebe sie unwirksam. Raumentwicklung – so die heute herrschende Meinung – muss zweifellos partizipativ, persuasiv und prozessual sein. Aber ein Verzicht auf finanzielle und rechtliche Mittel würde ihre Wirksamkeit weitestgehend aufheben, da ansonsten jeder politische Streit und jede Opposition von Betroffenen Entwicklungen lähmen kann. Vor diesem Hintergrund basiert grenzüberschreitende Raumentwicklung heute auf zwei institutionalisierten Säulen:12 Zum einen haben die europäischen Programme – insbesondere das INTERREG A Programm – seit den 1990er Jahren viel Dynamik in die Entwicklung gebracht, vor allem durch die Vorgabe der Kofinanzierung ergibt sich gewissermaßen ein finanzieller »Hebel« für das europäische Instrumentarium. Aus nationaler und regionaler Sicht besteht hier die Möglichkeit, nicht unerhebliche Gelder abrufen zu können. Vor allem aber sorgen diese Programme für eine verstärkte Kommunikation zwischen den beteiligten Partnern. Zum anderen besteht seit den 1980er Jahren eine wachsende Anzahl vielfältiger Formen der bi- oder auch trilateralen Abstimmung. Europaweit und im Prinzip flächendeckend bestehen sogenannte Euregios, die auf lokaler Ebene eine Plattform für die grenzüberschreitende Abstimmung für INTERREG -Anträge, davon unabhängige Vorhaben und gerade auch für den informellen, regelmäßi-

12

Vgl. auch Carola Fricke, »Spatial Governance across Borders Revisited: Organizational Forms and Spatial Planning in Metropolitan Cross-border Regions«, in: European Planning Studies, 2014, DOI : 10.1080/09654313.2014.887661; Bernard Reitel, »Governance in Cross-border Agglomerations in Europe – the Examples of Basle and Strasbourg«, in: Europa Regional (2006), Heft 1, S. 9–21.

198

gen Austausch darstellen (Bürgermeister-Frühstück etc.).13 Jenseits von EU -Projekten und Euregios hat sich gerade in den letzten Jahren zudem eine Vielzahl von regionalen Initiativen herausgebildet, die entweder eine bestimmte inhaltliche Fokussierung (zum Beispiel »Metrobasel« in Bezug auf die grenzüberschreitende Entwicklung insbesondere im Hinblick auf den Sektor der Life Sciences) oder eine großräumige Abgrenzung über den Euregio-Maßstab hinaus ermöglicht (zum Beispiel die sogenannte Großregion um Luxemburg, die unter anderem die beiden Bundesländer Saarland und Rheinland-Pfalz vollständig umschließt). All diesen Institutionalisierungsformen ist gemein, dass die Funktionsweise als grundsätzlich intergouvernemental einzuordnen ist: Letztlich muss jeder Beschluss aus grenzüberschreitenden Gremien von den jeweiligen staatlichen Behörden nach »eigenen Regeln« bestätigt werden; eine eigene Rechtspersönlichkeit war im grenzüberschreitenden Bereich bislang nicht vorgesehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich argumentieren, dass Grenzregionen nicht – wie oftmals postuliert – »Labore Europas« darstellen, sondern vielmehr als »Museen Europas« gelten müssen, denn die exklusiv intergouvernementale Organisationsform ist auf nationalstaatlich/europäischer Ebene heute kaum mehr vorstellbar, in Grenzregionen hingegen bleibt sie aber dominant. Erst in jüngerer Zeit wurde mit einem neuen Instrument das intergouvernementale Setting infrage gestellt: Die europäische Verordnung führte 2006 den sogenannten Europäischen Verbund für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ ) ein.14 Dieser Verbund sieht explizit eine eigene Rechtspersönlichkeit auf grenzüberschreitender Ebene vor, sodass nach erstmaliger Etablierung die Rückbindung an die nationalen Kontexte deutlich indirekter funktionieren kann. Bis-

13

14

Vgl. Markus Perkmann, »Policy Entrepreneurship and Multi-level Governance: a Comparative Study of European Cross-border Regions«, in: Environment and Planning C: Government and Policy 25 (2007), Heft 6, S. 861–879. Verordnung (EG ) Nr. 1082/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 über den Europäischen Verbund für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ ) [Amtsblatt L 210 vom 31. 7. 2006].

199

lang wird der EVTZ aber nicht sehr kompetenzstark eingesetzt.15 Trotzdem stellt er einen wichtigen Schritt zur Stärkung eines grenzüberschreitenden Gebietsbezugs dar. Er birgt ein gewisses Potenzial zum regionalen Kompetenzgewinn, aber als Argument für eine Entterritorialisierung kann er bislang jedenfalls nicht gelten.

Multilevel governance Die räumliche Steuerung findet auch in Grenzregionen nicht »in der (zweidimensionalen) Fläche« statt, sondern in einem komplexen Mehrebenen-System. Auf beiden Seiten der Grenze existieren institutionelle Ebenen, die sich in der Anzahl unterscheiden können und auch in der Position innerhalb des jeweils eigenen Systems, und nicht zuletzt im Umfang der Befugnisse. Zum Beispiel lassen sich die deutschen Landkreise und die französischen départements nur bedingt miteinander vergleichen, obwohl beide zwischen regionaler und gemeindlicher Ebene angesiedelt sind. Auf Luxemburger Seite kommt hinzu, dass regionale Strukturen im politischen Staatsaufbau nicht existieren, denn unterhalb der nationalstaatlichen Ebene sind unmittelbar die kommunalen Institutionen angesiedelt. Dies führt in der Praxis zu erheblichen Herausforderungen, gerade vor dem Hintergrund der oben geschilderten intergouvernementalen Struktur. Auf den meisten Politikfeldern gilt, dass die Kompetenzen dies- und jenseits nicht gleich organisiert sind und sich jeweils anders auf die Ebenen verteilen. Raumplanung, um bei diesem Beispiel zu bleiben, ist in Deutschland auf Länderebene, in Luxemburg auf nationalstaatlicher Ebene und in Frankreich auf nationaler und regionaler Ebene angesiedelt. Dieser »multi-level mismatch« sorgt für Herausforderungen in der grenzüberschreitenden Praxis: Es ist nicht leicht, eine Akteurskonstellation in der institutionalisierten Kooperation zu verankern, die sowohl räumlich – also im Hinblick auf den »pooled« Perimeter16 – als auch institutionell – also im Hin-

15

16

Metis, EGTC Monitoring Report 2013. Towards the New Cohesion Policy, Brussels 2014. Virginie Mamadouh, »The Territoriality of European Integration and the Territorial Features for the European Union: the First 50 Years«, in: TESG 92 (2001), Heft 4, S. 420–436.

200

blick auf die Kompetenzen der als zentral erachteten Politikfelder – »vollständig« ist.17 Die zweite Herausforderung liegt auf diplomatischer Ebene. Denn selbst wenn sich alle relevanten politischen Akteure eines Politikfeldes in der grenzüberschreitenden Kooperation zusammenfinden, ist das diplomatische Feld vermint: Wenn auf der einen Seite ein Präfekt oder Ministerpräsident zuständig ist, auf der anderen aber ein Bürgermeister oder Landrat, so lassen sich direkte Verhandlungen nicht ohne Weiteres organisieren. Oder anders herum: Wenn zwei Bürgermeister miteinander erfolgreich verhandeln, aber erst im Nachhinein klar wird, dass einer der Beteiligten gar kein Mandat für die Materie hatte, ist in der Sache wenig gewonnen.

Konzeptionelle Rückbindung Europäisierung als Homogenisierung? In der Europäisierungsdebatte wird seit längerer Zeit diskutiert, inwieweit die Übertragung von Kompetenzen und Ressourcen von (sub-)nationalen Ebenen auf die supranationale Ebene zu Angleichungen führt.18 Diese Debatte – die an dieser Stelle nicht ausführlich dargestellt werden soll – umfasst mehrere Dimensionen. Europäisierung wird hierbei nicht als Top-down-Prozess angesehen, sondern ist in diversen Richtungen des Politiksystems vorstellbar (upwards, downwards und sidewards). Es ist hierbei offensichtlich, dass die Dynamik in Grenzräumen in höchstem Maße durch europapolitische Entscheidungen geprägt und überlagert ist. Angefangen mit der Liberalisierung von Grenzen bis hin zu den Förderprogrammen der Kooperationsbeziehungen gibt es viele Einflüsse. Aber von einer Zentralisierung im Sinne einer

17

18

Ausführlich dazu: Tobias Chilla/Estelle Evrard/Christian Schulz, »On the Territoriality of Cross-Border Cooperation: ›Institutional Mapping‹ in a MultiLevel Context«, in: European Planning Studies 20 (2012), Heft 6, S. 961–980. Vgl. Claudio Radaelli, »The Europeanization of Public Policy«, in: Kevin Featherstone/Claudio Radaeli (Hg.), The politics of Europeanization, Oxford 2003, S. 27–56.

201

Top-down-Regulierung mit homogenisierendem Effekt kann hier nicht die Rede sein – wie oben ansatzweise schon illustriert. Mitnichten hat die europäische Integration zu konsequenter Annäherung von (Grenz-)Regionen geführt, vielmehr ist ein Nebeneinander von diversen und widersprüchlichen Entwicklungen zu beobachten. Als Erklärungen für den Bereich der Raumentwicklung sind vier Aspekte zu nennen: Erstens sind die Förderprogramme in hohem Maße nationalstaatlich organisiert. In Programmierungsprozessen werden die inhaltlichen Ziele definiert, die auch Grundlage der späteren Evaluationen und Überprüfungen sind.19 Die Formulierung spezifischer Ziele und die Einbettung in bestehende nationale und regionale Verwaltungsstrukturen und Planungskulturen stehen einer Homogenisierung erheblich entgegen. Zweitens ist festzuhalten, dass die supranationalen, europäischen Kompetenzen in räumlichem Bereich recht beschränkt sind. Zwar ist seit dem Vertrag von Lissabon »territorialer Zusammenhalt« (territorial cohesion) als hochrangiges Politikziel der Europäischen Union vorgegeben. Als shared competence müsste aber die Kommission noch konkretisieren, worin sie ihre Kompetenzen sieht. Außer einer Grünbuchprozedur ist hier aber noch keine Initiative ergriffen worden.20 Es ist zudem unklar, wie weit diese Kompetenzen gehen könnten, und ebenso wenig ist absehbar, ob oder wann die Kommission hier aktiv werden wird. Solange die Situation so bleibt, werden auch mögliche Effekte der Homogenisierung nicht erreicht werden können. Vielmehr ist drittens – und damit eng verbunden – auf die Komplexität der Governance-Strukturen zu verweisen, wie weiter oben bereits angesprochen. Institutioneller Aufbau und Traditionen gehen weit auseinander, was ebenfalls einer Annäherung entgegenstehen kann.21

19

20 21

Vgl. Thiemo Eser, »Europäische Union, Regionalpolitik und Raumentwicklungspolitik. Ein Überblick«, in: Tobias Chilla/Christian Schulz (Hg.): Raumordnung in Luxemburg, Luxemburg 2011, S. 276–295. Vgl. Faludi, Territorial Cohesion. Dominic Stead, »Convergence, Divergence or Constancy of Spatial Planning? Connecting Theoretical Concepts with Empirical Evidence from Europe«, in: Journal of Planning Literature 28 (2013), Heft 1, S. 19–31.

202

Schließlich und viertens ist auch auf die sehr unterschiedliche sozio-ökonomische Performance in den europäischen Regionen hinzuweisen. Bei allen regionalpolitischen Bemühungen kann nicht gesagt werden, dass Konvergenz der dominante Trend wäre; gerade in Zeiten der Krise sind bisher beobachtete Annäherungstendenzen zum Teil umgekehrt worden.22 Im Ergebnis also sind Konzeptionen der Europäisierung zwar ein bedingt geeigneter konzeptioneller Rahmen, um die Diversität der beobachtbaren Entwicklungen zu erklären. Transformationen von Territorialitätsprinzip und Souveränitätsausgestaltung können auf diese Weise aber nur sehr ausschnittweise erklärt werden.

De- oder Reterritorialisierung? Die Gretchenfrage dieser Diskussion lautet, ob das Territorialitätsprinzip in Zeiten der europäischen Integration ausgedient hat. Pointiert positioniert hat sich diesbezüglich Blatter, der eine Deterritorialisierungs-These vertritt.23 Diese Deterritorialisierung beschreibt die Entkopplung von Macht beziehungsweise Legitimität und räumlichem Umgriff (»Perimeter«). In der Tat kann eine neue Komplexität von Machtansprüchen und Aushandlungsstrategien beobachtet werden. Vor allem in den informellen Kontexten ist das klassische Territorialitätsprinzip nicht mehr erkennbar. Eher scheint sich hier eine network governance mit Elementen einer epistemic community zu entwickeln, Blatter spricht hier von spaces of flow,24 wodurch er den temporären Charakter der Akteurskonstellationen und die unpräzisen räumlichen Zuordnungen betont. Faludi wendet dies normativ und fordert eine weitere Loslösung vom Territorialitätsprinzip innerhalb der EU , da dies überholt sei.25

22

23 24 25

Robert Musil, »Das regionale Dilemma der Europäischen Union: Räumliche Ungleichgewichte in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise«, in: Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft (2013), Heft 155, S. 61–90. Blatter, From »Spaces of Place« to »Spaces of Flows«?. Ebenda. Faludi, Territorial Cohesion; differenzierend hierzu vgl. Tobias Chilla/Ekkehart Reimer/Birte Nienaber, »Die räumliche Perspektive der Europäischen Union: Territorialität, Subsidiarität, Finalität?«, in: Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft (2013), Heft 155, S. 9 – 26.

203

Zugleich sind in den vergangenen Jahren aber zunehmend Zweifel formuliert worden, ob diese neue Komplexität tatsächlich als DeTerritorialisierung zu verstehen ist, oder ob nicht vielmehr eine ReTerritorialisierung zu konstatieren ist. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist, dass im politischen Raum Machtansprüche nach wie vor eine territoriale Bindung haben – Budgets sind ohne gebietskörperschaftliche Zuordnung kaum zu erlangen, Ähnliches gilt für politische Mandate. Vor diesem Hintergrund sollte wohl vielmehr von einer neuen Komplexität der territorialen Zuordnungen und Transformationen ausgegangen werden. Dies umfasst gerade auch die Strategien des bypassings und der Reskalierung.26 Gewissermaßen eine Mittelposition in dieser Debatte nimmt der Ansatz der soft spaces – der nachfolgend skizziert wird – ein, da er eine Parallelität von territorialen und weicheren Raumbezügen postuliert.

Soft spaces Entstanden ist die Debatte um soft spaces in der Analyse von großen Planungsprojekten auf lokaler Ebene, bei denen gebietskörperschaftliche Zuständigkeiten und räumliche Umgriffe in den Hintergrund geraten und stattdessen temporäre, projektgebundene Konstellationen wirkmächtig werden.27 Ausgehend von dieser planungstheoretischen Arbeit, basierend auf Fallstudien in England, wurde der Ansatz der soft spaces dann in anderen Kontexten als Analyserahmen eingesetzt – angefangen von Planungsstudien in weiteren europäischen Ländern28 über grundsätzliche europapolitische Entwicklungen29 bis hin zu grenzüberschreitenden Instrumenten.30

26 27

28

29

Vgl. Agnew, Borders on the Mind; Paasi, Boundaries as Social Processes. Phil Allmendinger/Graham Haughton, »Soft Spaces, Fuzzy Boundaries and Metagovernance: the New Spatial Planning in the Thames Gateway«, in: Environment and Planning A (2009), Heft 41, S. 617 – 633. Zum Beispiel für Dänemark vgl. Kristian Olesen, »Soft Spaces as Vehicles for Neoliberal Transformations of Strategic Spatial Planning?«, in: Environment and Planning C: Government and Policy 30 (2012), Heft 5, S. 910–923. Andreas Faludi, »Beyond Lisbon: Soft European Spatial Planning«, in: disP – The Planning Review 46 (2010), Heft 182, S. 14–24.

204

Diese Perspektive stellt weder die angesprochenen Ansätze der Europäisierung oder der Reterritorialisierung infrage, ergänzt diese aber, indem die Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Territorialisierungen festgestellt wird. Justitiabler territorialer Raumumgriff und funktional begründete, projektbasierte Räume existieren nebeneinander. Entscheidend ist, dass hierbei das Prinzip der territorialen Organisation nicht grundsätzlich infrage gestellt wird, auch wenn eine gewisse inhaltliche Aushöhlung wohl nicht ausgeschlossen werden kann. Gewissermaßen sind soft spaces projektbezogene politische Instrumente im Schatten von territorialen Zuschnitten. Diese Gleichzeitigkeit kann auf verschiedensten Ebenen bestehen – wie angesprochen auf der Quartiersebene bis hin zur europäischen Ebene. Es ist dabei nicht vorgegeben, wie sich dieses Nebeneinander im Weiteren entwickelt. Es sind sowohl Prozesse des hardenings zu beobachten, indem vormals softe Perimeter institutionalisiert werden und insofern klassischen gebietskörperschaftlichen, territorialen Organisationen nahekommen.31 Ebenso lässt sich feststellen, dass sich diese Zuschnitte wieder auflösen oder an Bedeutung verlieren, wenn das ursprüngliche politische Ziel erreicht ist. In Bezug auf Grenzräume ist diese Perspektive hoch relevant: Gerade hier erweist sich die Gleichzeitigkeit von politischen Zugriffen als entscheidend. Die etablierten Gebietszuschnitte sind hoch sensibel und schwerlich zu verändern, da es sich bei nationalen Grenzen um die wohl immer noch »härtesten« Markierungen des europäischen Mehrebenensystems handelt. Zugleich – wie oben ausgeführt – ist aber innerhalb dieser Logik die Raumentwicklung kaum aufzufangen. Ein Hantieren mit unterschiedlichen Raumbezügen drängt sich hier fast auf – auf der einen Seite der Vertragsraum, der eine klassisch-territorial begründete Gebietskulisse aufzieht, auf der anderen Seite der Mandatsraum, der politische Projekte in ihrem jeweiligen Gebietsbezug umsetzt. Ein plastisches Beispiel ist noch einmal die Großregion, die im Kontext des ESPON -Projektes Metroborder im Hinblick auf ihre

30

31

Jonathan Metzger/Peter Schmitt, »When Soft Spaces Harden: the EU Strategy for the Baltic Sea Region«, in: Environment and Planning A 44 (2012), Heft 2, S. 263 – 280. Ebenda.

205

»territoriale Governance« umfassend analysiert wurde.32 Die institutionalisierte Kooperation Großregion (grande région) ist als pooled perimeter recht großflächig, schließlich sind hier auf deutscher Seite zwei Bundesländer enthalten (Rheinlandpfalz und Saarland), das gesamte Großherzogtum Luxemburg, die Südhälfte Belgiens und auf französischer Seite Lothringen. Über einhundert Experten aus Politik und Verwaltung wurden gebeten, auf einer Karte den für sie besonders relevanten Kooperationsraum zu markieren. Abb. 1 zeigt die kumulierten Antworten von Vertretern je einer nationalen Gruppe. Diese Ergebnisse sind in der Synopse mit weiteren Einschätzungen der zugrunde liegenden Delphi-Studie zu lesen. Hieraus ergibt sich, dass die räumlichen Bezüge mannigfaltig sind, insbesondere in zweierlei Hinsicht: der pooled perimeter, der Vertragsraum in seinem fast schon unübersichtlichen Zuschnitt wird hingenommen, ohne dass die Größe als hinderlich wahrgenommen wird. Dies erklärt sich gerade durch die Zuhilfenahme der soft spaces, die themen- oder projektgebunden als Arbeitsgrundlage dienen und so Abhilfe schaffen. Es überrascht weniger, dass der nationale Hintergrund der befragten Experten zu unterschiedlichen Zuschnitten des Territoriums führt – die politischen Prioritäten sind nicht gänzlich identisch. Dieses behindert die Kooperation aber nicht, denn entscheidend ist offensichtlich der stillschweigende Konsens, dass mit flexiblen, weichen Raumbezügen gearbeitet wird, welche die institutionalisierten Territorien zwar temporär überdecken, ohne diese aber infrage zu stellen. Bei aller Relevanz von flexiblen Perimetern ist die gebietskörperschaftliche Zuordnung bei »harten« politischen Fragen letztlich aber unabdingbar: Die Verfügung über Budgets beispielsweise für die Verkehrspolitik oder für die Sozialversicherung von Grenzgängern muss in räumlich exakter Klarheit organisiert werden.

32

ESPON & University of Luxembourg, Metroborder.

206

Abb. 1: Mandats-/Vertragsraum Großregion (Metroborder). Antwort aus einer Delphi-Studie auf die Frage: »In welchen Räumen sollte verstärkt kooperiert werden?« Auswertung differenziert nach nationalem Hintergrund der Befragten.33

33

33

Quelle: © ESPON 2010, Metroborder, Universität Luxemburg.

207

Fazit Es lässt sich festhalten, dass im Gefolge der Liberalisierung innereuropäischer Grenzen in der Tat die territorial gebundene Souveränität einer hohen Dynamik unterliegt. Dies betrifft zunächst die funktionale Verflechtung, die sich besonders plastisch an Grenzpendlern ablesen lässt. Mit zunehmender grenzüberschreitender Integration in funktionaler Hinsicht werden die bestehenden gebietskörperschaftlichen Logiken der Politikorganisation infrage gestellt, und in der Folge werden vor allem auf interregionaler Ebene eine Reihe neuer, eher flexibler Instrumente erprobt. Diese Instrumente sind allerdings vor allem bi- oder multilateraler Natur, supranationale und -regionale Elemente bilden eher die Ausnahmen. Zumindest in einem Übergangsstadium erweckt dies den Anschein, dass hier gewissermaßen »Auflösungserscheinungen« an den Rändern von Nationalstaaten zu beobachten sind – im Hinblick auf räumlich klare Grenzen und auch im Hinblick auf politische Souveränität. Gleichzeitig ist aber nicht zu konstatieren, dass das Territorialitätsprinzip als solches außer Kraft gesetzt wird. Eher handelt es sich um eine Reorganisation, die mit Elementen der Reterritorialisierung einhergeht. Diese Reorganisation ist vor allem als eine neue Stufe der Komplexität zu sehen. Selbst wenn die territoriale, gebietskörperschaftliche Organisation zumindest im Hintergrund unabdingbar ist, so ist doch die Durchsetzung von Souveränitätsrechten in der alltäglichen Politik deutlich komplexer geworden. Neue Gebietszuschnitte, die zumeist als pooled territories wirken, und ein Nebeneinander von Raumbezügen sind dabei zu beachten. Was lässt sich hieraus für das Verständnis von Souveränität schließen? Vereinfacht gesagt: Sie ist wohl weiterhin untrennbar mit einem Perimeter verbunden (auch wenn es temporär nicht so aussehen mag), während ihre Durchsetzung deutlich komplexer geworden ist. Machtverluste/-zugewinne innerhalb des Mehrebenensystems sind an der Tagesordnung.34 34

Weiterführend: Phil Allmendinger/Tobias Chilla/Franziska Sielker, »Europeanizing Territoriality – Towards Soft Spaces?«, in: Environment and Planning A 46 (2014), Heft 11, S. 2703–2717.

208

Um diese Dynamik konzeptionell zu begleiten, erweist es sich als nicht ausreichend, auf Europäisierungsprozesse zu rekurrieren, auch wenn solche zweifellos eine prominente Rolle spielen. Zumindest ergänzend ist der Blick auf Reterritorialisierungs-Prozesse zu legen. Um die Gleichzeitigkeit verschiedener Raumbezüge zu erfassen, ohne dabei automatisch das Territorialitätsprinzip zu negieren, hat sich das Konzept soft spaces als besonders tragfähig herausgestellt. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen der grenzüberschreitenden Integration lässt sich abschließend – und noch weiter zugespitzt – Folgendes festhalten: Die Raumbezüge politischer Ordnung werden deutlich komplexer, aber nicht schwächer. Wenn hier von postterritorialer Entwicklung gesprochen wird, so meint dies Reterritorialisierung, nicht Entterritorialisierung. Freizügigkeit, ökonomische Integration über Grenzen hinweg, eine gute Verkehrsinfrastruktur etc. brauchen gerade in Grenzräumen klare räumliche Mandate, und diese bestehen bei aller Komplexität auch heute noch. Inwieweit eine Zentralisierung auf europäischer Ebene oder eine supraregionale Mandatierung sinnvoll sein kann, ist vor allem eine politische Debatte und auf konzeptioneller Ebene nicht abschließend zu beantworten.

209

Sebastian M. Büttner

Mobilisierte Regionen. Zur Bedeutungsaufwertung des subnationalen Raums in einem erweiterten Europa Subnationale Regionen im heutigen Europa Die Integration Europas hat nicht nur die Souveränität der europäischen Nationalstaaten und die traditionellen Muster nationaler Staatlichkeit grundlegend verändert, sondern auch die Rolle, das (Selbst-)Verständnis und die Struktur der regionalen Raumeinheiten unterhalb der nationalstaatlichen Ebene. Subnationale Regionen verfügen in der Regel über keine oder nur eine eingeschränkte politische Souveränität. Ein zentrales Definitionskriterium von Regionen ist ihre Eingliederung in einen größeren (national-)staatlichen Verbund.1 Auch wenn einzelne historisch gewachsene Regionen einstmals souveräne Fürstentümer oder Kleinstaaten gewesen waren, lassen sich sub-nationale Regionen heute in aller Regel nur als nachgeordnete Einheiten in einem größeren nationalstaatlichen Regierungssystem begreifen beziehungsweise als räumliche Untereinheiten eines größeren nationalstaatlichen Territoriums. Mit dem Übergang einer Region zu vollständiger politischer Autonomie und Selbstbestimmung wird in aller Regel der Regionsstatus abgestreift und aus der vormaligen »Region« wird formal ein »souveräner«, international anerkannter »Nationalstaat«. Dieses Muster hat sich bei vielen regionalen Abspaltungen und Staatenneugründungen in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt und lässt sich bei vielen Separatismusbewegungen immer wieder aufs Neue beobachten. Doch bedeutet dies nicht, dass subnationale Regionen – oder genauer: subnationale Regierungen und Verwaltungen – keinerlei 1

Vgl. Sebastian M. Büttner, »Regionen und Regionalismus«, in: Steffen Mau/ Nadine Schöneck-Voß (Hg.), Handwörterbuch der Gesellschaft Deutschlands, Wiesbaden 2012, S. 676–688.

210

Selbstbestimmung und keinen sozialen und politischen Einfluss besitzen. Im Gegenteil: Regionale Gebietskörperschaften haben aufgrund ihrer besonderen lebensweltlichen und kulturellen Bedeutung häufig ein großes politisches Gewicht. Sie üben in der Regel auch eine ganze Reihe von hoheitlichen Aufgaben aus (etwa im Bereich der Bildung, der inneren Sicherheit oder der Daseinsvorsorge); sei es als nachgeordnete Verwaltungseinheiten und Sachwalter der Zentralregierung oder in größerer Eigenverantwortung in einem stärker föderal angelegten Regierungssystem. In den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten sind subnationale Regionen auch verstärkt als eigenständige Wirtschaftsräume und wirtschaftspolitische Akteure in den Fokus gerückt. Entgegen der Erwartung mancher Autoren, die ein Verschwinden des »konkreten« Raums (space of places) durch wachsende Globalisierung (space of flows) vorhersagten,2 haben lokale Räume und subnationale Regionen in der gegenwärtigen Phase der Globalisierung eine enorme Bedeutungsaufwertung erfahren. Die Globalisierung der Wirtschaft hat dazu geführt, dass subnationale Räume eine größere Bedeutung als je zuvor im internationalen Wettbewerb um wirtschaftliche Investitionen und Arbeitskräfte einnehmen. Dabei sind einerseits die Unterschiede und Ungleichheiten zwischen subnationalen Räumen deutlicher hervorgetreten. Andererseits hat dies dazu geführt, dass subnationale Regionen neben den nationalen Regierungen immer stärker als eigenständige wirtschaftspolitische Planungs- und Steuerungszentren gefragt sind und durch eigene Marketinginitiativen und regionale Wirtschaftsförderungsinitiativen stärker als wirtschaftspolitische Akteure in Erscheinung treten. Lokalen Gegebenheiten und Einflussfaktoren wird heute eine zentrale Rolle bei der Herstellung von sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsprozessen zugeschrieben. Daher gelten subnationale Regionen heute sogar als »Generatoren« von Entwicklung und als »Motoren« von wirtschaftlichen Innovationsprozessen.3 2

3

Vgl. Manuel Castells, »Local and Global: Cities in the Network Society«, in: Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie 93 (2002), Heft 3, S. 548–558. Vgl. Paul Krugman, Geography and Trade, Cambridge 1991; Kenichi Ohmae, The End of the Nation State: The Rise of Regional Economies, New York 1995; Michael Storper, »The Resurgence of Regional Economies, Ten Years Later: The Region as a Nexus of Untraded Interdependencies«, in: European Urban and

211

Der gegenwärtig zu beobachtende Wandel nationaler Staatlichkeit und die Veränderungen der räumlichen Logik von Wirtschaft und Politik im Zuge fortschreitender Transnationalisierung und Globalisierung spiegeln sich im heutigen Europa demnach auch auf der regionalen Ebene wider.4 In der Tat hat die subnationale Ebene gerade in der EU -Politik eine besondere Bedeutung. Der Kontinent Europa war immer schon von einer Vielfalt von Regionen und von großen regionalen Unterschieden geprägt. Diese Unterschiede gilt es, in der EU -Politik einerseits anzuerkennen und zu respektieren. Andererseits bedrohen zu viel Heterogenität und vor allem zu viel »räumliche« Ungleichheit die Stabilität des europäischen Integrationsprojekts. Die EU -Politik steht damit vor der Herausforderung, auf der einen Seite die bestehende regionale Vielfalt an Lebensformen und Traditionen anzuerkennen wie auch wertzuschätzen und auf der anderen Seite die Lebensbedingungen möglichst weitgehend zu »harmonisieren« und eine europäische »Kohäsion« herzustellen. In diesem Beitrag wird der Frage nach den räumlichen Implikationen und den territorialen Strategien der EU -Politik nachgegangen, insbesondere im Hinblick auf die subnationale Ebene der Regionen. Ausgehend von der Beobachtung, dass der europäischen Integration immer schon eine besondere territoriale Logik innewohnte, wird herausgearbeitet, dass die regionale Ebene in den Konzepten und Praktiken der EU -Politik bereits seit Mitte der 1970er

4

Regional Studies (1995), Heft 3, S. 191–221; Allen J. Scott, »Regional Motors of the Global Economy«, in: Futures 28 (1996), Heft 5, S. 391–411; Michael E. Porter, »The Economic Performance of Regions«, Regional Studies 37 (2003), Heft 6/7, S. 549–78; Philip N. Cooke/Martin Heidenreich/Hans-Joachim Braczyk (Hg.), Regional Innovation Systems: The Role of Governance in a Globalized World, London 2004. Vgl. Michael Keating, »The Invention of Regions: Political Restructuring and Territorial Government in Western Europe«, in: Neil Brenner u. a. (Hg.), State/ Space: A Reader, Malden/U.K. 2003, S. 256–277; Ole B. Jensen/Tim Richardson, Making European Space: Mobility, Power and Territorial Identity, London/ New York 2004; Peter Schmitt-Egner, Handbuch zur Europäischen Regionalismusforschung: Theoretisch-methodische Grundlagen, empirische Erscheinungsformen und strategische Optionen des transnationalen Regionalismus im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2005; Sebastian M. Büttner, Mobilizing Regions, Mobilizing Europe. Expert Knowledge and Scientific Planning in European Regional Development, London/New York 2012; Michael Keating, Re-Scaling the European State, Oxford 2013.

212

Jahre eine besondere Bedeutung erlangt hat. Spätestens mit der Einführung der Kohäsionspolitik zur Flankierung des Binnenmarktes zu Beginn der 1990er Jahre sind die subnationalen Regionen zu einem zentralen Ort der Umsetzung und Durchsetzung der Entwicklungsvisionen der EU -Politik geworden. Diskutiert wird, ob die Mobilisierung der subnationalen Räume im Kontext der Kohäsionspolitik tatsächlich zu einer stärkeren politischen Bedeutung von Regionen oder gar zu einer stärkeren »territorialen Kohäsion« Europas geführt hat.

Die territorialen Implikationen des EU -Integrationsprojekts Die Dynamik der Europäischen Integration war stets von einer besonderen territorialen Logik geprägt. Darauf hat Georg Vobruba in seinen europasoziologischen Schriften eindringlich hingewiesen.5 Bis zur Eingliederung der drei südeuropäischen Länder Griechenland, Portugal und Spanien Mitte der 1980er Jahre war die europäische Integration eine relativ exklusive Veranstaltung relativ ähnlich entwickelter Industrieländer Westeuropas. Mit der Süderweiterung wurde erstmals ein erhebliches wirtschaftliches Gefälle zwischen den Mitgliedern der neu entstandenen »Gemeinschaft« europäischer Staaten in Kauf genommen, und dieses Binnengefälle hat spätestens mit der ersten Osterweiterung eine neue Dimension angenommen. Die zur Europäischen Union zusammengeschlossene Staatengemeinschaft hat sich nach Vobruba mit der Osterweiterung bewusst zu einer Inklusion eines Wohlstands- und Armutsgefälles in das Territorium der EU entschieden, anstatt das Wohlstandsgefälle durch territoriale Grenzziehungen zu exkludieren und an den Außenseiten der EU beginnen zu lassen. Diese Strategie der territorialen Inklusion von Niedriglohn- und Armutsregionen in das Einflussgebiet der EU ist mittlerweile – nicht nur wegen der aktuellen Fiskal- und Wirtschaftskrisen – an ihre institutionellen und politischen Grenzen gestoßen. Die frühere Logik der territorialen Erweiterung in konzentrischen Kreisen ist laut Vo-

5

Georg Vobruba, Die Dynamik Europas, Wiesbaden 2005.

213

bruba dem Modus »abgestufter Integration« gewichen.6 An den zähen Verhandlungen mit der Türkei, am massiven Ausbau der Grenzkontrollen an den heutigen EU -Außengrenzen sowie am Ausbau der sogenannten EU -Nachbarschaftspolitik lässt sich ablesen, dass die Europäische Union in eine Phase der territorialen Konsolidierung eingetreten ist und traditionelle territorialstaatliche Muster von Staatlichkeit unter postnationalen Vorzeichen entwickelt und reproduziert. Neben der nach außen gerichteten territorialen Expansion war das Projekt der Europäischen Integration auch intern stark »territorial« determiniert und differenziert. Zusätzlich zur intergouvernementalen Dimension der zwischenstaatlichen politischen Entscheidungsfindung wurde von Anfang an ganz bewusst eine supranationale Ebene der Verwaltung und des politischen Handelns eingeführt. Das Gegengewicht zu den eingeführten supranationalen Strukturen bildet das Subsidiaritätsprinzip, das bereits in den Gründungsakten der Europäischen Einigung (insbes. Art 5 Abs. 1, 2 im Vertrag zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl von 1951) angelegt ist und spätestens mit dem Vertrag von Maastricht 1992 eine besondere Stellung im institutionellen Gefüge der Europapolitik erhalten hat. Dieses Prinzip, das den Schriften der katholischen Staatstheorien des Mittelalters entspringt und später in die Konzeptionen liberaler Staatstheorien eingeflossen ist, besagt, dass nichts von einer übergeordneten Instanz erledigt oder entschieden werden sollte, was nicht auch von einer kleineren und untergeordneten Einheiten selbst bearbeitet werden könnte. Im Kontext der EU -Politik wurde das Subsidiaritätsprinzip vor allem deshalb gestärkt, damit sich die Mitgliedsländer gegen allzu starke Eingriffe und Einflussnahmen durch die europäische Exekutive und Legislative verwahren können. Doch bietet das Subsidiaritätsprinzip auch den subnationalen Regionen und Gebietskörperschaften einige Möglichkeiten, mehr Mitbestimmung und Kompetenzen in europäischen Angelegenheiten einzufordern. Zudem haben Regionen spätestens seit der Einrichtung des Ausschusses der Regionen im Jahr 1994 die Gelegenheit,

6

Ebenda, S. 77 ff. Vgl. dazu auch: Georg Vobruba, Der postnationale Raum. Transformation von Souveränität und Grenzen in Europa, Weinheim/Basel 2012.

214

außerhalb der nationalstaatlichen Strukturen Einfluss auf die EU Politik zu nehmen. Diese eigentümliche territoriale MehrebenenStruktur prägt den besonderen Charakter der heutigen »EU -Governance«.7

Die Mobilisierung der subnationalen Regionen im Zeichen »europäischer Kohäsion« Die subnationalen Regionen sind im europäischen Rahmen jedoch nicht nur aufgrund von neuen Formen der politischen Partizipation in den Vordergrund gerückt, sondern vor allem auch durch die Entwicklung einer lokal und regional ausgerichteten europäischen Strukturpolitik. Der Ausbau dieser in erster Linie »territorial« ausgerichteten Strukturpolitik sowie einer einheitlichen europäischen Strategie der Raumentwicklung ist eng an die Vorstellung der »Harmonisierung« des Wirtschaftslebens und der Förderung der internen »wirtschaftlichen«, »sozialen Kohäsion« geknüpft. Diese wurden unter anderem in den Präambeln der konstitutiven Verträge der europäischen Gemeinschaften beziehungsweise der Europäischen Union als wesentliche Ziele der europäischen Integration formuliert und immer wieder aufs Neue bekräftigt und präzisiert.8 Erste Schritte in Richtung einer gemeinsamen europäischen Struktur- und Raumentwicklungspolitik wurden jedoch nicht aufgrund der Zielformulierung in den europäischen Verträgen unternommen, sondern haben sich vor allem im Zuge der zähen Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien, Irland und Dänemark Anfang der 1970er Jahre ergeben. Im Ringen um den EU -Beitritt wurde die Einführung eines

7

8

Gary Marks u. a. (Hg.), Governance in the European Union, London 1996; Fritz W. Scharpf, Regieren in Europa: Effektiv und demokratisch?, Frankfurt am Main/New York 1999; Beate Kohler-Koch/Rainer Eising (Hg.), The Transformation of Governance in the European Union, London 1999. Vgl. Sebastian M. Büttner, »Der Mythos der territorialen Kohäsion der Europäischen Union«, in: Martina Löw (Hg.), Vielfalt und Zusammenhalt, Verhandlungen des 36. Kongress der DGS in Bochum 2012. Teilband I, Wiesbaden 2014, S. 347–361. Einige der nachfolgenden Passagen bis zum nächsten Abschnitt wurden wörtlich aus dem vorgenannten Aufsatz übernommen.

215

regionalen Ausgleichsfonds vereinbart. Damit wurde 1975 der sogenannte »Europäische Fonds für regionale Entwicklung« (EFRE ) ins Leben gerufen. Die Mittel und die Reichweite dieses Ausgleichsfonds waren noch relativ gering. Von einer eigenständigen und europaweit koordinierten Regionalpolitik war man in den 1970er und 1980er Jahren noch weit entfernt. Dies hat sich mit der Reform der Strukturfonds und der offiziellen Einführung der EU -Kohäsionspolitik im Jahr 1989 grundlegend geändert. Die Kohäsionspolitik vereint die schon länger existierenden Strukturfonds – den 1958 bereits gegründeten »Europäischen Sozialfonds« (ESF ) und EFRE – unter einem gemeinsamen Dach mit dem Ziel, die »Entwicklungsunterschiede« zwischen Regionen und Mitgliedstaaten durch gezielte strukturpolitische Maßnahmen »zu verringern«.9 Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Förderung von »besonders strukturschwachen Regionen«, was gemäß den Regularien der EU -Förderpolitik alle subnationalen Regionen betrifft, die mit ihrer Pro-Kopf-Wertschöpfung unterhalb der Marke von 75 Prozent des EU -Durchschnitts liegen. Die EU -Kohäsionspolitik ist neben den Maßnahmen zur Förderung der Landwirtschaft und der ländlichen Entwicklung, der Förderung des Fischfangs und der sogenannten Vorbeitrittshilfen für potenzielle EU -Beitrittsländer die umfangreichste strukturpolitische Initiative der EU . Ein großer Teil der Fördergelder und Maßnahmen wird nicht an die Regierungen der einzelnen Mitgliedsländer, sondern an subnationale Verwaltungseinheiten und auf Grundlage der Bewertung subnationaler Unterschiede und Ungleichentwicklungen verteilt.10 Diese Form der regional fokussierten Strukturpolitik ist der zentrale Steuerungsmechanismus, mit dem die in den Verträgen niedergeschriebenen Ziele der Förderung »wirt-

9 10

Siehe http://ec.europa.eu/regional_policy/what/index_de.cfm [6. 12. 2014]. Einzig der im Jahr 1993 eingeführte »Kohäsionsfonds« wird direkt an die Regierungen der Mitgliedsländer ausgezahlt, allerdings in erster Linie zur Förderung größerer Infrastrukturmaßnahmen, die letztlich auch wiederum eine starke regionale Ausstrahlung entfalten. Der Europäische Sozialfonds (ESF ) wird – abhängig von der jeweiligen Programmplanung – teilweise an die nationalen Regierungen, teilweise an die Verwaltung subnationaler Verwaltungseinheiten ausgezahlt. Hier gibt es jedoch durchaus Variationen zwischen den einzelnen Mitgliedsländern.

216

schaftlicher«, »sozialer« und »territorialer Kohäsion« erreicht werden soll.11 Die Einführung der Kohäsionspolitik bildete zudem den Auftakt zur Einführung eines neuen europäischen Planungs- und Steuerungssystems, die mit neuen Prinzipien, Mechanismen und Instrumenten die europäischen Ziele und Strategien regionaler Entwicklung möglichst effektiv umzusetzen versucht. Die Stichworte dieses Wandels lauten: (a) europäische Koordinierung; (b) umfassende Programmplanung statt Förderung von Einzelmaßnahmen; Konzentration der Mittel auf strategisch wichtige Bereiche statt breiter Förderung nach dem Gießkannen-Prinzip; (c) Mittelvergabe nach dem Prinzip der Additionalität, das gewährleisten soll, dass nationale Förderprogramme nicht durch die Mittel aus den EU -Strukturfonds ersetzt werden; (d) Prinzip der Partnerschaft, durch das möglichst viele Betroffene (die sogenannten stakeholder) frühzeitig am Planungsprozess beteiligt werden; (e) die Orientierung am Effizienzprinzip, das ein möglichst »korrektes Management« und »Monitoring« der Implementation der Maßnahmen durch alle Beteiligten erfordert; und schließlich gilt (f) das Prinzip der Ko-Finanzierung, das impliziert, dass die EU -Mittel niemals die Gesamtkosten eines Projekts abdeckt, sondern die potenziellen Mittelempfänger einen Teil der veranschlagten Projektkosten mittragen (der Anteil der Selbstbeteiligung liegt dabei zwischen 25 und 50 Prozent der Gesamtsumme – je nach Programm und Förderregion). Darüber hinaus ist der Planungs- und Steuerungsansatz der EU -Kohäsionspolitik eng an die Vorstellung und die Modelle strategischer Entwicklungsplanung angelehnt.12

11

12

Der Begriff des »territorialen Zusammenhalts« hat neben beiden etablierten Konzepten des »wirtschaftlichen« und »sozialem Zusammenhalt« spätestens mit dem Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 offiziell Einzug in das Vertragswerk der Europäischen Union erhalten. Diese Kategorie soll die besondere territoriale Dimension der Kohäsionsmaßnahmen auf EU -Ebene unterstreichen und wird dementsprechend auch in der aktuellen EU -Entwicklungsstrategie 2020 eine hohe Bedeutung erlangen. Vgl. Sebastian M. Büttner, »Mit der Strategie wächst die Struktur: Zur ›Rationalität‹ der strategieorientierten Stadt- und Regionalplanung im heutigen Europa«, in: Hans Georg Soeffner (Hrsg.): Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformationen. Verhandlungen des 34. Kongresses der Deut-

217

Die Umsetzungs- und Planungszyklen der EU -Kohäsionspolitik sind seit ihrem Bestehen an die jeweiligen Finanzierungsperioden der Europäischen Union angepasst. Mit dem Beginn des Jahres 2014 ist die Kohäsionspolitik mittlerweile in ihre fünfte Programmplanungsperiode eingetreten. Mit jedem Wechsel der Programmplanungsperiode wurden die strategischen Leitlinien sowie einige Förderungsmodalitäten und -richtlinien immer wieder leicht verändert und an die übergeordneten strategischen Ziele der EU angepasst.13 Das finanzielle Volumen der EU -Fördertöpfe im Bereich der EU Kohäsionspolitik liegt in der Summe aller bisherigen Finanzperioden von 1989 bis 2013 bei knapp 820 Milliarden Euro.14 Für die neue Programmperiode sind für den Zeitraum 2014 bis 2020 weitere 351,8 Milliarden Euro vorgesehen worden.15 Dies ergibt über einen Zeitraum von rund dreißig Jahren ein Gesamtvolumen von knapp 1,2 Billionen Euro für Maßnahmen zur Herstellung von »wirtschaftlicher«, »sozialer« und »territorialer Kohäsion« im Sinne der EU -Definition – ohne Berücksichtigung der weiteren Mittel aus der Ko-Finanzierung. Die Wirkung der Kohäsionspolitik ist allerdings höchst umstritten.16 Für die einen sind die Ausgaben viel zu hoch und insgesamt wirkungslos, für andere viel zu niedrig, um tatsächlich wirkungsvoll sein zu können. Blickt man unabhängig von der Höhe des Fördervolumens auf die konkreten Maßnahmen und Projekte, die durch die EU -Kohäsionspolitik gefördert werden, ist festzustellen, dass die Bandbreite und die Vielfalt an Fördermöglichkeiten enorm groß sind. Die Maßnahmen reichen von klassischen strukturpolitischen Maßnahmen (ca. 75 Prozent der Mittel), wie der Förderung von großen Infrastruktur-Projekten und der Förderung von regionaler wirtschaftlicher »Innovation« durch den Ausbau von Universitäten,

13

14

15 16

schen Gesellschaft für Soziologie in Jena 2008, Wiesbaden 2010 (veröffentlicht auf CD -Rom-Beigabe). Für einen Überblick vgl. http://ec.europa.eu/regional_policy/what/milestones/ index_de.cfm [6. 12. 2014]. Vgl. European Commission, EU Cohesion Policy 1988–2008: Investing in Europe’s Future, Inforegio Panorama, Nr. 26, Brüssel 2008. Vgl. http://ec.europa.eu/regional_policy/what/future/index_de.cfm [6. 12. 2014]. Vgl. Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Frankfurt am Main 2013, hier: S. 187–202.

218

Forschungszentren und Unternehmen sowie von vielfältigen Aktivitäten des Stadt- und Regionalmarketings, über die Förderungen von neuen Ansätzen und aktivierenden Maßnahmen im Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bis hin zur Förderung von Kulturprojekten unterschiedlichster Art. Zudem werden Umweltschutzprojekte, transnationale Begegnungen von Jugendlichen und anderen Gruppen aus der sogenannten »Zivilgesellschaft« und weitere vielfältige soziale Initiativen und technologische Innovationen gefördert, die man als Formen einer neuen postwohlfahrtsstaatlichen Nachhaltigkeits- und Sozialpolitik bezeichnen könnte.17 Die EU -Kohäsionspolitik stellt also ein neues supranationales System der Politiksteuerung dar, das direktive Maßnahmen mit aktivierenden Verfahren und Formen der Einbindung sowie Beteiligung von möglichst vielen Akteuren (stakeholdern) verbindet. Es ist der einzige Politikbereich der EU , der nicht nur die Exekutive der Mitgliedsländer, sondern vor allem auch subnationale Verwaltungseinheiten und andere lokale und regionale Akteure unmittelbar in die Planung und Umsetzung der Förderpolitik einbindet. Die Akquise und Durchführung der Projekte findet auf der nationalen, regionalen und lokalen Ebene statt; geplant, koordiniert und überwacht wird die Mittelvergabe jedoch hauptsächlich auf europäischer Ebene durch den Kommissar für Regionalpolitik sowie die MitarbeiterInnen der dafür zuständigen Generaldirektion: die sogenannte »DG Regionalpolitik«. Die Kohäsionspolitik dient somit letztlich weit weniger dem Ziel der Herstellung gleicher Lebensbedingungen (in einem egalitär verstandenen Sinne) als dem Ziel der umfassenden und möglichst effizienten Mobilisierung von räumlich verankerten und damit räumlich höchst differenten Entwicklungsressourcen im Sinne gesamteuropäischer Entwicklungsziele und Entwicklungsvorstellungen – wie sie etwa in der aktuell übergeordneten Wachstumsstrategie der Europäischen Union »Europa 2020« formuliert sind, die mittlerweile die sogenannte »Lissabon-Strategie« abgelöst hat.18 Diese übergeordnete Strategie, »intelligentes,

17

18

Vgl. Stephan Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen: Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2008; Nikolas Rose/Peter Miller, Governing the Present: Administering Economic, Social and Personal Life, Cambridge 2008. Siehe http://ec.europa.eu/europe2020/index_de.htm [6. 12. 2014].

219

nachhaltiges und integratives Wachstum«19 zu schaffen, dient als Grundlage für die Planung und Durchführung von Projekten auf lokaler und regionaler Ebene. Neben der möglichst umfassenden Mobilisierung von lokalen und regionalen Wachstumsressourcen ist eine weitere Stoßrichtung der Entwicklungsansätze der EU -Kohäsionspolitik, lokale und regionale Handlungskompetenz (regional agency) zu fördern.20 Subnationale Räume – oder besser: die Entscheidungsträger auf der subnationale Ebene – sind gezwungen, sich als kollektive Akteure zu konstituieren und sich nach außen – etwa durch eine gemeinsame Entwicklungsstrategie, durch eine einheitliche Vermarktungsstrategie oder andere Maßnahmen der regionalen »Governance« – als zukunftsfähige Räume und als moderne Entwicklungsakteure zu inszenieren. Der Fluchtpunkt der Kohäsionspolitik ist nicht unbedingt »politische Mobilisierung« im Sinne einer stärkeren politischen Selbstfindung und Selbstbestimmung, sondern ökonomische »Entwicklung« und »Aktivierung« unter gemeinsamen europäischen Vorzeichen. Dies führt zwar dazu, dass subnationalen Räumen in der EU eine größere politische Bedeutung bei der Gestaltung von zukünftigen Entwicklungen zukommt. Daraus kann jedoch noch lange kein Mehr an politischer Selbstbestimmung der subnationalen Räume abgeleitet werden, schon gar nicht ein Mehr an Autonomie bei der Gestaltung der Lebensbedingungen. Denn die Mobilisierung subnationaler Räume im Kontext der EU -Kohäsionspolitik ist eingebunden in ein Konglomerat von politischen Entscheidungs- und technokratischen Planungsprozessen, die weitgehend außerhalb der Regionen entschieden und vor Ort von Entwicklungsexperten und modernisierungsaffinen »Professionals« in die lokalen Kontexte übertragen werden. Die konditionale Projektfinanzierung, das heißt die Vergabe der EU -Fördergelder nach dem Kriterium der größtmöglichen Übereinstimmung der geplanten Maßnahmen mit den übergeordneten Entwicklungsvisionen der EU , sorgt schließlich dafür, dass die Beteiligten und Nutznießer der EU -Förderung die europäischen Entwicklungsziele zur Kenntnis nehmen und sich nach Möglichkeit aneignen. Ob dies im Einzelfall 19

20

http://ec.europa.eu/europe2020/europe-2020-in-a-nutshell/index_de.htm [6. 12. 2014]. Vgl. Büttner, Mobilizing Regions, Mobilizing Europe, S. 78–103.

220

tatsächlich so stattfindet, sei dahingestellt. Entscheidend für den hier diskutierten Zusammenhang ist vielmehr, dass die subnationale Ebene im Kontext der Kohäsionspolitik eine enorme Bedeutungsaufwertung erfahren hat. Dies wird nachfolgend anhand der Entwicklung der europäischen Raumentwicklungspolitik weiter verdeutlicht.

Die Aufwertung des subnationalen Raums in den Praktiken und Strategien der europäischen Raumentwicklungspolitik Die Bedeutungsaufwertung subnationaler Räume geht im Kontext der Europapolitik jedoch weit über den konkreten Anwendungsbereich der EU -Regionalpolitik beziehungsweise der EU -Kohäsionspolitik hinaus. Die Bemühungen um die »territoriale Kohäsion« der EU sind eingebettet in eine übergreifende Politik der kohärenten europäischen Raumentwicklung, die die nationale Raumentwicklungspolitik zunehmend überlagert.21 Raumentwicklungsplanung ist in der EU längst keine ausschließlich souveräne nationale Aufgabe mehr, sondern beruht auf einer europäischen Vernetzung von gemeinsamen Initiativen einzelner Raumentwicklungsbehörden in den Mitgliedsländern und auf einer europäischen Vernetzung von ExpertInnen und WissenschafterInnen. Zwei Initiativen sind hier ganz besonders hervorzuheben: zum einen die Entwicklung einer übergreifenden Vision der europäischen Raumentwicklung – das sogenannte Europäische Raumentwicklungskonzept (EUREK ), das der Ministerrat Ende der 1990er Jahre verabschiedete.22 Allerdings ist EUREK seitdem nicht in Richtlinien oder Verordnungen rechtlich umgesetzt worden. Zum anderen ist der Aufbau des sogenannten European Observation Network for Territorial Development and Cohesion (ESPON ) zu nennen. ESPON dient dem Aufbau eines 21

22

Vgl. Jensen/Richardson, Making European Space, S. 126–152; Andreas Faludi (Hg.), Territorial Cohesion and the European Model of Society, Cambridge MA 2007; Andreas Faludi, Cohesion, Coherence, Cooperation: European Spatial Planning Coming of Age?, London 2010. Siehe http://ec.europa.eu/regional_policy/sources/docoffic/official/reports/ pdf/sum_de.pdf [6. 12. 2014].

221

europäischen Forschungsverbunds zur Beobachtung der europäischen Raumentwicklung. ESPON ist in der Regel direkt in den einzelnen Raumentwicklungsbehörden der Mitgliedsländer angesiedelt, produziert jedoch genuin europäische Raumentwicklungsdaten sowie entsprechende Karten. Es kreiert und etabliert damit neue Bilder und Vorstellungen von der Entwicklung des europäischen Raums.23 So verfolgt das europäische Raumentwicklungskonzept EUREK einen »polyzentrischen« Entwicklungsansatz, der den Aufbau neuer Verknüpfungen zwischen subnationalen Räumen über nationale Grenzen hinweg anstrebt – etwa durch den Ausbau der transnationalen Verkehrsinfrastruktur, die sogenannten »transeuropäischen Netze (TEN )«24. ESPON wiederum liefert Raumbilder und räumliche Repräsentationen der europäischen Raumentwicklung, die die nationalen Grenzen in den Hintergrund treten und stattdessen vor allem Gemeinsamkeiten und Unterschiede von subnationalen Räumen hervortreten lassen. Solche Bilder standen bis vor Kurzem nicht zur Verfügung. Bis weit in die 1990er Jahre dominierten sowohl in der Wissenschaft als auch in der politiknahen Forschung nationalstaatliche Vergleiche und nationalstaatlich geprägte Raumbilder. Die neuen Darstellungen und Abbildung des »europäischen Territoriums« ermöglichen somit neue Arten des Wahrnehmens und Nachdenkens über den EU -Raum und dessen Entwicklung. Ermöglicht wurde die Erstellung dieser neuen Raumbilder durch eine Entwicklung, die ihren Anfang in einem gezielten Auf- und Ausbau der Regionalstatistik auf europäischer Ebene zu Beginn der 1970er Jahre genommen hat. Zu diesem Zeitpunkt entwickelte das europäische Statistikamt (Eurostat) die sogenannte »Systematik der Gebietseinheiten für die Statistik (NUTS )«. Damit etablierte Eurostat eine eigene statistische Klassifikation des EU -Territoriums, um europäische Regionalstatistiken erstellen zu können. Diese wurden

23

24

Das Programm wird wie viele andere europäische Projekte zu 75 Prozent aus Mitteln der EU -Kohäsionspolitik finanziert – genauer: aus dem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE ) – und mit 25 Prozent von den Mitgliedsstaaten sowie den Beitrittsländer und den EWG -Ländern kofinanziert. Siehe http://www.espon.eu [6. 12. 2014]. Siehe http://ec.europa.eu/transport/themes/infrastructure/index_en.htm [6. 12. 2014].

222

im Laufe der Zeit von den Mitgliedsstaaten übernommen und zur Grundlage für die Erhebung nationaler Regionalstatistiken erhoben. Spätestens mit der Verordnung (EG ) Nr. 1059/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Mai 2003 über die Schaffung einer gemeinsamen Klassifikation der Gebietseinheiten für die Statistik (NUTS ) ist die Erhebung der Regionalstatistiken nach der NUTS -Klassifikation für alle EU -Mitgliedsländer verpflichtend. Die NUTS -Klassifikation unterscheidet die Gebietskörperschaften in unterschiedliche Hierarchieebenen. NUTS -0 ist die Ebene der Nationalstaaten, NUTS -1 erfasst größere Landesteile und Regionen, NUTS -2 mittlere Regionen und Landesteile (entsprechend einer Größe etwa von Regionen wie Hessen oder Thüringen), und NUTS -3 erfasst kleinere Gebiete (entsprechend einer Größe von Bezirken oder Landkreisen bis maximal 800000 Einwohner). Ein besonderes Merkmal der NUTS -Klassifikation ist, dass die NUTS -Regionen nicht immer deckungsgleich sind mit den etablierten Verwaltungseinheiten und Regionalklassifikationen der Mitgliedsstaaten. Um die Vergleichbarkeit von Einheiten der gleichen Hierarchieebene zu ermöglichen, differenziert die NUTS -Klassifikation streng nach Einwohnerzahl und schafft damit neue Zurechnungseinheiten für die Erfassung sozio-ökonomischer Entwicklungen. Der Beitrag der Statistik zur Konstruktion und Durchsetzung von neuen Wahrnehmungsweisen und sozialen Realitäten kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dieser Zusammenhang wurde vor allem in der französischen Tradition soziologischer Reflexion und Theoriebildung umfassend herausgearbeitet.25 Er gilt auch für die Bedeutungsaufwertung des subnationalen Raums durch Europäisierungsprozesse. Mit der Einführung der NUTS -Klassifikation und durch die regelmäßigen Erhebungen von Regionaldaten hat der subnationale Raum auf der europäischen Ebene eine neuartige und eine kontinuierliche Beachtung erfahren. So veröffentlicht Eurostat seit Beginn der europäischen Regionalstatistik neben einem allgemeinen »Statistischen Jahrbuch« zum Beispiel regelmäßig das sogenannte 25

Grundlegend dazu: Émile Durkheim/Marcel Mauss, »Über einige primitive Formen von Klassifikation«, in: Émile Durkheim, Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, Frankfurt am Main 1987, S. 169–256; Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Frankfurt am Main 1982; Felix Keller, Archäologie der Meinungsforschung: Mathematik und die Erzählbarkeit des Politischen, Konstanz 2001.

223

»Jahrbuch der Regionen«, das seit 2000 in erheblich erweiterter Form in einem Umfang von knapp 300 Seiten herausgegeben wird und eine Fülle von Daten und Fakten zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der subnationalen Räume in Europa zusammenträgt.26 Darüber hinaus lassen sich auf der Homepage von Eurostat jederzeit aktuelle Regionalstatistiken und Zeitreihen zu allen üblichen Indikatoren der wirtschaftlichen Gesamtrechnung abrufen. Die Regionaldaten von Eurostat wie auch die neueren Abbildungen von ESPON fließen in die sogenannten »Kohäsionsberichte« der Europäischen Kommission ein, die seit 1996 im regelmäßigen Abstand von drei Jahren die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der subnationalen Regionen und damit insgesamt die »territoriale Kohäsion« der Europäischen Union ausführlich darstellt und bewertet.27 Die Kohäsionsberichte sind ein weiteres Beispiel dafür, wie hoch der Aufwand ist, den die EU -Kommission in die Analyse und Interpretation der territorialen Entwicklung Europas investiert. Die Berichte listen Konvergenzen und Ungleichheitsentwicklungen zwischen Regionen und Ländern der EU in unzähligen Lebensbereichen akribisch auf. Sie messen die Entwicklung der subnationalen Räume nicht nur in sozio-ökonomischer und sozio-demografischer Hinsicht, sondern auch in vielen anderen Bereichen – etwa den Gesundheitszustand und die Lebenszufriedenheit der lokalen Bevölkerung, die ökologische Entwicklung der Regionen oder deren Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit. In den Kohäsionsberichten finden sich zudem immer Trendaussagen und Szenarien für die erwartbare, zukünftige Entwicklung der subnationalen Räume und eine Reihe von konkreten Handlungsempfehlungen und Reformvorschlägen. In dieser Hinsicht sind die Kohäsionsberichte mehr als nur neutrale Berichte zur Lage der Raumentwicklung in Europa und zur »Effektivität« der Kohäsionspolitik. Sie geben wichtige Hinweise für die zukünftige Ausrichtung der EU -Raumentwicklungspolitik und stellen Gradmesser der »Performance« der subnationalen Räume im Lichte der übergreifenden europäischen Entwicklungsstrategien dar. 26

27

Siehe http://epp.eurostat.ec.europa.eu/statistics_explained/index.php/Eurostat _regional_yearbook/de [6. 12. 2014]. Siehe http://ec.europa.eu/regional_policy/information/reports/index_de.cfm [6. 12. 2014].

224

Fazit: »Territoriale Kohäsion« durch regionale Mobilisierung – eine unklare europäische Entwicklungsvision? Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass es sich bei der eigentümlichen Bedeutungsaufladung der subnationalen Regionen in der EU um einen Prozess handelt, den ExpertInnen konzipieren und PlanerInnen wie auch ReformerInnen technokratisch vorantreiben. In diesem Prozess werden die Regionen als Entwicklungseinheiten und als Agenten lokaler Innovation und lokalen Wirtschaftswachstums mobilisiert. Im Anschluss an Henri Lefebvres klassische Theorie der »Produktion des Raums«28 lassen sich die beschriebenen Aktivitäten der EU , insbesondere die der EU Kommission und der mit ihr verbundenen Expertengruppen und -netzwerke, als ein bedeutender Teil der »Produktion« des EU -Territoriums begreifen. Für Lefebvre ist Raum beziehungsweise »Territorium« niemals einfach nur gegeben, sondern stets das Produkt einer Vielzahl unterschiedlicher sozialer Praktiken. Dazu gehören nicht nur die alltäglichen Praktiken der Leute, sondern in nicht unerheblichem Maße auch die Definitionen, Konzepte und Praktiken von Raumplanern und RaumwissenschaftlerInnen. Lefebvre unterscheidet heuristisch daher zwischen drei Ebenen oder Dimensionen der Raumherstellung, die dialektisch aufeinander bezogen sind: (a) den durch »räumliche Praxis« hergestellten und wahrgenommenen Raum, der alles umfasst, was Menschen im und mit dem Raum tun; (b) die »Repräsentationen des Raum« beziehungsweise den konzipierten Raum, wie er uns am ehesten durch ExpertInnen, wissenschaftliche Definitionen und Konzepte oder bildliche Darstellungen etc. begreiflich gemacht wird; und (c) die sogenannten »Räume der Repräsentationen«, das heißt alle Dimensionen der Vermittlung eines gelebten Raums durch Symbole, Bedeutungen und Deutungen inklusive der mitunter widersprüchlichen Erzählungen über den Charakter und Konstitution eines Raums. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, inwiefern Definitionen, Konzepte, Darstellungen und Visionen von wissenschaftlichen ExpertInnen und offiziellen politischen Institutionen für die Herstellung von Räumen konstitutiv sind. Die Konzeptionen und Re28

Henri Lefebvre, The Production of Space, Oxford 1991.

225

präsentationen von Räumen prägen die räumliche Praxis und umgekehrt. Deutlich wird auch, dass wir es immer mit einer Fülle von unterschiedlichen und widersprüchlichen Erzählungen, Konzepten und Visionen zu tun haben. Aus der Analyse der Semantik einzelner Akteure (wie etwa der EU -Kommission oder des ESPON -Netzwerks) ist daher niemals umfassend ableitbar, welche Konzeptionen, Darstellungen und Konzeptionen sich durchsetzen und eine dominante Stellung beziehungsweise eine gewisse Hegemonie erlangen. Dies müssen genauere, an den Kämpfen um Deutungen und an den konkret wahrnehmbaren Praktiken orientierte, historische Prozessanalysen zeigen. Die Analyse dieses Beitrags zur Bedeutungsaufwertung der subnationalen Räume im Zeichen »europäischer Kohäsion« zielte darauf, zu verdeutlichen, wie widersprüchlich dieser Aufwertungsprozess ist und auf welchen unterschiedlichen Ebenen er sich abspielt oder bereits abgespielt hat, ohne sich letztlich in einer eindeutigen politischen Aufwertung zu manifestieren. Es ging hier nicht darum, unter Verweis auf die vielen unterschiedlichen Initiativen zur Messung und Bearbeitung des subnationalen Raums seitens der EU eine Bedeutungsaufwertung der subnationalen Räume im heutigen Europa zu propagieren und damit einen Abgesang auf das Europa der Nationalstaaten anzustimmen. In der Hauptsache ist das »Europa der Regionen« im Kontext der EU -Politik kein politisches Emanzipationsprojekt, sondern in erster Linie eine Entwicklungsstrategie, die auf eine möglichst umfassende Nutzung und Mobilisierung von lokalen Ressourcen für wirtschaftliche und soziale Entwicklung abzielt. Diese Zielsetzung ist eingebettet in eine umfassendere Strategie zur Herstellung »territoriale[r] Kohäsion« der EU . Einerseits sind diese Bemühungen in sich höchst widersprüchlich, weil sie weniger auf die Herstellung von »Kohäsion« im wörtlichen Sinne, sondern vielmehr auf die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit von einzelnen lokalen Einheiten und auf grenzüberschreitende soziale, politische und wirtschaftliche Kooperation abzielen.29 Andererseits bleibt trotz aller Bemühungen der EU um klare Vorgaben und Definitionen relativ unklar, was man letztlich auf europäischer Ebene unter »territorialer Kohäsion« ver-

29

Vgl. Büttner, Der Mythos der territorialen Kohäsion.

226

steht und auf welche Weise diese politisch hergestellt werden kann.30 In den einzelnen Strategien und Analysen der EU -Kommission finden sich dazu recht unterschiedliche Vorstellungen und Visionen. Das Europäische Raumkonzept (EUREK ) aus den 1990er Jahren, das bisher keine dominante Stellung erlangt hat, aber durchaus eine Hintergrundfolie für die gegenwärtigen Tätigkeiten in einigen Politikbereichen der EU bildet, stellt eine klare paneuropäisch integrierte Raumentwicklungsvision dar. Im Grundlagenpapier der EU Kommission zum Begriff der »territorialen Kohäsion« aus dem Jahr 2008 bleibt der Ton dagegen verhaltener. Betont wird hier die »einzigartige territoriale Vielfalt«. Diese Vielfalt soll als »Vorteil« begriffen und die Entwicklungspotenziale einzelner Räume möglichst »optimal« zur Entfaltung gebracht werden, um zu einer »nachhaltigen Entwicklung« der gesamten EU beizutragen.31 Dieses Kommissionspapier wurde 2007 ergänzt durch die Verabschiedung einer offiziellen »Territorialen Agenda der Europäischen Union«32, die 2011 als »Territoriale Agenda 2020 (TA 2020)«33 neu aufgelegt wurde. In dieser Agenda wird die Stärkung des territorialen Zusammenhalts (»Für ein harmonischeres und ausgewogeneres Europa«) als besonderes Entwicklungsziel der übergeordneten Strategie »Europa 2020« hervorgehoben. Folgende konkrete »Prioritäten« werden dafür benannt: 1) Förderung einer »polyzentrischen« und ausgewogenen Raumentwicklung; 2) Förderung einer »integrierten« Entwicklung in Städten, ländlichen Gebieten und Sonderregionen (zum Beispiel Gebiete in äußerster Randlage); 3) »territoriale Integration« in grenzüberschreitenden und transnationalen funktionalen Regionen; 4) Gewährleistung der globalen Wettbewerbsfähigkeit von Regionen durch eine starke lokale Wirtschaft; 5) Verbesserung der territorialen Anbindung für den Einzelnen, für Gemeinden und Unterneh-

30 31

32

33

Vgl. Faludi (Hg.), Territorial Cohesion. European Commission, Green Paper on Territorial Cohesion. Turning Territorial Diversity into Strength. COM (2008) 616 final, Brüssel 2008, hier: S. 3 Abrufbar unter http://www.eu-territorial-agenda.eu/Reference%20Documents /Territorial-Agenda-of-the-European-Union-Agreed-on- 25-May-2007.pdf [6. 12. 2014]. Abrufbar unter http://www.eu2011.hu/files/bveu/documents/TA2020.pdf [6. 12. 2014].

227

men sowie 6) Verwaltung und Verknüpfung der Umwelt-, Landschafts- und Kulturgüter von Regionen. Ein Blick auf die unterschiedlichen Strategiepapiere und Zielformulierungen macht deutlich: So stark der Begriff der »territorialen Kohäsion« in der EU auch betont wird, es bleibt vage und uneindeutig, worauf die Stärkung der »territorialen Kohäsion« abzielen soll. Die genannten Maßnahmen zur Kohäsionsförderung schließen sich zum Teil gegenseitig aus und können widersprüchliche Effekte hervorbringen. Zum Beispiel kann die Stärkung der »globalen Wettbewerbsfähigkeit von Regionen« dem Ziel einer »ausgewogenen Raumentwicklung« entgegenstehen, weil die Steigerung von Wettbewerbsfähigkeit zumeist auch mit einer Steigerung von Konkurrenz und damit einer stärkeren Spaltung von Gewinnern und Verlierern einhergeht. Auch ist nicht unmittelbar einsichtig, inwiefern Maßnahmen zur »Verbesserung der territorialen Anbindung von Einzelnen, Gemeinden und Unternehmen« zur Stärkung des »territorialen Zusammenhalts« Europas beitragen. Es bleibt insgesamt gesehen diffus, welches Konzept von »territorialer Kohäsion« die Europäische Union in ihren Strategien letztlich verfolgt: Laut Andreas Faludi, einem der führenden wissenschaftlichen Beobachter und Begleiter der europäischen Raumentwicklungspolitik, sei dies nicht unbedingt verwunderlich, sondern dem Zusammentreffen unterschiedlicher Akteure und Interessen geschuldet und insofern durchaus zweckdienlich. Denn es erlaube den nationalen Regierungen und den EU -Institutionen, den Begriff der »territorialen Kohäsion« jeweils nach ihren eigenen Interessen, Vorstellungen und Entwicklungszielen auszurichten und entsprechend zu nutzen.34 Es bleibt daher abzuwarten, welche Art von »Territorium« und welches Konzept von »Territorialität« aus der Kohäsionspolitik der EU in Zukunft hervorgehen werden. Absehbar ist jedoch zunächst einmal, dass die regionalen Unterschiede und Ungleichheiten erhalten bleiben, wenn nicht gar anwachsen werden – und dies ist nicht nur 34

Andreas Faludi, »Territory, as in Territorial Cohesion«, in: Ilona Pálné Kovacs/ James Scott/Zoltán Gál (Hg.), Territorial Cohesion in Europe. For the 70th Anniversary of the Transdanubian Research Institute, Pécs 2013, S. 123–135, hier: S. 124 f.; vgl. auch: Andreas Faludi, »Territorial Cohesion: An Unidentified Political Objective. Introduction to the Special Issue«, in: Town Planning Review 76 (2005), Heft 1, S. 1–13.

228

technokratischen Visionen und politischen Strategien geschuldet, sondern vor allem sozio-ökonomischen und demografischen Entwicklungen, die sich jenseits von allen Planungen und Strategieentwicklungen gegenwärtig auf dem europäischen Kontinent vollziehen.

229

IV. Europäischer Superstaat? Facetten einer räumlichen Transformation

Jens Wissel | Sebastian Wolff

Die Europäische Union als multiskalares Staatsapparate-Ensemble. 1 Zum Zusammenhang von gesellschaftlicher Regulation und strategischer Raumproduktion 1

Seit Anfang der 1990er Jahre wird im Zusammenhang materialistischer Staatstheorie intensiv über die Inter- und Transnationalisierung des Staates diskutiert. Im Fokus standen dabei zunächst Veränderungen innerhalb der Nationalstaaten sowie die Institutionen der internationalen Regulation. Der europäische Integrationsprozess sowie dessen Konsequenzen für Staatlichkeit und die Reproduktion politischer Herrschaft wurden hingegen lange unterschätzt. Eine Ausnahme bildeten neogramscianische Ansätze der Internationalen Politischen Ökonomie (IPÖ ), die sich jedoch weitgehend auf die Transnationalisierung beziehungsweise Europäisierung von Zivilgesellschaft und Klassenverhältnissen konzentrierten.2 Seit den 2000er Jahren wird aber zunehmend versucht, die klassentheoretischen Erkenntnisse der neogramscianischen Schule mit staats- und regulationstheoretischen Ansätzen in Zusammenhang zu bringen.3

1

2

3

Für bereichernde Diskussionen und Anregungen danken wir insbesondere Tino Petzold, Julia Strasser, Marie-Luise Rosner sowie den Herausgeberinnen dieses Bandes. Vgl. Hans-Jürgen Bieling/Frank Deppe, »Gramscianismus in der internationalen politischen Ökonomie«, in: Das Argument (1996), Heft 217, S. 729–740; Robert Cox, Production, Power and World Order, New York 1987; Kees Van der Pijl, Transnational Classes and International Relations, London 1998; Stephen Gill, »Theoretische Grundlagen einer neo-gramscianischen Analyse der europäischen Integration«, in: Hans-Jürgen Bieling/Jochen Steinhilber (Hg.), Die Konfiguration Europas, Münster 2000, S. 23–50; Bastiaan van Apeldoorn, Transnational Capitalism and the Struggle over European Integration, London 2002. Exemplarisch: Bernd Röttger, Neoliberale Globalisierung und europäische Regulation. Die politische Konstitution des Marktes, Münster 1997; Patrick Ziltener, Strukturwandel der europäischen Integration, Münster 1999; Hans-Jürgen

233

Im Folgenden nehmen wir diese Debatte auf, verschieben den Fokus aber insofern, als wir die räumliche Dimension des Wandels von Staatlichkeit untersuchen. Im Zentrum unseres Beitrags stehen die räumliche Ausdifferenzierung von Staat und Gesellschaft im europäischen Integrationsprozess sowie deren Konsequenzen und Effekte für die Reorganisation politischer Herrschaft. Dazu entfalten wir in einem ersten Schritt zunächst unsere theoretischen Grundlagen. Neben den bereits erwähnten neogramscianischen Ansätzen beziehen wir uns vor allem auf die Regulationstheorie, die Internationalisierung des Staates aus Sicht materialistischer Staatstheorie4 und auf Arbeiten zur gesellschaftlichen Raumproduktion in der radical geography5. Zweitens zeichnen wir die räumliche Transformation von Staatlichkeit in der Europäischen Union nach. Diese ist geprägt, so unsere These, durch die Entstehung eines multiskalaren Staatsapparate-Ensembles6, in dem die staatlichen Apparate und Institutionen7 auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen (scales) miteinander verknüpft und in ein kooperativ-kompetitives Verhältnis gesetzt werden. Abschließend diskutieren wir die demokratietheoretischen Implikationen der dargestellten Transformationen. Dabei folgen wir der These, dass die multiskalare Form von Staatlichkeit eine entscheidende Grundlage für die zunehmende

4

5

6

7

Bieling, »Die Krise der Europäischen Union aus der Perspektive einer neogramscianisch erweiterten Regulationstheorie«, in: Roland Atzmüller u. a., Fit für die Krise? Perspektiven der Regulationstheorie, Münster, 2013, S. 309–328. Exemplarisch: Joachim Hirsch/Bob Jessop/Nicos Poulantzas (Hg.), Die Zukunft des Staates, Hamburg 2001. Vgl. Bernd Belina/Boris Michel, Raumproduktionen. Beiträge der Radical Geography. Eine Zwischenbilanz. Münster 2011; Markus Wissen/Bernd Röttger/Susanne Heeg (Hg.), Politics of Scale. Räume der Globalisierung und Perspektiven emanzipatorischer Politik, Münster 2008; Neil Brenner, New State Spaces. Urban Governance and the Rescaling of Statehood, Oxford 2004. Vgl. Jens Wissel, »Die europäische Integration als staatstheoretische Herausforderung«, in: Alex Demirovi´c/Stephan Adolphs/Serhat Karakayali (Hg.), Das Staatsverständnis von Nicos Poulantzas. Der Staat als gesellschaftliches Verhältnis, Baden-Baden 2010, S. 81–96. Mit Apparaten sind die im engeren Sinne staatlichen Organisationen wie Ministerien, Zentralbanken, Sicherheitsapparate etc. gemeint. Mit Institutionen sind mit Giddens routinisierte soziale Praktiken gemeint, die eine raum-zeitliche Ausdehnung haben. Vgl. Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1988.

234

Aushebelung demokratischer Prozesse und die Ausbildung autoritärer Politikformen innerhalb der EU bildet. Diese Entwicklung, die sich bis in die späten 1970er Jahre zurückverfolgen lässt, hat unseres Erachtens durch die »Eurokrise« eine weitere Beschleunigung erfahren.

Regulation und Staat Eine materialistische Theorie des Staates zu betreiben bedeutet, sowohl die Existenz als auch die historisch-konkrete Ausformung und Funktionsweise des Staates konsequent mit den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen in Verbindung zu setzen. Den Ausgangspunkt materialistischer Staatstheorie bildet daher die Analyse der kapitalistischen Vergesellschaftungsverhältnisse. Diese werden als Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse erkannt und kritisiert. Die ungleichen Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Klassen, Geschlechtern und Ethnien (race) begründen einen gesellschaftlichen Zusammenhang, der immanent widersprüchlich und als solcher permanent mit der Gefahr der Untergrabung seiner eigenen Bestandsbedingungen konfrontiert ist. Aufgrund dieser inneren Widersprüchlichkeit und Krisenhaftigkeit tendiert der Kapitalismus weder von sich aus zu einem Gleichgewichtszustand, noch lässt sich seine Reproduktion allein mittels der »unsichtbaren Hand« der Marktkräfte absichern. Notwendig, so der Ansatz materialistischer Staatstheorie, ist vielmehr eine »auf den materiellen Bestand, die Ordnung und den Erhalt der Gesellschaft insgesamt gerichtete und außerhalb des unmittelbaren Verwertungsprozesses stehende Tätigkeit«8. Eben hierin wird die zentrale Bedeutung des Staates gesehen: Durch seine formale Trennung beziehungsweise »Besonderung« sowohl von der Ökonomie als auch von den einzelnen gesellschaftlichen Klassen(fraktionen) bildet er ein »relativ autonomes, strategisches Konfliktterrain«9, auf dem die gesellschaftlichen Verhält8 9

Joachim Hirsch, Materialistische Staatstheorie, Hamburg 2005, S. 45. Lars Bretthauer: »Materialität und Verdichtung bei Nicos Poulantzas«, in: derselbe u. a. (Hg.): Poulantzas lesen. Zur Aktualität marxistischer Staatstheorie. Hamburg 2006, S. 82–100, hier: S. 92.

235

nisse in geregelter und verrechtlichter Weise reguliert und so über ihre Widersprüchlichkeit hinweg prozessierbar gemacht werden können. Dieser Argumentationsgang darf indes nicht funktionalistisch missverstanden werden. »Die ›Besonderung‹ des Staates […] ist für den Erhalt der kapitalistischen Gesellschaft zwar notwendig, aber nicht von vorne herein gewährleistet. […] [Sie] bildet sich in politischen und sozialen Kämpfen heraus und wird von diesen zugleich immer wieder in Frage gestellt.«10 Gleiches gilt für den apparativen Aufbau des Staates wie für die Art und Weise staatlicher Regulation: Beide stehen zwar in engem Zusammenhang mit den Strukturprinzipien der kapitalistischen Produktionsverhältnisse,11 lassen sich aus diesen aber nicht ableiten, sondern sind in ihrer konkreten Ausprägung Resultat gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Kämpfe.12 Insbesondere Antonio Gramscis Konzept der »Hegemonie« erweist sich hier als fruchtbarer Anschluss. Gramsci zufolge basiert bürgerliche Herrschaft nicht allein beziehungsweise nicht in erster Linie auf Gewalt und Unterdrückung, sondern auf der Organisation von (asymmetrischem) Konsens und politischer Führung.13 Bezogen auf die Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung des Staates bedeutet dies, dass gesellschaftliche Akteure stets versuchen müssen, andere (auch subalterne) Akteure durch ideelle und materielle Zugeständnisse einzubinden. Der Staat ist somit nicht Ausschuss einer (herrschenden) Klasse, sondern die – hochgradig verdichtete und widersprüchliche – »materielle Verdichtung eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses«14. 10 11

12

13

14

Hirsch, Staatstheorie, S. 45. Dies schon deshalb, weil der Staat als Steuerstaat von einem dynamischen Kapitalverwertungsprozess abhängig ist. Die Absicherung der Kapitalakkumulation ist damit in seinem ureigenen Interesse. Eine materialistische Perspektive besteht nicht darin, Handeln und Institutionen aus den gesellschaftlichen Strukturen abzuleiten, sondern den dialektischen Vermittlungszusammenhang zwischen Struktur und Praxis herauszuarbeiten. Vgl. Benjamin Opratko, Hegemonie. Politische Theorie nach Antonio Gramsci, Münster, 2012. Nicos Poulantzas, Staatstheorie, Hamburg 2002; zum Begriff des Kräfteverhältnisses siehe Jens Wissel, Stichwort »Kräfteverhältnisse«, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus Band 7 II , hg. von Wolfgang Fritz Haug u. a., Hamburg 2010, Sp. 1941–1955.

236

Ausgehend von Gramscis und Poulantzas Überlegungen, den Staat als spezifisch institutionalisiertes Kräftefeld zu begreifen, müssen Veränderungen von Staatlichkeit somit aus Veränderungen in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen erklärt werden. Dazu schlagen wir vor,15 in der empirischen Analyse dieser Veränderungsprozesse zwischen unterschiedlichen Hegemonieprojekten zu unterscheiden. Mit dem Begriff der Hegemonieprojekte versuchen wir, die Vielfalt unterschiedlicher Akteurskonstellationen in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen entlang der von ihnen verfolgten Strategien und politischen Zielvorstellungen zu ordnen. Neben politischen Projekten, bei denen es sich »um besondere, konkrete politische Initiativen handelt, die sich selbst als Lösung von drängenden sozialen, ökonomischen und politischen Problemen darstellen«16, müssen Hegemonieprojekte dabei stets auch Staatsprojekte entwickeln, die sich auf die institutionelle und apparative Struktur des Staates beziehen. Gelingt es, ein solches Staatsprojekt als hegemoniales zu etablieren, kann über spezifische state strategies17 die Ausgestaltung des Staates (das heißt die grundlegenden Spielregeln der Auseinandersetzung um Herrschaft) bestimmt werden. Die bisherigen Ausführungen sollten deutlich gemacht haben, dass der Staat in der materialistischen Staatstheorie nicht als reines Instrument der herrschenden Klassen angesehen wird. Ebenso zurückgewiesen werden aber auch Konzeptionen des Staates, die diesen als Garant des gesellschaftlichen Allgemeinwohls verstehen. Denn die Trennung des Staates von Ökonomie und Gesellschaft ist lediglich eine formale und darf als solche »nicht im Sinne einer wirklichen Äußerlichkeit von Staat und Ökonomie verstanden werden, als Intervention des Staates von außen in die Ökonomie. Diese Trennung ist nur die bestimmte Form, die im Kapitalismus die konstitutive Präsenz des Politischen in den Produktionsverhältnissen und

15

16

17

Die folgenden Begriffe haben wir in den vergangenen vier Jahren gemeinsam mit Kolleg_innen der Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa entwickelt. Hans-Jürgen Bieling/Jochen Steinhilber, »Hegemoniale Projekte im Prozess der Europäischen Integration«, in: diess. (Hg.), Die Konfiguration Europas, Münster 2000, S. 102–130. Beispiele sind der Europäische Binnenmarkt, die Europäische Währungsunion und der Europäische Grenzschutz. Bob Jessop, State Theory, Cambridge 1990, S. 260–261.

237

ihrer Reproduktion annimmt«.18 Indem der Staat das kapitalistische Herrschaftsverhältnis über seine Krisenhaftigkeit hinweg stabilisiert, ist er der zentrale Garant dieser Verhältnisse – und bleibt als »Steuerstaat« grundlegend von der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse abhängig. Der Staat ist insofern nicht der »Staat des Kapitals«, sehr wohl aber ein bürgerlich-kapitalistischer Staat.

Staatliche Regulation und Raum Die räumliche Redimensionierung des Staates Der politikwissenschaftliche Mainstream konzentrierte sich in den 2000er Jahren zunehmend auf die Analyse von Global GovernanceProzessen.19 Der Nationalstaat, wie Herrschaft überhaupt, wurde dabei mehr oder weniger als ein Relikt aus vergangenen Zeiten betrachtet. Dementgegen arbeiteten Regulationstheorie und materialistische Staatstheorie heraus, dass es gerade auch die Nationalstaaten beziehungsweise nationalstaatliche state strategies waren, die die Globalisierungsprozesse vorantrieben.20 Ansätze der Politischen Ökonomie haben den Weltmarkt, die Internationalisierung der Produktion und die entstandene internationale Regulation in die Analyse mit eingeschlossen. Gleichwohl wurde die Relevanz dieser Entwicklungen für grenzüberschreitende politische Prozesse lange unterschätzt. Letztlich befanden sich damit aber auch staats- und regulationstheoretische Arbeiten in der von John Agnew21 kritisierten territorial trap: »insofar as they have conceived state territoriality as a static background structure for regulatory processes rather than as one of their constitutive dimen-

18 19

20 21

Poulantzas, Staatstheorie, S. 47. Kritisch hierzu: Ulrich Brand u. a., Global Governance. Alternative zur neoliberalen Globalisierung?, Münster 2000. Vgl. Hirsch, Materialistische Staatstheorie, S. 142. John Agnew, »The Territorial Trap: The Geographical Assumptions of International Relations Theory«, in: Review of International Political Economy (1994), Heft 1, S. 53–80.

238

sions«.22 Anstatt den Nationalstaat des Fordismus als eine historischspezifische – und damit kontingente – Form der Territorialisierung von Staatlichkeit zu betrachten, wurde seine nationalstaatliche Verfasstheit in den Rang eines quasi natürlichen Wesensmerkmals staatlicher Souveränität erhoben. Eine Folge war, dass die veränderte Räumlichkeit von Staatlichkeit kaum, oder erst spät, thematisiert wurde. Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre geriet der nationalstaatliche Fokus jedoch zunehmend in die Kritik. Vor allem in den Debatten um die »Internationalisierung des Staates«23 wurde der Blick erweitert und betont, dass »sich wichtige Politikformulierungs- und -durchsetzungsprozesse auf die Ebene internationaler Organisationen verlagern«24 beziehungsweise dass es zu einer stärkeren räumlichen Diversifizierung von Staat und Regulation25 gekommen ist. Doch trotz der Berücksichtigung der räumlichen Redimensionierung von Staatlichkeit stand eine explizite Auseinandersetzung mit der Kategorie »Raum« weiterhin aus. Dieses raumtheoretische Defizit wird in jüngster Zeit durch den Anschluss an Debatten der radical geography, insbesondere jene um re-scaling und politics of scale, zu füllen versucht. Grundannahme der scale-Debatte ist, dass sich gesellschaftliche Prozesse nicht in einem sozialen Raum vollziehen, sondern sich die soziale Welt durch »das Vorhandensein von vielfältigen und sich gegenseitig überlappenden räumlich-gesellschaftlichen Dimensionen«26 auszeichnet. Es kommt daher darauf an, den »polymorphic, multidimensional cha-

22 23 24 25

26

Brenner, New State Spaces, S. 70. Vgl. Hirsch/Jessop/Poulantzas, Die Zukunft des Staates. Hirsch, Materialistische Staatstheorie, S. 147. Vgl. Jens Wissel, Die Transnationalisierung von Herrschaftsverhältnissen, Baden-Baden 2007, S. 135–151; in Bezug auf Europa siehe Bob Jessop, »Die Zukunft des Nationalstaates: Erosion oder Reorganisation? Grundsätzliche Überlegungen zu Westeuropa«, in: Steffen Becker/Thomas Sablowski/Wilhelm Schumm (Hg.), Jenseits der Nationalökonomie?, Berlin 1997, S. 50–95. Rianne Mahon/Roger Keil, »Space, Place, Scale. Zur politischen Ökonomie räumlich-gesellschaftlicher Redimensionierung – ein Überblick«, in: Wissen/ Röttger/Heeg (Hg.), Politics of Scale, S. 34–56, hier: S. 35.

239

racter of sociospatial relations«27 in den Blick zu nehmen. Innerhalb dieser multiskalaren Raumstruktur, die sich von der globalen und supranationalen über nationale und regionale bis hin zu lokalen Ebenen erstreckt, kommt keiner räumlichen Maßstabsebene (scale) eine ursächliche Vorrangstellung zu. Dadurch erfährt der nationale scale eine Relativierung. Er kann – anders als im »methodologischen Nationalismus«, der vielen politikwissenschaftlichen Ansätzen zugrunde liegt – nicht a priori als primäre Arena gesellschaftlicher Interaktion betrachtet werden. Vielmehr gilt, dass »[r]äumliche Maßstabsebenen und ihr Verhältnis zueinander […] sozial produziert und veränderbar [sind]«.28 Die scale-Debatte nimmt damit eine wichtige Erweiterung der Auseinandersetzungen um die »Internationalisierung des Staates« vor: Von Interesse ist nicht mehr allein »der Maßstab als solcher […], sondern die Prozesse, durch die diese Maßstabsebenen produziert werden«.29 Anstatt von einem Raum »an sich« auszugehen, wird nun auf die Verräumlichung sozialer Verhältnisse, das heißt auf die gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Einrichtung des sozialen Raums fokussiert. Es geht darum »zu zeigen, wie, von wem und zu welchem Zweck räumliche Maßstabsebenen durch soziale Praxis produziert und/oder strategisch eingesetzt werden«.30 Der staatstheoretische Gewinn der scale-Debatte liegt zweifelsohne darin, die »ontologische Fixierung auf den Nationalstaat«31 aus einer herrschaftskritischen Perspektive zugunsten einer multiskalaren, prozessorientierten Sichtweise auf Staatlichkeit überwinden zu

27

28

29

30

31

Bob Jessop/Neil Brenner/Martin Jones: »Theorizing Sociospatial Relations«, in: Environment and Plannung D: Society and Space 26 (2008), Heft 3, S. 389–401, hier S. 389. Markus Wissen, Rescaling und territoriale Fragmentierung. Zu den räumlichen Dimensionen der Transformation kapitalistischer Gesellschaften. Wien: Paper für die gemeinsame Tagung »Kapitalismustheorien« von ÖGPW und DVPW, Sektion Politik und Ökonomie, 24. und 25. April 2009, 1–2. Christian Schmid, »Raum und Regulation. Henri Lefebvre und der Regulationsansatz«, in: Ulrich Brand/Werner Raza (Hg.): Fit für den Postfordismus? Theoretisch-politische Perspektiven des Regulationsansatzes, Münster 2003, S. 217–242, hier: S. 222. Bernd Belina, »Skalare Praxis«, in: Wissen/Röttger/Heeg (Hg.), Politics of Scale, S. 106–123, hier: S. 113. Christian Schmid, Raum und Regulation, S. 233.

240

können. Von einem solchen Standpunkt her lässt sich die Räumlichkeit des Staates nicht vorab theoretisch festlegen, sondern muss als »geschichtliche Fundsache«32 aus den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Hegemonie erklärt werden. In der gegenwärtigen Situation bedeutet dies, dass weitreichende Verlagerungen von Funktionen, die im Fordismus von Nationalstaaten organisiert wurden, auf Ebenen ober- und unterhalb des Nationalstaates zu konstatieren sind.33 Dieser Befund darf jedoch nicht im Sinne einer vollkommenen De-Territorialisierung des Staates missverstanden werden. Bei Territorialität handelt es sich aufgrund der dem Kapitalismus inhärenten Widersprüchlichkeit nicht um ein beliebiges Merkmal staatlicher Regulation. Das territorial organisierte Staatensystem ist vielmehr struktureller Ausdruck dieser Widersprüche.34 Vonnöten ist daher eine »interpretation of contemporary global restructuring as a contradictory process of reterritorialization and rescaling«.35

Die räumliche Redimensionierung des Staates als »state spatial project« Wie oben angedeutet, muss die – zunächst nur abstrakt-logische – Besonderung des Staates als politische Form stets durch konkrete politische Projekte und Staatsprojekte ins Werk gesetzt werden. Gleiches gilt auch für die räumliche Ausprägung des Staates. Die territorialen Ein- und Ausschlussprozesse sowie das Verhältnis staatlicher Apparate und Institutionen über verschiedene scales hinweg sind weder vorgesellschaftliche Tatsachen noch ein für alle Mal fixiert, sondern abhängig von ihrer Realisierung durch raumwirksame politische Strategien. In Anlehnung an den Begriff des Staatspro32 33

34

35

Lipietz, Akkumulation, Krise und Auswege aus der Krise, S. 114. Beispiele hierfür sind auf supranationaler Ebene die Welthandelsorganisation und auf subnationaler Ebene die mit größerer Autonomie ausgestatteten Regionen und Städte. Vgl. Hirsch, Materialistische Staatstheorie, S. 59; Bernd Belina, »Kapitalismus, Raum und Staatensystem in der Kritischen Geography«, in: Tobias ten Brink (Hg.), Globale Rivalitäten. Staat und Staatensystem im globalen Kapitalismus, Stuttgart 2011, S. 87–104; Bob Jessop, Kapitalismus, Regulation, Staat. Ausgewählte Schriften, Hamburg 2007, S. 251–253; Brenner, New State Spaces, S. 92. Brenner, New State Spaces, S. 30.

241

jekts lässt sich mit dem Geografen Neil Brenner36 daher von »state spatial projects« sprechen, die die gesellschaftlichen Akteure in den Kämpfen um Hegemonie verfolgen müssen, um den räumlichen Zusammenhang des Staates entsprechend ihren Interessen sicherzustellen: »Whereas territoriality represents the underlying geographical terrain in which state action occurs, its coherence as a framework of political regulation can be secured only through state spatial projects that differentiate state activities among different levels of territorial administration and coordinate state policies among diverse locations and scales. State spatial projects thus represent initiatives to differentiate state territoriality into a partitioned, functionally coordinated, and organizationally coherent regulatory geography.«37 »State spatial projects« zielen also auf die Räumlichkeit der staatlichen Apparate und Institutionen. Mit dem Begriff der »state spatial strategies« verweist Brenner darüber hinaus darauf, dass der Staat selbst zentraler Akteur in der Ausgestaltung der Geografien der Akkumulation und Regulation ist. Auch die raumwirksamen Politiken des Staates sind dabei – wie alle anderen staatlichen Politiken – Resultat des konfliktiven Zusammenspiels der ›state spatial strategies‹ unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure: »For, just as state institutions play a central role in the elaboration of accumulation strategies and hegemonic projects, so too do they intervene extensively to reshape the geographies of capital accumulation and political struggle. However, state capacities to engage in these forms of spatial intervention, and thus to establish a ›structured coherence‹ for capitalist growth within national, regional, and local economies […], can emerge only through the successful mobilization of state spatial strategies.«38 Die Auseinandersetzungen um die Geografie des Staates erfolgen jedoch nicht in einem voraussetzungslosen Raum. Menschen machen ihre Geschichte stets »unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen«39. Dies gilt für die Produk36 37 38 39

Ebenda. Ebenda, S. 92. Ebenda, S. 93. Karl Marx, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, in: ders./Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, Berlin 1972, S. 115.

242

tion des politischen Raums nicht weniger als für jeden anderen aktiv-schöpferischen Prozess. In dieser Hinsicht sind Akteure in der Verfolgung ihrer räumlichen Strategien innerhalb »inherited regulatory landscapes«40 verortet. In solche landscapes sind aufgrund vorangegangener Konflikte um die Konstitution des politischen Raums spezifische »räumliche Selektivitäten« eingelagert, die bestimmten Gebieten und scales eine hervorgehobene Bedeutung für die Auseinandersetzungen um Herrschaft und für entsprechende Kompromissbildungsprozesse zuweisen. Die »räumlichen Selektivitäten« determinieren die Konflikte und Strategien zwar nicht, implizieren aber eine Pfadabhängigkeit.41

Die Multiskalierung von Staatlichkeit in der EU Welche Aussagen lassen sich auf der Grundlage einer raumtheoretisch erweiterten materialistischen Staatstheorie über die Europäische Union und ihren Raum treffen? Wie hat der europäische Integrationsprozess die räumliche Dimension des Staates und politischer Herrschaft verändert? Wir stellen diese Frage zu einem Zeitpunkt, in dem die EU in einer tiefen Krise steckt, die auch ihre bisherige räumliche Ordnung hat fragwürdig werden lassen. Ob aus der Krise eine Vertiefung der Integration folgen oder ob es im Gegenteil zu einer Renationalisierung von Politik und Ökonomie kommen wird, lässt sich momentan kaum beantworten. Was aber bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt geleistet werden kann, ist eine Analyse der »inherited regulatory landscapes«, innerhalb deren sich die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um diese Frage vollziehen.

Das fordistische Staatsprojekt … In den 1950er Jahren erwuchs aus den Ruinen der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre und der beiden Weltkriege mit dem Fordismus eine neue Gesellschaftsformation. Vor allem in den Ländern des kapitalistischen Zentrums (USA , Westeuropa, Japan) gelang es, durch 40 41

Brenner, New State Spaces, S. 72. Jessop/Brenner/Jones, Theorizing sociospatial relations, S. 395.

243

die Kopplung von fordistisch-tayloristischer Massenproduktion und einer durch relativ hohe Löhne finanzierten Massenkonsumption der Kapitalakkumulation neue Impulse zu verleihen und so die immanente Krisenhaftigkeit des Kapitalismus für einige Jahre zu stabilisieren. Sowohl die Akkumulationsstrategien als auch die Art und Weise der gesellschaftlichen Regulation bezogen sich dabei vornehmlich auf den Nationalstaat. Die Wertschöpfung fand in stark eigenzentrierten nationalen Volkswirtschaften statt, deren Akteure in ein Netz staatlicher Regulation eingespannt waren, das ebenfalls im nationalstaatlichen Rahmen formuliert und durchgesetzt wurde.42 Der auf Ausgleich und Harmonisierung sozialer Unterschiede zielende keynesianische Politikmodus war dabei auch handlungsanleitend für die »state spatial strategies«: »Verallgemeinert lässt sich die räumliche Strategie im Fordismus auf die Formel bringen, eine ›Gleichheit im Raum‹ herzustellen und einen homogenisierten nationalen Raum zu schaffen.«43 Brenner spricht daher auch vom »spatial keynesianism«.44 Doch obgleich der Fordismus vor allem auf einer »inneren Landnahme«45 beruhte, handelte es sich bei den fordistischen Nationalstaaten nicht um nach außen klar abgegrenzte Räume. Die einzelnen Nationalstaaten waren auch im Fordismus in einen Weltmarktzusammenhang und in ein internationales Staatensystem eingebunden.46 Bei den räumlichen Transformationsprozessen des Kapitalismus nach der Krise des Fordismus handelt es sich insofern nicht 42

43 44 45

46

Mit dem Begriff des Fordismus wird ein Akkumulations- und Regulationsmuster beschrieben, das in den jeweiligen nationalen Ausprägungen deutliche Unterschiede aufgewiesen hat.Wenn beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland schon im Fordismus über einen starken Exportsektor verfügte, nahm auch hier die Erschließung des Binnenmarktes eine wichtige Stellung ein. Schmid, Raum und Regulation, S. 238. Brenner, New State Spaces, S. 114–116. Burkhardt Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt/ New York 1984. Vgl. Poulantzas, Staatstheorie; Joachim Hirsch, »Internationale Regulation. Bedingungen von Dominanz, Abhängigkeit, und Entwicklung im globalen Kapitalismus«, in: Das Argument 198 (1993), S. 195–222; Alain Lipietz, Mirages and Miracles. The Crisis of Global Fordism, London 1987; Michel Aglietta, »Die gegenwärtigen Grundzüge der Internationalisierung des Kapitals. Die Wertproblematik«, in: Christian Deubner u. a. (Hg.): Die Internationalisierung des Kapitals, Frankfurt/New York 1979, S. 70–124.

244

um eine qualitativ vollkommen neue Entwicklung, vielmehr sind sie Ausdruck einer Intensivierung und Aufwertung von Strategien, die über den Nationalstaat hinausgehen. Das Projekt der westeuropäischen Integration stand in seinen Anfängen vor allem im Zeichen sicherheitspolitischer Überlegungen.47 In der Folge begann sich unter den europäischen Eliten jedoch zunehmend eine stärker ökonomisch geprägte Sichtweise durchzusetzen, die in der Schaffung eines von Zöllen und mengenmäßigen Beschränkungen befreiten gemeinsamen Marktes die Möglichkeit sah, die bisherige Dominanz der USA auf dem Weltmarkt herauszufordern. Durch »größere Produktionseinheiten, größere Kapitalballungen, größere Rationalität in der Auswahl von Produktionsstätten und der Transportmittel«48 sollte die fordistische Erfolgsformel »Massenproduktion plus Massenkonsumption gleich Prosperität« auf erhöhter Stufe realisiert und so die Position Europas in den internationalen Konkurrenzverhältnissen verbessert werden.49 Trotz erster Vergemeinschaftungsschritte, die auch die Schaffung supranationaler Institutionen auf europäischer Ebene umfassten,50 waren es nach wie vor die Nationalstaaten, die die zentralen Einheiten der Europäischen Integration bildeten. Es handelte sich »weniger um die Übertragung staatlicher Souveränitätsrechte auf die supranationale Ebene, als vielmehr um eine partielle, funktional definierte, d.h. auf Stabilität, Friedenssicherung und Wohlfahrtssteigerung hin ausgerichtete Zusammenlegung (pooling) nationalstaat-

47

48 49

50

Vgl. Ingeborg Tömmel, Das politische System der Europäischen Union, München/Wien 2008, S. 15; Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf, Konkurrenz für das Empire. Die Zukunft der Europäischen Union in der globalisierten Welt, Münster 2007, S. 55. Ernest Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorie, Frankfurt am Main 1968, S. 41. Vgl. Hans-Jürgen Bieling, Die Globalisierungs- und Weltordnungspolitik der Europäischen Union, Wiesbaden 2010, S. 66; Albert Statz, »Die Entwicklung der westeuropäischen Integration – ein Problemaufriß«, in: Frank Deppe/Jörg Huffschmid/Laus-Peter Weiner (Hg.), 1992 – Projekt Europa. Politik und Ökonomie in der Europäischen Gemeinschaft, Köln 1989, S. 15. So wurden im Rahmen der »Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl« (EGKS ) eine Hohe Behörde, ein Ministerrat sowie ein Gerichtshof ins Leben gerufen.

245

licher Souveränität«.51 Die Orientierung in Richtung Europa bildete (noch) kein Gegenprojekt zu nationalstaatlich zentrierten state spatial strategies, sondern wurde als erfolgversprechende räumliche Strategie zu deren Absicherung in der sich verschärfenden Weltmarktkonkurrenz verfolgt.52

… in der Krise Mit der in den 1970er Jahren ausbrechenden Wirtschaftskrise erfuhren die nationalen Staatsprojekte zunächst eine weitere Stärkung. Die Forcierung makroökonomischer und nachfrageorientierter Politiken im nationalstaatlichen Rahmen, die Verstärkung binnenprotektionistischer Maßnahmen und die Beschränkung des freien Kapitalverkehrs bildeten die zentralen Dimensionen einer Krisenbearbeitungsstrategie, die sich negativ auf den Integrationsprozess auswirkte und die europäischen Institutionen schwächte.53 Die Maßnahmen waren kaum koordiniert und zum Teil widersprüchlich und konnten an der grundsätzlichen Problematik der Erschöpfung der fordistisch-tayloristischen Produktivitätsreserven nichts ändern.54 Anstatt zu einer neuerlichen Dynamisierung der Kapitalakkumulation kam es zu einem allgemeinen Produktivitäts- und Wachstumsrückgang.55 Dies führte in der Konsequenz dazu, dass die Fundamente des fordistischen national-sozialen Staats (Etat national social)56 untergraben wurden und die Voraussetzungen für eine keynesianische Krisenintervention zunehmend erodierten.57

51 52 53 54

55

56 57

Bieling, Die Globalisierungs- und Weltordnungspolitik, S. 61. Ziltener, Strukturwandel, S. 126; Tömmel, Das politische System der EU , S. 124. Tömmel, Das politische System der EU , S. 23. Vgl. Ziltener, Strukturwandel, S. 125; Hirsch, Materialistische Staatstheorie, S. 124–125. »Der institutionalisierte sozialstaatliche Verteilungsmechanismus und die strukturkonservativen Subventionspolitiken der monopolistischen Regulation konnten nicht mehr aus starken Sozialproduktzuwächsen finanziert werden und erzeugten damit ihrerseits einen zusätzlichen und immer mehr wachsenden Druck auf den Kapitalprofit«, Hirsch, Materialistische Staatstheorie, S. 125. Etienne Balibar, Gleichfreiheit, Berlin 2012. Ingo Stützle, Austerität als politisches Projekt, Münster 2013, S. 163–166.

246

Die EU als multiskalares Staatsapparate-Ensemble Aus dieser Konstellation heraus wurde der fordistische nationalsoziale Staat in den 1970er Jahren zum zentralen Angriffsziel, insbesondere von konservativen und neoliberalen Akteuren.58 Neben einer Kritik an den tradierten wohlfahrtsstaatlichen Mustern der Regulation setzte sich unter den politischen und ökonomischen Eliten zudem zunehmend die Ansicht durch, dass es angesichts der gescheiterten nationalen Krisenlösungsstrategien einer stärkeren Verankerung von polit-ökonomischen Prozessen auf der europäischen Ebene bedürfe. In den aufbrechenden Auseinandersetzungen um die Neugestaltung Europas59 gelang es schließlich dem neoliberalen Projekt, sich mit seinen auf Deregulierung, Liberalisierung und Internationalisierung basierenden Vorstellungen durchzusetzen. Dabei zeigten sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und staatlichen Apparate auf den nationalen scales vieler Länder jedoch zunächst als durchaus widerständig gegenüber den neoliberalen Angriffen, da sie noch immer stark von den fordistischen Kompromisskonstellationen geprägt waren. Demgegenüber verfügte die EG (EU ) mit ihrer lediglich schwachen institutionellen Ausprägung, dem Fehlen einer gefestigten Zivilgesellschaft sowie der Dominanz ressourcenstarker Akteure über eine für das neoliberale Projekt wesentlich günstigere strategische Selektivität.60 Die Strategien des neoliberalen Hegemonieprojekts zielten daher zunehmend auf den europäischen scale, um »die nationalen Kapitalismusmodelle einem intensivierten Disziplinierungs- und Wettbewerbsdruck auszusetzen«.61 Mit der Einführung des Europäischen Währungssystems Ende der 1970er Jahre, der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA ) im Jahr 1987 und der Formulierung des Projekts eines gemeinsamen Binnenmarktes (Projekt »Europa 1992«) gelang es dem neoliberalen Hegemonieprojekt, zentrale politische Projekte

58

59 60 61

Vgl. John Kannankulam, Autoritärer Etatismus im Neoliberalismus, Münster 2008; Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013. Ausführlich siehe van Apeldoorn, Transnational Capitalism. Zum Begriff der strategischen Selektivität siehe: Jessop, State Theory, S. 260. Bieling, Die Globalisierungs- und Weltordnungspolitik, S. 88.

247

durchzusetzen62. Über den Einstieg in die erste Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU ) zum 1. Juli 1990 sowie die Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht im Jahre 1992 erfolgte schließlich die institutionelle Festschreibung der neoliberalen Regulationsweise, in der Marktliberalisierung und Wettbewerb die grundlegenden Fixpunkte staatlichen Handelns sind. Mit dieser wettbewerbsstaatlichen Ausrichtung des europäischen Integrationsprozesses hat sich ein »neuer Konstitutionalismus« herausgebildet, der darauf zielt, »die Eigentumsrechte und Freiheiten der Investoren zu sichern und den Staat und die Arbeit unter die Disziplin des Marktes zu unterwerfen«.63 Die strukturellen Umbrüche, die der europäische Integrationsprozess durch die Abkehr von fordistischen Regulationsmodi zugunsten des neoliberalen Paradigmas erfuhr, haben zu einer tiefgreifenden Rekonfiguration der räumlichen Ausgestaltung von Staatlichkeit in der Europäischen Union geführt. Diese zeichnet sich zum einen dadurch aus, dass sich politökonomische Prozesse weit über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus ausgedehnt haben. Durch die Neujustierung der state spatial projects und – in deren Folge – der state spatial strategies ist eine neue europäische Territorialität entstanden, die durch eigene Einschluss- (Unionsbürgerschaft) und Ausschlussmechanismen64 (Europäische Migrationspolitik: Frontex, Dublin II und III ) konstituiert wird. Bei dieser Entwicklung handelt es sich jedoch nicht um die Herausbildung eines neuen homogenen, den nationalen Territorien vergleichbaren Raums. Zielte der spatial keynesianism der Vorkrisenzeit noch auf eine Harmonisierung unterschiedlicher Entwicklungen im nationalstaatlichen Raum, so wird räumliche Fragmentierung in der neuen Raumökonomie der EU nicht länger ausschließlich als Problem definiert, sondern als produktives Moment und Voraussetzung für

62

63

64

Vgl. Hans-Jürgen Bieling, »Staat, Zivilgesellschaft und New Governance in der Europäischen Union«, in: Kurswechsel (2001), Heft 3, S. 26–35. Stephen Gill, »Theoretische Grundlagen einer neo-gramscianischen Analyse der europäischen Integration«, in: Hans-Jürgen Bieling/Jochen Steinhilber (Hg.), Die Konfiguration Europas, Münster 2000, S. 23–50, hier S. 44. Zur europäischen Grenz- und Migrationspolitik siehe Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.), Kämpfe um Migrationspolitik. Theorie, Methode und Analyse kritischer Europaforschung, Bielefeld 2014.

248

ökonomischen Wettbewerb. Es entsteht kein kohärenter europäischer Staat, sondern ein fragmentiertes multiskalares StaatsapparateEnsemble, das sich durch das kooperativ-kompetitive Zusammenspiel unterschiedlicher räumlicher Maßstabsebenen auszeichnet. Auf der europäischen Ebene sind genuin supranationale Apparate entstanden (Kommission, EZB , ungezählte Agenturen), die zwar eine partielle Eigenständigkeit herausgebildet haben, dennoch aber auf vielfältige Weise mit nationalstaatlichen Apparaten verknüpft bleiben. Die Mitgliedstaaten behalten damit auch im europäischen Staatsapparate-Ensemble eine hervorgehobene Stellung. Neben der Bedeutung, die den nationalen Regierungen und Apparaten im formalen Prozess des Agenda-Settings und der Politikformulierung zukommt, liegt dies nicht zuletzt darin begründet, dass die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sowie das Gewaltmonopol nach wie vor maßgeblich auf den nationalen scales verortet sind. Gleichzeitig haben sich jedoch auch die Strukturen und der Aufbau der Mitgliedstaaten durch die Entstehung eines Ensembles europaweit vernetzter Apparate unter wettbewerbsstaatlichen Vorzeichen verändert. Während die Staatsapparate, die den fordistischen Klassenkompromiss repräsentieren (Sozial-, Arbeits- und Wirtschaftsministerien), an Bedeutung verloren haben, sind jene, die enger mit dem internationalen Kapital verbunden sind (etwa Finanzministerien und Zentralbanken) aufgestiegen.65 So erfolgt die europäische Integration letztlich durch die Nationalstaaten hindurch, die wiederum eine innere Europäisierung erfahren haben und sich daher in spezifischer Weise um die wettbewerbsorientierte Neudefinition des europäischen Projekts herum ausrichten. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die räumliche Ausgestaltung des europäischen Staatsprojektes seit den 1970er Jahren im Wesentlichen Ergebnis des state spatial project des neoliberalen Projekts ist. Anders als dem von der Europäischen Kommission unter Jaques Delors verfolgten »supranationalen sozial-demokratischen Projekt«66 ging es diesem nicht um die Errichtung von europäischen Apparaten mit weitreichenden regulatorischen und redis65

66

Leo Panitch/Sam Gindin, »American Imperialism and Eurocapitalism: The Making of Neoliberal Globalization«, in: Studies in Political Economy (2003/2004), Heft 71/72, S. 7–38, hier: S. 11. Vgl. van Apeldoorn, Transnational Capitalism, S. 79–81.

249

tributiven Kompetenzen, sondern um die Beschränkung auf einen überwiegend negativen Modus der Integration. Dieser hat nachhaltige Folgen für die politökonomische Regulation: Da die positive Integration für das neoliberale Projekt »nur insofern akzeptabel ist, als sie marktschaffenden Zwecken dient«.67 bleiben redistributive Sozialpolitiken weiterhin nationalstaatlich organisiert und sind somit einem massiven Anpassungsdruck ausgesetzt.68 In der Konsequenz kommt »ein kompetitiver Reorganisationsprozess zum Tragen, der in einer […] mehr oder minder ausgeprägten wettbewerbsorientierten Neudefinition der staatlichen und tarifpolitischen Umverteilungspolitik besteht«.69 Überdies lässt sich ein autoritär-etatistischer Umbau70 feststellen, der sich in einer Schwächung der Parlamente gegenüber der Exekutive beziehungsweise in einer tendenziellen Verschmelzung von Legislative, Exekutive und Judikative sowie in einem Bedeutungsverlust der Parteien zugunsten des »Wachstum[s] paralleler Machtnetzwerke«71 ausdrückt. Die räumlich ausdifferenzierte Form neoliberaler Staatlichkeit bietet dadurch die Möglichkeit, demokratische Prozesse und gesellschaftliche Widerstände durch entsprechende skalare Strategien zu umgehen.

Krisenmanagement im multiskalaren Staatsapparate-Ensemble Seit 2010 ist die Europäische Union zu einem Brennpunkt der globalen Wirtschaftskrise geworden. Anders als es zunächst den Anschein erweckte, führte die Weltwirtschaftskrise in Europa bisher aber nicht zu einer ernsthaften Infragestellung des neoliberalen Paradigmas. Begünstigt durch die inherited regulatory landscapes des multiskalaren europäischen Staatsapparate-Ensembles, ist es den

67

68 69 70 71

Fritz Scharpf, »Negative und positive Integration«, in: Martin Höpner/Armin Schäfer (Hg.), Die politische Ökonomie der europäischen Integration, Frankfurt/New York 2008, S. 49–99, hier S. 51. Vgl. ebenda. Bieling, Die Globalisierungs- und Weltordnungspolitik, S. 92. Vgl. Poulantzas, Staatstheorie, S. 231–277. Bob Jessop, »Kapitalistischer Staatstyp und autoritärer Etatismus«, in: Bretthauer u. a. (Hg.): Poulantzas lesen, S. 48–64, hier: S. 56–57.

250

neoliberalen Akteuren vielmehr gelungen, eine weitere Radikalisierung sowohl der wettbewerbsstaatlichen Regulationsweise als auch autoritär-etatistischer Politikformen durchzusetzen.72 Im Rahmen des sogenannten Sixpack wurde der bereits existierende Stabilitäts- und Wachstumspakt durch weitere präventive und korrektive Regelungen umgebaut. Im Kern geht es um eine Stärkung der Europäischen Kommission und eine Intensivierung des Sparzwanges durch zusätzliche Sanktionen.73 So wurde zum einen die Defizitgrenze von 3 Prozent des nationalen Bruttoinlandsproduktes (BIP ) auf 0,5 Prozent herabgesetzt und die Schuldenobergrenze auf 60 Prozent des BIP festgelegt.74 Der Fiskalpakt verpflichtet die Mitgliedstaaten (Tschechien und Großbritannien beteiligen sich nicht), die Schuldenbremse in ihren Verfassungen zu verankern. In eine ähnliche Richtung weist das eingeführte Europäische Semester. Es verbindet Maßnahmen der Koordination und Überwachung der Haushalts- und Wirtschaftspolitik mit einem auf Wettbewerbsfähigkeit ausgerichteten Umbau im Rahmen des Euro-Plus-Paktes. Die Europäische Kommission und der ECOFIN Rat werden dazu mit weitgehenden Eingriffsrechten in die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten ausgestattet.75 Mit der Einführung der makroökonomischen Überwachung sollen übermäßige Ungleichgewichte in den Mitgliedstaaten frühzeitig erkannt und durch »Vorgaben für wirtschaftspolitische Maßnahmen von europäischer Seite mit ebenfalls quasi-automatischen Sanktionen für Euroländer im Falle des Abweichens« bekämpft werden.76 Die Definition darüber, was ein Ungleichgewicht ist und durch welche Maßnahmen es zu beseitigen ist, liegt bei der neoliberal dominierten Generaldirektion Wirtschaft

72

73 74

75 76

Vgl. Elisabeth Klatzer/Christa Schlager, »Genderdimensionen der neuen EU Economic Governance«, in: Kurswechsel (2012), Heft 1, S. 23–35; Stützle, Austeritätspolitik; Lukas Oberndorfer, »Vom neuen, über den autoritären, zum progressiven Konstitutionalismus? Pakt für Wettbewerbsfähigkeit und die europäische Demokratie«, in: Juridikum (2013), Heft 1, S. 76–86. Klatzer/Schlager, Genderdimensionen, S. 26. Frederic Heine/Thomas Sablowski, »Internationale Politik. Die Europapolitik des deutschen Machtblocks und ihre Widersprüche«, RLS Studien Europapolitik, September 2013, S. 16. Ebenda. Klatzer/Schlager, Genderdimensionen, S. 26.

251

und Finanzen.77 Der neue Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM ) wurde als permanenter und eigenständig institutionalisierter Mechanismus eingeführt. Durch ihn wird es möglich, Finanzhilfen an Mitgliedstaaten zu vergeben, wobei deren Erhalt an die Umsetzung von massiven makroökonomischen Anpassungen gekoppelt ist. »Eurozonen-FinanzminsterInnen haben den Vertrag verhandelt und sich selbst in entscheidende Positionen innerhalb des ESM gesetzt. Problematisch ist, dass der ESM strukturell so beschaffen ist, dass er völlig intransparent und abgeschottet von demokratischen Institutionen handeln kann. Der ESM arbeitet eng mit dem Internationalen Währungsfond (IWF ) und der Europäischen Zentralbank (EZB ) zusammen, das Europäische Parlament (EP ) bleibt ausgeschlossen.«78 Das europäische Krisenmanagement hat bisher zu einer Übertragung zentraler Aufgaben der Haushalts- und Wirtschaftspolitik an demokratisch nicht legitimierte Institutionen geführt. Insbesondere die Souveränität all jener Staaten, die sich unter den Rettungsschirm begeben mussten, wurde damit in zentralen Bereichen aufgehoben. Erheblich aufgewertet wurde demgegenüber die Position der Europäischen Kommission, vor allem der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen. Im europäischen Staatsapparate-Ensemble kommt es derzeit zu einer »massiven Aufwertung der Exekutivapparate«,79 die mit Beschluss- und Sanktionskompetenzen ausgestattet werden. Angesichts dieser Entwicklungen spricht Lukas Oberndorfer von der Entstehung eines »autoritären Wettbewerbsetatismus«,80 der sich mit den Kriseninterventionen in Europa durchzusetzen beginnt. Dieser unterscheidet sich vom »neuen Konstitutionalismus« dadurch, dass nicht mehr nur ein rechtlicher Rahmen zu konstitutionellen Verankerung neoliberaler Politik geschaffen wird, sondern, dass nunmehr »mit Elementen formaler Demokratie« gebrochen wird.81 Die zentralen Bausteine der Krisenpolitik – economic governance und Fiskalpakt – haben »keine Rechtsgrundlage in der 77 78 79

80 81

Ebenda. Ebenda, S. 27. Oberndorfer, Vom neuen, über den autoritären, zum progressiven Konstitutionalismus?, S. 78. Ebenda. Ebenda, S. 77.

252

›europäischen Verfassung‹ […] und [konnten] nur durch Umgehung des ordentlichen Vertragsänderungsverfahren (Art 48 EUV ) errichtet werden«.82 Neben der nach wie vor ungebrochenen Vorherrschaft des neoliberalen Paradigmas verdeutlicht das Krisenmanagement der EU , dass sich die neoliberalen Akteure auch in der aktuellen Krise mit ihren Strategien in zentraler Weise auf die europäische Maßstabsebene beziehen. Ihre dominante Stellung innerhalb des europäischen Staatsapparate-Ensembles ermöglicht ihnen die Formulierung und Umsetzung spezifischer state spatial strategies, die auf eine weitere Stärkung der europäischen Apparate hinauslaufen, um so den seit den 1970er Jahren kontinuierlich aufgebauten wettbewerbsstaatlichen Anpassungsdruck weiter zu erhöhen. Zum Ausdruck kommt hierin aber keine einseitige Aufwertung der europäischen Ebene auf Kosten der Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten. Vielmehr wird das europäische Staatsprojekt auch durch die Nationalstaaten hindurch ins Werk gesetzt.83 Insbesondere Deutschland ist dabei zum Ankerpunkt für die neoliberalen Strategien geworden. Anstatt eines generellen Souveränitätsverlusts der Nationalstaaten muss daher gegenwärtig eine weitere Fragmentierung des europäischen Staatsapparate-Ensembles konstatiert werden. In diesem Prozess werden die südlichen Mitgliedstaaten der EU zu Transmissionsriemen europäischer Vorgaben degradiert, während es anderen Staaten (vor allem Deutschland) gelingt, ihren Einfluss auf den europäischen Politikformulierungsprozess auszubauen und die eigene Position im europäischen Kräfteverhältnis aufzuwerten. 82

83

Ebenda; siehe auch: Andreas Fischer-Lescano, »Austeritätspolitik und Menschenrechte. Rechtspflichten der Unionsorgane beim Abschluss von Memoranda of Understanding«. Rechtsgutachten im Auftrag der Kammer für Arbeiter/innen und Angestellte für Wien, Zentrum für europäische Rechtspolitik (ZERP ), Bremen 2013. In der Krise ist es dem transnationalisierten deutschen Kapital gelungen, die Führungsposition innerhalb des europäischen Machtblocks zu übernehmen. Der immer wieder erhobene Vorwurf, Deutschland saniere sich auf Kosten seiner europäischen Partner, stimmt daher nur bedingt. Mit ihrer Politik verfolgt die deutsche Bundesregierung nicht nur genuin nationale Interessen; in ihrer Politik verdichten sich vielmehr auch die Strategien transnationalisierter europäischer Kapitalfraktionen.

253

Offensichtlich wird am europäischen Krisenmanagement so, dass die Raumstruktur des multiskalaren europäischen StaatsapparateEnsembles eine strategische Selektivität aufweist, die für das neoliberale Hegemonieprojekt höchst vorteilhaft ist: Sie ermöglicht es ihnen, sich mit ihren Strategien auf unterschiedliche scales zu beziehen, um so etwaige auftretende Widerstände gegen ihre Politik zu umgehen. Dieses Vorgehen mag sich kurz- und mittelfristig durchaus stabilisierend auf die unmittelbare ökonomische Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit der EU auswirken; seine Kehrseite besteht aber in einer weiteren Vertiefung von sozialer und räumlicher Ungleichheit und einer zunehmenden Entdemokratisierung.

Demokratisierung im multiskalaren Staatsapparate-Ensemble Die beschriebenen Entwicklungen sind das Ergebnis kontingenter gesellschaftlicher Entwicklungen, in denen sich die Kräfteverhältnisse zuungunsten der Subalternen verschoben haben. Die strategische Selektivität des multiskalaren europäischen Staatsapparate-Ensembles stellt sich als ausgesprochen ungünstiges Terrain für gegenhegemoniale Bewegungen dar, die auf eine Demokratisierung der EU zielen. Es ist daher kein Zufall, dass das Projekt des Sozialen Europa bisher kaum Fortschritte gemacht hat. Akteure die auf Demokratisierung und Umverteilung zielen, müssen sich gleichwohl, so unsere These, auf Grund der veränderten Konstellation global, mindestens aber europäisch organisieren. Ansätze hierzu sind beispielsweise in der Occupy- und Blockupybewegung zu beobachten. National isolierte gesellschaftliche Kämpfe können, das zeigen auch die bisherigen Auseinandersetzungen um die Kosten der Krise, innerhalb der Struktur des europäischen Staatsapparate-Ensembles leicht ausgehebelt werden. Eine Bewegung gegen die Austeritätspolitiken muss also den europäischen Zusammenhang herstellen und verdeutlichen, dass die Kämpfe gegen die Sparpolitik in Griechenland, Italien, Portugal und Spanien auch darüber entscheiden, welche Ausgangslage zukünftige Kämpfe in den Ländern des Nordens haben. Hierfür ist eine gemeinsame Kriseninterpretation ebenso nötig, wie ein gemeinsames Vorgehen gegen die immer massiver werdenden Angriffe auf soziale und demokratische Rechte. 254

Monika Eigmüller

Die Entwicklung des europäischen Rechtsraums als sozialpolitischer Anspruchsraum: Raumdimensionen der EU -Sozialpolitik 1 1

Mit Aufkommen eines modernen Verständnisses der Entwicklungs- und Veränderungsfähigkeit von Mensch und Gesellschaft wandelte sich auch das Verständnis sozialer Notlagen. Wenngleich schon in vormodernen gesellschaftlichen Konstellationen soziale Fragen formuliert und den jeweiligen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen entsprechende Lösungen gesucht worden waren, brachte die »Soziale Frage«, so wie sie im Zuge der Aufklärung in Westeuropa aufkam, ein gewandeltes Gesellschaftsverständnis zum Ausdruck: Nicht mehr das Individuum, sondern die Gesellschaft und die in ihr herrschenden Missstände wurden nun als Ursachen sozialer Probleme benannt. Seither sind Lösungen der Sozialen Frage in der Gesellschaft selbst gesucht und soziale Missstände zum Gegenstand politischer Intervention gemacht worden. »Der Beginn der Entwicklung der europäischen Sozialstaaten ist daher auch ein Ergebnis der Aufklärung und steht am Ende der bürgerlichen Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts. […] Denn erst im Kontext der im Rahmen der bürgerlichen Revolution formulierten Rechte auf Freiheit, Gleichheit, Fortschritt und Eigentum rückt die ›Soziale Frage‹ ins Zentrum der politischen Debatten.«2 Der der bürgerlichen Gesellschaft inhärente Widerspruch zwischen individuellen Eigentumsrechten und kollektiven Schutzrechten fand somit seine, zumindest vorübergehende Zähmung in 1

2

Vielen Dank Nikola Tietze und Ulrike Jureit für vielerlei hilfreiche Anmerkungen! Thomas Geisen, »Sozialstaat in der Moderne. Zur Entstehung sozialer Sicherungssysteme in Europa«, in: Katrin Kraus/Thomas Geisen (Hg.), Sozialstaat in Europa: Geschichte, Entwicklung, Perspektiven, Wiesbaden 2001, S. 21–42, hier S. 23.

255

der Schaffung des modernen, am Prinzip der Lohnarbeit ausgerichteten, Sozialstaats. Die Konzeption dieses Sozialstaats war von Beginn an mit der Durchsetzung der nationalen Form von Staatlichkeit verbunden und orientierte sich am Territorialitätsprinzip, womit die vorherige funktionale Logik sozialpolitischer Intervention ihre Ablösung erfuhr. Erst die territorial abgebildete Nation schuf »den Rahmen zur Organisierung sozialer Solidarität«3 und gab der bürgerlichen Gesellschaft ihre politische Form: »Statt einer politischen Gemeinschaft, die ihren Mitgliedern die Freiheits- sowie die politischen und sozialen Gleichheitsrechte gewährleistet, entsteht im ausgehenden 18. Jahrhundert die Nation als neue politische Form, die sich auf der Grundlage von Zugehörigkeit und Abgrenzung konstituiert. Die Teilhabe an der nationalen Gemeinschaft wird nun an die definitive, dokumentierte Zugehörigkeit zur Nation geknüpft.«4 Doch liefert erst die Konzeption des Sozialstaats hierfür die notwendige materielle Basis, indem sie einen gewissen materiellen Ausgleich divergierender Klasseninteressen innerhalb der Nation verspricht. Die Konstituierung sozialer Bürgerrechte als individuelle Anspruchsrechte materialisiert gewissermaßen die Zugehörigkeit zur Nation und lässt den territorialen Nationalstaat als einen nationalen Mitgliedschaftsraum aufscheinen.5 Wie von Thomas H. Marschall so treffend beschrieben, waren es neben den bürgerlichen und politischen Rechten vor allem soziale Rechte, die sich als konstitutiv für die Entwicklung moderner Staatsbürgerschaft in den nationalen Mitgliedschaftsräumen erwiesen – und damit einmal mehr die territoriale Struktur der neu entstandenen nationalen Sozialpolitik festschrieben.6 Die Entwicklung sozialer Staatsbürgerrechte stärkte zum einen die nationalstaatliche Souveränität, indem der Staat seinen funktionalen Einflussbereich

3

4 5 6

Peter Wagner/Bénédicte Zimmermann, »Nation: Die Konstitution einer politischen Ordnung als Verantwortungsgemeinschaft«, in: Stephan Lessenich (Hg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe: Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt am Main 2003, S. 243–266, hier S. 243. Geisen, Sozialstaat in der Moderne, S. 34. Vgl. Étienne Balibar, Die Grenzen der Demokratie, Hamburg 1993. Thomas Humphrey Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen: zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt am Main 1992.

256

nun deutlich ausweiten konnte (wo vormals Zünfte und freie Verbände zuständig waren, konnte er nun selbst auf seine Bürgerinnen und Bürger zugreifen) und dadurch Loyalitäten der Bürgerinnen und Bürger an sich zu binden verstand.7 Zum anderen bildeten die sozialen Staatsbürgerrechte die Grundlage eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls, das sich als entscheidend für das in den kommenden Jahren und Jahrzehnten so folgenreiche Konzept der Nation erweisen sollte: »Der Sozialstaat zeichnet sich durch eine stetige Kategorisierungsarbeit aus, in deren Verlauf sich kollektive Entitäten herausbilden, die wiederum auf die Identität der Individuen einwirken. Dieser Prozess sticht besonders bei der nationalen Identität hervor. Während die nationale Identität bis in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein noch vornehmlich ein spirituelles Prinzip war, so wurde sie seitdem zu einer rechtlichen und administrativen Realität der immer weniger zu entkommen war.«8 Dabei zielten diese sich herausbildenden individuellen sozialen Rechte von Beginn an auf eine Modifizierung gegebener sozialer Klassenstrukturen und damit auf die Entstehung nationaler Solidarität über Klassengrenzen hinweg.9 Der Blick zurück auf die Entwicklung europäischer Wohlfahrtssysteme macht, trotz aller Unterschiede in den jeweiligen einzelstaatlichen Ausprägungen dieser Systeme, deutlich, dass diese Solidaritäten nicht nur Klassengrenzen, sondern langfristig auch die territorialen Grenzen (etwa zwischen sehr heterogenen, durch kulturelle und ökonomische Unterschiede geprägten Regionen) überwanden und insofern maßgeblichen Anteil an den nach innen gerichteten Homogenisierungsprozessen hatten.10 7

8

9 10

Vgl. Stefanie Börner, »Belonging, Solidarity and Expansion in Social Policy«, Houndmills/Basingstoke/Hampshire 2013. Gérard Noiriel, Die Tyrannei des Nationalen. Sozialgeschichte des Asylrechts in Europa, Lüneburg 1994, S. 303. Vgl. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen, S. 40. Vgl. Luis Moreno/Nicola McEwen, Exploring the Territorial Politics of Welfare, London 2005. Je nach Land wurden die sozialen Sicherungssysteme unterschiedlich ausgestaltet und strukturierten so auf unterschiedliche Weise die jeweiligen nationalen Gesellschaften im Innern, da sie die internen Cleavage- beziehungsweise Zentrums- Peripherie-Strukturen auf ihre ganz spezifische Art prägten; vgl. Peter Flora (Hg.), State Formation, Nation-Building, and Mass Politics in Europe:

257

Übertragen auf den Gegenstand der Europäischen Union stellt sich nun die Frage, ob die sich im Prozess der europäischen Integration entwickelnden neuen sozialen Rechte die herkömmlichen nationalen Mitgliedschaftsräume verändern und inwieweit die EU einen eigenen sozialpolitischen Anspruchsraum mittels dieser Rechte zu markieren vermag. Wenngleich wir es heute bei der zu beobachtenden fortschreitenden europäischen Integration nicht mit einem Prozess der Staatsbildung zu tun haben, können wir dennoch deutlich Prozesse sowohl territorialer als auch (und damit einhergehend) sozialer Restrukturierungen beobachten.11 Auch diese Restrukturierungen sind eng mit der Herausbildung eines neuen sozialen Bürgerstatus innerhalb des sich entwickelnden europäischen Raums verbunden. Sie weisen also – zumindest auf den ersten Blick – deutliche Parallelen zu den oben angedeuteten Prozessen im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert auf. Um diese Restrukturierungen angemessen nachverfolgen zu können, ist es zunächst notwendig, die Entwicklung der Europäischen Union zu einer Rechtsgemeinschaft nachzuzeichnen. Anschließend werde ich zeigen, dass der europäische Rechtsraum mit dem Konstrukt des Unionsbürgers einen neuen Sozialbürgerstatus hervorgebracht hat, aus dem sich sozialpolitische Ansprüche einzelner EU Bürgerinnen und -Bürger ableiten lassen. Dies aber führt zu einer doppelten Entgrenzung bisheriger nationalstaatlicher Einhegung sozialpolitischer Ansprüche, wie ich beispielhaft verdeutlichen werde. Abschließend werde ich diese aktuell zu beobachtenden Prozesse der oben skizzierten nationalen Konzeption des Sozialstaats gegenüberstellen und fragen, worin denn genau die Unterschiede zwischen den heute zu beobachtenden Prozessen von sozialpolitischem

11

The Theory of Stein Rokkan, Oxford 1999; Gerhard Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1991. Vgl. Stefano Bartolini, Restructuring Europe: Centre Formation, System Building and Political Structuring Between the Nation State and the European Union, Oxford 2005; Martin Heidenreich/Marco Härpfer, »Einkommensungleichheiten in der Europäischen Union. Ihre inner- und zwischenstaatliche Dynamik und ihre subjektive Bewertung«, in: Monika Eigmüller/Steffen Mau (Hg.), Gesellschaftstheorie und Europapolitik, Wiesbaden 2010, S. 245–273.

258

rescaling12 und der vormaligen Territorialisierung des Sozialen in Form des nationalen Wohlfahrtsstaats liegen und was wir daraus für eine Einordnung des sich gegenwärtig herausbildenden europäischen Sozialraums lernen können.

Die Entwicklung der Europäischen Union als Rechtsraum und Rechtsgemeinschaft Recht spielt in der Geschichte der Europäischen Gemeinschaft und späteren Europäischen Union eine herausragende Rolle. Schon Walter Hallstein betonte, dass der Kern der Europäischen Gemeinschaft im Recht liege, sie eine Rechtsgemeinschaft bilde. Die EWG sei eine »Schöpfung des Rechts« und zugleich »Rechtsquelle« und »Rechtsordnung«.13 Im Hinblick auf diese zentrale Bedeutung des Rechts unterschied sich die EWG von Beginn ihrer Integrationsgeschichte an von anderen transnationalen Organisationen und internationalen Zusammenschlüssen, gab sie sich doch bereits bei ihrer Gründung eine »eigenständige und interventionsfähige Rechtsordnung«.14 Konstituiert als Rechtsgemeinschaft, generierte die EWG bereits früh unabhängig von den Mitgliedstaaten Recht aus sich selbst heraus und nicht selten auch an den Interessen der Mitgliedstaaten vorbei.15 Wesentlicher Motor dieser Entwicklung war der Europäische Gerichtshof (EuGH ), der bereits in den Römischen Verträgen (1957) als rechtmäßiger Interpret des Gemeinschaftsrechts etabliert wurde. Mit seiner Rechtsprechung prägte der EuGH den Verhandlungsprozess um die europäische Integration von Anfang an in entscheidender Weise und stellte zugleich die Bedeutung des Rechts innerhalb

12

13 14

15

Vgl. Yuri Kazepov, Rescaling Social Policies: Towards Multilevel Governance in Europe, Aldershot 2010. Walter Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, Düsseldorf 1974, S. 33. Armin Höland, »Die Rechtssoziologie und der unbekannte Kontinent Europa«, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 14 (1993), Heft 2, S. 177–189, hier S. 180. Vgl. Paul Windolf, »Wer ist Schiedsrichter in der Europäischen Union? Der Konflikt zwischen Europäischem Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht«, in: Maurizio Bach (Hg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, S. 39–67, hier S. 46.

259

des Integrationsprozesses heraus, was seine eigene Position im Integrationsprozess nachhaltig festigte.16 Doch nicht nur der EuGH profitierte von der Vorrangstellung des Rechts im Integrationsprozess und dem Selbstverständnis der EWG als Rechtsgemeinschaft, sondern bald schon bot dieser europäische Rechtsrahmen auch einen neuen Spielraum für die Bezugnahme Einzelner und deren Interpretation individueller Rechtsansprüche.17 Grundlegend hierfür waren der Grundsatz der Direktwirkung und der der Vorrangigkeit des Gemeinschaftsrechts, wie der EuGH 1963 in der Rechtssache »van Gend & Loos«18 und 1964 in der Rechtssache »Costa v. ENEL «19 festgelegt hat. Damit öffnete der EuGH den europäischen Rechtsraum für individuelle Akteure, die nun neben dem nationalen auch den europäischen Rechtsraum als Handlungsbühne zur Verfolgung ihrer individuellen Interessen zum Einsatz bringen konnten. Eben diese Möglichkeit Einzelner, mit Verweis auf 16

17

18 19

Maßgeblich hierfür war der politisch initiierte Mechanismus des Vorlageverfahrens, wonach bei Auslegungsschwierigkeiten europäischen Rechts nationale Gerichte den EuGH um verbindliche Klärung ersuchen (Art. 177 EG , heute Art. 267 AEUV ). Damit war die Vorrangigkeit des Europäischen Gerichtshofs vor nationalen Gerichten in Fragen, die die Gemeinschaft betreffen, anerkannt worden. Dabei agierte der EuGH stets autonom gegenüber den Mitgliedstaaten, wie sich exemplarisch am Beispiel der Herausbildung des europäischen Grundrechtekatalogs zeigt: Im Solange-I-Urteil stellte das deutsche Bundesverfassungsgericht fest, dass es zukünftig Urteile des EuGH an deren Vereinbarkeit mit den Grundrechten des Grundgesetzes überprüfen werde. Der EuGH nahm daraufhin nicht Anleihe bei den nationalen Grundrechtskatalogen (was sicherlich Absicht des BVerfG gewesen war), sondern bezog sich fortan auf einen eigenen europäischen Grundrechtskatalog, den er selbst im Zuge von Rechtsfortbildung aus dem Primär- und Sekundärrecht der Europäischen Gemeinschaften entwickelte, vgl. Windolf, »Wer ist Schiedsrichter in der Europäischen Union?«, S. 47. Denn nach Auffassung des EuGH kann die Frage nach Grundrechtskonformität der eigenen Rechtsprechung nur auf der Grundlage des Gemeinschaftsrechts selbst beantwortet werden, vgl. EuGH , Slg. 1979, Rs. 44/79, S. 3728 (3744). Vgl. Richard Münch, Offene Räume. Soziale Integration diesseits und jenseits des Nationalstaats, Frankfurt am Main 2001, S. 221; Monika Eigmüller, »Europeanization from Below: The Influence of Individual Actors on the EU Integration of Social Policies«, in: Journal of European Social Policy 23 (2013), Heft 4, S. 363–375. Urteil van Gend & Loos, Rs. 26/62. Urteil Costa v. ENEL , Rs. 6/64.

260

den europäischen Rechtsraum Klagen anzustrengen, führte in der Folge zu einer Vielzahl von Rechtsdiskursen, in deren Verlauf nicht nur der EuGH , sondern ebenso die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten die Inhalte des europäischen Rechtsraums allmählich ausbuchstabierten und insofern dem europäischen Rechtsraum zu einer deutlichen Expansion verhalfen.20 Dabei konstituiert sich der europäische Rechtsraum aus einer Vielzahl von Rechten. Zunächst waren es Wirtschafts- und Handelsrechte, die sich direkt aus dem in den Römischen Verträgen festgelegten Ziel der Schaffung eines Gemeinsamen Marktes ableiten ließen, ohne dass es weiterer legislativer Grundlagen bedurfte. Der EuGH definierte diese schlicht als gemeinschaftliche Grundrechte und buchstabierte sie nach und nach aus. Insbesondere betonte er hierbei die sich aus den Verträgen ableitenden Freizügigkeitsrechte ebenso wie individuelle soziale Rechte, die sich aus diesen vertraglich festgelegten Freiheitsrechten ergaben. Daneben war es der Katalog allgemeiner Bürgerrechte (niedergelegt 1950 zunächst in der Europäischen Menschenrechtskonvention durch den Europarat), von dem ausgehend der EuGH allgemeine Grundrechte für die Europäische Gemeinschaften und später für die Europäische Union ausformulierte. 1977 ergänzten die EWG -Staaten die Europäische Menschenrechtskonvention mit der »Gemeinsamen Erklärung der Grundrechte«21, 1986 mit der Präambel zur Einheitlichen Europäischen Akte sowie mit der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrags 1992 (insbesondere Art. F EUV ). 2000 schließlich überführten der Rat der Europäischen Union, das Europäische Parlament und die EU -Kommission den Grundrechtskatalog in die Charta der Grundrechte der EU und stellten ihn dem EU -Vertrag gleich. Gleiches gilt für die sogenannten Verteidigungsrechte, etwa das Recht auf Aussa20

21

Diese expansive Entwicklung des europäischen Rechtsraums ist einerseits Ergebnis einer spezifischen Konstellation des politischen Systems der EU , insbesondere der Unbestimmtheit des Primärrechts, geschuldet, andererseits geht sie auf eine Vielzahl unterschiedlicher sowohl nationaler als auch europäischer und sowohl korporativer als auch individueller Akteure zurück, vgl. Alex Stone Sweet, The judicial construction of Europe, Oxford 2004. Kern des so entstandenen Rechtsraums bilden dabei der EuGH und seine Rechtsprechung, die sich wiederum maßgeblich auf die gemeinsamen Verträge und die hierin festgelegten Ziele der Gemeinschaft bezieht. Vgl. Amtsblatt der Europäischen Union, 1977 C 103 S. 1.

261

geverweigerung vor Gericht, das Recht auf Anhörung oder den Schutz vor unangemessener Strafverfolgung.22 Diese Verteidigungsrechte wurden insbesondere von einzelnen Bürgerinnen und Bürgern gegenüber den Mitgliedstaaten vor nationalen Gerichten eingeklagt, der EuGH nutzte anschließend diese Vorlagen der nationalen Gerichte, um den Zugang Einzelner zum Recht nachhaltig zu stärken.23 Zugleich ist es diese Betonung individueller Rechte innerhalb des europäischen Rechtsraums, die das europäische Recht von anderen internationalen Rechtsordnungen unterscheidet und damit den europäischen Rechtsraum als individuellen Anspruchsraum überhaupt erst sichtbar werden lässt. Grundlegendes Paradigma des europäischen Rechtsraums ist somit ein durch den EuGH gestaltetes Richterrecht, das sich an den Grundsätzen der Freizügigkeit, der NichtDiskriminierung und der Selbstverwirklichung des Einzelnen orientiert24 und das den einzelnen EU -Bürger als Kern dieses Rechtssystems zu seinem Rechtssubjekt macht.25 Aber nicht nur der EuGH , sondern auch die Organe der Gemeinschaften – Kommission, Europäisches Parlament und Rat – waren maßgeblich am Prozess der Herausbildung eines europäischen Rechtsraums beteiligt. Wenngleich diesen Organen kaum Möglichkeiten zugesprochen worden waren, »positiv« Politik zu gestalten, so konnten sie doch beginnend mit den 1970er Jahren regulativ tätig werden – und trugen auf diese Weise ihren Teil zur Entwicklung des europäischen Rechtsraums bei. Dabei zeigte sich, dass sie vor allem dort gesetzgeberisch tätig wurden, wo die Mitgliedstaaten selbst nur in geringem Maße eine eigene nationale Gesetzgebung vorzuweisen 22

23

24

25

Gráinne de Búrca, »The Language of Rights and European Integration«, in: Jo Shaw/Gillian More (Hg.), New Legal Dynamics of European Union, Oxford 1995, S. 29–54, hier S. 32. Vgl. Rs 98/79, Rs 222/86, z.B. in Fragen der Abschiebung unerwünschter Migranten. Vgl. Gerhard Preyer, »Konstitutiver Liberalismus als soziale Ordnung der Europäischen Union. Zur Theorie und Soziologie des Rechts von Richard Münch«, in: Rechtstheorie 40 (2009), Heft 4, S. 493–507, hier S. 497. Vgl. James Henry Bergeron, »An Ever Whiter Myth: The Colonization of Modernity in European Community Law«, in: James Henry Bergeron/Peter Fitzpatrick (Hg.), Europe’s Other: European Law between Modernity and Postmodernity, Dartmouth/Adlershot, S. 3–26, hier S. 11.

262

hatten, wie etwa im Bereich der Antidiskriminierung und dem Verbraucherschutz. Der sich ausbildende europäische Rechtsraum verhielt sich daher in vielen Bereichen zunächst komplementär zum nationalen Rechtsraum. Dabei erwies er sich zugleich als sehr dynamisch, was in Folge vielfach zu einer deutlichen Ausweitung der sekundären Gesetzgebung sowie der Rechtsprechung führte.26 Gerade die Europäische Kommission und das Europäische Parlament entwickelten im Laufe der Jahre und Jahrzehnte ein immer deutlicheres Interesse daran, auch individuelle Rechte innerhalb der Gemeinschaft durchzusetzen, und bewarben aktiv deren Inanspruchnahme. Indem immer mehr individuelle Rechte im Gemeinschaftsrecht verankert wurden, konnten sowohl die Vertreter der europäischen Organe als auch der EuGH mit dem Verweis auf den nötigen Schutz dieser Rechte nach und nach immer mehr Einfluss auf die Rechtsprechung wie auch auf die Rechtsetzung in den Mitgliedstaaten nehmen. Darüber hinaus half gerade die Etablierung rechtlicher Normen in Form individueller Rechte, die Ausweitung der Gemeinschafts- beziehungsweise Unionskompetenzen gegenüber den Mitgliedstaaten zu rechtfertigen und dadurch den Integrationsprozess selbst deutlich voranzutreiben.27 Nicht zuletzt versprachen gerade diese individuellen Rechte eine umfassende Legitimierung des gesamten Integrationsprojekts. Denn erst mit ihrer Hilfe konnte dem zunächst primär wirtschaftsorientierten Integrationsprojekt eine »moralische Grundierung« verpasst werden und dabei zugleich das Ziel verfolgt werden, mittels der Schaffung eines einheitlichen europäischen Rechtsraums auf dem Fundament der

26

27

So etwa im Bereich der Antidiskriminierungsgesetzgebung: Ausgehend von Art. 6a des Amsterdamer Vertrags, der die Union ermächtigte, »einstimmig geeignete Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen«, kommt es zu einer deutlichen Ausweitung, vor allem im Hinblick auf die Gleichbehandlung der Geschlechter, angefangen bei Fragen der Lohngleichheit, über Beschäftigungsfragen (RS Defrenne, C-43/75) bis hin zur Gleichstellung im Versicherungsschutz (RS Association belge des Consommateurs, C-236/09). Vgl. Daniel Kelemen, Eurolegalism. The Transformation of Law and Regulation in the European Union, Cambridge, S. 51.

263

Gleichheit aller in diesem Raum lebenden Europäerinnen und Europäer die Idee einer europäischen Identität voranzutreiben.28 Dieser Einsatz individueller Rechte als »Werkzeug der Integration« ist sowohl in der Rechtsprechungspraxis des EuGH als auch in der Umsetzung seiner Rechtsprechung in die Gesetzgebung deutlich zu erkennen. So wurden sowohl der EuGH als auch die Europäische Kommission und das Europäische Parlament aufgrund ganz unterschiedlicher Interessen zu Anwälten individueller Rechte und damit zu Advokaten der Entwicklung dieses europäischen Rechtsraums. Wenngleich auch die individuellen Rechte bereits seit Beginn der Herausbildung dieses europäischen Rechtsraums Bestandteil des europäischen Rechtekanons waren, erhielten sie doch erst mit Verankerung der Unionsbürgerschaft im Vertrag von Maastricht 1993 ihre besondere Wirkungskraft. Denn nun wurde innerhalb der Union ein individueller Rechtsstatus auch jenseits des Marktes etabliert und wurden damit die Rechte einzelner EU -Bürger ihres funktionalen Zuschnitts enthoben. Anfang der 1990er Jahre noch belächelt als ein symbolischer Akt, gestaltete sich die Unionsbürgerschaft inhaltlich insbesondere dank der Rechtsprechung des EuGH immer weiter aus, besonders im Bereich des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts (Art. 18 EG ) wie auch im Bereich des Gleichbehandlungsgrundsatzes und der damit verbundenen Betonung der Gleichheitsrechte aller Unionsbürger sowie ihrer politischen und sozialen Rechte. Die Einführung der Unionsbürgerschaft führte jedoch nicht nur zu einer allgemeinen (über die Markt- und Wettbewerbsfunktionalität hinausgehende) Interpretation des Gleichbehandlungsgebots der Bürgerinnen und Bürger, vielmehr begründet sie ein gänzlich verändertes Verständnis der Rechtsstellung des und der Einzelnen in der Europäischen Gemeinschaft: War der Einzelne bis zum Vertrag von Maastricht bestenfalls »mittelbares Rechtssubjekt«, dem keine gezielte Aufmerksamkeit zuteil wurde, sondern höchstens dann, wenn es »dem zentralen Zweck […] der Entwicklung der Gemeinschaft« zugutekam, so ändert sich genau dies mit Etablierung der Unionsbürgerschaft. Nun werden Unionsbürgerinnen und Unions-

28

de Búrca, The Language of Rights, S. 43.

264

bürger »Inhaber eines bestimmten Rechts – in diesem Fall des Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – unabhängig von der Frage, ob mit dem Genuss dieses Rechts die Förderung anderer Bestrebungen oder Ziele der Gemeinschaft einhergeht oder nicht«.29 Nicht mehr nur die Marktteilnahme begründet nun das Verhältnis zwischen den Bürgern und der Europäischer Union, sondern vielmehr wird mit der Einrichtung der Unionsbürgerschaft »eine Möglichkeit substantiellen Charakters [geschaffen], d.h. ein wirkliches und wahrhaftiges Recht, das der autonomen Verwirklichung eines Zieles des Inhabers selbst dient und nicht zugunsten der Gemeinschaft oder des Erfolgs ihrer Ziele gilt«.30 Damit kommt es zum qualitativen Wandel der Rechtsstellung des Einzelnen in der Union: Grundlegende Rechte, wie das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt, müssen nun im Sinne dieser Rechtsauffassung aus dem Status des Unionsbürgers selbst abgeleitet werden.31 Dabei kam einmal mehr dem EuGH eine entscheidende Rolle zu, der – anknüpfend an die von ihm bereits in der Grundsatzentscheidung van Gend & Loos konstruierte »ontologische Vorrangigkeit des Individuums«32 – nun auf der rechtlichen Grundlage der Unionsbürgerschaft33 die Rechte der Unionsbürgerinnen und -bürger immer weiter ausdehnte.

29

30 31

32 33

Schlussanträge des Generalanwalts Georges Cosmas vom 16. März 1999, Rs C-378/97, Slg. 1999, I-6209ff, Rn. 80. Ebenda, Rn. 84. Vgl. Ulrich Haltern, »Das Janusgesicht der Unionsbürgerschaft«, in: Swiss Political Science Review 2005 (2005), Heft 1, S. 87–117, hier S. 94 f. Bergeron, An Ever Whiter Myth, S. 3–26, hier S. 11. Art. 117 ff. EGV.

265

Die Entgrenzung nationaler Wohlfahrtsstaatlichkeit: Die Entwicklung sozialpolitischer Anspruchsrechte der Unionsbürger Ausgehend vom Gleichbehandlungsgebot wurden nun vor allem die sozialen Anspruchsrechte der Unionsbürger nach und nach ausgeweitet: Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat der Union und damit im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts aufhält, kann sich nun auf den Grundsatz der Inländergleichbehandlung berufen, und zwar auch, wenn es um soziale Leistungen geht, die ausschließlich Inländern zustehen: »Der Unionsbürgerstatus ist nämlich dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen.«34 Ausgehend von diesen Überlegungen bildet sich seither der europäische Rechtsraum als sozialpolitischer Anspruchsraum der Unionsbürgerinnen und -bürger heraus. So klagte etwa mit Verweis auf den Gleichbehandlungsgrundsatz der französische Student Rudy Grzelczyk gegen das Centre public d’aide sociale (CPAS ) im belgischen Lovain-la-Neuve, das ihm die Zahlung von Sozialhilfe (Minimex) zur Sicherung des Existenzminimums verweigert hatte.35 Der EuGH urteilte, dass die Verweigerung einer sozialen Leistung allein mit Verweis auf die andere Staatsangehörigkeit eines Unionsbürgers gegen das Diskriminierungsverbot nach Art. 12 EG verstoße und der Kläger tatsächlich aus seinem Unionsbürgerstatus soziale An34

35

Urteil des EuGH Rs 184/99 – Rudy Grzelczyk, Slg. 2001, I-6241: Rn. 32. Vgl. auch Rs C-85/96 – Martinez-Sala, Slg. 1998, I-2691. Vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 20. September 2001, RS C-184/99, Rudy Grzelczyk gegen Centre public d’aide sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve. Mit dem Urteil setzte sich der Gerichtshof von seiner früheren Rechtsprechung ab, in der er noch festgestellt hatte, dass Studierende nicht unter den EU -Vertrag fallen. Nun, mit Einführung der Unionsbürgerschaft und den damit verbundenen sozialen Rechten sowie der Formulierung gemeinsamer bildungspolitischer Ziele der EU , sei dies allerdings neu zu bewerten, vgl. RS C-197/86 Brown versus Secretary of State for Scotland; vgl. auch Paul Craig/Gráinne de Búrca, EU law: text, cases, and materials, Oxford 2008, S. 864.

266

sprüche ableiten könne. Ebenfalls um die Zahlung des Minimex ging es wenige Jahre später in der Klage des in Belgien lebenden Franzosen Michel Trojani. Auch hier hatte das Sozialamt mit Verweis auf die ausländische Staatsangehörigkeit die Zahlung von Sozialhilfe verweigert. Herr Trojani argumentierte vor Gericht mit Verweis auf seine Unionsbürgerschaft und die sich daraus unmittelbar ergebenden Rechte. Auch hier stellte der EuGH die Rechtsmäßigkeit des Anspruchs fest.36 Ebenfalls als Diskriminierung im Sinne des Art. 12 EG wertete schließlich 2001 der Franzose Dany Bidar die Regelungen der britischen Student Support Regulations, wonach nur solche Studenten Anspruch auf Studentendarlehen haben, die auf Dauer in Großbritannien leben.37 Auch dieser Sichtweise stimmte der EuGH im sich anschließenden Verfahren zu und definierte den Anspruch des Klägers auf Studienbeihilfe als rechtmäßig. Wie diese und eine Vielzahl weiterer Fälle verdeutlichen, eröffnete sich mit Etablierung des europäischen Rechtsraum und der Herausbildung des Unionsbürgers als dessen Rechtssubjekt ein neuer Handlungsspielraum für die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zur gezielten Durchsetzung individueller sozialpolitischer Ansprüche.38 Damit ist es den europäischen Mitgliedstaaten nicht mehr möglich, vollkommen souverän über den Kreis derer zu entscheiden, die im sozialpolitischen Sinne leistungsberechtigt sind. Im Zuge der Etablierung der Unionsbürgerschaft kommt es vielmehr zur Aufweichung der den Sozialsystemen der Mitgliedstaaten bis dahin zugrunde liegenden nationalen Mitgliedschaftslogik, da soziale Leistungen nun vermehrt nach dem Wohnortprinzip vergeben werden müssen, womit sich der Kreis der Anspruchsberechtigten über den nationalen Raum hinaus ausweitet. Neben der schon zuvor als Ergebnis der Waren- und Dienstleistungsfreiheit gegebenen territorialen Entgrenzung des auf den Nationalstaat fokussierten sozialen Sicherungssystems, das die Bereitstellung sozialer Güter nun auch jenseits des eigenen Territoriums 36 37

38

Urteil des Gerichtshofs vom 7. 9. 2004, RS . C-456/02, Slg. (2004) I-7612. RS C-209/03, Dany Bidar gegen London Borough of Ealing, Secretary of State for Education and Skills. Vgl. Monika Eigmüller, »Europäisierung der Sozialpolitik. Der Einfluss individueller Akteure auf den Integrationsprozess«, in: Zeitschrift für Sozialreform 58 (2012), Heft 3, S. 263–287.

267

gewähren muss, kommt es so zu einer weiteren, ungleich nachhaltigeren Entgrenzung eines der basalen Prinzipien nationaler Wohlfahrtstaatlichkeit. Denn indem das Staatsbürgerprinzip in Bezug auf soziale Leistungen nun zugunsten allgemeiner individueller Rechtsansprüche der Unionsbürgerinnen und -bürger aufgelöst wird, erfährt die im Nationalstaat geschaffene Einheit von Territorium, nationaler Gesellschaft und sozialer Sicherung eine entscheidende Umdeutung. Wenngleich Sozialpolitik im Allgemeinen und die Fragen bedarfsgerechter sozialer Leistungen im Besonderen zwar nach wie vor zu jenen Politikfeldern gehören, die vornehmlich nationalstaatlich gesteuert werden, können wir dennoch über die Jahre eine deutliche Ausweitung der gemeinschaftlichen Kompetenzen auch im Bereich der Sozialpolitik beobachten. Anders als zu Beginn des Integrationsprozesses sind es nun nicht mehr nur Kompetenzen im regulativen Bereich, wie etwa die Festlegung von Arbeitsschutzbestimmungen, Antidiskriminierungspolitiken und weiteres mehr, die in den Einflussbereich der EU geraten,39 sondern immer mehr auch die wohlfahrtsstaatlichen Kernfunktionen der Umverteilung und Versorgung, die nun dem Unionsrecht unterstehen und in den Sog gemeinschaftlicher Regulierung geraten – und zwar auch gegen den ausdrücklichen Willen der Mitgliedstaaten. Zu erklären ist diese Ausweitung gemeinschaftlicher Kompetenzen im Bereich der Sozialpolitik mit Verweis auf den sich herausbildenden europäischen Rechtsraum als Anspruchsraum, aus dem individuelle soziale Rechte dezidiert abgeleitet und von einzelnen Bürgerinnen und Bürgern eingefordert werden können.40 Die hoheitlichen Rechte der Mitgliedstaaten, über die Inhalte ihrer bedarfsgerechten Sozialpolitik souverän zu bestimmen, wird hierüber zwar nicht direkt angetastet; indirekt zeigt sich gleichwohl ein immer stärker werdender Druck, auf diese Neubestimmung des Kreises der Anspruchsberechtigten auch inhaltlich zu reagieren. Zu beobachten ist somit eine doppelte Entgrenzung nationaler Wohlfahrtsstaatlichkeit: Da den EU -Mitgliedstaaten nun einerseits die Möglichkeit genommen wird, den Kreis der Anspruchsberechtigten sozialer Leistungen autonom 39

40

Vgl. Stephan Leibfried/Paul Pierson (Hg.), Standort Europa. Frankfurt am Main, 1998. Vgl. Eigmüller, Europeanization from Below, S. 363–375.

268

zu bestimmen, und sie andererseits nicht mehr souverän entscheiden können, wo diese sozialen Leistungen konsumiert werden, gerät das für den nationalen Wohlfahrtsstaat prägende, eingangs beschriebene Prinzip der Territorialisierung sozialer Sicherung deutlich ins Wanken.

Ausblick: Der Europäische Raum als sozialpolitischer Anspruchsraum Worauf aber verweist diese zunehmende Entgrenzung sozialpolitisch relevanter, nationaler Mitgliedschaftsräume, wie sie mit Herausbildung der nationalen Wohlfahrtsstaaten Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sind? Was bedeutet es für die Zukunft der europäischen Gesellschaft(en), wenn diese vormals gegebene einzigartige Kongruenz von externer Schließung und interner Strukturierung, die im nationalen Wohlfahrtsstaat mittels der Bindung der sozialen Staatsbürgerschaft an die Institutionen des Nationalstaats realisiert werden konnte, nun immer weiter aufgelöst wird?41 Und welche Effekte zeigt diese sich allmählich abzeichnende neue territoriale Ordnung von Sozialpolitik beziehungsweise die neue Mitgliedschaftsordnung, mittels derer sozialpolitische Ansprüche nun kanalisiert werden? Welche neuen Inklusionsformen entstehen hierdurch, und wie wirken sie auf die politische Ordnung der EU ?42 Die Entstehung und Entwicklung des europäischen Sozialstaatsprinzips seit den 1880er Jahren stellte sich als ein Prozess der nationalen Territorialisierung der sozialen Sicherung dar.43 Mittels der 41

42

43

Vgl. Flora, State Formation, Nation-Building and Mass Politics; Maurizio Ferrera, The Boundaries of Welfare, European Integration and the New Spatial Politics of Social Protection, Oxford 2005. Vgl. Theresa Wobbe, »Vom nation-building zum market-building. Der Wandel von Vergesellschaftungsformen im europäischen Integrationsprozess«, in: Mittelweg 36 18, (2009), Heft 3, S. 3–16. Vgl. Maurizio Ferrera, »European Integration and National Social Citizenship: Changing Boundaries, New Structuring?«, in: Comparative Political Studies 36 (2003), Heft 6, S. 611–652; Monika Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung. Raum, Identität und Sozialpolitik in der Habsburgermonarchie, unveröffentlichte Dissertation, eingereicht an der Universität Leipzig 2013.

269

sich etablierenden sozialen Sicherungssysteme errichteten die Vertreter und Protagonisten des Nationalstaats einen sozialpolitischen Interventionsraum und strukturierten zugleich nachhaltig die Nationalstaaten im Innern anhand der sozialpolitischen Institutionen, die für diesen Interventionsraum notwendig wurden. Die vormalige funktionale Mitgliedschaftslogik der berufsständischen Bedarfsgemeinschaften wurde in diesem Transformationsprozess nach und nach durch eine territoriale Logik der Mitgliedschaft zu einer nationalen Gemeinschaft ersetzt. Das Nationalstaatsprinzip ermöglichte also erstmals, Solidarität jenseits eines funktionalen (berufsständischen) Zusammenhangs in einem territorialen Maßstabsrahmen zu organisieren und einen nationalen Mitgliedschaftsraum zu schaffen. Zugleich diente dieser solidarische Zusammenhang innerhalb der Nation zu deren Stärkung und der Legitimation staatlicher Macht im Innern.44 Diese Verknüpfung des Sozialen mit dem Räumlichen, wie wir sie hier in der Geschichte der Herausbildung des europäischen Sozialstaats erkennen können, ist auch die entscheidende Logik, unter der der gegenwärtig zu beobachtende Prozess der Herausbildung eines originären europäischen Sozialraums zu betrachten ist. Im Unterschied zur Entstehung und Entwicklung der modernen Wohlfahrtsstaaten ist das territoriale Prinzip zur Organisation sozialer Sicherheit heute allerdings bereits eingeübt. Nicht eine Territorialisierung an Stelle vormaliger funktionaler Organisation können wir so heute

44

Vgl. Paul Pierson, Dismantling the Welfare State? Reagan, Thatcher and the Politics of Retrenchment, Cambridge 1994. Auch der nationale Sozialstaat basierte genau genommen zunächst in den meisten Fällen auf einer funktionalen Mitgliedschaftslogik, indem er in vielen Staaten zunächst in die Trias von Nation, Staat und Lohnarbeit eingebunden war (Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2008) und damit »Ausdruck eines politischen Projekts« wurde, nämlich »des Projekts des Nationalstaats, wie es seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts als Antwort auf die Krise entwickelt wurde, die durch die Industrialisierung und das Aufkommen der Arbeiterfrage hervorgerufen wurde«, Wagner/Zimmermann, Nation: Die Konstitution einer politischen Ordnung, S. 252; vgl. auch Noiriel, Die Tyrannei des Nationalen. Erst in den folgenden Jahren und Jahrzehnten trat dieser Zuschnitt nationaler sozialer Sicherung allmählich in den Hintergrund und ließ den nationalen Sozialbürgerstatus, wie von Marshall so treffend beschrieben, deutlich sichtbar werden.

270

beobachten, sondern vielmehr Prozesse der De-und Re-Territorialisierung, also die Beibehaltung des Organisationsprinzips, allerdings in einem neuen, weiteren Rahmen. Denn wie oben bereits ausführlich beschrieben, sehen sich die EU -Mitgliedstaaten derzeit einer mehrfachen räumlichen Entgrenzung ihrer nationalen sozialen Sicherungssysteme gegenüber, da sie weder souverän über den Kreis der anspruchsberechtigten Empfänger von sozialen Leistungen bestimmen können noch darüber, wo von den nationalen sozialen Sicherungssystemen gewährte Leistungen wie Kindergeld oder Rente »konsumiert« werden und wo andere Leistungen, beispielsweise Gesundheitsdienstleistungen, letztlich erbracht werden.45 All diese Entwicklungen lassen den Sozialraum Europa als sozialpolitischen Anspruchsraum deutlich hervortreten, der ebenso wie der nationale Wohlfahrtsstaat durch eindeutige Abgrenzung nach außen den Status des anspruchsberechtigten Unionsbürgers definiert und damit den europäischen Mitgliedschaftsraum im Innern strukturiert. Im Unterschied zum nationalen Sozialstaat entsteht dieser europäische sozialpolitische Anspruchsraum allerdings nicht exklusiv, sondern vielmehr explizit additiv zu den bestehenden nationalen Wohlfahrtssystemen – und bringt dennoch nicht nur im Hinblick auf die territoriale, sondern vor allem auch im Hinblick auf die Mitgliedschaftslogik die herkömmliche Ordnung der nationalen Wohlfahrtsstaaten ins Wanken. Ebenso wie die in der Nation raumgewordene nationale Solidargemeinschaft Ergebnis bestimmter politischer Prozesse war, die als Antwort auf die aufkommenden gesellschaftlichen Fragen initiiert wurden, bildet sich derzeit auch der europäische Sozialraum als Antwort auf die neu auftretenden sozialen Erfordernisse angesichts der Supranationalisierung von Politik, Wirtschaft und Arbeitsmarkt heraus. Wenngleich sowohl der nationale Wohlfahrtsstaat als auch der europäische Sozialraum dabei in ihrer je konkreten Ausprägung als kontingentes Ergebnis »einer unausweichlichen Problematik un45

Vgl. Ferrera, The Boundaries of Welfare. Neben diesen Erscheinungen räumlicher Entgrenzung kommt es zugleich zu einem Souveränitätsverlust, was die Inhalte sozialpolitischer Regulierung betrifft. So ist es zum Beispiel nicht mehr möglich, autonom die Inhalte einer medizinischen Behandlung festzulegen; vielmehr gelten hier inzwischen europaweite Standards (vgl. Rs C-157/99, Smits/ Peerbooms).

271

ter historisch spezifischen Umständen«46 zu verstehen sind, zeigt der Blick auf die jeweilige Entwicklungsgeschichte dennoch deutlich, dass sowohl die Herausbildung des nationalen Sozialstaatsprinzips als auch die Entwicklung des europäischen Sozialraums Ergebnis gezielter politischer Prozesse und klarer Interessenlagen der unterschiedlichen beteiligten Akteure waren (wie etwa die Steigerung der Legitimität staatlicher Strukturen mittels der Bindung politischer Loyalitäten, die Erzeugung belastbarer sozialer Solidaritäten ebenso wie individuelle Interessen der Nutzenmaximierung).47 Die neue Mitgliedschaftslogik, die aus dem Unionsbürgerstatus erwächst, diversifiziert die Optionen der Bürgerinnen und Bürger, ihre sozialen Rechte in Anspruch zu nehmen. Zugleich eröffnet sie die Möglichkeit, die europäische Ebene als staatliche Herrschaftsform zu legitimieren und politische Loyalitäten in Bezug auf europäische Staatlichkeit herzustellen. Nicht zuletzt knüpft sich hieran politischerseits die Hoffnung, einen neuen, supranationalen Vergesellschaftungsprozess in Gang zu setzen, analog zum historischen Beispiel der Nationalisierung von Gesellschaften im Zuge der Erfindung von Nation, Staatsbürgerschaft und individuellen sozialen Anspruchsrechten.

46

47

Wagner/Zimmermann, Nation: Die Konstitution einer politischen Ordnung, S. 261. Stefanie Börner/Monika Eigmüller, Social Security in Europe between Territory, Legitimacy and Identity Formation. Towards a Diachronic Perspective for Analysing Social Policy Rescaling, unveröffentlichtes Manuskript 2013.

272

Petra Deger

Die Europäische Union als Gestaltungsraum – Postsouveräne Territorialität oder das Ende moderner Staatlichkeit?

1

1

Wo endet Europa? Zur Jahreswende 2013/2014 demonstrierten in der ukrainischen Hauptstadt Kiew Zehntausende Menschen. Das blutige Ende der Proteste hat die Europäische Union erschüttert. Denn einer der Auslöser der Demonstrationen auf dem Maidan war der Streit über die Orientierung der Ukraine an der Europäischen Union. Die Tatsache, dass erneut eine der ehemaligen Sowjetrepubliken den Anschluss an die EU sucht (oder dass zumindest darüber gestritten wird), zeigt, wie stark sich die Europäische Gemeinschaft seit ihren Anfängen als Motor westeuropäischer Integration und Prosperität verändert hat und dass sie mittlerweile erhebliche Anziehungskraft auf Staaten mit nicht westlichem politischem Erbe ausübt. Mit der sukzessiven Aufnahme von Ländern aus dem früheren Warschauer Pakt und den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens stellt(e) sich, schon ob der Größe der Union, die Frage nach Gestalt und Struktur der Union grundlegend neu. Im Hinblick auf die räumliche Gestalt der EU zeigt sich damit ein kompliziertes Bild. Es gibt weitere Staaten in Südost- und Osteuropa, die den Weg in die EU anstreben, mindestens aber eine engere Anbindung an die Europäische Union wünschen. Gleichzeitig wird die Union durch diese Beitrittswünsche regelmäßig vor die Frage nach ihrer Aufnahmekapazität sowie nach ihrer (endgültigen?) räumlichen Gestalt gestellt. So besteht nach innen die Herausforderung, Strukturen und Mechanismen der Integration zu verändern

1

Ich danke den Herausgeberinnen des Bandes – Ulrike Jureit und Nikola Tietze – ganz herzlich für ihre Kommentare und Verbesserungsvorschläge.

273

und anzupassen. Darüber hinaus bleiben die räumlichen Konturen der EU offen, wodurch es der Bevölkerung erschwert wird, eine politisch-räumliche Zugehörigkeit zur EU auszubilden. Nach außen kommt es zudem zu ständigen Verschiebungen der Außengrenze. Dem Beitritt zur EU geht ein außerordentlich kompliziertes und auch teilweise viele Jahre andauerndes Aufnahmeverfahren voraus. In den letzten Jahren waren diese Beitrittsverfahren in einigen Staaten mit grundlegenden Veränderungen (als Beitrittsvoraussetzung) in zahlreichen Bereichen verbunden (zum Beispiel im Rechts- und Justizsystem). Besonders augenfällig wird dies bei den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.2 Die Beitrittsanforderungen greifen teilweise erheblich in die Souveränität der Kandidatenländer ein und stellen damit insgesamt die Frage nach der Souveränität der Mitgliedstaaten wie auch danach, ob die EU an die Stelle ihrer souveränen Mitgliedstaaten tritt beziehungsweise deren Souveränitätsrechte übernimmt. Europäische Integration ist historisch von verschiedenen Leitideen getragen: Zunächst war es ein zentrales Ziel, Deutschland in ein enges Geflecht demokratischer Staaten einzubinden; anschließend stand die Wohlstandssteigerung durch Marktöffnung im Vordergrund; schließlich steht spätestens seit dem Maastrichter Vertrag (1992) die Idee im Mittelpunkt, Politikfelder wie die Landwirtschafts- und Wettbewerbspolitik zu vergemeinschaften. Mittlerweile schließt dieser Prozess immer weitere Felder ein, so inzwischen auch die Rechts- und Innenpolitik. Diese Entwicklung beinhaltet, so die hier vertretene These, dass sich in der Europäischen Union der Kern der bisher unausweichlichen Verknüpfung zwischen Nationalstaat und Souveränität aufzulösen beginnt. Diese These wird in folgenden Schritten entwickelt: Zunächst soll das Konzept von Souveränität und dessen historische Entwicklung skizziert werden; im Anschluss daran gilt es, die Spannungslinien zwischen Souveränität und Vergemeinschaftungsprozessen darzustellen, um schließlich mit Bezug auf die viel diskutierten Probleme der EU (wie zum Beispiel europäische Identität und Demokratiedefizite) zu zeigen, dass eine neue europäische Raummetapher 2

Vgl. Burak Akcapar, Turkey’s New European Era: Foreign Policy on the Road to EU Membership, Lanham 2007.

274

die nationalstaatliche Dimension von Souveränität quasi »überholt«. Dabei wird das nationalstaatliche Souveränitätskonzept aus zwei verschiedenen Richtungen unterlaufen: Zum einen nehmen individuelle Akteure, wie ich zeigen möchte, einen eigenständigen Status ein, der vom nationalstaatlichen Bürgerstatus entkoppelt ist. Dadurch wird nationalstaatliche Herrschaft über Bürger deutlich begrenzt – und zwar weit über die Festlegung unhintergehbarer Menschenrechte hinaus. Eingebettet wird dieses Argument in die jüngeren Diskussionen der politischen Philosophie. Zum anderen entstehen parallel zu dieser Entwicklung und möglicherweise in Analogie dazu neue Räume, die Ergebnisse von politischen Verfahren darstellen. Dies bedeutet, dass die relevanten Handlungsräume für Akteure aus verschiedenen Gründen nicht mehr nationalstaatlich sind (solange sie innerhalb der EU leben), sondern dass die räumliche Orientierung in erheblichem Maß über die Grenzen des jeweiligen Mitgliedstaates hinausgeht. Dies wird etwa bei der Gewährleistung individueller Rechte gegenüber Kollektivorganen deutlich, zum Beispiel gegenüber dem eigenen Nationalstaat. Diesbezüglich soll zur Konturierung dieser Entwicklung auf den vor einigen Jahren recht prominenten, in jüngster Zeit aber ein wenig in Vergessenheit geratenen Begriff der Europäisierung3 zurückgegriffen werden.

3

Vgl. Katrin Auel, »Europäisierung nationaler Politik«, in: Hans-Jürgen Bieling/ Marika Lerch (Hg.), Theorien der europäischen Integration, Wiesbaden 2006, S. 293–318; Rainer Eising, »Europäisierung und Integration. Konzepte in der EU -Forschung«, in: Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch (Hg.), Europäische Integration, Opladen 2003, S. 387–416; Kevin Featherstone/Claudio Radaelli (Hg.), The Politics of Europeanization, Oxford 2003; Paolo Graziano, Paolo/Maarten Vink (Hg.), Europeanization: New Research Agendas, Basingstoke 2007; Wolfgang Schmale, »Processes of Europeanization«, in: European History Online (EGO ), published by the Institute of European History (IEG ), Mainz 2010–12–03, http://www.ieg-ego.eu/schmalew-2010b-en [5. 9. 2014].

275

Souveränität – eine kurze Geschichte eines scheinbar dauerhaft stabilen Konzepts Der Begriff Souveränität unterliegt Konjunkturen. War er einige Jahrzehnte scheinbar aus der Diskussion verschwunden, so wird er mittlerweile wieder öffentlich und kontrovers debattiert. Der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm etwa weist in einer neueren Darstellung4 zur Souveränität auf die zunehmende Aufmerksamkeit hin, die das Konzept erfahre. Ein Blick zurück: Die Idee des souveränen Staates geht auf Jean Bodin (1529/30 – 1597) zurück. Zeithistorisch war die Entstehung einer Vorstellung von Souveränität im Frankreich des 16. Jahrhunderts und vor allem in einem Konfessionskonflikt eingebettet5. In seiner Schrift »Über den Staat«6 führte Bodin den Gedanken der Souveränität in das neuzeitliche politische Denken ein.7 Allerdings bezog sich seine Idee von Souveränität nicht auf Territorialstaaten oder gar Nationen, sondern auf den Herrscher: Der souveräne Herrscher (=Monarch) sollte keiner höheren Instanz unterworfen sein. Für Bodin war dies die Lösung der andauernden religiösen Konflikte, in denen sich die Monarchen stets einer Seite (katholisch oder protestantisch) verpflichtet fühlten. Nach Bodin steht der souveräne Herrscher über den konfessionellen Konflikten.8 Einige Jahrzehnte nach dieser Grundlegung des zunächst lediglich auf den Herrscher bezogenen Souveränitätskonzepts von Jean Bodin erfolgten zwei zentrale Korrekturen im Rahmen des Westfälischen Friedens: Zum einen setzten sich die Territorialregenten mit ihren Vorstellungen gegen Kaiser und Papst durch, womit eine

4

5

6

7 8

Dieter Grimm, Souveränität: Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, Berlin 2009. Thomas Gergen, »Jean Bodin«, in: Albrecht Cordes u. a. (Hg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Berlin 2008, Bd. 1, Sp. 628 f. Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat, München 1981, Bd. 1–3; ders., Sechs Bücher über den Staat, Bd. 4–6. Gottfried Niedhart (Hg.), Jean Bodin. Über den Staat, Stuttgart 2005. Ausführlich diskutiert Georg Vobruba die Entwicklung des Souveränitätskonzepts ausgehend von Bodin im Hinblick auf die EU , vgl. Georg Voruba, Politische Leistungsfähigkeit und Legitimationsproblem der Europäischen Union. Arbeitspapier. European Series, Leipzig 2012.

276

Dezentralisierung von Herrschaftsansprüchen mit Bindung an ein jeweiliges Territorium verbunden war. Zum anderen wurden das Konzept des souveränen Territorialstaates sowie die Unterscheidung von inneren und äußeren Angelegenheiten etabliert. Damit war die sogenannte Westfälische Staatenordnung vertraglich fixiert und die Grundlagen souveräner Staatlichkeit festgeschrieben.9 »The origin of the nation-state goes back to the geopolitical transformation that happened in Europe after the Peace of Westfalia (1648) and the cultural transformation brought by Protestantism, the rise of vernaculars and the Enlightenment.«10 Das Westfälische System wird seither mit folgenden grundlegenden modernen Herrschaftsprinzipien verbunden: Territorialprinzip, Souveränitätsprinzip und Legalitätsprinzip. Zudem werden Staaten (zunächst nur in Europa, erst im 20. Jahrhundert sollte sich dies weltweit durchsetzen) als die einzig relevanten Akteure im internationalen System anerkannt, die keine Rechenschaftspflicht gegenüber äußeren Instanzen haben. Im Westfälischen System liegen zudem die Anfänge des modernen Völkerrechts, denn fortan sind Staaten die zentralen Akteure im politischen Denken der Neuzeit.11 Es vergingen seither allerdings einige Jahrhunderte bis zur endgültigen Durchsetzung dessen, was wir heute als Westfälische Staatenordnung bezeichnen. Es dauerte in Westeuropa bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, bis die verschiedenen nationalen Gebilde aus Territorialstaaten (unter anderem Italien, Frankreich, Deutschland) bestanden, genauer aus territorial gebundenen Nationalstaaten.12 Ohne in die Details der umfänglichen juristischen Diskussionen eindringen zu können, zeigen sich drei verschiedene Dimensionen von Souveränität, die gerade im Hinblick auf die Diskussion über 9

10

11

12

Johannes Burghardt, »Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas«, in: Zeitschrift für Historische Forschung 24 (1997), Heft 4, S. 509–574. Chiara Pierobon, »Back to the Nation-State: Citizenship Practices in Germany and Italy«, Eurosphere, Workingpaper, Nr. 26, 2010, S. 5. Peter B. Evans, »The Eclipse of the State? Reflections on Stateness in an Era of Globalization«, in: World Politics 50 (1997), Heft 1 S. 62–87. Betrachtet man aber Gesamteuropa, also auch die östlichen und südöstlichen Teile, so zeigt sich, dass der Prozess der Nationalstaatsgründung mit dem Zusammenbruch des Habsburger Reiches in eine weitere wichtige Phase nach 1918 eintrat.

277

europäische Einigungsprozesse bedeutsam sind. Hier ist zum einen die völkerrechtliche Konzeption von Souveränität (äußere Souveränität) zu nennen, worunter die Unabhängigkeit eines Staates gegenüber äußeren Mächten zu verstehen ist. Darin gründet die Unabhängigkeit und Gleichheit aller Staaten in den internationalen Beziehungen. Diese Unabhängigkeit gipfelt häufig im Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates. »[The] main feature of the nation-state is its sovereignty which […] means that political authority maintains both law and order within the boundaries of its territory and the integrity of these boundaries against an international environment, where competing states recognize each other under international law.«13 Daneben steht – als zweiter Aspekt – eine innere Souveränität im Staatsrecht, die auf die souveräne Ausübung von Staatsgewalt gründet. Georg Jellinek, einer der bedeutendsten Staatsrechtler des 20. Jahrhunderts, hat seine Staatslehre, in der er die Unabdingbarkeit von drei Voraussetzungen für einen modernen Staat formulierte, in erster Linie auf die innere Souveränität abgestellt. Ein souveräner Staat besteht nach Jellinek aus drei Komponenten: Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatsgewalt.14 Insbesondere im Konstituierungsprozess von Nationalstaaten war es hilfreich, entweder das Volk als historisch gegeben oder das Gebiet des zu gründenden Staates zur objektiv gültigen und nicht hinterfragbaren Gegebenheit zu erklären. Diese beiden Leitideen – Volk oder Gebiet als Ausgangspunkte der legitimen Konstituierung eines Staates zu wählen – führten zu den Prinzipien der Staatsangehörigkeit, des ius sanguinis und des ius soli.15 Im Hinblick auf den jeweiligen Stellenwert jeder dieser drei Komponenten ist man sich jedoch in der Staatslehre nicht einig: Während Doehring die Ansicht vertritt, dass das Volk die wichtigste »Substanz« des Staatsbegriffs sei,16 meint Schöbener, dass diese Bedeutung allein der Staatsgewalt zukommt.17

13 14 15

16

17

Pierobon, Back to the Nation-State, S. 5. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1929. Rogers Brubaker, Citizenship and Nationhood in France and Germany, Cambridge 1992. Karl Doehring, Allgemeine Staatslehre. Eine systematische Einführung, Heidelberg 1991, S. 25. Burkhard Schöbener, Allgemeine Staatslehre, München 2009.

278

Die Position von Doehring – das Volk sei die wichtigste »Substanz« des Staatsbegriffs18 – führt unmittelbar zur dritten Konzeption von Souveränität, jener der Volkssouveränität. Das Selbststimmungsrecht der Völker, also das Recht sich in einem Staat zusammenzuschließen (was nicht Gegenstand des Konzepts zum Zeitpunkt seiner Genese war), hat zumindest die europäische Geschichte im 19. und insbesondere im 20. Jahrhundert nach dem Ersten Weltkrieg weitreichend bestimmt. Das Konzept der Volkssouveränität – obgleich es sich erst im 20. Jahrhundert in der westlichen Welt weitgehend durchgesetzt hat – ist als Idee ein zentraler Bestandteil der Moderne. Ebenfalls im 20. Jahrhundert findet sich dem Anspruch nach eine Kopplung zwischen Demokratie als (einzig) legitime Herrschaftsform und Volkssouveränität als Grundbedingung dieser Herrschaftsform.19 Betrachtet man die Herausbildung von Demokratie als moderne Ausprägung souveräner »Staatsgewalt«, so zeigt sich die Ausweitung demokratischer Rechte auf größere Bevölkerungsgruppen (zum Beispiel Frauen) wie auch auf immer mehr Felder, wie sich in der berühmten Arbeit des Soziologen Thomas H. Marshall zur Herausbildung der Bürgerrechte zeigt. Als vorerst historisch letzter Schritt haben sich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts beispielsweise die sozialstaatlichen Rechte von Bürger/innen gegenüber dem Staat herausgebildet. Im Zuge der Durchsetzung dieser sozialstaatlichen

18

19

»Die Bevölkerung eines Staates macht, wohl unbestritten, die wichtigste Substanz des Staatsbegriffs aus, denn Staatsgebiet und Staatsgewalt sollen dem Volk dienen und nur wegen des Volkes bedarf man der Erläuterungen der Rechtsbeziehungen«, Doehring, Allgemeine Staatslehre, S. 25. Allerdings wurde das Konzept der Souveränität insgesamt (nicht der Volkssouveränität) historisch in durchaus unterschiedlichen Herrschaftskontexten genutzt: monarchisch, autoritär und demokratisch, Grimm, Souveränität. Somit ist die Frage von Souveränität nicht unbedingt an ein modernes, demokratisches Staatsverständnis gebunden. Fokussiert man auf den Aspekt der Volkssouveränität (als Charakteristikum moderner Demokratien), so zeigt sich dessen große Bedeutung auch in der Entwicklung der EU von einer Wirtschaftsgemeinschaft hin zu einer Union mit vertiefter Zusammenarbeit in vielen Politikbereichen. So ist auch in den Beitrittsverträgen der Europäischen Union Demokratie als Herrschaftsform festgeschrieben.

279

Rechte20 ist sogar zu beobachten, dass die Legitimitätsgrundlage des Staates durch die Sorge für das Wohlergehen der Bürger (nicht im Sinne von Schutz vor Angriffen äußerer Mächte) auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weiter an Bedeutung gewann. 21 Insgesamt ist also Souveränität ein Konzept, das in der politischen Realität der letzten Jahrhunderte gravierende Veränderungen erfuhr und erst im 20. Jahrhundert auf internationaler Ebene weitgehend unhinterfragte Akzeptanz erlangte – für Robertson22 eines der zentralen Merkmale von Globalisierung. Scheinbar zeitgleich mit dieser unhinterfragten Gültigkeit des Souveränitätskonzepts – in allen drei Dimensionen – kommt es in Gestalt der Europäischen Union an seine Grenzen. In den letzten Jahrzehnten haben sich verschiedene Politikbereiche herauskristallisiert, die bereits sehr früh als gemeinschaftliche Handlungsfelder betrachtet wurden (zum Beispiel Verbraucherpolitik, Umweltpolitik), deren Regulierungen sich indes nicht an der Raumordnung des Staatsgebietes festmachen lassen. In der Konsequenz bedeutet dies, dass die innere Souveränität nicht mehr uneingeschränkt gegeben ist. Auch die äußere Souveränität ist beschränkt, beispielsweise durch den vereinbarten Verlust der alleinigen Kontrollautonomie über die Staatsgrenzen. Und schließlich können zwar die Bürger in den Mitgliedstaaten der EU nach wie vor nationale Parlamente und auch das EU -Parlament wählen, allerdings werden die Entscheidungen zur Einschränkung der inneren und äußeren Souveränität nicht von diesen gewählten Parlamenten getroffen.

20

21

22

Vgl. Thomas H. Marshall, Citizenship and Social Class and other Essays, Cambridge 1950. Unabhängig davon, welche Form des Wohlfahrtsregimes, beispielweise in der Typologie von Esping-Andersen, sich in Europa etabliert hat, so besteht in allen europäischen Staaten ein selbstverständlicher Anspruch der Bürger gegenüber dem Staat, für die Verbesserung des Lebensstands und damit für Wohlstandszuwachs zu sorgen. Roland Robertson, Globalization. Social Theory and Global Culture, London 2000.

280

Die EU – ein postsouveränes Gebilde? Sprechen wir von postsouveräner Territorialität im Kontext des europäischen Integrationsprozesses und im Hinblick auf die aktuelle und sich möglicherweise abzeichnende Gestalt der EU , so stellt sich zunächst die Frage nach der Verknüpfung von Souveränität und Territorialität. In diesem Zusammenhang ist der »Staatscharakter« der Europäischen Union zu klären. Während das Konzept der Souveränität häufig aus juristisch-staatsrechtlicher Perspektive behandelt wird, findet sich zur Territorialität eine enge und scheinbar unhintergehbare Koppelung an den Nationalstaat als die dominante Form der politischen Organisation in der Moderne.23 So liegt die faktisch seit Gründung der europäischen Gemeinschaft gestellte Frage nahe, welche politische Organisationsform es jenseits des Nationalstaates geben könnte und insbesondere wie das Verhältnis der Europäischen Union zu den sie konstituierenden Nationalstaaten aussehen sollte. Damit verbunden ist die Diskussion über das Gebilde der Europäischen Union, die bereits seit mehreren Jahrzehnten kontrovers geführt wird. Für die Beschreibung der Europäischen Union (und ihrer Vorgängerinstitutionen) finden sich einige theoretisch-analytische Zugänge. Gerade in den letzten Jahrzehnten kreisen diese Ansätze um die Frage, in welcher Hinsicht und bis zu welchem Ausmaß die EU einen Bundesstaat mit den damit verbundenen Kriterien staatlicher Souveränität (Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt) darstellt. Die faktische Begrenzung der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht durch das sogenannte Lissabon-Urteil bestätigt und zugleich in seiner Reichweite begrenzt.24

23

24

Benedict Anderson/Thomas Mergel, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main 2007; John Meyer u.a., »World Society and the Nation-State«, in: American Journal of Sociology 103 (1997), S. 144–181. Claudio Franzius, »Vom Nationalstaat zum Mitgliedstaat und wieder zurück? Modifikationen ›offener Staatlichkeit‹ durch das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts«, in: Leviathan 38 (2010), Heft September, S. 429–464.

281

Die beiden einflussreichsten klassischen Integrationstheorien – Intergouvernementalismus und Neo-Funktionalismus25 – befassen sich indirekt mit der Herausforderung postnationaler Souveränität. Aus Sicht des Neofunktionalismus ist in den Grundprinzipien und Übereinkünften der Europäischen Integration ein Integrationsautomatismus angelegt, mit der Folge, dass die (partielle) Aufgabe der mitgliedstaatlichen Souveränität ein Nebenprodukt der immer weiter gehenden Integration ist.26 Demgegenüber will der Intergouvernementalismus die Aufgabe mitgliedstaatlicher Souveränität als »rote Linie« verstanden wissen, die im Interesse der Mitgliedstaaten nicht überschritten werden darf. Beide Theorien zeichnet aus, dass sie nach einer Art Blaupause suchen, mit der die Frage nach dem »Staatscharakter« der EU beantwortet beziehungsweise die Europäische Union in die bekannten Kategorien eingeordnet werden kann. Sie kommen hierbei aufgrund ihrer unterschiedlichen Grundannahmen zu differenten Ergebnissen. Während der Intergouvernementalismus27 nach wie vor die Dominanz der Eigeninteressen von Nationalstaaten als Triebfeder des Integrationsprozesses betrachtet, fand beim Neofunktionalismus, parallel zu bedeutsamen Integrationsentwicklungen in den 1980er Jahren, eine Neuausrichtung statt. Nach der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) und dem Vertrag von Maastricht (1992) sei, so Mattli/Slaughter28, ein neuer Bereich des spill-over entstanden: die Verrechtlichung der europäischen Integration vor allem durch den EuGH . Es erfolgte, so das zentrale Argument, ein Aufbau rechtlicher Sachzwänge, denen sich nationale

25

26

27

28

An theoretischen Analysemodellen und allgemeinen Überblickbänden gibt es mittlerweile eine sehr große Auswahl, zum Beispiel Hans-Jürgen Bieling, »Intergovernementalismus«, in: ders./Marika Lerch (Hg.), Theorien der europäischen Integration, Wiesbaden 2006, S. 91–116; Andreas Grimmel/Cord Jakobeit, Politische Theorien der Europäischen Integration. Ein Text- und Lehrbuch, Wiesbaden 2008; Antje Wiener/Thomas Diez, European Integration Theory, Oxford/New York 2009. Dieter Wolf, »Neo-Funktionalismus«, in: Bieling/Lerch (Hg.), Theorien der europäischen Integration, S. 65–90. Vgl. Andrew Moravcsik/Milada Vachudova, »National Interests, State Power and EU Enlargement«, in: East European Politics and Societies 17 (2003), S. 42–57; Bieling, Intergovernementalismus. Vgl. Walter Mattli/Anne-Marie Slaughter, »Revisiting the European Court of Justice«, in: International Organziation 52 (1998), Heft 1, S. 177–209.

282

Regierungen auch bei unterschiedlichen Interessen nicht entziehen können. Auch der in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren prominente Multi-Level-Governance-Ansatz stellt die Frage nach dem Staatscharakter der EU . Allerdings geht er im Ergebnis sowohl über den Neofunktionalismus als auch über den Intergouvernementalismus hinaus, indem herausgestellt wird, dass die EU ein Gebilde eigener, neuer Art sei, das sich nicht anhand der klassischen Staatskriterien einordnen lasse. Die EU sei ein postmodernes Gebilde, das sich eben nicht durch eine bestimmte Logik auszeichne, sondern in dem vielmehr verschiedene Steuerungsprozesse nebeneinander liefen. Dabei bleibt die Frage der Souveränität eine, die von den politischen Akteuren quasi frei auszuhandeln ist.29 Im Ergebnis führt das dazu, dass einzelne Politikfelder weitgehend vergemeinschaftet sind (zum Beispiel Wettbewerbspolitik), andere dagegen weiterhin in nationaler Verantwortung (zum Beispiel Innenpolitik) verbleiben. Diese verschiedenen Reichweiten von Integration und Zusammenarbeit wurden im Wesentlichen in den Vertragswerken festgelegt, die erst nach 1990, also nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, entstanden: Vor allem ist hier der Vertrag von Maastricht (1992)30 und der Vertrag von Lissabon (2007)31 zu nennen. Diese unterschiedlichen Vergemeinschaftungsintensitäten stellen zweifelsohne eine Komplexitätssteigerung des europäischen politischen Systems dar.32 Gleichzeitig wurde damit die räumliche Gestalt der Europäischen Union jedoch immer undeutlicher. Zeigte sich

29

30

31

32

Michèle Knodt/Martin Große Hüttmann, »Der Multi-Level GovernanceAnsatz«, in: Bieling/Lerch (Hg.), Theorien der europäischen Integration, S. 224–247; Wiener/Diez, European Integration Theory. Kernstück ist die Neustrukturierung der EU anhand der drei Säulen Wirtschafts- und Währungspolitik, Außen- und Sicherheitspolitik sowie Innen- und Justizpolitik. Der Vertrag von Lissabon ist im Wesentlichen eine Antwort auf die Herausforderungen, die aus der vorangegangenen Erweiterungswelle (vor allem in Mittelund Osteuropa) erwachsen waren. Zu den Schwierigkeiten von Governance im Mehrebenensystem vgl. beispielsweise Ingeborg Tömmel/Chryssoula Kambas/Patricia Bauer (Hg.), Die EU – eine politische Gemeinschaft im Werden, Opladen 2002.

283

schnell nach dem Ende des Ostblocks der Beitrittswunsch insbesondere der Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes, so brachte diese Beitrittswelle es mit sich, dass man sich den Wünschen der Türkei, die schon seit Jahrzehnten bestanden, nicht länger verschließen konnte. Gleichzeitig stellen sich aufgrund der Erweiterungen permanent Fragen zur räumlichen Grenze Europas, während die feldspezifische Vertiefung der Vergemeinschaftung sowie die räumliche Ausdehnung institutioneller Leitideen immer weiter fortgeschrieben werden. Zentrale Elemente in diesem Prozess sind Institutionen und Verfahrenswege auf europäischer Ebene. Weitere Leitideen der EU zeigen sich heute insbesondere im Bedeutungszuwachs des Bürgers. Prozesse der Europäisierung im Sinne der Vergemeinschaftung von Feldern und Praktiken in Verbindung mit einer neuen Leitidee führen vor allem im Schutz der Bürger und in der Ermöglichung individuell besserer Lebensbedingungen dazu, dass die EU (beziehungsweise deren Organe) einen zentralen Beitrag zur Durchsetzung von Individualschutzrechten liefert.

Identität und Volkssouveränität als innerer Zusammenhalt in der Demokratie Mit dem Nationalstaat begann auch der Siegeszug der nationalstaatlichen Identität und damit die Unterstellung, dass sich die Bürger in Gestalt einer kollektiven Identität mit einem Nationalstaat identifizieren. Diese Unterstellung wurde auch auf die EU übertragen. Insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren war das Konzept der europäischen (kollektiven) Identität eines der vermeintlichen Schlüsselkonzepte zur weiteren Integration und damit zur Vertiefung der EU .33 In diesem Zusammenhang wurden unter anderem auch »europäische« Geschichtsbücher konzipiert. Allerdings zeigte sich, dass sich eine europäische Identität nicht nach dem Muster nationaler kollektiver Identitäten einstellte. Zudem wurde auf konzep-

33

Vgl. Winfried Loth, »Nationale und europäische Identität in historischer Perspektive«, in: Trömmel/Kambas/Bauer (Hg.), Die EU – eine politische Gemeinschaft im Werden, S. 177–188.

284

tionelle Schwierigkeiten in der Übertragung des nationalstaatlichen Modells auf die EU verwiesen.34 Dennoch wird immer wieder quasi als Nebenprodukt die Frage nach der nationalen und/oder europäischen Identität aufgeworfen. Es scheint bislang unklar, ob eine kollektive Identität auf europäischer Ebene möglich ist – und wenn ja, auf welcher Grundlage. Klaus Eder versteht unter kollektiver Identität »narrative constructions which permit the control of the boundaries of a network of actors«.35 Im Unterschied zu den klassischen Definitionen verweist Eders Verständnis stärker auf ein Netzwerk von Akteuren, berücksichtigt allerdings nicht das staatliche Territorium, das für die nationale kollektive Identität eine wichtige Größe darstellt. Eder sieht eine europäische Identität auf der Basis der zunehmenden Sozialkontakte über die Mitgliedstaaten hinweg im Entstehen.36 Guibernau zeigt demgegenüber, dass die sich abzeichnende europäische Identität eine nicht emotionale Identität sei,37 die – so Ivic/Lakicevic38 – stärker das freie, autonome Individuum betone und weniger das Kollektiv. In beiden Zugängen – Eder und Ivic/Lakicevic – erhalten die individuellen Bürger als »Produzenten« einer kollektiven Identität einen neuen Status. Sind sie in den klassischen Modellen noch die Adressaten der Deutungsangebote politischer Eliten beziehungsweise Intellektueller, so sind sie nunmehr aktiv beteiligt an der Herausbildung von Sozialkontakten über Staatsgrenzen hinweg (Eder) oder aber Nutzer von Verfahren, die ihre Bürgerrechte auf der Basis europäischer Übereinkünfte in Anspruch nehmen und ausgestalten. 34

35

36 37

38

Vgl. Martin Kohli, »Die Entstehung einer europäischen Identität: Konflikte und Potentiale«, in: Hartmut Kaelble/Martin Kirsch/Alexander Schmidt-Gernig (Hg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2002, S. 111–134. Klaus Eder, »A Theory of Collective Identity. Making Sense of the Debate on a ›European Identity‹«, in: European Journal of Social Theory 12 (2009), Heft 4, S. 427–447, hier S. 427. Vgl. Eder, Collective Identity. Vgl. Montserrat Guibernau, »Prospects for a European Identity«, in: International Journal of Politics, Culture and Society 24 (2011), Heft 1–2, S. 31–43. Vgl. Sanja Ivic/Dragan Lakicevic, »European Identity: Between Modernity and Postmodernity«, in: Innovation: The European Journal of Social Science Research 24 (2011), Heft 4, S. 395–407.

285

Souveränität wird neben der staatsrechtlichen Trias nach Jellinek (Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatsgewalt) im Konzept der Volkssouveränität auch auf das Volk bezogen. Insofern ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass als eines der größten Probleme der europäischen Integration das sogenannte Demokratiedefizit gilt39 – also die fehlende demokratische Legitimation zentraler Institutionen wie der Europäische Rat oder die Europäische Kommission. Die These vom Demokratiedefizit weist vor allem auf die geringen Möglichkeiten politischer Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger (durch Wahlen) hin. Das Desinteresse der Bürger an der EU resultiere – so Buckel – vor allem aus diesem demokratischen und sozialen Defizit.40 Gleichzeitig hat die einzig demokratisch gewählte Institution, das europäische Parlament, im Vergleich mit nationalstaatlichen Parlamenten kaum Kompetenzen. Allerdings muss seit dem Vertrag von Lissabon (2007) das europäische Parlament (als einzige demokratisch legitimierte Einrichtung) der Ernennung des Kommissionspräsidenten zustimmen. Die Debatte über das Demokratiedefizit blendet allerdings aus, dass viele Institutionen und Organisationen, die als bedeutsam anerkannt und überaus einflussreich sind, ebenfalls keinerlei demokratische Legitimation besitzen. Dies gilt zum einen für Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorganisationen (als Akteure der viel beschworenen Bürgergesellschaft/civil society), aber auch für die Vereinten Nationen, deren Äußerungen ein hohes moralisches Gewicht zukommt. Gleichzeitig wird argumentiert, dass die Europäische Integration im Wesentlichen von politischen Eliten und nicht von Bürgern betrieben wurde41 und schon daher kein gemeines demokratisches Projekt erkennbar sei. Insgesamt zeigt sich, dass sowohl das nationalstaatliche Konzept der kollektiven Identität als auch das der demokratischen Legitimation keine geeignete Basis für die europäische Integration sowie für

39

40

41

Vgl. John Roose, »Europäisierung ohne Partizipation Der Einigungsprozess und die Beteiligungslücken«, in: Vorgänge 50 (2011), Heft 2, S. 95–103. Vgl. Sonja Buckel, »Staatsprojekt Europa«, in: Politische Vierteljahresschrift 52 (2011), Heft 4, S. 636–662, hier S. 655. Monika Eigmüller, »Europeanization From Below: The Influence of Individual Actors on the EU Integration of Social Policies«, in: Journal of European Social Policy 23 (2013), Heft 4, S. 363–375.

286

die Vertiefung der EU darstellen. Dies liegt daran, dass diese Konzepte in die Logik der Westfälischen Staatenordnung eingepasst sind und nicht einfach auf eine andere Aggregatebene gehoben werden können. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die EU nicht auf diesen Konzepten gründet, sondern dass vielmehr neue Leitideen die Integration antreiben. Dabei ist allerdings keine Prognose über die künftige Bedeutung der nationalstaatlichen Ebene innerhalb der EU möglich. Es soll aber verdeutlicht werden, dass auf europäischer Ebene andere Ideen bedeutsamer sind als nationalstaatliche.

Der Sieg des Universalismus: Souveräne Individuen und einheitliche Verfahren Der territoriale Nationalstaat war und ist an das räumliche Modell des Containers und damit an die Notwendigkeit klarer Grenzen gekoppelt. »Territoriality and sovereignty (which is based on it) have been essential ordering concepts of modernity, and state borders have served as their material and symbolic expression.«42 Die politische Legitimität innerhalb eines Nationalstaates wie auch zwischen verschiedenen Nationalstaaten war damit immer an den legitimen Anspruch auf ein bestimmtes Territorium gebunden. Im Unterschied zu den Nationalstaaten und als Ergebnis der räumlichen Offenheit der EU folgt die politische Legitimität der EU aber nicht den Logiken des Containerraums. Die Europäische Union strebt kein bestimmtes Gebiet der Zugehörigkeit an. Vielmehr gibt es Aufnahmekriterien, die Bewerber zu erfüllen haben. In diesem Sinn kann man die These vertreten, dass die Wirkmacht der Idee, die in den Aufnahmekriterien zum Ausdruck kommt – ganz im Sinne Max Webers –, das Gebilde EU zusammenhält. Innerhalb der Europäischen Union stellt sich die Bedeutung von Grenzen als ambivalent dar. Während einerseits nur Staaten (und keine Regionen) der EU beitreten können, begeben sie sich als Mit42

Ulf Hedetoft, »Constructions of Europe: Territoriality, Sovereignty, Identity: Disaggregation of Cultural and Political Space«, in: Stefan Immerfall (Hg.), Territoriality in the Globalizing Society. One Place or None?, Berlin 1998, S. 153–171, hier S. 153.

287

gliedsstaaten in eine Verfahrensmodalität, in der neue Räume (zum Beispiel Regionen) durch grenzüberschreitende Verfahren konstituiert werden. Diese Bildung ist nicht nur, so wie Bach,43 argumentiert, das Ergebnis zwischenstaatlicher Verhandlungsprozesse, sondern vielmehr auch und vor allem direktes Ergebnis von Entscheidungen und Übereinkünften auf der EU -Ebene. Insgesamt sind hinsichtlich der Souveränität und der Gestalt der EU zwei zentrale Entwicklungen von Bedeutung: zum einen eine feldspezifische Vertiefung der Integration, die sich in den letzten Jahren vor allem an der Vereinheitlichung von Verfahren in vielen Politikfeldern zeigt (Europäisierung), und zum anderen eine signifikante Beziehung zwischen Bürgern und der EU , die auf der Basis von EU -Richtlinien den Bürgern Schutzrechte gegenüber ihren eigenen Nationalstaaten einräumt beziehungsweise zur Durchsetzung solcher Rechte verhilft. Während es für den politischen Raum, der dem Nationalstaat zu eigen ist, über das Territorium und das Volk eine scheinbar naturwüchsige Gültigkeit zu geben scheint,44 besteht dieses Konstitutionselement für die Europäische Union nicht. Die Offenheit ihrer räumlichen Konstellation erfordert Beitrittsbedingungen, die als ahistorisch konzipiert werden. Diese stellen Beitrittsanforderungen dar, die allen Staaten auferlegt werden, die der EU beitreten wollen. Sie bestehen im Wesentlichen in der Erfüllung bestimmter demokratischer Standards45 und in der Politikgestaltung – das heißt der gesamte acquis communautaire (EU -Gesetze, Richtlinien, Vertragsvereinbarungen etc.) muss umgesetzt werden.

43

44

45

Maurizio Bach, »Die Konstitution von Räumen und Grenzbildung in Europa. Von verhandlungsresistenten zu verhandlungsabhängigen Grenzen«, in: Monika Eigmüller/Steffen Mau (Hg.), Gesellschaftstheorie und Europapolitik. Sozialwissenschaftliche Ansätze zur Europaforschung, Wiesbaden 2010, S. 153–178. Die scheinbare »Naturwüchsigkeit« wurde vielfach durch konstruktivistische Studien dokumentiert, zum Beispiel Benedict Anderson/Thomas Mergel, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main 2007; Bernhard Giesen, Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt am Main 1993. Zur Veränderung der Türkei durch die Beitrittsverhandlungen siehe zum Beispiel Gülnur Aybet, »Turkey and the EU after the First Year of Negotiations: Reconciling Internal and External Policy Challenges«, in: Security Dialogue 37 (2006), Heft 4, S. 529–549; Susannah Verney/Kostas Ifantis (Hg.), Turkey’s Road to European Union Membership, London/New York 2008.

288

Die Beitrittsanforderungen sind in den Kopenhagener Kriterien für die Vollmitgliedschaft in der EU niedergelegt. Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat institutionelle Stabilität garantieren, die Wahrung der Menschenrechte gewährleisten sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklichen. Die Mitgliedschaft erfordert ferner eine funktionierende Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Sie setzt außerdem voraus, dass die einzelnen Beitrittskandidaten die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen machen. Diese Voraussetzungen haben umfassende Auswirkungen auf die Beitrittsprozesse wie auch auf die Entwicklungen innerhalb der Kandidatenländer. Dies zeigt sich beispielsweise am Fall der Türkei. Ergun verdeutlicht, dass die türkische Zivilgesellschaft sowohl als Akteur innerhalb des Beitrittsprozesses auftritt als auch gleichzeitig versucht, innerstaatliche Veränderungen durch den Beitrittsprozess zu initiieren.46 Ebenfalls am Beispiel der Türkei zeigt wiederum Firat, dass aus scheinbar analogen Interessen zwischen der EU und der Türkei (wie zum Beispiel dem Wunsch nach wachsendem Wohlstand durch Ausweitung des freien Marktes) fundamentale Ungleichheiten resultieren und kulturelle Differenzen gerade bei bürokratischen Verfahren kaum zu überbrücken sind.47 Diese Entwicklungen auf der Grundlage der Kopenhagener Kriterien und des gesamten acquis communautaire führen vor allen in den Politikfeldern, in denen bereits Vereinheitlichungs- und Integrationsprozesse stattgefunden haben, zu einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration.48 Dies gilt für viele Bereiche der Wirtschaftspolitik, zum Beispiel für Wettbewerbsfragen. Da das Feld der

46

47

48

Ayça Ergun, »Civil Society in Turkey and Local Dimensions of Europeanization«, in: Journal of European Integration 32 (2010), Heft 5, S. 507–522. Bilge Firat, »Failed Promises: Economic Integration, Bureaucratic Encounters, and the EU -Turkey Customs Union«, in: Dialectical Anthropology 37 (2013), Heft 1, S. 1–26. Thomas Diez/Apostolos Agnantopoulos/Alper Kaliber, »File: Turkey, Europeanization and Civil Society: Introduction«, in: South European Society and Politics 10 (2005), Heft 1, S. 1–15.

289

Wirtschaft und die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums historisch eine der ersten Integrationsleistungen war, sind hier die Vergemeinschaftung und die damit verbundene Einschränkung von Souveränitätsrechten schon weit fortgeschritten. Die Vereinheitlichung von Verfahren erweist sich als zentraler Integrationsmechanismus. Die Analysen von Europäisierungsprozessen gehen aber darüber hinaus und fragen, welche Auswirkungen der Integrationsprozess hat – »was passiert, wenn die europäischen Institutionen einmal eingerichtet sind und anfangen, Wirkung zu zeigen«.49 Markant lässt sich die Wirkung an der Entstehung des europäischen Verwaltungsraums beobachten, der bislang allerdings noch ein wenig beachtetes Feld ist. »A development towards a ›European Administrative Space‹ (EAS ), understood as convergence on a common European model, can be seen as a normative program.«50 Auch wenn, wie Pedersen zeigt,51 die Umsetzung entsprechender Richtlinien in den einzelnen Mitgliedsstaaten trotz einheitlicher Rahmenvorgaben sehr unterschiedlich ausfällt, entfalten sie normative Wirkungen. Denn trotz der unterschiedlichen Praxis und mancher Versuche, einer strikten Umsetzung zu »entkommen« (zum Beispiel auf dem Feld der Korruption in einigen südosteuropäischen Staaten), hat die Europäische Union im Krisenfall relativ weitreichende Möglichkeiten, um für die Durchsetzung der Verfahrensvorgaben zu sorgen. Die »Einmischungen« in Griechenland, Spanien und Portugal stellten zweifelsohne schmerzhafte Eingriffe in die Souveränität dieser Länder dar. Obgleich die »Erfolge« dieser Eingriffe umstritten sind, wurden dabei Verfahren offengelegt, die mit den Kopenhagener Kriterien unvereinbar sind (zum Beispiel wurden umfängliche Strukturen von Korruption aufgedeckt), was in der Konsequenz zur verstärkten Beobachtung dieser Staaten und zu einem erheblichen Vertrauensverlust insbesondere auf den Finanz-, aber auch auf allen anderen Märkten führte.

49

50

51

Katrin Auel, »Europäisierung nationaler Politik«, in: Bieling/Lerch (Hg.), Theorien der europäischen Integration, S. 293–318, hier S. 294. Johan Olsen, »Towards a European Administrative Space«, in: Journal of Public Policy 10 (2003), Heft 4, S. 506–531, hier S. 506. Lene Holm Pedersen, »Transfer and Transformation in Processes of Europeanization«, in: European Journal of Political Research 45 (2006), Heft 6, S. 985–1021.

290

Die Vereinheitlichung von Verfahren, Rechten und Freiheiten zeigt sich zugleich im Hinblick auf den »Souveränitätsgewinn« der Individuen beziehungsweise der europäischen Bürger. Im Container des Nationalstaates blieb die Bindung der Bürger an den Staat durch den Aufenthaltsort umfassend. Das Recht auf Freizügigkeit hat dieses Verhältnis fundamental verändert, mit weitreichenden Folgen für die Kontrolle des Nationalstaates über den Zugang zu seinem eigenen Territorium. Daraus ergibt sich eine andere nationalstaatliche wie auch eine gesamteuropäische Dynamik der Migrationspolitik. Mit der Einführung des Schengen-Raums konstituierten sich neue, der Revision/Verschiebung entsprechend offene Grenzen. Die Nationalstaaten haben dadurch weder vollständige Kontrolle über den Zugang zu ihrem Staatsgebiet noch über den Umgang mit Migranten.52 Auf den insgesamt großen Handlungs- und Entscheidungsspielraum der Nationalstaaten im Umgang mit Migranten hat Pierobon hingewiesen: »[I]n fact, nation-states have the power to authorize and forbid movement and to give people identities for administrative purposes. In this perspective, by holding the monopoly of the ›means of movement‹ the state is a central actor in deciding and shaping migration from and to its territory.«53 Die Einführung einer Unionsbürgerschaft und das damit verbundene allgemeine Recht auf Freizügigkeit waren das Ergebnis langer Verhandlungsprozesse zwischen den Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament.54 Die Unionsbürgerschaft stellt einen der Grundpfeiler des Freiheitsgewinns des Individuums dar, ist aber gekoppelt an den territorialen Kontrollverlust der Nationalstaaten. Insgesamt stellt sich damit die Frage nach den Bürgerrechten beziehungsweise nach dem Bürgerstatus (citizenship), was wiederum zum Konzept der Souveränität zurückführt. Denn während in der Staatslehre Souveränität allein an den Staat gebunden ist, wird der Souveränitätsbegriff nun auf das Volk und damit auf den zentralen 52

53 54

Family Reunification Directive (Council Directive 2003/86/EC of 22 September 2003); Saskia Bonjour/Maarten Vink, »When Europeanization Backfires. The Normalization of European Migration Politics«, in: Acta Politica 48 (2013), Heft 4, S. 389–407. Pierobon, Back to the Nation-State, S. 5. Vgl. Buckel, Staatsprojekt Europa, S. 644.

291

Akteur in demokratischen Staaten ausgeweitet. Volkssouveränität ist an die Idee des freien Individuums gebunden: souveräne Individuen (ohne Beachtung der je individuellen Merkmale wie Geschlecht oder Ethnie) finden sich zu einem Volk zusammen.55 Historisch waren es viele »Volksbewegungen« die sich mit diesem Anspruch gegen einen Staat gestellt haben und auf ihre Souveränität pochten – »Wir sind das Volk« ist in diesem Zusammenhang einer der wohl berühmtesten Leitsätze. Auf die enge Kopplung zwischen Volkssouveränität und Demokratie wurde im Kontext des Souveränitätskonzepts bereits verwiesen. Innerhalb der EU lässt sich nun aber – spätestens seit dem Vertrag von Maastricht – ein Bedeutungszuwachs beobachten, und zwar einerseits hinsichtlich des einzelnen, souveränen Individuums in Relation zum Volk als Souverän und andererseits in Relation zu den äußeren und inneren Souveränitätsrechten des jeweiligen Nationalstaates. Dieser Souveränitätsgewinn der Individuen, der eines der basalen Prinzipien der EU darstellt, tritt schon vor dem europäischen Integrationsprozess in anderen politischen Kontexten deutlich hervor. Denn der Siegeszug individueller Rechte gegenüber dem Staat begann spätestens mit der Charta der Vereinten Nationen. Vor allem Seyla Benhabib verweist auf die enorme Bedeutung von Individualschutzrechten. Ihre Arbeiten beziehen sich vor allem auf »(Zu)wanderer«, auf internationale Migrationsdynamiken und auf die Frage nach der Tragweite unveräußerlicher und unhintergehbarer Individualrechte.56 Damit besteht eine dauerhafte Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus. Diese Spannung wird allerdings durch die umfassende Ausgestaltung von Individual(schutz)rechten innerhalb der EU spezifisch bearbeitet. Damit wird die durch die Menschenrechte produzierte Spannung zwischen Partikular- und Kontrollinteressen der Staaten einerseits und den universalen Ansprüchen der Individuen andererseits noch um eine weitere Dimension ergänzt, da die EU -Richtlinien die nationalstaatliche Souveränität einschränken und dem Individuum gleichzeitig Souveränitätsgewinne garantieren. 55

56

Craig Calhoun, Nations Matter: Citizenship, Solidarity, and the Cosmopolitan Dream, Oxford 2007. Seyla Benhabib, The Rights of Others. Aliens, Residents and Citizens, Cambridge/New York 2004.

292

Neben diesen Freiheits- und Bewegungsrechten der europäischen Bürger, die sowohl auf den allgemeinen Grundsätzen der Menschenrechte beruhen, aber auch auf der Tatsache, dass die EU -Mitgliedsstaaten ihre Grenzen untereinander für quasi unbedeutend erklärt haben, gibt es einen weiteren, für den europäischen Integrationsprozess insgesamt möglicherweise recht bedeutsamen Aspekt des individuellen Souveränitätsgewinns: die Durchsetzung von Rechten gegenüber dem eigenen Nationalstaat auf der Basis von EU -Richtlinien. Hierbei fallen zwei Dimensionen auf: zum einen die Möglichkeit der Bürger, die Regeln der Europäischen Union zu nutzen, um den eigenen Nationalstaat zum Handeln zu zwingen (zum Beispiel Feinstaubrichtlinie, Antidiskriminierungsgesetz). Buckel zeigt,57 ausgehend von Einzelfallentscheidungen des EuGH zur Gewährung sozialer Rechte von Individuen gegenüber dem EU -Staat, in dem sie zwar leben, dessen Staatsbürgerschaft sie aber nicht besitzen, welche gestalterische Wirkung solche individuellen Ansprüche entfalten. Dies stellt selbst solche Staaten vor ein Problem, die über ein ausgebautes soziales Unterstützungssystem verfügen, entkoppelt die Beziehung zwischen Staatsbürger und nationalem Territorium und stärkt gleichzeitig die Bedeutung des EU -Raumes. Höpner sieht daher den EuGH als bedeutsamen Motor der europäischen Integration.58 Diese Entwicklung verweist auf ein verändertes Konzept des Bürgers. Der Bürger wird mehr und mehr zum Verbraucher mit individuellen Schutz- und Anspruchsrechten. Und damit wird der Verbraucherstatus zum zentralen Bürgerschaftsmoment59 – ein Kriterium, das in den klassischen Theorien zur Staatsbürgerschaft nicht vorgesehen ist. Durch diesen Verbraucherbürger ergeben sich zwei weitere Veränderungen: Die Marktdimension der europäischen Integration erhält ein neues, stärkeres Gewicht, und gleichzeitig verschieben sich die Interessen der Bürger von der kollektiven Interes57 58

59

Vgl. Buckel, Staatsprojekt Europa. Vgl. Martin Höpner, »Der Europäische Gerichtshof als Motor der Integration: Eine akteursbezogene Erklärung«, in: Berliner Journal für Soziologie 21 (2011), Heft 2, S. 203–229. Vgl. Nathan Gibbs »European Constitutionalism and the Modern Social Imaginary«, in: Law Critique 21 ( 2010), Heft 2, S. 147–162.

293

senvertretung ihrer sozialen Rechte (Arbeitnehmerrechte, sozialstaatliche Ansprüche) hin zu individuellen Konsumbürgerrechten. In diesem Sinne ließe sich europäische Identität durchaus als Werteidentität interpretieren (Schutz- und Freiheitsrechte), die allerdings eher einer Art »non-emotional identity«60 gleicht. Es sind verschiedene europäische Leitideen (zum Beispiel NichtDiskriminierung), die ein spezifisches Verhältnis zwischen Bürgern und der EU konstituieren und die meines Erachtens geeignet sind, jene Themen abzulösen, die den Siegeszug des Nationalstaates erklären: äußere Sicherheit, demokratische Mitbestimmung und sozialstaatliche Absicherung. Diese neuen Rechte, die die Bürger auf der Basis von EU -Richtlinien gegen alle Mitgliedsstaaten – auch gegen den eigenen Nationalstaat – durchsetzen können, beziehen sich zum Beispiel auf die Abwehr von gesundheitlichen Risiken (Feinstaubrichtlinie 2008), auf die Niederlassungsfreiheit (Freizügigkeitsrichtlinie 2004) oder auf die Gleichbehandlung (Gleichbehandlungsrichtlinien aus den Jahren 2000, 2002 und 2004). So kommt es im europäischen Einigungsprozess insgesamt zu einer Erweiterung der Beziehung zwischen Bürger und Staat. Diese stellt sich im europäischen Nationalstaat nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem als Wohlfahrtsgewährung dar, sie umfasst zudem die Chance und das Recht der politischen Gestaltung des Gemeinwesens sowie die Sicherstellung persönlicher Freiheiten. Diese Beziehung wird auf EU -Ebene ergänzt durch eine Individualrechtsdurchsetzung gegenüber den Mitgliedstaaten.

60

Vgl. Guibernau, Prospects for a European Identity.

294

Zusammenfassung: Verwerfungen der modernen Leitidee des souveränen Nationalstaates Saskia Sassen hat die EU als einen Versuch bezeichnet, das Universale mit dem Nationalstaatlichen zu verbinden.61 Doch paradoxerweise lässt sich das Nationalstaatliche gerade auf der Ebene der Nationalstaaten sukzessive immer weniger fassen, während es aber von den europäischen Institutionen auch nicht in vollem Umfang übernommen wird. Offensichtlich ist die Tatsache, dass sich die Gestalt der EU mit keiner der üblichen Schablonen (zum Beispiel Bundesstaat/Staatenbund) beschreiben lässt, ein guter Anlass für anderweitige Überlegungen. Hier knüpft die Frage nach postterritorialer Souveränität (die EU besitzt kein definiertes Staatsgebiet) und nach postsouveränen Territorialstaaten (die Mitgliedsstaaten der EU haben einen Teil ihrer Souveränitätsrechte abgegeben, zum Beispiel Kontrollrechte der Außengrenzen) an. Es wurde zu zeigen versucht, dass es Hinweise auf einen Bedeutungsverlust des souveränen Territorialstaates gibt. Zum einen werden universelle Rechte auf der Basis von EU -Richtlinien gegen Mitgliedsstaaten durchgesetzt. Zum anderen konnte deutlich gemacht werden, dass die Leitideen der EU nicht über den Hebel von Identität/Zugehörigkeit oder demokratischer Mitbestimmung greifen, sondern über den Modus der Verfahrensangleichung.62 Damit ist – diesen Begriff hat Jan Delhey63 verwendet – die EU ein Raum formaler Integration, mit dem Ergebnis, dass die Mitgliedstaaten semi-souverän sind. Zur Konkretisierung seiner Argumentation greift Delhey auf Begriffe von David Lockwood – Sozialintegration und Systemintegration – zurück,64 wobei

61

62

63

64

Vgl. Saskia Sassen, Territory, Authority, Rights. From Medieval to Global Assemblages, Princeton 2006, S. 548. Ergänzt werden solche Entwicklungen durch finanzielle Förderanreize (EU Förderprogramme), die an einen Zwang zur Kooperation mit mehreren Partnern aus anderen EU -Ländern gekoppelt sind. Vgl. Jan Delhey, »Die osterweiterte Europäische Union – ein optimaler Integrationsraum?«, in: Eigmüller/Mau (Hg.), Gesellschaftstheorie und Europapolitik, S. 194–212, hier S. 195. Die Begriffsinhalte sind deutlich unterschieden von der klassischen Verwendung bei David Lockwood, »Social Integration and System Integration«, in:

295

Systemintegration die formal-rechtlichen Prozesse vornehmlich auf supranationaler Ebene beinhaltet, während Sozialintegration auf Kontakte im sozialen Nahraum abhebt. Tatsächlich lässt sich ein deutlicher Anstieg von Mobilität – beispielsweise von Arbeitnehmern und Studierenden – feststellen, sodass realiter auch die Sozialkontakte insgesamt internationaler geworden zu sein scheinen. Das Spannungsfeld zwischen individuellen Rechten und demokratischen Erfordernissen wird in der EU neu aufgeworfen, weil die Individualrechte als Schutz- und Anspruchsrechte explizit gegenüber demokratischen Staaten formuliert werden (häufig gegen die eigenen Herkunftsländer) und damit der Universalismus nicht territorial gebunden bleibt, sondern für alle gilt, die der Wertegemeinschaft beitreten wollen. Das Versprechen, Teil der EU zu werden, führt zu umfangreichen Transformationen von Staaten, die vordergründig auf wirtschaftliche Prosperität hoffen und glauben, qua staatlicher Souveränität ihre inneren Angelegenheiten weiterhin als solche behandeln zu können. Gerade weil die EU wenig Eigeninteresse am Beitritt weiterer Staaten hat, können die Hürden auf diese Weise hoch gesetzt werden. Die langen Verhandlungen mit der Türkei sind ein eindrückliches Beispiel für diesen Prozess. Insgesamt ist es allerdings wesentlich bedeutsamer, die jeweils historischen Herausforderungen und »Leitideen« zu betrachten, weil diese – mit dem Begriff von Niklas Luhmann gesprochen – »Resonanz« in Form von politischen Antworten erzeugen. Die Entwicklung der EU scheint zumindest aktuell von der Universalisierung der Grundwerte geprägt zu sein, die vor allem den Schutz des Individuums garantieren sollen. Zudem gibt es erste Hinweise, dass die Legitimität neuer Verfahren die Gestalt der EU insofern verändert, als zwar die inhaltliche Ausgestaltung von Regelungen nicht in den einzelnen Mitgliedsstaaten gleich sein muss (zum Beispiel in der Sozialpolitik), dass aber die in einem Mitgliedsstaat geltenden Regelungen für alle dort lebenden EU -Bürger gelten. Diese Ideen sind zum einen solche des freien, souveränen Subjektes, das für sich (und teilweise auch für andere) auf der Basis von EU -Richtlinien beispielsweise. Schutzrechte erwirken kann. Dieser Bedeutungsgewinn

George K. Zollschan/Walter Hirsch (Hg.), Explorations in Social Change, London 1964, S. 244–257.

296

universaler Rechte ist aber kein Spezifikum Europas,65 sondern erfährt lediglich im Korsett dieses spezifischen politischen Gebildes eine besondere Art der Durchsetzung, weil die Ebene des Nationalstaates an Richtlinien der übergeordneten Instanz (hier der Europäischen Union) gebunden ist. Was demgegenüber spezifisch europäisch zu sein scheint und auch erhebliche Auswirkungen auf die Souveränitätsfrage zeigt, ist die Ausgestaltung von einheitlichen Verfahren. Im Kern werden dabei die politischen Ziele und Ideen in den verschiedenen europäischen Vertragswerken (insbesondere Maastricht und Lissabon) zunehmend auf das Individuum zentriert und kollidieren mit einer auf der Nation gründenden republikanischen Staatsordnung. Der souveräne Staat tritt gegenüber dem souveränen Individuum und gegenüber den überstaatlich vereinbarten Verfahrensregeln in den Hintergrund, was perspektivisch in einen integrierten europäischen Verwaltungsraum münden könnte.

65

Benhabib, The Rights of Others.

297

Zu den Autorinnen und Autoren Sebastian M. Büttner, Dr. rer. pol., Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Mitglied der DFG -Forschergruppe (FOR 1539) »Europäische Vergesellschaftung«. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Soziologie, Kultursoziologie, Politische Soziologie und Europasoziologie.

Neuere Publikationen: Mobilizing Regions, Mobilizing Europe: Expert Knowledge and Scientific Planning in European Regional Development, London 2012; »Regionen und Regionalismus«, in: Steffen Mau/Nadine Schöneck-Voß (Hg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, 3. vollst. überarbeitete Aufl., Wiesbaden 2012, S. 676–688; »EU -Professionalismus als transnationales Feld«, in: Berliner Journal für Soziologie 24 (2) (2014), S. 141–167 (zus. mit Steffen Mau); zus. mit Frank Adloff/Stephan Moebius/Rainer Schützeichel (Hg.), Kultursoziologie. Klassische Texte – Aktuelle Debatten. Ein Reader, Frankfurt am Main 2014. Tobias Chilla, Professur mit dem Schwerpunkt europäische und angewandte Regionalentwicklung am Institut für Geographie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; zuvor akademische Stationen in Luxemburg, Köln und Bamberg.

Neuere Publikationen: Phil Allmendinger/Tobias Chilla/Franziska Sielker, »Europeanizing Territoriality – Towards Soft Spaces?«, in: Environment and Planning A 46, (2014), Heft 11, S. 2703–2717; Tobias Chilla/Ekkehart Reimer/Birte Nienaber, »Die räumliche Perspektive der Europäischen Union: Territorialität, Subsidiarität, Finalität?«, in: Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft 155 (2013), S. 9–26; Tobias Chilla, Punkt, Linie, Fläche – territorialisierte Europäisierung, Études luxembourgeoises, Habilitationsschrift, Frankfurt/Brüssel 2013. Petra Deger, Professorin für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Arbeitsschwerpunkte: Europäisierungsprozesse, neuere soziologische Theorie, Bildungssoziologie und Soziologie sozialer Ungleichheit. 298

Neuere Publikationen: »Civil society«, in: D. Southerton (Hg.), Encyclopedia of consumer culture, Thousand Oaks, CA (SAGE Publications) 2011, S. 172–174; »Grenzen«, in: Pim den Boer u. a. (Hg.): Europäische Erinnerungsorte, Bd. 1: Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, München 2012, S. 247–256. Monika Eigmüller, Professorin für Allgemeine Soziologie und Europaforschung an der Europauniversität Flensburg, bis 2014 Leiterin der VW-Nachwuchsforschungsgruppe »Sozialraum Europa« an der FU Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Europasoziologie, Historische Soziologie sowie die europäische Sozial-, Grenz- und Migrationspolitik.

Ausgewählte Publikationen: »Europeanization from Below. The Influence of Individual Actors on the EU Integration of Social Policies«, in: Journal of European Social Policy 23 (2013), Heft 4, S. 364–376; als Herausgeberin: Zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft – Sozialpolitik in historisch-soziologischer Perspektive, Weinheim/Basel 2012. Ulrike Jureit, Dr. phil., Historikerin, Gastwissenschaftlerin der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur am Hamburger Institut für Sozialforschung. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Kulturgeschichte der Neuzeit, Politische Kollektivität, Generationenforschung, Erinnerungskultur und Gedächtnisforschung, Raum als politischer Ordnungsbegriff.

Ausgewählte Publikationen: Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012; »Eine Art Phantomschmerz. Entwürfe vom Lebensraum in der Zwischenkriegszeit«, in: Mittelweg 36, 21 (2012), Heft 6, S. 37–50; als Herausgeberin: Politische Kollektive. Die Konstruktion nationaler, rassischer und ethnischer Gemeinschaften, Münster 2001. Jochen Kleinschmidt, Dr. phil., Assistant Professor für Internationale Beziehungen an der Universidad EAFIT in Medellín, Kolumbien. Arbeitsschwerpunkte: Politische Geografie, Internationale Politische Soziologie, Sicherheitspolitik.

Aktuelle Publikation: »Ausnahmezustand, organisierte Kriminalität und sozialer Wandel. Beobachtungen zum Drogenkrieg in Me299

xiko«, in: Rüdiger Voigt (Hg.): Ausnahmezustand. Carl Schmitts Lehre von der kommissarischen Diktatur, Baden-Baden 2013, S. 209–232. Achim Landwehr, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit, Kulturgeschichte des »langen 17. Jahrhunderts«, Geschichtstheorie.

Neuere Publikationen: Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2014; als Herausgeber: Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2012; »Forward to Past Realities: Non-dualism and History«, in: Constructivist Foundations 8/2 (2013), S. 235–241; »Über den Anachronismus«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61 (2013), S. 5–29; »Die Kunst, sich nicht allzu sicher zu sein: Möglichkeiten kritischer Geschichtsschreibung«, in: WerkstattGeschichte 61 (2012), S. 7–14; »Von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹«, in: Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 1–34. Lena Laube, Dr., Soziologin, Akademische Rätin an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Geschäftsführerin des Forum Internationale Wissenschaft (FIW ). Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie, Grenz- und Migrationsforschung, Netzwerkforschung. Zurzeit arbeitet sie an einem Forschungsprojekt zu »Politische Inklusion. Demokratie und ihre Alternativen«.

Neuere Publikationen: Grenzkontrollen jenseits nationaler Territorien. Die Steuerung globaler Mobilität durch liberale Staaten, Frankfurt am Main 2013; »Exterritoriale Grenzpolitik als Moment transnationaler Öffentlichkeit«, in: Caroline Schmitt/Asta Vonderau (Hg.), Transnationalität und Öffentlichkeit. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2014, S. 113–141; zus. mit Christof Roos, »Liberal Cosmopolitan Norms and the Border: Local Actors’ Critique of the Governance of Global Processes« in: Ethnicities (2015, im Druck, DOI : 10.1177/1468796814565217, 24. Dez. 2014). Steffi Marung, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Area Studies. Forschungsschwerpunkte: Grenz- und Territorialisierungsregime, Geschichte der Beziehungen der sozialistischen Welt 300

zum globalen Süden während des Kalten Krieges, Geschichte der Regionalwissenschaften seit der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Neuere Publikationen: zus. mit Katja Naumann: Vergessene Vielfalt. Territorialität und Internationalisierung in Ostmitteleuropa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2014; »Die Kartierung der Europäischen Nachbarschaft. Kartographische Narrative für eine neue Frontier«, in: Vadim Oswalt/Peter Haslinger (Hg.), Kampf der Karten, Marburg 2013, S. 312–334; Die wandernde Grenze. Die EU , Polen und der globale Wandel politischer Räume, 1990–2010 (=Transnationale Geschichte, Band 1, hg. von Michael Geyer und Matthias Middell), Göttingen 2013; »Peculiar Encounters with the ›Black Continent‹: Soviet Africanists in the Global 1960s and the Expansion of the Discipline«, in: Matthias Middell (Hg.), Self-Reflexive Area Studies, Leipzig 2013. Susanne Rau, Professorin für Geschichte und Kulturen der Räume in der Neuzeit an der Universität Erfurt; zurzeit Vizepräsidentin für Forschung und Nachwuchsförderung. In laufenden Projekten beschäftigt sie sich mit Erfahrungen und Konstruktionen lokaler und globaler Märkte in der Frühen Neuzeit sowie mit der Entwicklung einer digitalen Plattform zur Präsentation und Analyse von Karten und anderen Verlagsmaterialien aus der Sammlung Perthes Gotha.

Neuere Publikationen: Räume der Stadt. Eine Geschichte Lyons 1300–1800, Frankfurt am Main 2014; Mapping Spatial Relations, their Perceptions and Dynamics: the City Today and in the Past (Lecture Notes in Geoinformation and Cartography) (Hg., mit Ekkehard Schönherr), Switzerland 2014; Räume. Konzepte – Wahrnehmungen – Nutzungen (Historische Einführungen, Bd. 14), Frankfurt am Main 2013; Space/Time Practices and the Production of Space and Time (Hg., mit Sebastian Dorsch), Historical Social Research, Special Issue, 2013. Nikola Tietze, PD Dr., Soziologin am Hamburger Institut für Sozialforschung. Sie arbeitet über die Konfliktpraxis in europäischen Gesellschaftszusammenhängen und untersucht Zugehörigkeitskonstruktionen in der europäischen Einwanderungsgesellschaft.

Neuere Publikationen: »Das europäische Vielfaltsnarrativ im semantischen Wirbel der Religions- und Sprachkategorie«, in: Volker 301

Hinnenkamp, Hans-Wolfgang Platzer (Hg.): Interkulturalität und europäische Integration, Stuttgart 2013, S. 173–193; »Soziologie und Verschwörung. Plädoyer für die konflikttheoretische Erweiterung der Soziologie der Konventionen, der Rechtfertigung und der Kritik«, in: Mittelweg 36, 22 (2013), Heft 4; S. 38–56; Imaginierte Gemeinschaft. Zugehörigkeiten und Kritik in der europäischen Einwanderungsgesellschaft, Hamburg 2012. Jens Wissel, Dr. phil., Politikwissenschaftler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Internationalen Politischen Ökonomie, im europäischen Integrationsprozess und in der materialistischen Staatstheorie.

Neuere Publikationen: »The structure of the »EU «ropean Ensemble of State Apparatuses and its Geopolitical Ambitions«, in: Geopolitics 19(3) (2014), S. 490–513; zus. mit Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.): Kämpfe um Migrationspolitik. Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung, Bielefeld 2014; »The Transformation of Contemporary Capitalism and the Concept of a Transnational Capitalist Class« (gemeinsam mit Joachim Hirsch), in: Studies in Political Economy 88 (2011), S. 7–33; Die Transnationalisierung von Herrschaftsverhältnissen, Baden-Baden 2007. Sebastian Wolff, Dipl.-Pol., studierte Politologie, Soziologie und Ethnologie in Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Europäischen Integrationsprozess, in den geopolitischen Effekten der europäischen Handelspolitik sowie der räumlichen Transformationen Europas. Zurzeit promoviert er am Institut für Sozialforschung in Frankfurt.

Neuere Publikationen: »›Staatsprojekt Europa‹ in der Krise?« (gemeinsam mit Jens Wissel), in: Hans-Jürgen Bieling/Martin Große Hüttmann (Hg.): Europäische Staatlichkeit: zwischen Krise und Integration, Wiesbaden, 2015, i. E.; »Vom ›Modell Irregularität‹ zur ›Managed Migration‹. Kämpfe um die Transformation des spanischen Migrationsregimes«, in: Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.): Kämpfe um Migrationspolitik. Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung, Bielefeld, 2014, S. 15–86.

302

Zu den Herausgeberinnen Ulrike Jureit, Dr. phil., Historikerin, ist Gastwissenschaftlerin der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur im Hamburger Institut für Sozialforschung sowie Lehrbeauftragte an der Leuphana Universität Lüneburg. Nikola Tietze, PD Dr. phil., Soziologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung und Gastdozentin an den Universitäten Hamburg, Paris, Bordeaux.

303