Postmigrantische Generation: Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess 9783839466780

Dominante Diskurse über Migration schreiben die mehrheimische Familie als bildungsfern fest. Im Gegensatz dazu diskutier

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Postmigrantische Generation: Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess
 9783839466780

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Methodik und methodologische Implikationen
2. Gesichter der Migration. Jugendliche aus Tirol erforschen gemeinsam ihre familiale Migrationsgeschichte
3. Die Idee des Postmigrantischen: Von der (politischen) Kunst in die Wissenschaft
4. Generation
5. Familie und Biografie
6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess
7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation
Literaturverzeichnis

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Anita Rotter Postmigrantische Generation

Postmigrantische Studien Band 13

Editorial Im postmigrantischen Diskurs, der nicht nur in den Sozialwissenschaften an Verbreitung gewinnt, kommt eine widerständige Praxis der Wissensproduktion zum Ausdruck – eine kritische und zugleich optimistische Geisteshaltung, die für postmigrantisches Denken von zentraler Bedeutung ist. Die Vorsilbe »post-« bezeichnet dabei nicht einfach einen chronologischen Zustand des Danach, sondern ein Überwinden von Denkmustern, das Neudenken des gesamten Feldes, in welches der Migrationsdiskurs eingebettet ist – mit anderen WortenÚ eine kontrapunktische Deutung gesellschaftlicher Verhältnisse. In der radikalen Abkehr von der gewohnten Trennung zwischen Migration und Sesshaftigkeit, Migrant und Nichtmigrant kündigt sich eine epistemologische Wende an. Das Postmigrantische fungiert somit als offenes Konzept für die Betrachtung sozialer Situationen von Mobilität und Diversität; es macht Brüche, Mehrdeutigkeit und marginalisierte Erinnerungen sichtbar, die nicht etwa am Rande der Gesellschaft anzusiedeln sind, sondern zentrale gesellschaftliche Verhältnisse zum Ausdruck bringen. Kreative Umdeutungen, Neuerfindungen oder theoretische Diskurse, die vermehrt unter diesem Begriff erscheinen – postmigrantische Kunst und Literatur, postmigrantisches Theater, postmigrantische Urbanität und Lebensentwürfe –, signalisieren eine neue, inspirierende Sicht der Dinge. Mit der Reihe »Postmigrantische Studien« wollen wir diese Idee und ihre wegweisende Relevanz für eine kritische Migrations- und Gesellschaftsforschung aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten und dazu einladen, sie weiterzudenken. Die Reihe wird herausgegeben von Marc Hill und Erol Yildiz. Den wissenschaftlichen Beirat bilden Müzeyyen Ege, Julia Reuter, Dirk Rupnow, Moritz Schramm, Sabine Strasser und Elisabeth Tuider.

Anita Rotter (PhD), geb. 1989, lehrt und forscht an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Innsbruck. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind postmigrantische Perspektiven, Migration und Arbeitsmigration, Bildung, Generations- und Familienforschung sowie Biografieforschung.

Anita Rotter

Postmigrantische Generation Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

Dissertation Gutachter: Univ.-Prof. Dr. Erol Yildiz Univ.-Prof. Dr. Wassilios Baros Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung und Förderung durch nachfolgende Institutionen der Universität Innsbruck: Vizerektorat für Forschung, Fakultät für Bildungswissenschaften und Forschungsschwerpunkt »Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte«, allesamt Universität Innsbruck.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-n b.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Foto von Anita Rotter: Street Artwork »Horizon of Hopes«, Munú Actis Goretta, Genua, Italien, 2010 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839466780 Print-ISBN 978-3-8376-6678-6 PDF-ISBN 978-3-8394-6678-0 Buchreihen-ISSN: 2703-125X Buchreihen-eISSN: 2703-1268 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Danke den wunderbaren, mutigen Menschen, Grenzgänger*innen, Klassenreisenden, Postmigrant*innen, Aktivist*innen, Kämpfer*innen, Erzähler*innen und Erinnerungsträger*innen, die mir ihre Geschichten erzählten. Danke, dass ich die leeren Zeilen mit euren biografischen Geschichten füllen durfte!

Inhalt

Einleitung ................................................................................... 11 1. Methodik und methodologische Implikationen ...................................... 23 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Methodisches Vorgehen ................................................................... 24 Der Forschungsprozess ................................................................... 28 Biografische Konstruktionen als Bildungsprozess .......................................... 29 Forschungsorte und Pseudonymisierung .................................................. 30 Forschen in Zeiten der Pandemie – die Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit ........ 31

2. Gesichter der Migration. Jugendliche aus Tirol erforschen gemeinsam ihre familiale Migrationsgeschichte ...................... 35 2.1 Diskurse über Migration und Familie im Schulkontext ....................................... 41 2.1.1 Einheiten und Meilensteine im Sparkling-und-Citizen-Science-Projekt................. 41 2.1.2 (Familiale) Migrationsbiografien der Jugendlichen ................................... 48 2.2 Ideen und Zielsetzungen des Dissertationsprojektes ....................................... 55 2.2.1 Migration als soziohistorische Normalität ........................................... 59 2.2.2 Migration als alltägliches Phänomen ................................................ 76 2.3 Vom Schulkontext zum Forschungsthema: Intergenerationelle Artikulation familialer Migrationserfahrungen.......................................................... 87 2.3.1 Die Idee der (zeitlichen) Verwobenheit familialer Biografien.......................... 92 2.3.2 Von Allen zu den einzelnen Erzählenden der postmigrantischen Generation .......... 96

3. Die Idee des Postmigrantischen: Von der (politischen) Kunst in die Wissenschaft ................................... 101 3.1 »Postmigrantisch« – eine Begriffs- und Kontextbestimmung...............................103 3.2 Die postmigrantische Leseart .............................................................108 3.3 Vindal: »In der Familie heißt es so: ›Ja, das ist die Vindal, die macht halt, was sie will.‹« ....111

4. Generation ............................................................................ 133 4.1 Migration und Generation .................................................................137

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4.3

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4.1.1 Generation in der Migrationssoziologie sowie Erziehungsund Bildungswissenschaft ..........................................................138 4.1.2 Generationsphänomene und Generationsbegriffe heute..............................150 Generation als soziale Kategorie nach Karl Mannheim......................................153 4.2.1 Generation als situative Inszenierung ...............................................156 4.2.2 Generation als familiale Inszenierung ...............................................159 Generationen im familialen Kontext von den Pionier*innen .................................164 4.3.1 Die erste Generation (Großelterngeneration): Die Pionier*innen ......................165 4.3.2 Die zweite Generation: Die Elterngeneration ......................................... 172 4.3.3 Die dritte Generation: Die postmigrantische Generation..............................173 Die postmigrantische Generation als Erzählende der familialen Migrationsgeschichten...................................................... 174 Enes: »Je mehr wir studiert haben, je mehr wir gelesen haben, je mehr wir gelernt haben, umso mehr Widerstand wurde geweckt.« ....................... 177

5. Familie und Biografie ................................................................ 201 5.1 Das Familiengedächtnis als Migrationsgedächtnis ........................................ 206 5.1.1 Intergenerationelles Erinnern und Erzählen als Teil der Familiengeschichte ......... 209 5.1.2 Wissensakkumulation im Kontext von Generation....................................213 5.2 Die Familie als Ort der Vermittlung von Wissen, Erfahrungen, Erinnerungen und Ressourcen ............................................................ 217 5.2.1 Familiale Praktiken als Transtopie .................................................. 221 5.2.2 Familiale Praktiken als Assemblage ................................................ 224 5.2.3 Transnationale Verbindungen im familialen Kontext ................................ 230 5.3 Jasemin: »Es ist schon unglaublich, was da auf den Rücken von anderen im Prinzip uns ermöglicht worden ist.« ...................................... 233 5.4 Selma: »Von meiner Mama die Mama hat georgische Wurzeln. Also, es liegt in meiner Familie, dass wir Auswanderer sind.« ............................. 245

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess ................ 259 6.1 Erinnern und Vergessen.................................................................. 262 6.1.1 Vergessenskulturen ............................................................... 262 6.1.2 Techniken des Vergessens als bedeutende Kompetenz der postmigrantischen Generation ................................................. 265 6.2 Die Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion als Prozess der Aufarbeitung familialer Erzähl- und Erinnerungslücken im Bildungsprozess............ 269 6.2.1 Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion im und als Bildungsprozess – Zugänge zum Bildungsbegriff ......................... 272 6.2.2 Rekonstruktion familialer Leerstellen in der Erinnerung und Erzählung durch die postmigrantische Generation .............................................281 6.3 Malu: »Ich bin kein Baum, ich komme aus Deutschland, ich habe die deutsche Staatsbürgerschaft. Was brauchst du von mir? Brauchst du den Ariernachweis?« ........................................................ 285

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation ................................................. 303 7.1 Nida: »Ich bin seit so vielen Jahren da, jetzt sollten sie schon wissen, was mein Vor- und was mein Nachname ist.«............................................. 303 7.2 Tania: »Ich werde das Geld für uns verdienen und ich werde uns aus allem rausholen!« ....318 7.3 Zusammenschau ........................................................................ 336 7.4 Ausblick................................................................................. 348

Literaturverzeichnis...................................................................... 353

Einleitung

»Leute wie mein Großvater wurden angeworben, weil sie leichter ausgebeutet werden konnten als inländische Arbeiter_innen: gewerkschaftlich kaum organisiert, flexibel, dankbar um jede Sonntagszulage. Während also der überwiegende Teil der Wohlstandsgesellschaft ab den Sechzigern Minigolf spielte und schicke Autos fuhr, waren es die ›Gäste‹ […], die unter unwürdigen Bedingungen in den Fabriken schufteten, um diesen Wohlstand zu generieren.« (Aydemir 2019, S. 29)

Sie sind vor Ort Zuhause, vor Ort daheim, aber nicht nur. Sie sind hier heimisch, aber nicht alle bezeichnen sie als einheimisch. Sie sind aber de facto einheimisch, weil sie hier geboren und aufgewachsen sind. Sie haben hier ihre Kindheit und Jugend verbracht, sind hier zur Schule gegangen, haben dort Freundschaften geschlossen, ihre Freizeit gestaltet und diverse Erfahrungen sammeln können. Aktuell studieren sie, machen eine Aus- oder Fortbildung, arbeiten, reisen, träumen von ihrer Zukunft oder planen sie. Ihre Kurzbiografien und Eckdaten lesen sich also wie jene der zig anderen gleichaltrigen Personen und wirken dabei sehr normal und alltäglich. Weshalb werden diese jungen Erwachsenen in der Regel dennoch nicht als einheimisch wahrgenommen? Im Gegenteil: Sie werden eher als fremd, als nicht-heimisch oder als anders imaginiert. Die Definition und (Fremd-)Adressierung, die Einheimischkeit attestiert, ist einseitig und unzureichend. Einheimisch bedeutet im Grunde ja nichts anderes, als an einem Ort geboren zu sein und dort auch (noch) zu leben. Dieser Umstand trifft auf diese jungen Erwachsenen in den meisten Fällen zu. Ferner reicht jedoch das Attribut einheimisch nicht im Entferntesten aus, um ihre vielfältigen Zugehörigkeiten und Verortungspraxen auch nur annähernd zu beschreiben. Vielmehr müssten die Bezüge zu Menschen, die woanders wohnen, und zu den diversen Orten, die sich weiter entfernt befinden, aufgezeigt werden. Können »Einheimischkeit« und Vielfältigkeit indessen nicht nebeneinanderstehen? Wirken die zahlreichen Aspekte der Lebensentwürfe, die auf den ersten Blick sehr verschieden und widersprüchlich sind, nicht reziprok? Diese beiden Fragen können eindeutig mit einem »Ja« beantwortet werden. Dass sich Differenzen, Überschneidungen, Überlappungen und Widersprüchlichkeiten ergänzen und ein stimmiges Gesamtbild erge-

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Postmigrantische Generation

ben können, zeigen die Biografien derer, die als familiäre Pionier*innen1 »einer Transnationalisierung« (vgl. Yıldız 2019b, S. 17) den Grundstein für die Lebensentwürfe der Nachfolgegeneration(-en) vor Ort legten: Die sogenannten »Gastarbeiter*innen«, die in den 1960er bis Mitte bzw. den späten 1970er Jahren nach Tirol migrierten und mit ihrem Erfahrungsschatz die Lebensentwürfe ihrer Kinder und Enkelkinder (mit-)konstituier(t)en. Im Mittelpunkt dieser Dissertation stehen nun aber ihre Enkelkinder, die jungen Erwachsenen der postmigrantischen Generation (siehe Kap. 2.3.2, 4.3.3 und 4.4). Sie erzählen ihre familiale Migrationsgeschichte sowie die eigene Lebensgeschichte vor Ort und zwischen den Orten nach. Wesentliche Intention der Arbeit ist es, anhand der Narrationen der Nachfolgegeneration zu rekonstruieren, wie sie sich als vor Ort geborene und sozialisierte Subjekte mit den Migrationserfahrungen der Großeltern und den Familienbiografien auseinandersetzen und sich in Folge positionieren. Des Weiteren wird analysiert, welche innerfamiliären Tradierungsprozesse zwischen den Generationen vermittelt und akkumuliert werden. Dabei interessiert besonders, inwieweit sich generationsspezifische Orientierungen und Lebensentwürfe feststellen und rekonstruieren lassen. Ein weiteres Ziel ist es, möglichst nahe an den Lebenswelten, Lebensentwürfen und Erfahrungen der Erzählenden anzusetzen, indem diejenigen, um die es konkret geht, selbst zu Wort kommen und auch ihre Deutung des Erzählten und (Nach-)Erinnerten Beachtung und Interpretation findet. Die Narrationen der eigenen Lebensgeschichten obliegen also den Erzählenden selbst und auch über die primäre Deutung bzw. Deutungshoheit verfügen erstmals sie.2 Doch nun zurück zur eingangs gestellten Frage und der skizzierten Vorstellung von »Einheimischkeit« bzw. »(Ein)Heimischsein« (vgl. Rotter 2021, S. 133): De facto ist die Nachfolgegeneration einheimisch (da hier geboren), de jure aber nicht, denn sie hat per definitionem einen Migrationshintergrund. Kritiker*innen des Begriffes sprechen auch karikierend von einem »Migrationsvordergrund« (vgl. Önder/Mustafa 2016; Rotter 2020, S. 222), da die Herkunft oder die Migrationsgeschichte der Familie als vordergründiges Problem oder Defizit von außen betrachtet und als Deutungs- und Argumentationsschemata für nahezu jede Schieflage herangezogen wird. Der Migrationshintergrund, der eigentlich eine juristische Komponente ist, schließt Einheimischkeit aus bzw. irritiert sie, weswegen in den verschiedenen Diskursen des Alltages, der Öffentlichkeit und der Politik, Menschen mit (familialen) Migrationserfahrungen kaum als einheimisch benannt werden. Denn um – innerhalb der Diskurse – als einheimisch zu gelten, ist eine sehr lange generationelle Verortung und Abstammungslinie innerhalb einer geografischen Grenzziehung quasi Pflicht. Einheimischkeit markiert jedoch nicht nur die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und in Abgrenzung dazu die Nicht-Zugehörigkeit zu

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Mit dem Begriff Pionier*innen wird der Versuch unternommen, die Migrationsleistungen der ersten Generation als solche zu begreifen und dem Pionier*status sowie der Pionier*arbeit der Migrierenden Rechnung zu tragen. Die Nachfolgegenerationen bauten auf den Erfahrungen und Leistungen der ersten Generation auf. Biografische Erzählungen sind jedenfalls Momentaufnahmen, die situativ und je nach Kontext »neu« und alternativ hervorgebracht werden (siehe dazu Kap. 1.3).

Einleitung

eben diesem Kollektiv, ferner werden mit ihr spezifische Assoziationen geknüpft. Demzufolge erscheinen Subjekte und Familien, die sich selbst als einheimisch definieren oder von anderen als solche benannt werden, als normal bzw. als Normalität. Im Gegensatz dazu werden Migrationserfahrungen als Abweichung und Problem dargelegt. Deshalb und aufgrund der Tatsache, dass sich gerade hegemoniale Diskurse über Migration und Familie als besonders wirkmächtig und beständig erweisen, ist es unabdingbar, die definitorischen, sprachlichen, aber auch die reellen und alltäglichen Grenzen des Einheimischen auszudehnen und einen Paradigmenwechsel vorzuschlagen, weswegen ich für die Begriffe »postmigrantische Generation« (vgl. Yıldız 2017, S. 80; Rotter et al. 2021, S. 44; Rotter/Yıldız 2021, S. 175) und »Mehrheimische« (vgl. Yıldız 2019a, S. 107; Yıldız/Meixner 2021, S. 7) plädiere. Mehrheimisch meint hierbei die unterschiedlich schattierten Verflechtungen biografischer, geografischer, etwa lokaler, glokaler, transnationaler Bezüge. Die Begriffe »mehrheimisch«, »Mehrheimischsein« oder die neologistisch formulierte »Mehrheimischkeit« können – nicht nur als Begriffe, sondern auch als Teil einer postmigrantischen Forschungsperspektive bzw. Leseart – vielfältige Verbindungen, Verortungen und Beziehungen ausdrücken. Das gelingt im Gegensatz dazu der Konzeption von einheimisch nicht, da sie an einfachen, eindeutigen und homogenen Vorstellungen von Verortung festhält und hybride sowie nicht-eindeutige Verortungspraxen und Familienkonstellationen nicht mitdenkt. Gerade die Biografien der Nachfolgegeneration verdeutlichen, dass ein Lebensmittelpunkt nicht im Singular, sondern im Plural und in seiner Vielheit (vgl. Cameron/Koubaras 2013, S. 258ff.) gedacht werden muss. Das heißt, Menschen können mehrere Lebensmittelpunkte und Bezüge haben, die sich nahe beieinander befinden, aber auch weit über nationalstaatliche Grenzen hinweg erstrecken können. Insofern könnten die Angehörigen der Nachfolgegeneration auch als einheimische Mehrheimische oder mehrheimische Einheimische bezeichnet werden. Ihre Geburt und das Aufwachsen vor Ort markieren in diesem Sinne die »Einheimischkeit« bzw. »das Von-hier-Sein«. Die biografischen und familialen Verbindungen zu Menschen, die woanders leben sowie zu entfernten Orten, sind Ausdruck ihrer Mehrheimischkeit und damit einer in den Alltagswelten verankerten Vielheit3 , Vielschichtigkeit, Uneindeutigkeit und auch Widersprüchlichkeit. Mehrheimischkeit ist die Antwort auf die Verbundenheit zu heterogenen Orten und Menschen und geht mit globalen sowie globalisierten Vorstellungen einher. Einheimischkeit hingegen kann mit Sesshaftigkeit assoziiert werden. Sesshaft sein schließt spezifische kollektive und subjektive Erfahrungen aus, die vor allem durch mehrheimische Verflechtungen und Verknüpfungen initiiert und gefördert werden. Demzufolge und auch aufgrund globaler Prozesse kann/muss Einheimischkeit also nicht zwangsläufig als Normalität,

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Ich orientiere mich in der Favorisierung des Begriffes Vielheit, im Gegenzug zu Vielfalt u.a. an Terkessidis (2018), der wie folgt argumentiert: »Ich verwende den Begriff Vielheit, weil er mir stärker vorkommt, und ich verwende ihn neutral: Es geht längst nicht mehr darum, die Vielheit zu bewerten, sondern darum, sie als unhintergehbaren Ausgangspunkt politischen Handelns zu betrachten. Bei Vielheit geht es keineswegs nur um Migration, doch die Migration macht ein wesentliches Element dieser Vielheit aus. […] Einwanderung ist schon immer passiert, sie ist keine Ausnahme, sondern Normalität, und es gibt dieser Tage kein gesellschaftliches Feld mehr, das nicht von der Migration auf die eine oder andere Weise beeinflusst worden ist.« (S. 75f.).

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Postmigrantische Generation

Ideal oder erstrebenswerter Zustand interpretiert werden, sondern kann durchaus anachronistisch oder restaurativ sein. Solange Einheimischkeit nämlich reduktionistische Vorstellungen über Verortung enthält, die nur mittels Grenzziehungen und innerhalb von Begrenzungen realisiert werden, und Mehrheimische4 in dieser Logik nicht berücksichtigt werden, bietet es sich an, Ideen des Postmigrantischen, des Mehrheimischen, des Vielheimischen und der Diversität zu fokussieren. Mehrheimischkeit, Diversität oder Vielheit bedeuten im besonderen Maße, dass sich die komplexen Biografien der Nachfolgegeneration und ihrer Familien eben nicht auf einen Ort, einen Lebensmittelpunkt, einen Freundeskreis sowie die Teilhabe innerhalb einer Gesellschaft, eines Systems etc. reduzieren lassen. Ihre Lebensgeschichten sind komplex, sodass sämtliche Vorstellungen, die auf bloße Eindeutigkeit und Homogenität Bezug nehmen, in dieser Arbeit ad acta gelegt werden sollen. Demnach sind die zunächst trivial erscheinenden Aussagen »Bist du von hier?« oder »Du bist wie ein*e Einheimische*r!« keine bloßen Fragen oder Komplimente mehr, sondern sind schlicht und ergreifend nicht geeignet, um vielschichtige, sich überlagernde und sich auf den ersten Blick widersprechende Zugehörigkeiten, Verortungspraxen und Mitgliedschaften zu verhandeln. Deswegen: Einheimischkeit kann geheilt werden! Verortungen und Perspektiven hinsichtlich der Forschung: Benennungen, Diskurse und politische Positionierung Menschen migrieren seit jeher – sie wandern ein, sie wandern aus. Scheinbar mühelos bewegen sich Millionen von Menschen tagein, tagaus zwischen verschiedenen Orten hin und her und über nationale Grenzen hinweg. Doch nicht jede Grenzüberwindung, jede Wanderung im Großen oder jede Bewegung im Alltäglichen, im Kleinen, ist tatsächlich mühelos oder einfach. Im Gegenteil: Grenz- und Migrationsregime entscheiden machtvoll und restriktiv darüber, wer problemlos passieren darf und wem aufgrund zufälliger und willkürlicher Großkategorien und (mit wenigen Ausnahmen) nicht selbst gewählten Mitgliedschaften, wie z.B. der Herkunft, Religion, Nationalität oder des sozialen Status bzw. der Klasse, gesetzliche, ökonomische und/oder soziale Barrieren gestellt werden, die spezifische Migrationsbewegungen und -formen erschweren oder gar verbieten sollen. Erreichen Menschen – trotz der ungleichen Bedingungen und Erschwernisse – doch ihr geografisches Ziel, ist die soziale, gesellschaftliche Ankunft und Etablierung vor Ort in der Regel noch (lange) nicht erreicht. Es darf nicht vergessen werden, dass Migrations- und Grenzregime tödlich sein können: So dokumentiert das europäische Netzwerk »United Against Refugee Deaths« (2022), dass seit 1993 über 48 647 Menschen aufgrund der europäischen Abschottungspolitik ums Leben kamen.5

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Den Begriff Mehrheimische nutze ich als kritischen Gegenbegriff zu Einheimischen. Mehrheimische sind Menschen, deren Biografien sich nicht auf einen Ort, einen Kontext reduzieren lassen. Das heißt, ihre Verortungen und Verortungspraxen sind sehr divers und transnational geprägt. Die Begriffe Mehrheimische und Migrant*innen bzw. Nachfolgegeneration(-en) werden hier analog genutzt. Die Dunkelziffer wird um ein Vielfaches höher geschätzt (Stand: Juni 2022).

Einleitung

Ziel (und Wunsch) dieser Qualifizierungsarbeit ist es, aufzuzeigen, dass Migrationsprozesse, die selbsterklärend so alt wie die Menschheit sind, normalisiert gehören. Mobilitätsprozesse zu normalisieren und zu veralltäglichen, bedeutet hier vor allem, zu veranschaulichen, dass familiäre Mobilitätserfahrungen und die daraus resultierenden Erinnerungen generationsübergreifend nachwirken; sie beeinflussen die biografischen Entwürfe der Nachfolgegeneration(-en), sie können sie bereichern oder auch nachteilig auf sie wirken. Anhand der Narrationen und der tradierten Erinnerungen seitens der postmigrantischen Generation wird rekonstruiert, inwiefern das Familiengedächtnis (vgl. Coenen-Huther 2002; Reiter 2006) auf sie wirkt und welche Erkenntnisse sie daraus für ihre eigene Biografie generieren. Die Idee lautet also, familiale Migrationsprozesse zu normalisieren und konkret anhand der Lebensgeschichten der dritten, der postmigrantischen Generation nachzuzeichnen und mittels ihrer intergenerationellen Artikulationen sichtbar zu machen. In den zahlreichen (Alltags-)Diskursen über Migration finden sich repetitive Muster wieder, die um wenige Worte und Sätze kreisen, auf die die heterogenen Erfahrungen von Menschen, die selbst oder deren (Groß-)Eltern migriert sind, heruntergebrochen und reduziert werden: Integration – Kultur(-en) – Religion – sind nur einige wenige Begriffe, die die Diskurse des Alltages und des wissenschaftlichen Kontextes vielfach bestimmen und tief in die Gesellschaft hineinwirken. Anhand des Begriffes »Integration« wird nun – verkürzt und exemplarisch – eben jene hohe diskursive Macht und Reichweite im Hinblick auf die Lebensentwürfe von Migrant*innen und ihren Nachfolgegenerationen nachgezeichnet. Mit »Integration« ist die weitverbreitete Floskel »Menschen, die zu uns kommen, müssen sich integrieren« gemeint. An diesem Begriff und der eben formulierten Präambel ist jedoch dreierlei schwierig: Erstens ist das Konzept der Integration anlässlich seines assimilierenden Charakters veraltet und hätte bereits durch aktuellere Ideen, z.B. Ansätzen der Inklusion6 (vgl. Rathgeb 2012; Pfahl/Powell 2014) oder der Vielheit, abgelöst werden können. Behrendt plädiert dafür, den Inklusionsbegriff zu öffnen und ihn »nicht ausschließlich auf die spezifische Situation von marginalisierten Bevölkerungsgruppen [zu] beziehen, sondern Inklusion vielmehr als ein elementares Phänomen sozialen Zusammenlebens überhaupt zu behandeln« (Behrendt 2017, S. 50). Neben dieser und zahlreichen weiteren wissenschaftlichen Positionen gibt es eine Vielzahl an Verfechter*innen der Inklusionsidee auf allen Ebenen, in den politischen und öffentlichen Diskursen wird aber nahezu kategorisch am Terminus Integration festgehalten. »Integration« gehört zu jenen Begrifflichkeiten, die ein breites gesellschaftliches Wissen und Verständnis darüber implizieren, was damit konkret gemeint sei und welche Maßnahmen erfolgen müssten, damit »Integration funktioniere«. Integration ist also im hohen Maße anschlussfähig. Dieses vermeintliche Wissen darüber umfasst vor allem die Idee einer einseitigen Anpassung an eine Gesellschaft und (»Werte«-)Gemeinschaft, die als homogen oder ähnlich vorgestellt wird, es aber faktisch nicht ist bzw. sein kann. Die Gesellschaft wird als Einheit, ergo als geschlossen und deckungsgleich definiert, und ihr und ihren Mitgliedern werden in Folge universale Werte zugeschrieben, die die neu dazukommenden Migrant*innen angeblich nicht kennen und sie deshalb erst akribisch

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Das Konzept der Inklusion stammt ursprünglich aus den Disability Studies.

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Postmigrantische Generation

erlernen müssten. Obwohl also ein Grundkonsens in den zahlreichen Integrationsdebatten besteht, dass sich »Fremde« (und ihre Nachfolgegenerationen) anpassen müssten, um nicht mehr »fremd« zu sein, sind damit die Fragen des Wie und vor allem auch das Warum noch nicht ansatzweise geklärt. Eine weitere Problematik hinsichtlich einer Verwendung des Begriffes resultiert daraus, dass Integration zweitens ein binäres Ein- und Ausschlusskriterium ist. Dieses Kriterium legt fest, aufgrund welcher Merkmale die Zugehörigkeit oder die Nicht-Zugehörigkeit von Menschen zur postmigrantischen Gesellschaft (vgl. Foroutan 2019) beschlossen werden. Als integriert gelten demzufolge nur diejenigen, die überspitzt gesagt nicht als »Fremde« (vgl. Bauman 2018, S. 13) oder »zu sehr Fremde« auffallen, sondern sich möglichst konform und unauffällig in bereits vorherrschende Systeme und Hierarchien eingliedern, ohne diese durch das Formulieren von Fragen, das Stellen von Ansprüchen bzw. durch Lebensweisen und Einstellungen, die als konträr gelten, zu irritieren. Als »nicht integriert« oder »nicht-integrierbar« werden mitunter jene bezeichnet, auf die dieses machtvolle Einschließungs- und Unterscheidungskriterium erst recht nicht angewandt werden sollte/dürfte: nämlich auf jene junge Erwachsene, die vor Ort geboren und aufgewachsen sind und über familiale Migrationserfahrungen verfügen. Wegen der familialen Migrationsgeschichten und -erfahrungen sowie der vielfältigen Verbindungen zu verschiedenen Orten, werden junge Erwachsene der zweiten und dritten Generation mitunter als »Fremde« oder als »nicht oder unzureichend integriert« festgeschrieben und aus einem gemeinsamen (gesellschaftlichen) Wir teilweise oder gänzlich ausgeschlossen. Dieses Paradoxon, hier geboren zu sein und zeitgleich als Migrant*in fremdgedeutet zu werden, aber entscheidender noch, die diesbezüglichen Erzählungen und Erinnerungen sowie die spezifischen Positionierungen seitens der Nachfolgegeneration sind wesentliche Themen der hier vorliegenden Arbeit. Drittens möchte ich sowohl die große Irritation als auch die Frage in den Raum stellen, weshalb die Anpassung an eine übergeordnete Idee bzw. eine nationale Fiktion überhaupt erstrebenswert und sinnvoll wäre. Profitieren moderne Gesellschaften nicht vielmehr von der Diversität und Heterogenität der einzelnen Mitglieder als von einer Anpassung? Und entwickeln sie daraus nicht neue Konzepte des Zusammenlebens und der Teilhabe? Ist die Vereinheitlichung von Menschen, begründet und gefördert durch Integrationsmaßnahmen, nicht ein Widerspruch zu globalen Prozessen der Gegenwart? Eine mögliche Antwort auf die soeben skizzierten Fragen, geben die Autor*innen der »generation mix« (vgl. Schneider et al. 2015), die mittels eines phänomenologischen Zugangs festhalten, dass eine Mehrheitsgesellschaft im klassischen, numerischen Sinne nicht mehr existent wäre. Vielmehr würden sich primär städtische Gemeinschaften aus vielen Minderheiten zusammensetzen, sodass eine Mehrheitsgruppe, an die sich die Neuankömmlinge anpassen sollten, gar nicht mehr gegeben wäre und Integration damit hinfällig würde. Städte waren nie kulturell gleichförmig, dennoch lässt sich durch den demografischen Wandel eine neue, ausgeprägte Vielfalt attestieren, die aus Städten majority minority-Städte macht (Schneider et al. 2015, S. 18). Es handelt sich »nicht um eine neue Mehrheit, die die Gesellschaft dominieren wird, sondern das Verschwinden der Mehrheitsgesellschaft ›alten Stils‹« (ebd., S. 24), wodurch die nunmehr prägenden Paradigmen Vielfalt und Heterogenität lauten. Mehrheitlich-Minderheiten-Städte (vgl. Schneider 2018, S. 132) profitieren in großem Maße von den Unterschiedlichkeiten und

Einleitung

Besonderheiten der einzelnen Menschen sowie der Kollektive. Das Integrationsmoment als primäre Instanz, die über eine erlaubte und eine verwehrte Teilhabe am gemeinsamen Wir entscheidet, prägt diese Art der Gesellschaft nicht mehr, stattdessen lässt sich, in Anlehnung an den amerikanischen Ethnologen Steven Vertovec, die sogenannte superdiversity, die die Autor*innen als städtische »Supervielfalt« (vgl. Schneider et al. 2015, S. 18) übersetzen, prognostizieren. Der Begriff der Integration läuft de facto ins Leere, da er soziale, politische und strukturelle Mängel offenbart und nicht auf die vielfältigen Lebenswelten, -entwürfe und -realitäten der postmigrantischen Subjekte eingestellt ist. Ähnlich verhält es sich gemäß der in dieser Arbeit vertretenen Perspektive mit den Begriffen »Kultur« und »Religion«. Kultur muss in jedem Falle im Plural gedacht werden und darf nicht, wie es anhand des Integrationsbegriffes exemplifiziert wurde, dazu dienen, um Menschen ein- oder auszuschließen. Daher schlägt Czollek alternativ das Konzept der Desintegration vor (vgl. Czollek 2018). Kultur muss des Weiteren als etwas Dynamisches, Wandelbares und fern ab einer nationalstaatlichen Logik verstanden, analysiert und interpretiert werden. Eine Fokussierung auf Nationalkultur vergisst und verdrängt Kultur und Kulturelles im Alltag, also die diversen Alltagskulturen. Indessen spielen kulturelle Praxen im Subkulturellen und im Milieu- bzw. Klassenspezifischen (vgl. Aumair/Theißl 2021a) eine wesentliche Rolle; auch der Religionsbegriff ist natürlich kein einheitlicher, auch wenn es pauschal suggeriert wird. Konstrukte wie Integration, Kultur(-en) und Religion(-en) wollen Einheit stiften und fördern dadurch Abgrenzungen zu Einzelnen und Kollektiven. All diese Begriffe enthalten ein »unreflektiertes Wir« (Şenocak 2018b, S. 25). Solange eine Gemeinschaft, verkörpert durch das unreflektierte Wir (vgl. ebd.) bzw. das homogenisierende »Wir«, ein »Ihr« zur Abgrenzung benötigt, um daraus sowohl die eigene Hierarchisierung als auch die gleichzeitige Abwertung der Anderen zu konstituieren, ist die lose und undifferenzierte Verwendung dieser Begrifflichkeiten und Logiken kritisch zu betrachten oder gänzlich davon abzusehen. Zeitgemäße Pendants bzw. nondualistische Alternativen müssen also gefunden werden. Einige der Erzähler*innen in den Fallbeispielen zeigen in dieser Arbeit anhand ihrer biografischen Narrationen auf, wie sie je nach Perspektive Fragen nach Integration, Kultur, Religion oder Religiosität neu verhandeln und wie viel Anstrengung es mitunter benötigt, diese wirkmächtigen Konzepte auf alternative Art und Weise zu nutzen oder sie zu entzaubern. In jedem Falle ist unsere postmigrantische Gesellschaft durch Wechselwirkungen, Widersprüchlichkeiten, nebst diverser Aushandlungsprozesse geprägt. Diese Tatsache spricht klar dafür, die Stärken, Ressourcen, Kompetenzen aller Mitglieder der postmigrantischen Gesellschaft zu betonen und nicht eine künstliche Einheit zu erzeugen, in der Differenzlinien verwischt und Ungleichheiten somit größer denn kleiner werden. Des Weiteren wird – hier stellvertretend – das Integrationsparadigma den Lebensverhältnissen der Menschen und der Migrationsgesellschaft als solches nicht gerecht. Es ist notwendig solch wirkmächtige Begriffe nicht einfach zu übersehen, da sie die verschiedenen Diskurse des Alltages, der Politik und Wissenschaften prägen, was sich stark im scheinbar natürlichen Sprechverhalten der Menschen – genauso in den hier rekonstruierten biografischen Narrationen – zeigt. Es sollte durchaus gelingen, alternative (Gegen-)Begriffe und Konzepte einzuführen, die tatsächlich dazu in der Lage sind, die komplexen Realitäten des postmigrantischen Zusammenlebens und der Partizipa-

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tion adäquat zu erforschen. Aus diesem Grund stehe ich einerseits ein für eine postmigrantische Leseart, die als Analyse,- Lese,- Denk,- Interpretations- und Forschungsperspektive fungiert und andrerseits für die Methodik der Biografieforschung, die dazu prädestiniert ist, einen neuen Blick auf komplexe, vielschichtige biografische Erfahrungen und Erinnerungen zu generieren. Mit einer postmigrantischen Leseart wird versucht, die Themen Migration und (mehrheimische) Familie aus ihrer gesellschaftlichen Abseitsstellung, der sinnbildlichen Nische zu holen und postmigrantische/mehrheimische Subjekte mit samt ihrer biografischen Artikulationen in den Mittelpunkt der Analyse zu rücken. Denken wir an bekannte Biografien innerhalb des kollektiven Gedächtnisses, fallen uns in der Regel spezifische Biografien über Einheimische und geschrieben von diesen Einheimischen ein. Diese sind dort, im Gegensatz zu den Narrationen Mehrheimischer, dominant und überrepräsentiert. Ihre Namen und vielfach heroisierenden Geschichten erlernen bereits kleine Kinder im Schulunterricht, während die Biografien und Namen von Arbeitsmigrant*innen bzw. Subjekten mit familialer Migrationsgeschichte unbekannt und unbenannt bleiben. Wenige Ausnahmefälle bieten Narrationen, in denen Mehrheimische objektifiziert werden oder eine Hochstilisierung zu etwas Besonderem, Idealisiertem oder Exotischem (vgl. Janz/Sala 2011, S. 9) erfahren. Migrationsbiografien scheinen in dieser veralteten Logik als nicht oder weniger normal im Vergleich zu den Biografien von Menschen, die nicht migriert sind. Das bedeutet konkret, dass Vorstellungen von Normalität und Alltäglichkeit den Biografien von Einheimischen, nicht aber denen von Mehrheimischen zugerechnet werden. Dabei ist es essenziell, reaktionäre und konventionelle Normalitätsvorstellungen zu überwinden und verstärkt auf mehrheimische Biografien zu fokussieren, um deutlich zu machen, dass Gesellschaften weitaus vielfältiger sind, als es gegenwärtige Debatten nahelegen. Migrationsgesellschaften sind aber nicht nur vielfältig, sondern dort wird Diversität als gelebte (Alltags-)Praxis, gelebte Realität und somit auch Normalität ausstaffiert. Mehrheimische befinden sich mitunter im Spannungsfeld zwischen der Selbstverständlichkeit ihrer Lebensrealitäten und der vorurteilsbeladenen Behauptung von außen, sie könnten/würden, selbst nach mehrfacher Generationsdauer vor Ort, den gesellschaftlich konstruierten Normalitätsansprüchen nicht entsprechen. Innerhalb einiger weniger Bereiche, wie der Kulinarik, wird migrantische Vielheit gefördert, in anderen wiederum verborgen oder als Belastung diskutiert. Migration wird folglich als Problem dechiffriert, im Alltag profitieren Menschen jedoch von den schier unendlichen Möglichkeiten, die durch eine banale Vielfalt erst ermöglicht werden: So ist es für viele eine Selbstverständlichkeit, sich in der Mittagspause beispielsweise einen Döner, die Re-interpretation einer asiatischen Nudelbox oder einer italienischen Pasta oder Quiche um die Ecke abzuholen. In ihrer Alltäglichkeit und Banalität sind die kulinarischen Optionen, die aus migrantischer Gastronomie (vgl. Berner 2018, S. 35), Kreativität und Selbstständigkeit resultieren, also mehr als erwünscht. Darüber, schnell, lecker und meist auch kostengünstig zu speisen, beschwert sich also kaum jemand. Auch die Gelegenheiten, mit (Billig-)Fliegern in andere Städte und Länder zu reisen und dort in lokalen Wohnungen oder schicken Hotels zu wohnen, sind Möglichkeiten davon, die als positive Auswirkungen des globalen Mainstreams adaptiert werden. Paradox ist, dass Essenskulturen, Reiseaktivitäten und Konsumverhalten, die ohne Vielheit und Diver-

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sität gar nicht möglich wären, in der Regel positiv konnotiert sind. Demnach werden spezifische Formen der Vielheit und migrantischer Lebensentwürfe toleriert und ferner auch erwartet. Bukow spricht in diesem Zusammenhang von sogenannten (Mobilitätsund) »Diversitätsregimen« (vgl. Bukow 2013, S. 76). Ein Diversitätsregime reguliert Vielfalt und spezifiziert, welche Formen von Diversität im städtischen Alltag versteckt, weil verdrängt, und welche wiederum offengelegt werden. Obdachlosigkeit z.B. wird diskurriert, indem obdachlosen Menschen von politischer Seite vermehrt Aufenthalts-, Bettelund Schlafverbote im Stadtkern bzw. im öffentlichen Raum auferlegt werden. Die Intention, die sich dahinter verbirgt, zielt nicht nur auf Verbote ab, sondern verrät, welches negative Menschenbild, in dem Menschen klassifiziert, separiert und unterschiedlich (gut) behandelt werden, damit einhergeht. Genauso werden Migrationsphänomene von zahlreichen bewusst eingesetzten Diversitätsregimen determiniert und administriert. Geflüchtete erleben z.B. zahlreiche Reglementierungen auf dem Wohnungsund Arbeitsmarkt und werden überdies des Öfteren mit Behördenwillkür und institutionell sowie staatlich verankerten Rassismen konfrontiert. Aber auch im weitestgehend einsprachigen Schulunterricht, in dem die Unterrichtssprache Deutsch7 aufrechterhalten wird, sind Diversitätsregime aktiv. Im schulischen Alltag wird in der Regel darauf geachtet, dass Deutsch die primäre Unterrichtssprache ist – und bleibt –, »Verstöße« dagegen werden sanktioniert, indem divergierende Mutter-, Zweit- und Drittsprachen konsequent aus dem Unterricht ausgeschlossen bzw. ihr Artikulieren durch die Schulordnung verboten werden (siehe Kap. 2). Bislang kann festgehalten werden, dass Migration in wenigen spezifischen Kontexten als normal und alltäglich, in anderen jedoch als irregulär und bedenklich wahrgenommen und reproduziert wird. So wundert es auch nicht, dass fernab der Nutzung globaler Reise- und Konsummöglichkeiten sowie einer Hybridisierung der Essensund Alltagskultur (vgl. Cudak/Bukow 2016, S. 8), Diversität und Migration tendenziell eine Problematisierung und Skandalisierung erfahren. Dieser negative Blickwinkel auf das Menschheitsphänomen Migration (siehe Kap. 2.2.1) wirkt sich auf die Alltagssprache und -diskurse und schwerwiegender noch auf die Alltagswelten der Subjekte mit eigener oder familialer Mobilitätsgeschichte8 aus. Hier wurde nun verkürzt nachgezeichnet, dass exemplarische gesellschaftliche Diskurse automatisch auch Diskurse über Migration sind – und umgekehrt – und damit auf die Gesellschaft als Ganzes sowie die postmigrantischen Subjekte im Besonderen affizieren. Es gilt nun, aus (erziehungs- und bildungs-)wissenschaftlicher, aber auch (bildungs-)politischer und gesellschaftlicher Perspektive veraltete Diskurse und Paradigmen zu überwinden und stattdessen neue Begriffe, nachdrücklich politische Grundhaltungen und Konzepte des postmigrantischen Zusammenlebens, Lehrens und Lernens zu entwickeln und die Idee

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Deutsch als Unterrichtssprache wird aufrechterhalten, wenngleich das Wissen darüber besteht, dass eine Vielzahl der Schüler*innen mehrsprachig erzogen wird. Eine Sprache allein spiegelt die sprachliche Heterogenität der Gesellschaft nicht wider. Migration und Mobilität werden synonym gedacht. Es ist Absicht, die künstlich erzeugten Hierarchien zwischen Mobilität und Migration aufzuheben, ohne jedoch Migrationsbewegungen zu pauschalisieren oder homogenisieren, denn jede Form der Mobilität hat ihre eigenen Spezifika und Herausforderungen.

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der biografischen Normalität Mehrheimischer – durch die Sichtbarmachung postmigrantischer Erfahrungen, Erinnerungen und Positionen – auf sämtliche Bereiche der Gesellschaft umfassend anzuwenden. Diese Forschungsarbeit ist in sieben Kapiteln gegliedert, wovon sich das erste mit der Methodik, dem methodischen Vorgehen und (ersten) methodologischen Implikationen9 befasst. Es ist für eine erziehungs- bzw. sozialwissenschaftliche Dissertation eher untypisch, zu Beginn der Arbeit in methodische und methodologische Überlegungen einzuführen und darauf aufbauend – abwechselnd und ergänzend – theoretische und empirische Ausführungen, die wiederum ineinander verflochten sind, geltend zu machen. Doch jeder Forschungsprozess und damit auch jede Qualifizierungsarbeit folgen ihrer je eigenen Logik. Die hier vorliegende Arbeit folgt der postmigrantischen Konsequenz, sämtliche theoretischen und empirischen Forschungsschritte sowie erhobenen biografischen Erzählungen von Anfang an zusammenzudenken, zu verknüpfen und zu reflektieren. Ausnahmslos bauen die einzelnen Erkenntnisse aufeinander auf, bedingen sich gegenseitig, ergänzen und/oder widersprechen sich, aber komplementieren jedenfalls das komplexe (Gegen-)Bild einer postmigrantischen Generation. Im zweiten Kapitel erfolgt eine inhaltliche Einführung in das Thema der Dissertation. Dazu wird zunächst die ignorierte Idee, familiale Migrationserfahrungen und -geschichten als alltägliches und normales Phänomen – und nicht als Problem – zu betrachten, anvisiert. Zunächst wird auf den postmigrantischen Schul- und Projektalltag in Tirol fokussiert. Dabei werden die Alltäglichkeit und Normalität mehrheimischer Bezüge anhand exemplarischer Auszüge aus dem Sparkling-und-Citizen-Science-Projekt »Gesichter der Migration. Jugendliche erforschen gemeinsam ihre familiale Migrationsgeschichte« (vgl. Gesichter der Migration 2019) nachgezeichnet. Durch die reflexive Projektarbeit und die Einbeziehung aller Schüler*innen der fünf Schulklassen wird einer Besonderung mehrheimischer Schüler*innen entgegengewirkt. Vielmehr wird herausgearbeitet, dass jede*r Schüler*in spezifische biografische und/oder familiale Bezüge zu Migration (vgl. Rotter 2019a), etwa Binnenmigration, hat. Im nächsten Schritt wird der Übergang vom Schulkontext hin zu den intergenerationellen Artikulationen familialer Migrationserfahrungen und Erinnerungen, erzählt aus der Perspektive der postmigrantischen Generation, vollzogen. Es wird rekonstruiert, wie die familialen Erfahrungen aufgrund einer (wahrscheinlichen) emotionalen Verbundenheit und kommunikativen Vergemeinschaftung miteinander verwoben sind und auf welche Art und Weise einzelne Erzählende der postmigrantischen Generation Einblick geben in biografische, verwandtschaftliche sowie postmigrantische Lebensentwürfe und Positionierungen. Das dritte Kapitel widmet sich der Idee des Postmigrantischen. Es wird einführend die Entstehungs- und Veränderungsgeschichte des Postmigrantischen als ursprünglich künstlerische Praxis hin zur wissenschaftlichen Forschungsperspektive dargelegt. Es erfolgt eine nähere wissenschaftliche Begriffs- und Kontextbestimmung, bevor die sogenannte postmigrantische Leseart näher erläutert wird. Gerahmt wird dieses Kapitel

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Weitere methodologische Implikationen folgen in Kapitel 6.2, 6.2.1 und 6.2.2. Genaueres zur Überlegung, die methodologischen Verknüpfungen an ausgewählten Stellen der Forschungsarbeit zu diskutieren, wird in Kapitel 1 näher erläutert.

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mit der thematischen Fallkonstruktion der Erzählerin Vindal. Anhand dieser wird rekonstruiert, wie spezifische familiäre Traditionen postmigrantisch umgedeutet werden können. Das vierte Kapitel befasst sich multiperspektivisch mit dem Generationsbegriff bzw. Generationsdenken. Zunächst wird nachgezeichnet, welche Bedeutungen und Bedeutungsverschiebungen dem Generationsbegriff aktuell in den Erziehungs- und Bildungswissenschaften zukommen. Anschließend erfolgt eine migrationssoziologische und historische Kontextbestimmung, die notwendig ist, um zu illustrieren, weshalb sich bestimmte wissenschaftliche Mythen über Migration bis in die Gegenwart hinein hartnäckig halten. Zwei10 dieser restaurativen Konzepte werden näher analysiert und in einem nächsten Schritt dekonstruiert. Eine diskursive Verschiebung weg von der Idee, die Pionier*innen auf den Status des* der Arbeiter*in zu reduzieren oder mit Attributen wie »hilflos« zu assoziieren, wird erreicht, indem die Arbeitsmigration rückblickend postmigrantisch und nondualistisch (vgl. Mitterer 1993, S. 62) gelesen wird. Des Weiteren werden in diesem Kapitel aktuelle Generationsphänomene andiskutiert. Ferner wird Karl Mannheims Idee der Generation als soziale Kategorie weitergedacht und auf die Nachfolgegeneration übertragen. Ob, in Anlehnung an Mannheim, von einer postmigrantischen Generation gesprochen werden kann, wird anschließend analysiert, bevor Bezug genommen wird auf die Generationen innerhalb der mehrheimischen Familie und der postmigrantischen Gesellschaft. Im Fallbeispiel von Enes wird seine familiäre Migrationsgeschichte in Erweiterung, Ergänzung und Abgrenzung zur eigenen Lebensgeschichte kontextualisiert. Im fünften Kapitel werden die Themenbereiche Familie und Biografie verknüpft, ein besonderes Augenmerk gilt dem intergenerationalen Familiengedächtnis, das als mögliches Migrationsgedächtnis erörtert wird. Familien mit Migrationserfahrungen werden als soziale und sozial bedingte Orte rekonstruiert, an denen die Akkumulation von (Erfahrungs-)Wissen stattfinden und familiale Praktiken entstehen können. Neben familialen und intergenerationellen Praktiken, die situativ und wandelbar sind, wirken auch gesellschaftliche Prozesse in die Familie hinein. Diesbezüglich untersuche ich unter anderem, inwieweit familiale Praktiken als eine »Assemblage« (Deleuze/Guattari 1987, S. 307; siehe hier Kap. 5.2.2) und/oder eine »Transtopie« (Yıldız 2013, S. 32; siehe hier Kap. 5.2.1) ausgestaltet werden können. Die Fallrekonstruktion von Jasemin veranschaulicht, wie innerhalb der familiären Generationen Vermittlungsarbeit geleistet wird, während jene von Selma veranschaulicht, wie die postmigrantische Generation transnationale Familiennetzwerke kreativ nutzen lernt. Im sechsten Kapitel werden eingangs das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess und anschließend die Wechselwirkungen und Zusammenhänge zwischen den Prozessen des Erinnerns und Vergessen dargelegt. Ich führe den Begriff »Vergessenskulturen« ein, in Anlehnung an den und in Abgrenzung von dem Terminus Erinnerungskulturen (vgl. u.a. Cornelißen 2003; Diendorfer/Uhl 2010; Erll 2017). Beide Gedächtniskulturen sind für das familiäre Gedächtnis und die intergenerationale Artiku10

Zum einen werden die Ansätze aus Ezra Parks »Marginal Man« bzw. »Randseiter« (vgl. Park 1928, S. 881) und zum anderen Hartmut Essers Thesen zur »Sozialintegration« (Esser 2001a, S. 1), eigentlich Assimilation, kritisch diskutiert und postmigrantisch ersetzt.

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lation (familialer) Erfahrungen relevant. Sodann wird gleichzeitig methodologisch und theoretisch diskutiert, wie familiäre Erzähl- und Erinnerungslücken durch die Erzähler*innen re,- de- und konstruiert werden. Des Weiteren wird danach gefragt, wie sich die Re/De- und Konstruktion biografischer und familialer Narrationen als mögliche Bildungsprozesse ausgestalten können. Den empirischen Zugang zu diesem Kapitel liefert die Fallrekonstruktion von Malu, die sich ausgehend von den prägenden Erfahrungen, die sich im Herkunftsort bzw. vor ihrer Geburt abspielten, politisiert und versucht, die biografischen Leerstellen des familiären Gedächtnisses mit eigenen Erkenntnissen und intergenerationellen Wertvorstellungen zu füllen. Im siebten, dem abschließenden Kapitel, werden die biografischen Narrationen von den Erzählerinnen sowie Akteurinnen Nida und Tania vorgestellt, bevor eine Zusammenschau der theoretisch-empirischen Ergebnisse der Forschungsarbeit und als Letztes ein Ausblick vorgenommen wird. Genauso wenig wie die vielfältigen Biografien der Nachfolgegeneration Teil linearer Prozesse sind, geschweige denn geradlinig verlaufen, trifft dies auf die Dissertation zu. Eine Gliederung in Kapiteln ist zwar notwendig, ein Zusammendenken der nicht immer widerspruchsfreien Kontexte zwischen und über die einzelnen Kapitel und Unterkapitel hinaus ist jedoch entscheidend. Es wird also versucht, zusammendenken, was auf den ersten, den zweiten oder vielleicht auch erst auf den vierten Blick zusammengehört, nämlich die Biografien der Erzählenden mit den gleichzeitig (sehr) eigenen und stellenweise ähnlichen familialen Migrationsgeschichten. Es geht darum, Generationsund Migrationserfahrungen sowie Erinnerungen generationsübergreifend und postmigrantisch, also gesellschaftlich zu denken. Überdies muss bedacht werden, dass Erfahrungen sowie Erinnerungen aus der Vergangenheit häufig die Gegenwart und/oder die Zukunft der jungen Generation tangieren. Ferner werden zu den genannten Themen, Ideen und Konzepten diverse intergenerationelle Artikulationen addiert, die vielleicht irritieren, jedoch Teil der komplexen, heterogenen Lebenswelten der Erzählenden und ihrer Familien sind. Postmigrantische Perspektiven auf Generation, Migration, Familie sowie auf das Gedächtnis der Familie und auf Gesellschaft werden kombiniert und multiperspektivisch bearbeitet. Das Leben spielt sich nicht in Kapiteln ab.

1. Methodik und methodologische Implikationen

Die hier vorliegende Studie untersucht, wie junge Erwachsene der postmigrantischen Generation, die aktuell in Innsbruck und Umgebung leben, sich mit intergenerational tradierten Familienerzählungen, -erinnerungen und -erfahrungen auseinandersetzen und sie in Ergänzung, Erweiterung oder Abgrenzung zur eigenen Lebensgeschichte nacherzählen, deuten und umdeuten. Die Gesprächspartner*innen sind die Enkelkinder von Pionier*innen und bringen damit – zuzüglich ihrer individuellen Lebenserfahrungen und -orientierungen – einen (familien-)biografischen Erfahrungs- und Erinnerungsschatz ein, der ein besonderer und zuweilen unterschätzter ist. Im Sinne einer postmigrantischen Leseart wurde entschieden, die biografischen Erzählungen zu betrachten als prominente Artikulationen vielfältiger, mehrheimischer Lebensentwürfe und -realitäten, die biografisch und/oder familial nicht auf einen geografischen sowie sozialen Kontext begrenzt sind. Weder die Protagonist*innen als Erzähler*innen noch die aus den Gesprächen resultierenden biografischen Befunde lassen sich auf die ihnen zugewiesenen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Nischen beschränken, was sich auch auf das Forschungsdesign, Forschungskonzept und die Forschungsarbeit als Ganzes auswirkt. Das bedeutet konkret, dass nicht nur Theorie(n) und Empirie(n) zusammengedacht werden, vielmehr gehen theoretische, methodische, methodologische und empirische Implikationen ineinander über. Kurz gesagt: Die Fallrekonstruktionen fließen in die Theorie und Methodologie ein. Bestimmte Fragen sind keine rein theoretischen, sondern auch methodologische und umgekehrt. Hinzukommend sind spezifische Überlegungen über Methodologie keine rein methodologischen Fragen, sondern analog betrachtet familien-, generations- oder erinnerungstheoretische Implikationen. Das zeigt sich auch insbesondere an späterer Stelle, dezidiert in den Unterkapiteln 6.2, 6.2.1 und 6.2.2, wo anhand der Konstruktion, De- und Rekonstruktion familialer Erfahrungen nebst intergenerationalen Erzähl- und Erinnerungslücken die theoretischen, methodologischen und empirischen Querverbindungen und Bezugspunkte deutlich werden. Den*die Lesende*n erwartet damit eine Forschungsarbeit, die die Forschungsprozesse und -ergebnisse nicht in getrennten Teilen abhandelt, sondern Empirie und Theorie ineinanderflechtet und verwebt. Eine solche Dissertation lebt entscheidend, aber nicht ausschließlich von den biografischen Narrationen der Erzähler*innen, die situativ in der Interviewsituation erfahrbar

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gemacht und durch die Fallbeispiele rekonstruiert werden. Als Forscherin bin ich weder in der konkreten Interviewsituation noch in der späteren Rekonstruktion des Gesagten außen vor. So werde ich im Austausch mit den Gesprächspartner*innen wegen meiner Forschung abwechselnd als Expertin, als Mitwissende oder als Komplizin1 charakterisiert. Des Öfteren werde ich von ihnen als Teil der Mehrheits- bzw. Dominanzgesellschaft angesprochen, wenngleich sich die Erzähler*innen weitaus länger im hiesigen Kontext verorten als es bei mir, die genau genommen auch eine mehrheimische Biografie hat, der Fall ist. Die Annahme über die mir zugewiesene Zugehörigkeit veranschaulicht, wie automatisiert und selbstverständlich Kategorisierungen in einheimisch oder mehrheimisch erfolgen können. Empirische Forschung spiegelt eine reflexive Situation wider, an der sowohl der*die Gesprächspartner*in als auch der*die Forscher*in beteiligt sind. Während der einzelnen Forschungsschritte, also von der Entwicklung der ersten Forschungsidee über die alltägliche Forschungspraxis hin zur Auswertungs- und Interpretationsphase, spielen die persönliche Wahrnehmung und das Vorwissen der Forschenden eine wesentliche Rolle. Ich bin als Forscherin nicht frei von spezifischen Vorannahmen oder Grundhaltungen, kann und möchte sie jedoch reflektieren und offenlegen, was sich gerade im emotional besetzten Themenfeld Familie zeigt. Die Emotionalisierung von in ähnlicher Weise erlebten Erfahrungen2 können aufseiten des*der Wissenschaftler*in eine solidarisierende Haltung oder tieferes Verständnis dem*der Erzähler*in gegenüber bzw. bessere Nachvollziehbarkeit des Erzählten hervorrufen. Folglich muss bedacht werden, dass ich als Wissenschaftlerin immer auch aus meiner eigenen Positioniertheit heraus denke und interpretiere, diese aber aufdecken möchte. Zu dem Schluss, dass Forschende nicht vollständig neutral sein können, kommt auch Kaufmann, dessen Konzeption des »Verstehenden Interviews« (vgl. Kaufmann 1999) für diese Arbeit Relevanz aufweist. Als Forscherin mit eigener Sozialisation und blinden Flecken in der Familiengeschichte kann ich nicht völlig objektiv über Migration, Generation und Familie forschen; das ist aber auch nicht der Anspruch. Genauso stelle ich in den Gesprächen Parallelen in mancher Erfahrung der Gesprächspartner*innen und meiner Person fest, was – falls relevant – genauso in der jeweiligen Fallrekonstruktion thematisiert wird.

1.1 Methodisches Vorgehen Diese Forschungsarbeit nutzt ausgewählte Erkenntnisse und methodische Vorgangsweisen in Anlehnung an die Biografieforschung (vgl. u.a. Fischer-Rosenthal 1990; Hildenbrand 2005; Bukow/Spindler 2006; Alheit 2010), der biografischen Familienforschung (vgl. Apitzsch/Irini 2013) und der bildungstheoretischen Biografieforschung (vgl. Koller et al. 2003).

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Die Annahme einer Kompliz*innenschaft lässt sich in zwei halbbiografischen Interviews feststellen. Genaueres dazu wird in den Fallrekonstruktionen von Enes (siehe Kap. 4.5) und Malu (siehe Kap. 6.3) erläutert. Ähnliche Erfahrungen von Erzähler*innen und Forscherin lassen sich durch die gemeinsame familiäre Verortung im Arbeiter*innenkontext feststellen (siehe dazu Tania in Kap. 7.2).

1. Methodik und methodologische Implikationen

Mittels einer qualitativen Vorgehensweise wird rekonstruiert, wie die Angehörigen der postmigrantischen Generation im Hinblick auf die eigene Biografie und die Mobilitätsbiografien ihrer Familien ihre gegenwärtigen Alltags- und Lebenspraxen aktiv entwerfen und wie sie ihre je eigenen Lebenswelten aus unterschiedlichen Elementen, unter anderem aus ausgesuchten Erinnerungen des familialen Gedächtnisses und den (familien-)biografischen Erfahrungen heraus, gestalten und zusammenfügen. Die konkreten Erhebungsinstrumente der hier vorliegenden Forschung sind halbnarrative Interviews (vgl. Rosenthal 1995), die eine spezifische Erzähl- und Deutungspraxis fördern und damit einen (deutungs-)offenen Blick auf die vielschichtigen Narrationen, Erinnerungen und Erinnerungslücken der postmigrantischen Generation gewährleisten. Darüber hinaus sind halbnarrative Gespräche dazu prädestiniert, differenzierte Einblicke sowohl in die familialen Alltagspraktiken als auch in die spezifischen familialen Zusammenhänge zu ermöglichen. Ich spreche bewusst von halbnarrativen und nicht narrativen Interviews, da die konkrete Interviewsituation nie vollständig biografisch sein kann sowie stellenweise dialogischen Charakter hat. Das Dialogische entsteht unter anderem aus Denkpausen oder aufgrund der ungewohnten Interviewsituation. Der Erzählfluss der Erzählenden wird zuweilen gestoppt, da die Sprechenden für sich überlegen, inwieweit sie bereit sind, bestimmte persönliche, intime Ereignisse oder Gedanken zu artikulieren. Ein biografisches Interview, das automatisch ein Gespräch ist, profitiert von einer guten und vertrauensvollen Gesprächsbasis. Dazu gehört auch, Unsicherheiten, sowohl vonseiten der Erzählenden als auch der Forschenden anzusprechen. Den Erzählenden obliegt in der Vermittlung der eigenen Geschichte das (Vor-)Recht, Bestimmtes auszulassen, trotz Nachfrage nicht zu thematisieren oder zu vermerken, dass bereits Erzähltes situativspontan wiedergeben wurde, jedoch nicht für den wissenschaftlichen Gebrauch bestimmt ist. Ihre Entscheidung über die Artikulation oder bewusste Nicht-Artikulation eigener und familialer Erinnerungen ist daher ein emanzipatorischer Akt. Eine weitere Situation, die den dialogischen Charakter des Gespräches fördert und viele Gesprächssituationen determinierte, ist das Nachfragen und die gleichzeitige Vergewisserung vonseiten der Erzählenden, ob das bereits Erzählte »ausreiche« oder »brauchbar« sei. Hier liegt es in der Verantwortung der Forschenden, dem Gegenüber den Druck zu nehmen und hervorzuheben, dass alles, was erzählt werde, für den Forschungsprozess wertvoll sei. Darüber hinaus sind Erzählpausen oder Denkpausen, genauso wie die kurzfristige Umkehr der Erzählendenposition durch den*die Forscher*in, für die Aufrechterhaltung, Intensivierung oder Neukontextualisierung des Erzählrahmens und -inhalts förderlich. Genauso hat ein Abschweifen vom Thema als Teil der offenen Gesprächspraxis seine Berechtigung. In dieser Dissertation wird die Vorstellung einer empirischen Forschung verfolgt, die sich als multiperspektivisch und nondualistisch (vgl. Mitterer 1993, S. 97) versteht.3 In der Auswertung orientierte ich mich vor allem an der heutigen Konzeption der Grounded Theory (vgl. Glaser/Strauss 1998) und am Konzept des »Verstehenden Interviews«

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Genaueres dazu, der Idee, biografische (Familien-)Erzählungen zu konstruieren, rekonstruieren und dekonstruieren, und zu weiteren methodologischen Implikationen im Kapitel 6.2.

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von Jean-Claude Kaufmann, in dem der*die Forscher*in als »intellektueller Handwerker« (Kaufmann 1999, S. 17) operiere, um die theoretischen und methodischen Erkenntnisse am Beispiel des jeweiligen Forschungskontextes zu erzeugen. Ich adaptierte die Herangehensweise, indem ich während des Forschungsprozesses mit einem fortlaufend angefertigten Karteikasten und einer Gliederung arbeitete, die sich stetig veränderte und ausgestaltete (vgl. ebd., S. 91), um daraus Hypothesen zu generieren, die »aus dem Nichts zu kommen [scheinen], aber in Wirklichkeit […] [sind] sie das Ergebnis einer langen unterirdischen kognitiven Arbeit, bei der kühne Zusammenhänge erprobt wurden.« (Kaufmann 1999, S. 97) Die gesammelten Daten aus den halbnarrativen Interviews wurden durch abduktives Vorgehen, das sich vor allem in der Erforschung biografischer Konstruktionen sowie intergenerationeller Praktiken bewährt hat (vgl. Apitzsch 1999; Tsiolis 2018, S. 768), rekonstruktiv analysiert, und es wurden Hypothesen gebildet. Ausgangspunkt einer abduktiven Vorgehensweise, »die die Entdeckung von Neuem zum Ziel hat« (Siouti 2018, S. 2), ist die Annahme, dass einzelne biografische »Fälle« generalisierbar seien (vgl. Apitzsch 2003). Zwar stellt die Biografie einer Person prinzipiell eine eigenständige Lebensgeschichte und -entwurf dar, das Erzählte ist gewissermaßen biografiespezifisch, dennoch wird das Subjekt durch familiale und kollektive Erfahrungen determiniert (vgl. Apitzsch 2003, S. 101). Biografische Erzählungen können nicht ohne den »Hinweis auf gesellschaftliche Individualisierung und damit einhergehende Biographisierung im Sinne eines universalen Phänomens« (ebd., S. 103) verstanden werden. Rekonstruiert werden soll vielmehr die sich im Akt der Zuwendung darbietende Gesamtgestalt der Biographie, die interaktiv konstituierte Bedeutung der Erfahrungen und Handlungen der Subjekte, die sich zum Teil ihren Intentionen entzieht. Wir wollen also nicht nur analysieren, wie die Biographen die soziale Welt erleben, sondern ebenso, wie die soziale Welt ihr Erleben konstituiert. (Rosenthal 1995, S. 218) Einerseits trifft der*die Erzählende also eigene biografische Entscheidungen und entwirft lebensgeschichtliche Konzepte, andererseits sind diese auch durch familiäre und/oder generationelle Erfahrungsräume geprägt und beeinflusst. Die Mobilitätsgeschichten der Großeltern und deren Verortungspraxen im Arbeiter*innenkontext4 , bedeuten für die postmigrantische Generation spezifische Bildungs(un)möglichkeiten, auf denen sie zunächst aufbauen. Biografien spiegeln nicht, wie Heide von Felden (2008) schreibt, »einfach das Leben wieder« (S. 11), sondern werden immer wieder aufs Neue konstruiert. Speziell in Interviewsituationen, aber auch beim biografischen Erzählen im Alltagsweltlichen werden folglich Biografien im Sinne eines »Doing Biography« (Bukow/Spindler 2006, S. 19ff.) sozial und situativ hervorgebracht. Darüber hinaus ist das subjektive Erzählen seiner eigenen Biografie oder biografischer Elemente auch geprägt durch die diversen Arten des »individuell verarbeitetem gesellschaftlichen Wissen[s]« (Schlüter 2008, S. 224). Das heißt, dass die Narration der Erzählenden in ihrer Alltagsroutine bzw. Alltagspraxis 4

Die Konzepte, Verortungen und Benennungspraxen Arbeiter*innenkontext, -milieu, -klasse oder Arbeiter*innenkind sind maßgeblich durch verschieden sozial und biologisch geschlechtliche Akteur*innen geprägt, weswegen diese Schreibweise vorgenommen wird.

1. Methodik und methodologische Implikationen

nicht unabhängig von gesamtgesellschaftlichen, globalen, politischen und sozialen Prozessen gedacht und interpretiert werden kann. Der Entschluss, einerseits Interview und Gespräch synonym zu denken sowie andererseits das Gespräch offen als Gespräch zu platzieren, liegt an der Vorgangsweise und der Wirkungsweise des sogenannten Interviews im Kontext der FluchtMigration (vgl. Schacht 2021, S. 18). Mit Interview ist dort die Befragung durch einen*eine Referent*in vom Bundesamt für Fremdwesen und Asyl gemeint. Diese Person entscheidet über den Verbleib geflohener Menschen im Ankunftsort oder ihre Abschiebung in den Herkunftsort (mit) und somit maßgeblich über die Zukunft der Befragten. Sie trägt damit vielfach das Überleben dieser Menschen in den Händen, denn der Erhalt eines negativen Bescheids kann existenz- bzw. lebensbedrohend sein. Das Interview markiert in diesem Zusammenhang die ungleichen Machtachsen zwischen dem Staatsapparat (dem*der Entscheidungsträger*in, dem Amt bzw. dem*der Referent*in) und dem Subjekt, das selbstredend in dieser Situation eine vulnerable Position einnimmt. Der Terminus Interview ist für Geflohene aufgrund seiner biografischen Relevanz sowie Brisanz also häufig traumatisch. Die Auswirkungen der Entscheidung, die mit dem geführten Interview im Asylverfahren korrelieren, stehen weder in Vergleichbarkeit noch in Konkurrenz mit den Assoziationen, die der Begriff bei Erzählenden ohne Fluchterfahrungen auslösen kann. Trotzdem kann der sprachsensible Umgang im Forschungsprozess, der das Wort Gespräch anstelle von Interview favorisiert, den Erzählenden im Vorfeld des biografischen Erzählprozesses Furcht nehmen, die wie in einer Prüfungssituation bestehen kann. Die biografischen Gespräche wurden im Zeitraum von rund zwei Jahren geführt. Sie wurden allesamt mit derselben erzählgenerierenden Eingangsfrage eröffnet, der Raum für möglichst freie Erzählungen bieten sollte, wobei zwischendurch und, je nach Situation, auch gezielte ergänzende Fragen gestellt wurden. Die Interviewführung implizierte die Annahme, dass Empathie als »Werkzeug, das einem die Welt des Informanten zugänglich macht« (Kaufmann 1999, S. 60), genutzt werden kann. Es wurde vonseiten der Forschenden versucht, sich gänzlich auf das Erzählmoment einzulassen und ad hoc auf die Artikulationen der Erzählenden, unter anderem durch dezidierte Fragen und Ergänzungen, zu reagieren. Die folgenden Fragen sind für das Dissertationsprojekt forschungsleitend: 1. Wie setzen sich junge Erwachsene der postmigrantischen Generation mit den familialen Migrationserfahrungen auseinander, welche Narrationen und Artikulationen rekonstruieren und entwerfen sie aus den intergenerationell weitergetragenen Erfahrungen und Erinnerungen und wie positionieren sie sich dabei? 2. Welche generationsspezifischen und intergenerationellen Orientierungen und Lebensentwürfe werden innerhalb der biografischen Erzählungen sichtbar? 3. Welche familiären und intergenerationellen Erinnerungen, Tradierungen, Wissensformen, Diskurse und Dynamiken lassen sich anhand der biografischen Konstruktionen rekonstruieren? 4. Welche Formen des familialen Gedächtnisses und familiären Praktiken lassen sich rekonstruieren und wie werden sie variiert und transformiert?

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Postmigrantische Generation 5. Welche Leerstellen decken die Erzählenden im familialen Gedächtnis auf und wie werden diese aufgefüllt und rekonstruiert?

1.2 Der Forschungsprozess Im Dissertationsprojekt wurden 10 halbnarrative Interviews mit Erwachsenen geführt, die der postmigrantischen Generation zugeordnet werden können. Das Sampling besteht aus jungen Frauen und Männern, deren Großeltern bzw. ein Großelternteil als Pionier*innen der ersten Generation nach Österreich migriert sind. Die Gespräche wurden im alpin-urbanen Raum (vgl. Rotter 2022, S. 134) in und rund um Innsbruck, Tirol, abgehalten. Es wurde bewusst keine Eingrenzung der Gesprächspartner*innen hinsichtlich eines dezidierten Alters, Geschlechts oder Herkunftslandes5 der Eltern bzw. Großeltern vorgenommen, sodass ein möglichst hohes Maß an Offenheit hinsichtlich des Forschungsprozesses aufrechterhalten bleibt. Die halbnarrativen Interviews bzw. die biografischen Gespräche6 wurden auf Deutsch geführt, mit einem Aufnahmegerät aufgezeichnet und im Anschluss transkribiert. Die Transkription der Gespräche, die einen hohen zeitlichen Aufwand einnahm, ist ein wesentlicher Teil des Forschungsprozesses. Gerade das mehrmalige Anhören entweder spezifisch unklarer, weil undeutlicher Passagen, oder prägnanter Artikulationen, führt zu einem besseren Gesamtverständnis der komplexen Narrationen. Die verwendeten Transkriptionsregeln wurden in Anlehnung an Dresing und Pehl (2018, S. 23) und ihrem Verständnis einer erweiterten inhaltlich-semantischen Transkription (vgl. ebd.) durchgeführt. Die biografischen Gespräche sind aufgrund der komplexen Erzählungen, die sowohl die eigene Lebensgeschichte als auch jene ausgewählter Familienmitglieder der

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Die Auseinandersetzung mit den biografischen Erzählungen der Akteur*innen konkretisiert, dass dasselbe Herkunftsland diverse Bedeutungen haben kann. Das wird dargelegt, wenn Erzähler*innen von demselben Land sprechen, aber andere Bezugspunkte setzen. So wird die Türkei als »Türkei« bezeichnet, aber je nach Erzählperspektive dechiffriert die Benennung z.B. die historische Türkei (siehe Fallrekonstruktion Malu in Kap. 6.3), den gegenwärtigen Staatsapparat (siehe Fallrekonstruktion Malu ebd. und Enes in Kap. 4.5) oder etwa das historische Gebiet Kurdistan (siehe ebd.). Die Protagonist*innen erzählen beispielsweise innerhalb der großen Kategorie Türkei, meinen aber historisch, religiös, gesellschaftlich und sozial unterschiedliche Formationen. Die Offenlegung dieser in den Interviews unterschiedlichen Benennungspraxen soll einerseits einer Reproduktion dieser entgegenwirken und andererseits verdeutlichen, wie heterogen Familienbiografien sein können, die vermeintlich denselben Ursprung haben. Ähnliches lässt sich auch in den biografischen Narrationen attestieren, die familiale Überschneidungen mit Ländern des ehemaligen Jugoslawiens vorweisen (siehe Fallrekonstruktionen Tania in Kap. 7.2 und Jasemin in Kap. 5.3). Auch dort werden unterschiedliche, aber auch synonyme Formen der Benennung und Bedeutung genannt. So muss je nach Interview und Kontext ergründet werden, ob etwa der Ort Kroatien als historische Teilrepublik oder als gegenwärtiges nationalstaatliches Konstrukt gemeint ist, wenn von Kroatien die Rede ist. Die Interviews werden aus oben bereits genannten Gründen als halbnarrativ bezeichnet, die synonyme Verwendung des biografischen Gespräches bleibt als biografisch benannt, um den biografischen Akt der Erzählung hervorzuheben und wertzuschätzen.

1. Methodik und methodologische Implikationen

drei Generationen betreffen, inhaltlich dicht und aufwendig (erzählt). Ein Großteil der Gesprächspartner*innen beginnt die Narration mit den lebensgeschichtlichen Ausführungen zur Großelterngeneration und arbeitet sich sukzessive über Erfahrungen und Erinnerungen zu Eltern bzw. Elternteil und schließlich zu eigenen biografischen Erzählungen vor. Es ist weder Ziel noch von den Erzähler*innen so angelegt, dass die die einzelnen Generationen betreffenden Artikulationen strikt voneinander getrennt werden oder chronologisch sein müssen, sondern sie gehen – trotz der dominanten Erzähllogik, »von vorne beginnen zu wollen« – ineinander über, ergänzen, bereichern oder widersprechen sich. Die halbnarrativen Interviews dauerten mindestens 2 und maximal 4 Stunden, der Durchschnitt der Gespräche lag irgendwo dazwischen. Die inhaltliche Dichte und Erzählbreite der Gespräche ist auch der entscheidende Faktor, weshalb entschieden wurde, sieben von diesen als je einzelne Fallrekonstruktionen in die Forschungsarbeit einzuarbeiten. Die Positionierung dieser Rekonstruktionen innerhalb der Forschungsarbeit erfolgte anhand einer themenspezifischen Einbettung. Zuzüglich wurden bei jedem Fallbeispiel weitere wesentliche (familien-)biografische Vertiefungen und Akzentuierungen vorgenommen. Des Weiteren besteht jede Rekonstruktion aus der Kontextualisierung relevanter familiengeschichtlicher Bezüge. Wie intensiv auf Biografisches und/oder Familiäres eingegangen wird, ist kontextuell verschieden, der Blickwinkel ist durchgehend ein postmigrantischer. Am Ende der Arbeit erfolgt eine Zusammenschau der theoretischen sowie empirischen Ergebnisse. Dort fließen auch relevante Erkenntnisse aus den drei weiteren Gesprächen ein. Ich rekonstruiere die Lebensgeschichte der Protagonist*innen, die – abwechselnd und gleichzeitig – als Erinnernde, Erzähler*innen, Biograf*innen, Gestalter*innen oder Grenzgänger*innen agieren, ausgehend von ihrem selbst entworfenen Erzählund Erinnerungsrepertoire. Die komplexen Verwandtschaftsverhältnisse werden fast ausschließlich aus Sicht der Erzählenden artikuliert, Ausnahmen werden als solche gekennzeichnet.

1.3 Biografische Konstruktionen als Bildungsprozess Biografien sind weder ontologische Gegebenheiten noch vom Alltag abgehobene Konstruktionen, die innerhalb eines spezifischen gesellschaftlichen Kontextes und aus eben einer bestimmten Perspektive heraus konstruiert und schließlich artikuliert werden. Das biografische Selbstverständnis der Erzählenden ist zunächst eine persönliche Antwort auf die aktuelle Lebenssituation, in der sie sich, im Sinne einer Momentaufnahme, befinden. Das biografische Denken, Erzählen und Erinnern eigener und familialer Erfahrungen implizieren eine (Re-)Thematisierung intergenerationeller Praktiken sowie die Sichtbarmachung von familiären Wissensformen und Diskursen. Diese biografischen Artikulationen können verschiedenste Bildungs- und oder Lernprozesse initiieren (vgl. Koller/Kokemohr 1994; Bukow/Spindler 2006). Somit wird das Erzählen der (familialen) Lebensgeschichte als mögliche Form eines biografischen Bildungsprozesses (vgl. Koller et al. 2003) ausgestaltet (siehe Kap. 6.2). Peter Alheit (2010) spricht in diesem Zusammenhang von »Biographizität« (S. 238). Darin verbirgt sich die These, dass

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Postmigrantische Generation

Biografien stets retrospektive und prospektive Entwürfe darstellen, sich das erzählende Subjekt jedoch in der Gegenwart positioniert. Bezüglich biografischer Konstruktionen muss grundsätzlich von einer Perspektivenvielfalt ausgegangen werden, die je nach Kontext und diskursivem Zusammenhang unterschiedliche bzw. widersprüchliche Sichtweisen eröffnen können. Gerade der multiperspektivische Zugang zur Lebensgeschichte verdeutlicht, dass es niemals nur eine Erinnerung an ein erlebtes Ereignis gibt, sondern höchst unterschiedliche. Somit erinnern und interpretieren Familienmitglieder dasselbe Erlebnis teilweise sehr divers. Die biografische Narration ist deshalb nie nur Reproduktion, sondern stets Produktion neuer Anschauungen bezüglich des Selbst- und Weltbildes. Im biografischen Erzählen wird damit nicht nur die Vergangenheit interpretiert, vielmehr können neue Lern- und Erfahrungsräume entstehen, die in die Gegenwart und Zukunft des*der Erzähler*in hineinwirken.

1.4 Forschungsorte und Pseudonymisierung Die Forschungsorte liegen in und rund um Innsbruck, einer Stadt, die ohne Mobilität von außen in ihrer heutigen Gestalt nicht denkbar wäre. Die Erforschung von Migrationserfahrungen in Städten, wie Innsbruck, die im Gegensatz zu z.B. Wien oder Berlin nicht mit postmigrantischen Verortungen assoziiert werden, wurde bis dato nur punktuell vorgenommen, auch wenn einzelne Stimmen auf die Wichtigkeit der Migrationsbewegungen innerhalb von und für Innsbruck hinweisen (vgl. Hetfleisch 2017b, S. 118; Yıldız 2018a, S. 167; Berger/Hetfleisch 2018, S. 122). So spricht Yıldız davon, dass Innsbruck sowohl geschichtlich wegen der Lage als »Transitort« (vgl. Yıldız 2018a, S. 167) als auch gegenwärtig durch »die Präsenz von Arbeitsmigranten, ihrer Nachfolgegenerationen und anderer Zuwanderergruppen« (ebd.) als Migrationsort geprägt sei. Innsbruck profitiert aufgrund der geografischen Lage und der Nähe zu Italien seit jeher von den diversen grenzübergreifenden Einflüssen. Daneben waren und sind die unterschiedlich schattierten Migrationsbewegungen für die Entstehung, Modernisierung und Urbanisierung der Stadt essenziell. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich diese historisch geprägte Vielheit, neben familial hergestellter Diversität, in vielen Lebensläufen widerspiegelt. Die für die Forschungsarbeit entstandenen biografischen Erzählungen, die immer auch Bezüge zu Innsbruck und Umgebung vorweisen, akzentuieren unter anderem sprachliche und mehrheimische Kompetenzen, die im Stadtbild sichtbar werden. Eine große Rolle spielen neben Innsbruck etliche Dörfer und Gemeinden, in denen einzelne Erzähler*innen ihre Kindheit verbrachten oder in denen sie aktuell leben oder etwas Ähnliches vorliegt. Gleiches gilt für Orte, die familiale Relevanz aufweisen. Nicht jeder Ort, der in den Interviews genannt wird, wird in der Rekonstruktion als solcher bezeichnet. Aus Gründen der Anonymisierung bzw. Pseudonymisierung werden Innsbruck als gemeinsamer Bezugspunkt aller Interviewpartner*innen und vereinzelte Großstädte wie Istanbul oder Zagreb benannt. Das Gleiche betrifft nationale Großkategorien wie Bosnien oder die Türkei oder regionale Bezeichnungen wie Anatolien oder Tirol. Andere geografische Punkte werden hingegen als »Dorf« oder als ein passendes Äquivalent umschrieben.

1. Methodik und methodologische Implikationen

Pseudonymisiert und durch passende Kategorien ersetzt werden, sofern notwendig, all jene biografischen Kategorien wie Studium, Beruf oder Vereinsnamen, die auf die erzählende Person oder ihre Familie verweisen könnten. Durch die Verknüpfung biografischer und familienbiografischer Spezifika und die Tatsache, dass Tirol relativ überschaubar und gleichzeitig stark vernetzt ist, ist besonderes Fingerspitzengefühl und Sensibilität erforderlich. Deshalb wurden fallspezifisch zusätzlich zu den bereits genannten Formen der Pseudonymisierung weitere Formen der Pseudonymisierung vorgenommen.7 Sämtliche vorkommenden Namen sind selbstredend anonymisiert.8

1.5 Forschen in Zeiten der Pandemie – die Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit Vor dem Beginn und während eines empirischen Forschungsprozesses gilt es, zu überlegen, welche Stolpersteine es im Verlauf der Forschungsarbeit geben könnte. Die weltweite Corona-Pandemie war keine dieser ansatzweise kalkulierbaren Ereignisse. Das Virus brachte Unvorstellbares in das Leben vieler Menschen und verschärfte bereits gekannte Ungleichheit sowie Ungerechtigkeit, unter anderem hinsichtlich Migration, exponentiell (vgl. Rubin 2021, S. 110). Unter Zugabe des viralen Kontrastmittels9 trat deutlich hervor, dass die so viel beschworene Solidarität keineswegs für alle gleichermaßen galt – und gilt. Ich notiere das mit der gebotenen Vorsicht. Selbstredend stimme ich zu, dass es notwendig ist, ein gefährliches Virus auch durch gemeinsame Anstrengungen zu bekämpfen, die bis zum demokratisch kontrollierten Verzicht auf Freiheitsrechte reichen können. Zugleich meine ich, dass wir angesichts des einzigartigen staatlichen Appells an die Solidarität die Frage stellen müssen, für wen derartige ungeheure Anstrengungen eigentlich unternommen werden. Und die schmerzhafte Antwort lautet: In jenen Monaten des Jahres 2020, in denen der Staat seinen Subjekten einen Weg in die solidarische Isolation wies, wurden wir alle zu Kompliz*innen eines Systems, das manche Menschen verrecken lässt und andere nicht. (Czollek 2020, S. 14) Die einzelnen Nationalstaaten und multilateralen Verbünde, wie die Europäische Union, waren nun darauf angewiesen, schnellstmöglich auf die Krise gesundheits- finanzund – wichtig – auch sozialpolitisch zu reagieren. Trotz teilweise berechtigter Kritiken (wie fehlender Transparenz in Schließungs- und Öffnungsprogrammatik des gesellschaftlichen Lebens, Informationsmangel auf verschiedenen Ebenen, teilweise unzurei7

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Das betrifft vor allem das Datenmaterial, das von Personen aus kleinen Ortschaften oder Tälern stammt. Auch sehr exakte Zahlenangaben (etwa die Anzahl der Geschwister) werden in der Fallrekonstruktion weggelassen oder pseudonymisiert. Eine Vielzahl dieser, jedoch nicht alle, entstand auf mein Nachfragen, welchen Namen sich der*die Erzähler*in wünschen würde. Hier erklärt Czollek, was er mit dem Begriff Kontrastmittel meint: »Die Corona-Krise wirkte von Anfang an als ›Kontrastmittel‹, das mit den Worten der Autorin Carolin Emcke gesprochen ›sichtbar macht, was in unseren Gesellschaften fehlt […], welche Ungleichheiten toleriert [werden].‹« (Czollek 2020, S. 13f.).

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Postmigrantische Generation

chenden staatlichen Unterstützungsmaßnahmen für finanziell bedrohte Menschen sowie Branchen), wurde der Staat vor neue Herausforderungen gestellt, die rückblickend anders bewertet werden könnten und folglich veränderte Handlungsweisen hervorrufen könnte. Neben der Erprobung der Krisenfähigkeit des Gesundheits-, politischen- und Sozialsystems, wurde und wird auch die Resilienz der Einzelnen und Familien wiederholt herausgefordert. Außerdem sind sie mit der möglichen bzw. tatsächlichen Erkrankung an Covid-19 und mit den damit verbundenen Realitäten konfrontiert, z.B. schwerer Krankheitsverlauf, Sterblichkeit, Spätfolgen, Isolation, um nur einige Faktoren zu nennen. Ob unerwartete Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit, ob Vereinbarkeit von HomeOffice und Home-Schooling: Menschen waren veranlasst, täglich neue Herausforderungen zu meistern. Genauso wird das Bildungssystem mit drängenden neuen und alten Fragen sowie Problemlagen konfrontiert. Gesellschaftlich betrachtet, lassen sich Formen der Politisierung, vielfach einer Radikalisierung breiter Teile der Bevölkerung attestieren. Rechtsradikale Proteste zu bagatellisieren und rechte Parolen, Diskurse und Einstellungen unter dem Paradigma der Meinungsfreiheit abzumildern, gefährden auch eine Gesellschaft der Vielheit. Wer mit Faschist*innen marschiert, duldet oder unterstützt ihre Ideologie und macht sich zum*zur Mittäter*in. Meinungsfreiheit inkludiert Meinungen innerhalb eines demokratischen und verfassungskonformen Rahmens. Aussagen, die diesen Rahmen überschreiten, greifen Menschen- und Persönlichkeitsrechte an und sind daher indiskutabel. Abgesehen von diesen extremen bzw. extremistischen Formen der Protestkultur, werden nach Florack (2020) Menschen generell durch Krisen konservativer. Diese These lässt sich an einer Revision hin zu veralteten Rollenbildern nachzeichnen. Sozialkontakte wurden aufgrund des Virus auf ein Minimum reduziert bzw. limitiert, worunter Kinder und Jugendliche besonders litten bzw. aktuell noch leiden. Transnational betrachtet, sind vor allem verwandtschaftliche Netzwerke (vgl. Apitzsch 2006), die eben nicht auf einen Ort beschränkt sind, von den Einschränkungen, etwa des Reise- und/oder direkten Kontaktverbotes, betroffen. Familiäre Feierlichkeiten sowie sonstige Zusammenkünfte wie Trauerfeiern mussten genauso abgesagt bzw. an die gesetzlichen Adaptionen angepasst werden, wie die kleinen und großen Pläne, die Menschen vor Corona entwarfen. Verkürzt gesagt, verschärften sich seit Beginn der Pandemie die Lebensrealitäten der Menschen. Sie wurden gezwungen, andere, bis dato nicht gekannte »Kämpfe« zu kämpfen und wiederkehrend neue Herausforderungen zu bestreiten. Der globale Charakter von Covid-19 bewirkte einerseits eine Zuspitzung gesellschaftlicher Verhältnisse und andererseits einen Dornröschenschlaf ganzer Gesellschaften. Corona als zeitgenössisches globales Phänomen wirkt(-e) in den Alltag der Menschen, obschon mit unterschiedlichen Nuancen und Intensitäten, hinein. Individuen, Partner*innen, Familien und Gemeinschaften sind also unterschiedlich stark geprägt von eben dieser humanitären Krise. Als Forscherin konnte ich beobachten, wie sich der gesamte Forschungsprozess, hauptsächlich der Interaktionsprozess mit den Gesprächspartner*innen erschwerte und zeitlich verzögerte. Dank der Unterstützung der Erzähler*innen, die sich trotzdem und unter Einhaltung der gesundheitlichen und politischen Bedingungen dazu bereit erklärten, über sich, ihr bisheriges Leben und das ihrer Familien zu sprechen, gelang es mir, die empirische Arbeit fertigzustellen. Einige Gespräche fanden vor und

1. Methodik und methodologische Implikationen

mehrere während der Corona-Situation statt. Die Datenerhebung lässt sich gewissermaßen in eine Zeit vor und eine Zeit während Corona einteilen. Obschon auch bei den letzten Interviews die Lebensgeschichten in Form biografischer und familiärer Erfahrungen sowie Erinnerungen von den jungen Erwachsenen fokussiert werden, zeigt sich, dass ein biografisches Interview immer auch eine Momentaufnahme ist und zeitgeschichtlich relevante Ereignisse, Schwierigkeiten und veränderte Normalitäten den Alltag der Sprechenden und damit auch ihre Erzählarbeit beeinflussen. Das heißt, dass die spezifischen Erfahrungen mit dem Coronavirus entweder anhand einer Randbemerkung oder durch eine komplexe Situationsschilderung artikuliert wurden. Corona verdeutlicht, wie ein gleichzeitig globales, gesundheitliches, tagespolitisches, zeitgenössisches, gesellschaftliches, familiäres und individuelles Phänomen – in ihrer Verschränkung – Lebensrealitäten und Forschungsrealitäten umkehrt, verkompliziert, jedoch nicht aussichtslos macht. Empirie spielt sich im Leben ab.

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2. Gesichter der Migration. Jugendliche aus Tirol erforschen gemeinsam ihre familiale Migrationsgeschichte »Die Vielheit ist eine Tatsache; warum also sollte man nicht versuchen, aus der Vielheit das Beste zu machen, sie als Quelle der Erneuerung zu nutzen.« (Terkessidis 2010, S. 132)

Migrationserfahrungen und -geschichten sind (mittlerweile) Teil einer beinah jeden Biografie, sodass Subjekte auf eine eigene oder aber familiäre Migrationsgeschichte zurückblicken können. Das Kontroverse und gleichzeitig Interessante daran ist, dass nicht allen Menschen, die selbst Bezüge zu Migration haben, dieses Faktum auch tatsächlich bewusst ist. Auf die Frage, ob sie oder ihre Familienangehörigen denn Migrationserfahrungen gemacht hätten, würden sie folglich tendenziell mit »Nein« antworten. Dabei ist Binnenmigration in Form von Umzügen innerhalb der Stadt, in der Region oder zwischen den Bundesländern ein Sammelsurium heterogener Bewegungen mit alltäglicher Relevanz. Diese alltagsweltlich basierten Logiken der Bewegung sind dezidiert durch Mobilität gekennzeichnet und stehen somit immer auch in Relation zu Migration. Die kategoriale Einsortierung bestimmter Menschen bzw. Personengruppen, die einem dualen Denkschemata folgt, ist dafür verantwortlich, dass die eine Gruppe mit Migration assoziiert wird und die andere nicht oder deutlich seltener. Auf die Enkelkinder der Pionier*innen wird dieses Denk- und Einordungssystem, das sie vorschnell als Migrant*innen reproduziert, häufig angewandt. Die Personen erfahren in der Wahrnehmung von außen meist eine Hierarchisierung je nach Herkunftsland der Vorfahr*innen sowie Religionszugehörigkeit: denn bestimmte Länder, Orte und Glaubensbekenntnisse werden – geprägt durch den medialen, politischen und öffentlichen Diskurs – eher als »exotisierend« oder »fremd« in Abgrenzung zum »Eigenen« und »Bekannten« wahrgenommen und in Folge werden diese stereotypen Zuschreibungen sowie Eigenschaften unreflektiert und ungefragt auf Menschen übertragen.

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Postmigrantische Generation

Das Sparkling-und-Citizen-Science-Projekt »Gesichter der Migration. Jugendliche aus Tirol erforschen gemeinsam ihre familiale Migrationsgeschichte«1 (vgl. Ferron et al. 2019) setzt direkt, wie es bereits der Titel verlauten lässt, an den Lebensrealitäten Tiroler Jugendlicher an. Ihre Lebenswelten sind durch das Phänomen der Mobilität, konkreter durch soziale sowie geografische Mobilitätsbewegungen oder aber mehrheimische Bezüge markiert. Die zentrale Idee bzw. Annahme des Projektes lautet daher, dass jede*r Schüler*in hinsichtlich der eigenen und/oder familialen Lebensgeschichte mobil ist und entscheidender noch vielfältige Bezüge zu Migration hat. Durch die Rekonstruktion der (Familien-)Geschichte werden verschiedenste Mobilitätsbewegungen und -erfahrungen offengelegt. Neben alltäglichen Formen der Mobilität lassen sich in nahezu allen Biografien der Jugendlichen und ihren Familien Spuren unterschiedlichster Bewegungen präzisieren. So haben selbst jene Jugendliche im Projekt, die sich offensiv als »einheimisch« bezeichnen, Verbindungen zu Verwandten, Freund*innen und Bekannten, die woanders leben oder migriert sind. Konkret bedeutet das: In der partizipativen Forschungsarbeit mit den Jugendlichen werden Parallelen gezogen zwischen •



dem Phänomen der gelebten Mobilität, die alle betrifft, also dem Vermögen, innerhalb und über soziale, gesellschaftliche und nationale Grenzen hinweg in Bewegung zu sein, und den familiär bzw. selbst erlebten Migrationserfahrungen.

Diese enge Verschränkung von Mobilität und eigener bzw. familialer Mobilität lässt die Schlussfolgerung zu, dass zum einen Menschen, die selbst oder deren Familien migriert sind, im höchsten Maße mobil2 sind; zum anderen resultieren aus den sehr heterogenen Migrationserfahrungen unterschiedliche Kompetenzen, Ressourcen, Handlungsweisen, aber auch diverse (Gegen-)Strategien, die im Umgang mit spezifischen Anforderungen im Ankunftsland, aber auch in der Auseinandersetzung mit Vorurteilen oder Ungleichheitserfahrungen angewandt und intergenerationell vermittelt werden (können). »Gesichter der Migration« ist ein Projekt, in dem 100 Schüler*innen zweier Neuer Mittelschulen mit der Unterstützung von Wissenschaftler*innen ihre eigene familiale Migrationsgeschichte erforschen. Das Besondere daran ist die Überzeugung, dass alle Schüler*innen gleichermaßen angesprochen werden sollen, aktiv an ihrer Biografie und der Familien- und Migrationsgeschichte zu forschen. In anderen Schulprojekten hingegen, die Migration zum Forschungsgegenstand machen, werden häufig ausschließlich Schüler*innen adressiert, die als »migrantisch« assoziiert werden. Damit erfolgt eine Migrantisierung und Besonderung von Schüler*innen, die als nicht österreichisch oder

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Das Forschungsprojekt fand im Zeitraum von 2017 bis 2019 am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Innsbruck statt. Es ist irritierend und wenig nachvollziehbar, dass gerade Menschen, die beschwerliche Fluchtwege auf sich nehmen (müssen) oder komplizierte Migrationsbewegungen vollziehen, als weniger mobil betrachtet werden als Geschäftsmenschen oder Tourist*innen, die aus beruflichen oder privaten Gründen verreisen.

2. Gesichter der Migration

»nicht genug österreichisch« gelesen werden. Zwar sind Schullandschaften und insbesondere Klassenzimmer in der Regel dadurch gekennzeichnet, im großen Maße vielfältig, heterogen, bilingual, mehrsprachig, umgangssprachlich »bunt« zu sein, doch diesem Umstand wird unzureichend Rechnung getragen. Lehrerzimmer wiederum spiegeln die Vielheit der Jugendlichen und in Folge auch die der Gesellschaft weitaus weniger wider bzw. sind – karikiert ausgedrückt – einheimisch-einfältig (im Gegensatz zur vielfältig) gestaltet. Mehrheimischen Schüler*innen fehlt somit häufig die Möglichkeit, sich in den Lehrer*innen zu spiegeln. Das moderne Bildungssystem reagiert nicht adäquat auf die realen Lebenswelten, Lebensentwürfe und Familienumstände der einzelnen Schüler*innen – exemplarisch lässt sich das in der Darstellung von Migration und ihren Subjekten im Unterricht (vgl. Hintermann et al. 2014) sowie in Schulbüchern (vgl. Markom/Weinhäupl 2007) erkennen. Das zeigt sich auch darin, dass die gesellschaftlich höchst relevanten Themenfelder Migration, Diversität und Familie3 im schulischen Kontext selten und oft nur einseitig behandelt werden (vgl. ebd.). Werden sie vonseiten der Professionalisierten jedoch trotzdem thematisiert, dann lassen sich vielfach veraltete pädagogische Konzepte wiederfinden, wie etwa das Rezipieren interkultureller Fragestellungen (vgl. kritisch dazu S. Yıldız 2009; Auernheimer 2016; Gogolin/KrügerPotratz 2020) und Fragmente. Neben fehlender pädagogischer bzw. erziehungswissenschaftlicher Expertise bezüglich migrations-, also gesellschaftsbezogenen Fragestellungen, werden negative Diskurse und Behauptungen über »die Migrant*innen« oder über »das Leben der Migrant*innen« nicht selten von den Lehrer*innen mit in den Unterricht getragen. Das unzureichende Reflektieren von Erfahrungswissen im Umgang mit Migration fließt ebenso vielfach, ob bewusst oder unbewusst, in das pädagogische Gestalten, Lehren und Handeln ein. Umso wichtiger ist es, Migrationserfahrungen und familiale Geschichten über und von Migration zum Gegenstand innerhalb des schulischen Alltages zu machen – und zwar möglichst fernab von Stereotypisierungen, von nicht hinterfragtem Alltags- und Erfahrungswissen und von medialen bzw. politischen Diskursen. Nicht nur aufgrund zeitgenössischer Phänomene, sondern gerade deshalb, da viele der Schüler*innen biografische oder familiale Bezüge zu Migration aufweisen und diese analog dazu unter der Klassifikation »problematisch« diskutiert werden, ist es umso wichtiger, sich mit den Jugendlichen über ihre Lebenswelten und Sichtweisen auszutauschen. Die Vielfältigkeit der Lebenswelten, der Biografien und der Familiengeschichten deuten die zweite Prämisse des Projektes an: Nämlich die Idee, Migration und Migrationsgeschichten zu normalisieren und zu »veralltäglichen« (Bukow 2015, S. 327). Allein die Tatsache, dass Mobilitätsbewegungen und -erfahrungen zum Alltag und Realität vieler dazugehören, unterstreicht die Notwendigkeit, Migration als Normalität zu begreifen und in Folge auch Migrationsgeschichten im hier vorliegenden Dissertationsprojekt in den Mittelpunkt zu rücken.4

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Über Familie wird auch im Schulkontext gesprochen, dabei wird jedoch meist an einer heteronormativen sowie nationalstaatlich-einheimischen Logik von Familie festgehalten. Familienmodelle, auf die diese Paradigmen nicht anwendbar sind, werden ausgeklammert oder problematisiert. Die Idee von Migration als soziohistorische und alltägliche Realitäten werden in Kapitel 2.2.1 und 2.2.2 näher konzeptualisiert.

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Postmigrantische Generation

Im Projekt »Gesichter der Migration. Jugendliche aus Tirol erforschen gemeinsam ihre familiale Migrationsgeschichte« wurden die Schüler*innen im Alter von 12 bis 15 Jahren knapp 1,5 Jahre lang von Wissenschaftler*innen5 des Institutes für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck begleitet. Im ersten Jahr arbeiteten die Jugendlichen gemeinsam mit den wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen in einem regelmäßig stattfindenden Projektunterricht. Dieser Unterricht forcierte zu einer fest terminierten wöchentlichen Einheit im Stundenplan der teilnehmenden Klassen, sodass die Schüler*innen sukzessive ihr (Fakten-)Wissen zu Migration erweiterten und sich Techniken des partizipativen und qualitativen Forschens aneignen konnten. Im zweiten Jahr fanden ganztägige Projekttage statt, die dazu dienten, gemeinsam Exponate zu erstellen und Texte zu erarbeiten, die die abschließende Ausstellung im Februar 2019 rahmen sollten. Das Projekt wurde mit den beiden Partnerschulen der NMS Gabelsberger im Stadtteil Pradl in Innsbruck und der NMS Vorderes Stubai in der Marktgemeinde Fulpmes, im Stubaital, durchgeführt.6 Pradl ist einer der ältesten Stadtteile Innsbrucks. Es hat den Ruf inne, sich als ehemaliges historisches Arbeiter*innenviertel (vgl. Wallinger 2017) eben diesen Charme, aber auch den dörflichen Charakter bewahrt zu haben. Das Dörfliche bzw. Ländliche manifestiert sich gegenwärtig durch die Existenz vereinzelter Bauernhöfe, einiger weniger Äcker, kleiner Kuhweiden und dem (kuriosen) Angebot eines 24-Stunden-Frischmilch-Automaten. Diese liegen neben einer gut befahrenen Hauptstraße und reihen sich an Mehrfamilienhäuser, Wohngemeinschaften von Studierenden und größeren Wohnanlagen. Ein weiteres Kennzeichen des Stadtteils ist seine fußläufige Nähe zur Innenstadt, zu einer großen – medial negativ inszenierten – Parkanlage, aber auch zum Hauptbahnhof. Verkehrstechnisch gut angebunden an die restliche Stadt, und doch etwas abseits und gemütlicher gelegen, ist er aktuell ein durchaus beliebter Wohnort für Menschen aus unterschiedlichen sozialen und geografischen Kontexten, für Studierende, Familien, Senior*innen und Einzelpersonen. Gerade im Hinblick auf die Geschichte der Pionier*innen spielen die ehemalige Textilfabrik »Herrburger & Rhomberg« (vgl. Hetfleisch 2017b, S. 123), an deren Stelle sich mittlerweile ein Einkaufszentrum befindet, aber auch die sogenannte Gaswerkstraße eine zentrale Rolle. Neben dem ehemaligen Areal der Textilfabrik gab es im Zeitraum der Arbeitsmigration Gemeinschaftswohnungen bzw. -zimmer, in denen Arbeiter*innen der Fabriken untergebracht waren. Dort befindet sich nun eine moderne, kostspielige Wohnanlage. Auf die prekären Wohn- und Lebensverhältnisse der dort vor wenigen Jahrzehnten lebenden Pionier*innen verweist kein Schild – aber Zeitzeug*innen erzählen davon. In der nahegelegenen Gaswerkstraße mit der Hausnummer 21 steht das letzte bis heute noch nicht renovierte Wohnhaus der Achse. Das Besondere ist zum einen der Originalzustand des Gebäudes und zum anderen die Tatsache, dass dort über einen längeren Zeitraum das »Ledigenheim« beherbergt wurde. Dort wohnten Frauen, die in der Textilfabrik körperlich und mental anstrengende Schichtarbeit leisteten. Ihnen war es nicht erlaubt, wäh-

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Das wissenschaftliche Team bestand aus den Mitarbeiter*innen Miriam Hill, Anita Rotter, Lisa Ferron unter der Leitung von Erol Yıldız und Marc Hill. Die Autorin der Dissertation befasst sich in diesem Kapitel 2 mit Inhalten und Erfahrungen aus dem Projekt, in dem sie selbst mitgewirkt hat. NMS ist die Abkürzung für Neue Mittelschule.

2. Gesichter der Migration

rend ihrer Anstellung, mit dem*der Partner*in zusammenzuleben. Auch dann nicht, wenn sie offiziell verheiratet waren. Die Querstraße neben der Gaswerkstraße führt hin zu einer Volksschule, in der die Kinder der Pionier*innen unterrichtet wurden. Aktuell, aber auch historisch, ist Pradl ein Stadtteil, der immer wieder vielfältigen Dynamiken und Umgestaltungen unterworfen ist. Das zeigt sich unter anderem darin, dass sich auch das ehemalige Arbeiter*innenviertel wandelte und sich das Klientel der Wohnenden, das vor allem aus Arbeiter*innen mit und ohne familiale Migrationserfahrungen bestand, erweitert und vergrößert hat. Die Schüler*innenschaft, die die Neue Mittelschule in Pradl besucht7 , kommt aus den unterschiedlichsten Stadtgebieten Innsbrucks. Die Wohnortnähe ist also nicht primär oder allein entscheidend für die Schulwahl. Für den Besuch der Grundschule besteht in Tirol die stadtteilabhängige Residenzpflicht. Das heißt, der eingetragene Wohnsitz des Kindes bzw. des*der Erziehungsberechtigten ist ausschlaggebend dafür, welche Institution während der elementaren Schulbildung auch tatsächlich besucht werden darf. Die Residenzpflicht ist für weiterführende Schulen, also auch den Besuch der Neuen Mittelschulen aufgehoben. Das Konzept der Neuen Mittelschulen ist relativ neu. 2012 gegründet, sieht es vor, »die SchülerInnen je nach Interesse, Neigung, Begabung und Fähigkeit für den Übertritt in weiterführende mittlere und höhere Schulen zu befähigen sowie auf das Berufsleben vorzubereiten« (Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2019, o. S.). Das Programm der Neuen Mittelschule löst jenes der in Verruf geratenen und antiquiert geltenden Hauptschule ab und versucht, neue Konzeptionen und Ideen zu transportieren und in den Schulalltag einfließen zu lassen, wenngleich Kritiker*innen attestieren, eine Umbenennung würde das tatsächliche Schulkonzept bzw. die Grundprogrammatik sowie Struktur nicht verändern, sondern nur für eine definitorische Verschiebung sorgen. Neue Mittelschulen bieten die Chance, spezifische Bildungs-, Leistungs- und Berufsschwerpunkte, also neue Akzente, wie etwa einem Sport- oder Musik-Schwerpunkt, zu setzen, unterliegen aber dennoch im öffentlichen Diskurs dem Vorurteil, die »eigentlichen Gesamtschulen/Hauptschulen« zu sein. Der Besuch eines Gymnasiums ist dieser Logik zufolge, weitaus prestigeträchtiger, aber häufig auch elitärer. Mögliche Gründe, weshalb Schüler*innen eine Neue Mittelschule anstelle eines Gymnasiums besuchen, resultieren nicht nur aus einem spezifischen Notendurchschnitt, der erreicht werden muss, sondern hat auch mit folgenden Aspekten zu tun: maßlose Überfüllung der Gymnasien, hoher Leistungsdruck und Erwartungshaltung, habituelles (Familien-)Wissen, familiäre Gepflogenheiten und Praktiken oder fehlende Unterstützungsmaßnahmen, z.B. in Form von Nachhilfeunterricht. Nicht jedes Kind, das formal und obligatorisch geeignet für den Besuch eines Gymnasiums wäre, hat auch die Chance und Unterstützung dazu. Während Gymnasien unter anderem aufgrund der eben genannten Gründe Orte sind, an denen vorwiegend Jugendliche aus bildungsnahen Familien und Milieus unterrichtet werden, sind die Bildungs- und Familienbiografien der Besucher*innen der Neuen Mittelschulen in der Regel heterogener. Die zweite Partnerschule des Projektes, die NMS Vorderes Stubai, verortet sich in Fulpmes im Stubaital. Die Marktgemeinde Fulpmes hat rund 5 000 Einwohner*innen. 7

In Pradl gibt es aktuell zwei sogenannte Neue Mittelschulen.

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Postmigrantische Generation

Die Schüler*innen, die die dortigen Klassen besuchen, wohnen vor Ort und in den umliegenden Gemeinden. Der Besuch einer Schule, die sich nur unweit von Zuhause befindet, bietet sich wegen der ansonsten weiteren Wege gerade am Land an. Fulpmes ist, ähnlich wie Pradl, durch vielfältige biografische Geschichten geprägt. In der Ortschaft wurden in den vergangenen Jahrhunderten Eisen gewonnen. Die Gewinnung von Eisen ließ das Stubaital prosperieren (vgl. Meyer 2020, S. 279). Die wirtschaftliche Hochkonjunktur der 1960er und der nachfolgenden Jahrzehnte wirkte sich auch auf Fulpmes aus, sodass in diesem Zeitraum Pionier*innen hinzuzogen und vorwiegend in der Metallverarbeitung, der Industrie oder der Gastronomie arbeiteten. Da das Leben Geschichten umschreibt und aus Geschichten des Kommens unter anderem Geschichten des Bleibens macht, verwundert die Tatsache nicht, dass viele Kinder und Jugendliche, die aktuell in Fulpmes und der nahen Umgebung aufwachsen, eine familiale Mobilitätsgeschichte aufweisen. Speziell zwischen Uşak, eine Provinzhauptstadt und zugleich Provinz in der ägäischen Region, und dem Stubaital gibt es zahlreiche grenzüberschreitende Verflechtungen und biografische Verknüpfungspunkte. Auch im Projekt wirkten einige Jugendliche mit, für die die familialen Verbindungen zu Uşak zum Alltag gehören. So berichten während des Projektes mehrere Jugendliche davon, dass ihre Großeltern im Zuge der Arbeitsmigration aus Uşak nach Tirol kamen und dort etwa in der Werkzeugindustrie Küchenmesser und Werkzeuge herstellten, die weltweit bekannt sind und global exportiert werden. Vor Ort wurden Familien gegründet oder Frau und Kinder, die laut vieler Berichte noch in der Türkei geblieben waren, wurden nachgeholt. Heute besuchen die Enkelkinder der dritten und vierten Generation ihre Verwandten, die remigriert oder seit jeher in der Türkei wohnhaft sind, in den Ferien. Eine Clique von vier Jungen freut sich darüber, sich während des Schuljahres in Fulpmes zu verabreden und sich in den Sommerferien in einem kleinen Dorf in Uşak wiederzutreffen. Ihre Familienangehörigen in der Türkei sind nämlich Nachbar*innen. Die Direktor*innen der beiden Schulen zeigten sich erfreut darüber, mit einer Klasse der zweiten und vier Klassen der dritten Schulstufe am Projekt teilnehmen zu können. Die Intention einer Teilnahme am Projekt resultierte aus Sicht der Schulen daraus, dass die Standorte der jeweiligen Schulen stark durch Migration geprägt und in einem Fall als »Brennpunktschule« und in anderem Fall als »stark migrantisch«8 beschrieben wurden. Diese beiden Bezeichnungen sind höchst defizitär ausgerichtet und offenbaren einen Mangel an seriösen Erklärungen, die belegen, dass spezifische Konfliktsituationen und auch Missverständnisse in den Schulen eben nicht in Relation zu den Herkunfts- und Migrationsgeschichten der Jugendlichen stehen, sondern meist strukturellen Ursachen und institutionellen Beschränkungen zugrunde liegen. Konkret bedeutet das, dass ein*e Jugendliche*r, der*die während des Unterrichtes abwesend wirkt oder durch lautes Stören auffällt, sich möglicherweise in einem Raum voller Menschen und verschiedenster Ablenkungen einfach schlecht konzentrieren kann. Leider tendieren mitunter Lehrpersonen oder Direktor*innen häufig dazu, die Gründe für solches und ähnliches Verhalten während der Schulstunden mit der familialen Migrationsgeschichte in Verbindung zu bringen. Özlem Topçu, Alice Bota und Khuê Pham, Politikredakteurinnen bei der ZEIT, sprechen diesen Umstand in ihrem Buch »Wir neuen Deutschen. Wer wir sind, was wir 8

Die Benennung der Schule/n als solche erfolgte durch die damaligen Direktor*innen.

2. Gesichter der Migration

wollen« aus dem Jahr 2014 an. Als (bildungs-)erfolgreiche Frauen werden sie seltener als solche adressiert, sondern aufgrund der familialen Einwanderungsgeschichte vorschnell entweder als Expertinnen einer vermeintlichen Herkunftskultur oder als Spezialistinnen für »Integration« und integrationsnahe Themen wahrgenommen. (Vgl. Topçu et al. 2014; Aydemir/Yaghoobifarah 2019) Wir sahen, wie sich selbst Integrationsskeptiker durch Bildungs- und Arbeitserfolge beruhigen ließen, wie die Wirtschaftsliberalen berechneten, dass Einwanderer den Fachkräftemangel mildern könnten, und wie unsere Eltern durch ihre Leistung weniger angreifbar wurden. Manchmal sperrten wir uns gegen diese Art des Denkens, die den Wert des Menschen kalt beziffert und Migranten in gute und schlechte Ausländer aufteilt. Aber in Wahrheit hatten wir die Lektion längst gelernt: Erfolg macht unsere Herkunft wett. (Topçu et al. 2014, S. 119) Eine Verschiebung der Perspektiven seitens der Lehrer*innen und Direktor*innen zu erwirken, war nicht paradigmatisch für das Projekt, jedoch durchaus erwünscht. Nachstehend wird punktuell Einblick in grundlegende Einheiten sowie Meilensteine des Projektunterrichts bzw. des Projektes gegeben. Im Anschluss daran werden wesentliche Erkenntnisse und Forschungsergebnisse seitens der Schüler*innen und der Wissenschaftler*innen erläutert.

2.1 Diskurse über Migration und Familie im Schulkontext Im Schulalltag finden in der Regel die familialen Migrationsgeschichten der Schüler*innen wenig Platz, und wenn doch, dann nur in der Begründung des Schulerfolges bzw. Schulmisserfolges. Erfolge bzw. Misserfolge in der Schule basieren häufig auf klassistischen Argumentationen (vgl. Kemper/Weinbach 2009; Kemper/Kuleßa 2020) oder herkunftsspezifischen Argumentationen. Tatsächliche Gründe, wie etwa das potenzielle Versagen der Bildungsinstitution beim Vermitteln von Wissen, die Auswirkung struktureller Barrieren auf die Bildungsbiografien oder eine fehlende Vertrauensbeziehung zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen werden dabei überwiegend ausgeklammert. Auch Statistiken und quantitative Eckdaten, die Aussagen über das Geschlecht des* der Schüler*in, den Geburtsort oder die Erstsprache erfassen, tragen ihren Teil dazu bei, weshalb Familien als bildungsfördernd – oder eben nicht – generiert werden. Auch das Zusammen- bzw. Wechselspiel zwischen den einzelnen Familien und Schulen variiert je nach Kontext, nach Schulformat. Die nicht immer vorurteilsfreie und problemlose Mitwirkung und Zusammenarbeit von Familie und der Institution Schule beschränkt sich häufig auf wenige Elternsprechtage im Jahr.

2.1.1 Einheiten und Meilensteine im Sparkling-und-Citizen-Science-Projekt Heterogene Lebensgeschichten sind im realen Schulalltag in vielfältigen Formen vorzufinden, werden dort jedoch vor allem auf Artikulationen und Intonation über Herkunft und (Ein-)Heimischkeit reduziert. Dabei ist es essenziell, sich im schulischen Kontext, die Biografien der Schüler*innen und ihrer Familien näher anzuschauen. So kann auffal-

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Postmigrantische Generation

len, dass sowohl die Lebensgeschichten der einheimischen als auch die der mehrheimischen Jugendlichen weitaus komplexer und unvorhersehbarer sind als zuvor angenommen. Die Komplexität und Inhomogenität der einzelnen subjektbezogenen und familialen Biografien aufzudecken, lernten die Schüler*innen peu à peu im Projekt. Dazu war es zunächst notwendig, bei Grundsätzlichem anzufangen und die Frage zu klären, was denn Migration als Schlagwort und vielschichtiges Phänomen überhaupt bedeute. Die Frage »Was bedeutet Migration?« stellten die Projektmitarbeiterinnen in der ersten Unterrichtseinheit den Schüler*innen der einzelnen fünf Klassen. Die Antworten und Reaktionen auf die banal klingende Frage waren sehr unterschiedlich: Einige Schüler*innen hatten den Begriff bereits gehört, anderen wiederum war er zwar geläufig, sie konnten ihn aber nicht näher bestimmen, einigen war er gänzlich unbekannt. Einzelne Schüler*innen versuchten, ihn zu erläutern. Dabei fiel auf, dass die Erklärungen dreigeteilt waren: Antwort A war eher neutral formuliert und versuchte neben einer Definition noch eine basale Erklärung zu finden, weswegen Menschen migrieren: »Migration bedeutet, wenn Menschen hierherkommen, weil es ihnen vorher nicht gut ging. Weil z.B. Krieg war.«9 Antwort B zeigte, dass gegenwärtige (Negativ-)Diskurse und Argumentationslinien (auch) die Ansichten der Jugendlichen beeinflussen: »Migration ist nicht unbedingt gut!« Antwort C war durch biografische Erfahrungen determiniert: »Migration ist ein Schimpfwort, wie Ausländer! Das sagen sie zu mir auch immer!« Diese drei Antworten bzw. Kommentare stehen stellvertretend für weitere sehr ähnliche Aussagen von den Schüler*innen zu Beginn des Projektes. Diese zeigen gleich mehreres auf: Erstens wird Migration (Antwort A) mit problematischen Erfahrungen im Herkunftsort in Verbindung gebracht (»Migration bedeutet, wenn Menschen hierher kommen, weil es ihnen vorher nicht gut ging.«) und direkt als scheinbar logische Konsequenz mit Kriegund Fluchterfahrung verknüpft (»Weil z.B. Krieg war.«). Antwort A präzisiert ein spezifisches Vorwissen der Schüler*innen und ihre Fähigkeit, erste Deutungen und Argumentationen vorzunehmen. Der Satz verrät auch, dass Migration von den Jugendlichen fast ausschließlich mit Flucht, vielfach auch mit kollektiver Flucht, assoziiert wird10 und damit andere personenspezifische Migrationsgründe argumentativ ausgeschlossen werden. Antwort B wiederum (»Migration ist nicht unbedingt gut!«) basiert auf einer vorgefertigten (Alltags-)Meinung und ist stark vorurteilsbeladen. Es veranschaulicht zudem, dass junge Menschen immer auch Rezipient*innen öffentlicher und privater Diskurse sind. Sie erfahren, hören, lesen und verarbeiten in Folge Gehörtes, Gelesenes und Gesagtes. In verschiedensten Kontexten, z.B. im Familiären, im Schulischen, in Freizeitvereinen sowie in der Peergroup, kriegen sie quasi nebenher spezifische Informationen mitgeteilt und erfahren überdies direkt, was scheinbar in der Welt passiert. Sie nehmen aber Diskurse nicht nur auf und werden zu Teilnehmer*innen, sondern vielmehr zu Akteur*innen innerhalb der Diskurse. Folglich nehmen sie Diskurse nicht nur auf, sondern

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Die folgenden wörtlichen Aussagen stammen allesamt aus meinen persönlichen Erinnerungsprotokollen, die ich nach den einzelnen Projekteinheiten angefertigt habe. Zu diesem Zeitpunkt des Projektes wurde medial verstärkt auf Fluchtphänomene, häufig in einer bildhaften, stereotypen und wenig reflektierten Sprache Bezug genommen. Den Jugendlichen werden als Rezipient*innen von Medien diese Diskurse vermittelt.

2. Gesichter der Migration

reagieren darauf, indem sie sie gegebenenfalls variieren, erweitern oder verändern. Ähnlich wie bei Erwachsenen reproduzieren die Jugendlichen mitunter auch das Gehörte. Gerade Themen wie Migration werden in öffentlichen Diskursen mit verdichteten Emotionen beladen und auf einfache »Fakten«, die selten solche sind, reduziert. »Migration ist nicht unbedingt gut!« – als eine Antwort auf die Frage, was Migration bedeute, erklärt also, dass junge Menschen durch die Meinung Erwachsener beeinflusst werden können, jedoch nicht zwangsläufig müssen. Jugendliche, die selbst migriert sind oder Menschen mit Migrationserfahrungen kennen, stehen dem Phänomen in der Regel offener und reflektierter gegenüber. Antwort C (»Migration ist ein Schimpfwort, wie Ausländer! Das sagen sie zu mir auch immer!«) ist drittens Ausdruck lebensgeschichtlich erlebter Diskriminierungserfahrungen (»Das sagen sie zu mir auch immer!«). Des Weiteren deutet sie auf eine Verschiebung des Wortes Migration als ein ehemals neutraler Begriff zu einer bildhaften, einseitig gezeichneten Vorstellung über eine behauptete gemeinsame Gruppe, nämlich »die Migrant*innen« hin. Dazu Regina Römhild (2014): Wir wissen, dass es einen großen Unterschied macht, ob jemand aus Pakistan oder aus den USA, aus der Türkei oder aus Frankreich nach Deutschland, nach Europa kommt – und dieser Unterschied gilt selbst dann noch, wenn alle mit sozial ähnlichem Hintergrund unterwegs sind, also etwa als Studierende, als prekäre Künstler*innen oder etablierte Banker*innen. Während die Mobilität der einen als Migration kontrolliert und reguliert wird, gilt die Mobilität der anderen als Ausweis flexiblen Selbstunternehmertums, das als kosmopolitisches Kapital in ganz Europa angerufen und gefördert wird. Während Menschen und Familien mit pakistanischer oder türkischer Herkunft, gleich welcher sozialen Schicht, unter den Generalverdacht mangelnder Integration gestellt werden, käme kaum jemand auf die Idee, den französischen Unternehmensberater oder die Studentin aus Kalifornien zu einem Integrationskurs zu verpflichten, ihnen mehr lokale Bindungen abzuverlangen und ihr fehlerhaftes Deutsch als Problem anzusehen. (S. 43) Migration bedeutet etymologisch betrachtet Bewegung. Dass daraus eine negative Konnotation abgeleitet und Migration in Folge als Schimpfwort (»Migration ist ein Schimpfwort, wie Ausländer!«) gelesen wird, veranschaulicht die enge Verschränkung mit dem eben erwähnten Diskurs. Der derzeitige defizitäre Diskurs über Migration wirkt nämlich entscheidend in die Sprache und somit auch in die Praxis hinein. Folglich prägt der Diskurs die Praxis und die Praxis prägt den Diskurs.11 Ditto Wahlplakate, auf denen Migration bzw. Migrant*innen meist als Bedrohung inszeniert werden, tragen dazu bei, dass die Alltagssprache ihr Übriges zu einer Etablierung der verrohenden Ausdrucksweise beiträgt. »Ausländer« (»Migration ist ein Schimpfwort, wie Ausländer!«) war ursprünglich ein rechtlicher Begriff, der zur staatsrechtlichen Einordnung konzipiert wurde und heutzutage als nicht mehr zeitgemäß oder politisch korrekt gilt. Die analoge Verwendung von Migrant*in und Ausländer*in ist gefährlich bzw. sollte aufgrund der differenten Bedeutung und Verwischung der Begrifflichkeiten kritisch betrachtet werden.

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Im Laufe des Projektes sollten einige der Schüler*innen noch häufiger und detaillierter auf selbst erlebte Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen zu sprechen kommen.

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Die erste Projekteinheit diente primär dazu, sich gegenseitig kennenzulernen. Des Weiteren hörten die Jugendlichen nähere Details zum Projekt, zur Projektidee und zu ihren Aufgaben, nämlich dem Erforschen der eigenen familialen Migrationsgeschichte. Es fand im gesamten Zeitraum kein gewöhnlicher Schulunterricht statt, sondern vielmehr wurde ein Format umgesetzt, das diverse, abwechslungsreiche Möglichkeiten zum Forschen, Diskutieren, Erklären und Reflektieren bot und flexiblere Abläufe als im sonstigen Schulalltag gewährleisten konnte. Flexibler deswegen, weil sich die Projektmitarbeiterinnen, im Gegensatz zu den Lehrer*innen, nicht an strengen Curricula orientieren mussten, sondern eigene Schwerpunkte setzen, aber auch genügend Freiräume für spontane und situative Diskussionen, Fragen und teilweise auch Irritationen (»Meine Familie lebt schon seit immer hier. Wir haben nichts mit Migration zu tun!«) lassen konnten. Bevor sich die Schüler*innen der Erforschung ihrer familialen Migrationsgeschichten widmen konnten, lernten sie exemplarisch empirische Migrations- und Familiengeschichten kennen. Sie erkannten ferner, wie vielfältig Familie sein kann und, dass es sie nicht nur innerhalb einer (veralteten) Vater-Mutter-Kind-Konstellation gibt. Dank einer stetig anwachsenden Vertrauensbasis und Intensität der Beziehung zwischen Wissenschaftler*innen und Schüler*innen stieg im Allgemeinen die Bereitschaft der Jugendlichen, eigene biografische Erfahrungen mit in die Gespräche und Diskussionsrunden einzubringen. Dabei galt die Prämisse der Freiwilligkeit, d.h., jede*r konnte und durfte über Persönliches und/oder Privates sprechen, musste es aber selbstredend nicht. Der Projektunterricht wurde als geschützter Raum verstanden, wenngleich das Projekt auch eine sensible Öffentlichkeitsarbeit und damit auch den Blick hinein ins Projekt gewähren wollte. Empfindliche Informationen vonseiten der Jugendlichen bzw. ihren Familien wurden geschützt und sorgfältig behandelt. Bezüglich Familie wurden von den Mittelschüler*innen unter anderem sehr lustige Episoden, wie alltägliche Routinen geteilt – z.B. das ritualisierte, tagtägliche Skypen mit der Großmutter. Es wurde über Banales gesprochen, wie z.B. die häufige Diskussion, wer den Abwasch erledigen solle. Daneben gewährten einige der Jugendlichen auch Einblick in traurige und sehr persönliche Erfahrungen: Ein Jugendlicher zeichnete nach, wie er und sein Vater beim Einkauf im Supermarkt von einem älteren Mann rassistisch angerufen wurden. Auch die Schilderung über Beleidigungen im Bus zeigen, wie stark präsent die Themen Rassismus und Diskriminierung für manche der Schüler*innen sind und wie involviert sie in rassistische Praxen des Alltages sind. Beeindruckend waren auch die Reaktionen der Jugendlichen auf solch negative Erfahrungen. So beriet eine gesamte Klasse, nachdem ein Schüler das Erlebnis eines rassistischen Vorfalls thematisiert hatte – eigeninitiiert und situativ –, wie diesem konkreten Vorfall sowie ähnlichen Erlebnissen zukünftig begegnet werden könnte. Es wurden erste Strategien angedeutet und konkretisiert. Eine mögliche Art des Umgangs sah vor, sich Hilfe von außenstehenden Erwachsenen zu holen. Eine weitere Vorgehensweise lautete, sich von gefährlichen Situationen und Menschen wegzubewegen und so der beklemmenden oder angsteinflößenden Lage zu entkommen. Diese Gesprächs- und Diskussionsrunden, die mal unter Anleitung der Erwachsenen, mal spontan und ungeplant durchgeführt worden sind, machten sichtbar, dass die Mitschüler*innen größtenteils starkes Interesse an den Erfahrungen der Schüler*innen hatten. Gerade ein respektvoller, akzeptierender Umgang

2. Gesichter der Migration

zwischen den Jugendlichen sowie ihre Solidarisierung untereinander können das Klassenklima entscheidend befördern und die Gruppendynamik positiv verändern. In den Gruppendiskussionen, in den Gesprächen im Plenum und in den Unterhaltungen innerhalb der Kleingruppen ging es nicht nur um Familie bzw. Migration. Jugendspezifische Themen, die aktuell in einigen der Lebens- und Erfahrungswelten der jungen Erwachsenen verhandelt und diskutiert wurden, flossen aus den variierenden Erzählperspektiven mit in die Gesprächs- und Diskussionsrunden ein – diese Themen waren Liebe, Neid, Musikkultur, Freizeitverhalten, Mode, Langeweile, Leistungsdruck, Sorgen, Träume und Überlegungen hinsichtlich der Zukunft, aber auch Konflikte und Meinungsverschiedenheiten. In Projekten mit Jugendlichen ist es unabdingbar, an ihren je eigenen Erzählungen und Lebenswelten anzuknüpfen und sie somit besser zu erreichen sowie miteinbeziehen zu können. Dies gelang mehrfach, exemplarisch indem eine Korrelation zwischen Mobilität und Migration anhand von Visualisierungen hergestellt werden konnte. Zu Beginn wurde Mobilität an sich von vereinzelten Jungforscher*innen noch mit der virtuellen Vernetzung und der Erreichbarkeit via Mobiltelefon assoziiert. Dabei fiel unter anderem der bezeichnende Satz: »Mobilität bedeutet, mit dem Smartphone immer erreichbar zu sein.« Eine Projektmitarbeiterin erklärte den Jugendlichen daraufhin, dass Mobilität zwar auch die angesprochene Vernetzung und Erreichbarkeit umfassen kann, im Projekt jedoch Mobilität primär im Sinne von Bewegung, Fortbewegung, Wanderung, Migration gemeint sei. Jede*r von ihnen wäre täglich mobil, hieß es: Einige von ihnen gehen zu Fuß zur Schule, andere fahren mit dem Bus – mit bzw. ohne Umsteigen – dahin, wiederum andere werden von einem Erwachsenen hingebracht. Auch in der Freizeit sind sie in Bewegung, sei es beim Sport, beim Einkauf, beim Besuch der besten Freundin vor Ort oder beim Familientreffen außerhalb. Die Jugendlichen visualisierten ihre alltägliche Mobilität, indem sie erst allein und dann in Kleingruppenarbeit den Schulweg, den sie zumeist in- und auswendig kannten, zeichneten, malten oder als Collage entwarfen. Ziel dieser Übung war es, zu veranschaulichen, dass Bewegung einerseits etwas Alltägliches ist, also im Kleinen, Banalen zugegen ist, und andererseits im Großen, Ortsübergreifenden, Transnationalen und Globalen existiert. Jede*r nutzt Mobilität und sie betrifft alle, ergo ist auch Migration Teil (beinahe) jeder Biografie. Nun ging es darum, zu untersuchen, ob dem tatsächlich so ist bzw. inwieweit die Schüler*innen Verbindungen zu Mobilität-Migration in der eigenen und oder familialen Biografie feststellen konnten. Es wurden verschiedene Methoden, Settings und Ideen angewandt. Zum einen sollten die Jugendlichen einen Gegenstand von Zuhause mitbringen, der die eigenen familialen Erfahrungen mit Migration repräsentiert, einen »Gegenstand der Migration«. Unter den Objekten befanden sich z.B. Fotos von der Oma und ihren Geschwistern beim Rodeln oder Aufnahmen von den Eltern bei ihrer Hochzeit. Auch religiöse Symbole, wie eine muslimische Gebetskette, eine serbisch-orthodoxe Taufkette oder ein christliches Holzkreuz waren dabei. Die Jugendlichen brachten des Weiteren Stofftiere, alte Bücher aus Kindertagen des Vaters, ein Strandtuch aus dem Urlaub, einen Porzellanteller von der Urgroßmutter oder die gesammelten Postkarten der in Chicago lebenden Verwandten mit. Ungewöhnlicher war das Mitbringsel eines Jungen, das er auf dem Dachboden des familiären Mehrgenerationenhauses gefunden hatte. Im Inneren des alten, abgegriffenen Gebetsbuches, dessen Umschlag reich mit Intarsien verziert war, befan-

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Postmigrantische Generation

den sich zahlreiche Bilder von Verstorbenen. Diese Bilder, auf denen üblicherweise neben dem Foto der Person auch das Geburtsdatum, der Sterbetag und ein Zitat zu finden sind, werden auch heute noch in den dörflichen Teilen Tirols bei Beerdigungen verteilt. Die Idee dahinter ist, an die Verstorbenen zu erinnern, von ihnen zu erzählen und sie im Gedächtnis zu behalten. Der Junge erzählte, dass seine Großmutter diese »Sterbebilder«, wie sie gemeinhin genannt werden, gesammelt hatte. Mittlerweile könne sie sich – er habe nachgefragt – nicht mehr so genau an diese Sammelleidenschaft erinnern, zu einigen der Verstorbenen wüsste sie aber spannende Anekdoten zu erzählen. Das Objekt des Jungen hinterließ bei einigen Mitschüler*innen verschiedene Reaktionen, stieß sowohl auf Unverständnis, Skepsis, Gleichgültigkeit, Desinteresse, aber auch auf Interesse. Die Gleichgültigkeit und das fehlende Interesse am Gegenstand verwundert nur bedingt, denn ein Großteil der Schüler*innenschaft wusste über dieses Ritual, vermittelt durch die Narrationen älterer Familienmitglieder, Bescheid. Doch es war auch zu hören, dass diese Sammlung als komisch oder morbide empfunden wurde. In Zeiten, in denen häufig nicht mehr im Kollektiv getrauert wird, ist eine Entfremdung von Riten, die mit Trauerbewältigung einhergehen, nicht ungewöhnlich.12 Einzelne Jugendliche wurden bereits mit dem Tod naher Familienmitglieder konfrontiert, andere haben auch Erfahrungen mit dem Ableben geliebter oder bekannter Menschen gemacht. Für sie bedeutet Trauern, ob individuell oder gemeinsam, etwas anderes als für diejenigen, die diese Erfahrung noch nicht machen mussten. Eine Schülerin z.B. hat einen Stein in Herzform mitgebracht, den ihr ihr mittlerweile verstorbener Vater geschenkt hatte. Das Geschenk verkörpert für sie – ähnlich wie die Sterbebilder für die Großmutter des Jungen – ein Objekt der Erinnerung an einen wichtigen Bezugsmenschen. Weitere »Gegenstände der Migration«, die die Jugendlichen mitbrachten, waren ein Nudelholz, das die Schülerin an das lustige Keksebacken mit ihrer Oma denken lässt, oder eine alte slowakische Münze, die dem Schüler die ersten Jahre seiner Kindheit in der Nähe von Bratislava in Erinnerung bringen. Auch ein Apfel wurde symbolisch mit der familialen Migrationsgeschichte kombiniert. Dieser soll die intergenerationelle Verbindung einer Schülerin mit ihren Vorfahr*innen in Südtirol markieren. Da unter anderem Äpfel in Teilen Norditaliens kultiviert werden, diente er ihr als kreatives Darstellungsmoment und Bindeglied der familiären Mobilitätsgeschichte – ein Apfel mit Migrationserfahrung gewissermaßen. Die Erfahrungen der Jugendlichen mit Migration sind sehr divers. Ein Blick auf die einzelnen Gegenstände der Jugendlichen illustriert jedoch, dass sie, verkörpert durch das jeweilige »Migrationsobjekt«, allesamt Bezüge zur Familienund oder Migrationsgeschichte herleiten können. Dabei ist wichtig, zu betonen, dass die Erfahrungen hinsichtlich Migration und Familie die eigene Lebens- und die Familiengeschichte prägen und somit – trotz Überschneidungen und eventueller Gemeinsamkeiten – nicht vorschnell vereinheitlicht oder bestimmte Phänomene nicht per se als »migrationsspezifisch« deklariert werden dürfen. Migration ist also ein in jedem Fall komplexes Handlungsphänomen und ein vielschichtiger Prozess, der biografische Wirkmächtigkeit hat, jedoch in verschiedenen Facetten, Nuancen imaginiert wird sowie in heterogenen Erfahrungsräumen stattfindet. 12

In der Fallrekonstruktion von Enes werden transnationale Sterbe-, Beerdigungs- und Trauerrituale thematisiert (siehe Kap. 4.5).

2. Gesichter der Migration

Die Gründe, weshalb Menschen migrieren (müssen), sind biografisch verankert und häufig multifaktoriell geprägt bzw. variieren je nach Kontext. Auch die Hürden, die den Ankommenden von verschiedenen Seiten gestellt werden, divergieren. Ein Mensch, der temporär im Ausland studiert oder in der Hauptstadt ein Praktikum absolviert, macht andere Erfahrungen als Menschen, die ihre Existenz und die ihrer Familien bedroht sehen und sich deshalb über nationale, soziale und oder Gesellschaftsgrenzen hinwegbewegen. Die konkreten Migrations- und Fluchterfahrungen variieren, ergänzen oder widersprechen sich also, aber eines ist ihnen gleich: letztlich sind sie alle Glücksuchende […]: »We are all migrants!« (Rotter 2019a, o. S.) »We are all migrants!«, lässt sich in einem prominenten Bild des Künstlers, Grafikdesigners und Illustrators Piotr Depta-Kleśta, das die (gezeichneten) Umrisse eines Hybriden aus Mensch und Flugzeug zeigt, lesen. Der fliegende Mensch trägt einen Propeller auf der Nase und hat vertikal gestreckte Arme, die zu Flügeln eines Flugzeuges geformt sind und auf denen der Schriftzug »We are all migrants« zu lesen ist. Er erinnert – bildsprachlich und sinnbildlich gesprochen – (entfernt) an Karlsson vom Dach aus dem gleichnamigen Kinderbuch von Astrid Lindgren. Während »Karlsson« sich mit seinem Propeller auf dem Kopf zwischen den Häuserdächern des Vasaviertels in Stockholm hin- und herbewegt, fliegt Depta-Kleśtas Mensch vor einem blauen Hintergrund scheinbar einfach geradeaus. »Geradeaus zu fliegen«, interpretiere ich aber als eine besondere biografische Leistung. Besonders deshalb, da trotz diverser Einflussfaktoren der fliegende Mensch aktiver Gestalter(*in) der eigenen Vita ist und dies mittels erworbener Kompetenzen und Kenntnisse, die aus der Mobilitätserfahrung und dem Mobilitätswissen resultieren, in den Alltag übersetzen kann. Das Bild Depta-Kleśtas, das einer Kinderzeichnung ähnelt, transportiert eine starke Botschaft, die uns Einzelne als Kollektiv anspricht und uns des Weiteren zu einer großen gemeinsamen Wir-Gruppe macht, nämlich die der Migrant*innen. Indem alle gleichermaßen als Migrant*innen erkannt werden, wird die binäre Ordnung, die auf der Problematisierung der »anderen« Gruppe beruht und dadurch die Höherbewertung der eigenen Gruppe anstrebt, hinfällig. Die Einteilung in zwei behauptete Gruppen, das Denken in zwei Hegemonien, wird mit der Aussage, dass wir alle Migrant*innen seien, aufgebrochen. Wenn Menschsein also Migrant*insein bedeutet – und andersherum – werden verallgemeinernde Aussagen, die auf Vorurteilen, Stereotypen und Kategorisierungen basieren, gegenstandslos. Migration kann uns alle einen, sofern von Problematisierungen und Abstufungen hinsichtlich Migration Abstand genommen wird und Migrationserfahrungen als konstitutiv für die Gesellschaft akzeptiert werden: Migration formiert Gesellschaft. Wenn wir alle Migrant*innen seien, ist die Diversität und Unterschiedlichkeit der einzelnen Subjekte das Fundament, das eine Gesellschaft der Vielheit bildet und in Folge einen Normalitätsanspruch der verschiedenen Migrationsbewegungen-, erfahrungen und -biografien generiert. Ergo ist es normal, Bezüge zu Migration zu haben, egal ob eigene oder z.B. familiale. Das jeweils Spezifische und Besondere an den persönlichen Erfahrungen mit Migration lassen sich biografisch herausarbeiten. So haben fast alle Jugendlichen des Projektes Erfahrungen mit Migration, also Mobilität. Welche Rolle und Bedeutung transnationale Migration, Binnenmigration oder Mobilitätserfahrungen von Familienmitgliedern für die Schüler*innen des Projektes haben, möchte ich anhand exemplarischer (familia-

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Postmigrantische Generation

ler) Mobilitätsbiografien, die von den Schüler*innen selbstständig empirisch aufbereitet wurden, unterstreichen.

2.1.2 (Familiale) Migrationsbiografien der Jugendlichen Adam13 ist zu Beginn des Forschungsprojektes 12 Jahre alt. Er ist in der Slowakei geboren und aufgewachsen. Seine Eltern trennten sich früh, sodass er die meiste Zeit über allein mit seiner Mutter lebte. Die Mutter war als junge Frau aus ihrem Geburtsort in die Hauptstadt Bratislava gezogen, wo auch Adam zur Welt gekommen war. Die ersten Jahre seiner Kindheit lebte er dort, besuchte den Kindergarten und die erste Klasse der Volksschule. Seine Mutter Hana arbeitete währenddessen in verschiedenen Arbeitsstellen, unter anderem als Sekretärin bei der Polizei. Hana entschied sich schließlich gemeinsam mit ihrem Sohn Adam, aus der Slowakei wegzuziehen und woanders ein neues Leben zu beginnen. Dazu schriebt Adam in einem Aufsatz über sich: »Meine Mutter hat sich von meinem Vater scheiden lassen und dann sind wir nach Österreich umgezogen, weil meine Mutter in der Slowakei keine Arbeit finden konnte.«14 Heute wohnt der Jugendliche mit seiner Mutter und deren Partner in einem Dorf unweit von Innsbruck entfernt. Adam besucht die hiesige Neue Mittelschule. »In meiner Familie wird am häufigsten Slowakisch gesprochen. Ich kann sehr viele Sprache sprechen: Deutsch, Slowakisch, Tschechisch, Polnisch, Italienisch und Ungarisch«, schreibt er weiter. Im biografischen Interview, das er Zuhause mit seiner Mutter führte, erzählte die Mutter von ihren Erfahrungen in der Slowakei sowie in Österreich. Adam selbst ist nicht nur sprachenaffin, sondern auch künstlerisch sehr begabt. In seiner Freizeit zeichnet er kunstvolle Comics oder trifft sich mit Freund*innen. »Ich möchte einmal Grafiker oder Designer werden, da ich sehr gut zeichnen kann«, resümiert der Jugendliche. Ab und zu besuchen er und seine Mutter Familienangehörige in der Slowakei. Es werden also transnationale Familiennetzwerke aufrechterhalten und vor allem Kontakte zur Tante, der Schwester seiner Mutter, gepflegt. Selin ist zu Beginn des Sparkling-und-Citizen-Science-Projektes 12 Jahre alt. Sie ist im Stubaital geboren und aufgewachsen. Ihre Großeltern kamen im Zuge des bilateralen Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Österreich nach Tirol. Der Großvater arbeitete lange Zeit in einer Fabrik, die Werkzeuge und Küchenmesser herstellt. Als Rentner*innen zogen die Großeltern zurück in die Türkei. Selin, ihre Eltern und Geschwister besuchen sie regelmäßig in den Sommerferien, manchmal auch zu Weihnachten. Die Jugendliche genießt es, Zeit bei den Verwandten zu verbringen, schätzt aber auch das Dorf, in dem sie lebt, und die zahlreichen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, die sich 13

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Alle Namen hier sind pseudonymisiert. Im Sparkling-und-Citizen-Science-Projekt selbst werden die korrekten Vornamen, manchmal in Verbindung mit dem Alter, jedoch ohne zusätzliche Verweise genannt. Hier in der Dissertation wurde entschieden, bewusst auf die korrekten Namen zu verzichten und stattdessen Anonymisierungen und Pseudonymisierungen zum Schutze der Jugendlichen vorzunehmen. Dieses und die folgenden wörtlichen Zitate Adams befinden sich im Projektheft von Adam. Jede*r Schüler*in füllte im Laufe des Projektes das je eigene Heft mit Aufsätzen, Notizen, Übungen und Ähnlichem. Sämtliche Projekthefte sind unveröffentlicht und werden projektintern verwahrt. Lediglich Ausschnitte aus einigen Heften wurden im Rahmen des Projektes abgedruckt.

2. Gesichter der Migration

durch die Nähe zu den Bergen und den Skigebieten ergeben. In ihrer Freizeit außerhalb der Ferien schaut sie sich gemeinsam mit ihrer besten Freundin eine türkische Arztserie an, aus der auch ihr Wunsch resultiert, später Kinderärztin zu werden. In einer Gruppendiskussion erzählt Selin, dass sie in der Türkei als »Österreicherin« und in Österreich als »Türkin«15 bezeichnet werde und dass dieser Umstand Irritationen in ihr hervorrufen würde. Von Außenstehenden, aber teilweise auch von Bekannten, Lehrpersonen, Klassenkamerad*innen und Familienmitgliedern entweder als »Türkin« oder als »Österreicherin« genannt zu werden, kennen auch viele ihrer Klassenkolleg*innen aus eigenen Erfahrungen. Fernab dieser Kategorisierungen wird ersichtlich, dass im Alltäglichen nicht oder nur bedingt zwischen dem »Einheimischen« und »Fremden« unterschieden wird, sondern beide Sprachen, Erst- und Zweitsprache, aber auch die mehrheimischen Lebenswelten, Platz nebeneinander finden und die mehrheimische Biografie begründen. Auch Selins Beschreibungen signalisieren, dass sich der Freundeskreis aus Menschen mit verschiedenen Biografien, verschiedenen sozialen und geografischen Herkünften zusammensetzt. Selin erzählte, dass sie den Kontakt zu den Verwandten und Bekannten in der Türkei vor allem via Skype aufrechterhalten würde. Der 13-jährige Markus bezeichnet sich in einer Gruppendiskussion selbst als »Tiroler«. Er ist in Innsbruck geboren und in der Umgebung aufgewachsen. Seine Eltern und Großeltern wohnen in Tirol, weitere Verwandte leben in Kärnten. Markus stand dem Projektunterricht und dem Thema an sich zu Beginn eher skeptisch gegenüber. Auch die Erforschung der (möglichen) familialen Migrationsgeschichte fand er aufgrund seiner hiesigen Herkunft und »einheimischen« Verortung nicht besonders sinnvoll, sondern eher langweilig, wie er erklärte. Im Laufe der Treffen und insbesondere als die Jugendlichen damit begannen, biografische Interviews mit Familienmitgliedern zu führen, zeigte sich, dass seine sogenannte Goti16 , die seit seiner Geburt eine wichtige Bezugsperson für ihn ist, über eine spannende Migrationsgeschichte verfügt. Markus setzte sich fortan intensiv mit den Erzählungen seiner Taufpatin auseinander und schrieb mehre Aufsätze darüber. Im folgenden Bericht erzählt der Schüler von der Interviewsituation mit seiner Taufpatin und skizziert wesentliche Punkte aus ihrer Biografie: Zu meinem Interview habe ich meine Goti aus Moldawien interviewt. Sie hat mir über ihre Kindheit, ihre Schulzeit, ob sie schon umgezogen ist, wann das war und wohin, mit wem und warum erzählt. Aber auch über Hobbys und Familienangehörige. Meine Goti hat schon in Moldawien, Österreich und Nordirland gelebt. Sie hat Verbindungen zu Lettland, Italien, Russland und Moldawien. Ihre Mutter hat sie zu »Ausgrabungen« mitgenommen. Für Tanja war dieses Ereignis sehr spannend. Derzeit lebt sie mit meinem »Tetti« (Taufpaten) in Wattens. Geboren ist sie in [Ortsname] […]. Ich habe nicht gewusst, dass Tanja später in Irland gelebt hat. Spannend fand ich die Erzählungen ihrer Kindheit. Seit dem Interview kenne ich meine Goti besser und zudem hat das Interview uns beiden Spaß gemacht. (Markus, Auszug aus Projektheft)

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Zu finden im Projektheft von Selin. Goti bedeutet Taufpatin. Eine Taufpatin ist entweder mit dem Taufkind verwandt oder ein*e nahe*r Freund*in der Familie.

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Postmigrantische Generation

In einem weiteren Aufsatz beschäftigt sich Markus mit der Frage der Zugehörigkeit und analysiert, wie seine Goti, seiner Ansicht nach, ihre Zugehörigkeit(-en) beschließt und unterschiedliche Lebenswelten und Praktiken miteinander kombiniert: Im Interview mit meiner Goti habe ich festgestellt, dass die Zugehörigkeit zu einem Land schwer zu beantworten bzw. zu definieren ist. […] Und wenn man sie fragt, ist sie stolze Moldawierin. […] Jetzt gründet sie hier in Ö ihre eigene Familie. Wohin gehört sie bzw. wohin gehört ihre Familie? Die Frage ist nicht leicht bzw. gar nicht zu beantworten. Ich würde es so sagen: Heimat ist dort, wo die Menschen sind, die einem was bedeuten. Im Falle von Tanja: in Moldawien und in Ö. (Markus, Auszug aus Projektheft) Der erste Auszug aus Markus’ Projektheft konkretisiert, dass ihm das Gespräch mit seiner Taufpatin dabei geholfen hat, ihre Migrationsgeschichte nachzuvollziehen und das Wissen zu Migration sukzessive zu erweitern. Er kann nun Verbindungen zwischen Migration als ein abstraktes Phänomen und Migration als eine Erfahrung einer wichtigen Bezugsperson herstellen. Wenn das Eigene bzw. Bekannte mit Migration verknüpft wird, ist es einfacher, Migrationsbewegungen als Normalität zu konstatieren. Der zweite Ausschnitt aus Markus’ Aufsatz offenbart, dass gerade bei der Frage und Debatte um Zugehörigkeit Diskurse prägend sind, die suggerieren, sie ließe sich nur auf einen geografischen Punkt, einen einzigen Ort oder ein Land beschränken. Der Jugendliche bleibt aber nicht bei diesem Diskurs stehen, sondern schreibt, dass die Frage, wo man sich zugehörig fühle, erstens schwierig und zweitens nicht eindeutig sei. Schön ist der letzte Satz des Aufsatzes, »Ich würde es so sagen: Heimat ist dort, wo die Menschen sind, die einem was bedeuten. Im Falle von Tanja: in Moldawien und in Ö«17 , der als Plädoyer für die Uneindeutigkeiten und Überschneidungen der Lebenswelten sowie als Referenz für Mehrheimischkeit gelesen werden kann. An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Biografien der Jugendlichen und ihrer Familien allesamt durch Mobilität gekennzeichnet sind. Das wird unter anderem anhand der zahlreichen Erzählungen bezüglich Wohnungswechsel innerhalb der Stadt oder des Dorfes, Umzügen in der Region bzw. zwischen den Bundesländern oder zwischen zwei oder mehreren Nationalstaaten deutlich. Viele dieser biografischen Erzählungen finden im Binnenraum sowie innerhalb transnationaler Räume statt und markieren so soziale, politische, gesellschaftliche, milieuspezifische, rechtliche und kulturelle Übergänge (vgl. Apitzsch 2003, S. 67). Doch viele dieser (Familien-)Biografien verorten sich nicht nur in transnationalen Räumen, sondern die Familien gründen und pflegen bewusst transnationale Praktiken. Eine transnationale Praxis per excellence, die in den meisten Familien selbstverständlich erscheint, ist das Initiieren von Familiennetzwerken, die über nationalstaatliche Grenzen hinweg verlaufen und funktionieren. Diese Praktiken können sehr wirkungsmächtig sein, vor allem dann, wenn die beteiligten Akteur*innen gleichermaßen davon profitieren. In diesen Netzwerken werden nämlich Erfahrungswissen und Expertisen ausgetauscht, Kapitalsorten (vgl. Bourdieu 2005) werden akkumuliert, Geldüberweisungen als soziale und ökonomische Hilfestellungen werden getätigt (vgl. Rotter 2019c, S. 101ff.) und Handlungskompetenzen vermittelt. Gerade die Pionier*innen der 1960er bis 1970er Jahre leisteten wichtige Vermittlungstätigkeiten für künftige 17

Markus kürzt im Text Österreich mit der Initiale »Ö« ab.

2. Gesichter der Migration

Arbeiter*innen im Ankunftsort und boten informelle und kollegiale Unterstützungsangebote. Damit ließen sie indirekt die offiziellen staatlichen Anwerbebüros wissen, dass eine zwischenmenschliche, familiale oder freundschaftliche Vernetzung untereinander so manche staatliche Stelle ersetzen kann. Die Angehörigen der ersten Generation boten nicht nur den Familienmitgliedern und Bekannten aus dem Herkunftsort ihre Hilfe etwa bei der Arbeits- oder Wohnungssuche an, sondern bezogen sie auch in das freizeitliche und religiöse Leben vor Ort ein. Selbstverständlich finden auch zwischen den Generationen reichliche Vernetzungen unterschiedlicher Art statt. Ein weiteres Beispiel für transnationale Familienpraktiken ist der Hausbau bzw. der Wohnungskauf im Herkunftsort. Stefanie Bürkle, Architektin und Künstlerin, leitete das interdisziplinäre Forschungsprojekt »Migrating Spaces. Architektur und Identität im Kontext türkischer Remigration«, das zwischen 2012 und 2015 durchgeführt wurde (vgl. Bürkle 2015). Darin beschreibt sie, dass Migration nicht nur die Bewegung von Menschen im Raum bedeute, sondern dass mit den Menschen auch die Räume »mitwandern« bzw. »mitmigrieren« würden: Räume migrieren. (Vgl. Bürkle 2018a, S. 180ff.) Bürkle hat gemeinsam mit dem wissenschaftlichen sowie künstlerischen Forschungsteam türkische Immobilienbesitzer*innen, die zuvor als Pionier*innen in Deutschland gelebt hatten, in ihrer Wohnung oder in ihrem Haus in der Türkei besucht und sich näher mit der räumlichen Organisation und der symbolischen Repräsentation der Bauobjekte befasst. Sie hat sich zudem intensiv mit den Fragen beschäftigt, »ob und wie sich Raumvorstellungen aus der Türkei und aus Deutschland wechselseitig beeinflussen, sich Bild- und Raumvorstellungen ergänzen, überlagern oder widersprechen« (ebd., S. 179). Sie kommt zu dem Schluss, dass die Lebensräume der Migrant*innen eine Ausdehnung der Herkunftsgemeinden bilden und zusätzlich noch eine eigene Lebensweise formen würden (vgl. ebd., S. 182). Sieht man sich die genannten Gründe an, weswegen die Haus- oder Wohnungsbesitzer*innen im Herkunftsort bauen, wird deutlich, dass vor allem auch das Vorsorgen für die Familie und die Nachfolgegenerationen eine entscheidende Kaufmotivation ist. Zum einen gehe es darum, den »gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfolg als »Almancı« zu repräsentieren« (ebd., S. 191). Außerdem dienten die Immobilien auch als Erholungsort für die Rentner*innen. Auch der »Hausbau als Form von Selbsterfahrung« (ebd., S. 192) wird genannt. Besonders spannend ist aber, wie bereits erwähnt, die Idee, mehrere Generationen in einem Haus wohnen zu lassen. (Vgl. ebd.) Die Großeltern bau(t)en also für die Kinder, Enkelkinder und vielleicht auch die Großenkelkinder Häuser, die, so resümiert Bürkle, von den Jüngeren teilweise nur im Sommer oder in den Ferien bewohnt werden, da sich der Lebensmittelpunkt in Deutschland18 befindet. Von einer weiteren transnationalen Praktik erzählte im Sparkling-und-Citizen-Science-Projekt eine Schülerin aus Innsbruck. Sie gab an, dass ihr Bruder demnächst in München heiraten würde. Die bayrische Hauptstadt wurde als logistisch gut durchdachter Zielort gewählt, da dort einerseits Verwandte und Bekannte leben und andererseits die weiter entfernt wohnenden Familienmitglieder gut hinreisen könnten. Bereits die Vorbereitung auf die Hochzeit selbst ist mit Reisen und Mobilität verbunden. Nämlich 18

In Bürkles Projekt wurden Personen aus Deutschland mit Bezug zur Türkei befragt. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich die Ergebnisse der Untersuchung auch auf Familien mit türkischösterreichischen Bezügen übertragen lassen.

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Postmigrantische Generation

der Stoff für das Hochzeitskleid der Braut und die Materialien für die Kleider vor allem der weiblichen Gäste werden von den Frauen der Familie in İstanbul ausgesucht, nach Innsbruck gebracht, dort zu festlichen Kleidern vernäht und schließlich nach München transportiert. Die Familien der Schüler*innen verfügen über eine eigene Logik. Das heißt, jede Familie hat ein spezifisches Familiengedächtnis inne, in dem familienrelevante Erlebnisse und Narrationen »gesammelt«, aktualisiert und situativ in sich verändernder oder erweiterter Form hervorgebracht, diskutiert und verhandelt werden. Was und vor allem auch wie in Familien über verschiedene positive wie negative Erfahrungen gesprochen wird und worüber auch bewusst nicht geredet wird, ist höchst spezifisch und charakteristisch für die jeweilige Gruppe. Diesbezüglich schreibt Dan Bar-On (1996), dass »unerzählte Geschichten oft mit größerer Macht von Generation zu Generation weitergegeben [werden] als Geschichten, die erzählbar sind« (S. 21). Das Komplexe an gänzlich oder teilweise verschwiegenen Erzählungen ist, dass jene, die keinen oder keinen vollständigen Zugriff dazu haben, einen großen Spielraum haben, Unausgesprochenes fehlerhaft zu rekonstruieren und eventuell falsch zu deuten. Auch anhand der Wortmeldungen einiger Schüler*innen während des Projektes lässt sich nachzeichnen, dass es in den Familien unausgesprochene oder nicht thematisierte Erzählungen gab bzw. gibt, die durch Nachfragen und Nachhaken in den von den Schüler*innen geführten Familieninterviews (teilweise) offengelegt wurden.19 So wurden erstmals bestimmte Episoden der (familialen) Lebensgeschichte seitens des*der Interviewpartner*in benannt oder biografisches Halbwissen über »die Zeit vor den Kindern« wurde aufgefrischt und neu geordnet. Neben alltäglichen und trivialen Narrationen, wie etwa der Tatsache, dass die Mutter einer Schülerin als junge Frau als Au-pair-Mädchen gearbeitet hatte und der Verwunderung ihrer Tochter darüber, wurden auch komplexe und profunde Narrationen intergenerationell weitergegeben. So erzählte eine Mutter von einer Krankheit, die sie als Kind hatte. Ein Vater sprach über die Trennung von der Mutter seines Sohnes, und ein Großvater erzählte über seine schwierige, entbehrungsreiche Kindheit während des Zweiten Weltkrieges. Es wurden aber genauso lustige Anekdoten ausgetauscht. Hinzukommend zeigte sich, dass die älteren Familienmitglieder in den Gesprächen mit ihrem (Enkel-)Kind genauso intergenerationell Erfahrungswissen vermittelten und Ratschläge weitergaben, z.B. bezüglich der bevorstehenden Wahl einer weiterführenden Schule. Die Jungwissenschaftler*innen, die sich mit der Frage »Wie sieht meine familiale Migrationsgeschichte aus?« befassten, profitierten davon, ein oder mehrere Familienmitglieder zu befragen und so direkt eine Verbindung zwischen der Familienbiografie und dem Fundus der Migrationsbewegungen und -erfahrungen zu schaffen. Wurde anfänglich von vielen der Jugendlichen vermutet, Migrant*innen wären »die Anderen«, lernten sie anhand von Beispielen, wie sehr Migrations- und Familienbiografien miteinander vernetzt und verknüpft sind. Beispiele waren eine Tante, die nach Israel gezogen

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Spezifische Erfahrungen und Erinnerungen werden von den älteren Generationen gegenüber den jüngeren bewusst verschwiegen, sequenziell erzählt oder nur angedeutet. Aufgrund des jungen Alters der Schüler*innen gibt es mehrheitlich ein (groß-)elterliches bzw. familiales Verständnis darüber, was erzählt werden soll und was (noch) nicht. Hier zeigen sich große Unterschiede zwischen der Erzählpraxis im Schulprojekt und jener im Dissertationsprojekt.

2. Gesichter der Migration

ist, ein Bruder, der in Kanada eine Familie gegründet hat, Großeltern, die in Rumänien ihren Lebensmittelpunkt haben, oder der beste Freund mit seinen Migrationserfahrungen. In jedem Falle trug die Beschäftigung mit den Biografien der Vielheit dazu bei, dass die Horizonte bezüglich Migration geöffnet und Vorurteile aus dem Weg geräumt oder zumindest reflektiert und stellenweise revidiert werden konnten. Die Orte, an denen die Jugendlichen derzeit wohnen, wären nicht in der Form gewachsen, wenn nicht immer wieder Menschen hinzugezogen wären und ihre Geschichten, aber auch Kompetenzen, Ressourcen und ihr Wissen mitgebracht und in die Dorf- bzw. Stadtgesellschaft eingebracht hätten, schließlich sind Veränderungen im sozialen, gesellschaftlichen Kontext in besonderem Maße durch Aus- und Einwanderung realisierbar. Die Jugendlichen bekamen durch die vielen Diskussionen im Plenum, aber auch durch Rundgänge im Stadtteil bzw. im Dorf, einen Museumsbesuch zum Thema »Hier Zuhause – Migrationsgeschichten aus Tirol« (vgl. Meighörner 2017) sowie durch Inputs vonseiten des Projektteams Einblick in andere Lebenswelten und Familiengedächtnisse. In den von den Schüler*innen selbst geleiteten, gestalteten und moderierten Gruppendiskussionen wurden biografische Erzählungen, aber auch Meinungen ausgetauscht und die Diskussionsfähigkeit geschärft. Von Schüler*innen formulierte Fragen, wie »Bist du eher ein Mama-Kind oder ein Papa-Kind?« oder »Hilfst du wirklich im Haushalt mit?« sorgten zum einen für ausgelassene Stimmung im Klassenzimmer und zum anderen für viel Gesprächsstoff und manche kontroverse Debatte zwischen einzelnen Jugendlichen. Insgesamt kann gesagt werden, dass die Schüler*innen unter Anleitung lernten, qualitativ zu forschen und an verschiedenen Forschungssettings teilzunehmen. Sie führten neben den Familieninterviews auch Erhebungen mit Passant*innen durch, von denen sie unter anderem wissen wollten, welchen Bezug sie zu dem jeweiligen Ort hätten, ob sie schon mal umgezogen seien und wenn ja, wohin, ob sie Familienangehörige oder Freund*innen hätten, die weiter entfernt leben und wie sie in diesem Fall mit ihnen den Kontakt halten würden. Ferner eigneten sich die Jugendlichen ein Faktenwissen über Migration, Familie und Biografie an und lernten neben den eigenen familialen Praktiken auch die ihrer Mitschüler*innen besser kennen. Überdies wurde reflektiert, dass die medialen Bilder, die mit Migration assoziiert werden, häufig falsch oder verzerrt sind und jedenfalls durch weitere ergänzt werden müssen, um das Gesamtbild zu komplementieren. Die Schüler*innen übten Methoden der qualitativen Sozialforschung ein und begannen Bezüge zwischen Migration und der eigenen Familie bzw. zwischen Migration und der Dorf- bzw. Stadtgesellschaft herzustellen. Gerade auch der Museumsbesuch und die Führungen durch den Ortsteil der jeweiligen Schule erweiterten das Klassenzimmer nach außen hin und veränderten ein stückweit die Perspektive der Jugendlichen. Ein Mehrwert des Projektes ist, dass verschiedene Familiengeschichten fernab einer hegemonialen Betrachtungsweise Gehör fanden, indem sie vom Abseits ins Zentrum gerückt und von den Schüler*innen selbst aufgearbeitet wurden. Die Familiengeschichten als Migrations- und Mobilitätsgeschichten legen offen, dass sowohl die Stadt als auch die umliegenden Dörfer weitaus vielfältiger sind, als in den Diskursen des Alltages, der Öffentlichkeit und vielfach auch der Politik suggeriert wird bzw. als es manche gerne hätten.

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Postmigrantische Generation

Eine Schülerin aus Tirol trifft sich mit ihrer besten Freundin – per Skype und über Ländergrenzen hinweg. Ein Universitätsassistent pendelt jede Woche zwischen Wohnund Arbeitsort. Unter der Woche arbeitet er in Wien, am Wochenende verbringt er die Zeit mit seiner Familie. Die Autofahrt von Tirol nach Serbien ist lang, vor allem dann, wenn die Kinder voller Vorfreude auf Omas Baklava sind. Ein Jugendlicher taucht täglich in mehrere Sprachen ein. Mit der Schwester redet er Deutsch, mit der Mama Kurdisch und mit dem besten Freund Dialekt. Die Lebenspraktiken der Familien und Jugendlichen in Tirol zeigen: Vielfalt im Alltag ist Realität! (Hill/Rotter 2018, o. S.) Abschließend noch ein paar Worte zu der Zusammenarbeit zwischen den Institutionen Schule und Universität: »Die Schule« und »die Uni«, die es beide natürlich nicht als solche gibt, harmonieren nicht immer miteinander. Sie haben unterschiedliche Zugänge und verfolgen teils sich widersprechende Interessen. Dennoch und weil sie sich ergänzen oder aufeinander aufbauen sollten, ist es wichtig, die verschiedenen Erfahrungshorizonte der Institutionen zu verbinden. Zum einen können die Universitätsmitarbeitenden vom Praxisbezug sowohl der Lehrer*innen als auch der Schüler*innen lernen. Zum anderen sollte im Schulkontext versucht werden, sich sprachsensibler auszudrücken und machtsensibler zu agieren. Gleichermaßen sollte auf der Agenda der Schule stehen, veraltete Diskurse zu verlassen und durch aktuelle Erkenntnisse zu ersetzen. Genauso sollte es Ziel des Bildungssystems sein, Schüler*innen nicht nach ihrer Herkunft, ihrer Erstsprache, ihrer Religionszugehörigkeit oder nach dem Bildungshintergrund der Eltern pauschal zusammenzufassen und zu bewerten. Für die Schule und ihre Subjekte wäre ein Paradigmenwechsel wünschenswert, der z.B. Konzepte der Postmigration oder der Vielheit mitberücksichtigt, vergegenwärtigt und aktualisiert. Die Universität wiederum sollte vermehrt eine umfassendere Praxisperspektive einnehmen. Selbstverständlich ist eine intensive Zusammenarbeit zwischen Schule und Universität sinnvoll, die Grenzen beider Institutionen können jedoch einengen, sofern sie nicht aktiv verschoben werden wollen. Letztlich ist es aber gerade bei Sparkling-und-Citizen-Science Projekten wichtig, zu betonen, dass solche Unternehmungen für die Jugendlichen und nicht für das Lehrpersonal oder die Direktor*innen veranstaltet werden. Missverständnisse oder Komplikationen auf fachlicher und pädagogischer Ebene zwischen professionellen Lehrkräften und wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen können durchaus auftreten. Genauso sind unterschiedliche Auffassungen bezüglich Didaktik, aber auch Fragen nach möglichen Reglementierungen nicht selten. Deswegen ist es umso wichtiger, dass die beteiligten Erwachsenen vor allem bei Irritationen beschließen, nicht nur miteinander in Kontakt zu treten, sondern auch über Widerstände hinweg im Gespräch zu bleiben. Genauso kann es essenziell sein, ausgehend von allen Seiten – denen der Lehrer*innen, Schüler*innen, Direktor*innen und Wissenschaftler*innen – Interessen und mögliche Konfliktfelder offen zu benennen. Werden nämlich die Grenzen der involvierten Institutionen nicht als Begrenzungen verstanden, sondern aufzubrechen versucht, können alle Teilnehmenden von solchen Projekten profitieren, vor allem die Jugendlichen, um die es primär gehen sollte. Dieser Exkurs zum Projekt »Gesichter der Migration. Jugendliche aus Tirol erforschen gemeinsam ihre familiale Migrationsgeschichte« ist ein Plädoyer für mehr Verständnis und Offenheit gegenüber den heterogenen Lebenswelten und -realitäten der

2. Gesichter der Migration

Jugendlichen und ihrer Familien. Er ist eine Befürwortung für mehr Sprach- und Machtsensibilität im Kontext Bildung. Der Umschweif enthält ferner eine Betonung und Verständigung darüber, dass (biografische) Daten zwar gewonnen werden müssen, den Erzählenden jedoch die erste Deutungshoheit darüber obliegt und ihre Geschichten nur mit ihrem und dem Einverständnis der Erziehungsberechtigten zu Beginn des Projektes »ausgeliehen«, nicht aber angeeignet werden dürfen. Der Exkurs ist zudem eine Anklage darüber, dass gute Forschung auf einer guten Vertrauensbasis beruht. Er ist genauso eine Versicherung davon, dass versucht wurde, den Schüler*innen am Ende des Projektes nicht nur ein »Zertifikat«, ein »Zeugnis« mitzugeben, sondern ihnen Wertschätzung für ihre Biografien und ihre Mitarbeit entgegenzubringen. Er zeigt auch, dass Humor, Kreativität und »Mobilität im Denken und Handeln« ein solches Projekt beleben können. Es gibt bekanntlich keine Kompetenzfilter, jedoch konnten den Schüler*innen Werkzeuge und Erfahrungen zur Erforschung familialer Geschichten weitergegeben werden. Noch wesentlicher ist der Versuch, ihnen das Feingefühl dafür vermittelt zu haben, wie heterogen Lebenserfahrungen und -geschichten gelebt werden und wie biografisch wertvoll diese jeweiligen unterschiedlichen Lebensentwürfe sind. Eine Schulklasse ist mehr oder weniger »zusammengewürfelt« worden, sie setzt sich aus rund 24 Personen zusammen. Sie ist somit das Sinnbild eines uneinheitlichen, diversen, teilweise widersprüchlichen und vielfältigen Kollektivs, in dem jede*r Einzelne seine*ihre eigenen Geschichten hat und eigene sowie gemeinsame Praktiken pflegt. Für die hier vorliegende Arbeit war es angebracht, auf den Schulkontext zu verweisen und die Ideen des Projektes anhand ausgewählter Biografien der Schüler*innen zu verdeutlichen. Nun ist es jedoch wesentlich, den Schulalltag zu verlassen und die Idee, dass sich Vielfalt nicht nur im Klassenzimmer, einer relativ kleinen Gemeinschaft, manifestiert, auf die weitere Forschung anzuwenden. Eine Schulklasse bildet also im Kleinen ab, was eine Gesellschaft im Großen darstellt: Verschiedenartigkeit, Widersprüchlichkeit, Gemeinsamkeit, ergo Vielheit. Daher werden die bisherigen Ausführungen nun weitergedacht. Sie werden um eine postmigrantische Konstante erweitert. Die Idee, (familiale) Migrationsgeschichten zu normalisieren, wird nun auf die Nachfolgegeneration, die postmigrantische Generation und ihre Familien übertragen, wodurch das Forschungsfeld erweitert und gleichzeitig spezifiziert wird. Alle, die hier sind, sind von hier! (Yıldız/Rotter 2022, S. 409)

2.2 Ideen und Zielsetzungen des Dissertationsprojektes Es wurde Einblick gegeben in den (Schul-)Alltag von Jugendlichen und ihren Familien in Tirol, die in der Landeshauptstadt oder auf dem Land wohnen. Die Schüler*innen befanden sich am Ende der gemeinsamen Projektarbeit auch im letzten Schuljahr. Somit standen sie kurz davor, von der Neuen Mittelschule abzugehen und in einen neuen Le-

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Postmigrantische Generation

bensabschnitt einzutreten.20 Das bedeutete für sie vor allem, sich zu entschließen, ob sie eine weiterführende Schule besuchen oder eine Ausbildung bzw. eine Lehre absolvieren wollten. Doch mit der neuen Aus- und Weiterbildung geht für manche von ihnen auch ein Ortswechsel einher. Vor allem die Jugendlichen aus dem Stubaital pendeln nun zu großen Teilen tagein tagaus zwischen Innsbruck und Umgebung. Gerade junge Generationen wachsen gegenwärtig in dem Wissen auf, dass Mobilität – gerne umschrieben mit »Reisefreiheit« etwa in Form von Auslandsaufenthalten – deutlich weniger begrenzt sei, als es noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war. Wer einer privilegierten Gruppe angehört, erfährt Mobilität als etwas »Normales« und sieht, dass für Menschen mit hohem ökonomischen und sozialen Kapital das Reisen immer weiter liberalisiert und forciert wird, während Mobilität Geflüchteten zum Vorwurf gemacht wird; verstärkt werden Grenzen und Begrenzungen gefordert, um jene auszuschließen, die nicht kommen sollen. Als die »Pionier*innen der Mobilität« per excellence müssten hierzulande die Pionier*innen der ersten Generation gelten. Sie nahmen zumeist komplizierte und langwierige Reisewege auf sich und glichen durch ihre vorwiegend körperlichen, prekären Tätigkeiten den österreichischen Arbeitskräftemangel aus. Ihre Migration wird jedoch kaum als Mobilität anerkannt, sondern eher als notwendiges Mittel angenommen, um von A nach B zu kommen und befristet vor Ort zu bleiben. Dabei ist die Mobilität der Pionier*innen sowohl charakteristisch für den Mut jener Menschen, die, obwohl sie z.B. die Sprache des Ankunftslandes nicht beherrschten und nicht wissen konnten, was sie in der Ankunftsgesellschaft en detail erwartete, die Wege dorthin trotzdem wagten. Des Weiteren bedeutet ihre Fähigkeit, mobil zu sein, auch einen Gewinn an Kapitalsorten und Ressourcen für ihre Kinder und Enkelkinder; doch dazu später mehr. Hier werden nun relevante Ideen und Zielsetzungen der Dissertation skizziert. Eine grundlegende Idee ist es, Migration zu normalisieren und konkret anhand der Lebensgeschichten der jungen Erwachsenen der Nachfolgegeneration samt ihren intergenerationellen Artikulationen begreifbar zu machen. Unter Zuhilfenahme der Biografien der Angehörigen der Nachfolgegeneration wird unter anderem ersichtlich, dass der Blick auf ihre (familiale) Lebensgeschichte je nach Perspektive differieren kann. Mehrheimische Verortungspraxen und Lebensstile sind für die Subjekte der Nachfolgegeneration alltäglich, normal und mitunter trivial. Genauso ist die Migration ihrer Großeltern nach Tirol für sie zuweilen selbstverständlich, denn sie initiiert und begründet das eigene »Hiersein« vor Ort. Gerade die älteren Generationen der Migrant*innen werden im politischen und öffentlichen Diskurs »ver-andert«, aber auch ihre Enkelkinder attestieren mitunter große Ambivalenzen und Divergenzen zwischen der Selbstund Fremdbeschreibung bzw. der Selbst- und Fremddeutung. Dabei besteht vielfach der Wunsch, das eigene Selbstverständnis mit der Fremddeutung und Wahrnehmung von außen zusammenzuführen (vgl. Canan/Foroutan 2016b, S. 12). Wie sehr strukturelle Benachteiligung und Diskriminierung in die Lebenswelten der jungen Erwachsenen hineinwirken können, zeigt sich etwa bei der Wohnungssuche oder bei wiederholt fehlenden Einladungen zu Bewerbungsgesprächen. Der Vor- und oder Nachname ist 20

Vier der fünf beteiligten Schulklassen stand der Schulabgang bevor. Eine einzige Klasse befand sich in einer niedrigeren Schulstufe.

2. Gesichter der Migration

mitausschlaggebend, ob jemand überhaupt zur Besichtigung einer Wohnung oder zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wird, wenngleich diese Ausschlussmechanismen – da diskriminierend und rassistisch – nicht offen artikuliert werden. Ein Name wie Mohammed reicht, um in einem kleinen Betrieb eine bis zu 24 Prozent geringere Chance zu haben, überhaupt zum Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden als jemand, der Matthias heißt – bei gleicher Qualifikation. Selbst ihr Universitätsabschluss ist weniger wert: Akademiker mit Migrationshintergrund sind dreimal so häufig arbeitslos wie Akademiker ohne. Für viele wirkt die Herkunft wie eine Wertminderung – je fremder, desto schlechter der Kurs. (Topçu et al. 2014, S. 126f.) Die Fortschreibung, Migrant*in zu sein und zu bleiben, ist ein Paradoxon, das sich mit der Realität der Nachfolgegeneration und auch (partiell) ihrer Familien nur schwer bzw. gar nicht vereinbaren lässt. Es versucht, das Lügenmärchen, Menschen müssten auf eine lange Generationsdauer vor Ort zurückblicken können, um »wirklich hierhin zu gehören«, glaubhaft zu machen. Die tatsächliche Vernetzung, Verortung in und Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen werden in dieser Logik völlig ausgeklammert, ebenso die Tatsache, dass Einzelpersonen und Familien weitaus häufiger mobil denn sesshaft sind (vgl. Yıldız/Meixner 2021, S. 26). Das deutet sich auch hinsichtlich der Pionier*innen an, die als »arbeitende Gäste« gekommen waren und auch nach vielen Jahren ihrer Etablierung und grundsätzlichen Partizipation in der postmigrantischen Gesellschaft – so die Meinung vieler – »Fremde« geblieben seien. Kourabas analysiert die »Gastarbeit« als Ge- und Ver-Brauchsverhältnis (Kourabas 2021, S. 127), das die Pionier*innen einerseits ökonomisch einbezieht und andererseits über rassistische Diskurse und Praktiken der Rassifizierung (Sow 2008, S. 79) separiert (vgl. ebd.). »Wenn bestimmten Menschen von der Mehrheitsgesellschaft eine vermeintliche ›rassische‹ Andersartigkeit zugeschrieben wird, nennt man das ›rassifizieren‹.« (Ebd.) Der Ge-Brauch strukturiert das Verhältnis zwischen dominanzkulturellem Wir und rassifizierten Anderen. Zugleich verweist das Verhältnis zwischen dominanzkulturellem Wir und gastarbeitenden Anderen auf den Ge-Brauch als Paradigma. In der Figur der »Gastarbeit« und der Position gastarbeitender Anderer artikuliert sich damit ein singuläres, aber zugleich auch ein paradigmatisches Beziehungs- und Verwiesenheitsverhältnis. (Kourabas 2021, S. 134f.) »Arbeitende Gäste« ist ein Widerspruch in sich, denn Gäst*innen erleben in der Regel Gastfreundschaft und arbeiten nicht. Den sogenannten Arbeitsmigrant*innen wird im öffentlichen und teilweise auch wissenschaftlichen Diskurs unterstellt, »integrationsresistent« oder »nicht oder unzureichend angepasst« zu sein, ungeachtet der Tatsache, dass sie entscheidend am wirtschaftlichen Aufschwung im vergangenen Jahrhundert mitgewirkt und durch ihre Expertise, Kompetenzen, ihre kreativen Überlebensstrategien und Ressourcen die Stadt- und Migrationsgesellschaft mitgestaltet haben und noch mitgestalten. Auch würden sie vor allem im familiären und privaten Kontext Herkunftswissen und Herkunftsdialoge reproduzieren, die per se »rückständig«, »patriarchal« und »nicht zeitgemäß« wären. Diese Rückständigkeit oder Antiquiertheit werden vor allem muslimisch geprägten Familien und Einzelpersonen (vgl. Kaya 2009, S. 65ff.), weitaus seltener den Gläubigen anderer Religionen zugeschrieben. Diese ste-

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Postmigrantische Generation

reotypen Zuweisungen werden nicht nur auf die erste Generation angewandt, sondern vielfach auf die Nachfolgegenerationen. Indessen werden die Attribute »rückständig« oder »integrationsresistent« genauso auf sie übertragen, wiewohl klare Differenzlinien zwischen den spezifischen Herkunftsländern der Familien gezogen werden. Nun ist es grotesk, Menschen, die faktisch und definitorisch Österreicher*innen, Tiroler*innen oder Innsbrucker*innen sind, auf die Herkunftsgeschichte der Eltern bzw. Großeltern zu reduzieren und biografische Charakteristika und Spezifika vollständig auszuklammern. Daher erachte ich halbnarrative Interviews in Form von längeren Gesprächen21 mit den Erzählenden der Nachfolgegeneration, in denen ihnen das Erzählen ihrer Lebensgeschichte in Auseinandersetzung mit familialen Narrationen, Erfahrungen und Erinnerungen obliegen soll, für entscheidend. Es wurde und wird auch aktuell medial, politisch und öffentlich viel zu oft über sie und ihre Familien, aber kaum mit ihnen gesprochen. Dieses Versäumnis möchte ich hiermit nachholen. Bezugnehmend darauf, dass viele Migrations- und Familiengeschichten bis dato noch kein oder zu wenig Gehör gefunden haben22 , möchte ich, aus einer postmigrantischen Leseart heraus, auf die Biografien und Narrationen jener jungen Menschen fokussieren, deren Eltern bzw. Großeltern in den 1960er bis 1970er Jahren im Zuge der »Arbeitsmigration« nach Tirol kamen. Weshalb sich die Pionier*innen schließlich länger im Ankunftsland blieben oder sich transnational zwischen zwei oder mehreren Orten hin- und herbewegten und, entscheidender noch, wie sich ihr Leben vor und zwischen den Orten der Vergangenheit sowie aktuell gestaltet, wird mittels der Nacherzählungen und Erzählungen der jüngeren Familienmitglieder nachgezeichnet. Besonderes Interesse gilt neben den familiären Migrationserfahrungen und -erzählungen den jeweiligen Artikulationen der Nachfolgegeneration sowie ihren Interpretationen hinsichtlich der erfahrbar gemachten Erinnerungen des familialen Gedächtnisses. Die jungen Erwachsenen rücken mit ihren Erzählungen, Nacherzählungen, Deutungen sowie Umdeutungen die familiäre Geschichte in den Mittelpunkt und setzen die eigene Biografie in Relation, genauso in Distanz zur Familiengeschichte. Gefragt wird unter anderem, welche Familiengeschichten familial und/oder biografisch besonders signifikant sind, welche Kapitalsorten, Vorstellungen oder Werte zwischen den einzelnen Generationen weitergegeben werden. Dabei erzählen die jungen Erwachsenen aber nicht nur familiär Relevantes nach, sondern »verknüpfen also familiäre Meilensteine, also besonders relevante generationsübergreifende Familiengeschichten und subjektbezogene Erfahrungen miteinander« (Rotter 2019a, o. S.). Interessant ist, wann und aus welchen Gründen klare Abgrenzungen von den Familiengeschichten und -erfahrungen erfolgen und wann spezifische Anekdoten, aber auch Wissensbestände besonders betont und reaktiviert bzw. auf die eigenen Lebenswelten und -entwürfe übertragen werden. Wenngleich in den letzten Jahren in Tirol, vermittelt durch Forschungsarbeiten und Publikationen vereinzelter Wissenschaftler*innen bzw. wissenschaftlicher Forschungsteams (vgl. exemplarisch Medda-Windischer et al. 2011; Meighörner/Berner

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Siehe dazu Kapitel 1. Die hegemoniale Zuhörer*innenschaft lässt nur bestimmte Erzählungen zu und gleichzeitig überhört sie bewusst gegenhegemoniale, mehrheimische Narrationen.

2. Gesichter der Migration

2016; Amoser 2017; Meighörner 2017; Rupnow 2018; Pfanzelter/Rupnow 2018) und gefördert durch museale Ausstellungsformate23 , der breiteren Öffentlichkeit spezifische Lebensumstände, Arbeits- und Wohnsituationen Tiroler Pionier*innen näher gebracht wurden, fehlt bis heute eine erziehungs- bzw. bildungswissenschaftliche Perspektive, die die mehrheimische Pionier*arbeit, die Lebensrealitäten der Pionier*innen und die ihrer (Enkel-)Kinder mitberücksichtigt. Dieser Blickwinkel darf nicht nur kollektive und arbeitsspezifische Kontexte forcieren, da er sonst Gefahr läuft, das ökonomische Nützlichkeitsprinzip der als (ausschließlich) Arbeiter*innen gelesenen, zu reproduzieren. Vielmehr soll hier versucht werden, die Erfahrungs-, Erinnerungs- und Lebenswelten einzelner Pionier*innen mithilfe ihrer Enkelkinder, die zu den Erzählenden und Deutenden dominanter Familien- und selbstständig entworfener Narrationen werden, biografisch zu rekonstruieren, postmigrantisch zu lesen sowie gegenhegemonial zu analysieren. Die Forschung möchte sowohl generationsübergreifende als auch generations- oder subjektspezifische Erfahrungen, Dynamiken und Verortungen behandeln und bleibt daher nicht bei der ersten Generation stehen, sondern fragt nach den einzelnen familiären Generationen, Generationsmitgliedern und insbesondere der Sichtweise der Angehörigen der erzählenden postmigrantischen Generation. Eine Aufarbeitung und Neukontextualisierung familial-intergenerationaler, biografischer, lokalhistorischer, regionaler, transnationaler, folglich grenzüberschreitender Erzählungen und Erinnerungen sowie ein Zusammendenken dieser einzelnen Konstanten soll hiermit realisiert werden.

2.2.1 Migration als soziohistorische Normalität »Es kann nicht angehen, dass es eine neoliberale Freiheit für die Bewegung von Kapital, Gütern und Rohstoffen gibt, während Migranten im Mittelmeer ertrinken, an Grenzen festhängen und wir die Menschen, ihr Schicksal, ihr Leid und ihre Zukunft vergessen.« (A. Assmann 2018b, Rede in Frankfurt a.M.) Mit diesen Worten beginnen Aleida Assmann, renommierte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, und ihr Ehepartner Jan Assmann, anerkannter Ägyptologe, ihre Dankesrede anlässlich des ihnen in Frankfurt verliehenen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Aleida und Jan Assmann wurden am 14. Oktober 2018 für ihre gemeinsame interdisziplinäre Forschungsarbeit ausgezeichnet, insbesondere aber aufgrund ihrer Verdienste zu den europäischen und kollektiven Erinnerungskulturen, außerdem aufgrund des Sichtbarmachens der gemeinschaftlichen und staatlichen Notwendigkeit eines gemeinsamen Erinnerns an den Holocaust. Gerade in der kollektiven Erinnerung an die Gräueltaten und Opfer des Nationalsozialismus und des Faschismus ist immer auch das 23

In den letzten Jahren wurden in Tirol drei wesentliche Ausstellungen initiiert, nämlich, »Hall in Bewegung – Spuren von Migration in Tirol« (vgl. 2014), »Alles fremd – alles Tirol« (vgl. Meighörner/Berger 2016) und »Hier Zuhause – Migrationsgeschichten aus Tirol« (2017) im Tiroler Volkskunstmuseum (vgl. Meighörner 2017), die vor allem auch aus dokumentarischer Sicht einen hohen Stellenwert haben. Diese Ausstellungsformate haben versucht, die Beteiligten ihre eigene Migrationsgeschichte selbst erzählen (Sprache als machtvolles Instrument), performen und darstellen zu lassen oder die Biografie anhand eines Gegenstandes exemplarisch zu repräsentieren.

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Paradigma enthalten, solche und ähnliche Brutalitäten sowie Menschenrechtsverletzungen mögen sich nie mehr wiederholen24 (vgl. Adorno 2012, S. 125). Neben der kollektiven Erinnerungskultur haben sich Assmanns dank ihrer detaillierten Ausführungen zu Gedächtnis, den Momenten des »Erinnerns« und »Vergessens«25 , über die engen Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen hinaus einen Namen gemacht.26 Besonders relevant ist an dieser Stelle der zivilgesellschaftliche, hochpolitische Duktus und der (vermutliche) Anspruch in der eingangs zitierten Rede von Aleida Assmann, gerade als (renommierte*r) Wissenschaftler*in Ungerechtigkeiten und ungleiche Machtrepräsentationen zu artikulieren und somit auch einer breiteren Zuhörer*innenschaft zugänglich zu machen: In ihren Publikationen nimmt Aleida Assmann häufig eine kritische, soziale, (zivil-)gesellschaftliche und politische Positionierung ein, was auch das folgende Zitat veranschaulicht: Friedenssicherung, Rechtsstaatlichkeit, eine selbstkritische Erinnerung und die Achtung der Menschenrechte – taugen diese Lehren aus der Geschichte noch für die Gegenwart und Zukunft? Mehr denn je, wie ich meine. Das Mittelmeer, einst Symbol des Lebens, ist heute zu einem Symbol des Todes geworden. Dort haben Tausende ihr Massengrab gefunden, auf ihrer verzweifelten Suche nach Asyl und Schutz vor Krieg, Terror und Gewalt. Diese Ereignisse sind aber noch keine Vergangenheit, auf die man sich irgendwann einmal im Modus des Gedenkens oder Reue zurückbeziehen wird, sondern eine Gegenwart, auf die wir hier und jetzt reagieren müssen. (A. Assmann 2018a, S. 189f.) Aleida Assmann betont, dass »wir hier und jetzt reagieren müssen« (Assmann 2018a, S. 190) und macht damit eine politische und gesellschaftliche Positionierung innerhalb ihrer Forschungsarbeit deutlich. Weniger offensichtlich, dennoch nicht weniger bedeutend sind implizite Positionierungen, in denen die Autorin exemplarisch für das »Projekt Europa« bzw. »Projekt EU« plädiert, an dessen Anfang die Friedenssicherung stand, mit dem Zweck der Gründung »einer Allianz zur Entschärfung der Bedrohung durch Deutschland und später mit der vollen Integration Deutschlands in diese Allianz« (A. Assmann 2018a, S. 22), bevor schließlich der »europäische Traum27 « (vgl. ebd., S. 9) präzisiert werden konnte, der »als ein gemeinsames Leitbild des Denkens und Handelns für die Nationen der EU vorgeschlagen [wurde], die miteinander in einer Geschichte der Gewalt verbunden sind« (vgl. ebd.). Darauf aufbauend rekonstruiert Assmann vier Leh-

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»Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, daß man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug« (Adorno 2012, S. 125). Siehe dazu Kapitel 6.1, 6.1.1 und 6.1.2. An späterer Stelle werden ausgewählte Sequenzen der Forschung Aleida Assmanns in die Analyse der hier zu verhandelnden Thematik, der intergenerationalen Artikulation von familiären Migrationserfahrungen miteinbezogen (siehe dazu genauso Kap. 6.1, 6.1.1 und 6.1.2). Wichtig ist der Hinweis, dass der sogenannte europäische Traum für marginalisierte Menschen vielfach ein Traum, eine Utopie und damit unerreichbar bleibt.

2. Gesichter der Migration

ren aus der Geschichte28 und begründet davon ausgehend die Dringlichkeit, an der europäischen Gemeinschaftsidee festzuhalten, wiewohl um einem möglichen autoritären Rückfall aktiv entgegenzusteuern (vgl. ebd.). Der potenzielle und reale, bereits beobachtbare Rückfall, etwa zwischen und innerhalb europäischer Grenzräume (vgl. Klepp 2011, S. 74) oder in einzelnen Staaten wie Ungarn (vgl. Bozóki 2011, S. 649), kann sich in einer verstärkten Fokussierung auf den Nationalstaat und den nationalen Mythos (vgl. A. Assmann 2018a, S. 74) manifestieren. Wenngleich der Nationalstaat an erster Stelle ein geografisches sowie politisches Konstrukt ist, ist er sehr wirkmächtig: Dieses Konstrukt denkt spezifische Menschen und Gruppen als Teil des Nationalen mit, wiederum andere werden kategorisch aus dem »Wir« ausgeschlossen. Wer Teil der nationalstaatlichen Gemeinschaft ist, wer temporär dazukommen darf und für wen die Grenzen des Staates unüberwindbar bleiben sollen, wird strengstens reglementiert. Der Nationalstaat und seine Verfechter*innen erzeugen folglich reale, aber auch künstliche Grenzen und strukturelle Barrieren. Darüber, wer sich innerhalb und wer sich außerhalb der Grenzen aufhalten kann oder muss, besteht ein weitgehend anerkanntes Wissen, auf das Institutionen, Einzelpersonen und Gemeinschaften scheinbar mühelos zurückgreifen können. Die Grenzen sind damit nicht nur auf dem Papier bzw. juristisch verankert, sondern sie sind vielfach auch in den Köpfen Einzelner und der Kollektive präsent. Die Grenzen und Begrenzungen wirken sich vor allem auf Geflüchtete und Migrant*innen aus und suggerieren, dass ein Pass aus Papier wichtiger sei als die Menschen selbst. Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so eine einfache Weise zustande wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird. (Brecht 2000, S. 7) Das binäre Denken in der Ihr-Form wird aktuell, aber auch historisch, vor allem auf Menschen angewandt, deren Biografien aufgrund von Migrationserfahrungen nicht als »normal« betrachtet werden und damit die mehrheitlichen Normalitätsvorstellungen irritieren. Hierbei werden veraltete Herkunftsdialoge aktiviert und repetitiv aufs Neue reproduziert, in den öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskurs miteingespeist und dann auf »die Anderen« übertragen. Die, die nicht seit immer da waren, aber auch ihre Kinder und Enkelkinder, gehören in der Normalitätsvorstellung des binären Denkens zu den »Anderen« und nicht bzw. nur teilweise zu dem »Wir«. Gegenwärtig lassen sich zahlreiche Entwicklungen beobachten, die europa- und weltweit in den Nationalstaaten und darüber hinaus Verschärfungen des politischen Denkens mit sich ziehen. So werden zunehmend rechte, aber auch rechtsextreme und -populistische Parteien von Menschen aus der vermeintlichen »Mitte der Gesellschaft« gewählt. Mit dieser Verschiebung bzw. Erweiterung der Wähler*innenschaft nach rechts hin erfährt auch die Rhetorik, die im politischen Spektrum genutzt wird, eine Radikalisierung. Rechtspopulisti-

28

Die vier Lehren lauten erstens »Friedenssicherung« (A. Assmann 2018a, S. 21ff.), zweitens »Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit« (vgl. ebd., S. 30), drittens »Historische Wahrheit und der Aufbau einer deutschen Erinnerungskultur« (vgl. ebd., S. 38ff.) und viertens »Die Wiederentdeckung der Menschenrechte« (vgl. ebd., S. 56).

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sche Parteien erleben also gegenwärtig eine breite Etablierung und definieren die Möglichkeiten des (irrtümlich) Sagbaren neu. Dies hat zur Folge, dass sich essenzialistische Vorstellungen darüber, wie denn mit vorgeblichen Fremden umzugehen sei, verstärken. Bebnowski (2015) unterstreicht die binäre Argumentationslogik, die daraus resultiert, das Eigene in Abgrenzung zum »Anderen« als höher zu bewerten, indem er auf den Täter-Opfer-Diskurs hinweist, der den gegenwärtigen Debatten über Migration, »Integration«, über Gesellschaft und Zusammenleben innewohnt: Es ist eines der Hauptwesensmerkmale des Rechtspopulismus, dass dieser stets damit argumentiert, dass störende Elemente, Eindringlinge, kurz, das Andere, eine grundsätzlich funktionierende Ordnung korrumpieren würden. (S. 15) Es ist grundlegend, Parallelen zu ziehen zwischen der neu entstandenen bzw. wiedererstarkten Rechten (vgl. Adorno 2019; Schedler 2019), der Problematisierung des Europäischen zugunsten der Überbetonung des Nationalen durch nationale Stärke, gepaart mit einer stark vereinfachenden Sündenbock-Logik. Das Konstruieren eines Feindbildes impliziert zum einen und begünstigt zum anderen das hegemoniale Denken, wie auch die Behauptung, auf komplexe Fragen einfache Antworten zu haben. Dass adäquate Antworten wohl kaum in der Reduktion eines vielschichtigen Sachverhaltes liegen bzw. humanem Denken und Handeln widersprechen, liegt auf der Hand. Es kann der Eindruck entstehen, dass wir als Migrationsgesellschaft uns weiter denn je von einer grenzenlosen Welt entfernt befänden, in der nationalstaatliche Grenzen nur auf dem Papier existierten, aber nicht als gelebte Praxis und Realität Bestand hätten. Der Nationalstaat an sich ist mit seiner Entstehung um 1870 zwar noch relativ jung, aber seine Logik hat sich bedeutungsschwanger auf unseren Alltag, die Denkweise und die Neigung, in Kategorien zu denken, übertragen. Dabei war das heutige Österreich in der »K.u.k«-Monarchie ein »Vielvölkerstaat« (vgl. John 2019, S. 60ff.) und demnach mehrheimisch nebst migrantisch geprägt. Die Behauptung, dass Menschen, die in einem Staat wohnen, eine größtenteils homogene Gruppe mit gleichen oder ähnlichen Herkunftsund/oder Sozialisationsgeschichten abbilden würden, ist absurd. Städte, vor allem größere, widerlegen diesen Mythos vollständig, so auch die Hauptstadt Wien, die »um 1900 von multiethnischer Zuwanderung geprägt war« (John 2019, S. 61). Städte, aber auch demokratische Migrationsgesellschaften als Ganzes, sind per se widersprüchlich, komplex, verworren, uneindeutig und dürfen nicht auf eine geistige Strömung oder eine politische Grundhaltung innerhalb der Gesellschaft reduziert werden. Das heißt, obgleich aktuell Populist*innen, rechte Demagog*innen Zuwachs erfahren und diese Entwicklung besorgniserregend ist, gibt es Gegenbewegungen und Personen, die Kritik üben, Widerständigkeit skandieren oder (Re-)Claiming betreiben (vgl. Schmidt/Thiemann 2022). (Re)Claiming [kann] als feministischer wie politischer Aktivismus, als Praktik der Aneignung bzw. Wiederaneignung, die zumeist von marginalisierten Personen oder Bevölkerungsgruppen initiiert wird und Forderungen nach gesellschaftlicher Partizipation betrifft [verstanden werden]. (S. 11) Elisabeth Beck-Gernsheim und Ulrich Beck (2011) antworten auf die Renationalisierung mit der Ausformulierung sowie Gegenüberstellung neuer transnationaler Lebens- und

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auch Liebesformen, die verbunden sind mit zeitgemäßen urbanen, transnationalen, globalen, familialen und innovativen Denkhaltungen. Der Einstieg in die eingangs zitierte Rede von Aleida Assmann manifestiert, wie notwendig es ist, dass mehrheimische und nicht-mehrheimische Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen, Zivilpersonen, Rapper*innen, Schüler*innen, Arbeiter*innen, Schriftsteller*innen, Bauarbeiter*innen, Politiker*innen, Künstler*innen, sprich Menschen mit diversen sozialen Bezügen und aus den verschiedensten Kontexten, im Privaten und auch öffentlichwirksam ihre Stimme erheben und Migration zu einem »Thema für alle« machen. Das Einmischen in diverse Themen oder das Abgeben von Zeug*innenschaft in prekären Situationen des Alltages sind auf einen gesamtgesellschaftlichen Bezugsrahmen übertragbar. Migrationsforschung ist somit Gesellschaftsforschung oder anders formuliert: Migration betrifft die Gesellschaft. Migration bildet ein gesellschaftliches Abbild ab, ergo ist Migration immer auch Gesellschaft. Die Überzeugung, dass Wissenschaft durchaus soziale und politische Positionierungen mitdenken kann und sollte, ist paradigmatisch für die hier vorliegende Forschung. Wissenschaft ist nie vollständig frei von den normativen Grundsätzen der Forschenden.29 Insbesondere biografische Forschung ist selten unpolitisch oder neutral. Reckinger (2014) verweist in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit eingreifender Wissenschaft (S. 221), die gesellschaftliche Schieflagen nicht nur analysieren, sondern realpolitisch und -gesellschaftlich verändern möchte. Die bereits zitierten Wissenschaftler*innen veranschaulichen, dass die Verwobenheit von Forschung mit grundsätzlichen Vorstellungen zu und von (Migrations-)Gesellschaft kein Widerspruch an sich ist, sondern durchaus verknüpft werden kann – und vielleicht auch muss. Neben dem zivilgesellschaftlichen und politischen Engagement, das in den genannten Arbeiten explizit bzw. implizit sichtbar wird, kontrastieren die Autor*innen derzeitige Momentaufnahmen gesellschaftlicher Prozesse und Fragestellungen. Entscheidend für die Analyse gesellschaftlicher Themen – und Migration ist ein bedeutendes Gesellschaftsthema! – ist ein Blick in die Vergangenheit, der aktuelle Ansätze historisch ergänzt und die Analyseebene mittels einer zusätzlichen zeitlichen Perspektive erweitert. In diesem Zusammenhang wird auf die Wichtigkeit, Migrationsforschung als Gesellschaftsforschung zu adaptieren, verwiesen (vgl. Yıldız/Hill 2014, S. 12; Peterlini/ Donlic 2020). Ich betrachte erstens Migration und Postmigration als zeitgeschichtliche und in teilweise divergierend-widersprüchliche (Denk-)Strömungen eingebettete Phänomene. Zweitens fasse ich (Post-)Migration als (sozial-)geschichtlich höchst bedeutsam auf: Hiernach sind Migrationsgeschichten automatisch auch Menschheitsgeschichten (vgl. Rotter 2019a, o. S.) bzw. Geschichten der Menschheit. Diese Geschichten der Menschheit manifestieren sich aktuell im Alltäglichen, Alltagsweltlichen, aber auch im Historischen. Die Historie der Menschheit als eine Geschichte der Migration zu lesen, ist in jedem Fall ein wichtiger und darüber hinaus ein vielfach unterschätzter Ansatz. Dieser ermöglicht eine Argumentationslinie, die historische Fakten im Kontext von Migration und Vielheit berücksichtigen kann. Die soziohistorische und gesellschaftliche Analyse von Wanderungen verhalten sich reziprok zueinander. Ihre Verschränkung unterstreicht, 29

Siehe dazu Kapitel 1.

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dass Migrationsbewegungen keine neuen oder keine ausschließlich der Globalisierung geschuldeten Phänomene seien, geschweige denn, problemhaft oder problematisch wären. Migrationsbewegungen weisen eine jahrtausendelange Kontinuität auf. Wanderungen werden also seit Menschengedenken vollzogen. Wären nämlich unsere Vorfahr*innen nicht »gewandert«, sprich migriert, wären unsere Orte und Städte nicht in diesem Maße von Diversität geprägt, wie es nun im Stadt- und Alltagsleben beobachtbar ist (vgl. CIC Carinthian International Center 2021, S. 10). Die Orte sähen ohne Migration deutlich anders aus, ergo wären sie wohl auch um einiges ärmer.30 Während Kritiker*innen im alltäglichen Zusammenleben eine Reihe von Schwierigkeiten aufgrund von Migration behaupten, einschließlich negativer Folgen für die Zukunft des Stadtteils, Ortes und des Nationalstaates, bleiben die zahlreichen positiven sowie neutralen Aspekte von Migration nahezu unerwähnt oder werden als naive, politisch links gefärbte Ansichten gedeutet. Fakt ist, Migration ist kein ausschließlich zeitgenössisches oder temporäres, erst recht nicht ein befristetes Phänomen, denn bereits vor rund 60 000 Jahren migrierten erstmals Menschen, als sie den afrikanischen Kontinent verließen. Die Gründe hierfür, aber auch für anschließende Menschheitsbewegungen sind sehr vielseitig. Analog dazu ist Mobilität in der Gegenwart nahezu ausnahmslos multifaktoriell geprägt, gleichsam unterscheiden sich die individuellen Migrationsgeschichten, die ohne Hintergrundwissen über die Entscheidung zur Migration verdeckt bleiben. Selbst das spätere Sesshaftwerden in Folge der ersten landwirtschaftlichen Bewirtschaftung und Viehzucht war kein Garant dafür, dass die Vorfahr*innen auch tatsächlich ihr Leben lang vor Ort blieben. So beschreibt Erol Yıldız (2018a) die Idee, dass sich Menschen über Generationen hinweg an einem Ort aufhalten würden, als einen Mythos (vgl. S. 166). Menschen migrieren nicht erst seit gestern und gerade das Phänomen der globalen Migration ist kein neues, wenngleich sich die Spielfiguren samt ihrer Spielroutinen auf dem großen Schachbrett »Welt« laufend ändern. Wer die Schritte selbst setzen darf und wer Gefahr läuft, wie es im Schachjargon heißt, »ein Bauernopfer zu werden«, ist Teil eines höchst diffusen Machtkomplexes, der seine Legitimation in der Unterdrückung bzw. Bevormundung anderer sucht, auf der die eigene Höherbewertung fußt. Ungleiche Machtverhältnisse sorgen weltweit dafür, dass Menschen eine mögliche Migrationsentscheidung in Erwägung ziehen müssen, wenngleich sie sie unter anderen Umständen vielleicht selbst nicht forcieren würden. Wiederum andere haben den Wunsch, zu migrieren, und/oder setzen diesen in die Tat um. In den letzten Jahrhunderten wurden globale Migrationsbewegungen verstärkt praktiziert und ziehen sich hin bis in die Gegenwart. Nun werden einzelne Meilensteine von Migrationswanderungen der letzten Jahrhunderte skizziert. Jochen Oltmer (2016) beschreibt »Migrationen als räumliche Bewegungen von Menschen« (S. 9). Menschen bewegen sich konstant, jedoch nicht linear durch unterschiedliche Räume. Sie verlassen bekannte Orte und suchen unbekannte auf. Sie begeben sich

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Ärmer meint hier primär den sozialen, »kulturellen«, gesellschaftlichen Sinn und Gewinn, weniger den ökonomischen. Doch auch zur finanziellen Gewinnmaximierung innerhalb einer Gesellschaft trägt die unter anderem unfreiwillige Selbstständigkeit von Migrant*innen vielfach bei (vgl. Berner 2018).

2. Gesichter der Migration

nicht nur zwischen und innerhalb von Räumen umher, sondern sie schreiten auch zeitlich voran. Die Konstante des Raumes wird somit durch die Konstante der Zeit ergänzt. Folglich sind Migrationen nicht nur räumliche Bewegungen von Menschen (vgl. ebd.), sondern werden darüber hinaus durch die Zeitkonstante determiniert. Des Weiteren vollziehen sich Migrationen zirkulär und sind kontext-, situations- und subjektabhängig. Migrationsbewegungen spielen sich meist im Privaten ab. Daher werden sie von der breiten Gesellschaft erst dann registriert, wenn sie durch statistisch erfassbare, größere, quantitative »Datensätze« sichtbar gemacht werden (können). Ähnlich war es im Jahr 2015, als es weltweit große Fluchtbewegungen gab, die vor allem eine medial und politisch gezielte Problematisierung fanden (vgl. Schacht 2021, S. 9). Dass jedoch gerade die europäischen Staaten, also auch Österreich, einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Notwendigkeit haben, dass Menschen flüchten – Stichwort Waffenlieferungen in Kriegsgebiete sowie postkoloniale Gewalt- und Machtverhältnisse – wurde weitestgehend ignoriert. Dabei ist der direkte Zusammenhang unbestreitbar: Wir bauen unseren Wohlstand auf den Rücken von Ärmeren, sozial Schwächeren, Marginalisierten auf und vielmehr noch: Wir erschweren bzw. verwehren den sich »auflehnenden Ausgebeuteten« den Zugang in die »Festung Europa«31 , nachdem wir sie und ihre Lebensräume Jahrhunderte lang exploitierten (vgl. Sassen 2000). Die Historie zeigt richtungsweisend, dass es bereits im 15. Jahrhundert erste globale Migrationsbewegungen gab, die spätestens im 19. und 20. Jahrhundert an weiterer Relevanz und Brisanz gewannen. Im 15. Jahrhundert begannen indes große Zyklen der Auswanderung aus Europa, die sich schließlich im 19. und 20. Jahrhundert intensivierten. Migrationsbewegungen ebben in der Regel ab, nehmen wieder zu und vice versa. Kurzum: Migrationsbewegungen verändern sich fortlaufend. Erste Formen globaler Migration, datiert auf das 15. Jahrhundert, konnten einleitend nur durch »technologische (z.B. Schiffe, Waffen) und organisatorische Innovationen (z.B. Handelssysteme, Militärwesen)« (Oltmer 2016, S. 27) realisiert werden. Dazu kam »das nachhaltige Überschreiten intellektueller Horizonte (z.B. Weltbilder, wissenschaftliche Lehren)« (ebd.). Der Beginn und die Fortführung weltweiter Migrationen gründen also auf der Entwicklung und Weiterentwicklung komplexer Produkte in Form von Fortbewegungsmitteln und Waffen, die in neue Prozesse, Organisationen, Gesellschaftsordnungen bzw. Regime eingebettet sind und nicht zwangsläufig, aber häufig ideologisch auf akademischen Erkenntnissen und Forschungsinteressen fußen (vgl. ebd.). Während sich in der Frühen Neuzeit eine Vielzahl an Menschen aufgrund religiöser Verfolgungen außerstande sah, vor Ort zu bleiben, waren die Migrationen in den Folgejahrhunderten primär durch einen ökonomischen Impetus geprägt. Neben der Hoffnung auf ein besseres, weil sozial sicheres oder finanziell abgesichertes Leben, sind multifaktorielle Einflüsse, die biografisch oder familial bedingt sind, migrationsentscheidend. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden also zahlreiche gegensätzliche Wanderbewegungen vollzogen. In einem Zeitraum von rund 100 Jahren im sogenannten »langen« 19.

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Der Begriff »Festung Europa« ist in der kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung nicht unumstritten, da Europa punktuell Moderne Sklaverei (vgl. Reiners et al. 2016) befördert und in diesem Zusammenhang eine Durchlässigkeit für ausgewählte »Personengruppen« generiert.

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Jahrhundert (vgl. ebd., S. 11) verließen ca. 55 bis 60 Millionen Europäer*innen die spätere Festung Europa (vgl. ebd.). Die Migrationsbewegungen dieser Zeitspanne waren vorwiegend durch die Mobilität europäischer Auswander*innen geprägt, etwa im Zuge der Massenabwanderung aus Europa (vgl. ebd., S. 39) oder der zahlenmäßig geringen, jedoch weitreichenden Migration als Kolonisator*innen in die kolonial besetzten Gebiete (vgl. ebd., S. 66). Es liest sich geradezu zynisch, dass diese großen Migrationsbewegungen vornehmlich durch Europäer*innen bestritten wurden, die europäische Deutungsmacht hinsichtlich legitimer bzw. vermeintlich »illegitimer« Migration damals die dominante war und auch heute noch ist. Sie legt nämlich aus eurozentristischer Sicht fest, dass europäische Auswanderung, Remigration und Binnenmigration im Gegensatz zur europäischen Einwanderung den qualitätsvollen Unterschied ausmache. Renitent formuliert, entscheidet also die Frage, wer woher kommt und wohin wandert, über die Bruchlinie zwischen der gesellschaftlichen Akzeptanz und der Nichtakzeptanz des Migrierens sowie der Migrierenden. Die eurozentristische Perspektive zieht Differenzlinien dahingehend, ob man selbst potenziell zu den Auswander*innen gehöre oder den Einwander*innen als, nicht nur sinnbildlich32 gesprochen, »Soldat*innen Europas« gegenüberstehen würde. Frei nach dem Motto, dass die Reisefreiheit der behaupteten »Wir-Gruppe« für sich alleinstehe, jedoch keine automatischen Eingeständnisse für Migrant*innen, die nach Europa kommen wollten, bedeuten würde. Dabei war bereits den Vorfahr*innen bekannt, dass sich Migration als möglicher Aus- oder Zwischenweg aus einer prekären Lebenslage präsentieren kann. Bei den Frauen, Männern und Familien etwa, die es ab Beginn des 19. Jahrhundert von Europa weg nach Übersee zog, war diese Hoffnung entscheidungsleitend. Sie wurden vor allem durch lukrative Werbeaktionen angeworben. Diese Formen der Anwerbungen zielten darauf ab, – ähnlich wie im 20. Jahrhundert in Österreich und Deutschland – Arbeitskräfte zu gewinnen und zu verpflichten. Gerade der Arbeitsmarkt in den USA sowie in Kanada galten als vielversprechend, gar verheißungsvoll. Besonders die großen Massenverkehrsmittel wie Busse, Flugzeuge und auch moderne Schiffe, machten die Wanderungen dereinst bequemer und einfacher. Die großen Migrationsbewegungen der vergangenen Jahrhunderte waren und sind zirkulär, die persönlichen Gründe, zu migrieren, höchst divers. Ein gemeinsamer Nenner der großen Migrationen der letzten beiden Jahrhunderte sind quasi allgemeingültige Anreize, etwa soziale oder finanzielle, die eine große Masse von Menschen zeitgleich ansprachen. Vom frühen 19. bis hin zum Anfang des 20. Jahrhunderts wählten europäische Auswander*innen neben den begehrten Destinationen Amerika und Kanada unter anderem die Länder Südamerika, Australien, Neuseeland, Teile des südlichen Südamerikas und Sibirien als künftige (Zwischen-)Heimaten aus. (Vgl. Oltmer 2016, S. 45ff.) Gerade die sogenannte Transatlantik-Migration, also die Mobilitätsbewegungen, die sich zwischen den Orten über den Atlantik hinweg erstreckten, hatte zahlreiche Auswirkungen auf die Herkunfts- und Ankunftsgesellschaften. Ein- und Auswanderung wirkt ohnedies immer auf die Gesellschaft ein, auf die Migrant*innen und ihre Familien, die ihren Alltag im Ankunftsort reorganisieren müssen, besonders (vgl. Rotter 2019b, S. 231). 32

Nicht sinnbildlich, da Frontex, als selbst ernannte »Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache« aktiven Grenzschutz betreibt.

2. Gesichter der Migration

Die Bewegungen über den Transatlantik hinweg initiierten die Gründung und Etablierung eines »Neo-Europas« in Teilen des amerikanischen, australischen und asiatischen Kontinents (vgl. Oltmer 2016, S. 47). Migration nimmt nicht nur Einfluss auf die individuelle Vita des*der Einzelnen sowie der Bezugspersonen, sondern sie bringt auch gestalterisches Potenzial in die Gesellschaft ein. So erfahren öffentliche Gesellschaftsstrukturen kleinere und größere Erneuerungen und bisher nicht gekannte Lebensmittel, textile Produkte, aber auch neue Berufe sowie Sprachen ziehen in die gemeinsame Praxis der Öffentlichkeit ein. Ein Paradebeispiel, an dem die Veränderbarkeit von gesellschaftlichen Arrangements demonstriert werden kann, ist der Eissalon. Dieser wurde von italienischen Arbeitsmigrant*innen aufgrund von fehlenden Jobangeboten gegründet. Diese Orte der Kulinarik verströmten die stereotype und zugleich verniedlichende Form von »Bella Italia«, mit der die neuen Mitbewohner*innen zu spielen lernten und sie geschäftsmäßig verwalteten. Klischees über »den*die Gastarbeiter*in«, über »den*die Italiener*in« wurden umgedeutet und zum Verkaufsmodell in Form von Speiseeis gemacht. (Vgl. Möhring 2011, S. 154) Solche Formen der Veränderung sind vor allem für Städte nichts Ungewöhnliches, sondern vielmehr etwas Profanes, gar Banales. Diese neuen Ausrichtungen sorgen sogar dafür, dass gesellschaftlicher Wandel schneller konzipiert werden kann. Um- und Neugestaltungen von Gesellschaften spielten sich in der Vergangenheit selbsterklärend nicht nur in Europa ab, besonders weite Teile Asiens, vor allem China, wurden stark durch Mobilitätsbewegungen beeinflusst. Rund 11 Millionen verließen ab dem 19. Jahrhundert China, wovon ein Großteil der Migrant*innen nach Thailand, Borneo, Französisch-Indochina und auf die Philippinen auswanderte. (Vgl. Oltmer 2018, o. S.) Neben globalen und transnationalen Migrationen, unter anderem nach Neuseeland oder Australien (vgl. ebd.), wurde China auch stark geprägt durch interregionale Migration (vgl. S. 122) und Binnenmigration, exemplarisch in die Mandschurei (vgl. Oltmer 2016, S. 53). Die verschiedenen Arten der Migrationsbewegungen zeigen, dass sie sich widersprechen, dennoch ergänzen bzw. nebeneinanderstehen können. Das heißt, dass gleichzeitig Menschen territorial ein- oder auswandern, aber auch innerhalb des Landes durch Binnenmigration mobil werden können. Ab Ende des 19. Jahrhunderts bis in das 20. Jahrhundert gibt es innerhalb von Europa eine langsame, jedoch stetige und pauschale Verschiebung vom Auswanderungskontinent hin zu einem Erdteil der Zuwanderung, wie es auch bis in die Gegenwart zu konstatieren ist. Dass Europa, das zuvor von Auswanderung charakterisiert war, einen erheblichen Zuwachs an neuen Bewohner*innen verzeichnen konnte, hat unter anderem mit der zeitgleichen Verstrickung und Täter*innenschaft der europäischen Machtregime an der kolonialen Gewaltpolitik zu tun. Prominent war in dieser Hinsicht vor allem das (grausame) spanische Migrationsregime ab dem 15. Jahrhundert. »Entdecker« wie Kolumbus, die gerne mit Pionier*innengeist und Abenteuerlust assoziiert werden, tragen ihren Anteil am Hype bei, genauso an der Repression von Menschen und an der räuberischen Erbeutung von Land und Rohstoffen. Für Hanschmann (2012) ist Kolonialismus ein »System als auch eine Beziehung von Herrschaft, bei der ausländische Kolonisatoren nach Eroberung eines bestimmten Territoriums die einheimische Bevölkerung durch spezifische koloniale Techniken, einschließlich militärischer und polizeilicher Gewalt, bei Aufrechterhaltung ökonomischer

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Abhängigkeit regieren« (S. 144). Diese Machtregime manifestieren Unfreiheit, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Die kolonialen Gewaltregime waren Portugal, das bereits genannte Spanien, die Niederlande, das Vereinigte Königreich, Frankreich, Dänemark mit Norwegen und erst »relativ spät«, aber nicht minder brutal, ab dem 19. Jahrhundert Italien, Deutschland und Österreich.33 Europas Herrschende hatten zuvor Menschen auf die Nachbarkontinente geschickt, um sie dort in den Kolonien arbeiten zu lassen und Reichtum für die Herkunftsnation zu sichern. Die koloniale Politik wirkte sich einschneidend auf die Menschen in den kolonialen Gebieten, aber auch auf das Alltagsleben der damaligen Bevölkerung in den europäischen Städten aus. In den europäischen Hafenstädten fehlten aufgrund der Abwanderung in die unrechtmäßig besetzten Orte qualifizierte Arbeiter*innen, die rückwirkend wiederum verpflichtet werden sollten, nach Europa zurückzukehren. Daraus resultierte im Umkehrschluss die groß organisierte Remigration gen Europa. Zweifelsohne lässt sich eine Verschränkung zwischen den Handlungen der Kolonialgewalten und ihren Effekten auf die kolonisierte Bevölkerung sowie hinsichtlich des späteren Migrationsverhaltens attestieren. Weitere Intention war es, das Wirtschaftswachstum durch Vereinnahmung der Rohstoffe, die in den Kolonien geraubt wurden, anzuleiten. Strukturelle und körperliche Gewalteinwirkung an den Kolonialisierten, die Aneignung und Enteignung ihrer Körper als Arbeitskraft (vgl. Marx 1872, S. 152) bestimmte den gewaltvollen Alltag der Menschen in den Kolonien. Die Bevölkerung hatte kaum Möglichkeiten, sich der Realität der Unterdrückung zu entziehen, hatte immense Sterberaten zu verzeichnen und Menschenrechtsverletzungen zu beklagen. Die These, es habe trotz kolonialer Besatzung kollektive und individuelle Formen des Widerstandes gegen die Kolonialgewalten – sowohl auf Mikro- als auch auf Makroebene – gegeben, ist eingängig. Gerade Aufzeichnungen über den sogenannten Boxeraufstand sowie die Kämpfe der Hereros und Nama bestätigen dies zusätzlich. Der Boxeraufstand34 beispielsweise war Resultat einer tätlichen und schonungslosen impliziten und expliziten Gewaltpolitik europäischer Staaten in China. Ihr Interesse lag primär in der ökonomischen Nutzbarmachung der Handelsmöglichkeiten. Darüber hinaus wurde eine kategorische christliche Missionierung bezüglich der chinesischen Bevölkerung verfolgt. Der Boxeraufstand war die Reaktion der Mitglieder einer chinesischen Geheimorganisation, die im Kampfsport sehr versiert waren und von den Europäer*innen als »Boxer« bezeichnet wurden, auf eben diese menschenrechtsverletzenden Vergehen. Wenngleich die chinesischen Kämpfer*innen, auch Frauen waren daran beteiligt, den Widerstandskampf gegen den Zusammenschluss mehrerer europäischer Länder verloren, ist er ein Beispiel für subversive und widerständige Formen, mit denen sich die Unterdrückten gegen Repressionen zur Wehr zu setzen versuchten. Auch nach dem blutigen Ende des Aufstandes wurde die koloniale und imperialistische Repräsentation von Macht und Herrschaft weitergetragen, etwa durch den Bau des »deutschen Hongkong« in der Region Kiautschou mit der heutigen Hauptstadt Tsingtao. Dort startete, im Auftrag von Kaiser Wilhelm des Zweiten, der Versuch, die Örtlichkeiten nach 33 34

Sauer (2002) beschreibt, dass die österreichische Monarchie, wenngleich sie »keine antikoloniale Macht« (S. 18) war, imperialistisch handelte und erheblich von der kolonialen Politik profitierte. Boxeraufstand ist eine deutschsprachige Bezeichnung, die sich historisch durchgesetzt hat.

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»deutschem Vorbild« zu gestalten, etwa mit einer Seepromenade, einer Brauerei35 , Kasernen und Schulen. Erst in den 1920er Jahren wurden die besetzten Gebiete an China »zurückgegeben«. Neben den Boxer*innen und der chinesischen Zivilbevölkerung kämpften auch die indigenen Völker der Hereros und Nama (vgl. Lowry 2006; Heinemann 2016) für ihre Rechte und gegen die militante sowie entmenschlichende Unterdrückung während der deutschen Kolonialherrschaft. Wohnhaft im heutigen Namibia, das von 1884 bis 1915 als »Schutzmacht Deutsch-Südwestafrika« umbenannt worden war (vgl. Heinemann 2016, S. 461), praktizierten die Hereros Widerstand in Form von Aufständen und offenen Feldschlachten (vgl. Zimmerer 2003, S. 54). Die Nama organisierten sich in Guerillakämpfen, um sich, ihre Familien und die Gebiete, auf denen sie lebten, zu verteidigen. Der zwischen 1904 und 1908 verübte Genozid an den Herero und Nama wurde lange Zeit nicht als Völkermord definiert, wenngleich die Fakten eine andere Sprache sprechen (vgl. ebd., S. 52). Am 11. August 1904 begann am Waterberg die »eigentlich genozidale Phase […], denn die deutschen Truppen trieben nun die Herero zangenförmig in Richtung Omaheke vor sich her. […] Deutsche Soldaten besetzten deshalb systematisch die bekannten Wasserstellen entlang des Wüstensaums, und Anfang Oktober ordnete von Trotha36 in seiner berüchtigten Proklamation zudem an, alle aus der Omaheke zurückkehrenden Hereros zu erschießen« (Zimmerer 2003, S. 50f.). Die Mehrheit der Fachhistoriker ist sich einig, dass es sich bei dem Krieg der deutschen »Schutztruppen« gegen die Herero und Nama um einen Völkermord gehandelt habe. Diese Sicht hatte sich in internationalen akademischen Zirkeln um die Jahrtausendwende weitgehend etabliert, nicht jedoch im öffentlichen und politischen Diskurs. (Eckert 2018, S. 158) Von Trotha initiierte die Auslöschung der gesamten Bevölkerung, indem er eine Vernichtungspolitik (vgl. Zimmerer 2003, S. 54) forcierte, in der er neben der militärischen Bekämpfung der Bevölkerung Internierungslager beschloss – Zimmerer spricht dezidiert von Konzentrationslagern, »dienten sie doch bewusst der Inhaftierung nicht nur von Kombattanten, sondern auch von Frauen, Greisen und Kindern. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass es sich um einen Krieg gegen ganze Völker handelte« (Zimmerer 2003, S. 55). In den Lagern kam es zu einem »Massensterben von Internierten« (ebd., S. 58), weshalb der Völkermord als Vorgeschichte des Holocaust (ebd., S. 60) analysiert wird, der als »ein herausgehobenes Ereignis in einer globalen Geschichte der Entfesselung der Gewalt [gelesen werden muss], wie sie in den beiden Weltkriegen ihren Höhepunkt finden sollte« (ebd., S. 63).

35 36

Die gleichnamige und global bekannte Tsingtao-Brauerei bzw. -Marke befindet sich heute noch dort. Lothar von Trotha war Oberbefehlshaber in den kolonialen Kriegen in Deutsch-Ostafrika, China und Südwestafrika (vgl. Zimmerer 2003, S. 49). Seine rassistische Vorstellung zum »Rassenkrieg« (ebd.), seine martialischen Befehle und Repressionen machen ihn zu einem Hauptverantwortlichen am Genozid an Nama und Hereros.

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Sehr spät, erst 2015 erkannte auch die deutsche Bundesregierung den Völkermord an Nama und Hereros als solchen an (vgl. Heinemann 2016, S. 461f.), Reparationszahlungen woll(t)en und soll(t)en jedoch nicht gezahlt werden. Stattdessen wurde vonseiten des deutschen Staates auf das jahrelange Tätigen von kompensatorischen Zahlungen in Form sogenannter »Entwicklungshilfen« für das gesamte Namibia hingewiesen. Repräsentant*innen beider namibischer Bevölkerungsgruppen sehen ihre Forderungen dadurch nicht erfüllt, sondern ehestens verschoben, und wählten daher den juristischen Weg. Sie klagten das 2007 von der UNO beschlossene und auch von Deutschland unterschriebene Gesetz zur »Erklärung der Rechte indigener Völker« ein, das festlegt, dass ihnen eine Beteiligung an internationalen Gesprächen z.B. über Kolonialverbrechen und Kriegsschuld zustehe (vgl. F. Rosenthal 2018, S. 226). Des Weiteren enthält das Gesetz den Passus, dass indigene Bevölkerungen anderen Bevölkerungen rechtlich gleichgestellt seien.37 Eine rechtlich verankerte Gleichstellung verkommt jedoch zu einer Farce, wenn die gewaltvolle historische Kolonialpraxis nicht aufgearbeitet wird, die Machtachsen zwischen ehemaligen Kolonist*innen und Kolonialisierten ungleich bleiben und damit rassistische sowie diskriminierende Praktiken reproduziert werden. Umso bedeutender ist die juristische Forderung nach Reparationszahlungen, die die Vertreibung und Ermordung der Menschen niemals aufwiegen, aber – Generationsfolgen später – postkoloniale Narrative und Diskurse, insgesamt intergenerationelle dekolonisierende Erinnerungskonzepte fordern bzw. fördern kann. Vertreter der Herero und Nama haben inzwischen den Weg der Klage vor einem New Yorker Gericht beschritten, um Reparationen zu erstreiten. Offenbar war die namibische Delegation sehr verärgert über die paternalistische Haltung der deutschen Verhandlungsvertreter, die von Anfang klarstellten, dass sie zwar keine Entschädigungen zahlen, aber möglichst vor den Bundestagswahlen eine offizielle Versöhnung erreichen wollten. Insgesamt bleibt der Befund, dass wir es weiterhin mit einer Amnesie der deutschen Kolonialgeschichte zu tun haben […]. (Eckert 2018, S. 159) Im ersten Prozess, aber auch in späteren Verfahren, die sich bis 2019 hinzogen, erhärtete sich der Eindruck, dass die deutsche Politik die Anklage seitens der Herero und Nama kaum ernst nahm, so erschien bei der ersten Anklageerhebung weder der deutsche Vertreter vor Gericht noch wurden glaubhafte Gegenangebote unterbreitet. Einerseits geht es den indigenen Bevölkerungen in ihren Forderungen um finanzielle Entschädigungen, andererseits steht vor allem ihr Recht auf Mitsprache und Deutungshoheit im zwischenstaatlichen Dialog zwischen den heutigen Ländern Namibia und Deutschland im Mittelpunkt. So formulierte Esther Muinjangue (Muinjangue zit.n. Ziegs 2018, o. S.), Vorständin der »Ovaherero/Ovambanderu Genocide Foundation Namibia«, den Anspruch der Herero- und Nama-Bevölkerung wie folgt: Das einzige, was wir wollen, ist, das Menschenrecht auszuüben, für sich selbst zu sprechen. Wir verweigern der namibischen Regierung nicht den Platz am Verhandlungstisch. Sie kann ihren Fall vorbringen, obwohl ich nicht weiß, welcher das sein soll. 1904

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Siehe dazu den Text der Deklaration, der sogenannten RESOLUTION 61/295 (vgl. Human Rights 2016).

2. Gesichter der Migration

gab es keine nationale Regierung. Es gab Volksgruppen, die von traditionellen Führern geleitet wurden. Und die wurden von den Deutschen anerkannt, denn schließlich haben sie mit ihnen Verträge geschlossen. (Ebd., o. S.) Solche Vertragsabschlüsse, auf die Muinjangue hinweist, begründen unter anderem die Legitimation der Herero und Nama, ihre Anliegen vor Gericht vorzubringen. Die wichtigste Argumentation ist aber eine moralisch-ethische, die den Genozid mit all seinen menschenrechts- und verfassungswidrigen Verletzungen anerkennt, die Täter*innenschaft der »Schutzmacht«, die nicht schützte, sondern bekämpfte, klar benennt und ernsthafte koloniale Aufarbeitung betreibt. Die Taten der Kolonialgewalt gelten jedoch als verjährt, wenngleich Völkermord nicht verjähren dürfe und weitere mögliche Klageschritte kaum juristisch erfolgreich seien. Moralisch verjährt Völkermord nicht! Ein nicht unerhebliches, wenn auch zunächst zynisch anmutendes Motiv für das schrittweise Einlenken der Bundesregierung dürfte auch die Erkenntnis gewesen sein, dass […] eine Haftung […] über hundert Jahre nach den Geschehnissen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist. Den heute noch lebenden Herero und Nama stehen nämlich weder nach innerdeutschem noch nach Völkerrecht Entschädigungsansprüche gegen das heutige Deutschland zu. (Heinemann 2016, S. 462) Das Sterben kolonialer Strukturen und damit allmählich auch der kolonialen Idee kann nur erreicht werden durch sukzessive Aufarbeitung, sowohl auf globaler, gesamtgesellschaftlicher, (zwischen-)staatlicher, (völker-)rechtlicher, wissenschaftlicher, (bildungs-)institutioneller als auch auf musealer, familiärer und biografischer Ebene. In dieser Hinsicht wurden in den letzten Jahrzehnten Fortschritte gemacht, dennoch wird der koloniale Impetus weitergetragen, was sich etwa an Redensarten wie »Hier geht es zu wie bei den Hottentotten« ablesen lässt, die als Teil des deutschsprachigen Wortschatzes fehlinterpretiert und unreflektiert intergenerationell weitergegeben werden. Die Redensart prangert (behauptete) chaotische und unordentliche Zustände der Angerufenen an und wertet sie damit zutiefst ab. Der Begriff hat seinen Ursprung im 17. Jahrhundert und wurde erstmalig im niederländischen kolonialen Sprachgebrauch gebraucht. (Vgl. Kattner 2003, S. 88) Er fasst diverse südafrikanische Gesellschaften zusammen und bringt sie mit Zuschreibungen »wie ›Unordnung‹ und ›Primitivität‹« (Kattner 2003, S. 88) in Zusammenhang. Begriff und Redensart sind Ausdruck der Etablierung kolonialer Sprachmacht innerhalb scheinbar »banaler« Redensarten und Sprechweisen. Ihre Verwendung offenbart sowohl die aktuelle Verstrickung in den kolonialen Diskurs als auch die defizitäre Sichtweise der damaligen Kolonialgewalt auf die einheimische Bevölkerung. Werden sie weiterhin sprachlich reproduziert, besteht auch die koloniale Idee weiter fort. Ferner müssen im gegenwärtigen Stadtbild Überbleibsel kolonialer Machtverhältnisse sichtbar gemacht werden, die den Bewohner*innen zumeist als »normaler«, weil alltäglicher Teil des Stadtviertels präsentiert werden. Demnach findet im Alltag selten ein Nachdenken darüber statt, ob die bekannten Straßennamen nicht (offensichtlich) Ausdruck rassistischer, kolonialer und damit menschenfeindlicher Historie seien und somit kategorisch ersetzt werden müssten. Ein trauriges Beispiel ist der noch aus der

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Postmigrantische Generation

Kolonialzeit stammende Straßenname »Mohrenstraße«38 in Berlin. Nach einem rund viertel Jahrhundert andauernden Aufbegehrens vonseiten der Bündnisse »Decolonize Mitte« und »Decolonize Berlin«, die laut- und symbolstark für die Neubezeichnung kolonialrassistischer Plätze, Straßen und Gassen kämpfen, fiel im Spätsommer 2020 in der Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Mitte die Entscheidung, die Umbenennung in Anton-W-Amo-Straße hin zu erwirken. Seit Jahren nämlich weisen Mitglieder der Vereine auf die rassistischen Benennungs- und Alltagspraxen im öffentlichen Raum hin. Ihr Vorschlag zu einer Umbenennung der M*Straße in Anton-W-Amo-Straße, der auf Anton Wilhelm Amo, den »ersten Schwarzen Akademiker in Deutschland und Preußen« (vgl. Decolonize Mitte 2019, o. S.) hinweist, wurde angenommen, wenngleich rund 1 300 Widersprüche, die bis Juli 2021 bei der zuständigen Behörde eingingen, das Bild trüben und den Prozess der Dekolonisierung Berlins verzögern, wohl aber nicht mehr verhindern können. Die Umbenennung der M*Straße ist entgegen der Auffassung von Gegner*innen nicht von ›einer kleinen, wenig informierten, antikolonialistischen Gruppierung forciert‹ worden, sondern von Menschen, die von Rassismus betroffen sind und weißen Unterstützenden. Ihre Expertise speist sich aus ihrer Rassismuserfahrung und hier wäre es geboten, dies zur Grundlage der Debatte zu machen. Jedes Mal, wenn die Haltestelle in der U-Bahn aufgerufen wird, werden Betroffene rassistisch diskriminiert – das muss geändert werden. (Della/Decolonize Berlin 2021, o. S.) Des Weiteren konnten die Bündnisse in den vergangenen Jahren bereits Erfolge verzeichnen, so gelang es ihnen zum einen, einer breiten Öffentlichkeit die dekolonialisierende Perspektive und zugleich eine neue Kultur des Umgangs mit Kolonialverbrechen, zugleich im Sinne einer Würdigung von kolonialen Widerstandkämpfer*innen sowie den Opfern, näherzubringen. Zum anderen fanden tatsächlich Umbenennungen statt, z.B. bezüglich eines Platzes und einer Straße, deren Namengeber koloniale Verbrecher wie Adolf Lüderitz39 waren. (Vgl. Decolonize Mitte 2017, o. S.) Eine Umbenennung öffentlicher Straßennamen ist ein langwieriger, juristisch und bürokratisch aufwändiger, ein mitunter zermürbender Prozess40 , der definitiv keine Erfolgschancen garantiert, wie es die ehemalige »Petersallee« in Berlin zeigt: Die Allee erinnerte an den deutschen Kolonialverbrecher Carl Peters. Nach zahlreichen Protesten zivilgesellschaftlicher Organisatio-

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Diese Bezeichnung verwende ich einmalig, um die Leser*innen über diese Problematik zu informieren. Im Folgenden schreibe ich »M*Straße«, um die Fortschreibung der rassistischen Benennungspraxis nicht zu unterstützen. Oder mit den Worten von Kopp und Aikins zusammengefasst: »Warum umbenennen? Der Straßenname diskriminiert Schwarze Menschen. Er geht auf die Zeit ihrer Versklavung und ihres unfreiwilligen Dienstes am Berliner Hof zurück. Der Begriff M* ist bis heute negativ konnotiert« (Kopp/Aikins, o. D.). Lüderitz war deutscher Landbesitzer im heutigen Namibia und Kolonialbegründer. Er ist mitverantwortlich für die Ausbeutung von Bewohner*innen Namibias und den dortigen Bodenschätzen. Die Lüderitz-Straße wurde in Cornelius-Frederiks-Straße umbenannt. Cornelius Frederiks gehörte neben Jacob Marengo, Hendrik Witbooi und Abraham Morris »zu den herausragenden Persönlichkeiten, die den Guerillakampf der Nama gegen die deutschen Schutztruppen befehligten« (Hillebrecht 2003, S. 127).

2. Gesichter der Migration

nen wurde sie umgewidmet41 , bevor sie letztlich in zwei neue Alleen umbenannt wurde: die Anna-Mungunda-Allee und die Maji-Maji-Alle. Erstere erinnert an Anna Mugunda, Pionierin des namibischen Unabhängigkeitskampfes, Angehörige der Herero und namibische Nationalheldin (vgl. Akawa 2014, S. 68). Die Benennung als Maji-Maji-Allee, die den Maji-Maji-Krieg der tansanischen Bevölkerung im Zeitraum von 1905 bis 1907 gegen die deutsche Kolonialherrschaft markiert (vgl. Monson 2010, S. 32), kann als postkolonialer Versuch gegen das Verdrängen und Vergessen im kollektiven Gedächtnis hinsichtlich deutscher Kolonialgewalt gelesen werden. Dass eine eigene, zivilgesellschaftliche Initiative von Nöten ist, die menschenfeindliche Namensgeber*innen anprangert, bestätigt, dass der koloniale Impetus in der Öffentlichkeit wie selbstverständlich andauert, solange die kolonialen Hintergründe nicht sichtbar gemacht und ihre rassistischen Strukturen nicht aufgedeckt werden. Dekoloniale und postkoloniale Gegenentwürfe zivilgesellschaftlicher Art sind also unerlässlich, da die Auswirkungen des Kolonialismus noch aktuell fortbestehen. In wissenschaftlicher Hinsicht sind postkoloniale Ideen, an die die postmigrantische Analyseperspektive anknüpfen kann (vgl. Foroutan 2018a, S. 163), richtungsweisend. Genauso gilt es, Ungleichheiten und Ungleichheitserfahrungen aufzudecken, die hinter der Chiffre Migration bzw. migrantisch verschwinden. Zwischen einer postkolonialen und einer postmigrantischen Perspektive können Parallelen gezogen werden, weswegen dieser Exkurs zu Aspekten historischer Migrationen notwendig ist. »Das Menschenrecht auszuüben, für sich selbst zu sprechen«, wie Esther Muinjangue (Muinjangue zit.n. Ziegs 2018, o. S.) betont, ist somit ein Paradigma, das die vorliegende Forschungsarbeit im besonderen Maße begleiten soll und in den Fallrekonstruktionen verstärkt vollzogen wird. Weitere Erscheinungsformen großer globaler Migrationsbewegungen, auf die an dieser Stelle verkürzt hingewiesen werden soll, sind jene während der beiden Weltkriege und jene in der Nachkriegszeit. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialist*innen mussten Millionen von Menschen aufgrund ihrer religiösen oder sozialen Herkunft, ihrer sexuellen Orientierung sowie politischen Einstellung fliehen. Die Flucht- und Migrationsbewegungen, etwa in Form von innerstädtischen, transnationalen und interkontinentalen Mobilitäten sowie Remigrationen im 20. Jahrhundert formierten neue Gemeinschaften, schufen aber auch neue gesellschaftliche Trenn,- Diskurs- und Konfliktlinien. Gesellschaften jedoch, in denen Migrationen illegalisiert werden, können langfristig nicht fortbestehen, was stellvertretend am sogenannten Sakoku, also der 200 Jahre langen Abschließung Japans vor der Welt zwischen den 1636er und 1853er Jahren, nachvollziehbar gemacht werden kann. In der Zeit des Sakokus durfte niemand aus Japan aus- geschweige denn einreisen. Grund hierfür war der Beschluss der japanischen Tokugawa-Herrscherfamilie, das Land vor äußeren Einflüssen, vor allem der »Ausweitung europäischer Konflikte nach Japan« (vgl. Pohl 2002, S. 55) und vor dem zunehmenden Zuzug sowie dem Erfolg christlicher Missionare (vgl. ebd.) »zu schützen« und damit möglichst eine homogene Gesellschaft und Kultur beizubehalten:

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Die Umwidmung, die von Kritiker*innen als unzureichend bzw. fadenscheinig interpretiert wurde, galt Hans Peters, der seinerseits Politiker der CDU und im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv war. Da die Umwidmung nicht rechtskräftig beschlossen worden war, konnte eine Umbenennung in Anna-Mugunda-Allee und Maji-Maji-Allee erwirkt werden.

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Postmigrantische Generation

In Zukunft durfte kein Japaner mehr das Land verlassen, kein katholischer Christ durfte das Reich des Shogun42 betreten, und der gesamte Außenhandel wie auch die diplomatischen Beziehungen mussten über die Hafenstadt Nagasaki laufen […]. Zusammen mit der Handelsniederlassung chinesischer Kaufleute waren die Holländer für mehr als zweihundert Jahren die einzigen, die regelmäßig Kontakt zum Hof […] hielten. (Pohl 2002, S. 56) Diese Entscheidung hatte zur weitreichenden Folge, dass sich die japanische Gesellschaft kaum veränderte, relativ unterschiedslos und homogen in Herkunft, Status, Sozialisation, Konfession, Profession etc. geblieben war. Es bedeutete dereinst, dass sich die Bevölkerung als Querschnitt betrachtet wegen fehlender Einflüsse von außen kaum wandeln konnte. Aktuell ist die Zusammensetzung der japanischen Bevölkerung, das erklärt sich aus der historischen Entwicklung, weniger stark von Dynamiken der Vielheit und der Verdichtung durch Mobilitätsbiografien geprägt als andere asiatische Gebiete. Migration und die daraus resultierenden Felder Wandel und Diversität fordern und fördern nämlich im Gegensatz zu Japans Beispiel Prozesse der Weiterentwicklung. Die Kriminalisierung und Illegalisierung von Migration hingegen schafft einen in der Gegenwart alle gesellschaftlichen Bereiche umfassenden Stillstand und Stagnation. Wesentlicher noch: Sie verwehrt neue Perspektiven auf innovative Gesellschaftskonzepte, die vor allem für die Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Interesse wären. Die jüngere Migrationsgeschichte Tirols und Österreichs ist zum einen durch die Fluchtbiografien der letzten Jahre, speziell seit 2015, geformt worden. Zum anderen sind vor allem die späten 1960er bis 1970er Jahre durch den Zuzug der Pionier*innen hervorzuheben. Eine Besonderheit ist, dass sowohl die Familienzusammenführung als auch die Neugründung von Partnerschaften und familialen Gemeinschaften nicht nur innerfamiliäre sowie intergenerationelle Effekte hatte. Sondern sie führte auch zu einer Reaktualisierung von Ressourcen, einer Ausdifferenzierung von etablierten und neuen Ansprüchen, zu innovativen Prozessen der Aushandlung der Rechte und Pflichten im öffentlichen Raum sowie einer Steigerung der Pluralität der Gesellschaft. In der Regel kamen mit der Familienzusammenführung die Ehefrauen, Verlobten und/oder die Kinder nach Österreich, was insbesondere auf familialer und sozialer Ebene große Bedeutung hat. Für Frauen war der Nachzug dahingehend ein Nachteil, da sie in den ersten 5 Jahren vor Ort keine Arbeitsbewilligung erhielten und ihnen daher der Anspruch auf staatlich geförderte Sprachkurse, Aus- oder Weiterbildungen verwehrt wurde, weswegen eine Vielzahl der Angekommenen sich dazu verleitet sah, in Nischen, wie etwa der illegalen Arbeit im privaten Haushaltssektor beschäftigt zu sein. (Vgl. Korun 2004, S. 75) Der zynische Spruch »Gute Gäste gehen wieder!« steht der Tatsache, dass sich die drei und mittlerweile teilweise auch vier Generationen in die Gesellschaft eingegliedert haben, als Paradoxon gegenüber. Die Anwerbeabkommen der Pionier*innen waren zwischenstaatlich geregelt (vgl. Sala 2011; Oltmer et al. 2012). Ausnahmen bildete die Mund-

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Shogun war ein in Japan bekannter Ehren- und Militärtitel, der ausgewählten adligen Samurais verliehen wurde.

2. Gesichter der Migration

zu-Mund-Propaganda zwischen Arbeitsmigrant*innen vor Ort und Bekannten, die sich noch im Herkunftsland befanden (vgl. Grasl-Akkilic et al. 2019). Als der Arbeitsmarkt nicht mehr auf die Arbeiter*innen angewiesen war – der wirtschaftliche und ökonomische Bedarf stand ganz klar im Vordergrund und nicht gleichberechtigte Teilhabe –, wurde die staatliche Verpflichtung abrupt eingestellt bzw. stark vernachlässigt. Die zuvor Angeworbenen hatten sich Existenzen aufgebaut und mussten nun eigenhändig, individuell und mithilfe ihrer selbst geschaffenen Netzwerke auf die veränderte Arbeitssituation vor Ort reagieren. Trotz prekärer Lebensumstände blieben Menschen im Ankunftsort, denn ihre Kinder begannen beispielsweise die Bildungslaufbahn zu absolvieren. Diese Form der Arbeitsmigration am Beispiel Tirols sowie ihre Auswirkungen auf die Biografien der jungen Erwachsenen der postmigrantischen Generation werden im vierten Kapitel diskutiert. Eine weitere Form von Migrationen im späten 20. und im 21. Jahrhundert lässt sich verkürzt auch als Arbeitsmigration bezeichnen. Sie unterscheidet sich jedoch von der »Gastarbeit«, da sie nicht zwischenstaatlich organisiert und weniger auf ein großes Kollektiv ausgerichtet war und ist, sondern primär einzelne, meist gut ausgebildete Subjekte, die ihre berufliche Verwirklichung woanders suchen, umfasst. Die größte Gruppe der Einwander*innen in Tirol bilden Deutsche, gefolgt von Südtiroler*innen. Wenngleich diese in der Regel, im Gegensatz zu einer Pionier*familie, nicht auf eine mehrgenerationelle Verflechtung in Tirol zurückblicken können, werden sie im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs kaum als »Migrant*innen« oder als Menschen mit Migrationsgeschichte wahrgenommen. Sie werden durchaus mit Stereotypen, die eine lange Tradition haben und auf das einzelne Subjekt durchaus verletzend wirken können, belegt, aber erfahren nicht die verschärften und diskriminierenden Formen einer Fremddeutung, geschweige denn rassistische Zuschreibungen. Aufgrund einer gemeinsamen Sprache und einer behaupteten ähnlichen »kulturellen Prägung«, wenngleich die Definition einer solchen nicht vorgenommen, sondern als gegeben aufgefasst wird, wird eine Differenzierung vorgenommen zwischen Dazugekommenen, die vertrauter, und jenen, die weniger vertraut seien. Aktuell wird seitens der Politik und der Wirtschaft von einem Mangel an Facharbeiter*innen, besonders in der Gastronomie und der Pflege, gesprochen. Staatliche Anwerbungen im großen Stil, ähnlich wie ab den 1960er Jahren, werden jedoch gegenwärtig nicht forciert, davon abgesehen darf das Prinzip der (ökonomischen) Nützlichkeit nicht mehr wiegen als jenes der Humanität. Leider ist das »gefühlte Bleiberecht«43 stark an die Arbeit, den Kontext der Bildung oder an die Herkunft gekoppelt. Dieser Missstand hängt auch damit zusammen, dass sich Österreich ähnlich wie Deutschland erst sehr spät dazu bekannte, ein Einwanderungsland zu sein (vgl. Foroutan 2018b, S. 20). Fakten belegen, dass Österreich bereits vor und seit seiner Gründung, etwa als ehemaliger »Vielvölkerstaat« sowie Tirol als Region im Speziellen, durch Migration konstituiert sind (vgl. dazu exemplarisch Amoser 2017, S. 89; Hetfleisch 2017a, S. 33; Schneider 2017, S. 23). Dabei war eben diese Benennung, Einwanderungsland zu sein, die zugleich die Anerkennung der Neuankömmlinge signalisiert, ein wesentlicher Schritt, 43

Mit gefühltem Bleiberecht ist die vorurteilsbeladene Außenwahrnehmung gemeint, der sich Migrant*innen und ihre Nachfolgegenerationen mitunter ausgesetzt fühlen und in deren Logik »mitentschieden« und emotionalisiert wird, wer das »Recht« habe, vor Ort zu bleiben.

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um partizipative Prozesse zu initiieren und voranzutreiben. Erst wenn Teilhabe auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen angestrebt wird, können auch alle, die hier leben, als Erinnerungsträger*innen agieren und ihre jeweiligen Erinnerungskulturen in eine gemeinsame, kollektive Praxis einspeisen. Denn ein*e Migrant*in ist kein ahistorisches Subjekt (vgl. Rupnow 2019, S. 18), sondern bringt ihre*seine Geschichte mit in die Gemeinschaft ein. Deswegen ist es maßgebend, den Blick für Migration als bedeutenden Motor für gesellschaftlichen Wandel zu schärfen und nicht so zu tun »als hätte Migration keine Geschichte und Migrant/innen keine Geschichten, als hätte Migration nicht immer schon Gesellschaft und Kultur verändert« (Rupnow 2019, S. 18). Solange Menschen, die migrierten und/oder ihren (Enkel-)Kindern keine Geschichte zuerkannt wird, werden sie »Fremde« bleiben (vgl. Rupnow 2019, S. 19).44 Migration ist ein Konstituens der Conditio humana, wie Geburt, Vermehrung, Krankheit und Tod. Die Geschichte der Wanderungen ist so alt wie die Menschheitsgeschichte; denn der Homo sapiens hat sich als Homo migrans über die Welt ausgebreitet. (Bade 2002, S. 55) Zahlen und Daten können einen Eindruck über die Größe, die Intensität von Migrationsbewegungen, über die globalen und glokalen Migrationszusammenhänge geben, z.B. Naturkatastrophen oder Kriege als primäre Fluchtursachen. Aber sie können keine Erfahrungsberichte in Form biografischer Narrationen liefern. In der bisherigen Abhandlung und auch in der folgenden bezüglich des Phänomens der Alltäglichkeit der Migration interessieren mich weniger die Darstellungen von großen »Migrationszahlen«. Ziel ist es viel mehr, wesentliche Bewegungen exemplarisch zu skizzieren, um darauf aufbauend die biografischen Erzählungen von Menschen sprechen zu lassen, deren Leben durch, aber nicht ausschließlich durch Migration geprägt sind. Zahlen und tabellarische Darstellungen können einen Eindruck über Mobilitätsphänomene vermitteln, mehr jedoch nicht. Um individuelle und familiäre Migrationserfahrungen zu präzisieren und ihren Mehrwert für die postmigrantische Gesellschaft nachzuvollziehen, braucht es in jedem Fall biografische Auskünfte. Im nächsten Schritt wird Migration als alltägliches Phänomen fokussiert.

2.2.2 Migration als alltägliches Phänomen Migration als soziohistorische Normalität kann als zentrales und historisch fundiertes Fundament betrachtet werden, auf dem sich postmigrantische Lebensentwürfe in ihrer Alltäglichkeit etablieren können. Postmigrantisches Alltagsleben baut demnach prominent auf der soziogeschichtlichen (Argumentations-)Linie von Migrationsbewegungen und der bis dato geführten (diskursiven) Kämpfe rund um das Verhandeln von Diversität und Mobilität auf (vgl. Bojadžijev 2012). Wenn im öffentlichen und teilweise auch im wissenschaftlichen Diskurs von Migration gesprochen wird, ist nach Karin Cudak und Wolf-Dietrich Bukow (2016) zwangsläufig der Umgang mit Mobilität und Diversität vor einem nationalstaatlichen Referenzrahmen gemeint (vgl. ebd., S. 2ff.). Migrationsbewegungen sind gleichzeitig ohne Mobili44

Ausführlicher dazu Brunner et al. 2018.

2. Gesichter der Migration

tät nicht möglich und bringen automatisch Diversität mit in die Gesellschaft ein. In der nationalstaatlichen Denkweise werden sowohl Migration als auch Diversität problematisiert, wenngleich in unterschiedlicher Intensität bzw. Konnotation. Das heißt, Migration wird als »Bedrohung« der einheitlichen Nation, der einen Sprache, der homogenen Gemeinschaft verlautbart und als »Migrationsströme«, als handelte es sich um eine anonyme Masse, entmenschlicht. Mobilität wiederum wird selten mit Migration assoziiert45 , sondern nur der Wir-Gruppe zuerkannt. Diversität nun wird als gefährliches Resultat und Mitbringsel von vor allem illegaler Migration/Flucht geltend gemacht. Dabei gehören Migration, Mobilität und Diversität zusammen, sind schwer zu spezifizieren und bedingen sich gegenseitig. Genau gesehen, geht es aber gar nicht um Mobilität an sich, sondern um Mobilität im Sinn eines Indikators für eine zunehmende Freizügigkeit innerhalb EU-Europas und der westlichen Welt. Und es geht um Implikationen, die dieser Freizügigkeit speziell zugerechnet werden: Eine wachsende sozio-kulturelle, sprachliche und religiöse Vielfalt. (Cudak/Bukow 2016, S. 2) Den Autor*innen zufolge, müssen einerseits Mobilität und Diversität näher charakterisiert werden, auch historisch, und neu eingeschätzt werden. Andererseits müssen sie innerhalb eines neuen Referenzrahmens, der nicht einer nationalstaatlichen Logik unterliegt, verhandelt werden. Zur Neukontextualisierung der Ressourcen Mobilität und Diversität: Beide Begriffe werden inflationär46 bzw. analog verwendet, indem »sie Mobilität sagt und Diversität meint – ohne das wirklich konsequent durchzudenken« (Cudak/Bukow 2016, S. 2). Mobilität stellt im Gegensatz zur Sesshaftigkeit den Normalfall dar, weswegen die Autor*innen dafür plädieren, die »mobile Existenzweise zur Norm« (ebd., S. 4) zu erklären. Auch Diversität muss neuerlich verhandelt und genauso bewertet werden. Sie ist weder Seltenheit noch Ausnahmeerscheinung, sondern alltägliche Realität, die nahezu sämtliche Lebensbereiche der Menschen – milieu- und statusübergreifend – betrifft. Der Referenzrahmen, innerhalb dessen Diversität und Mobilität zeitgemäß betrachtet werden sollten, ist die europäische Stadtgesellschaft. (Vgl. ebd., S. 4)47 Die Stadtgesellschaft ist mit der Vielzahl an öffentlichen Bildungsräumen in Erweiterung zu den privaten Räumen, in denen jeweils formelle und informelle Handlungsspielräume erschlossen werden, in der Lage, die Bedürfnisse und Besonderheiten Verschiedener miteinzubeziehen und darauf aufbauend Möglichkeiten zu einer demokratischen, kritischen Auseinandersetzung bereitzustellen, etwa in Form lokaler (Bürger*innen-)Initiativen »von unten«. Eine städtische Gesellschaft kann mit divergenten und widersprüchlichen Meinungen, Positionen und politischen Auslegungen gezielter umgehen, als es der Nationalstaat je könnte. Wir leben in postmigrantischen (Stadt-)Gesellschaften, die geprägt sind durch Vielheit und die Fähigkeit, mobil zu sein. Diese Gesellschaften sind seit ihrer Gründung durch Diversität und Mobilität konstituiert, wenn-

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Siehe dazu u.a. die Einleitung sowie Fußnote 8 (Einleitung), wo die Notwendigkeit, Migration und Mobilität zusammenzudenken bzw. synonym zu verwenden, detaillierter dargelegt wird. Des Weiteren lässt sich eine neoliberale Vereinnahmung des Begriffes und Konzeptes der Diversität konstatieren. Die Autor*innen beziehen sich auf den europäischen, städtischen Kontext.

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gleich in unterschiedlicher Gestalt und Gestaltbarkeit. Es geht also um sich stetig verändernde Gesellschaften, in denen (De-)Privilegien sowie Ressourcen immer wieder aufs Neue ausdiskutiert und Prozesse der (Nicht-)Anerkennung und Privilegierung regelmäßig verhandelt werden (müssen). Ein Problem sind weniger die potenziellen und tatsächlichen Konflikte, die im öffentlichen Kontext entstehen können und auch müssen. Ein Problem ist vielmehr die Tatsache, dass sowohl die Argumentationslogik, innerhalb derer Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten artikuliert werden, als auch die Differenzlinien, die im Diskurs und in der Praxis gezogen werden, noch immer nationalstaatlicher und dualistischer Art sind: Wir haben und leben Vielfalt, im Umkehrschluss debattieren und begründen wir jedoch gemeineigen binär und national. Dieses Paradoxon hebt die Notwendigkeit und gleichzeitig die Herausforderung hervor, das nationalstaatliche Paradigma durch den Referenzrahmen der heterogenen Stadtgesellschaft zu ersetzen, die eben nicht wie die Nation auf einer vermeintlichen Verwandtschaftsbasis beruht, sondern sich klar davon distanziert und ihre Begründbarkeit in einer heterogenen Zusammensetzung der Gesellschaft findet. Letztlich ist der »Nationalstaat […] jedoch eine politische Konstruktion und eben keine Gesellschaft. Zudem ist der Nationalstaat erst knapp 200 Jahre alt und hat darüber hinaus auch schon längst wieder an Bedeutung verloren« (Cudak/Bukow 2016, S. 4). Zusammenfassend lässt sich feststellen: Mobilität und Diversität sind integrale Bestandteile postmigrantischer Gesellschaften und darüber hinaus ebenfalls kleineren Städten inhärent. Wird die Stadt als Rahmen für Vielheit genutzt und stellt die Gesellschaft überdies formale Rahmenbedingungen zur Verfügung, wie einen geregelten Verwaltungsapparat oder ein »gerechtes« Bildungs- und demokratisches Rechtssystem, kann eine alltagsbasierte Verständigung von Diversität und den verschiedenen Mobilitätsbewegungen erzielt werden. (Vgl. Cudak/Bukow 2016, S. 10ff.) Der gesellschaftliche Rahmen des Zusammenlebens wurde nun vorgestellt, die daran anknüpfenden Fragen lauten: Wie gestaltet sich die Sichtbarkeit von Migration in der Stadt gegenwärtig und welche Regime hinsichtlich erwünschter und unerwünschter Mobilität können – trotz des Wissens über die Wichtigkeit von Migrationen im Alltagsweltlichen – aufgespürt werden? Migrationen in Form von Vielheit und Mobilität finden sich im öffentlichen Raum überall. Fraglich ist nur, inwieweit spezifische Darstellungsweisen und Schattierungen zum einen als »migrantisch« oder »nicht-migrantisch«, als »vielfältig« oder »einheimisch« erkannt und anerkannt werden und inwieweit diese Erscheinungen normalisiert, akzeptiert oder problematisiert werden. Besonders deutlich wird der Einfluss von Migration auf die Gesellschaft bei einem Spaziergang mit offenen Augen durch die Stadt: mehrsprachige Schilder von Arztpraxen, hybride Speisekarten mit Fusionsgerichten, Plakate mit Veranstaltungstipps, die Positionierungen von Jugendlichen durch gesprühte Graffities, fragwürdige und zynische Slogans auf Wahlplakaten, religiöse Vereine, studentische Demonstrationen, Mehrgenerationen-Wohnanlagen, kulinarische Wochenmärkte fassen zusammen, dass die Stadt verschiedene Möglichkeiten der Aneignung des öffentlichen Raumes bietet. Außerdem zeigt sie, dass unterschiedliche Lebensrealitäten und -welten, also verkürzt, die Unterschiede im Gegensatz zu den Gemeinsamkeiten der Bewohner*innen eher die Regel sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Herstellung kollektiver Unterstützungsformate, wie nachbarschaftliches

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Engagement, die Etablierung eines Gemeinsinns (vgl. J. Assmann 2005, S. 146) oder Fähigkeiten wie Empathie im Moment nicht vorhanden oder nicht herstellbar wären. Oder wie Ulrich Beck (1998) Willy Brandts Leitspruch, es wachse mit Ost- und Westdeutschland nun zusammen, was zusammengehöre, umdeutete und auf das städtische Zusammenleben einer vielfältigen Gesellschaft anwandte: »Jetzt wächst zusammen, was nicht zusammengehört!« (S. 8). Gerade in kapitalistischen und konsumorientierten Gemeinschaften fällt im Alltag das reiche Warenangebot auf, das ohne die Freiheit der Güter nicht vor Ort vorzufinden wäre. Die Mobilitätserfahrungen von Menschen und ihre biografischen Zugänge zu Vielheit werden durchaus anders beurteilt und wertgeschätzt als jene von Gütern, Luxusartikeln, Getränken und Nahrungsmitteln, auf die vielfach nicht verzichtet werden will. Doch es gibt auch viele Dinge, die vor wenigen Jahrzehnten noch für die Dominanzgesellschaft48 (vgl. Rommelspacher 1995, S. 92) neu und ein Sinnbild für Vielfalt waren, an die wir uns mittlerweile so stark gewöhnt haben, dass der Charakter des Unbekannten verloren ging. Das betrifft zum einen Kulinarisches, aber auch spezifische Musik, Kunst, Theater, Freizeitaktivitäten und dergleichen. Gerade Essen, Kulturelles sowie Schöngeistiges, die aus anderen Kontexten oder Orten stammen, können in der Wahrnehmung einer Mehrheit als etwas Bereicherndes aufgefasst werden. Beim Schlendern durch die Essener Innenstadt fallen mir große Geschäfte und Restaurants mit türkischen Namen auf. Sie haben nichts mehr gemein mit den Krämerläden der ersten Generation von Einwanderern. Es sind fremde Namen, die hier nicht mehr fremd sind, weil sie sich eingefügt haben, aber auch weil sie akzeptiert worden sind. Im Geschäftsleben spiegelt sich das wider, was in der Kultur längst angekommen ist: nicht-deutsche Namen als selbstverständlicher Teil der deutschen Kultur von heute. Gerade wegen dieser Selbstverständlichkeit, mit der man in den Innenstädten auf die türkische Sprache stößt, fällt mir eine Diskrepanz auf. (Şenocak 2018a, S. 76) Mit »Diskrepanz« meint der in Ankara geborene und seit nunmehr über 30 Jahren in Berlin lebende Autor Zafer Şenocak den Widerspruch, dass türkische Produkte sowie Begrifflichkeiten im Konsumalltag einer Dominanzgesellschaft, die kein Türkisch spricht, omnipräsent sind und immer sichtbarer werden, jedoch in Begegnungen außerhalb dieser »Blase« türkisch adressierte Menschen häufig Fremddeutungen erfahren. Şenocak schreibt aus einer biografischen Perspektive und begründet auch biografisch und biografisch-familiär. Das, was er »Diskrepanz« nennt, meint im Weiteren »unerwünschte« Formen von Diversität und Mobilität, wie bestimmte Arten des Sich-Kleidens, die als problematisch oder sogar illegitim gekennzeichnet werden. Mobilität und Diversität mit 48

Der Begriff der Mehrheitsgesellschaft suggeriert die Vorstellung einer behaupteten Mehrheit, die quantifizierbar sowie homogen sei. Mit der Nennung einer konstruierten Mehrheit hängen automatisch Überlegungen zum Integrationsparadigma bzw. -regime zusammen, dem sich im Umkehrschluss sogenannte Minderheiten unterwerfen sollten. Um dieser Problematik entgegenzuwirken, wird dort der Terminus »Dominanzgesellschaft« nach Birgit Rommelspacher (1995, S. 95) verwendet, wo es um eine gesellschaftliche, hierarchisch strukturierte und hierarchisierende Ordnung aus Sicht einer dominanten Gruppe geht, die sich u.a. als »einheimisch« liest. Nur in wenigen Ausnahmefällen wird in dieser Arbeit Bezug auf das Konzept und den Begriff der Mehrheitsgesellschaft genommen.

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ihren diversen Facetten, halten in abgeschwächter Form, Einzug auf dem Land. Fernerhin gehen Städte wie Innsbruck, die sich durch ihre Größe, die Einwohner*innenzahlen (vgl. Offizielle Homepage der Stadt Innsbruck 2022a)49 und hier im Speziellen durch die Beschaffenheit und Lage im alpin-urbanen Raum ganz klar von Metropolen unterscheiden, tagtäglich mit Migrationen um. (Vgl. Rotter 2019b, S. 238) Innsbruck ist eine Student*innenenstadt, selbst proklamierte Universitätsstadt, und in dieser Rolle zeigt sie sich besonders vielfältig (vgl. ebd.). Die Stadt wird laufend heterogener durch ErasmusProgramme, Student*innenaustausch, die Inskription von ordentlichen und außerordentlichen Studierenden an den 16 Fakultäten bzw. 85 Instituten und dem temporären oder längerfristigen Zuzug neuer Bewohner*innen. Sie aktualisiert und verändert sich fortlaufend. Der Nutzen für die Stadtgesellschaft ist durch das Ankommen der jungen Menschen groß, denn sie konsumieren, indem sie z.B. kostenpflichtige öffentliche Verkehrsmittel, Freizeitangebote oder zahlreiche Möglichkeiten, Party zu machen, nutzen. Viele von ihnen sind nicht nur als Konsument*innen in die Konsumwelt und als Studierende in die Bildungslandschaft eingebunden, sondern auch allgemein als Erwerbstätige im Arbeitskontext relevant. Sie tragen also auf zahlreiche Weise dazu bei, dass die Stadtgesellschaft mit ihren Besonderheiten funktioniert. Daneben müssen sie jedoch häufig mit schwierigen Situationen umgehen, z.B. um leistbare Wohnungen konkurrieren oder die hohen Lebenserhaltungskosten in Tirol tragen. Diese ökonomischen Herausforderungen betreffen nicht nur viele Studierende, sondern insbesondere Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status, häufig auch Einzelpersonen und Familien mit Migrations- oder Fluchterfahrung. Das Trügerische am alltäglichen Stadtleben ist, dass Teilhabe zu großen Teilen mit der Kaufkraft der Menschen einhergeht. Vor allem Tourist*innen sind beliebte Gäst*innen, die von den Jahreszeiten unabhängig nach Innsbruck und Umgebung nahezu pilgern. Im Winter kann dort mit den Skiern gefahren und in den restlichen Jahreszeiten gewandert und – jahreszeitenunabhängig – eingekauft werden. Migration und Diversität werden im Stadtbild nur dann öffentlich inszeniert und so auch den Besucher*innen bewusst präsentiert, wenn der Nutzen ein finanzieller, sozialer oder zumindest ein prestigeträchtiger ist. So wirbt die Webseite der Stadt Innsbruck damit, dass die Besucher*innen den Ort auch von »seiner kosmopolitischen Seite kennen[lernen sollten]« (vgl. Offizielle Homepage der Stadt Innsbruck 2022b, o. S.). Von dieser Bekundung abgesehen, wird primär das Traditionelle, das (vermeintlich) Einheimische, das (irreführend) Österreichische besonders betont und positiv hervorgehoben. Kaum ein Ort ist gegenwärtig nicht durch Diversität und Mobilität geprägt. Auf Städte, auch kleinere, wie soeben ausgeführt wurde, trifft diese Tatsache besonders zu. Abseits des Kulinarischen, des Gewollten und Erwünschten, wird das nationalstaatliche Paradigma favorisiert, wenngleich eine differenzsensible Perspektive zukunftsweisend wäre. Bis eine breite Anerkennung und Aneignung von Migration und Vielheit erreicht wird, ist es notwendig zu entschlüsseln, wo sie in welchen Gestaltungen vorkommen und

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Die Einwohner*innenzahlen werden statistisch nach Haupt- und Nebenwohnsitz getrennt. Die aktuellen Zahlen nach Hauptwohnsitz belaufen sich auf – Stand Ende Februar 2022 – 131 591 Einwohner*innen (vgl. Offizielle Homepage der Stadt Innsbruck 2022, o. S.). Jene, sortiert nach Nebenwohnsitz, umfassen rund 27 240 (Stand Februar 2022) Einwohner*innen (vgl. ebd.). Insgesamt betragen die statisch erfassten Einwohner*innenzahlen 158 831 Personen (Stand: 22.02.2022).

2. Gesichter der Migration

wo nicht. Des Weiteren muss die Frage geklärt werden, wem die Fähigkeit, mobil zu sein, überhaupt zugesprochen wird und wem nicht. Migrationsbewegungen können selbstredend nur dann stattfinden, wenn jemand mobil ist – und Migrant*innen sind besonders mobil, wie könnten sie denn sonst territoriale sowie soziale Grenzen überwinden. Es liegt also nahe, Migration und Mobilität als aufeinander aufbauend zu betrachten, als gleichwertig und gleichermaßen bedeutsam. Des Weiteren ist es zentral, Migrant*innen die Kompetenz, mobil zu sein, auch tatsächlich zuzuerkennen. Mobilität an und für sich ist nämlich eine Fähigkeit, die gesellschaftlich sehr geschätzt wird. Sie wird denjenigen attribuiert, die z.B. im Alltag zwischen Wohn- und Arbeitsort pendeln oder im Sommer zig Kilometer hinter sich bringen, um im fernen Urlaubsland zu entspannen und die Bekannten durch Urlaubsfotos daran teilhaben zu lassen. Migrant*innen, die auf eigene Faust aktiv werden, sich kollektiv organisieren oder individuell den Ortswechsel und Statuswechsel planen und umsetzen, müssten, logisch betrachtet, als besonders mobil eingestuft werden. Im öffentlichen und politischen Diskurs werden Urlauber*innen oder Geschäftsfrauen und -männer als mobil verstanden, Migrant*innen jedoch kaum. Hinzu kommt, dass der Begriff der Mobilität vor allem positiv konnotiert ist, Migration hingegen, wie bereits besprochen, eine abschätzige negativ wertende Bedeutung zukommt. Migration und Mobilität als eine gemeinsame Handlungs- und Aktionspraxis zu betrachten und die Leistung, die dahintersteht, zu begreifen, ist wichtig. Ein- oder Auswanderung ist meist mit finanziellen, sozialen und organisatorischen Risiken verbunden, d.h., kein Mensch migriert »einfach so«. Der Entschluss, zu migrieren, ist kein einfacher, und wird entgegen diesbezüglicher Vorurteile kaum auf die leichte Schulter genommen. Vor der Migration liegt in der Regel ein Reflexionsprozess, in dem Hypothesen vorgenommen werden über das künftige Leben, über die neuen Wohn- und Arbeitsverhältnisse und über den gesellschaftlichen und sozialen Werdegang, ebenso werden persönliche und intime Wünsche artikuliert und abgewogen. Migration und Mobilität werden definitorisch kontrastiert. Ich nehme nur dann eine Unterscheidung zwischen den beiden Termini vor, wenn es wie im Folgenden darum geht, zu rekonstruieren, weswegen einer davon, vor allem in Form der globalen, grenzenlosen Reisefreiheit oder innerhalb des öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskurses bestimmten Personengruppen zu- und anderen im Umkehrschluss aberkannt wird. Stehen Ungleichheitserfahrungen zur Debatte, die aus der getrennten Verwendung der Begrifflichkeiten resultieren, ist es wichtig, sie sichtbar zu machen und zu diskutieren. Davon abgesehen ist eine Unterscheidung von Migration und Mobilität, meiner Einsicht nach trügerisch und gefährlich. Eine Unterscheidung würde suggerieren, dass zwischen dem »Guten«, also der Mobilität, und dem »weniger Guten«, der Migration, eine weitere Trennlinie gezogen würde. Deshalb ziehe ich es vor, Migration und Mobilität analog zu verwenden mit dem Ziel, die positive Konnotation von Mobilität und negative von Migration zu verschieben und umzudeuten. Von einer sprachlichen Verschiebung, die mit dem Dualismus zwischen Migration und Mobilität bricht, können spezifische Gruppen, aber auch einzelne Personen profitieren, die bis dato trotz ihrer (familialen) Mobilitätserfahrungen als »nicht mobil« eingestuft wurden. Das Praktizieren von Mobilitätserfahrungen und das Zurückgreifen auf Mobilitätswissen sind immer auch generationelle Phänomene. Wohl kaum eine Generation zuvor hat die Breite von Mobilität derart veralltäglichen und als Teil des Lebenskonzeptes ver-

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wirklichen können wie die aktuelle Jugend- und junge Erwachsenengeneration. Bei jenen, die finanziell abgesichert sind, wird Mobilität als Lebensrealität verkauft. Demzufolge lässt sich derzeit das Phänomen beobachten, dass vor allem junge westlich bzw. westlich-elitär geprägte Menschen, kritisch ausgedrückt, eine eurozentristische Arroganz verinnerlicht haben, die Mobilität als für sie selbstverständlich annimmt. Diese Arroganz beansprucht das vermeintliche Recht auf eine scheinbar grenzenlose Welt für sich, gesteht sie aber anderen nur bedingt zu. Die junge westliche, europäische Generation wächst größtenteils mit dem Selbstverständnis auf, dass das Überschreiten territorialer und sozialer Grenzen nicht nur machbar, sondern innerhalb einer spezifischen sozialen Lage (vgl. Altreiter 2018, S. 259) auch gewünscht und, sofern man sich an bestimmte Spielregeln hält, auch realisierbar sei. Sie weiß, dass der Wunsch (zumindest temporär), die gewohnte Umgebung zu verlassen, um woanders zu studieren, ein Praktikum zu absolvieren oder anderweitige »Erfahrungen im Ausland zu sammeln«, nicht nur dem momentanen Zeitgeist entspricht, sondern auch umgesetzt werden kann. Schließlich favorisieren auch künftige Arbeitgeber*innen sowie Doktoratsprogramme an Universitäten Bewerber*innen mit gern umschriebener »Auslandserfahrung«. Ein großer Teil der Angehörigen dieser »Generation Global« (vgl. Beck 2007) verfügen maßgeblich über den entscheidenden sozialen und finanziellen Status, der über die Wunschvorstellung »zu reisen« hinausgeht und dabei helfen kann, die Grenzüberschreitung zu ermöglichen. Wer nicht die notwendigen (familialen) monetären Ressourcen hat, hat zumindest die Möglichkeit, sich über Leistung zu qualifizieren, entsprechende Stipendien zu forcieren oder auf vergünstigte Zugtickets, etwa bei Interrail-Reisen, oder auf Konzepte wie Work and Travel zurückzugreifen. Doch genauso können diese Möglichkeiten als durchaus elitär gefasst werden, da sie nicht von jedem jungen Menschen dieser generationellen Gruppe auch tatsächlich genutzt werden können. Die Generation Global als Ganzes nimmt also eine selbstbewusste Perspektive ein, denn sie weiß, dass sie zu jenen Gruppen gehört, bei denen die Illusion der völligen Reisefreiheit meistens keine Illusion bleibt. Die Entscheidung, den Wohnort und Lebensmittelpunkt zu verlassen und in der Regel zu einem späteren Zeitpunkt zu remigrieren, ist in greifbarer Nähe und zumindest prinzipiell möglich. Für die Generation Global ist es Teil gelebter Normalität, langfristig oder kurzfristig woanders zu bleiben, seinen Erfahrungshorizont auszubauen und dann eventuell wieder zurückzukehren. Die Generation Global, die als solche Chancen und Entscheidungsmöglichkeiten hat (Entscheidungsmöglichkeiten, die bei der Vorgängergeneration eher individuell aktiviert wurden, denn kollektiv wirkmächtig waren), ist entscheidungs- und vielfach handlungsmächtig. Dabei darf aber nicht verschleiert werden, dass sich auch innerhalb der globalisierten Generation Ungleichheitserfahrungen abspielen und strukturelle, soziale und ökonomische Schieflagen zwischen den einzelnen Mitgliedern bestehen, die Einfluss auf ihre Zukunft haben. Das bedeutet, dass nicht jeder junge Mensch aus dem globalen Westen tatsächlich die gleichen Chancen und Zukunftsaussichten hat, trotz eines globalisierten Wissens. Beck-Gernsheim und Beck (2007) schreiben dazu: Der Erfahrungsraum der »globalen Generation« ist zwar globalisiert, aber gleichzeitig durch tief reichende Trennlinien und Gegensätze gekennzeichnet. Da ist zuallererst die ökonomische Kluft, die die Bewohner der Ersten Welt von den übrigen trennt, jene

2. Gesichter der Migration

Kluft der materiellen Ressourcen, der Positionen und Zugangschancen, die auch im Wettlauf um die Ikonen des globalen Konsums Wirkung zeigt. (S. 238) Zeitgleich steht also die »Generation Mehr« der »Generation Weniger« (vgl. ebd., S. 257) – beides Fraktionen der Generation Global – gegenüber, deren Erfahrungen durch Prekarisierung geprägt sind. Die Untergruppen unterscheiden sich und sind obgleich ungleicher Startvoraussetzungen ins Leben automatisch Teil einer gemeinsamen generationellen Gruppe. Beck-Gernsheim und Beck zufolge hat sich innerhalb der Generation Global eine spezifische prekäre Generation herausgebildet, die im gesellschaftlichen Kontext weitestgehend unbeachtet bleibt, wenn sie nicht selbst kreativ wird und Wege findet, um die geografische, die soziale Herkunft und fehlende Ressourcen zu kompensieren bzw. mithilfe neuer Kompetenzen und Strategien zu erweitern. Ein solcher Weg führt z.B. hin zu einer möglichen Karriere, die durch einen zweiten Bildungsweg, also durch Umwege realisiert werden könnte. Folglich ist nicht nur das binäre Verhältnis der Generation Global zur Welt geregelt, sondern auch innerhalb der Generation spielen Reglementierungen und implizite Machtmechanismen sowie Ungleichheiten eine Rolle, denn »Alle […] sind gleich, nur manche gleicher!«50 George Orwells bekannter Ausspruch aus dem Jahre 1945 wurde vielfach umgedeutet. Orwells dystopischer Aufsatz beschreibt unter anderem Diktatoren, wie z.B. Stalin, die verkörpert und versinnbildlicht werden durch die Tiere eines Bauernhofes. Die gewaltvollen Herrschaftsstrukturen, die von den Schweinen nach der Übernahme der Farm hergestellt werden und gleichzeitig Unterdrückung und Repressionen der anderen Tiere zur Folge haben, können auf ungleichheitsfördernde und hierarchische Strukturen im Zusammenleben von Menschen übertragen werden. Diese entstehen dann, wenn Gleichheit, die es real nicht gibt, behauptet wird, und Gleichwertigkeit nicht angestrebt wird, sondern wenn Hierarchien als gegeben hingenommen und damit ungleiche Machtverteilungen reproduziert werden. Hier kann dieser Vergleich der globalisierten Generation mit den Tieren der Animal Farm als Warnung dafür gelesen werden, dass scheinbar privilegierte Generationen eben keine homogenen Gruppen sind, sondern aus einzelnen Subjekten bestehen, die sich sehr stark oder nur sehr begrenzt gleichen, auf gemeinsame oder aber höchst diverse Erfahrungswelten und Hintergründe zurückblicken können. In der Analyse von Generationen lassen sich aber sehr wohl Tendenzen feststellen, die einen gemeinsamen Handlungsrahmen bilden können, z.B. das gemeinsame Globalisierungswissen sowie die zunehmenden weltweiten Globalisierungstendenzen (vgl. Beck/ Beck-Gernsheim 2007, S. 239). Zum einen verfügen die jungen Erwachsenen über globales Wissen und erkennen globale Effekte, die ihr Alltagsleben determinieren und ihre Wünsche hinsichtlich der Zukunft befeuern. Zum anderen gibt es in den Biografien der jungen Subjekte diverse Ungleichheitserfahrungen, die ihre Wünsche torpedieren können. Inwieweit das theoretische Wissen über Globalisierung und globale Zusammenhänge praktisch angewandt werden kann, muss auf jeden Fall biografisch untersucht werden. Neben der »Generation prekär« gibt es auch innerhalb der Generation Global Angehörige, die sich bewusst von den globalen Möglichkeitsräumen distanzieren und

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Im Original lautet die Passage folgendermaßen: »All animals are equal. But some animals are more equal than others.« (Orwell 1945, S. 51f.).

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sich beispielsweise für den Planeten und die Umwelt einsetzen. Sie wollen einerseits politische Vertreter*innen in ihre Verantwortung ziehen und andererseits sich selbst einschränken, um die CO2-Belastung zu reduzieren und das Fortschreiten des Klimadesasters so gering wie möglich zu halten. Die jungen Anhänger*innen der »Fridays for Future«-Bewegung zeigen auf, dass Mobilität zum Nutzen des Planeten explizit eingespart werden kann und soll. Doch auch diese zivilpolitische und individuelle Entscheidung, auf spezifische Mobilitätsformate zu verzichten, indem etwa Flugreisen, Autofahrten vermieden und/oder höher besteuert werden, hat auch mit Privilegien und bevorrechtigten Positionen zu tun. Für sich selber (und für andere) reklamieren zu können, künftig weniger mobil sein zu wollen, indem stattdessen auf öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad zurückzugegriffen wird, kann nur, wer sozioökonomisch gut situiert ist. So stammen gerade auch die Sprecher*innen der Bewegung, etwa Luisa Neubauer, aus einer bürgerlichen sozialen Lage und nicht z.B. aus einer Arbeiter*innenfamilie oder einer Familie, deren Mitglieder als Pionier*innen nach Österreich oder Deutschland migrierten. Die postmigrantische Generation kann auf familiale Erfahrungen zurückblicken, auf mehrheimische Ressourcen zurückgreifen, die aus dem Migrationskontext der Großeltern und dem Arbeitskontext resultieren und über die junge Menschen mit anderen Backgrounds nicht oder nur einseitig verfügen. Die Perspektiven, die familiäre Migrationserfahrungen ermöglichen, müssen von den Familien als Chance erkannt, beschlossen und schließlich gelebt werden, gerade um die Tatsache, dass »Bildung nach wie vor vererbt [wird]« (vgl. Erkurt 2020, S. 11) auszugleichen. Und eines kann ich Ihnen sagen: Es braucht unfassbar viel Motivation, so viel, wie man eigentlich von keinem Kind verlangen kann, um diese ungeheure Anstrengung aufzuwenden, gegen das vererbte Bildungsschicksal anzukämpfen. (Erkurt 2020, S. 13) Melisa Erkurt spricht zurecht die Überforderung bzw. -anstrengung an, die ein*e mehrheimische Schüler*in aufbringen muss, um als Einzelkämpfer*in in einem ungerechten Bildungssystem individuelle Bildungsgerechtigkeit zu erwirken. Mehrheimische Familien leisten vielfach Unterstützung51 , kompensieren etwa mangelnde finanzielle Ressourcen kreativ, indem auf familiale Netzwerke zurückgegriffen wird. Diese Tatsache wird beispielsweise von einer Gesprächspartnerin berichtet, die während der Zeit, die sie für ein Praktikum im Ausland verbrachte, bei entfernten Verwandten wohnen konnte und so Geld für teure Miete sparte. Der familiäre Rückhalt ist also eine wesentliche Komponente, die bildungsfördernde Auswirkungen auf die Biografien der jungen Erwachsenen haben kann. Ferner können aufgrund der familialen Migration spezifische Erfahrungen oder Wissensformen transferiert und intergenerationell verarbeitet werden. Migration in ihrer Alltäglichkeit meint summa summarum die Aushandlungsprozesse der postmigrantischen (Stadt-)Gesellschaft mit Mobilität, Diversität und Pluralität sowie den Umgang mit den Konflikten und Herausforderungen, die daraus entste51

Die Unterstützungsmaßnahmen verorten sich vielleicht nicht im klassischen bildungsbürgerlichen Sinne, das sollte jedoch nicht Prämisse sein. Vielmehr geht es darum, familienspezifisch bzw. familienlogisch zu reagieren und zu handeln.

2. Gesichter der Migration

hen können. Aber sie meint genauso das höchst diverse, sich in stetiger Bewegung und Wandel befindende Stadtbild, das sich kennzeichnet durch Migrationen der Neuhinzukommenden, der Alteingesessenen, der kurzfristig Bleibenden, der seit vielen oder seit wenigen Generationen hier Lebenden. Sie bedeutet einerseits die Hervorbringung einer gegenwärtig jungen Erwachsenengeneration, die allgemein durch Mobilität charakterisiert ist, aber unterschiedlich damit umgeht – Stichwort Generation Global. Sie repräsentiert andererseits eine ältere Generation, deren Mobilitätsbemühungen dafür gesorgt haben, dass ihre Enkelkinder vor Ort aufwachsen und eigene biografische Lebensentwürfe herstellen – die postmigrantische Generation. Migration als alltägliche Normalität umschließt zudem die Notwendigkeit, zu abstrahieren, wie Phänomene der Vielheit auf »einheimisch« markierte Menschen wirken, die weder selbst noch deren Familienangehörige ein- oder auswanderten. Feststeht, dass Migrationen in zahlreiche, öffentliche und private Diskurse eingespeist sind und in alltäglichen, banalen Situationen im öffentlichen Raum sichtbar werden. Es gibt je nach (politischer) Couleur divergente Meinungen darüber, ob, und wenn ja, welche sozialen, politischen und intellektuellen Grenzen und Begrenzungen Sinn machen oder aufgebrochen werden müssten. Grenzen und Begrenzungen im Kleinen und das Gedankenspiel nach dem Öffnen oder Schließen dieser Grenzen und Begrenzungen beschäftigen auch die Wiener Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger. Sie rekonstruiert im folgenden Zitat eine durchschnittliche Situation ihrer Kindheit, in der sie sich einerseits zwischen Bekanntem und Unbekanntem bewegt und in der sie andererseits die von Erwachsenen gezogenen, jedoch nicht sichtbaren Grenzlinien der beiden Wiener Stadtteile bewusst überschreitet: Die Häuser auf der einen Seite der Hauptstraße gehörten zu Ottakring, die Häuser auf der anderen Straßenseite gehörten zu Hernals. Die Grenze zwischen den beiden Bezirken dachte ich mir genau in der Straßenmitte. Autos fuhren zu wenige. Man konnte die Straße, genau in der Mitte, entlanggehen. Mit einem Fuß in Ottakring und einem in Hernals. Ich ging zur Kriegelstein [Name der Klavierlehrerin], die Mappe mit dem Notenheft unter dem Arm und das verbitterte eins-zwei-drei-eins-zwei-drei der Alten schon drohend im Kopf. Ich marschierte mit einem Fuß in Ottakring und einem in Hernals. Der Hernalser Fuß war der Heimatfuß. Ich ging in der Erwartung eines besonderen Gefühls im Heimatfuß. Dieses Gefühl stellte sich nicht ein, aber hinter mir bimmelte die Straßenbahn und scheuchte mich auf den Gehsteig, und der Fahrer brüllte zur Tür hinaus – damals fuhren die Straßenbahnen mit offenen Türen, dass ich ein total vertrotteltes Kind sei. (Nöstlinger 1981, S. 7) Diese Erzählung ist also in zweifacher Hinsicht Ausdruck eines durch Diversität sowie Mobilität geprägtes und beeinflusstes Alltagsphänomen. Denn erstens weiß Nöstlinger bereits als Kind von der Grenzziehung und Differenzierung der Stadtteile. Sie hat gelernt, Hernals als »Heimat« zu assoziieren und »Ottakring« als das »Fremde« zu begreifen. Trotz dieses tradierten Wissens vollzieht sie zweitens eine Grenzüberschreitung und gleichzeitig eine spezifische Umdeutung, indem sie versucht, sich beide Stadtteile anzueignen: »Ich marschierte mit einem Fuß in Ottakring und mit einem in Hernals« (vgl. ebd.). Überdies erzählt sie, dass sich der »Heimatfuß« nicht »besonders« und somit nicht »besser« als der Nicht-Heimatfuß angefühlt habe. Vornehmlich die Art und Weise, wie

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die Autorin mit der überlieferten binären Differenzierung dieser Straße und der Stadtteile verfährt, ist dem einer postmigrantischen Veralltäglichung und bisweilen Utopie ähnlich, so ist heutzutage die Straße, auf der Christine Nöstlinger als Kind ging, sowohl als Ottakringerstraße als auch als Balkanmeile bekannt: OTTAKRINGER STRASSE_BALKANMEILE: zwei Namen für eine Straße, zwei Straßen in einer […]. In der Ottakringer Straße steht die Balkanmeile für migrantische Herkünfte aus Ex-Jugoslawien. Ottakringer Straße_Balkanmeile benennt die hybriden lokalen Identitäten sowie die unterschiedlichen Tag- und Nachtnutzungen, Tag- und Nachtrhythmen der Straße. (Krasny 2011, S. 5) Die »Ottakringer Straße_Balkanstraße« ist ein gutes Beispiel für städtische Arrangements, die trotz unterschiedlichster Lebensentwürfe akkordiert werden können. Das nicht unbedingt ausformulierte Arrangement diverser Bürger*innen hat sich im Laufe der Zeit verfestigt und auf die alltägliche Lebenswirklichkeit der Menschen, die sich dort aufhalten, übertragen. Es veranschaulicht zudem, dass eine vielfältige, auch widersprüchliche Nutzung öffentlichen Raumes funktionieren kann. Am Tag nämlich ist die hybride Straße mit ihren Gebäuden und Möglichkeitsräumen Einkaufsparadies und der Arbeitsort vieler. Nachts und insbesondere am Wochenende wird die Straße umgedeutet, sie avanciert zur Ausgehmeile, in der gefeiert und Fußball geschaut wird. Eine alte Straße, die jahrhundertelang durch das Arbeiter*innenmilieu, das dort seit dem 19. Jahrhundert lebte (vgl. Krasny 2011, ebd.), implementiert war, vereint nun Musik- und Ausgehkultur mit Arbeits- und Konsumwelten und dem lokalen Charme der Wiener Architektur. Die vielfältige Inanspruchnahme der Straße ist gewissermaßen eine moderne Transtopie (vgl. Yıldız 2013, S. 32; siehe Kap. 5.2.1), die mit Tag- und Nacht-Zeitlichkeit spielt und innovative Konzepte sowie Transformationen befördert. Migrationsbewegungen wirken auf die migrierenden Menschen selbst, auf die Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft, auf ihre Familien. Ihre Wanderungen bringen Prozesse der Pluralisierung mit sich und legen die Frage offen, wie die Gesellschaft dem herausfordernden Umgang einer steigenden Pluralität gerecht werden kann (vgl. Canan/Foroutan 2016a; Foroutan 2019). Die Mobilitätsbewegungen erzeugen und verändern die Formen und Varianten von Vielheit. Sie sorgen dafür, dass ihre Subjekte innovative Selbstbenennungen entwickeln und sich von unpassenden Fremdzuschreibungen distanzieren.52 Des Weiteren entwerfen sie neue Differenzverhältnisse und Formen der Zugehörigkeit. Migration ist also nicht unbedingt das Endresultat der Wanderung, sondern ein möglicher Zwischenweg oder nur eine Etappe der Wanderung; und niemals eine ausschließlich geografische! Es geht weniger darum, von A nach B zu wandern, sondern zu analysieren, welche Hoffnungen der Migrant*innen und der Nachfolgegeneration sich durch, während und nach der Mobilitätsbewegung erfüllen, welche sich nicht erfüllen und wie neue Lebensrealitäten aus der Mobilität heraus entstehen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Migration erstens sozialhistorisch begründbar und zweitens gegenwärtig alltäglich ist und somit auch normalisiert gehört.

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Dazu der Hinweis von Thoma auf die mögliche Gefahr einer Romantisierung widerständiger Handlungsweisen und Praktiken (vgl. Thoma 2018, S. 85).

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Des Weiteren ist es drittens nur realistisch, davon auszugehen, dass einerseits Wanderungen auch für nachfolgende Generationen weltweit essenziell (»freiwillige«, lokale, glokale, regionale, transnationale Migrationsbiografien) und andererseits notwendig bzw. unvermeidlich sein werden. Globale Phänomene wie Kriege, Naturkatastrophen, Armut, Ausbeutung und Klimawandel tragen nämlich erheblich, aber nicht einzig, zu Migration(-en) bei. Migrationen sind so facettenreich wie die Menschen, die wandern. Sie sind biografisch höchst divers. Zwar finden sich in der Analyse von Mobilitätsbewegungen und -erfahrungen durchaus Überschneidungen, Gemeinsamkeiten und Überlappungen, dennoch stehen sie in jedem Falle immer auch prägnant für sich. Anhand der soeben kurz skizzierten 60 000 Jahre alten Migrationsgeschichte der Menschheit und mittels eines Blickes in die Aktualität von Mobilitätsbewegungen lässt sich nur ansatzweise erahnen, wie viele heterogene, divergierende, sich überschneidende und überkreuzende, sich ergänzende oder sich widersprechende Migrationsgeschichten erzählt und erforscht werden könnten. Seit 2015 ist in den Sozialwissenschaften ein Anstieg an Fluchtforschung erkennbar, gerade die Kontextualisierung biografischer Erfahrungen und -erzählungen von geflüchteten Menschen erachte ich als überaus wichtig, wobei die Art der Forschung und Haltung der Forschenden maßgebend sind.

2.3 Vom Schulkontext zum Forschungsthema: Intergenerationelle Artikulation familialer Migrationserfahrungen Es wurde vorangehend rekonstruiert, dass Migration seit Menschengedenken vollzogen wird und die Geschichte der Menschen als Geschichte der Migration/Mobilität gelesen werden muss und umgekehrt. Migration ist somit eng verwoben mit der menschlichen Existenz. Des Weiteren ist Migration ein alltägliches und beinahe jede (Familien-)Biografie durchdringendes Phänomen. Sesshaftigkeit und Immobilität sind hingegen tendenziell eher Ausnahmen (vgl. Bukow 2010, S. 50). Migration in ihrer Alltäglichkeit zu analysieren, bedeutet auch, sie in ihrer Normalität zu begreifen und von einer einseitigen, defizitären Sichtweise auf Migration und ihre Subjekte Abstand zu nehmen. Somit ist Migration ein Thema für alle. Warum für alle? Da es uns alle betrifft. Eine postmigrantische Gesellschaft, ergo eine Gesellschaft der Vielen, hat die zentrale Aufgabe, gleichberechtigt die Geschichten der Vielheit widerzuspiegeln und erzählen zu lassen. Dies wird exemplarisch an den Biografien junger Erwachsener aus der postmigrantischen Generation deutlich. Die Tatsache, dass Migration ein Thema für alle, die gesamte Gesellschaft ist, zeigt zum einen die postmigrantische Relevanz. Den Familien, die migrierten, und ihren Erfahrungen vor, während und nach der Migration, wird zu wenig Beachtung geschenkt. Im wissenschaftlichen Kontext hinsichtlich Migration, Generation und Familie werden derzeit, aber auch rückblickend in die letzten Jahrzehnte sehr unterschiedliche Perspektiven eingenommen. Zum einen untersuchen Forschende postmigrantische Fragestellungen, Schieflagen in der Gesellschaft, (Un-)Möglichkeiten der Partizipation und Teilhabe und stellen dabei die Subjekte, von denen sie erzählen, in den Fokus. Hierbei wird eine migrationsbejahende, diversitätsoffene, jedoch kritische und politische Haltung eingenommen. (Vgl. exemplarisch Castro Varela 2007; Bukow 2015; maiz 2017; Rat-

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ković 2017; Foroutan 2018a; Römhild 2018; Yıldız 2018) Diese Art der Forschung favorisiert eine Forschungsethik, die Menschen als Subjekte mit eigener biografischer Deutungshoheit sieht und nicht auf ihre objektivierbare Form reduzieren will (ebd.). In Abgrenzung dazu werden in der Forschung über Migration teilweise bis in die Gegenwart hinein restaurative Artikulationen und Argumentationsschemata reproduziert, die höchst problematisch sind, daher die binäre Wahrnehmung von Migrant*innen verstärken, anstatt sie abzubauen und zu normalisieren. Wie z.B. die konventionelle und zuweilen defizitär orientierte Migrationsforschung die Arbeitsmigration der Pionier*innen sowie vergangene und aktuelle Migrationsphänomene festschreibt, wird an späterer Stelle (siehe Kap. 4.1.1) an der »Sozialintegration« von Hartmut Esser (2000; 2001a; 2001b) als Chiffre für Assimilation und am »Marginal Man« von Robert Ezra Park (1928) aufgezeigt und schließlich mittels postmigrantischen Leseart umgedeutet und neu kontextualisiert (siehe Kap. 4.1). Ein weiteres, essenzielles Themenfeld, das von den beiden »Kadern« an Wissenschaftler*innen sehr konträr behandelt wird, ist jenes der mehrheimischen Familie. Ich verstehe mich diesbezüglich in der Tradition jener, die Familie als bildungsfördernd, »integrationsfördernd« begreifen und keine Abstufungen zwischen Familien mit und Familien ohne Mobilitätserfahrung machen. (Vgl. exemplarisch dazu Zoll 2007; Apitzsch/Siouti 2013; Apitzsch 2014; Westphal 2018; Yıldız 2018b) Im Gegenteil: Familien, die migrierten, können den jüngeren Generationsmitgliedern erfahrungsund spezifisches Kontextwissen mitgeben, über das Familien, die sich seit geraumer Zeit in derselben Umgebung verorten, eben nicht verfügen. Es wurde bis dato in der kritischen Migrationswissenschaft sowie der Erziehungswissenschaft insgesamt zu wenig Forschung betrieben, die die postmigrantische Familie in ihren zahlreichen Facetten, heterogenen Lebenswelten untersucht und dabei die Familiengenerationen als wertvolle Bindeglieder versteht, die unterdessen in intergenerationellen Austausch treten, miteinander agieren, voneinander lernen, aber genauso eigenständige Prozesse der Neuorientierung konzipieren. Besonderes Augenmerk wird auf die retrospektive Erzählung und Deutung der Nachfolgegeneration bezüglich der (familien-)biografischen Erinnerungen gelegt. Entscheidend ist, welche Erkenntnisse sie aus den Erfahrungen und erzählten Erinnerungen der Vorfahr*innen ziehen kann, welche Narrationen sie im Kontrast mit der eigenen Biografie entwirft und was sie konkret alltagspraktisch daraus macht. Deswegen frage ich nach den intergenerationalen Artikulationen von familialen Migrationserfahrungen, rekonstruiert am Beispiel einzelner Subjekte53 der postmigrantischen, »dritten« Generation. Am Beispiel des Schulkontextes bzw. des ausgewählten Projektbeispiels, der Rekonstruktion soziohistorischer Migrationsbewegungen sowie der Offenlegung alltäglicher Mobilitäts- und Diversitätsbezüge in der Stadt Innsbruck, konnte bereits skizziert werden, dass Migrations- und Fluchtbezüge in ihrer Pluralität laufend vorkommen und die Gesellschaft bereichern (können). Die bereits diskutierten Ansätze der Diversität, Mobilität und Pluralität werden nun auf den familial-intergenerationellen Kontext übertragen. Damit rückt nun der familiale Erfahrungsraum in seiner intergenerationellen Verschränkung in den Mittelpunkt. 53

Und ihrer Familien.

2. Gesichter der Migration

Die formulierte Bildungsperspektive lautet: Familien lassen ihre Nachfolgegeneration Anteil haben an (Arbeits-)Migrationserfahrungen und ihren Erinnerungen daran. Sie übermitteln Kompetenzen, Kapitalsorten und Strategien im Umgang mit Diskriminierungserfahrungen. Die postmigrantische Generation verhält sich auf eigene Weise zu der Weitergabe von Erfahrungen und Erinnerungen, indem sie sie biografisch artikuliert, deutet und umdeutet. Die junge Generation vollzieht somit in Wechselwirkung mit den Familienmitgliedern der drei Generationen eine intergenerationale sowie biografische Artikulation familialer (Migrations-)Erfahrungen und Erinnerungen. Unter intergenerationaler Artikulation ist hier die Fähigkeit der Nachfolgegeneration gemeint, mittels biografischen Erzählens eine aktive und situative Verknüpfung zwischen den eigenen und familialen, wiewohl den generationsspezifischen Narrationen, Erfahrungen, Denkprozessen, Diskursen, Haltungen, Ideen, Vorstellungen, Irritationen etc. herzustellen. Hinsichtlich der Artikulation muss auf Stuart Hall (2000) hingewiesen werden, für den Artikulation »eine Verknüpfungsform [bedeutet], die unter bestimmten Umständen aus zwei verschiedenen Elementen eine Einheit herstellen kann« (S. 65). Zum einen geht es bei einer Artikulation um das sprachliche Moment, also die Fähigkeit, sich auszudrücken, bzw. um das In-Worte-Fassen der eigenen Gedanken oder Gefühle. Neben dem Formen von Sprache (vgl. ebd.) ist damit die mögliche, aber nicht ausschließlich notwendige Verknüpfung verschiedener sprachlicher Elemente gemeint. Hall nennt als Beispiel für Artikulationen einen »verkoppelten (articulated) Lastwagen« (ebd.). Die Lade- oder Tragefläche des Lastwagens kann mit dem Raum der fahrenden Person zusammenhängen, muss es jedoch nicht (vgl. ebd.): »Die beiden Teile sind miteinander verbunden, aber durch eine bestimmte Art der Verkoppelung, die gelöst werden kann« (ebd.). Angewandt auf die postmigrantische Generation und ihre Familien bedeutet Artikulation eine potenzielle sprachliche Kopplung, ähnlich einer sich zu einem Diskurs entwickelnden Interaktion. Diese Interaktion ist prozesshaft und wird immer wieder aufs Neue angeleitet und hervorgebracht. Das Besondere an intergenerationellen Artikulationen ist, dass ihr Fundament familial und damit in der Regel durch Emotionen wie Verbundenheit oder Vertrauen geprägt ist und daher sehr stabil sein kann, jedoch nicht zwangsläufig muss. Trotzdem basiert sie, wie nicht-familial hergestellte Artikulationen im Übrigen auch, auf Freiwilligkeit und der aktiven Beteiligung der Mitglieder. Das heißt, dass die familialen Generationen in der Regel sowohl durch sprachlichen als auch emotionalen Austausch verbunden sind. Die Familie bildet gemeinsam einen sozialen Raum aus. Hall (2004) beschreibt, dass Mitgliedschaften per se soziale Kräfte erzeugen, die zu artikulierten Diskursen befähigen können (vgl. S. 65ff.), die Familie kann jedoch als besonderes, höchst spezifisches Konstrukt hervorgehoben werden, da sie einen Ort (ab-)bildet, der verbalen Austausch auf Basis von vielfältigen, nicht nur positiven Emotionen, begünstigt. Empathie zwischen den (Familien-)Mitgliedern kann in besonderem Maße Artikulationen befördern. Familien sind in der Regel beträchtlich dazu befähigt, sich durch Artikulationen auszutauschen. Sie können diese Form der Kommunikation aber auch unterbrechen und zeitweilig oder längerfristig beenden. Eine Artikulation ist folglich hinzukommend »eine Verknüpfung, die durch bestimmte Prozesse aktiv aufrechterhalten werden muss, die nicht ›ewig‹ ist, sondern ständig erneuert werden muss, die unter bestimmten Umständen verschwinden oder

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verändert werden kann« (Hall 2004, S. 65). Solch eine Verbindung kann durch dialogisierte Gespräche oder Diskussionen erzielt werden und benötigt in gewissem Maße die Anstrengung der Sprecher*innen. Die Generationsangehörigen sind jedoch auch unabhängig von familiärer Zugehörigkeit in diverse Diskurse involviert. Bei Auflösung der »alten Verknüpfungen […] (können) neue Verbindungen – Re-Artikulationen – geschmiedet werden« (ebd.). Artikulationen werden in Familien von klein auf gelernt und im alltäglichen Umgang miteinander, quasi wie selbstverständlich und nebenbei, gepflegt und je nach Kontext und Bedürfnis intensiviert. Diese spezifischen Formen der emotionalen Verbundenheit bilden eine kommunikative Art der Vergemeinschaftung heraus, die sich nach Angela Keppler (2001) »in der Kontinuität der Gelegenheiten und Akte des gemeinsamen SichErinnerns« (S. 156) manifestieren. Artikulierte Akte des Sprechens in Form gegenseitiger emotionaler Verständigung können jedoch nachlassen, durch andere Verknüpfungsformen ergänzt oder ersetzt werden. Gerade im Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter können sich intergenerationelle Vertrauensverhältnisse verändern und variieren. Prozesse der Abkoppelung von bekannten Bezugspersonen, der Reorganisierung des Alltages und der Lebenswelt durch etwa den Auszug aus der elterlichen Wohnumgebung, sind in diesem Zeitraum normale Vorgänge. Zum Erwachsenwerden gehören Momente wie ein temporäres Sich-Distanzieren von den (Groß-)Eltern gemeinhin dazu. Für familiale Artikulationen können solche Veränderungen innerhalb des Beziehungsgefüges bedeuten, dass die Familie als Konstrukt für die jungen Erwachsenen an kurz-, mitteloder langfristiger Bedeutung verliert und durch Interaktionen mit der Peergroup oder dem*der Partner*in ersetzt werden. Genauso können Neugestaltungen der aktuellen Lebenssituation eine Bedeutungsverschiebung hinsichtlich des familialen Wirkungsbereiches bedeuten und spätere, neuerliche Rückbesinnung mitbringen. Familie wurde soeben als Sozialraum (vgl. Kessl/Reutlinger 2022, S. 7ff.) und als Ort der emotionalen Verbundenheit beschrieben. Familie kann diametral von den jeweiligen Subjekten als Nicht-Ort assoziiert werden oder als Un-Ort in Erscheinung treten. Überdies hängt die Art und Weise der Kommunikation innerhalb der Familie, etwa Intensität oder Inhalt der Gespräche, von den direkt daran Beteiligten ab. Als Beispiel: Gespräche mit dem Bruder können als tiefgreifende und emotional bewegende Konversationen empfunden werden; jene mit der Tante hingegen bleiben basale Plaudereien über das Wetter und erreichen nicht den gleichen Status wie die Artikulationen mit anderen Familienmitgliedern. Wer familiale und intergenerationelle Phänomene beforscht, wird mit dem Umstand konfrontiert, dass Familie, auch aktuell, durch starke normative Annahmen und Konnotationen aufgeladen ist. Zwar haben sich in den letzten Jahrzehnten – dank zivilgesellschaftlicher Proteste und Aktivitäten unter anderem der LGTBQIA*-Community – die gängigen Perspektiven auf Familie erneuert und erweitern sich laufend, dennoch sind weiterhin dominante Normen existent, die Familie vordergründig in ihrer Vater-MutterKind-Logik als Alleinstellungsmerkmal berücksichtigen. Neben der heteronormativen Vorstellung von Familie, die längst reaktualisiert oder zumindest vervielfältigt gehört, steigt im Allgemeinen die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber gleichgeschlechtlichen Familien, sogenannten Regenbogenfamilien, Patchwork-Familien oder Alleinerziehenden und ihren Kindern. Davon abgesehen gibt es auch gegensätzliche, vielmehr anachro-

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nistische Tendenzen. Strömungen, bei denen Individuen, aber auch staatliche Institutionen an einer restaurativen und veralteten Familienpolitik festhalten, die vordergründig nur heterosexuelle Familien normalisieren möchte und durch »familienfreundliche Beschlüsse« belohnt. Neben einer Abstufung nach Wertigkeit, wobei die Vater-MutterKind-Familie als höchste Norm behauptet wird, ist mit Familie vor allem eine »einheimische« und keine durch Migration geprägte gemeint. Auf die nach wie vor bestehende Problematik, dass Familien mit Migrationserfahrungen als defizitär und weniger bildungsfördernd als ihr Pendant festgeschrieben werden, wurde bereits hingewiesen. Ich möchte Familie nicht durch neue, gefestigte Definitionen einschränken. Ähnlich sieht es Marianne Krüger-Potratz: Ich verzichte auf eine Definition von Familie. Auch wenn es hierzu eine Fülle an Literatur gibt, so zeigt sich immer wieder, dass eine einfache und eindeutige Definition nicht immer möglich ist, nicht einmal rechtlich. Daher wundert es nicht, dass ebenso wenig klar ist, was unter Migrantenfamilien zu verstehen ist. (Krüger-Potratz 2013, S. 14f., zit.n. Rotter 2019b, S. 235f.) Nur so viel sei an dieser Stelle gesagt: Familie hat in dieser Arbeit, aufgrund der generationellen Verbindung der Familienmitglieder, auch eine biologistische Komponente, denn das Denken in familialen Generationen, also in der Beschreibung und Analyse der Großeltern-, Eltern- und Enkelkindergeneration, ist immer auch determiniert durch biologische Konstanten wie Zeugung und Geburt. Nach Karl Mannheim (1970), dem Begründer der Generations- und ersten Jugendtheorie, ist Generation nicht mehr nur biologisch begründet. Er führt innerhalb der Generationsforschung das Novum ein, dass eine Generation durch gemeinsames Handeln im historisch sozialen Raum soziologisch erkennbar und durch gemeinsame soziale, politische Interessen und Handlungsweisen als soziale Gruppierung, folglich auch als soziale Kategorie diskutiert werden kann. Inwieweit Generation politisch begründet bzw. als politische Kategorie verstanden werden kann, wird in Kapitel 4.2 hinterfragt. Trotz einer (nicht nur) biologischen Begründbarkeit von Generation, ist es wichtig, anzumerken, dass Familie auch fernab einer heteronormativen Systematik Bestand hat. Familie gelingt genauso abseits von dieser Festschreibung. Die endgültige Entscheidung im Dissertationsprojekt, wer nun tatsächlich als Teil der Familie gezählt wird, obliegt den Interviewpartner*innen und ist die logische Konsequenz abseits einer vereinnahmenden Logik und Reduktion der Familie auf eine »klassische« Familienstruktur.54 Genauso soll auf Familienbilder verzichtet werden, die aus migrationsfeindlichen Herkunftsdialogen resultieren. Vielmehr wird Familie als Ort der Möglichkeit und Chance zur positiven Persönlichkeitsentwicklung und Entfaltung betrachtet, und nicht als einzige sozialisierende oder persönlichkeitsstärkende und -fördernde Instanz.

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Wer zur Familie »gehören« kann, wird in den biografischen Erzählungen unterschiedlich ausgehandelt. Für Jasemin ist der Stiefopa wesentlicher Part der Familie (siehe in Kap. 5.3).

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2.3.1 Die Idee der (zeitlichen) Verwobenheit familialer Biografien Eine wesentliche Idee des Projektes ist jene der Verwobenheit familiärer Biografien. Die Familienmitglieder aus den unterschiedlichen Generationen sind aufgrund ihrer gemeinsamen Familiengeschichte und des kollektiven Familiengedächtnisses, innerhalb dessen generationsübergreifend relevante Erinnerungen transportiert werden, miteinander verbunden. Ein Spezifikum von mehrheimischen Familien ist, dass sie sich in geringer Generationsdauer in der Ankunftsgesellschaft, im Speziellen auch am Arbeitsmarkt, zu etablieren lernen mussten. Dadurch sehen sie sich konfrontiert mit den Prozessen innerhalb einer Außenseiter-Etablierten-Figuration (vgl. Elias/Scotson 2016). Familien, die auf eine weitaus längere Generationsdauer im geografischen und sozialen Kontext verweisen können, sind von diesen speziellen Kämpfen um Anerkennung und der Verhandlung alter und neuer Zugehörigkeiten weitestgehend verschont geblieben. Eine Familie mit Migrationserfahrung wird zum einen durch das Migrationsmoment geeint – auch wenn nicht alle Mitglieder migriert sind, sprich die Mobilitätsbewegungen im großen Stil bis dato primär die erste Generation betreffen. Das Migrationsmoment impliziert neben der Entscheidung der Pionier*innen, sich mobil über Grenzen hinwegzubewegen, die weitreichende (Aus-)Wirkung dieser auf die nachfolgenden Generationen. Es umfasst zunächst nicht die spätere, im Ankunftsort getroffene Verständigung, sich dort mit der Familie langfristig niederzulassen. Neben dem Entschluss zur Migration zielt die Idee der Verwobenheit der Familienbiografien vor allem auf das Sammelsurium der gemeinsam geteilten Erinnerungen innerhalb der Familie ab. Diese Erinnerungen können intergenerationell weitergegeben werden, müssen (und können) aber nicht von allen Mitgliedern erlebt worden sein. Das Familiengedächtnis setzt sich aus den geteilten Erinnerungen und Erlebnissen aller Mitglieder zusammen und umfasst nicht nur die Momente während und nach der Migration, sondern auch jene davor. Wie sich die Kindheit der Großeltern im Herkunftsort gestaltete, welche Ereignisse wiederum die Enkelkinder in Tirol erlebten oder welche Erfahrungen die jeweilige Generation im Austausch mit den Verwandten, die woanders leben, teilen, ist genauso Teil der intergenerationellen Artikulation wie der des familiären Gedächtnisses. Neben dem Migrationsmoment und dem Familiengedächtnis, sind die Generationsangehörigen familial vor allem durch eine zeitliche Verflechtung reziprok miteinander verbunden. Das heißt, dass die Vergangenheit mit samt den Beweggründen, die zur Migrationsentscheidung der Pionier*innen führten, auf die Gegenwart aller drei Generationen, aber besonders auf die Kinder- und Enkelkindergeneration einwirken. Genauso hat die familiale Historie Auswirkung auf die zukünftigen biografischen Umstände der Familienangehörigen. Kurzum, die Entscheidung, zu migrieren, begründet bis heute die Biografien der postmigrantischen Nachfolgegeneration und prägt vermutlich auch die Art und Weise, wie die Dominanzgesellschaft auf sie reagiert. Viele gesellschaftliche Vorurteile resultieren aus einem unreflektierten Umgang mit Migrant*innen und/oder fehlendem Wissen über Migration. Doch – und das wurde bis dato kaum untersucht – auch familiale Ressourcen haben ihren Ursprung im Migrationsentschluss und der Wanderung an sich. Die Verwobenheit familiärer Migrationsbiografien ist auf dem ersten Blick vor allem zeitlich geprägt. Gerade in der Überzeugung, dass die mannigfachen, unterschiedlichen Biogra-

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fien der Pionier*innen im Sinne einer Erinnerungskultur ein bedeutender und mitunter vernachlässigter Teil österreichischer, regionaler, lokaler und urbaner Migrationsgeschichte sind und auf die jüngste Generation agitieren, müssen sie auch von Letzteren (nach-)erzählt und interpretiert werden. Die zeitliche und überdies biografische Verstrickung der familialen Generationen zeigt die Notwendigkeit auf, die Thematik in der Trias einer neu interpretierten Geschichtlichkeit, sprich der Vernetzung und Verflechtung der Vergangenheit, der Gegenwart und ansatzweise auch der Zukunft zu realisieren. Das heißt, die Historizität der Arbeitsmigration in Innsbruck und Umgebung wird zum Anlass und Ausgangspunkt genommen, um mittels einer postmigrantischen Perspektive eine neue Rekonstruktion und Bedeutungsverschiebung dieser spezifischen Form von Migration und Migrationsgeschichte zu erwirken. Coenen-Huther (2002) stellt fest, dass jede Familie über ein eigenes Familiengedächtnis verfügt, das »als die Gesamtheit der Erinnerungen [zu verstehen ist], die jedes Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt an seine Herkunftsfamilie hat, und zwar zum einen im Hinblick auf sein eigenes Leben im Rahmen seiner Kernfamilie« (S. 38). Das familiale Gedächtnis darf jedoch nicht nur auf die Kernfamilie, wie die Autorin sie nennt, reduziert werden, vielmehr erfährt das familiale Gedächtnis, sobald das Subjekt in eine Liebesbeziehung eintritt, eine Variation oder Erweiterung. Coenen-Huther hebt speziell die Ehe als neue Form der partnerschaftlichen Vergemeinschaftung hervor. Die Ehe ist für viele Menschen ein bedeutendes Symbol dafür, ihre Liebe offiziell zu leben und zu festigen. Daneben existieren jedoch zahlreiche andere Formen, die genauso ernst gemeinte Lebenspartnerschaften implizieren und der Ehe als gleichwertig, als genauso »gedächtnisstiftend« oder »erinnerungsstiftend« gegenüberstehen sollten. Ausgewählte Studien- und Forschungsergebnisse dokumentieren, dass die Heirat in traditionellen Milieus durchaus eine Rolle spielt (vgl. Apitzsch 1999; Weiss et al. 2014; Gutekunst 2016). Davon abgesehen lassen sich speziell im städtischen Privatleben zahlreiche Formate von Partnerschaften finden, die ohne religiöse oder staatliche Zustimmung und Reglementierung vollzogen werden und funktionieren. Es ist erforderlich, zu konstatieren, dass jede Familie über ein Familiengedächtnis verfügt. Wenn sich zwei Menschen längerbzw. langfristig in einer Verpartnerung zusammenfinden, werden ihre Gedächtnisse geteilt und durch Artikulationen sprachlich vermittelt. Diese Verknüpfungen werden teilweise von dem*der Partner*in übernommen und durch Re-Artikulationen erweitert. Zwei zuvor getrennte Familiengedächtnisse erfahren eine Verselbstständigung, die aus der Gründung einer eigenen Familie55 und damit auch eines neuen Familiengedächtnisses entstehen kann.56 Neben einer zeitlichen Verbindung und ebensolchen Verschränkung der familialen Generationsangehörigen sind innerhalb der Familienlogik örtliche und temporäre Über-

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Die Gründung einer Familie muss nicht zwangsläufig gemeinsame Elternschaft bzw. Elternschaft an sich miteinbeziehen. Familiengründung kann freiwillige oder unfreiwillige Kinderlosigkeit implizieren. Eine Familie wird daher nicht erst durch das Eltern-Kind-Modell zur familialen Gemeinschaft. Artikulationen innerhalb der Familie oder der Generationen und der Zugriff auf (mindestens) ein gemeinsames Familiengedächtnis müssen zusammengedacht und nondualistisch reflektiert werden.

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schneidungen relevant. Örtlich deswegen, weil die Familienmitglieder durch spezifische Lebensmittelpunkte im Herkunftsort, Ankunftsort und auch transnational-grenzüberschreitend verbunden sein können. Diese Orte können sehr unterschiedlich und familien- oder generationsspezifisch sein. Möglich sind etwa vertraute Plätze der Kindheit (Spielplatz), reale Gebäude (das Wohnhaus der Großeltern), einzelne Räume (die Küche), Gedenkorte, um an Verstorbene zu erinnern, aber auch Orte, die sich stark von den eben genannten kontrastieren. Genauso Örtlichkeiten, die in Verbindung mit bestimmten Interaktionen, Erfahrungen oder besonderen Momenten stehen, können eine hohe Wertigkeit für die Verwandten haben. Die örtliche Verwobenheit familialer Biografien meint auch jene signifikanten Orte der Vergangenheit, die es in dieser Form oder Gestaltung möglicherweise heutzutage nicht mehr gibt, die jedoch aufgrund der damit in Verbindung gebrachten Erinnerungen wichtig sind und durch eigene und verbindende Narrationen in die Gegenwart getragen werden – sprich Erinnerungsorte. Andererseits haben auch Orte eine familiale Gültigkeit, die immer wieder gegenwärtig, z.B. in ritualisierender Form, zwecks familialer Feierlichkeiten oder Zusammenkünfte, von den jungen Erwachsenen der postmigrantischen Generation und ihren Eltern und/oder Großeltern besucht werden – Urlaubsorte. Dort finden also zeitlich begrenzte Zusammenschlüsse oder Wiedersehen statt. Digitale Räume, wie virtuelle Chats, also Kommunikationsräume oder kostenlose Onlinedienste, mit denen via Videokonferenz telefoniert werden kann, können ferner dazu genutzt werden, um die transnationalen Familiennetzwerke aufrechtzuerhalten sowie zu intensivieren. Eine temporäre Verwobenheit hinsichtlich der Familienbiografien umfasst den Umstand, dass die Angehörigen der postmigrantischen Generation potenziell, aber nicht notwendigerweise, »noch« »Zuhause« in der elterlichen Umgebung wohnen. Das Elternhaus oder die Wohnung der Eltern oder Großeltern kann durchaus nach dem Auszug »der Kinder« ein vertrauter Ort bleiben, da sich dort möglicherweise emotionale biografische Punkte, wie Kindheit oder Teile davon, abspielten und er deshalb gern, aber eben temporär aufgesucht wird. Zusammenfassend sei festgehalten: Die Biografien von Familienmitgliedern aus derselben und aus unterschiedlichen Generationen können aus mehreren Gründen und auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig verwoben sein. Erstens ist das Migrationsmoment entscheidend, das direkt auf die Pionier*innen, speziell in den Momenten der Mobilitätsentscheidung, einwirkt. Aber es besteht vor allem auch biografisch fort, da schwierige Situationen nach der Migration, mit denen sie sich auseinandersetzen mussten, wie die Folge eines Dominoeffektes effektuiert werden können. Das Migrationsmoment kommt aber auch hinsichtlich der Biografien der Kinder der Pionier*innen zum Tragen. Die zweite Generation, die vielfach im Herkunftsland der ersten geboren wurde und dort zum Teil oder ausschließlich im Ankunftsort aufwuchs, kann die Entscheidung ihrer Eltern, zu migrieren, (rückwirkend) nicht ändern, muss sich mit dieser Tatsache arrangieren – und hat dies auch getan. In der Wissenschaft wird das Pendeln der Eltern zwischen Herkunfts- und Ankunftsort, aber auch das Leben der Kleinen bei dortigen Verwandten und dem Warten auf Mutter und/oder Vater unter dem Stichwort »Kofferkinder« (vgl. Wilhelm 2011, S. 19; Karatza-Meents 2016, S. 115) diskutiert. Gülçin Wilhelm (2011) zufolge ist der »Themenkomplex ›Koffer-‹ beziehungsweise ›Pendelkinder‹ […] ein Tabu – vermutlich eines der schwerwiegendsten und schmerzhaftesten in

2. Gesichter der Migration

der Migrationsgesellschaft« (S. 29). In mehreren der biografischen Gespräche berichten die Erzähler*innen über Erfahrungen eines oder beider Elternteile, die zunächst im Herkunftsort »zurückbleiben« mussten und zeitweilig etwa bei den Großeltern, der Tante oder dem Onkel aufwuchsen. Diese Erfahrungen werden unterschiedlich, häufig negativ bewertet. Doch wäre es vorschnell, die zweite Generation pauschal mit dem Narrativ der »Angst vor dem Verlassenwerden« (Wilhelm 2011, S. 54) zu verbinden, oder mit dem Narrativ, sie würden wiederholt traumatisiert worden sein, da ihnen als Kind der Trennungsgrund nicht oder nicht ausreichend erklärt wurde (ebd., S. 55). Ohne die möglichen psychosozialen Konsequenzen hinsichtlich der kindlichen Situation der Vergangenheit und ihre potenziellen Auswirkungen auf gegenwärtige biografische Realitäten der ehemaligen Kinder relativieren zu wollen, verzerrt eine verallgemeinernde sowie defizitäre Perspektive auf diese spezielle Form der Migration und ihre Subjekte die biografische Erfahrung und Deutung der Einzelnen. Die tatsächlichen Effekte, insbesondere auf der biografischen, hier neben der familialen, (inter-)generationalen und kollektiven Ebene, sollten mittels Biografiearbeit rekonstruiert werden. Natürlich beschäftigt das familiäre Migrationsmoment in ähnlicher Weise die Enkelkinder der Pionier*innen, die zwar selbstständig ihre eigenen Entscheidungen treffen und Lebensentwürfe gestalten, sich jedoch – aus unterschiedlichen Gründen – dazu aufgefordert sehen, sich zu positionieren. Ein Auslöser, der Positionierungsprozesse induzieren kann, betrifft die Diskursebene. Hervorgerufen durch migrationsfeindliche, kulturalisierende und essenzialistische Diskurse beschließen die jungen Erwachsenen als (Gegen-)Reaktion individuelle und kollektive Umgangsweisen auf die von außen an sie herangetragenen Ungleichheits- und Diskriminierungserfahrungen. Daneben kann es ihnen ein persönliches Anliegen sein, die familiäre Migrationsgeschichte und -erfahrung als Bereicherung oder Zukunftsperspektive zu kontrastieren. Zweitens sind die Familienmitglieder mit samt ihren eigenständigen Lebensgeschichten vor allem durch die zeitlichen Komponenten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die die Biografien rahmen, eng miteinander verknüpft. Dieses Phänomen wird hier Trias der Zeitlichkeit genannt. »Trias« unterstreicht gleichzeitig die wechselseitige und kreislaufförmige Relation der drei Generationen und betont die Synergien, die im Umgang und Austausch zwischen ihnen entstehen können. In der Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte und der Situation der Vorfahr*innen beschäftigen sich die Subjekte der postmigrantischen Generation, ausgehend von ihrer gegenwärtigen Situation, retrospektiv mit den Erfahrungen und Erinnerungen der (Groß-)Eltern und deuten sie neu. Sie bauen auf ausgewählten familialen Erfahrungen, Erkenntnissen sowie Narrationen auf und machen zugleich aufmerksam auf ihre individuellen Entwürfe, Positionen und Ansichten. Ein Blick der jungen Erwachsenen in die (familiale) Vergangenheit trägt entscheidend dazu bei, den eigenen biografischen Werdegang sowie die familialen Besonderheiten zu ordnen und zu fokussieren. Drittens sind die Generationsangehörigen durch gemeinsam geteilte Erinnerungen und Narrationen über das kollektive Familiengedächtnis verbunden. Nach dem Eingehen einer stabilen, längerfristigen Partnerschaft mit einem Menschen bildet sich ein neues Familiengedächtnis heraus, das auf den beiden mit in die Beziehung gebrachten Familiengedächtnissen basiert und das sich laufend verändert und erweitert.

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Viertens sind die Familienmitglieder durch örtliche, also geografische Verbindungen, und fünftens durch temporäre Verstrickungen biografisch sowie emotional aufeinander bezogen. Überdies können im verwandtschaftlichen Setting innerfamiliäre Abhängigkeiten gegeben sein. In der Regel sind Abhängigkeiten durch Prozesse des gegenseitigen sich Annäherns und des sich Abkoppelns geregelt und können in nebeneinander bestehenden Unabhängigkeiten münden, die kein Widerspruch zu einer vertrauensvollen familialen Beziehung sind. Die in diesem Unterkapitel dargestellten Phänomene und Einflussbereiche, die Auskunft über die komplexen, lebensgeschichtlichen Verstrickungen der Angehörigen der ersten, zweiten und dritten Generation geben, dürfen nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Sie hängen vielmehr miteinander zusammen, sie können sich ergänzen, teilweise absetzen oder widersprechen. Die Biografien der drei Generationen werden durch etliche Gemeinsamkeiten umsäumt und durch mindestens genauso viele Unterschiede und Divergenzen umgeben: Großeltern, Eltern und Enkelkinder leben (meist) befristet zeitgleich, verfügen in jedem Falle über unterschiedliche Lebensalter, befinden sich in unterschiedlichen Lebensphasen und haben generationsspezifische sowie persönliche Bedürfnisse, Besonderheiten oder Interessen. Ihren gemeinsamen Hintergrund bilden familiäre, generationelle und biografische Attribute. Ein Familienbund kann, muss aber nicht, als starkes Fundament gekennzeichnet sein, innerhalb dessen die Großeltern eine Heimat verließen, die Eltern einen neuen Ort und Zwischenorte fanden und die Enkelkinder diese Orte schließlich vervielfältigen, neu erfinden. In diesem Sinne sind zwar mit Sicherheit die Angehörigen der ersten Generation Pionier*innen hinsichtlich der von ihnen vollzogenen »Migrationsarbeit«. Sie sind gewissermaßen grenzüberschreitende Pionier*innen »der ersten Stunde«, doch auch ihre Kinder und Enkelkinder sind Pionier*innen ihrer jeweiligen Generation, denn gesellschaftliche Teilhabe und Teilnahme sind nicht per se gegeben, sondern sind Teil von Forderungen, Positionierungen und Aushandlungsprozessen und wurden bzw. werden nach wie vor von ihnen mühevoll erkämpft und schrittweise angeeignet.

2.3.2 Von Allen zu den einzelnen Erzählenden der postmigrantischen Generation »The past as it appears is in terms of representations of various sorts, typically in memory images, which are themselves present. It is not true that what has passed is in the past […].« (Mead 1964, S. 345) Auf die Vielfältigkeit und Diversität sowie biografische Besonderheiten von Migrationsbewegungen und -erfahrungen wurde hingewiesen. Auch die Grundannahme, dass fast jeder Mensch über eigene oder über familiale Erfahrungen mit Mobilität verfügt, wurde näher ausgeführt. Die Normalisierung von Migrationsbiografien beruht vorwiegend auf einer soziohistorischen Argumentationsweise und erleichtert das Übertragen des Normalitätsgedankens von Migrationserfahrungen auf quasi alle von uns. Es muss jedoch dahingehend Vorsicht geboten sein, dass komplexe Erfahrungen zum einen nicht redu-

2. Gesichter der Migration

ziert und zum anderen genauso wenig (vorschnell) generalisiert werden dürfen. Mit einer Reduktion und späteren Verallgemeinerung multidimensionaler Erfahrungen wird suggeriert, dass die eine Form der Mobilität und ihre jeweiligen Erfahrungen damit mit der anderen analog wären. Dem ist nicht so. Zwar wird Migration in seiner Alltäglichkeit und somit Normalität sichtbar und kann als Exempel für Vielheit auf die heterogenen Mitglieder einer postmigrantischen Gesellschaft angewandt werden, jedoch macht es einen entscheidenden Unterschied, ob eine alleinstehende Frau aus Tirol nach München zieht, um dort zu leben und zu arbeiten, oder ob eine Familie in einem kriegsgerüttelten Land eine Flucht als einzige realistische Option sieht. Die These, dass nahezu jeder Mensch eigene oder familiäre Migrationsgeschichten miterlebt und erfahren hat, kann als eine Art Überbau für eine sich durch Diversität und Mobilität geformte (Stadt-)Gesellschaft verstanden werden. Zudem ist die Perspektive, wir wären alle durch Migration beeinflusst, eine konzeptionelle und wertorientierte; konzeptionell deshalb, da die Chancen, aber auch die Herausforderungen, Resultate des Konfliktes bzw. des »Dualismus zwischen Migrationsbefürworterinnnen und -befürwortern und -gegnerinnen und -gegnern« (vgl. Canan/Foroutan 2016b, S. 18) sind; wertorientiert deswegen, da die Analyse dieser Dualismen und Herausforderungen im Idealfall in der Realisierung und Ausdifferenzierung einer postmigrantischen Gesellschaft münden. Wertorientiert ist die Perspektive der Alltäglichkeit von Migration deswegen, weil (entgegen der Aussagen von Pluralitätsgegner*innen) der positive, diversitäts- und deutungsoffene sowie wertschätzende Blick auf Migration nicht das Fehlen einer, sondern die Bezugnahme auf eine kritische Perspektive bedeutet. Im Gegenteil: Es werden Menschen nicht mehr wegen ihrer Geschichten, die sich von der Mehrheit unterscheidenden, vom gemeinsamen Wir ausgeschlossen. Und wir können Prozesse aufdecken, die strukturelle Ungleichheiten erzeugen und die sozialen Gräben zwischen Menschen tiefer werden lassen. Von diesem Effekt würden Menschen mit geringem sozioökonomischen Status im besonderen Maße und die Bewohner*innen gesamtgesellschaftlich profitieren. Gesellschaften sind weitaus vielfältiger gestaltet, als es nationale und dominanzgesellschaftliche Narrationen vermitteln (wollen). Auf Familien, die migriert sind, trifft diese Beschreibung verstärkt zu. Familienmitglieder aus den unterschiedlichen Generationen tragen spezifische Erfahrungen, die aus den Mobilitätserfahrungen resultieren, weiter und halten an jenen Entwürfen fest, die sie überzeugen, während sie andere bewusst aufgeben. Über die erste und zweite Generation wurde bis dato viel geschrieben, gesprochen und diskutiert. Gerade den Menschen der zweiten Generation wird fast schon automatisiert zugeschrieben, sie befänden sich »zwischen zwei Stühlen.« Angehörige der ersten Generation wiederum werden als »sprachlos« und als »machtlos« fremdgedeutet. Dabei waren sie niemals und sind sie nicht sprach- oder machtlos: Ihre Sprache unterschied sich nur von der der Dominanzgesellschaft und jegliche Form des Machterwerbs wurde ihnen nicht zugestanden. Sie wurden also in der Ankunftsgesellschaft von Anfang an bewusst kleingehalten und sollten die deutsche Sprache auch »nicht richtig lernen«, denn sie sollten ja wieder zurückgehen. Dieses Bild wird auch verstärkt durch die ersten deutschen Filme, die über Migrant*innen sprechen und vor allem den Arbeitskontext der Pionier*innen aus einer dualistischen und reduktionistischen Sichtweise beleuchten. So stellen diese Filme in einer vorurteilsbeladenen Darstellungsweise den »ausländischen Mann« als Arbeiter dar, und nur als Arbeiter. Die

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Frau wiederum wird entweder gar nicht gezeigt oder wenn doch, dann als »passive Migrantin« (vgl. Strasser 2019, S. 227) charakterisiert. Diese Arten der Darstellung werden partiell bis heute reproduziert. Spielfilme mit den für die damalige Zeit bereits seltsam anmutenden Titeln, wie »Palermo oder Wolfsburg«57 oder »Angst fressen Seele auf« oder aktuelle Filme wie »Der Albaner« sind gespickt mit Vorurteilen, Stereotypen und/oder rassistischen Deutungen über die Dazukommenden. Der eingenommene Blick in den ersten Filmen der späten 1970er, 1980er und 1990er Jahre ist der eines weißen, »einheimischen«, mittelalten Mannes. Eine (langsame) Änderung des Diskurses über Migration in den Medien wird erst vollzogen, seit die Menschen, über die erzählt wurde, selbst damit begannen, Filme zu drehen, Kunst zu produzieren oder Theaterstücke zu inszenieren. Stellvertretend für eine Reihe engagierter mehrheimischer Künstler*innen im weitesten Sinne können Tua El-Fawwal, Nurkan Erpulat, Shermin Langhoff (siehe Kap. 3), Kida Khodr Ramadan, Joy Denalane, Murathan Muslu, Neda Rahmanian, Sibel Kekilli oder Fatih Akın genannt werden. Viele wissenschaftliche Arbeiten der vergangenen Jahrzehnte, von denen hier strikt Abstand genommen wird, verfolgen eine ähnliche Logik wie die Filmlandschaft. Sie verorten »Migrationsfamilien« als »zwischen Eigen- und Fremdkultur« und innerhalb einer interkulturellen Verstrickung (vgl. Fuhrer/Uslucan 2009). Bei Fuhrer und Uslucan werden Familien aufgrund der angeblichen Konflikte, die sich aus einer Inkonsistenz zwischen den »Kulturen« der Ankunft und der Herkunft zwangsläufig ergeben würden, interkulturell »analysiert« und in ein psychologisches bzw. psychologisierendes Konzept gepackt (vgl. ebd.). Wenngleich bei weiteren Publikationen die Konnotation von Migrant*innen und ihren Nachfolgegenerationen positiver ist als in der eben genannten, ist es auffällig, dass das Argumentationsschema vielfach einer Entweder-oder-Logik folgt und eine möglichst klare Kategorisierung zur Folge hat. So stellen Anne Juhasz und Eva Mey (2003) die Frage, ob sich die zweite Generation tendenziell eher als Etablierte oder als Außenseiterin verhalten würde. Die Außenseiter-Etablierten-Figuration von Norbert Elias und John L. Scotson (2016) beschreibt, wie in einer Gesellschaft, die spezifischen Prozesse des Ankommens neuer Bewohner*innen und die Frage, seit wann sie vor Ort und Teil der Gesellschaft seien, dazu beitragen, welche Rolle ihnen in der Entstehung und Verfestigung von sozialen Ungleichheiten und Machtunterschieden zugewiesen wird. Diejenigen, die später hinzukommen, lösen, verkürzt gesagt, die ehemaligen »Außenseiter«, die nun zu Sich-Etablierenden bzw. Etablierten avancieren, mit samt deren strukturell bedingten Ressourcen und deprivilegierten Positionen ab (vgl. ebd.). Das Konzept von Scotson und Elias überzeugt durch die vielschichtige Deutung komplexer sozialer Prozesse der Gesellschaftswerdung und Aneignung spezifischer Positionen innerhalb dieser. Die Überschrift der Publikation von Juhasz/Mey (2003) lautet: »Die zweite Generation: Etablierte oder Außenseiter? Biografien von Jugendlichen ausländischer Herkunft«. Das Problematische an dieser Überschrift und der Publikation an sich ist weniger die relativ unkritische Übernahme der Begrifflichkeiten »Etablierte« und »Außenseiter«, sondern die Tatsache, dass die jungen Menschen, um die es gehen 57

Der Film »Palermo oder Wolfsburg« stammt von Wolfgang Schroeter (1980), »Angst fressen Seele auf« von Rainer Werner Fassbinder (1974), »Der Albaner« von Johannes Naber (2010). Vgl. kritisch dazu Langhoff 2018, S. 305ff.

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soll, innerhalb einer binären Deutung reproduziert werden: Sie sind entweder Etablierte oder Außenseiter. Ihre Biografien können aufgrund der im Vorfeld getroffenen Kategorisierung in keiner Deutungsoffenheit beleuchtet werden, sondern werden auf die »eine« oder »andere« Möglichkeit hin markiert. Wir nähern uns nun kontinuierlich den Forschungssubjekten. Der Weg zieht sich also von »Allen« zu einzelnen Erzähler*innen der postmigrantischen Generation hin. Hinsichtlich der postmigrantischen Generation ist spannend zu hinterfragen, wie sich einerseits familiär erlebte, kollektive Erfahrungen auf das Familiengedächtnis auswirken und welche Narrations- und Interpretationsleistung durch die jungen Erzählenden entstehen. Daneben wird gefragt, wie das Familiale wiederum die biografische Situation der postmigrantischen Generation prägt. Andererseits interessiert, welche spezifischen biografischen Lebensrealitäten aus den Narrationen der postmigrantischen Generation rekonstruiert werden können. Da das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft meist ein nationales ist (vgl. J. Assmann 1988; 1999) und Migrant*innen und ihre Familien darin nicht nur aufgrund der »kurzen Dauer vor Ort« nur bedingt mitgedacht werden, ist eine Fokussierung auf familiale Gedächtnisstrukturen (siehe Kap. 5.1) und intergenerationelle Erinnerungsformen (siehe Kap. 5.1.1) und Erinnerungspraktiken besonders relevant. Es ging bis hierhin darum, Migration als Normalität, die Alle oder zumindest Viele betrifft, zu begreifen. Ebenso wurde versucht, einen roten Faden zwischen dem Sparkling-und-Citizen-Science-Projekt »Gesichter der Migration. Tiroler Jugendliche erforschen ihre familiale Migrationsgeschichte«, der »Normalität von Migration im Klassenzimmer« über die Idee der mehrfachen Verwobenheit der familialen Migrationsbiografien hin zur Relevanz, die biografischen Erzählungen der jungen Erwachsenen der postmigrantischen Generation zu rekonstruieren, zu spannen. Es wurde die Notwendigkeit dargelegt, sich auf die biografischen und familialen Narrationen einzelner Erzählender zu konzentrieren, ohne relevante strukturelle, politische, soziale Faktoren, die ihre Lebensentwürfe tangieren (können), außer Acht zu lassen. Durch die situativ artikulierten Narrationen vonseiten der jungen Erwachsenen können eine Vielzahl und breite Heterogenität der biografischen Erzählungen, Erinnerungen, Erfahrungen, Meinungen sowie Interpretationen, aber andererseits auch eine Generalisierbarkeit der Generationserfahrungen- und Generationsbeziehungen erwirkt werden. Eine These ist, dass die Nachfolgegeneration – entgegen den weitverbreiteten Meinungen und Diskursen – von den Migrationserfahrungen der Großeltern und oder Eltern profitiert und daraus eigene Lebenswelten- und realitäten kreiert. Die postmigrantische Generation schreibt eigene Geschichten und erzählt diese selbst. Dabei hat sie jedoch immer auch die wertvolle Option, auf eine familiale Gemeinschaft, die verschiedene Wissensarten herstellt und mit ihr teilt, zurückzugreifen. Ich erachte Familien generell als Orte, an denen eminentes Wissen weitergegeben wird und spezifische Kapitalsorten akkumuliert werden. Familien mit transnationalen Migrationserfahrungen können – und das ist bedeutend – auf eine Art von Wissen repetieren, das ein höchst spezifisches ist und z.B. mit mehreren Sprachkompetenzen oder neu erlernten Fähigkeiten sowie Kompetenzen in Wechselbeziehungen steht. Eine Ressource, die Familien mit transnationalem Background erwerben können, ist – wie ich es nenne – Strategiefähigkeit, also die Fähigkeit, in schwierigen Situationen Strategien zu finden, die einen Umgang mit diesen erleichtern.

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Eigene/familiale Biografien und eigene/familiäre Erfahrungen müssen immer zusammengedacht werden, da sie sich wechselseitig bedingen und beeinflussen. Das Narrativ, das die jungen Erwachsenen als Folge oder als (Gegen-)Reaktion zur tradierten Familienerzählung beschließen, baut auf den biografischen sowie familiären Erfahrungen und dem Erzählten auf. Das Narrativ ist zuallererst das Konstrukt und zudem das Produkt der postmigrantischen Generation und spezieller noch, der Erzählenden selbst. Die postmigrantische Generation, die es weder als solche noch als homogene Gruppe gibt, kennt den jeweiligen familiären Bezugsrahmen und kann ihn in Korrelation zur eigenen gegenwärtigen, aber auch vergangenen Vita setzen. Sie wählt eigene Lebensentwürfe aus und trifft autarke Entscheidungen. Sie zieht ihren Nutzen und wichtiger noch, tiefergehende Erkenntnisse aus tradierten Erfahrungen und Erinnerungen. In umgekehrter Art und Weise können auch die Familienmitglieder und die Umgebung von den Lebensgeschichten, Erkenntnissen und Entscheidungen der Nachfolgegeneration profitieren. Dazu ist es signifikant, dass der postmigrantischen Generation ihre wichtige Position von außen zuerkannt wird und vor allem dass die postmigrantische Generation auch sich seiner selbst – durch Selbstpositionierung – bewusst wird: Denn eine selbstbewusste Generation bringt die eigene Familie, aber auch die postmigrantische Gesellschaft, nach vorne und übersetzt alte und gegenwärtige Diskurse, Ideen und Vorstellungen in die Jetzt-Zeit.

3. Die Idee des Postmigrantischen: Von der (politischen) Kunst in die Wissenschaft

»Für mich lag die Anwendung des Begriffs des ›Postmigrantischen‹ auf das Theater auf der Hand. Denn damit bot sich die Gelegenheit, einen Ansatzpunkt für Kritik sowohl am Produzierenden zu finden, wie auch am Zuschauenden. Der Begriff befragt ja auch den Blick – und damit war er wie geschaffen dafür, die Szene wenigstens ein wenig zu verstören.« (Langhoff 2018, S. 306)

Die Idee des Postmigrantischen geht auf Shermin Langhoff, seit 2013 Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin, zurück. 2008 formierte sie das »Postmigrantische Theater« in Berlin, das sich begrifflich aus einem von Langhoff gelesenen Interview ableitet, in dem die Frage in den Raum gestellt wurde, ob Feridun Zaimoğlus literarisches Wirken – in Abgrenzung zu vorherigen Schriftsteller*innen mit Migrationsbiografien – gedeutet werden könne im Sinne einer »Literatur nach der Migration« (vgl. Langhoff 2018, S. 304). Die Formulierung »nach der Migration«, die mit »postmigrantisch« übersetzt werden kann, wurde nach diversen Aushandlungsprozessen vonseiten der Intendantin schließlich zu »postmigrantisch« bzw. »Postmigration« und somit auch zur Selbstbenennung, zur Abgrenzung von dominanzgesellschaftlichen Diskursen, die Migration und ihre Subjekte in eine Abseitsposition drängen. »Postmigrantisch« wurde auch zu einem Paradigma, das Auskunft über die Deutungshoheit hinsichtlich der eigenen Biografie und der selbst ausgearbeiteten Lebensentwürfe gibt. Das Interessante an der Entstehungsgeschichte des Postmigrantischen ist, dass sie eng verknüpft ist mit der Lebens- und Familiengeschichte der Namensgeberin und der politischen Person Shermin Langhoff sowie den Prozessen hin zu ihrer politischen Positionierung. Das Wort postmigrantisch hat für mich und meine Arbeit in mehrfacher Hinsicht Bedeutung: Es gibt mir einen Raum, in dem ich mich wiederfinde, ohne etwas von mir und meiner Geschichte aufgeben zu müssen; es bildet um mich eine Gruppe der sich von Zuschreibungen Befreienden; es ist mir ein Auftrag, weil es eine gesellschaftliche Vision bezeichnet, von deren Einlösung wir hier noch meilenweit entfernt sind. Ein Begriff löst noch keine Probleme. Und doch ist es ja meistens schon ein gewaltiger

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Schritt, wenn ein Wort gefunden wird, mit dem sich das so schwer Sagbare ausdrücken lässt. (Langhoff 2018, S. 301) Mehrere Ebenen sind in der Entstehung des Begriffes, die zu der späteren künstlerischen, wissenschaftlichen und politischen Ausrichtung führten, wesentlich: Erstens ist das Postmigrantische primär biografisch begründet. Langhoff erzählt von fehlenden Orten in der Zeit ihres Aufwachsens und von verwehrten Möglichkeiten, um sich als Teil mehrerer gesellschaftlicher, sozialer und milieuspezifischer Zugehörigkeiten ausdrücken und politisieren zu können bzw. zu dürfen. Dazu schreibt sie: »Wir wollten raus aus der Nische, ohne unseren politischen Impuls zu verlieren« (ebd., S. 302). Sie attestiert gerade den Institutionen der Kulturarbeit, wie Theater oder Museen, ausdrücklich eine spezifische, bildungsbürgerliche, »einheimische« Gruppe anzusprechen und Migrant*innen und ihre Nachfolgegenerationen dabei absichtlich nicht mitdenken zu wollen. Diese woll(t)en aber mitgedacht werden: Mehr und mehr beschäftigte uns die Frage, wie eine Begegnung auf Augenhöhe im kulturellen Bereich möglich sein könnte, eine Vermittlung unserer Anliegen nicht als deutscher Diskurs, aber sehr wohl als ein Teil des öffentlichen Diskurses in Deutschland. (Ebd.) Wenn Langhoff von »unseren Anliegen« spricht, redet sie aus mehreren Positionen heraus: Sie verständigt sich gleichzeitig als Repräsentantin einer Minderheit in Deutschland, aber auch als vor Ort geborene Angehörige der zweiten Generation, als zivilpolitische Akteurin und als Kunstschaffende in (späterer) offizieller Rolle als Theaterintendantin. Zweitens ist der Begriff des Postmigrantischen entscheidend durch Kunst, das künstlerische Moment des Schaffens und die politische Rolle bzw. Möglichkeit der Kunst geprägt. Kunst ist nahezu immer politisch, häufig auch dann, wenn der*die Künstler*in sich nicht als politisch benennt oder das Werk als politisch intendiert artikuliert. Die Kunst selbst ist an bestimmte Selbstverständlichkeiten, aber auch an zeitliche Dimensionen gebunden. Oder, wie es auf dem Wiener Sezessionsgebäude in goldener Schrift geschrieben steht: »Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit!« (vgl. dazu Hevesi 1984). Shermin Langhoff zeichnet nach, welche Entwicklungen in der Kunstlandschaft notwendig waren, sodass sich Jahre und Jahrzehnte später postmigrantische Perspektiven herausbilden konnten. Dazu verweist sie zum einen auf die Filmlandschaft, die in den 1990er Jahren durch Regisseur*innen wie Fatih Akin bunter, vielfältiger, heterogener und kritischer wurden: Das Entscheidende: durch die Filme wurden Geschichten von Migrant*innen und ihren Kindern in den kollektiven deutschen Erzählkanon eingespeist, sie wurden nicht allein wegen ihrer sozialen Funktion rezipiert, sondern erzählt, weil sie gut erzählt waren. (Langhoff 2018, S. 303) Natürlich ist auch der Film an sich und als künstlerisches Ausdrucksmittel im Speziellen politisch. Das Kulturelle und die Kunst als Überbegriff wirken auf das Politische ein. Sie sind wesentlicher Teil des politischen Ausdrucks und werden dadurch verschriftlicht, gehört und/oder visualisiert, wenn auch nicht von allen gleichermaßen.

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Langhoff, die in Nürnberg als Tochter türkischer Einwander*innen geboren wurde, politisierte sich früh, war aktiv in verschiedenen linkspolitischen, zivilgesellschaftlichen, künstlerischen und kulturellen, auch subkulturellen Milieus, Bewegungen, Vereinen und bei diversen Veranstaltungen. Dabei fand sie Zugang zu verschiedenen künstlerischen und politischen Ausdrucksformen und Stilmitteln. Sie unterstreicht vor allem »die (Wieder)Entdeckung des Theaters als Ausdrucksform künstlerischer und damit politischer Praxis und die Begegnung mit dem Begriff postmigrantisch, der mir im diffusen Raum identitätsbezogener Zuschreibungen einen festen Stand gab.« (Ebd., S. 305) Das Theater galt, und ist es als Ganzes auch heute noch, als Repräsentation des bürgerlichen Milieus und besonders einer dominanten, weißen und männlichen Gruppe (vgl. ebd.). Das »Migrantische« kommt/kam dort kaum vor, und wenn doch, dann in einer sehr vereinfachenden, binären und defizitorientierten Darstellungsweise. Das Theater, aber auch Museen, boten kaum neue Deutungsmöglichkeiten an und stellten auch keine innovativen Räume zur Verfügung, in denen Platz für kontroverse Diskussionen und Diskurse, die sich fernab des Mainstreams bewegen, geschaffen wurden: Empowerment von als Minderheiten markierten Gruppen wird nur so lange toll gefunden, solang sie nicht den Anspruch erheben, in den Garten der Berliner Festspiele eingeladen zu werden. Dann hört der Spaß auf. (Ebd., S. 307) Berlin, die Stadt, in der sich das Postmigrantische Theater seit über 10 Jahren verortet, ist durch Vielheit und Migrationen geprägt. Die Kunstlandschaft klammert sie jedoch immer noch weitestgehend aus. Umso wichtiger sind Initiativen, wie das Postmigrantische Theater, in denen die Schauspieler*innen nicht einfach darauf warten, bis sie gesamtgesellschaftlich und gesamtpolitisch gehört werden, sondern sich selbst Gehör verschaffen und anderen Marginalisierten das Mitwirken innerhalb kontroverser, pluralistischer Diskussionen genauso zugestehen, wie sie es gern im umgekehrten Fall auch hätten. Im Folgenden übertrage ich den Begriff »postmigrantisch« auf den (erziehungs-)wissenschaftlichen Kontext.

3.1 »Postmigrantisch« – eine Begriffs- und Kontextbestimmung 2015 wurde der wissenschaftliche »Arbeitskreis Kritische Wissensproduktion in der postmigrantischen Gesellschaft« (vgl. Foroutan et al. 2018b, S. 10) ins Leben gerufen und brachte somit das Postmigrantische zum Zweck einer »aktuellen Gesellschaftsanalyse, die Migration nicht zum Sonderfall, Mehrfachzugehörigkeit nicht zum Problem und Rassismus nicht zur Ausnahmeerscheinung erklärte« (ebd.), in die wissenschaftliche Debatte ein. Seitdem werden im deutschsprachigen Kontext unter dem Terminus »postmigrantisch« und im Zuge einer postmigrantischen Analyseperspektive Themen diskutiert, die mit Migration, Pluralität, Diversität, urbanem Zusammenleben und Mehrdeutigkeiten zu tun haben, aber dabei niemals die gesamte (Migrations-)Gesellschaft aus dem Blick verlieren. Das Postmigrantische ist keine Idee, die bei Migration beginnt und dort endet, sondern soziale, politische, gesellschaftliche Schieflagen, Fragestellungen, Konfliktlinien und Diskussionspunkte verhandelt, die alle Mitglieder einer Gesellschaft betreffen. Es

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geht also darum, »zentrale gesellschaftliche Verhältnisse« als Teil postmigrantischer Visionen zu debattieren. (Vgl. Hill/Yıldız 2018) Die Vorsilbe »post« bedeutet ein »Nach«, kündigt aber kein Ende von Mobilität und Vielheit an, sondern drückt die Notwendigkeit aus, sich zu beschäftigen mit den mannigfachen Erfahrungen, die die Menschen nach ihrer Migration oder nach der Migration ihrer (Groß-)Eltern vor Ort gemacht haben und aktuell tätigen. Das »Nach« impliziert des Weiteren die Veränderung und Wandelbarkeit der postmigrantischen Gesellschaft durch Migrationserfahrungen. Es fordert und fördert aber auch gesellschaftliche Prozesse, die durch Migration angestoßen werden, wie etwa die Postulate nach gleichen Bürger*innenrechten. Es betrifft Aushandlungen hinsichtlich der vorhandenen Ressourcen, aber auch neue Umgangsweisen mit den bisherigen Selbstverständlichkeiten, die »endlich« hinterfragt werden. Der Verweis auf das »post« im »Migrantischen« drückt die vollzogene Handlung der Migration aus, die zur Grundlage der Analyse komplexer Prozesse des Zusammenlebens, der heterogenen Lebensverhältnisse und vielschichtigen Lebenswirklichkeiten werden. Demnach konstituiert Migration zwar unsere Gesellschaft, wie wir sie kennen, ist aber nicht die alleinige Größe, die untersucht wird. Es wird vielmehr über das Migrationsmoment hinausgeschaut und gedacht (vgl. Foroutan 2018b), der Radius der Betrachtung wird gewissermaßen ausgedehnt, indem gesellschaftliche Transformationen, Trennlinien und Diskurse fokussiert werden (vgl. ebd.). Migration ist nämlich kein abgeschlossener Prozess, schon gar nicht im postmigrantischen Sinne. Vielmehr müssen wir begreifen, wie sich eine postmigrantische Gesellschaft (also eine Gemeinschaft, die wir so, wie wir sie kennen, durch Migration(-en) geworden sind), mit den heterogenen und teils divergierenden Lebensweisen, den vorhandenen gesellschaftlichen, sozialen Strukturen und ihrer Veränderbarkeit umgeht. Die postmigrantische Gesellschaft tangiert also all jene »gesellschaftliche Aushandlunge[n], die nach der Migration erfolgen, die hinter der Migrationsfrage verdeckt werden und über die Migration hinausweisen« (Foroutan 2019, S. 19). Migration ist also nicht nur Frage, Prozess und Ausdruck von und für Migrant*innen und ihre Familien, sondern ist Teil der Gesellschaft und ihrer Analyse. Eine Gesellschaft kann dann mit dem Attribut »postmigrantisch« belegt werden, wenn sie sich, so Foroutan, selbst als Einwanderungsgesellschaft bzw. Einwanderungsland versteht, die bzw. das es aufgrund der Dynamiken von Migrationsbewegungen geworden ist. Zudem muss die postmigrantische Gesellschaft die Idee der (politischen) Wandelbarkeit von Gemeinschaft durch Migration als Narrativ aufnehmen, verarbeiten und tradieren. Nun wird dargelegt, welche Schritte einer Operationalisierung des Postmigrantischen (vgl. Foroutan 2018b, S. 16ff.) dazu verhelfen können, die postmigrantische Analyseperspektive auf gesamtgesellschaftliche Prozesse anzuwenden. Als ersten Zugang, der einer »Operationalisierung des Postmigrantischen« dient, wird ein empirisch-analytischer genannt (ebd., S. 18). Die empirische Forschung von Themen mit postmigrantischen Bezug setzt sich mit Pluralitätsbezügen, Nationalbezügen, Religionsbezügen und Wissens- und Kontextbezügen (vgl. ebd.) auseinander.

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Alle diese genannten Bezugsformen beruhen auf einer wichtigen Selbstdefinition, die Deutschland1 , aber auch Österreich wenn auch spät getroffen haben, nämlich das Bekenntnis, ein Einwanderungsland zu sein! Diese Aussage ist eine durch und durch politische. Durch die politische Würdigung des Zuzugs neuer Bewohner*innen ist ihr Status durch politische Rechte legitimiert. Erst auf dem Fundament der politischen Anerkennung werden soziale, gesellschaftliche und rechtliche Übereinkünfte gesetzlich gestützt und als gesetzlich bindend angesehen. (Vgl. Foroutan 2018b, S. 16ff.) Mit der Benennung, Einwanderungsland zu sein, kann empirisch nun die Frage untersucht werden, wie es sich nach der Migration von Menschen, die nun Teil der Gesellschaft sind, verändert hat (vgl. ebd.). Eine empirisch-analytische Erhebung, die erstens nach den Pluralitätsbezügen fragt, erforscht, welche gesellschaftlichen Positionen und Standpunkte sich nach der Migration etwa hinsichtlich religiöser, ethnischer oder kultureller Pluralität ergeben und wie z.B. mit spezifischen Minderheiten real und diskurstechnisch umgegangen wird. Zweitens geht es in puncto Nationalbezüge darum, zu fragen, welche nationalen Bezüge aktuell, aber auch in der Vergangenheit vor Ort gültig waren und wie sie das Zusammenleben verschiedener Menschen prägen und Exklusionsmechanismen fördern können, wenn Migrant*innen und Minderheiten nicht im nationalen Gedächtnis berücksichtigt werden. Drittens veranschaulichen Religionsbezüge die Ansichten und Einstellungen der Gesellschaft in Bezug auf religiöse Minderheiten und deren Rechte. Nach Foroutan werden vor allem die demokratisch legitimen Rechte von Muslim*innen kritisch beäugt. Der Blick auf Mitmenschen muslimischen Glaubens ist derzeit verschärft durch diskriminierende Diskurse beeinflusst und wird mittels eines antimuslimischen Rassismus veralltäglicht. Aus diesem Grund muss verstärkt empirisch erforscht werden, welche Rechte Muslim*innen und genauso anderen Religionsgemeinschaften zuerkannt und welche Formen der Gleichbehandlung und -berechtigung sowie der Sichtbarkeit ihnen im öffentlichen Raum abgesprochen werden. Die viertens Wissens- und Kontextbezüge fokussieren auf das Wissen der Bewohner*innen und ihre Einschätzungsfähigkeit hinsichtlich pluraler Kontexte, die die Gesellschaft determinieren. Konkret geht es z.B. um die Frage, welche tatsächlichen Wissensformen Menschen über Muslim*innen haben und inwieweit geglaubtes Faktenwissen in Wahrheit ein postfaktisches, gefühltes und demnach gar kein »richtiges Wissen« ist. Der zweite Zugang, der einer Operationalisierung des Postmigrantischen zugutekommt, ist ein gesellschaftlich-politischer. Dort geht es primär darum, zu erklären, anhand welcher Konfliktformationen und diskursiven Bruchlinien eine postmigrantische Gesellschaft verläuft. Foroutan beschreibt, dass diese Linie mit Migration betitelt, aber vielmehr eine »Chiffre für Pluralität [ist], hinter der sich vieles versteckt: Umgang mit Gender-Fragen, Religion, sexueller Selbstbestimmung, Rassismus, Schicht und Klasse, zunehmende Ambiguität und Unübersichtlichkeit« (Foroutan 2018b, S. 18). Sie erklärt weiter: Um diese Bruchlinie herum befinden sich zwei große Lager, einerseits die Pluralitätsbefürworter*innen und andererseits die Pluralitätsgegner*innen, die sich wiederum temporär oder auch längerfristig in Verflechtungen und Allianzen organisieren. 1

Naika Foroutan bezieht ihre Ausführungen auf die postmigrantische Forschung in Deutschland, nicht Österreich. Bezüglich Österreich ist die Studie »Österreich postmigrantisch« von Erol Yıldız (2017) prägnant.

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Während die Ersten Pluralität gegenüber per se offen(er) sind und symbolische, nationalstaatliche oder soziale Grenzen entgrenzen oder einschränken möchten, fordern die Letzteren ihre bekannten Begrenzungen und Abgrenzungen zurück, z.B. in Form nationaler Container. (Vgl. ebd.) Im dritten Zugang rückt die normative Idee in den Blickpunkt der Betrachtung. Der normative Zugang will »eine radikale, antirassistische Ausweitung der Perspektive auf Migration und eine Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Konflikten um symbolische und materielle Anerkennung, die MigrantInnen und ihren Nachkommen verwehrt bleibt« (Foroutan 2018b, S. 19). Das Normative im Postmigrantischen bedeutet auch einen reflektierten Umgang und eine Neubewertung alter (De-)Privilegien und der Mechanismen, die Anteil daran haben, dass spezifische Gruppen bevorzugt und andere benachteiligt werden. Fragen nach Etablierung, nach den Begünstigungen und ihrer Regulierung bzw. Sicherung, müssen neu gestellt, »gerechter« verteilt und nicht an der dualen Achse zwischen Migrant*innen und Nichtmigrant*innen unterteilt werden. (Vgl. ebd.) Die Möglichkeiten, mittels einer postmigrantischen Perspektive zu forschen und die eventuellen Fragestellungen, die zurate gezogen werden können, sind vielfältig. Die hier genannten markieren wichtige Fragen, bleiben jedoch fragmentarisch. Bevor in Kapitel 3.2 die postmigrantische Leseart, die in dieser Arbeit eingenommen wird, erläutert wird, sollen abschließend noch vereinzelte Gedanken hinsichtlich der Anforderungen an eine postmigrantische Gesellschaft besprochen werden: Welche Herausforderungen müssen bewältigt werden, damit eine postmigrantische Gesellschaft tatsächlich zu einer solchen werden kann und damit diese Gesellschaft von der Diversität der Bewohner*innen tiefergreifenden Nutzen ziehen kann? Der erste Schritt auf dem Weg hin zu einer Etablierung des Postmigrantischen im gesellschaftlichen Rahmen wurde erwirkt durch die Anerkennung, Migrationsland zu sein, und der damit hergehenden Rechtfertigung für die Verteilung der politischen Rechte an die Citizens. Diese Tatsache muss jedoch noch dahingehend vertieft werden, dass zwischen den Bewohner*innen, die unterschiedlich lange vor Ort sind, keine symbolischen, rechtlichen Abstufungen (mehr) getätigt werden, sondern, dass das Paradigma der Anerkennung mit samt den dazugehörenden Rechten auf sie gleichsam übertragen werden. Des Weiteren muss die Anerkennung als Einwanderungsland die Folge mit sich ziehen, dass die Entstehung eines gemeinsamen Narrativs forciert wird. Ein Narrativ, dass Auskunft darüber gibt, wie eine Gesellschaft der Vielen durch Viele etabliert wurde. (Vgl. Foroutan 2018b, S. 20f.) Zudem ist es federführend, allen Dazukommenden jene verbindlichen Rechte zuzugestehen, die auf demokratischen Werten und normativen Wertvorstellungen basieren. Genauso muss angestrebt werden, die Sichtbarkeit von Minderheiten auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu erwirken, gegebenenfalls staatlich zu verordnen. Das heißt konkret, dass erst danach gefragt werden muss, in welchen Bereichen, staatlichen und privaten Institutionen sowie Bildungseinrichtungen Migrant*innen vorkommen oder nicht vorkommen und in welchen beruflichen Positionen sie, gemessen an den Einwohner*innenzahlen, deutlich unterrepräsentiert sind. Gerade in beruflichen Tätigkeits- und Wirkungsbereichen, die besonderes soziales Ansehen bedeuten oder ein hohes finanzielles Verdienst versprechen, halten bestimmte Personengruppen am Einflussbereich fest. Das österreichische Parlament und die ös-

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terreichische Bundesregierung, die durch ihre selbsternannten Volksvertreter*innen die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit widerspiegeln sollen, tun es nicht. Zwar sind mittlerweile prozentual mehr Frauen dort beschäftigt, weiße, alte Männer bilden jedoch nach wie vor die größte Gruppe ab. Vertreter*innen mit eigener oder familialer Migrationsbiografie werden in der österreichischen Politiklandschaft kaum berücksichtigt oder werden als Ausnahmen hochstilisiert, wie die Grünenpolitikerin und derzeitige Justizministerin in der Regierung »Schwarz-Grün«2 Alma Zadić. Dazu schreibt Mark Terkessidis (2010): Hochgebildete und erfolgreiche Personen mit Migrationshintergrund wiederum werden von Leuten, die weder den gleichen Bildungsgrad noch Erfolg haben, mit selbstverständlicher Anmaßung als gelungene Beispiele für Integration bezeichnet. Daraus erwächst das unangenehme Gefühl, ständig begutachtet zu werden, aber nicht genau zu wissen bzw. wissen zu können, an welchen Kriterien sich die Beurteilungen orientieren. (S. 83f.) Gerade im Parteipolitischen ist es auch ein ideologischer, ein normativer Kampf um die Frage nach mehr oder weniger Vielfalt. Vor allem die Besetzung von Berufen, die weniger gut entlohnt, aber gesellschaftlichen Einfluss und Tragweite haben, wie der Beruf des*der Lehrer*in, werden durch öffentliche und politische Diskurse begleitet. Die Beobachtung, dass eine Reinigungsfrau mit Kopftuch »niemanden störe«, trifft weniger auf Pädagoginnen zu, die Hijab tragen. Pluralitätsgegner*innen, Rechte und Konservative sehen durch dieses Kleidungsstück die schulische Bildung bedroht, wobei Bildung in solchen Situationen mit Erziehung gleichgesetzt, ansonsten davon getrennt wird. Eine muslimische Frau, die ein Kopftuch trägt, gilt schnell als »nicht emanzipiert« oder »fundamentalistisch«.3 Ausgeklammert wird dabei, dass im alpin-urbanen Raum, in der katholischen Kirche, aber auch bei anderen gemeinschaftlichen Festen ein Kopftuch getragen wird. Stattdessen entsteht neben einem einseitigen, dualen Diskurs eine Ausgrenzungspraxis, die Frauen auf ihre religiöse Orientierung reduziert, sie regelrecht daran festmacht und nicht nach ihren sonstigen Zugehörigkeiten (Studentin, Frau, Tochter, Sportlerin, Mutter, Partnerin, Musikerin, …) fragt, da ihnen diese nicht zugestanden oder zugetraut werden. Auch im Medialen sind mehrheimische Personen weniger sichtbar. Ihr Anrecht, im öffentlichen Kontext gehört zu werden, die eigene Expertise vorzutragen, geht auch gegenwärtig noch mit zahlreichen Kämpfen und Aushandlungsprozessen um Anerkennung und Repräsentation einher. Ähnlich wie in der Parteipolitik ist es in der Literatur, in der Kunst, im Leistungssport, aber auch im Alltäglichen, im Trivialen: Menschen mit (familialer) Migrationsbiografie werden nicht im gleichen oder im ähnlichen Maß »präsent gemacht«, wie jene ohne Migrationserfahrungen. Es geht hier ausdrücklich

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Bevor der ehemalige Bundeskanzler Sebastian Kurz aufgrund mehrerer Politskandale zurücktrat, wurde eben diese Regierung als »Türkis-Grün« bezeichnet. Nach Kurz’ Rücktritt änderte die ÖVP ihre Parteifarbe von »Türkis« in »Schwarz« um. In der Debatte um das Kopftuch werden sowohl das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Gläubigen als auch die Privatheit von Religiosität und Glauben unzureichend thematisiert bzw. hervorgehoben.

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um die Machtposition und Ignoranz von Entscheidungsträger*innen, die sich dazu entschließen, ein »Präsentmachen« spezifischer Minderheiten nicht zu erwirken. Die Subjekte selbst sind selbstverständlich präsent, sie werden aber nicht präsent gemacht – und wenn doch, dann in einer Besonderung. Foroutan (2018b, S. 25) betont hierbei eine »Utopie der Gleichheit« aller Menschen in einer postmigrantischen Gesellschaft. Diese Gleichheit aller verbleibt jedoch so lange in der Unwirklichkeit verhaften, wie die Bruch- und Trennlinien weiterhin an der Kategorie »Migration« bzw. »Pluralität« verlaufen. Naika Foroutan zufolge ist es essenziell, die diversen antagonistischen Positionen, die sich in der postmigrantischen Gesellschaft herausgebildet haben, ernst zu nehmen und aufzuzeigen. Damit es zu keinen Verhärtungen der diskursiven Positionen führt, hat die postmigrantische Gesellschaft gelernt, nicht nur mit »Gleichgesinnten«, sondern auch mit Menschen mit verwandten und entfernteren Ideologien, Allianzen und Zusammenschlüsse einzugehen. (Vgl. ebd., S. 22f.) Ein Beispiel hierfür ist der Zusammenschluss großer Teile der mehrheitlich jungen »Fridays for Future«-Bewegung mit der Gruppe der »Omas gegen Rechts«, die als Erkennungsmerkmal gestrickte Wollmützen am Kopf tragen. Gemeinsam tritt diese lose Verbindung lautstark bei Demonstrationen etwa hinsichtlich der Migrations- und Umweltpolitik in Erscheinung. Damit eine postmigrantische Gesellschaft das Attribut postmigrantisch im Sinne einer »radikalen, über das Migrantische hinausweisenden Utopie der Gleichheit, die außerhalb der Herkunft verhandelt wird« (Foroutan 2018b, S. 25) auch verdient, ist ein adäquater Umgang mit Ungleichheitserfahrungen und gesellschaftlichen Schieflagen erforderlich. Eine Gesellschaft der Vielheit hat von allem viel, auch von Konflikten. Sie findet aber auch viele Wege und Umwege, um damit umzugehen!

3.2 Die postmigrantische Leseart Ich habe bis hierher die Entstehung des Postmigrantischen bzw. der postmigrantischen Perspektiven besprochen. Auch die Wege des Postmigrantischen von der Kunst hin zur Wissenschaft und die vielen Möglichkeiten des Forschens unter einem postmigrantischen Paradigma wurden aufgezeigt. Nun erläutere ich, weswegen ich eine postmigrantische Leseart favorisiere, unter der ich die Biografien der Nachfolgegeneration sowie ihre Narrationen und Deutungen rekonstruiere und diskutiere. Im Folgenden soll es darum gehen, welche Annahmen und Spezifika hier mit dem Postmigrantischen einhergehen. Ich nehme in dieser Arbeit eine Forschungsperspektive ein, die sich mit konventionellen und traditionellen Wissensordnungen im Migrationskontext kritisch auseinandersetzt und dabei biografische und familiale Migrationserfahrungen zugleich zum Anstoß nimmt und zum Anknüpfungspunkt der Forschung macht. Diese Art der Forschung erfordert eine spezifische Herangehensweise, nämlich eine postmigrantische Lesart. Diese wurde in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum zunehmend kontrovers diskutiert und wird bisweilen auch abgelehnt, wenngleich sie auch zahlreiche Verfechter*innen hat (vgl. z.B. Hill 2016; Foroutan et al. 2018a; Hill/Yıldız 2018; Foroutan 2019; exemplarisch sind für den österreichischen Kontext zu nennen: Gruber/Ratković 2017; Yıldız 2017; Ratković 2018). Die postmigrantische Leseart

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wird durch das Novum ausgezeichnet, dass sie den etablierten Migrationsdiskurs, der in der Unterscheidung von Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen verhaften bleibt, aus der Erfahrung und Perspektive von Migration neu denkt und eine selbstkritische Migrationsforschung favorisiert (vgl. Römhild 2014; Yıldız, 2019b). Somit stehen nicht mehr Eindeutigkeit bzw. Homogenität im Mittelpunkt der Erzählungen, sondern bislang tabuisierte und marginalisierte Narrationen. Doch auch ihre Verschränkungen, Überschneidungen, Überlappungen, Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen und die daraus resultierenden Wirklichkeitskonstruktionen und Wissensformen rücken in den Fokus (vgl. Yıldız 2018c, S. 50). Der postmigrantische Blick öffnet folglich neue Perspektiven auf (noch) nicht erzählte Geschichten und alltägliche Erlebnisse (vgl. Hess 2014, S. 49ff.). Es geht also um verdrängte, kaum beachtete Erfahrungen mit Migration und den daraus resultierenden Formen familialer Akkumulation von Wissen und der Tradierung von biografischen bzw. familialen Erinnerungen und Erfahrungen. Die postmigrantische Leseart impliziert hier vordergründig eine kritische Art der Wissensproduktion, die mit einer nationalstaatlichen Denkweise sowie binären und hegemonialen Wissen(re-)produktion bricht und stattdessen eine radikale Blickverschiebung auf Migrationen, mehrheimische Familien und Generationen einnimmt. In diesem Kontext erachte ich besonders folgende Annahmen als für die vorliegende Fragestellung relevant: 1. Migrationserfahrungen sollen »entmarginalisiert« werden, indem sie reaktualisiert, zeitgemäß und neu erzählt werden. 2. Es wird auf die Verortungspraktiken und Lebensentwürfe sowie -realitäten der Nachfolgegeneration geblickt, die unter dem Vorzeichen postmigrantischer Generation diskutiert werden. 3. Migrationsforschung wird als Gesellschaftsforschung und nicht mehr als »Sonderforschung« aufgefasst (vgl. Römhild 2014, S. 39; Yıldız 2018c, S. 50; siehe dazu Kap. 2.1.1). 4. Es werden die Rolle der Bildung im Hinblick auf die Biografien der postmigrantischen Generation und ihrer Familien diskutiert. Entgegen veralteter Migrationsund öffentlicher Diskurse werden in mehrheimischen Familien durchaus bildungsspezifische Vorstellungen transportiert und beispielsweise Hilfe bei schulischen Problemen direkt angeboten oder anderweitig organisiert.

Im Mittelpunkt stehen die biografischen Konstruktionen der Nachfolgegeneration, der postmigrantischen Generation, deren Erfahrungen mit Migration sich von denen der Eltern und Großeltern deutlich unterscheiden. So sind die jungen Erwachsenen in Innsbruck oder in Hall in Tirol aufgewachsen und haben dort diverse Sozialisationsinstanzen, wie z.B. den Kindergarten oder die Schule besucht; aktuell studieren oder arbeiten sie. Trotzdem werden sie im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs überwiegend als Migrant*innen wahrgenommen und behauptet. Die Nachfolgegeneration aber setzt sich vielfach mit der offiziellen diskriminierenden Benennungspraxis und der Migrationsgeschichte ihrer Eltern bzw. Großeltern kritisch auseinander und entwirft mitunter diverse Gegenstrategien und ironische sowie zynische Selbstbeschreibungen, die die etablierten Wahrnehmungsmuster irritieren können, wie etwa die Umdeutung des

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Schimpfwortes »Tschusch« hin zu einer Selbstbezeichnung (Tschusch ist eine abwertende Fremdbezeichnung, die entweder eine spezifische Gruppe von Migrant*innen adressiert oder allgemein als Etikettierung für »Ausländer*innen« oder »Migrant*innen« verwendet wird). So rappt das Geschwisterduo »EsRAP« über »den Tschusch, der da ist und da bleibt« und meint damit sich selbst, die eigene Familie und stellvertretend all jene, die nach Österreich migriert sind, dort teilweise seit Generationen leben und noch immer nicht von der breiten Gesellschaft bzw. auf allen Ebenen einer postmigrantischen Gesellschaft anerkannt werden: Als Wiener Rapduo mit türkischen Wurzeln »EsRAP« singt sie über Lebensgeschichten und Alltagsrassismen, über Islamophobie und Heimatlosigkeit. Hiphop-Lyrics mischen sich dabei mit arabesken Gesängen. [Sie] sprechen […] über die Möglichkeiten der Musik als Ausdruck des eigenen Lebensgefühls und der Lebenserfahrung, über kulturelle Identitäten und über den »Wert« von Migrationshintergrund und Protest. (Ö1 2021, o. S.) Bei EsRAP sowie in meiner Forschung über die postmigrantische Generation geht es um unterschiedliche politische Selbstreflexionen bzw. um politische Subjektivierungsprozesse im Sinne von Judith Butler. Butler (1998) spricht vom »postsouveränen Subjekt« (S. 198), das im Gegenzug zum »autonomen Individuum« (vgl. ebd.) mit fortwährenden Adressierungen von außen konfrontiert wird, sich eingehend damit beschäftigt und sich im Zuge dieser Auseinandersetzung positioniert (vgl. Yıldız 2010; Ammann/Kirndörfer 2018; Ritter 2018). Die postmigrantische Subjektivität kann sich frühestens innerhalb praktischer Aushandlungsprozesse formieren, weshalb diese Art der Subjektivierung als postmigrantische Handlungsmöglichkeit und Handlungsfähigkeit verstanden werden kann. Bezogen auf die vorliegende Fragestellung »Wie setzen sich junge Erwachsene der postmigrantischen Generation mit den familialen Migrationserfahrungen auseinander und welche Narrationen und Artikulationen rekonstruieren und entwerfen sie aus den intergenerationell weitergetragenen Erfahrungen und Erinnerungen?« bedeuten diese Grundannahmen, dass sich die Nachfolgegeneration zum einen sehr detailliert, aber auch höchst kritisch mit den Erfahrungen der ersten Generation beschäftigt. Zum anderen werden die Erfahrungen der ersten Generation je nach Kontext und Situation neu gelesen, interpretiert und in die Alltagspraxis übersetzt (vgl. Foroutan 2016a, 2016b). In diesem Sinne ist die postmigrantische Lesart dekonstruktiv und bedeutet eine gegenhegemoniale Wissensproduktion (vgl. Hill/Yıldız 2018, S. 7). Sie signalisiert eine erkenntnistheoretische Wende in der Migrationsforschung. Sie ist zudem eine kritische Perspektive, die eingeübte Gewissheiten und Vorstellungen innerhalb des Migrations- und Integrationsdiskurses hinterfragt. In Bezugnahme auf die postmigrantische Leseart wird hier direkt bei den jungen Erwachsenen der dritten Generation und ihren kollektiven Erfahrungen und Erinnerungen bezüglich der Migration der (Groß-)Eltern angesetzt. Es wird nach den gemeinsamen Deutungsmustern und Narrationen gefragt und im Weiteren werden ihre je eigenen, biografisch besonderen Erinnerungen, Artikulationen und Handlungsweisen sowie Strategien im Umgang mit komplexen Themen und Situationen des Alltages rekonstruiert. Die Biografien, Lebenswelten und Lebensentwürfe der postmigrantische Generation sind unter anderem deswegen so spannend, da sie verflochten

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sind mit den familiären Bezugspunkten, aber auch mit Prozessen der Aushandlung eigener biografischer Erfahrungen und der Auseinandersetzung mit generationellen Vorstellungen, die die jungen Erwachsenen nicht (mehr) teilen und deswegen variieren. Beide, die familialen und die biografischen Punkte, lassen sich nicht auf einen Kontext oder einen Ort beschränken, sondern sie sind meist auf mehrere grenzüberschreitenden Räume aufgeteilt und betreffen mehrere Bezugsrahmen. Die Erzähler*innen beginnen in ihrer Biografiearbeit in der Regel bei den Erzählungen der Großeltern oder Eltern. Ich rekonstruiere die Lebensgeschichte der Protagonist*innen, die als Erinner*innen, Erzähler*innen, Biograf*innen, Gestalter*innen, Grenzgänger*innen agieren, ausgehend von ihrem Erzähl- und Erinnerungsrepertoire. Verwandtschaftsverhältnisse werden aus Sicht der Erzähler*in artikuliert. »Zu viele unbehandelte Fragen, verdrängte Denkmuster und Widersprüche lassen heute deutsche Identität eher als Minenfeld erscheinen denn als roten Teppich für Einwanderer oder als Partymeile, auf der ein fröhliches Zusammenleben inszeniert wird.« (Zafer Şenocak 2018b, S. 34)

3.3 Vindal: »In der Familie heißt es so: ›Ja, das ist die Vindal, die macht halt, was sie will.‹« Kurzportrait Vindal Vindal ist zum Zeitpunkt des Interviews Mitte 20. Sie absolviert derzeit ihr Masterstudium und wohnt, wie sie erzählt, in »einer WG mit der Mama« (Zeile 1440f.). Nach dem Erwerb des Bachelorabschlusses macht sie eine längere Auslandsreise durch Asien. Diese Reise ist ein emanzipatorischer Akt, der ihr eine neu gewonnene Entscheidungsfreiheit, Selbstermächtigung sowie einen erweiterten Handlungsspielraum ermöglicht. Für sie ist die Unternehmung eine beinahe progressive Erfahrung, da Verwandte ihre Reisepläne kritisch sehen, sie die Unternehmung trotzdem durchsetzt. »Ich bin nach Asien, das war auch schon verrückt irgendwie für die Familie, mit Rucksack und so« (Zeile 1218f.). Sie erkämpft sich partielle Unabhängigkeit und setzt sich mit Fragen nach Geschlecht und Generation auseinander. Seit ihrem weiterführenden Studium interessiert sie sich besonders für Geschlechtergerechtigkeit. Als Angehörige der postmigrantischen Generation macht sie nach eigener Aussage was sie will, nimmt jedoch gleichzeitig immer Rücksicht auf die familiären Bezugspersonen. Sie sieht sich vielfach in familiäre Problemstellungen und Beziehungsgeflechte verstrickt und beschreibt den andauernden Lernprozess, diese zu reflektieren und innerfamiliär bzw. intergenerational aufzubrechen. Die Thematisierung der Familiengeschichte Ich bitte Vindal, mir aus ihrem Leben, ihrer Lebensgeschichte und Familiengeschichte zu erzählen. Ich mache Vorschläge zum Erzählmodus und erwähne, dass sie beispielsweise bei ihrer Biografie oder jener der Großeltern beginnen könne. Vindal eröffnet die Artikulation der Familiengeschichte folgendermaßen: »Okay. Ich glaube, ich fange jetzt gleich bei der Geschichte von meinem Opa an, also mütterlicherseits« (Zeile 8).

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Die erste Person, die Vindal erwähnt, ist der Großvater mütterlicherseits. Mit ihm beginnt gewissermaßen die Migrationsgeschichte der Familie, die auch Vindals Biografie konstituiert und nachhaltig prägt. Vorherige und spätere »kleinere« und individuelle Migrationsbewegungen wie Binnenmigrationen werden im Laufe des Gespräches nur angedeutet. Der Großvater ist für die Erzählerin in der Erzähl- und Beziehungslogik eng verknüpft mit der Figuration der Mutter. So springt Vindal in den Ausführungen personell, thematisch und auf der Zeitachse abwechselnd zwischen Großvater und Mutter hin und her. Soweit ich weiß, ist er 1971 hergekommen. Und zwar aus der Türkei her nach Vorarlberg, weil eigentlich wollte er nach Berlin, aber wegen Visum hat es nicht funktioniert, also ist er nach Vorarlberg und hat dort auch jahrelang gearbeitet. Und alle zwei bis drei Jahre ist er mal zurück, also er hat meine Mama, alle zwei, drei Jahre mal gesehen. Es ist, eigentlich war er ihr schon fremd ein bisschen. (Zeile 9-13) Vindal thematisiert die geografische Distanz zwischen Großvater und Mutter und drückt mit dem Verweis »eigentlich war er ihr schon fremd ein bisschen« aus, dass die räumliche und zeitliche Entfernung auch emotionale Distanz erzeugt habe. Sie stellt die Verknüpfung zwischen der Migrationsentscheidung, der konkreten Migrationssituation und dem Umstand her, dass ihre Mutter ihn nur sporadisch sehen konnte. Sie benennt ein Gefühl der wahrscheinlichen Fremdheit zwischen Tochter und Vater und dechiffriert dadurch, dass intergenerationelle Verbundenheit intensive Beziehungsarbeit (siehe Kap. 5.2.1) benötigt. Die Erzählerin versucht sich in einer Chronologie des Erzählens, die aufgrund der Komplexität und Dichte der familiären und eigenen Erfahrungen sowie Erinnerungen nicht immer chronologisch oder logisch strukturiert ist. Biografisches Erzählen ist nie widerspruchsfrei, eindeutig, unmissverständlich oder geradlinig. Vindal erzählt wenig von der Zeit vor der familiären Migration, sprich den Lebenswelten und Erfahrungen der Großeltern, Eltern und weiterer Verwandte im Herkunftsort. Sie fokussiert vielmehr auf die Geschehnisse im Ankunftsort, entwirft und kontextualisiert damit Geschichten des Ankommens und Bleibens. Diese wurden ihr vor allem von der Mutter, aber auch vom Vater erzählt. Die zweite Generation erzählt hier der dritten Generation sowohl unaufgefordert als auch auf Nachfragen von den Erfahrungen der ersten Generation. Eine Trias des Erzählens, in der Vindal direkt mit den Großeltern sprechen kann, ist aufgrund des frühen Todes des Großvaters nur bedingt gegeben. Die Reorganisation und Hybridisierung des familiären Alltagslebens an mehreren Orten Durch den Weggang des Großvaters aus dem türkischen Dorf, in dem seine Partnerin und die Kinder zurückblieben, entstand eine neue Form der Alltäglichkeit im familiären Zusammenleben. Die veränderten Lebensrealitäten, die sich in nun räumlich getrennten Kosmen abspielten, vernichteten die Möglichkeit einer gemeinsamen elterlichen Erziehungs- und partnerschaftlichen Beziehungsarbeit. Es war schwer, über die geografischen Grenzen hinweg den Kontakt zu halten. Bisherige Selbstverständlichkeiten im Zusammenleben verschoben sich. Der Großvater war fortan nicht in die alltägliche Erziehung der Kinder involviert. Die Care-Aufgaben (vgl. Lutz 2018) wurden von der Großmutter Vindals übernommen, die Lohnarbeit trug größtenteils der Großvater. Wenn er,

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»alle zwei, drei Jahre mal« (Zeile 17) zu Besuch kam, brachte er seinen Kindern »die neusten Geschenke« (Zeile 17) mit, vor allem Spielsachen, die es in der Türkei nicht gab. Er versuchte das Nähe-Distanz-Verhältnis zur Familie durch seine finanzielle Unterstützung zu kompensieren. Die Familie lernte, ohne ihn auszukommen, sich für den Zeitraum von zehn Jahren neu zu arrangieren und den Alltag zu reorganisieren (vgl. Gerner 2014, S. 91). Wie sehr die Lebensrealitäten im Herkunfts- und Ankunftsort auseinanderklafften, offenbart Vindal mit der Aussage, der Großvater sei »fast schon wie ein Single unterwegs« (Zeile 16) gewesen. Sie schiebt nach: »soweit ich das gehört habe von den Eltern« (ebd.). Sie bezieht sich hier auf das Gehörte und nicht direkt Erfahrene oder selbst Erlebte. Der Zugang zu bestimmten Erfahrungen ist kein direkter, sondern ein indirekter und passiver. Er kann nur über Erzählungen, in diesem Fall durch die Erzählungen Dritter, hier den Eltern, vermittelt werden (vgl. Apitzsch 2014, S. 23). Die Mutter fungiert dabei nicht nur als Erzählerin der (groß-)väterlichen und familialen Migrationsgeschichte, sondern genauso als involvierte Protagonistin und direkt Beteiligte im Familien- und späteren Migrationsgeschehen. Mögliche Deutungen, Interpretationen und emotionale Verstrickungen seitens der Mutter spielen mutmaßlich eine Rolle in der biografischen (Nach-)Erzählung Vindals. Die Pionier*arbeit im Ankunftsort – der Großvater Vindal bespricht die Anfangszeit des Großvaters in Österreich ausführlich, über spätere Etappen des Opas erzählt sie hingegen nur bruchstückhaft. Ihren Erzählungen zufolge sei der Großvater, was seine Wohnsituation betraf, sehr flexibel gewesen und teilte großzügig seinen Raum mit Neuankömmlingen aus der Türkei, die, ähnlich wie er ein paar Jahre zuvor, aus vorwiegend ökonomischen Gründen migriert waren. Temporäre Wohngemeinschaften wurden im Zuge der Arbeitsmigration recht spontan gegründet und entstanden aus Not und Solidarität heraus. Bereits Etablierte(re) halfen Neuankömmlingen durch Hilfestellungen im Arbeits- und/oder Wohnkontext. Der Großvater stellte informell in seinen eigenen vier Wänden Schlafplätze zur Verfügung. Das Narrativ, den*die neudazukommende*n Arbeiter*in als jemand, der*die sich vor Ort lokales Wissen und Erfahrungen angeeignet hat, informelle Unterstützungsangebote zu gewährleisten, widerspricht dem Etablierten-Außenseiter-Modell (vgl. Elias/Scotson 2016) und ist in den Interviews gängig. Und was mir die Mama gesagt hat, ist halt, dass sobald er gehört hat, jemand aus der Türkei will her und Gastarbeiter werden, und er hat den gekannt oder von irgendwem ums Eck gekannt, dann hat er bei ihm geschlafen. Das war ganz normal. (Zeile 21-23) Vindal hat diese Information, wie viele weitere, von ihrer Mutter bekommen. Sie verwendet den Begriff des Gastarbeiters, obgleich er historisch belastet ist (vgl. kritisch dazu Kos 2014, S. 14). Sie nutzt ihn, da er Teil der familiären Sprechtradition ist. Er ist für sie männlich konnotiert, sodass für sie keine Differenzierung in Pionierinnen und Pioniere notwendig ist. Dies erstaunt, da auch die Mutter als junge Frau mit einem Arbeitsvisum nach Tirol kam und genau genommen zunächst als Arbeitsmigrantin tätig war. Die erste Generation wird, das weiß Vindal, als jene der Pionier*innen gekennzeichnet und die zweite Generation als jene der Nachkommenden. Dabei sind die Trennlinien durchaus unscharf und verwoben. Häufig migrierten auch Angehörige der beiden Generationen

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gemeinsam oder zeitnah und gingen ähnlichen Professionen nach. Strenggenommen ist die Pionier*arbeit also nicht auf die erste Generation beschränkt, vereinfachend wird sie ihr als Alleinstellungsmerkmal zuerkannt. Vindal nutzt den Ausdruck »Gastarbeiter werden« (Zeile 22) im Sinne der bilateralen Migrationsentscheidung und nicht um zu suggerieren, Pionier*in wäre eine Berufsbezeichnung. Mit dem Ausdruck »Das war ganz normal« (Zeile 23) bringt sie mehrere soziohistorische Aspekte mit ein. Zum einen wird die gleichzeitig zeithistorische und soziale Bereitschaft vieler Migrant*innen unterstrichen, den Neuankömmlingen behilflich zu sein. Der durch die Migration erworbene Erfahrungsschatz wird gemeinsam geteilt, er stiftet und mitbegründet die kollegiale Unterstützung. Zum anderen wird eine Normalitätskonstruktion entworfen, die aufgrund der zahlreichen Erzählungen innerhalb der Verwandtschaft andeutet, »alle« Pionier*innen hätten ähnlich gehandelt oder handeln können, was jedoch aufgrund der unterschiedlichen Lebenssituation der Menschen unwahrscheinlich ist. Familienzusammenführung, Migrationsetappen und die Mutter als Pionierin Nach rund 10 Jahren kam es zu einer Familienzusammenführung (zur Thematik des Familiennachzuges bzw. -zusammenführung vgl. Pries 2010, S. 41): Die Großmutter und ihre Kinder wurden nach Vorarlberg nachgeholt. Vindals Mutter war zu diesem Zeitpunkt bereits im Jugendalter. Sie kannte Istanbul aus einem längeren Aufenthalt und hoffte, dass der Ankunftsort dem ersteren ähnlich sein werde, war jedoch ernüchtert von der neuen Umgebung. Vindal berichtet, dass die Großmutter und ihre Kinder mit dem Auto nach Österreich gereist waren. Nach einer sehr kurzen Phase der Eingewöhnung begann Vindals Mutter ohne Deutschkenntnisse in der Gastronomie zu arbeiten (vgl. Korun 2004). Es war notwendig, Geld zu verdienen, um die Familienangehörigen vor Ort zu erhalten. Es gab keine kostenlosen oder günstigen Sprachkurse oder ähnliches. Die Mutter wurde in die unbekannte Situation hineingeworfen, lernte aber schnell und sich gut damit zu arrangieren: Und ich habe sie halt gefragt, was war das Erste, was sie so gelernt hat, also deutsche Wörter. »Scheiße« hat sie direkt mal gelernt, weil sie hat gesagt, wenn die Leute irgendwas falsch gemacht haben, war immer das erste Wort »Scheiße«. (Zeile 40-42) Das genannte Schimpfwort kann als ein trivialer Kraftausdruck, der sich im Alltag als »harmlose« Form des Fluchens etabliert hat, benannt werden. Dass es das erste erlernte deutsche Wort der Mutter war, veranschaulicht seine häufige Verwendung. Vindal führt aus, dass die Mutter Tirolerisch spricht und keine Möglichkeit hatte, Hochdeutsch zu lernen, denn »es ist unmöglich, man lernt in Vorarlberg kein Hochdeutsch« (Zeile 46). Entgegen der Erwartungen erhielt Vindals Mutter als einzige der Familie kein Visum, sodass die Familie, bestehend aus acht Personen, nun gemeinsam als Familienkollektiv beschloss, nach Tirol zu ziehen. Der Abschied aus Vorarlberg gestaltete sich für die Mutter als schwieriger als zunächst erwartet. Und sie hat eine Nachbarin von ihnen, das war halt eine Österreicherin, sie hat halt geweint, wo die Mama und die […] anderen eben nach Tirol gefahren sind. Und sie hat gesagt: »Ich habe nicht gewusst, dass Österreicher weinen können«, weil sie sie

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emotionslos empfunden hat. […] Und wo sie dann doch geweint hat, war das so: »Okay, sie sind doch Menschen.« (Zeile 51-56) Die Beschreibung über die Reaktion der Nachbarin bei dem Wegzug aus Vorarlberg gibt Einblicke darin, wie komplex Verstehensprozesse des »Anderen«, des (noch) Unbekannten sein können. Vindals Mutter sah beim Abschied aus der Region zum ersten Mal eine*n Österreicher*in weinen und das beeindruckte sie nachhaltig. Ihr Kontakt zu Einheimischen war in diesem Zeitraum, mit wenigen Ausnahmen, z.B. der besagten Nachbarin, auf die Arbeitszeit beschränkt. Aufgrund der Sprachbarriere wurden kaum zwischenmenschliche Emotionen artikuliert, was eine Erklärung dafür ist, dass die Mutter dachte, Österreicher*innen könnten nicht weinen. Auf ähnliche Weise erklärt sich auch ihre Interpretation, Menschen, die als Österreicher*innen gelabelt sind, lästerten nicht. [S]ie hat gemeint, Österreicher lästern nie. Also Türken lästern, aber Österreicher nie. Und dann hat sie gesagt, dann hat sie sie aber irgendwann verstanden und sie lästern noch mehr als wir. Und das war auch, also habe ich mir gedacht, okay. Bei der Arbeit oder so, sie hat sie gar nicht verstanden, deswegen hat sie gemeint, die lästern nie und sind eher so monoton und war dann doch nicht so. Dann hat sie gemeint, ja, sie sind doch wie wir […]. (Zeile 58-62) Die Mutter nutzt hier sowohl kategoriale und nationale Zuschreibungen (»Also Türken lästern, aber Österreicher nie«, Zeile 58) als auch das Temporaladverb »nie«. Überdies betrifft die Episode eigene Erfahrungswerte, die ihr kurz nach der Migration zur Verfügung standen. Das Erfahrungsspektrum erweiterte sich und damit auch die Erkenntnis, dass die Unart des Lästerns weder kulturell noch national geprägt und genauso wenig migrationsspezifisch sind. Die Mutter nutzt diese frühe Illustrierung darüber, wie Österreicher*innen (nicht) seien, als Herantasten an eine ihr noch wenig zugängliche Lebensrealität. Ein erstes Einsortieren des neuen Ortes und des neuen Menschen erfolgt vereinfacht durch das Finden von Mustern und Generalisierungen. Als sie sich an die Umgebung und Personen gewöhnt und sich sprachlich verbessert hat, tauscht sie kategoriale Zuschreibungen über Ein- und Mehrheimische gegen Gemeinsamkeiten aus: »[…] ja, sie sind doch wie wir« (Zeile 62). Während die Mutter, der Großvater und ein Onkel direkt nach der Ankunft arbeiteten, besuchten die Jüngeren in Tirol die Schule. Der Großvater starb Anfang der 1990er Jahre, Vindal lernte ihn nicht kennen. Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Migrationsbewegungen – der Vater in Istanbul und die Mobilitätsgeschichte als »Glückstreffer« Der Vater von Vindal ging Anfang der 1980er Jahre als junger Mann nach Istanbul und schlug sich mit Gelegenheitsjobs wie dem Straßenverkauf einzelner Zigaretten durch. Seine Schwester war wenige Jahre zuvor als Pionierin nach Tirol gegangen und riet ihm wiederholt, er solle nachkommen. Der Vater Vindals fasste also in Anbetracht geringer Berufsmöglichkeiten in Istanbul Mitte der 1980er Jahre den spontanen Entschluss, sein Leben vorerst nach Tirol zu verlagern. Historisch betrachtet stagnierte die hiesige Wirtschaft (vgl. Rupnow 2018, S. 85), die Arbeitslosenzahlen stiegen. Waren die Pionier*innen zuvor noch wegen der wirtschaftlichen Hochkonjunktur (vgl. Herbert 2001, S. 196)

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der 1960er und 1970er Jahre »zwischen den westeuropäischen Industriestaaten und ihrer ökonomischen Peripherie« (Rass 2012, S. 53) als »Arbeitskräfte« herbeigesehnt und beinahe bejubelt worden, waren sie nun schlicht und ergreifend nicht mehr gewollt (vgl. Rupnow 2018, S. 85). Vindal benennt die Migration des Vaters dennoch als »Glückstreffer« (Zeile 109). Er saß im Zug nach Österreich, und plötzlich hieß es, jene Passagiere, die als potenzielle »Gastarbeiter« nach Österreich wollten, müssten – mit Ausnahme von ihm – aussteigen.4 Und dann war es für ihn ein Glückstreffer, dass er jetzt nach Österreich darf. […] irgendwo in Jugoslawien damals eben oder keine Ahnung wo, haben sie dann alle aussteigen lassen, weil sie nicht wollten, dass sie als Gastarbeiter kommen, außer ihn haben sie weiterfahren lassen. Das war dann, er hat gemeint, ist Schicksal, keine Ahnung. (Zeile 109-113) Vindals Tante stellte ihrem Bruder seine zukünftige Ehepartnerin vor mit dem Argument: »Schau, unsere Nachbarin ist aus dem gleichen Ort und die würde zu dir passen« (Zeile 118). Auf Umwegen lernten sich also die Eltern von Vindal kennen und beschlossen ihre Verbindung mit der Heirat. Sie stammen aus einem ähnlichen familiären und dörflichen Kontext. Beide Familiengeschichten ähneln sich stark, auch die Bildungsbiografien korrespondieren bis zum Migrationsmoment weitestgehend. So haben beide Elternteile als formalen Bildungsabschluss den Volksschulabschluss erreicht. Als Jugendliche begannen sie, in teilweise prekären Berufen, häufig saisonal oder befristet zu arbeiten. Während Vindals Mutter vor allem in der Gastronomie arbeitete und heute in Pension ist, ist der Vater derzeit in der Logistik tätig. Hierzu stellt Vindal fest: »Und ja, also die haben wirklich praktisch ihr ganzes Leben fast gearbeitet, ja« (Zeile 134f.). (Inter-)Generationale Perspektiven auf die erweiterte Familie und Verwandtschaft Der erweiterten Familie als Verbund kommt aus Sicht der einzelnen Generationsangehörigen unterschiedliche Bedeutung zu. Während die Eltern, die für die Erzählerin stellvertretend für die zweite Generation stehen, Familie als einen Ort der Zugehörigkeit erachten – trotz tiefergehender Konflikte und Differenzen –, an dem »halt so eine Verbundenheit [existiert], die ich jetzt vielleicht gar nicht mehr verstehe« (Zeile 138), steht die Erzählerin dem Konzept Familie differenzierter gegenüber. Diese Art der Verbundenheit folge beinahe ausnahmslos der Logik »Man ist Familie und man darf sich nicht zerstreiten« (Zeile 137). In diesem Sinne sei für die zweite Generation Verwandtschaft weder verhandelbar noch kündbar. Das bedeutet, dass grundsätzliche Missstimmungen zwischen Einzelnen übersehen und ausgeblendet werden. Dieses Grundverständnis von erweiterter Familie impliziert die Vorstellung, dass »wenn man streitet, muss man sich dann irgendwann verstehen, weil es ist halt, man ist Familie« (Zeile 136f.). Vindal verweist auf ein kürzlich von der Mutter organisiertes Grillfest, zu dem auch eine Verwandte eingeladen wurde, mit der die Mutter seit Jahren zerstritten sei und daher kein einziges Wort mit ihr wechsle. Da sie aber zur Familie gehöre, müsse sie, so die Mutter, eingeladen werden. 4

Ob diese Ausnahme von den für diese Aufforderung Verantwortlichen begründet wurde, kann Vindal nicht beantworten.

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Und wenn man jetzt irgendein Grillfest gemacht hat, dann hat man trotzdem die Person eingeladen, mit der man zerstritten ist, weil es ist egal, weil das tut man nicht. […] Das ist, also ich bin so aufgewachsen, bis ich verstanden habe, es macht eben keinen Sinn, also und für die Mama ist es aber immer noch so, ja. (Zeile 140-142) Für die Erzählerin ist es kaum nachvollziehbar, dass eine Familie kompromisslos als unzerstörbare Einheit inszeniert und aufrechterhalten wird, obwohl spezifische Konflikte nicht beseitigt werden können. In ihren Ausführungen schwingen Fragen mit, wie: Was kann bzw. soll Verwandtschaft verzeihen (dürfen)? Vindal unterscheidet, im Gegensatz zu den Eltern, stark zwischen Kern- und erweiterter Familie bzw. Verwandtschaft und erachtet besonders erstere, für sie bestehend aus den Eltern und ihrem Bruder, als zentral. Sie abstrahiert zwischen alltäglichen Debatten sowie Konflikten in der Kernfamilie und den unüberwindbaren Differenzen mit ausgewählten Verwandten. Erstere Sorte gehörten zum Zusammenleben und der Familienlogik dazu, müssten ausdiskutiert und verhandelt werden. Letztere jedoch kristallisierten sich teilweise als unversöhnlich heraus und verkomplizierten das Verwandtschaftsverhältnis. Die familiäre Migrationsgeschichte väterlicherseits Nach der Rekonstruktion der familiären Migrationsgeschichte mütterlicherseits setzt sich die Erzählerin mit der Lebensgeschichte ihres Vaters auseinander, der aktuell als LKW-Fahrer tätig ist. Vindal umschreibt die Beziehung ihres Vaters zu seinem Vater als nicht existent. Der Grund dafür lässt sich in der folgenden biografischen Episode erkennen, die als wesentliche, gehäuft erzählte und (de-)kontextualisierte Erzählung aus dem Familiengedächtnis betrachtet werden muss: Und der, also der Opa väterlicherseits, der ist irgendwann abgehauen. Und man hat halt gemeint, er ist gestorben. […] Er hat gesagt, er geht arbeiten, und hat dann aber eine andere geheiratet. Das ist ganz verrückt gewesen, und [er] wollte halt, dass sie alle gemeinsam leben, zwei Frauen und er. […] Da haben sie praktisch eigentlich zu viert gelebt und es war halt auch ziemlich schwierig, hat der Papa erzählt. (Zeile 152-159) Die Oma väterlicherseits war plötzlich unverschuldet alleinerziehend und musste ihre drei Kinder aus eigener Kraft über die Runden bringen. Vindals Vater holte die Großmutter Jahre später, als er sich bereits in Tirol beruflich etabliert hatte, nach. Diese Handlung spiegelt sein Verantwortungsgefühl gegenüber seiner Mutter wider und kann als Akt der intergenerationellen Dankbarkeit gelesen werden. Nun wohnten also Oma, Papa, Mama und der Bruder von Vindal zusammen. Vindal kam wenige Jahre später zur Welt. Die Wohnsituation von drei Generationen gestaltete sich vor allem für die Mutter als schwierig, denn ihre Schwiegermutter machte fortan ihre kontroverse Meinung bezüglich Kindererziehung, Partnerschaft und Haushaltsführung deutlich. Durch den Zuzug der Großmutter veränderte sich die gewohnte Familienkonstellation und -dynamik. Aber ich weiß aus den Geschichten von der Mama, die Oma kommt dazu, und sie hat auch auf einmal Entscheidungsmacht und das hat ihr dann nicht gepasst. Es hat auch

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immer Streit gegeben, aber es ist keinem in den Sinn gekommen, dass man vielleicht jetzt die Wohnungen trennt oder irgendwas, das tut man nicht. (Zeile 175-178) Die erwachsenen Beteiligten waren mit der Konstellation der Hausgemeinschaft unzufrieden, aber alternative Lösungsmöglichkeiten, um die Wohnsituation zu entspannen, wurden nicht in Erwägung gezogen. Die Erklärung war ein kategorisches Ablehnen im Sinne von »das tut man nicht« (Zeile 178). Durch die Trennung der Eltern wurde die Wohnsituation schließlich aufgelöst. Fortan wohnten Vater und Großmutter gemeinsam in einem Haushalt. Die Mutter, Vindal und ihr Bruder bildeten eine eigene Wohngemeinschaft. Die Entschließung der Eltern, mit den familiären Erwartungshaltungen zu brechen und sich trotz der Konvention und Norm, eine Ehe habe lebenslang zu bestehen, scheiden zu lassen, wurde innerfamiliär viel diskutiert. Vindal war damals im Kleinkindalter und rückblickend froh über die Entscheidung der Eltern. Und dann eben haben sie sich scheiden lassen, da war ich fünf, sechs Jahre alt, also ziemlich früh, mittlerweile denke ich mir so, Gott sei Dank, weil mein Papa hat sich zwar mit der Zeit verändert, aber er war schon dieser typische Mann irgendwo, der türkische Mann, weil er hat natürlich Mama gehabt, zwei Geschwister, er hat immer auf sie geschaut, er hat entschieden, er hat das Geld gebracht. (Zeile 189-193) Vindal markiert das damalige Verhalten ihres Vaters als dezidiert »männliches« und entwirft eine Typisierung, in der sie den Vater als »typischen« Mann (Zeile 192) sowie »typisch türkischen« (ebd.) Mann festschreibt. Die binäre Geschlechterordnung, der sich Vindal hier kurzzeitig bedient, behauptet unter anderem spezifische Agitationsweisen, Verantwortlichkeiten, Zuständigkeiten und Rollen aufgrund von Gender. Die Einschreibung von Menschen in das binäre Geschlechtersystem und dessen Logik ist im Alltag noch vielfach präsent. Dabei gilt zu beachten, dass Geschlecht im Sinne des Doing bzw. Undoing Gender sozial konstruiert ist und performativ hervorgebracht wird (vgl. Butler 2004, S. 15). Durch Erziehung, Sozialisation und Performativität werden Menschen zu beispielsweise Männern gemacht. Damit gehen stereotype Auffassungen einher, wie Männer oder Jungs sein sollten. Die Beschreibung des Vaters als typischen Mann bzw. typisch türkischen Mann ist ihre Sicht der Dinge und steht für den Zeitrahmen der elterlichen Trennung, in der sich der Vater der Mutter gegenüber auf die beschriebene »patriarchale« Art und Weise verhalten habe. Die Erzählerin distanziert sich ausdrücklich von seinem damaligen Verhalten und Auftreten, das sie mit der Formulierung »er war« beschreibt, und macht deutlich, dass sich sein Handeln zum Positiven hin verändert habe. Die Aussage ist nicht zuletzt eine Momentaufnahme und lässt ihre aktuelle Betrachtungsweise unberücksichtigt. Postmigrantische Perspektiven auf die familiäre Tradition des Zelebrierens wichtiger biografischer Meilensteine und ihre Ritualisierung Ich frage nach, ob es in der Familie spezifische Traditionen gebe, die die Erzählerin als relevant erachten würde. Sie zählt auf mein Nachfragen lose ein paar Familientraditionen auf, wie das gemeinsame (Nach-)Kochen bestimmter Familienrezepte oder kleinere gemeinsame Unternehmungen in Form von Ausflügen. Daneben benennt sie das mus-

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limische Opferfest, das die alevitische Familie (vgl. Özmen/Schmidinger 2013) primär aus kulturellen und weniger aus religiösen Motiven begeht. Geselligkeit und Zusammenkunft stünden bei der Festlichkeit im Vordergrund. Ihr Erzählfluss bringt sie thematisch vom Opferfest, das sie als gesellige Form des gemeinsamen Miteinanders auffasst, aber nicht näher beschreibt, hin zum besagten Grillfest. Grillfeste per se sind keine Seltenheit im familiären Alltag. Dieses spezielle Fest jedoch hat zwei Besonderheiten: Zum einen wird es als Feier für das absolvierte Bachelorstudium gefeiert. Als Initiatorin bzw. Veranstalterin dieses Festes fungiert die Mutter, die großen Wert darauflegt, dass das wichtige Ereignis gebührend gefeiert wird. Vindal möchte nach ihrem Uni-Abschluss direkt nach Asien reisen. Daher wird die Feier, zu der »alle« Verwandten eingeladen sind, auf die Zeit unmittelbar nach ihrer Rückkehr gelegt. Die zweite Besonderheit dieses speziellen Festes betrifft den Handstreich der Mutter, zu Ehren des Erfolges der Tochter ein Schaf schlachten und dieses beim Fest verköstigen zu wollen. Zunächst ist in der Erzählung von zwei Schafen die Rede, am Ende wird ein Schaf anstelle von zwei Tieren »geopfert« (Zeile 504), wie Vindal es einführend nennt. Nur am Beginn der Erzählung spricht Vindal von Opferung und dem Akt des Opferns. Das hängt damit zusammen, dass die Erzählerin durch die Erwähnung des Opferfestes spontan den roten Faden hin zum Grillfest spannt. Sie verlässt die Nebenerzählung des Opferfestes rasch und kreiert situativ eine neue Haupterzählung, nämlich die der spezifischen Feier bzw. Schlachtung. Fortan verwendet Vindal den Ausdruck »schlachten«. Schlachten als Begriff nimmt der Handlung zu großen Teilen die religiöse Konnotation und macht sie als Teil der familialen Praktik erkennbar. Vindal beschäftigt die Entschließung der Mutter, die Tochter durch den Akt der Schlachtung zu belohnen. Auch während der Reise durch Asien hat Vindal den Plan der Mutter im Kopf. Sie ist hin- und hergerissen zwischen dem eigenen Wertesystem, das die dezidierte Tötung eines Tieres zu ihren Gunsten kategorisch ausschließt, und dem Verständnis für die Beweggründe der Mutter, ihren akademischen Abschluss zu honorieren. Die Erzählerin untermauert ihre Perspektive mit der Ausführung: Früher war das ganz normal, weil ich nicht mitgedacht habe, aber jetzt ist es doch so und mittlerweile, ich bin zwar nicht Vegetarierin, aber ich bin fast schon auf dem Weg dahin, einfach auch aus gesundheitlichen Gründen. (Zeile 506-509) Postmigrantische Leseart – Akt 1: Die Schlachtung Die Kernfamilie wird nach Vindals Interpretation an unterschiedlichen Stellen sowohl als »nicht religiös« (Zeile 511) als auch als »kaum religiös« (ebd.) beschrieben. Die Schlachtung, die im Zuge des akademischen (Erst-)Erfolges der jungen Frau zelebriert wird, wird hier postmigrantisch gelesen. Schlachtung als postmigrantische Leseart differenziert die vorschnelle Deutung aus, in der der Akt ausschließlich religiöse Praktik bzw. muslimische Praktik sei. Sie öffnet den Blick dahingehend, dass die Schlachtung in diesem Beispiel einer innerfamiliären und intergenerationellen Logik folgt, bei der die Würdigung der Leistung der jungen Frau im Vordergrund steht. Die religiöse Ursprungsidee, aus Dankbarkeit ein Tier zu schlachten, tritt in den Hintergrund, da die familiäre Inszenierung an Gewicht gewinnt. Das heißt, der Glaube ist hier nicht (mehr) die dominante Erklärung dafür, weshalb die Mutter die Schlachtung eines Tieres in Auftrag gibt. Das

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ursprünglich religiöse Ritual wurde familiär adaptiert, sodass die Schlachtung und das Fest an sich bisweilen als innerfamiliäre Tradition fungieren. In Verbindung zu Migration werden spezifische Feste und speziell die dortigen Praktiken vorschnell als ausschließlich religiös gelabelt. Die Tierschlachtung zum Zweck einer Feierlichkeit hat ihren Ursprung in der Religion, spielt aber in diesem Fallbeispiel eine untergeordnete Rolle. Die Herkunft des Brauches ist religiös, wird aber familiär anders interpretiert und ausgelebt, indem die Mutter den Brauch umdeutet. Dies wird unter anderem durch den Einschub Vindals, »normalerweise sollte man da ein Gebet aufsagen« (Zeile 540), unterstrichen. Für die Mutter, die ausgewählte religiöse Bräuche alltagsweltlich adaptiert, spielt das Gebet eine untergeordnete Rolle. »[…] das war normal früher, aber die Mama sagt so, sie hat positive Gedanken und dann wird es schon passen. Sie ist ja nicht wirklich religiös« (Zeile 540f.). Trotz der postmigrantischen Leseart des Schlachtens bleiben vereinzelte Diskussionspunkte, wie und ob tierethische, religiöse und individuelle Anforderungen miteinander koordiniert werden können, – wie es auch Vindal fragt – präsent, weshalb diese Punkte kurz andiskutiert werden. Hierbei ist sicher: Es braucht rechtliche Rahmenbedingungen, die festlegen, wie es gelingen kann, die (religiöse) Praxis der Schächtung mit zentralen Punkten der Tierethik zu vereinen, ohne die Religionsfreiheit als Menschenrecht zu beschneiden und ohne die ethischen Grundsätze des Tierrechtes (allzu sehr) zu missachten. Es muss also ein Bogen zwischen Tierrecht und Religionsfreiheit gespannt und versucht werden, die unterschiedlichen Ansprüche zweier divergierender Freiheiten zu vereinbaren. Eine Praxis, die bereits von vielen religiösen Gruppierungen als selbstverständlich erachtet und genauso angewandt wird, ist die Narkotisierung des Tieres vor der rituellen Schlachtung. Eine verpflichtende Betäubung minimiert zumindest das körperliche Leid, weshalb sie als minimale Grundvoraussetzung für eine religiöse Schächtung rechtlich implementiert werden sollte. »Früher«, wie die Erzählerin sagt, hätte sie die Schlachtung eines Tieres nicht reflektiert, denn sie war für sie Teil einer seltenen, jedoch akzeptierten familiären Normalität und Form der Festlichkeit. Inzwischen konsumiere sie, wie sie an mehreren Stellen des Gespräches betont, nur noch sehr wenig Fleisch und wäre »fast schon auf dem Weg [zur] […] Vegetarierin« (Zeile 507f.). Diese Einschübe einer Ethik des Tierwohls dienen der Erzählerin als Argumentation dafür, weshalb sie es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren könne, dass für ihren universitären Erfolg ein Tier sterbe. Gleichzeitig jedoch widerspricht sie ihrer vorherigen Argumentationslogik, indem sie das Tierwohl nicht als universal versteht, sondern ausdifferenziert. Sie differiert zwischen dem anonymen, im Handel erhältlichen, abgepacktem Endprodukt Fleisch und dem selbst oder durch Dritte ausgewählten Schaf, zu dem gewissermaßen eine Verbindung bestehe: »Es ist was anderes, wenn ich es mir vom Spar hole, oder ob ich das Schaf, das geschlachtet wird, gekannt habe, das ist dann was ganz anderes« (Zeile 524f.). Die Verbindung zum Tier beschreibt sie mit dem Verb »sich kennen« (ebd.), wodurch das Schaf eine Personifizierung erfährt. Im Weiteren teilt die Gesprächspartnerin erzählerische Momente, die in einer Wechselwirkung zwischen Objektifizierung und Personifizierung stattfinden.

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Die ethische Frage, ob Tierschlachtung und damit auch Tierkonsum moralisch verwerflich oder selbstverständlicher Teil einer modernen Konsumgesellschaft sei, wird seitens Vindal mehrfach beiläufig erwähnt, jedoch abschließend nicht beantwortet. Tierethisch und philosophisch betrachtet ist die Frage, ob wir gegenüber Tieren moralische Pflichten haben (vgl. Korsgaard 2021), sie also nicht verdinglichen, objektifizieren und/oder töten dürfen, höchstrelevant. Es interessiert in diesem Fallbeispiel jedoch vor allem der gesellschaftliche Rahmen, innerhalb dessen das Töten und Essen von Tieren legitimiert oder eben nicht legitimiert wird. Als gesamtgesellschaftlich legitim wird die Tötung eines Tieres erachtet, sofern es als sogenanntes Nutztier, entweder im Kontext der industriellen Tierhaltung, also der Massentierhaltung, oder aber der sogenannten humanen Tierhaltung5 (vgl. Korsgaard 2021, S. 284) geltend gemacht wird.6 Der Legitimation des Tötens widerspricht Korsgaard, die in ihrer Abhandlung über (Tier-)Ethik (2021) zu dem Schluss kommt, dass Tiere vorallererst als Zwecke an sich selbst gelten sollten und wir Menschen moralisch dazu verpflichtet seien, keinem Tier, auch nicht zugunsten des menschlichen Wohls oder Luxus, Leid zuzufügen. »Der Wert des Genusses, den Menschen der Fleischverzehr verschafft, kann nicht den Unwert des Leidens und des Todes von Tieren aufwiegen« (ebd., S. 286). Daher hält sie Fleischkonsum und die damit zusammenhängende Tötung, aber auch die Haltung von Tieren7 als ethisch verwerflich. Diesbezüglich formuliert sie: Humane Tierhaltung ist nicht so schlecht wie industrielle, aber das heißt nicht, dass sie sich rechtfertigen lässt. Der Tod steht mit dem, was für die Tiere gut ist, nicht im Einklang. (Ebd., S. 286) Die Erzählweise rund um diese Hauptnarration ist mehrteilig und verflochten, da Vindal versucht, die unterschiedlichen Positionen der Beteiligten mitzudenken, zu dividieren, aber auch zu verknüpfen. Sie befindet sich in einem intergenerationellen Dilemma, da ihre Vorstellungen über den (Un-)Sinn der Tieropferung mit jenen der Mutter kollidieren. Die Krux dieser widerstrebenden Positionen gestaltet sich aus als intergenerationeller Konflikt. Intergenerationell begründet ist der Disput deshalb, da aus Sicht der Elterngeneration, der Konsum von Fleisch als Belohnung für körperliche, harte Arbeit, aber auch für Erfolge betrachtet wird. Die Mutter machte in ihrem Aufwachsen die 5

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In der »humanen« Tierhaltung obliegen Tiere weniger restriktiven sowie gewaltvollen Haltungsbedingungen im Vergleich zur industriellen Tierhaltung. In der Letzteren spielen Zeit, Raum und ökonomischer Nutzen die übergeordnete Rolle. »Nutztiere« werden in kürzester Zeit gemästet, um schnellstmöglich geschlachtet und durch neue Tiere, die wiederum verwertet werden, ersetzt zu werden. Tierwohl bleibt hierbei zugunsten des ökonomischen Gewinnes auf der Strecke. Die »humane« Tierhaltung versucht, Tiere vor ihrer Schlachtung unter artgerechten Lebensbedingungen zu halten. Vermehrt werden Gegenpositionen formuliert und Gegenentwürfe zum Fleischkonsum aufgezeigt, wie dem Vegetarismus, Veganismus, Flexitarismus. Aus klimapolitischen Gründen wird vielfach auf Fleisch und auf tierische Produkte verzichtet oder deren Reduktion angestrebt. Die moralische Frage, ob die Haltung von Haustieren moralisch vertretbar sei, beantwortet Korsgaard konträr. Wenngleich sie auf den Zwang, dem Tiere unterworfen werden, hinweist, ist die Haustierhaltung für die Philosophin ein Bedürfnis des Menschen. (Vgl. Korsgaard 2021, S. 301) In der abolitionistischen Strömung wird für eine Beendigung jeglicher Tierhaltung argumentiert (vgl. ebd., S. 300).

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Erfahrung, dass Fleisch Mangelware war. Daraus resultiert der Wunsch, den Kindern diese Ernährungsweise zu ermöglichen. Zweitens wird der Abschluss des Bachelorstudiums als etwas Besonderes gewertet. Vindal ist die Erste in der Familie, der dieser Erfolg glückte. Sie ist Pionierin ihres und des familialen Bildungsaufstieges. Der Mutter geht es darum, diesen Erfolg den Verwandten zu präsentieren. Vindal möchte ihre Mutter nicht kränken, daher changiert sie wiederholt zwischen dem Verständnis für den Wunsch der Mutter und tiefem Unverständnis diesem gegenüber. Letzteres drückt sie aus durch die Modernitätsfrage »obwohl sie so modern ist«. Vindal möchte ihre Mutter mit einem Einspruch gegen die Schlachtung nicht verletzen und versucht, das Problem im Gespräch zu lösen. In ihren Artikulationen offenbart sich, dass sie sich mit Erwartungshaltungen konfrontiert sieht, die sie nur schwerlich erfüllen kann bzw. möchte. Sie präsentiert ihrer Mutter einen möglichen Ausweg aus der Uneinigkeit und macht ihr den Vorschlag, zwar ein Fest zu veranstalten, aber anstelle der Schlachtung, Geld für einen wohltätigen Zweck zu spenden. Die Mutter rückt von ihrer Idee nicht ab und besteht darauf, zumindest ein Schaf auszuwählen. Die Empfehlung des Spendens wird von der Mutter unterstützt, jedoch als Ergänzung und nicht Alternative akzeptiert: »Ja das können wir ja auch machen, aber das mit dem Schlachten machen wir auch« (Zeile 547f.). Vindal schafft es trotz Vehemenz nicht, sie vom Gegenteil zu überzeugen und umzustimmen. Die Idee der Mutter nimmt schließlich konkrete Formen an, so wird der Bürgermeister des Wohnortes als Sach- und Ortskundiger involviert. Der Bürgermeister als Komplize unterstreicht die Verortung und Zughörigkeit der Familie im Dorf. Die Mutter begibt sich mit ihm, den sie als besonders geeignet für die vorliegende Aufgabe ausmacht, auf die Suche. Sie schauen sich mehrere Schafe auf verschiedenen Bauernhöfen an. Die Kriterien dieser (Aus-)Wahl werden nicht weiters benannt. […] letztens sagt sie: »Nein jetzt machen wir das!« Und dann sagt sie, jetzt muss sie ein Schaf suchen gehen. Oh Gott, sie muss ein Schaf suchen. Dann hat sie das Schaf gefunden, und sogar der Bürgermeister vom Dorf, der war unser alter Vermieter, war dabei. Sie haben zusammen ein Schaf ausgesucht, weil er gesagt hat, er mag uns so gerne und er sucht gern eins aus und er weiß, wie wichtig uns solche Feste sind. Dann ist sie gekommen und dann will sie mir ein Bild von dem Schaf zeigen. Dazu habe ich aber nein gesagt. (Zeile 509-515) Das Interview ist durch unterschiedliche Gesprächsebenen gekennzeichnet. Einerseits ist die Gesprächsführung locker und das Interview kommt trotz der stellenweise komplexen und schwierigen Themen einer freundlichen Unterhaltung nahe. Andererseits befinden sich sowohl die biografischen Erzählungen, die Dialoge als auch die Nachfragen auf einer wissenschaftlichen Ebene wider, in der Vindal und ich, Erzählerin und Forscherin, versuchen, unsere (uns selbst und fremd) zugeschriebenen Rollen zu vertiefen und jedenfalls nicht bzw. nur marginal zu verlassen. Der Effekt dieser Ebene ist eine respektvolle, offene, aber stellenweise abwartende Gesprächsführung. Die dominante Erzählung der Schlachtung sorgt dafür, dass sich die Erzählebene von einer wissenschaftlichdistanzierten Kommunikation hin zu einer amikalen (Gesprächs-)Dynamik wandelt, in der gemeinsam unter anderem das Moment der Skurrilität und des Komischen wahrgenommen wird. So wird unter anderem mit der Aussage »ein Schaf suchen gehen« eine Art Situationskomik innerhalb des Gespräches erzeugt. Diese wird außerdem durch die

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Agitation und Reaktion der Forscherin (Lachen und gemeinsames Lachen) und dialogische Wortbeiträge verstärkt. Daneben kristallisiert sich während der Interviewsituation eine ambivalente Momentaufnahme heraus. Die Erzählerin ist einerseits ernsthaft bestürzt über die Idee sowie den Akt der Schlachtung. Andererseits tragen die Art des Erzählens und die gewählte Wortwahl dazu bei, dass sich zwischen der Erzählerin und der Forscherin eine Ebene des Skurrilen und Spaßigen auftut. Das Interview wird stellenweise zur Unterhaltung. In diesem Zusammenhang verlasse ich kurzzeitig die Rolle der Forscherin, indem ich unüberlegt-spontan die scherzhafte Aussage, dass nach ihrem Masterabschluss wohl das nächste Schaf geschlachtet werde, tätige. Daraufhin reagiert Vindal mit Entsetzen und verfällt schließlich in Lachen. Das ernste Thema wird von seinen beinahe verschrobenen Momenten und dem gemeinsamen Lachen unterbrochen und stückweise getragen. (schaut entsetzt) Wahrscheinlich, nein das wär dann schon wirklich verrückt, weil mir das so bewusst ist. Mittlerweile glaube ich und dann, ich glaube ich bin wirklich ein reflektierter Mensch und ich habe mir gedacht nachher, nein das ist nichts mehr für mich, es ist dann zu verrückt, einfach schon, weil es ist veraltet und ich verstehe es und ich habe es doch für sie gemacht. Ich habe gesagt: »Nur noch dieses eine Mal und dann bitte nicht mehr.« ((lacht)) ((beide lachen)) (Zeile 570-574) Nachdem die Mutter das Schaf ausgesucht hat, möchte sie ihrer Tochter die Fotografie des Tieres zeigen. Diese Handlung ist zutiefst mehrdeutig. Sie konzediert den Wunsch, trotz oder wegen der vorangegangenen Diskussionen, die finale Zustimmung der Tochter zu erhalten. Sie will überdies die aufwändige Suche nach dem Schaf und den damit verbundenen zeitlichen und finanziellen Aufwand legitimieren. Vindal lehnt ab und sagt: »Und dann wollte sie mir es doch zeigen, aber ich habe es nicht angeschaut« (Zeile 525). Die Tatsache, dass sie sich das Foto nicht anschaut, die Schlachtung jedoch missmutig akzeptiert bzw. sie nicht verbietet, kann als eine teilweise widerständige Praxis interpretiert werden. Auch ihre dezente Warnung, künftig auf Fleisch zu verzichten, falls die Mutter ihr das Foto zeige, ist Teil dieser Praxis: Sie sagt zu mir: »Die Schafe sind so lieb.« […] Dann habe ich gesagt: »Schau, ich esse noch Fleisch, aber wenn du willst, dass es so weitergeht, dann darfst du mir das [Foto] nicht zeigen, dann hör ich mit dem Fleischessen auf.« (Zeile 519-521) Tatsächlicher Fleischverzicht ist für die Mutter unvorstellbar. Sie empfindet Sorgepflicht ihrer – erwachsenen – Kinder gegenüber und hat die Auffassung, dass nur diejenigen satt würden, die regelmäßig Fleisch essen. Fleischkonsum dient ihr als Instrument dafür, mit sorgfältig ausgewähltem Tier/Fleisch den Bildungserfolg zu zelebrieren. Daher ist die Vorwarnung der Tochter eines möglichen Verzichtes, die auch als implizite Drohung erfasst werden kann, wohl effektiv. Zumindest spricht Vindal im Gespräch nicht erneut an, dass die Mutter nochmals versucht hätte, ihr das Foto des Schafes vorzuführen. […] sie hat das im Kopf verankert, Fleisch ist gut, und wenn man kein Fleisch isst am Abend, dann ist man nicht satt. Das ist wirklich schwierig, weil sie sagt dann, okay, ich verstehe, und dann sagt sie, du hast seit Tagen nichts gegessen, weil ich die letzten

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vier Tage kein Fleisch gegessen habe, obwohl ich habe Vollkornnudeln gehabt und keine Ahnung was und, ja es ist halt sehr schwer für sie, zu verstehen, aber sie ist eine, die akzeptiert es, auch wenn sie es nicht versteht, sie akzeptiert, ist aber es ist halt Veränderung, einfach Veränderung ist oft schwierig. (Zeile 1333-1339) Vindal spricht davon, dass die Mutter ihre Einstellungen bezüglich ihres Essverhaltens, abgesehen von einer potenziellen Entsagung von Fleisch, nicht verstehen, sehr wohl aber akzeptieren würde. Allerdings räumt sie ein, dass die Akzeptanz neuer Verhaltensweisen Veränderungen bedeuteten und daher schwer anwendbar seien. Vindal überlegt im weiteren Gespräch, wie sich ihre verändernden Einstellungen hinsichtlich Essenspraktiken und familialen Traditionen auf die künftigen Generationen auswirken könnten. Zwischenbetrachtung: Vindal als Pionierin des biografisch-familialen Bildungsaufstieges Die Schlachtung liest sich mittels postmigrantischer Analysekategorie und Leseart als Metapher des Bildungserfolges der Vertreterin der dritten Generation. Bildungserfolg wird in der Familie durch die jüngste Generation, vor allem durch Vindal, um ein Vielfaches potenziert. Diese Tatsache wirft die Frage auf, ob ihr individueller Bildungserfolg anteilig als kollektives Gelingen, das auf der Migrationsentscheidung fußt, gelesen werden kann. Es geht der Mutter darum, der Familie und auch der Außenwelt mitzuteilen, dass ihre Tochter erfolgreich den Uni-Abschluss bewältigt habe, auch in Abgrenzung zu den eigenen (höchsten) formalen Abschlüssen, wie dem eigenen Volksschulabschluss. Das Grillfest und insbesondere die Schlachtung sowie der anschließende Verzehr des Schafes charakterisieren einen Moment der Feierlichkeit und der Anerkennung des Festtagkindes. Des Weiteren geht es darum, eine spezifische Leistung als Gemeinschaftserlebnis zu würdigen und im Kreis der Verwandtschaft erfahrbar zu machen. Speziell die Schlachtung ist Teil eines intergenerationellen Aushandlungsprozesses zwischen Tochter und Mutter, der in einem Kompromiss mündet: Dieser implizit die Verständigung darauf, dass zum einen anstelle von zwei Tieren ein Tier geschlachtet wird. Zum anderen betrifft es die zeitliche Dimension einer letzten Handlung. »Ich habe gesagt: ›Nur noch dieses eine Mal und dann bitte nicht mehr.‹« (Zeile 574). Das Phänomen dieses speziellen Grillfestes ist vielschichtig. Es ist bereits vor Abhaltung der Feier viel diskutiert. In der Vorbereitung sind Teile des Festes Grund für einen intergenerationellen Aushandlungsprozess, der große Diskussionsbereitschaft zwischen den Generationen über die Sinnhaftigkeit familiärer Traditionen impliziert und die divergierenden Ansichten – hier veranschaulicht durch die Sichtweisen der beiden Protagonistinnen – herausfordert. Traditionen sind gerade durch die intergenerationelle Logik wandelbar. So beschreibt Vindal den Brauch der Schlachtung als »veraltet« (Zeile 566). Sie glaubt, dass dieser mit ihrer Generation enden werde. Jedenfalls werde sie ihn nicht an ihre künftigen Kinder weitergeben: »Und das ist dann doch etwas, wo ich mir denke, ich werde das nicht weitergeben, falls ich mal Kinder habe« (Zeile 526f.). Postmigrantische Leseart – Akt 2: Das familiäre Grillfest als Assemblage Das Fest als Ganzes ist Teil einer familiären Praxis. Die beim Fest gelebten, die kleinen und großen Traditionen verdichten sich zu einer Assemblage. (Vgl. Deleuze/Guattari 1992; siehe dazu konkreter Kap. 5.2.2) Mithin dient die Feierlichkeit als Ort der familialen

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Inszenierung, sodass alle Verwandten eingeladen werden, selbst jene Familienangehörige, mit der die Mutter zerstritten ist. Die Einladung aller folgt der mütterlichen Forderung bzw. Logik, die Verwandten gehörten sowohl kollektiv als auch als Kollektiv zur Familie. Die Familie wird also im Rahmen der Feier als Gemeinschaftsprojekt, an dem alle teilhaben und niemand ausgeschlossen werden sollte, inszeniert. Dennoch findet eine spezifische Form der Exklusion statt, indem die Anwesenheit der Familienmitglieder zwar vorausgesetzt werde, die nähere Interaktion oder gar Versöhnung zwischen den Streitenden dezidiert abgelehnt wird. Die Familie wird als Konstrukt der Gemeinschaft und Teilhabe verklärt, indem bestehende Probleme und Konfliktlagen nur angedeutet werden und nicht an einer gemeinsamen Lösung gearbeitet wird. Davon abgesehen findet Vindal an dem Grillfest und dem Wiedersehen der Verwandten durchaus Gefallen. Postmigrantische Leseart – Akt 3: Gespräch mit dem Bürgermeister: »[…] tust du Putzen?« Vindal erwähnt an späterer Stelle, nachdem die soeben beschriebene Narration zu Ende erzählt scheint, eine Randerzählung, die sich im Zuge der mehrtägigen Schafsuche ergab. Es ist eine Nebenepisode mit weitreichender Tragweite. Vindal trifft im Vorfeld der Schafsuche auf den Bürgermeister, wenngleich sie bei der tatsächlichen Suche und Auswahl des Tieres nicht beteiligt ist und der Mutter den aktiven Part überlässt. Die Tochter nimmt in der anschließenden Situation eine Schutzfunktion für ihre Mutter ein und dreht die intergenerationellen Mutter-Kind-Rollen um. Das Gespräch zwischen Vindal, der Mutter und dem Bürgermeister ist kurz, geschieht nebenbei und ist wie ein alltäglicher Smalltalk aufgebaut. Dazu passt die Frage des Bürgermeisters, was Vindal denn beruflich mache. Vindal vermerkt, dass sie gerade ihr Studium absolviert habe und die Mutter daher ein Fest für sie veranstalten wolle. Er reagiert jedoch nicht auf das Gesagte und ändert stattdessen das Gesprächsthema. Vindal ist über die fehlende Reaktion bzw. Anerkennung irritiert (»dann machst du doch den Bachelor da und trotzdem wird das überhaupt nicht anerkannt«). Die Null-Reaktion des Mannes tritt jedoch angesichts der Frage, die er an Vindals Mutter adressiert, sofort in den Hintergrund. Unmittelbar vor der Verabschiedung äußert er sich dieserart: »Mah ich brauche eine Putzfrau, kennst du jemanden? Nein, machst du sowas, tust du Putzen?« (Zeile 1106f.). Vindal vermutet, dass es für ihn eine Verknüpfung zwischen dem Herkunftskontext Türkei und dem Beruf Reinigungskraft gibt. Seine Aussage bewegt sich auf mehreren Ebenen, die nicht sein gesamtes Werte- und Denksystem dechiffrieren, sehr wohl aber einen Eindruck über misogyne, marginalisierende, diskriminierende Haltungen und Positionen offenlegen. Gerade die dezidierte Frage »[…] tust du Putzen?« (Zeile 1107) entlarvt eine pauschale Beurteilung bzw. Vorverurteilung von mehrheimischen Frauen als Arbeitnehmerinnen in ausschließlich marginalisierten Berufen. Der Fragende unterscheidet, wenngleich er es nicht nennt, die potenziellen Arbeitsfelder von Frauen danach, ob sie migriert oder nicht migriert sind. Damit nimmt er eine Hierarchisierung von mehrheimischen und einheimischen Lohnarbeiterinnen vor. In der Aussage des Politikers wird deutlich, dass er erstens Putzarbeit als »Frauenarbeit« assoziiert. Zweitens werden besonders Frauen aus bestimmten Herkunfts- und Bildungskontexten und niedrigerem sozioökonomischen Status als potenzielle Reinigungskräfte in die veraltete

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Denkstruktur eingeschrieben. Infolgedessen werden Frauen mit Migrationserfahrungen per se als nicht bildungserfolgreich unterminiert, im Umkehrschluss als »geeignet« für Reinigungsarbeit in privaten Haushalten reproduziert. Drittens wird die historische Tatsache, dass die erste und zweite Generation vielfach in prekären, körperlich verausgabenden Berufsfeldern tätig waren als nach wie vor existente Gegenwartsrealität übersetzt. Dabei erwirken Menschen stetig Veränderungen, bilden sich aus und bilden sich weiter. Selbstredend sind der Wunsch nach Bildung und Veränderungspotenzial gesellschaftsübergreifend und Lebensrealität vieler (mehrheimischer) Menschen. Viertens kann die Äußerung des Fragenden als Statussymbolik bzw. als Art bürgerliche Arroganz gelesen werden. Sie suggeriert, man habe in Abgrenzung zu Menschen mit sozioökonomisch niedrigerem Status »besonders viel zu tun« und könne sich daher nicht noch zusätzlich um den Haushalt kümmern. Die Lohnarbeit als Reinigungskraft spielt sich nach wie vor häufig, vor allem im Privatsektor, in einer Grauzone von fehlendem oder schlechtem (Sozial-)Versicherungsund Arbeitsschutz und dem fließenden Übergang zwischen den Haushaltstätigkeiten ab, die von dem*der Arbeitgeber*in eingefordert werden. Helma Lutz verweist hierbei auf sogenanntes domestic work, ein Phänomen, bei dem Haushaltstätigkeiten wie Care-Arbeit, Cleaning und Cooking (vgl. Lutz 2007, S. 21) nicht klar voneinander abgrenzbar, sondern ineinander verzahnt wären. Aus der Reinigungskraft wird eine Haushaltskraft, die eine Vielzahl an Aufgaben übernehmen muss.8 Der Diskurs über weibliche Reinigungsarbeit verortet sich obendrein innerhalb der intersektionalen Forschung. Des Weiteren spielen Fragen nach potenzieller Qualifizierung, Unter- und Überqualifizierung in eben diesen Diskurs hinein. Dies wird auch in der spezifischen Formulierung des Bürgermeisters sowie in seiner Nicht-Reaktion auf Vindals artikulierten Bildungserfolg deutlich. Weder quittiert er den Erfolg von Vindal noch hinterfragt er, weshalb die Mutter wiederum keinen formalen Bildungserfolg vorweisen kann. Stattdessen bedient er sich an pauschalen Vorurteilen und wendet diese auf marginalisierte Gruppen an, hier auf türkische Migrantinnen. Paradox ist, dass er, obwohl er die beiden Frauen in eine unangenehme (Gesprächs-)Situation bringt und dabei eine Grenzüberschreitung begeht, die Mutter bei der Schafsuche unterstützen will. Einerseits fungiert sie als Mitglied und Wählerin der Gemeinde, andererseits wird sie als potenzielle Reinigungsfrau markiert und als vermeintlich Andere festgeschrieben. Die Mutter beantwortet die Frage des Bürgermeisters mit einem schlichten »Nein«. Mit der knappen Verneinung beendet sie vorzeitig eine mögliche weiterführende Diskussion und Handlung. Für Vindal ist die folgende Debatte jedoch noch nicht zu Ende, sondern bleibt präsent und emotional aufgeladen. Sie reagiert in ihrem Bericht fassungslos und wütend: »Ich kriege jetzt gleich die Krise« (Zeile 1110). Sie wechselt in ihrem Bericht sprunghaft zwischen der Präsens- und Vergangenheitsform. Durch das erzählerische Präsens wird die Erzählsituation aus der Vergangenheit in die Gegenwart trans-

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Neben dem Aspekt des Stolzes darauf, eine Putzkraft beschäftigen zu können, ist der Diskurs über domestic work auch mit Scham verknüpft. Teils abstruse Berufsbezeichnungen, wie Bodenkosmetiker*in, Raumpfleger*in oder Haushaltsperle, zeigen in der Debatte die Verlegenheit, Reinigungsarbeit nicht selbst zu erledigen, sondern an Personal zu übergeben und »auszulagern«.

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portiert und dadurch aktualisiert und vergegenwärtigt. Mit der Formulierung »Ich kriege jetzt gleich die Krise« vergegenständlicht Vindal ihren Ärger und Wut, die sie als Krise bildhaft und begreifbar werden lässt. Die Krise beschreibt eine komplexe, zuweilen ausweglose Situation, die nur schwer überwunden werden kann. Die Erzählerin macht klar, dass ihre Strategie im Umgang mit dem Mann und seiner Aussage eine andere gewesen wäre als jene der Mutter. Anstelle der Technik des Ignorierens oder Schweigens hätte sie sich, so ihre Interpretation, verbal gewehrt und gekontert: »[…] ich hätte ihn schon zusammengeschissen« (Zeile 1112f.). Vindal beschreibt die Reaktion der Mutter als »für sie war es aber voll in Ordnung, weil sie das akzeptiert«. Das war dann so, du bist ja aus der Türkei. Und er hat meine Mama nicht mal wirklich gekannt und hat aber gewusst, dass sie eigentlich im Gasthaus gearbeitet hat als Küchenhilfe und fast schon als Köchin, und dann war das kurz so für mich, ich habe gedacht, ich kriege jetzt gleich die Krise, und dann denke ich mir, hä? Und dann machst du doch den Bachelor da und trotzdem wird das überhaupt nicht anerkannt und die Mama so: »Nein.« Sie macht es nicht und sie war so locker drauf und ich habe mir gedacht, mah, ich hätte ihn schon zusammengeschissen, und für sie war es aber voll in Ordnung, weil sie das akzeptiert. (Zeile 1107-1113) In dieser und weiteren Erzählpassagen ergibt sich ein dynamischer (Rück-)Wechsel der Erzählposition von erster zu dritter Person. Vindal nutzt neben der dominanten Ich-Erzählung auch neutrale und personale Erzählperspektiven, ergo das Hineinschlüpfen in die Erfahrungen und Erzählungen naher Dritter, vor allem der Mutter. Die Ich-Erzählerin verfällt stellenweise, auch innerhalb der wechselnden Erzählperspektive, in die direkte Rede.9 Die Frage ruft seitens der Erzählerin viele Emotionen hervor, etwa Kränkung und Wut. Die Anrufung der Mutter als mögliche Reinigungskraft dekodiert des Weiteren das Bedürfnis der Erzählerin, die mütterlichen sowie eigenen erworbenen Qualifikationen zu konkretisieren. Die Mutter, die bis zu ihrer Pensionierung in der Gastronomieküche arbeitete, wird »fast schon als Köchin« bezeichnet. Die Hochstufung von der Küchenhilfe zur »Beinahe-Köchin« erscheint legitim, denn sie ist die Reaktion auf die genannte Kompromittierung und Anstoß für eine Debatte, ab welchem Zeitpunkt jemand genügend Qualifikationen erworben habe, um gesamtgesellschaftlich anerkannt zu werden. Auch die Tatsache, dass die Mutter langjährige Berufserfahrung in diesem Sektor hat, macht die geschönte Berufsbezeichnung seitens der Tochter überaus nachvollziehbar. Um die eigene Qualifikation zu unterstreichen, verweist Vindal auf ihren bereits erfolgreich absolvierten Bachelorabschluss, erworben im Rahmen des tertiären Bildungssystems (vgl. Roloff 2019, S. 95). Der formale Bildungsabschluss ist Vindals persönlicher Erfolg und familiär nebst bildungsspezifisch relevant. Er kann aber auch mitentscheidend sein über

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Bestimmte Momente und Arten des Erzählens lesen sich auf den ersten Blick auktorial. Die Erzählerin ist de facto nicht allwissend, beherrscht jedoch den retrospektiven Blick aus der Gegenwart. Aufgrund ihres aktuellen Wissensstandes bzw. Erfahrungsschatzes kann sie Vergangenes souveräner beurteilen, einordnen und reinterpretieren.

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die Platzierung innerhalb der Gesellschaft10 , denn Menschen werden verstärkt durch die erfolgte bzw. nicht erfolgte Akkumulation von Bildung in der Gesellschaft platziert (vgl. ebd., S. 96). Die Platzierung kann (bewusst) übersehen werden, wie es die fehlende Reaktion des Bürgermeisters auf die Erwähnung, sie habe ihren Bachelor abgeschlossen, zeigt. Vindal überlegt, ob sie das Gespräch mit der Mutter suchen und das Erlebte thematisieren soll, entscheidet sich jedoch aus Vorsicht vor einer möglichen Brüskierung ihrer mütterlichen Bezugsperson dagegen. Die gemeinsam geteilte Erfahrung bleibt unausgesprochen, aber findet im halbnarrativen Interview ihren Gesprächsraum. Kurz habe ich überlegt im Auto, ihr das zu sagen, dann habe ich gedacht, nein, nicht dass ich sie jetzt kränke irgendwo, weil die Mama ist eine, die sagt: »Arbeit ist Arbeit, ist ja Wurst, was man macht, und dann, als würde ich das dann reduzieren irgendwo.« (Zeile 1119-1121) Der Entschluss, das gemeinsam Erlebte nicht zu besprechen, ist zuallererst das Resultat einer intergenerationellen Rücksichtnahme des Kindes vor dem Elternteil. Die Erzählerin möchte die Mutter vor negativen Erfahrungen und Benennungspraxen schützen. Vindal hinterfragt und kritisiert zwar die Reaktion der Mutter auf die Frage des Bürgermeisters, versteht aber ihre Beweggründe, die sie dazu verleiten, wie beschrieben zu reagieren. Das Argument »Arbeit ist Arbeit« ist für Vindal überdies plausibel und ist biografisch begründet. Die Berufe, die die Mutter ausübte, waren kein Selbstzweck oder Teil einer beruflichen Selbstentfaltung. Sie dienten vielmehr als existenzielles Mittel dazu, Geld zu verdienen, um die Kleinfamilie miternähren zu können. Das Paradigma, dass Arbeit immer Arbeit sei, mag stimmen und kalkuliert die Notwendigkeit mit ein, unterschiedliche Berufsgruppen und Arten von Lohnarbeit nicht zu hierarchisieren. Hinsichtlich des beruflichen und akademischen Werdegangs der Tochter gibt es aus Sicht der Mutter sehr wohl Rangfolgen, dort ist Arbeit nicht mehr gleich Arbeit. Sie ist hinsichtlich der Karrieren ihrer Kinder sehr ambitioniert und artikuliert offen den Wunsch, dass die jüngere Generation möglichst Bildungserfolg, kombiniert mit finanzieller Prosperität, akkumuliere. Vindal übt sich in vorsichtiger Zurückhaltung bei Themen, die ein Familienmitglied zu stark negativ berühren könnten. Sie kennt die innerfamiliären Diskurse, die die Grenze der Sagbarkeit markieren und verletzende Themen reglementieren. An dieser und weiteren Stellen des Interviews zeigt sich, dass Vindal nicht nur situativ eine Schutzfunktion für die Familienangehörigen einnimmt, in dem sie etwa bestimmte Themen oder Ereignis unkommentiert lässt. Sie steht ihnen auch beratend, etwa bei Behördengängen, zur Verfügung. Diese Form der Unterstützung ist kennzeichnend für alle Gesprächspartner*innen und ihre Verwandten.

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Der Erwerb universitärer Bildungsabschlüsse, Bachelor und Master, wurde in den letzten Jahrzehnten realistischer für Gesellschaftsgruppen mit sozioökonomisch niedrigeren Chancen. Damit geht eine »faktische Entwertung des Abiturs im Gefolge der Bologna-Reform« (Winter 2018, S. 283) einher.

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Die Übernahme, Umdeutung und Rückgabe elterlicher Funktionen durch die Erzählerin: »Ich bin dein Kind und nicht du mein Kind!« Der Begriff der Rolle, also Geschlechterrollen, elterliche oder familiäre Rollen (vgl. Gestrich 2003, S. 16), ist Teil des alltäglichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauchs. Aufgrund der normativen und in der Regel binären Auslegung von Rollen, die in der Regel zugewiesen werden und von außen diktiert sind, ist es notwendig, den Terminus und die Idee dahinter kritisch zu betrachten. Familiäre und geschlechtliche Rollenauslegungen reproduzieren reaktionäre Vorstellungen von primär weiblicher Kindererziehung oder Haushaltsführung, um nur ein Beispiel zu nennen. Ich präferiere es daher, von innerfamiliären Funktionen zu sprechen, die ich im Gegensatz zu Rollen als flexibler und deutungsoffener erachte. In der Realität bilden sich im Zusammenleben von Familien oder Partner*innen fortwährend Funktionen und damit verknüpfte Erwartungshaltungen aus, die nicht automatisch reflektiert oder offengelegt werden. Fest steht, dass eine essenzielle Funktion der Elternteile jene der Sorgepflicht für ihre Kinder ist. Idealtypisch und verkürzt zusammengefasst kann man sagen: Sie übernehmen die Rolle des*der Sorgenden, sollen Bindung zwischen Kind und Elternteil ermöglichen, Verantwortung für die Kinder übernehmen sowie ihnen beratend zur Seite stehen. Die »Funktion des Kindes« wiederum basiert auf unscharfen Handlungsmustern und sollten in einem, naiv gesprochen, »einfach Kindsein« bestehen. Mit dem Älterwerden der Familienmitglieder ändern sich vielfach auch die jeweiligen Funktionen. Die Jüngeren übernehmen, im Sinne einer Art informellen Generationenvertrages (vgl. Schreiber 1955), vermehrt Verantwortung für die Älteren, sodass eine teilweise oder vollständige Umkehr der generationellen Zuständigkeiten stattfindet (vgl. ebd.). In dieser Fallrekonstruktion zeigt sich die Übernahme der Elternfunktion verschärft und verfrüht, da die Erzählerin vorzeitig, bereits als Jugendliche, »elterliche« Aufgaben und Funktionen übernimmt. Bei Vindal wird besonders stark eine eben solche »Rollenumkehr« innerhalb vermeintlicher Funktionen der Eltern und jener der Kinder sichtbar. Sie reflektiert stellenweise die elterlichen Zuschreibungen, die erfolgen, und die daraus entstandenen alltagsweltlich festgelegten Aufgaben, die große Auswirkung auf ihre Lebensrealität haben. In der Artikulation fällt mehrfach der Satz: »Ich bin dein Kind und nicht du mein Kind« (Zeile 833f.). Hierbei spielt sie vor allem auf das Verhältnis zu ihrem Vater und die Routinen an, die sich im Laufe der Jahre zwischen ihnen entwickelten. Vindal besucht ihn regelmäßig in seiner Wohnung und hilft ihm wiederkehrend bei der Hausarbeit. Mein Papa zum Beispiel, er hat sich nochmal scheiden lassen und wohnt jetzt alleine, und es ist so schwierig, weil er sich denkt, ich bin seine Mama oder so, dass ich alles erledigen muss. Am Anfang habe ich es auch gerne mal gemacht, dass ich mal zu ihm Putzen gegangen bin, weil ich mir gedacht habe, er kennt sich wirklich nicht aus und dann jetzt. Es war so, dass er meint, das ist meine Aufgabe. Dann sage ich: »Du musst zuerst einmal dankbar sein und zuerst sagst du mal bitte«, weil irgendwann einmal hört er dann auf zu sagen bitte und danke und dann passt es mir nicht, dann mache ich es nicht gern. (Zeile 803-809) Sie kritisiert die Selbstverständlichkeit, mit der ihr Vater annehme, sie würde automatisch für ihn saubermachen. Die Tatsache, dass sie »mal zu ihm Putzen« ging und er

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meint, es sei ihre Aufgabe, dechiffriert, wie das Gegenüber aus einem einmaligen Gefallen Normalität macht, es für selbstverständlich erklärt. Die Annahme des Vaters, seine Tochter würde verstärkt seine Aufgaben übernehmen, findet ihre Zuspitzung in den Momenten, in denen er weder Dankbarkeit zeigt noch danke oder bitte sagt. Die überspitzte Auslegung, »weil er sich denkt, ich bin seine Mama« (Zeile 804), verweist auf die biografisch-zeitliche Konstante des Zusammenlebens von Vater und Oma. Er holte sie vor Jahren nach Tirol und lebte fortan mit ihr zusammen – in teils wechselnden Familienkonstellationen, mal mit Kleinfamilie, später mit ihr allein. Die Narration des Nachzuges der Großmutter ist keine banale Episode oder beiläufiges Ereignis im familialen Gedächtnis, sondern eine dominante und omnipräsente Familienerzählung. Der Vater erzählt es wiederholend. Innerhalb der spezifischen Erzählung tritt er als aktiver Entscheidungsträger und Handelnder in Erscheinung, der sich fortan um seine Mutter kümmerte. Vindal gibt an, dass sich der Vater nachträglich als Sorgender für das Wohl der Mutter präsentieren würde. Vindals Oma übernahm in der neuen Umgebung die Haushaltsführung und platzierte sich selbst als dafür Zuständige. Nach ihrem Tod wurden Vindal Aufgaben, die den Haushalt betreffen, gewissermaßen zugesprochen und sie übernahm sie auch teilweise. Die Bereitschaft, fortwährend Tätigkeiten im Zuhause des Vaters und beinahe erzieherische Maßnahmen zu übernehmen, ist jedoch fragil. Vindal hinterfragt nämlich ihre vermeintlichen Aufgaben, die durch seine Einforderung der Hilfe an Freiwilligkeit verlieren. Trotzdem versucht sie, die Dominanz und Vehemenz, mit der er auf ihre Hilfe besteht, zu rechtfertigen. Das macht sie, indem sie erklärt, er kenne sich im Tätigkeitsfeld Haushalt nicht aus und benötige daher (weibliche) Hilfe. Ja und jetzt ist es fast so weit, dass ich ihn fast erziehen muss, dass ich sagen muss: »Nein, heute komme ich nicht«, weil er anruft und sagt: »Komm zu mir, weil ich brauche das und das und das.« Und dann sage ich: »Nein, zuerst fragst du mal, wie es mir geht.« Und ich denke mir dann oft so, weil eben die Oma ist gestorben und die Oma war immer für ihn da und er hat immer eine Frau an seiner Seite gehabt oder die Schwestern, und jetzt ist er ein bisschen aufgeschmissen, wo ich mir denke, das ist halt eine Möglichkeit, sich ein bisschen weiterzuentwickeln, und gestern hat er gemeint, er hat den Boden geputzt und gewischt. (Zeile 813-819) Der Verweis auf die dezidiert weiblichen Unterstützerinnen exponiert patriarchale Strukturen, die innerhalb der Familie und Gesellschaft fortbestehen, die die Erzählerin erkennt und anprangert. Auch innerfamiliäre Abhängigkeiten werden diskutiert. Dadurch, dass Vindal eigene und familiale Leerstellen hinsichtlich veralteter Rollenbilder, Denkansätze und Handlungsweisen reflektiert und mittlerweile auch offen anspricht, verändert sich auch die Diskurs- und Dialogebene innerhalb der Familie. Vindal befindet sich in dem Spannungsfeld, dem Vater einerseits helfen zu wollen und andererseits ihre eigenen Bedürfnisse nicht zu untergraben, weshalb sie versucht, sich repetitiv von seinen Forderungen abzugrenzen bzw. sie in ihre Denkweise und Vorstellung, wie die Vater-Tochter-Beziehung aussehen solle, zu integrieren. Die Erzählerin bringt vermehrt ihren Unmut über diese Situation zur Sprache. Durch die Erinnerung, sie sei sein Kind, werden gelebte Praktiken und Routinen aufgebrochen und alte Selbstverständlichkeiten neu verhandelt. Sie zieht, in Betrachtung der intergenerationellen Beziehung, Parallelen zu erzieherischen Tätigkeiten und sagt, dass sie ihn »fast

3. Die Idee des Postmigrantischen: Von der (politischen) Kunst in die Wissenschaft

erziehen muss«. Der Situation, ihren Vater »erziehen« zu müssen, entkommt sie, indem sie ihn mit dem Vermerk, er solle sie erst nach ihrem Befinden fragen, bevor er Forderungen stelle, zurechtweist. Sie erklärt ihm, dass ihre Hilfe nicht absolut ist, und antwortet: »Nein, heute komme ich nicht.« (Zeile 813f.) Sie entkräftet die zuvor geäußerte Vermutung seiner (nach wie vor) fehlenden Haushaltspraxis mit der Äußerung, der Vater habe, so sagte er im Telefongespräch, gestern selbst den Boden geputzt. Diese banale Handlung kann so gelesen werden, dass seinerseits ein minimaler Lerneffekt, der Verbesserungspotenzial verspricht, eintritt und veranschaulicht, dass die Erledigung von Hausarbeit selbstredend nicht vom Geschlecht abhängig ist. Die Aushandlungen zwischen Tochter und Vater werden zuweilen auch mit einem Augenzwinkern geführt, vor allem seit Vindal ihre Sichtweise verstärkt und redundant geltend macht: »[…] wenn ich auf Reisen gehe, sagt er zu mir: ›Und wer schaut auf mich?‹ und lacht dann, dann sage ich: ›Ich nicht, du schaust auf mich, ich bin dein Kind und nicht du mein Kind‹« (Zeile 831-834). Sobald sich der Vater in ihren Alltag, ihre Pläne oder Beziehungen einmischen wolle, entgegnet sie ihm: »Nein, das machst du jetzt bei mir nicht!« (Zeile 199). Auf seinen darauffolgenden Verweis, dass er schließlich der Vater sei, kontert sie: »Ja, aber du bist nur der Papa, nicht mein Besitzer!« (Zeile 200). Anhand solcher Szenen lässt sich herausarbeiten, dass Vindal selbstsicherer geworden ist, sich gegen vereinnahmendes Verhalten, auch im familiären Kontext, wehrt und das Gegenüber in seine Schranken weist. Voneinander Lernen – intergenerationelles Lernen und familiäre Differenzierungsprozesse zwischen den Generationen Das Verhältnis zwischen (erwachsenem) Kind und Elternteil ist einem stetigen Wandel unterzogen, der entscheidend von der jüngeren Generation forciert wird. Die Alternation bestimmter familialer Praktiken und Einstellungen betrifft vor allem die Kommunikationsebene. Dazu reflektiert Vindal: »[…] wir waren zwar alle immer beieinander die ganze Familie, aber doch gesprächlich nicht« (Zeile 744). Vindal zufolge fehlt(e) der Eltern-Generation, vor allem in der Rückschau, die tieferreichende Kompetenz, Gefühle situativ zuzulassen und diese vor den Kindern zu formulieren. Genauso mangelte es ihr an Bereitschaft oder dem Vermögen, tiefergehende, generationsübergreifende Gespräche mit den Kindern zu führen. Die postmigrantische Generation hingegen wächst im Gegensatz zu den älteren Familienangehörigen durch die schulische Sozialisation in Lernprozesse sprachlicher und emotionaler Artikulation hinein, die zweite und erste Generation muss sie vielfach nachträglich erlernen. Die junge Frau vermisst in der Vergangenheit besonders ein interessiertes Nachfragen, das über Floskeln, wie es in der Schule oder bei der Arbeit war, hinausgehen. Vindal rekonstruiert, wie stark sowohl die Mutter als auch der Vater dafür gesorgt hätten, dass die täglichen Grundbedürfnisse der Kinder gestillt waren, was aber dazu führte, dass gehaltvolle Gespräche oder detaillierte Fragen quasi als Luxus im alltäglichen Zusammenleben betrachtet wurden. […] sie [die Mutter] war halt immer diese starke Frau, die nie gezeigt hat, dass es ihr schlecht geht, und deswegen haben wir es, glaube ich, auch nicht wirklich zeigen kön-

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nen, weil wir immer stark sein müssen […]. Entweder eben man ist stark, man sagt es nicht, oder man jammert, man hat nicht diese Persönlichkeit, wo man sagt: »Hey, mir geht es mal gut, mal nicht und meine Schwäche ist auch meine Stärke« Ich glaube, da fehlt die emotionale Intelligenz, dass man sich so bewusst ist und irgendwann, ja es ist halt, sie haben immer so viel gearbeitet, da ist keine Zeit für sowas. Dann kommst du heim und das erste, was sie fragen, ist: »Hast du gegessen?« Und da ist nicht wichtig, ob es dir schlecht geht, sondern ob du gegessen hast, ob deine Grundbedürfnisse gedeckt sind. (Zeile 779-788) Gerade Gefühlsarbeit und ihre Offenlegung nebst Dialog- und Debattierfähigkeit sind jedoch in großem Maße wichtige Formen der Bildungsarbeit, die erlernt werden müssen, und den Eltern fehlte es neben Lohn- und Reproduktionsarbeit mitunter an Zeit und Kraft dafür. Dass die ältere Generation in vielen Situation bereits von der jüngeren gelernt hat, zeigt sich an Vindals Erklärung, wie sehr sich die Intensität der Unterhaltungen im Laufe der Jahre verändert hätten. Entscheidend dafür war folgende Erkenntnis: »Dann habe ich gemerkt, dass ich viel hinnehme, was ich eigentlich gar nicht hinnehmen sollte« (Zeile 758f.). Diese Einsicht bekommt die Akteurin, als sie beobachtet, wie gleichaltrige Freund*innen und deren Familien kommunizieren oder sich respektvoll streiten. Vindal adaptiert die Strategie, indem sie den derzeitigen Ist-Zustand, also das konkrete Problem benennt und einen Soll-Zustand im Sinne einer familiären Utopie charakterisiert, nämlich wie die intergenerationelle Kommunikation und damit genauso das Zusammenleben verbessert werden können. Vindal beginnt sowohl Probleme als auch Gefühlslagen zu thematisieren, ihre Familienmitglieder folgen zuweilen dem Beispiel. Die bis dato angewandte familiäre Strategie, pauschal zu sagen, es gehe ihnen gut, ist für die Erzählerin nicht mehr zeitgemäß und akzeptabel. Die Veränderungen, die Vindal erzielt, veranschaulichen, dass die familiale Logik nicht gleichgeblieben, sondern wandelbar ist. Vindal betont, dass ihre Generation im Familienkontext viel aufgebrochen und verändert habe. Die Veränderung wird durch die Einübung neuer Sichtweisen und Praktiken Teil der bisherigen Familienpraxis. Ferner wird die Familie als Ort des Rückzuges, der Vertrautheit wiederbelebt. Fazit Vindals biografische Erzählarbeit ist gekennzeichnet durch eine klare Sichtbarmachung dessen, was sie in ihrem Leben für relevant hält, nebst persönlichen Zielen sowie Wünschen, und gleichzeitig durch ein Einstehen für ihre familialen Bezugspersonen und deren Interessen. Es finden mehrere (familien-)biografische, teilweise generationsübergreifende Lernprozesse statt, die vielfach durch Vindals Offenlegung oder Aufdeckung »des Problems« initiiert wurden. Die Erzählerin sieht sich mehrfach konfrontiert mit generationsspezifischen und individuellen Orientierungen der Elterngeneration, die mit ihren Auffassungen kollidieren. Vindal überlegt daraufhin, wann gegenseitige Kompromissbereitschaft angebracht sei (das Grillfest) und wann sie ihre Position stärker geltend machen wolle (die Diskussion mit dem Vater über Eltern- und Kinderrollen).

4. Generation »ich habe immer nur geschrieben um einen ausweg für die vergangenheiten […]« (Czollek 2019, S. 9)

Dieses Kapitel möchte ich exemplarisch mit einer biografischen Anekdote eröffnen, die getragen wird von dem »(Un-)Sinn« des Generationendenkens und von der Benennung von in Deutschland geborenen Kindern als »nicht-deutsch« oder »weniger-deutsch«. Zafer Şenocak erzählt in betreffender Ausführung von einem Paradoxon, das in ähnlicher Form die alltäglichen Lebensentwürfe und Lebensrealitäten vieler Menschen tangiert. Dabei geht es zum einen um eine erzählerische Situation aus dem Schulunterricht und zum anderen um die Irritation, ob, und wenn ja, wann damit aufgehört werde, in Generationen zu denken und zu zählen. Das familiale Generationsdenken per se, z.B. in Großeltern- oder Enkelkindergeneration, ist mit der Frage nach dem Ende des Narrations- und Zählmodus natürlich nicht gemeint, sondern jener, der auf Migrant*innen und nur Migrant*innen (und ihren Nachfolgegenerationen) fokussiert. Dem Zählen, also dem Nummerieren von Angehörigen verschiedener mehrheimischer Generationen, erteilt Şenocak einen negativen Befund, da mit ihm eine Fortschreibung von Fremddeutungen jener Menschen ausgedrückt werden kann, die de facto zur postmigrantischen Gesellschaft dazugehören. Dazu schreibt er wie folgt: Meine Schwägerin lebt in einer mittelgroßen Stadt in Nordrhein-Westfalen. Sie ist Lehrerin und unterrichtet türkische Kinder in ihrer Muttersprache. Dieser Unterricht heißt überall anders. Mal muttersprachlicher Unterricht, früher einmal heimatkundliche Unterweisung. Oder einfach nur Türkischunterricht. Eigentlich gibt es ein solches Fach nicht, so wie es »türkische« Kinder in Deutschland nicht gibt. Das sind ja deutsche Kinder, die in Deutschland geboren wurden und deren Eltern oder Großeltern aus der Türkei stammen. In vielen Fällen sind auch die Eltern bereits in Deutschland geboren. Irgendwann hört man auf, die Generationen zu zählen. Ist das wirklich so? Hört man je damit auf? (Şenocak 2018a, S. 76) Zafer Şenocak zeigt in diesem Exempel mehrere schwierige Umstände im schulischen Kontext rund um die Generationsthematik auf. Einerseits wird skizziert, dass der Unterricht, in dem Schüler*innen, deren Familien, Eltern oder Großeltern aus der Türkei

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Postmigrantische Generation

nach Deutschland migrierten, ihr Türkisch verbessern oder vertiefen sollten, verschiedene Bezeichnungen hat und unter anderem dadurch unterschiedliche Ansprüche, in jedem Falle aber konträre Assoziationen weckt. Andererseits ist es so, dass mit der häufigen und inoffiziellen Benennungspraxis als »Türkischunterricht« die Folgerung abgeleitet wird, die Kinder und Jugendlichen wären Türk*innen oder »Gäst*innen«, auf jeden Fall aber keine Deutsche. »Das sind ja deutsche Kinder«, schreibt der Autor Şenocak – und hat Recht damit. Zumindest in Teilen. Das Deutschsein, das wie andere nationale Zugehörigkeitsformen auch ein soziales und politisches Konstrukt ist, denkt andere Formen der Zugehörigkeit nicht mit, deutet sie als weniger bedeutend bzw. schließt sie aus. Bei Schüler*innen, deren Familien migrierten, sind hingegen Mehrfachzugehörigkeiten und Doppeldeutigkeiten wahrscheinlich. Das selbst gewählte Zusammenfügen verschiedener lokaler, nationaler, regionaler Entwürfe kann in innovativen Zugehörigkeitsformen und Benennungspraxen münden, die biografisch besonders sind oder aber Teil einer temporären Auseinandersetzung mit spezifischen Fragen, Aushandlungen und Erklärungsmustern sind. Ein Entweder-oder, also die Reduktion auf entweder »Türkischsein« oder »Deutschsein« schließt mehrere, gleichzeitige sowie unterschiedlich gewichtete Zugehörigkeiten aus. Auf jeden Fall ist es wichtig, zu fragen, welche Mitgliedschaften für die jungen Menschen, über die gesprochen wird, essenziell und identitätsstiftend sind. Şenocak geht davon aus, dass die genannten Schüler*innen keine türkischen Kinder sind. Auch wenn dies definitorisch stimmen mag, obliegt den Kindern und Jugendlichen selbst, ob sie eine spezifische Zugehörigkeitspraxis teilen, ablehnen oder eigene Benennungen entwerfen. Vielfach können Schüler*innen von Unterrichtsformaten, in denen die Kompetenz der Mehrsprachigkeit unterstützt wird, profitieren. Dazu müsste Mehrsprachigkeit aber weitergedacht und als reale Chance erachtet werden, indem sie als ein zentraler Bestandteil des Schulunterrichts anerkannt, nicht streng nach Stundenplan geordnet wird und nicht etwa während des Mathematikunterrichts wieder in der Nische verschwinden muss. Die Sprachen, die die Schüler*innen mitbringen, müssen Teil des Gesamtschulischen sein und dürfen nicht weiterhin problematisiert und aufgrund der Wertigkeit bestimmter Schulfächer kategorisiert werden. Das primäre Problem, das im Zitat angesprochen wird, nämlich, dass Generationen repetitiv weitergedacht und -gezählt würden, bleibt trotz einer Sensibilisierung für verschiedene Formen der (Mehrfach-)Zugehörigkeit, der (Selbst-)Deutung und Benennungspraxis weiterhin bestehen. Şenocak kritisiert zu Recht die Festschreibung von Menschen als nicht-zugehörig. Doch sehe ich im Gegensatz zu ihm positive Aspekte im Denken von Generationen. Demnach gibt es sowohl (noch) eine Notwendigkeit als auch Chance innerhalb des Generationsdenkens. Eine Notwendigkeit deshalb, weil solange eine Vielzahl an Migrationsdiskursen dualen Unterscheidungs- und Kategorisierungsmechanismen unterliegt, ist es unabdingbar, zu betonen, dass sich Menschen ungern in vorgefertigte Raster einordnen lassen. Sie sind eben nicht, um bei dem Beispiel zu bleiben, ausschließlich »deutsch« oder ausschließlich »türkisch«. Generell muss die die Frage gestellt werden, was wir mit nationalen Zuschreibungen wie »Türkischsein«, »Österreichischsein«, »Griechischsein« bezwecken und wie sich das Empfinden als »Österreicher*in« oder als »Türk*in«, als »Griech*in« denn überhaupt »anfühlen« könne oder beschreiben ließe? »Sich fühlen als (Österreicher*in) oder fühlen wie (ein*e Türk*in)« hat längst Einzug in die Sprachwelt

4. Generation

des Alltages und des Wissenschaftlichen gefunden, ist aber sehr unpräzise, unscharf, wohl aber anschlussfähig. Es ist aufgrund dieser Unschärfe ein starkes Konstrukt, das suggeriert, Zugehörigkeit wäre ein intuitives und über die Logik hinausgehendes Moment, das anderen Mitgliedschaften übergeordnet ist. Dabei kann eine »gefühlte Zugehörigkeit« nur biografisch geklärt, nicht aber für eine breite Gruppe festgelegt werden. Das Denken in Generationen ist für die hier vorliegende Thematik eine Chance, weil sie, vor allem auch im Sinne eines postmigrantischen Paradigmas, die mehrfache und mehrheimische Verortung, Wirkmächtigkeit und den Anspruch auf Anerkennung der postmigrantischen Generation betont: »Wir sind nicht erst seit gestern hier!« (vgl. dazu Yıldız/ Rotter 2022, S. 409). Dieser Ausspruch drückt die Lebensrealität einer Generation aus, die vor Ort geboren ist und durch die Mobilitätsgeschichte der Familie ihre mehrheimischen Bezüge gefunden hat. Es ist eine Generation, die nicht, wie gerne versinnbildlicht wird, zwischen den Stühlen sitze, sondern gelernt hat, sich metaphorisch gesprochen, einfach einen dritten Stuhl zu suchen und es sich dort bequem zu machen. »Wenn du zwischen zwei Stühlen sitzt, suche dir einfach einen dritten Stuhl!«, könnte als ein mögliches Motto der postmigrantischen Generation entworfen werden. Des Weiteren drückt die Generationsthematik hinsichtlich einer postmigrantischen Gesellschaft und bezüglich der dort vorkommenden vielfältigen Biografien aus, welche, verkürzt gesagt, Anstrengungen und Diskriminierungserfahrungen die Großelternund Elterngeneration bewältigen mussten, damit die Angehörigen der Enkelkindergeneration ihre heutige Position in der Gesellschaft erreichen konnte. Sie veranschaulicht aber auch, erstens welche gesellschaftlichen Strukturen und zweitens welche Diskurse und althergebrachten Stereotype erneuert und überarbeitet gehören, damit eine Gesellschaft der Vielheit, die Teilhabe gerecht regelt und Ressourcen gerecht verteilt, realisiert werden kann. Überdies können das Erforschen der Generationen, innerfamiliäre Besonderheiten, aber auch kollektive Erfahrungen und Erinnerungen zutage befördern, die übergreifende Relevanz für die Migrations-, Generations- und Familienforschung sowie die Erziehungs- und Bildungswissenschaft haben. Doch zurück zu Zafer Şenocaks Erzählung, in der er folgende Abschlussbetrachtung und gleichzeitige Frage formuliert: »Irgendwann hört man auf, die Generationen zu zählen. Ist das wirklich so? Hört man je damit auf?« (Şenocak 2018a, S. 76). Die Antwort darauf ist einfach: Solange Menschen, die vor Ort geboren sind, aktuell hier leben, jedoch aufgrund der Herkunft der Großeltern »verandert« werden und sich in Folge mittels komplexen und Nerven raubenden Prozessen mit diskriminierenden bzw. reduktionistischen Fremdbenennungen auseinandersetzen müssen, die Kategorie »Generation« mehrfach und weiterhin Brisanz hat. Zum einen definiert diese Kategorie »den genealogisch familiensoziologischen Generationenbegriff« (vgl. Reimers 2018, S. 53). Durch Zeugung und Geburt wird die Familienlinie oder die »lineage innerhalb der Familie« (vgl. ebd.) aufrechterhalten und in bestimmten Abständen erneuert. Sophie Luise Reimers zufolge lässt sich in Familien beobachten, dass derzeit mehrere Generationen einer Familie, ausgelöst durch eine allgemein längere Lebenserwartung, auch eine zeitlich ausgedehnte, geteilte Lebenszeit miteinander verbringen. Das Einschneidende hierbei ist, dass somit gemeinsam geteilte Erfahrungen verstärkt ausgetauscht, aber auch intensi-

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vere Formen der Kommunikation und der intergenerationellen Wechselwirkung ermöglicht werden. (Vgl. ebd.) Der Begriff Generation erfährt eine weitere Relevanz und Brisanz durch Mannheims historisch-soziologisch fundierten Generationenbegriff (vgl. Mannheim 1970; siehe Kap. 4.2). Mannheim geht von gemeinsamen Erfahrungen einer (Jugend-)Generation aus, die sich im selben historischen sozialen Raum bewegt. Kollektive Erfahrungen lassen sich bei allen drei Generationen unabhängig des Herkunftsortes attestieren. Die erste Generation ist vorwiegend durch die kollektive Erfahrungswelt der Arbeitsmigration geprägt. Die zweite Generation wird durch Aushandlungsprozesse im Ankunftsort und innerhalb transnationaler Räume determiniert. Die dritte, die postmigrantische Generation wiederum ist disponiert durch die gemeinsamen Erfahrungen im Bildungssystem und durch die Kompetenz, neue Strategien im Umgang mit negativen Erlebnissen zu entwickeln. In allen drei Generationen lassen sich kollektive Erfahrungen und Erfahrungswelten wiederfinden. Biografische Elemente und subjektspezifische Dispositionen müssen ergänzt werden, damit das Bild (an späterer Stelle) vervollständigt werden kann. In den Erziehungs- und Bildungswissenschaften spielt Generation eine immanente Rolle, wenngleich die Leseart, ihre Betonung und die Frage, wie Generation pädagogisch bestimmt wird bzw. werden kann (vgl. Reimers 2018, S. 53ff.), durchaus divergieren. Das erziehungs- und bildungswissenschaftliche Verständnis von Generation impliziert in dieser Arbeit die Auffassung, dass Generationsangehörige innerhalb informeller Lernsettings und aufgrund ihrer je eigenen Erfahrungswissen voneinander lernen können. Das heißt: Die Lehr- und Lernsituation, die in einem pädagogisch geleiteten Verhältnis von einer erwachsenen Person angeleitet und auf ein Kind »angewandt« wird, wird durchbrochen bzw. durch intergenerationelle/familiale Lern- und Bildungssettings erweitert. Die Angehörigen der verschiedenen Generationen können demnach gleichzeitig sowie abwechselnd als Lehrende und Lernende fungieren. Die Situation, dass Eltern bei Behördengängen (siehe Fallrekonstruktion Vindal in Kap. 3.3) oder beim Verständnis von Briefen Hilfe von ihren Kindern benötigen, wird vielfach von jungen Erwachsenen der postmigrantischen Generation erzählt: Irgendwann fingen unsere Eltern an, uns zu fragen, was der Brief vom Amt zu bedeuten habe, ob wir bei der Auto- oder der Rentenversicherung anrufen könnten, welchen Telefontarif sie wählen sollten, ob es »dem« oder »den« heißt. (Topçu et al. 2014, S. 101) Lernsituationen und pädagogische Kontexte, in denen Töchter und Söhne ihren Eltern Kontext- oder Erfahrungswissen mitgeben sowie Kenntnisse und Kompetenzen übermitteln, aber auch, wie im vorherigen Beispiel, große Verantwortung übernehmen, sind in dieser spezifischen Trias der Familie relevant. Es zeigt, wie die »gewohnte« Perspektive, dass familial Jüngere ausschließlich von Älteren lernen könnten und nicht umgekehrt, korrigiert wird. So treten die jüngeren Familienmitglieder als Lehrende in Erscheinung, in späteren Momenten wird die Lernsituation wieder umgekehrt, indem die (Groß-)Eltern ihr Knowhow zwischenzeitlich an die Kinder weitergeben. Die eben beschriebenen Momente und Prozesse des Lernens und Lehrens, aber auch die Konstellation von Lehrenden und Lernenden selbst verhalten sich reziprok zueinander. In jedem Falle beeinflussen sich die spezifischen Kontexte wechselseitig, innerhalb derer Genera-

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tion verhandelt wird, also die (genealogische) Familienlogik, das historisch-soziologische Verständnis von Generation nach Mannheim und die erziehungswissenschaftliche (Weiter-)Bestimmung von Generation: Kollektive Erfahrungen und auch Erinnerungen werden intergenerationell weitergetragen und haben in den meisten Fällen Lerneffekte zum Ziel, die wiederum zwischen den Generationsangehörigen diskutiert, verhandelt, akkumuliert, verändert oder auch abgelehnt werden. In dieser Lernsituationen werden auch die Verhältnisse, die den familialen Bereich verlassen, also jene zur Außenwelt, besprochen und reguliert. Dabei fungieren die einzelnen Familienmitglieder als Übermittler*innen zwischen privatem und öffentlichem Kontext. Ihre transnationale (Familien-)Geschichte, die als Bereicherung empfunden wird, spielt sich dabei nicht nur im Familiären und zwischen den familialen Generationen ab, sondern ist auch Ausdruck der Verbindung zwischen Familie und Gesellschaft, da mit ihr »eine wesentliche Form familiärer, regionaler, aber auch gesamthistorischer Migrationsgeschichte und Erinnerungsgeschichte einhergeht, die eine Thematisierung fernab nationalstaatlich dominanter Erzähl- und Interpretationsweisen benötigen« (Rotter 2020, S. 218). Das eben skizzierte Generationsverständnis, das sich aus mehreren Annahmen speist, hilft dabei, spezifische Arten von generationellen Erfahrungen und Erinnerungen zu verarbeiten und eine Verbindung herzustellen zwischen den unterschiedlichen Generationsangehörigen innerhalb der Familie und in den sonstigen generationellen Übereinkünften. Im Folgenden wird Generation und ihre Entwicklung innerhalb der Migrationssoziologe und Erziehungs- und Bildungswissenschaft besprochen.

4.1 Migration und Generation Die Ausführungen zu den drei (Familien-)Generationen beschäftigt die deutschsprachige Migrationssoziologie (zumindest) seit jenem Zeitpunkt, an dem sich verstärkt abzeichnete, dass eine größere Gruppe an Pionier*innen mit ihren Familien neuer Teil der postmigrantischen Gesellschaft geworden waren. Mit dem Bleibeentschluss der Familien, der vonseiten der Wissenschaften (zu) lange Zeit ignoriert wurde, wurde das Forschungsspektrum aufgrund der Um- und Neuorientierung gesellschaftlichen Zusammenlebens erweitert. Ging es in der »Ausländerpädagogik« um »die diskursive und institutionell verfestigte Fortsetzung der Herstellung kulturell ›Andersartiger‹« (Yıldız 2009, S. 5f.), etwa mittels der Separation in getrennten Schulklassen, so stand in der Interkulturellen Pädagogik das kulturelle »Verständnis« zwischen den »kulturell anders« markierten Kindern und den »kulturell heimischen« Kindern im Zentrum. Frank-Olaf Radtke prägte den prägnanten Satz »Kulturen sprechen nicht« (2011). Genauso wenig treten Kulturen in den Dialog. Geschweige denn sind Kinder oder Jugendliche die Repräsentant*innen oder gar Widerstreiter*innen ihrer vermeintlichen (Herkunfts-)Kultur, auch wenn sie immer wieder als eben solche konstruiert bzw. angesprochen werden (vgl. kritisch dazu Baros 2009, S. 155). Innerhalb und abseits des wissenschaftlichen Schuldiskurses zielten Migrationssoziologie und Ausländerpädagogik offiziell auf die »Integration« der Schüler*innen und ihrer Familien ab, verfolgten aber eigentlich assimilative Ziele.

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4.1.1 Generation in der Migrationssoziologie sowie Erziehungsund Bildungswissenschaft Nun werden exemplarisch Konzepte aufgezeigt, die aus den Jahrzehnten vor und jenen aus den Jahrzehnten der Arbeitsmigration stammen, als die familialen Migrationsbewegungen der Pionier*innen nach Österreich und Deutschland begannen und sich dort in der Gesellschaft ihre Erfahrungen manifestierten. Der von den anschließend rezipierten Wissenschaftler*innen getätigte Blick auf Generationen im Speziellen und auf Migration an sich, wird von mir nicht geteilt, sondern kritisch bewertet. Anhand der Chicagoer Schule als Beispiel für den englischsprachigen Kontext und anhand Hartmut Esser stellvertretend für den deutschsprachigen Raum rekonstruiere ich eine wissenschaftliche Linie und Zeitachse, die dem gegenwärtigen pluralistischen und postmigrantischen Verständnis von Gesellschaft grundlegend widersprechen. Diese Beispiele veranschaulichen aber umso mehr, wie wichtig das Postmigrantische als »eine Art kontrapunktische Blickverschiebung, aus der historische Entwicklungen und soziale Verhältnisse neu gelesen werden [ist]. […] Eine kontrapunktische Lesart hat eine klare Distanz zu den gängigen Migrations- und Integrationsdiskursen zur Folge« (Yıldız/Rotter 2022, S. 407). Das Postmigrantische ist ein relativ junges, ein Schritt für Schritt erkämpftes und progressives Konzept. Die (wissenschaftlichen und politischen) Wege dahin waren keine geraden, sondern sind vielmehr durch Umwege gekennzeichnet. Das postmigrantische Wissen musste und muss erst generiert und angeeignet werden und ist daher das Ergebnis zahlreicher Debatten, Auseinandersetzungen und Erschwernisse, die die Vorreiter*innen der postmigrantischen Idee entscheidend mitgetragen haben und auf die wir Nachfolgewissenschaftler*innen nun durch eigene Beiträge aufzubauen versuchen. Generation wird in der historischen Migrationssoziologie bzw. der historischen Migrationsforschung unter dem Deckmantel integrativer und segregativer Konzepte bearbeitet. Die Bearbeitung des Generationsthemas ist bisweilen einseitig, weil das Ankommen im Ankunftsort und in der Ankunftsgesellschaft, aber auch das Aufwachsen späterer (Migrations-)Generationen als Einbahnstraße versinnbildlicht wird. Das heißt, neue Menschen kommen an und sollten sich, so die Vorstellung, in eine Gesellschaft, die als relativ homogen und einheitlich typisiert wird, eingliedern. Mit fortwährender Generationsdauer würde diese Eingliederung »besser« und schneller gelingen, sodass sich mit der zweiten, jedoch spätestens mit der dritten Generation eine ein- und angepasste Gesellschafts- und Gemeinschaftsstruktur, aber eben auch eine assimilierte Generation ergeben würde. Problematisch ist hierbei auch die Annahme, dass diese »Eingliederung« unter bestimmten Voraussetzungen »gelingen kann« und unter anderen jedoch nicht (vgl. Farwick 2009, S. 67ff.). Diese mehreren Stufen der Assimilation werden von Verfechtern (Verfechter: männlich, da ausschließlich männlich) in der prominenten Chicagoer Schule dargestellt. Die Grundidee der Chicagoer Schule war es, eine »soziologische Ethnographie« (Löw 2001, S. 112) mit der »Konzentration auf Gruppen« zu erwirken (ebd.). Des Weiteren ging es darum, die durch Migrationen initiierten »gesellschaftlichen Veränderungen zu analysieren und deren Gesetzmäßigkeiten zu ergründen« (Farwick 2009, S. 25). Das Feststellen von Gesetzmäßigkeiten zielt immer auch auf die Generalisierbarkeit von Prozessen ab. Dabei sind gerade gesellschaftliche und soziale Prozesse der Zugehö-

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rigkeit und Partizipation nicht (ausschließlich) generalisierbar, sondern es werden biografische Auskünfte in Form lebensgeschichtlicher Narrationen benötigt, in denen Menschen ihre Lebensgeschichten darstellen und Auskunft über die spezifischen Schwierigkeiten, aber auch die Erfolge in der Etablierung vor Ort geben können. Positiv am Nachzeichnen kollektiver Erfahrungen ist, dass dadurch Erschwernisse sowie Diskriminierungserfahrungen sichtbar gemacht werden können. Ohne biografische Auskünfte werden jedoch die individuellen Besonderheiten des einzelnen Subjektes ignoriert und bleiben unter einem gemeinsamen Referenzrahmen verdeckt. Innovativ an der Migrationssoziologie der Chicagoer Schule ist, dass erstmals gezielt sowohl quantitative als auch qualitative Forschungstraditionen generiert und teilweise biografisch aufgearbeitet werden (vgl. Löw 2001, S. 114), problematisch oder zumindest in Teilen problematisch sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die daraus gezogen wurden. In der Migrationssoziologie der Chicagoer Schule werden die Anstrengungen der Migrant*innen und ihrer Nachfolgegenerationen, gleichberechtigter Teil der Gesellschaft zu werden, des Öfteren unter dem Stichwort Ethnizität diskutiert. Max Weber beschreibt Ethnizität als ein kollektives Phänomen, das sich entwickelt, wenn eine breitere Gruppe von Menschen an eine gemeinsame Abstammung präsumiert und davon ausgeht, dass dieses Kollektiv eine gemeinsame »Kultur« begründen würde. Auf der Grundlage von »Abstammung« und »Kultur« kristallisiert sich eine homogene Gruppenidentität heraus (vgl. Sökefeld 2007, S. 31). Ethnizität ist jedenfalls ein höchst wirkmächtiger und genauso ambivalenter Begriff. Martin Sökefeld (2007) weist auf die Komplexität und Problematik des EthnizitätBegriffes hin: Ethnizität […] ist ein ebenso populäres wie schwieriges Konzept. Ausdruck der Schwierigkeit des Konzepts ist die Tatsache, dass es bis heute nicht gelungen ist, eine allgemein akzeptierte Definition von Ethnizität zu finden. Unterschiedliche Definitionen spiegeln häufig gegensätzliche theoretische Ansätze wider. Unbestritten ist, dass Ethnizität die Frage kollektiver Identität berührt. Doch damit ist das Problem nicht gelöst, sondern nur verlagert – denn was genau ist Identität? (S. 31) Sökefeld führt weiter aus, dass Ethnizität als übergeordnetes Konzept für Begriffe wie »ethnische Gruppen«, »Nationen«, »Kulturen« oder »Rassen« (vgl. ebd., S. 32) zu verstehen sei und dass Ethnizität automatisch »damit zu tun (habe), dass sich Menschen voneinander kollektiv unterscheiden« (Sökefeld 2007, S. 31). Es ist wichtig in der Forschung Unterschiede per se, auch in Form kollektiver Differenzen deskriptiv aufzuzeigen, da mit ihnen Ungleichheits- und Ungerechtigkeitserfahrungen einhergehen können. Doch es ist wesentlicher, zu hinterfragen, ob Konzepte wie Ethnizität die Ungleichheit und Ungerechtigkeit nicht noch zusätzlich verschärfen und durch Fragen nach Diversität und Differenz ersetzt werden müssten. Ausgangspunkt der Forschungs- und Denkrichtung der Chicagoer Schule, die stark am Ethnizität-Begriff festhält, ist die Stadt Chicago selbst, die gleichzeitig als Namensgeberin dieser sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung fungierte. Chicago hatte sich von 1850 bis 1930 hin durch den Zuzug neuer Bewohner*innen stark verändert und sich prozentual verhundertfacht (vgl. Farwick 2009, S. 25, zit.n. Philpott 1978, S. 7). Den städtischen und gesellschaftlichen Wandel der Chicagoer Stadtgesellschaft nachzuzeichnen, ist spannend, daraus jedoch eine Generationslogik zu entwickeln, die

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Assimilation sowohl als Ziel als auch als einzige logische Konsequenz beschließt, ist zu kurzsichtig. Prägend für die Forschungsarbeiten der Chicagoer Schule war vor allem Robert Ezra Park, der sich in seinen Arbeiten unter anderem mit dem »Konzept der vollständigen Assimilation« (vgl. Park 1950; Farwick 2009, S. 26ff.) und mit der Vorstellung des »Marginal Man« (vgl. Park 1928) beschäftigte. Des Weiteren ist als einflussreicher Soziologe der Chicagoer Forschungseinrichtung William Isaac Thomas (vgl. Thomas/Znanieki 1996) zu nennen. Dieser erkannte die Wichtigkeit der Fokussierung auf biografisches Datenmaterial und begründete somit eine neue soziologische Verfahrensweise und Methodik (vgl. Löw 2001, S. 113). Für Park bedeutet Integration praktisch Assimilation und ist damit gleichzeitig das Paradigma für Neuankömmlinge. Dazu entwirft er seine Theorie der Assimilation (vgl. Park 1950; Gestring 2014, S. 79). In seinen Ausführungen zur »vollständigen Assimilation« beschreibt er, dass Migrant*innen in der Ankunftsgesellschaft eine vierstufige Phase durchlaufen würden, einen »race-relations-cycle«1 (vgl. Park 1950, S. 150), »which takes the form, to state it abstractly, of contacts, competition, accomodation and eventual assimiliation, is apparently progressive and irreversible« (Park 1950, S. 150). In dieser zyklischen Darstellung geht es um die Frage, wie sich eine Gemeinschaftswerdung von Menschen aus verschiedenen Kontexten, vor allem mit diverser örtlicher und sozialer Herkunft – Park (1928) spricht von »cultural groups« (S. 881), »ethnic groups« (S. 884) oder »races« (S. 890) – vollziehe. Ihm zufolge würden sich die Menschen nach dem Absolvieren dieser vier Phasen vollständig assimilieren, indem die sogenannten »races« Beziehungen (relations) zueinander aufbauen, sich aneinander anpassen und schließlich eine neue, gemeinsame »race« herausbilden würde. Als Beispiel wird das Bild des »melting pot«, das auf Zangwill (2018) zurückgeht, gezeichnet. Im melting pot würden die Menschen sinnbildlich zu einer großen, homogenen Gruppe zusammenschmelzen, in der die Fremdheit nicht mehr existiert (vgl. Gestring 2014; Zangwill 2018). Bei Park lassen sich »ethnische und klassenspezifische Differenzen als wesentliche soziologische Themenfelder definieren und auf soziale Ursachen zurückführen« (Löw 2001, S. 113). Dieser Annahme folgend sind die vier Phasen durch soziale Prozesse determiniert, durch die Assimilierung sowie kulturelle Homogenität, die »erst durch die Immigration und den Vermischungsprozess, der als unvermeidlich angesehen wird« (Gestring 2014, S. 79), erlangt werde. Diese stufenförmigen, sozialen Prozesse nennt Park (1950, S. 50) Kontakt (contact), Wettbewerb (competition), Akkomodation (accomodation) und schließlich als finale Phase Assimilation (assimilation). In der ersten Phase auf dem Weg zur Erreichung einer »vollständigen Assimilierung« würden die Neuankommenden in Kontakt mit den »Einheimischen« treten. Dass es zwischen Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen zwangsläufig zu Treffen verschiedenster Art kommt, scheint logisch zu sein und ist im Übrigen voraussetzungsvoll für die verschiedenen öffentlichen Ebenen einer Gesellschaft, in der sich Menschen begegnen. Austausch und Kommunikation gestalten sich demnach als situative, spontane Phänomene des Alltäglichen aus, was jedoch nicht gleichbedeutend ist mit 1

»Race« wird hier bewusst nicht ins Deutsche übersetzt, um der Reproduktion des Begriffes entgegenzuwirken. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Verweis auf »Rassismus ohne Rassen« von Étienne Balibar (1990).

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der typisierenden und gleichzeitig (ideal-)typischen Art der wechselseitigen Interaktion, wie sie in Park Modells herausgelesen werden kann. Die zweite Phase ist nach Park jene des Wettbewerbs: Im Zuge des beruflichen Wettbewerbs entstünden konflikthafte Situationen zwischen den »einheimischen« und den als fremd markierten Arbeiter*innen. Diese Konflikte hätten sowohl Auswirkungen auf die private als auch auf die berufliche Situation, vor allem der Neuankömmlinge. Ferner würde, den Privatraum und den Arbeitskontext betreffend, eine räumliche Segregation von den Alteingesessenen erwirkt werden. Die Wohnräume bzw. -viertel von Migrant*innen wären somit von jenen der vor Ort bereits Etablierten getrennt, was mit der dualen Strukturierung von marginalisierten und sozial bevorteilten Wohngebieten übersetzt werden kann. Zum anderen würde sich eine ökonomische Segregation zwischen den neuen und den alten Bewohner*innen entwickeln und das bedeute für Erstere die Verdrängung in ökonomische Nischen. Die dritte Phase ist jene der Akkomodation: Dort würden die segregierenden Strukturen, etwa die räumliche, soziale und berufliche (Ab-)Trennung der Migrant*innen und NichtMigrant*innen, die in den Phasen zuvor verfestigt wurden, von den Involvierten »anerkannt«. Sie würden gewissermaßen die ihnen zugewiesenen Rollen und Verortungen annehmen, sodass ihre Platzierung in der Gesellschaft etwas Schicksalhaftes erhält bzw. als gegeben hingenommen wird. Völlig unberücksichtigt bleiben in dieser Logik die subjektive Reflexion dieser vermeintlichen Gegebenheiten sowie die daraus resultierenden Kämpfe und Aushandlungen um gesellschaftliche, soziale, politische und ökonomische Anerkennung. Genauso wird für nicht möglich bzw. nicht erwähnenswert gehalten, dass es natürlich zahlreiche Bildungsaufsteiger*innen oder, mit Aumair und Theißl (2021b) gesprochen, sogenannte Klassenreisende (S. 175) sowie beruflich erfolgreiche Migrant*innen gibt. In der vierten Phase wiederum, jener der Assimilation, komme es schließlich zu einer »Vermischung« der Gruppen und einer Auflösung der bisherigen geografischen und sozialen Herkünfte. Parks Modell wird von Verfechter*innen der Chicagoer Schule weiterentwickelt, was jedoch der einseitigen, defizitären und stigmatisierenden Betrachtung der Migrant*innen und ihre Nachfolgegenerationen kaum Abbruch tut. Park äußert in seinen Ausführungen – zu Recht – unter anderem Kritik an prekären Wohn- und Arbeitsverhältnissen, die in den Vereinigten Staaten vor allem die alltäglichen Lebensrealitäten von People of Color tangieren würden. Dennoch kann ein mehrstufiges Phasenmodell, das das Ziel einer assimilierten Gesellschaft verfolgt, weder die gesellschaftliche Veränderungsbereitschaft bzw. Wandelbarkeit erklären noch bricht es veraltete Sichtweisen auf die Neuankömmlinge, ihre »Integrationsbereitschaft«, geschweige denn Lebensrealitäten auf. Phasenmodelle haben das Ziel, zu vereinfachen und zu reduzieren, wenngleich darin die Gefahr einer pauschalen Kategorisierung von Menschen liegt. Keine künstlich erzeugte Phase kann erklären, wie sich das tatsächliche Dazukommen und Einleben einer mehrheimischen Familie, eines Subjektes oder einer Generation innerhalb der gesellschaftlichen, sozialen Strukturen gestaltet. Des Weiteren wird die wesentliche Tatsache ausgespart, dass (Stadt-)Gesellschaften, wie Chicago, seit jeher vom Zuzug und der Verschiedenheit der Menschen profitieren (vgl. Yıldız 2013; Berding et al. 2018; Berding/Bukow 2020). Assimilierung als letzte »verheißungsvolle« Stufe darf folglich nicht das Paradigma sein bzw. bleiben. Phasenmodelle können mit Sicherheit große Prozesse oder Phänomene rekonstruieren sowie Verallgemeinerungen ausdrücken, sie lassen

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jedoch keineswegs lebensgeschichtliche Nuancen, biografische Eigenheiten, Mehrdeutigkeiten und Verschiebungen zu. Wenn Phasen oder Zyklen wissenschaftlich erforscht werden, muss zumindest das Stichwort, unter denen sie diskutiert werden, frei von kategorialen Zuschreibungen und Vorurteilen sein. Ein weiteres Konzept Parks, dessen Reichweite bis in die Gegenwart reicht, ist das des vielzitierten Marginal Man, im Deutschsprachigen auch als Randseiter bekannt, also als jemand, der am Rande der Gesellschaft bzw. zwischen zwei Kulturen stehe (vgl. Park 1928, S. 881), jedoch weder der einen noch der anderen »richtig« zugehörig sei (vgl. ebd.). One of the consequences of migration is to create a situation in which the same individual-who may or may not be a mixed blood-finds himself striving to live in two diverse cultural groups. The effect is to produce an unstable character – personality type with characteristic forms of behavior. This is the »marginal man«. It is in the mind of the marginal man that the conflicting cultures meet and fuse. (Park 1928, S. 881) Ein Randseiter2 wird durch seine behauptete Position im Abseits oder im Dazwischen nicht oder nur bedingt als Teil der Gesellschaft wahrgenommen. Möglichkeiten zur Partizipation, aber auch Optionen, selbstständig zu handeln, werden ihm weitestgehend verwehrt bzw. abgesprochen. Das Dazwischen, das als Chance sowie als widerständige Praxis bzw. »Widerstand« betrachtet werden sollte (Yıldız/Rotter 2022, S. 408), ist bei Park hinderlich. In der Abhandlung zum Randseiter werden die grundsätzlichen Ideen des soeben besprochenen »race-relations-cycle«, aber auch die aus soziologischer Sicht neu entwickelte Vorstellung »des Fremden« auf eine einzelne Person umgemünzt. Der Marginal Man, der einen marginalisierten männlichen Migranten, einen Fremden (männlich) verkörpern soll, sei durch »spiritual instability, intensified selfconsciousness, restlessness, and malaise« (Park 1928, S. 893) geprägt. Diese Zuschreibungen seien Resultate der aussichtslosen Situation von Migrierten und würden potenziell Taten wie kriminelles Handeln fördern oder gar bedingen. Der Fremde wird bei Park und erstmals bei Simmel (1908) als sozialer Typus innerhalb eines soziologischen Diskurses rekonstruiert. Bei Simmel (1908) ist »der Fremde« »der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potenziell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat« (S. 509). Bei Schütz (1972) wiederum impliziert der »Fremde« »einen Erwachsenen unserer Zeit und Zivilisation […], der von der Gruppe, welcher er sich nähert, dauerhaft akzeptiert oder zumindest geduldet werden möchte. Das hervorragende Beispiel dieser sozialen Situation ist der Immigrant« (S. 53). Auch hier ist das Subjekt, das migriert, männlich konnotiert. Die Vorstellung des männlichen Migranten hält sich bis heute noch mitunter hartnäckig, denn Männern wird eher der aktive Part des Migrierens zugetraut – nicht unbedingt zuerkannt –, währenddessen Frauen höchstens die passive Rolle der Mitreisenden zugesprochen werden. Dabei ist die Situation/Position von Frauen als eigenständige, unabhängige und emanzipierte Expertinnen, die über eigenes biografisches Mobilitätswissen verfügen, tragend (siehe dazu Fallrekonstruktion Selma in Kap. 5.4). Der Randseiter ist bei Park zunächst schwierigen, fast aussichtslosen Situationen 2

Im Fließtext nutze ich die männliche Form Randseiter dann, wenn es Parks Ausführungen entspricht, wenngleich ich die gegenderte Version Randseiter*in mitdenke.

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ausgesetzt, die Einfluss auf seine seelische und körperliche Verfassung haben (können). Der Marginal Man müsse seinen Platz in der Gesellschaft noch finden und nur in wenigen Fällen gelinge es ihm tatsächlich. Gerade die negativen Einwirkungen auf die Psyche werden als symptomatisch beschrieben und hinderten ihn daran, an Prozessen der Teilhabe und Teilnahme mitzuwirken: Something of the same sense of moral dichotomy and conflict is probably characteristic of every immigrant during the period of transition, when old habits are being discarded and new ones are not yet formed. It is inevitably a period of inner turmoil and intense self-consciousness. (Park 1928, S. 893) Verwehrte Chancen der Teilhabe aufgrund der »inneren Konflikte« und »Unruhen« seien nicht temporär oder befristet, sondern diese Krisen seien dauerhaft und entwickelten sich vielfach zu einem »Persönlichkeitsmerkmal«. But in the case of the marginal man the period of crisis is relatively permanent. The result is that he tends to become a personality type. Ordinarily the marginal man is a mixed blood, like the Mulatto in the United States or the Eurasian in Asia, but that is apparently because the man of mixed blood is one who lives in two worlds, in both of which he is more or less of a stranger. The Christian convert in Asia or in Africa exhibits many if not most of the characteristics of the marginal man – the same spiritual instability, intensified self-consciousness, restlessness, and malaise. (Ebd.) Die eben zitierten Ausführungen Parks zum Randseiter, der für ihn den »Prototypen« eines männlichen Migranten abbildet – den es selbsterklärend nicht gibt –, sind eindeutig rassistisch. Erschreckend dabei ist, dass Park bis in die Gegenwart vielzitiert wird und seine Ausführungen zu Migration, Generation und »Integration« goutiert und gelehrt werden. Verfechter*innen von Parks Konzept – und vermutlich auch er selbst – würden meinen Vorwurf, er argumentiere rassistisch und migrationsfeindlich, kaum teilen und aus einer diachronen Perspektive heraus argumentieren, er sei schließlich Kind (und Forscher) seiner Zeit gewesen und damals habe es bestimmte, gängige Diskurse gegeben, die wissenschaftlich bearbeitet wurden. Diesen Einwand möchte ich nicht gelten lassen, schließlich ist es Aufgabe der Wissenschaft, zeitunabhängig (zu versuchen), über den Tellerrand zu blicken und dominante Diskurse, Interpretationen und Vorstellungen zu hinterfragen. Diese Notwendigkeit tangiert vor allem jene Diskurse, in denen Menschen »beforscht« werden sollen. Hinsichtlich der Stadtforschung war die Chicagoer Schule anderen Forschungseinrichtungen weit voraus und leistete auf diesem Gebiet Pionier*arbeit. Demnach muss der Maßstab, mit dem diese Leistung gemessen wird, auch auf die am dortigen Institut für Sozialforschung verfassten Assimilationstheorien angewandt werden, also auch auf den Marginal Man und den »race-relations-cycle«. Die Möglichkeit, auf Publikationen zurückzugreifen, die einstweilen in der Originalsprache veröffentlicht und später nicht zuletzt in die deutsche Sprache übersetzt wurden, ist wertvoll und wird in dieser Arbeit auch gern genutzt. Hinsichtlich der beiden Publikationen »Our Racial Frontier on the Pacific« (vgl. Park 1950) und »Human Migration and the Marginal Man« (vgl. Park 1928) habe ich entschieden, weitestgehend auf die übersetzten Fassungen zu verzichten, da ich bestimmte Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche problematisch finde. Denn »race« hat im englischsprachigen Kon-

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text eine konträre historische Bedeutungsgeschichte als »Rasse« im deutschsprachigen (vgl. kritisch dazu Broden/Mecheril 2011; Messerschmidt 2016; Fereidooni/Simon 2020). Abgesehen davon werden in Parks Konzept Menschen aufgrund ihrer Herkunft als minderwertig charakterisiert und diskriminiert: In der deutschen Fassung wird der rassistische Begriff »mixed blood« (Park 1928, S. 893) als »Mischling« (Park [1928] 2002, S. 70) übersetzt – was aus sprachlicher Hinsicht korrekt anmutet3 –, jedoch eine rassistische Forschungslogik reproduziert. »Mischling« mag als Terminus in der Tierwelt seine Berechtigung haben, bei Menschen verwirkt er jegliche Berechtigung. Neben solchen eindeutig rassistisch markierten Begriffen im Original und in der Übersetzung sind Parks Auffassungen zur Etablierung von Migrant*innen und ihren Familien fragwürdig, sowohl in der Originalsprache als auch in der übersetzten Version. Er argumentiert, dass Etablierung und Anerkennung vor Ort prinzipiell möglich seien, entkräftet das Argument jedoch durch sein stark reduzierendes Schwarz-Weiß-Denken, einem Denken in Dichotomien, das kaum Spielraum zwischen gesellschaftlichem Scheitern und erfolgreicher Etablierung zulässt. Problematisch ist zum einen die Annahme, der Randseiter würde in den meisten Fällen scheitern bzw. versagen und nur in Ausnahmefällen von seinen Erfahrungen profitieren, um diese positiv verwerten können. Die Diskurse und dichotomen Gegenüberstellungen nach dem Schema »die guten Migrant*innen vs. die schlechten Migrant*innen« bzw. »die erfolgreichen Migrant*innen vs. die nicht-erfolgreichen Migrant*innen« wurden bis in die Gegenwart tradiert. Die Thesen zum Randseiter forcieren das Denken in Kategorien und normalisieren die Konstruktion hierarchischer Abstufungen von Menschen mit Mobilitätserfahrungen im Gegenzug zu Menschen ohne Mobilitätsgeschichte. In diesem hierarchischen Denken und in den dazugehörigen Diskursen sind Randseiter oder Outsider, die zu Insidern werden, Einzelfälle. Der Großteil der Migrant*innen bliebe ergo in der Marginalisierung verhaftet. In der Realität ist die Lebenssituation von Migrant*innen und ihren Nachfolgegenerationen samt ihrer tatsächlichen Möglichkeiten zur Partizipation weitaus komplexer. Zudem ist sowohl der Begriff Marginal Man als auch Randseiter kein geeigneter, denn wer legt fest, was wir unter Marginalisierung oder dem Rand verstehen? Und kann der Rand, am dem der Randseiter angeblich stehe, für ihn nicht die Mitte sein? Und kann die Mitte der anderen, der Etablierten, aus seiner Sicht nicht der Rand sein? Ist es also nicht vielmehr eine Frage der Perspektive, wo der Rand tatsächlich beginnt und wo er aufhört? Verorten wir uns nicht alle mal im Abseits, in der Peripherie, am Rand und ein anderes Mal im Zentrum, in der Mitte? Und ist der Mensch nicht mehr als eine einzige Kategorie und kann sich allein schon deswegen nicht nur außerhalb oder innerhalb einer konstruierten Vorstellung von Gesellschaft oder Gemeinschaft befinden? Des Weiteren suggeriert der im Deutschen verwendete Begriff Randseiter, dass Menschen, deren Zugehörigkeit zur Gesellschaft – da als einheimisch assoziiert – außer Frage stehe, auch eine Gemeinschaft abbilden würden. Gesellschaft braucht jedoch Differenz und Vielheit, um bestehen und vor allem wachsen zu können und ist somit nicht kongruent mit einer Gemeinschaft, die auf (behaupteter) Gleichheit beruht. Die nationalstaatliche Vorstellung einer Gemeinschaft geht von homogenen, gleichberechtigten 3

Die Übersetzungsleistung steht hier fraglos nicht zur Debatte, sondern die exemplarischen Begriffe und ausgewählten Konzepte von Park.

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Teilhabenden aus, wenngleich Gleichberechtigung und kongeniale Partizipation kaum reale Umsetzung finden. Ansonsten wären beispielsweise die Wohnverhältnisse von Migrant*innen und Geflüchteten nicht häufig dermaßen prekär oder die teilweise horrenden Einkommensunterschiede bei Frauen und Männern bei gleicher Tätigkeit sowie die Bildungschancen von Menschen mit verschiedenem sozioökonomischem Status nicht so groß, wie es in der Realität ist. Nach Esser gibt es vier Dimensionen der Assimilation, von ihm auch Sozialintegration genannt (vgl. Esser 2000; kritisch dazu Aumüller 2009). Sozialintegration ist allerdings irreführend bzw. irritierend, da es das Attribut sozial kaum bzw. gar nicht verdient.4 Esser (2001a, S. 1) unterscheidet »Systemintegration« und »Sozialintegration«. Erstere bezieht sich auf »den Zusammenhalt eines sozialen Systems« (ebd.), etwa der Gesellschaft, und letztere umfasst »die individuellen Akteure und bezeichnet deren Einbezug in ein bestehendes soziales System« (ebd.). Bei Parks Konzepten wird Integration als zumindest teilweise wechselseitiges Phänomen zwischen Neuankömmlingen und Alteingesessenen charakterisiert: Die Ankunftsgesellschaft muss eine bestimmte Form der Kooperationsbereitschaft ausüben; diskriminierende Handlungen würden einen gegenteiligen Effekt erzielen. Hingegen ist die Sozialintegration bei Esser5 einseitig und mündet »bestenfalls« in Anpassung und geschieht größtenteils zugunsten der Aufnahmegesellschaft. Für eine Gesellschaft, in der die Assimilationen aller Bewohner*innen die Intention und das Bestreben ist, sind die folgenden Schritte nach Esser (2001a, S. 1) grundlegend: Kulturation, Platzierung, Interaktion, Identifikation. Diese vier Stufen werden jeweils nach ihrer Form nochmals unterschieden. Esser (ebd., S. 2) spricht hier von kulturellen, strukturellen, sozialen und emotionalen Dimensionen der Assimilation. Mit der ersten Stufe der Kulturation ist die Aneignung der dominanten Sprache im Ankunftsort, spezifischen Wissens und Fähigkeiten gemeint, die als Voraussetzung für die Eingliederung – nicht gleichberechtigte Teilhabe – in der Gesellschaft verlangt werden. Dabei werden Menschen nicht erst durch das Ankommen in der Ankunftsgesellschaft zu sozial und kulturell denkenden und handelnden Wesen. Migrant*innen sind nicht ahistorisch, sie entfalten ihr Potenzial selbstständig bereits vor der Migration und vollziehen komplexe Denkhaltungen natürlich migrationsunabhängig. Die große Bedeutung, die Esser der ersten Stufe der Kulturation zuspricht, gibt Auskunft über die fehlende Wertschätzung bezüglich des sozialen und kulturellen Kapitals, das Mehrheimische mit- und einbringen. Die »deutsche« Kultur und Sprache erfährt bei Esser eindeutig eine Höherbewertung und führt zur Geringschätzung und -bewertung anderer und somit auch seiner Subjekte. Dies wird nicht zuletzt in mehreren Forschungsarbeiten von Esser (2006) deutlich, sehr prägnant in den reißerischen Erkenntnissen »Bilinguale Kompetenzen zahlen sich (in der Regel) nicht aus« und »Ethnische Ressourcen für Bildungs- und Arbeitsmarkterfolg [sind] weitgehend bedeutungslos« (S. 4). Nachdem Migrant*innen, Esser zufolge, die erste Stufe der Kulturation »absolviert« hätten, folgt zweitens die Platzierung. Darunter werden die strukturelle Positionierung

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Der Begriff der Sozialintegration geht auf Lockwoods (1964) social integration zurück. Dies betrifft besonders stark seine Forschung von 1980.

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innerhalb gesellschaftlicher Ebenen wie Wohn- oder Arbeitssituation, aber auch die damit einhergehenden Pflichten und Rechte verstanden. Je zentraler, je mittiger etwa der Arbeitskontext oder je anerkannter die berufliche und soziale Positionierung des*der Migrant*in sei, umso rascher könne die gesellschaftliche Eingliederung vollzogen werden. Indessen hält Park auch eine zeitweilige Platzierung in ethnischen Wohnorten im Abseits für förderlich. Für Esser hat diese Art der Verortung einen ausschließlich negativen Effekt, der desintegrierende und nicht assimilierende Folgen mit sich ziehen würde. Die Tatsache, dass Migrant*innen mitunter keine andere Möglichkeit bleibt, als kurzoder längerfristig in marginalisierten Wohngebieten zu leben oder Arbeiten zu verrichten, die weder ökonomisch noch sozial lukrativ sind, muss jedenfalls mitbedacht werden. Die dritte Form zur Sozialintegration ist die Interaktion, die das Knüpfen und Verfestigen sozialer Kontakte innerhalb der gesellschaftlichen Mehrheit umfasst und schließlich viertens in der Stufe der Identifikation enden solle. Bezüglich der Stufe der Identifikation gibt es Unterschiede. So kann sie eine »soziale Assimilation« (Esser 2001a, S. 2) implizieren, die »über interethnische Freundschaften und Heiraten« (ebd.) hervorgebracht werde, eine »emotionale Assimilation durch die Identifikation mit dem Aufnahmeland« (ebd.) bedeuten würde oder – dieser Forschungslogik folgend »idealerweise« – beide Phänomene umfasse. Nach Absolvieren dieser Stufen, was sich über mehrere Generationen hinweg erstrecken könne, würde die vollständige soziale Integration bzw. Assimilierung erreicht: »Die ›Assimilation‹ der Generationen erfolge sozusagen zwangsläufig, wenngleich für bestimmte Gruppen und Umstände in unterschiedlichem Tempo« (Esser 2001b, S. 28).6 Esser hält neben Assimilierung auch alternative Ergebnisse der Sozialintegration für möglich. Diese hingen von weiteren Faktoren ab, nämlich der Bestandsaufnahme, ob Migrant*innen in die Aufnahmegesellschaft oder in die Herkunftsgesellschaft bzw. -ethnie eingebunden seien; sie lauten Marginalisierung, Segmentation oder Mehrfachintegration (vgl. Esser 2001a, S. 2). Marginalisierung ist größtenteils deckungsgleich mit Parks Spezifikationen zum Marginal Man. Segmentation wiederum signalisiere vor allen Dingen eine fehlende Zugehörigkeit zur hiesigen Gesellschaft. Sie könne zwar ferner durch »soziale Distanzierungen« (Esser 2001a, S. 4) seitens der Ankunftsgesellschaft befördert werden, für wahrscheinlicher hält der Autor hingegen die soziale und räumliche Segmentation, deren Ursachen vorwiegend in einer »Mobilitätsfalle« (ebd.) lägen. Wichtig ist dabei, dass die Anreize zur Segmentation, etwa über den Verbleib auch der Folgegenerationen in den ethnischen Gemeinden, für die Migranten oft so groß sind, dass sich die segmentierenden Folgen auch ohne jede soziale Distanzierung durchsetzen. Hierbei spielt vor allem der Mechanismus der sog. Mobilitätsfalle eine große Rolle: der »freiwillige« Verzicht auf riskante, letztlich aber ertragreichere Investitionen 6

Diese Publikation ist ein »Gutachten für die unabhängige Kommission ›Zuwanderung‹ des Bundesministeriums des Innern« (Esser 2001b, S. 1), was durchaus erschreckend ist, wenn bedacht wird, dass möglicherweise auf dieser Grundlage, die sich veralteten, stereotypen Vorstellungen von Migration, Generation und Gesellschaft bedient, weitreichende Entscheidungen, die die Lebensrealitäten Mehrheimischer tangieren können, beschlossen werden und damit realen politischen Einfluss hat.

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in die Voraussetzungen einer nachhaltigen strukturellen Assimilation. Das gilt besonders für die Bildungsentscheidungen: Weil der Weg über die höhere Bildung und die »kulturelle Assimilation« zu beschwerlich und zu wenig erfolgversprechend erscheint, werden leichtere Alternativen verlockend, wie die frühzeitige Beschäftigung oder eine Funktion in der ethnischen Gemeinde. Die »Falle« besteht dann darin, dass es dann, wenn man merkt, dass ein Aufstieg nicht möglich ist, für eine weitere Investition meist zu spät ist. Die Folge ist eine nicht intendierte ethnische Schichtung, die ohne jede »Diskriminierung« von außen stabil bleibt. (Esser 2001a, S. 4) Die These, dass Migrant*innen unaufgefordert auf die Investition in ihre ökonomische und soziale Zukunft sowie auf Bildungsarbeit »verzichten« (ebd.) würden, da sie als »zu beschwerlich und zu wenig erfolgsversprechend erscheint« (ebd.), verkennt die (Aus-)Wirkungen nicht nur kulturellen Kapitals (vgl. Bourdieu 2005, S. 53ff. und 63ff.) auf die (Bildungs-)Biografien von Subjekten, sondern speziell strukturelle Macht- und Ungleichheitsstrukturen innerhalb der Gesellschaft – und ist obendrein zynisch. Mit der Behauptung, dass aufgrund der Entscheidung, sich gegen einen (Bildungs-)Aufstieg zu »entschließen«, »eine nicht intendierte ethnische Schichtung, die ohne jede ›Diskriminierung‹« von außen stabil bleibt« (Esser 2001a, S. 4) resultiere, münzt einerseits gesellschaftliche Versäumnisse verwehrter gleichberechtigter Teilhabechancen und bewusster Ausschlusspraxen pauschal auf »die Migrant*innen« um und andererseits bagatellisiert Esser damit real erlebte strukturelle Diskriminierungserfahrungen. Die Ebene der Mehrfachintegration wiederum würde, so der Wissenschaftler, ihren Zweck der Anpassung verfehlen. Sie wäre nicht wünschenswert, aber ungefährlich. (Vgl. ebd.) Angehörige der ersten Generation erlebten im Ankunftsort mehrheitlich aufgrund ihrer »emotionalen Bindung an die Herkunftskultur, und das auch dann, wenn an eine Rückkehr schließlich nicht mehr gedacht wird« (Esser 2001b, S. 27) nur eine »partielle Sozialintegration« (ebd.), dennoch spielten »die ›Modernität‹ der Herkunftsregion, die mitgebrachte Bildung, das Einreisealter und die Aufenthaltsdauer« (Esser 2001b, S. 27f.) in der Ausdifferenzierung der tatsächlichen Sozialintegration eine zentrale Rolle. Der Versuch Essers, mit dem Einschub möglicher Einflussfaktoren auf die Sozialintegration einer kategorialen Darstellung der ersten Generation entgegenzuwirken, ist wenig überzeugend, denn seine Ausführungen bleiben pauschalisierend und kulturalisierend, gerade dann, wenn er undifferenziert kollektive »Assimilationsunterschiede zwischen Türken und Jugoslawen« (ebd., S. 28ff.) nachzeichnet. Obgleich sich Esser dort auf empirische Ergebnisse (vgl. ebd.) beruft und diese »bloß« interpretiert, bleiben die defizitäre Konnotation von Migration und Generation und die fehlende Betrachtung von Migrant*innen als eigenständige Subjekte offensichtlich. In den meisten Integrationstheorien, so auch bei Esser, wird das möglichst rasche und fehlerfreie Erlernen der dominanten Sprache im Ankunftsland als integral angesehen (vgl. Esser 2006). Gelingen keine idealtypische Integration bzw. Assimilierung, wird ein Fehlen der Integrationsbereitschaft bzw. ein mangelndes Sprachvermögen seitens der Dazugekommenen attestiert. Eine gleichberechtigte Ausübung von Erst- und Zweitsprache ist dort irrelevant. So schreibt Esser (2006): Letztlich geht es bei dem Problem der intergenerationalen Integration von Migranten über sprachliche Fertigkeiten um die Prozesse und Bedingungen des Erwerbs ei-

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ner kompetenten Zweitsprachbeherrschung, gleichgültig zunächst, was dabei mit der Muttersprache geschieht, also um die sprachliche Assimilation an den Aufnahmekontext bzw. an gewisse Teile davon. (S. 15) Wie schwierig nicht nur das Lernen, sondern auch das Organisieren einer geeigneten Lernsituation sein kann, wird bei Esser nicht thematisiert. Essers Denkmodell, das sich durch seine Forschungsarbeiten zieht, baut grundlegend auf der Konstruktion von Gruppen auf, die sich als Idealtypen mit samt spezifischer Gruppenmerkmale präsentieren. Mithilfe derer versucht er eine soziale Welt zu erklären, die sich als dichotom und gespalten präsentiert. Die Forschungs- und Denklogik ist homogen und pauschal strukturiert, was sich entscheidend auf die Betrachtung mehrheimischer Generationen auswirkt, deren beruflicher, sozialer, gesellschaftlicher Werdegang infolgedessen als mehr oder weniger vorgezeichnet inszeniert wird. Somit werden individuelle oder (familien-)biografische Lebensentwürfe und Handlungsperspektiven von einer homogenisierenden, pauschalisierenden, kulturalisierenden Defizitperspektive überdeckt. Des Weiteren lesen sich bestimmte Formulierungen, wie die folgende, ähnlich einer Katastrophenbeschreibung7 oder eines Bedrohungsszenarios durch Migration. Wenn es die oben beschriebenen Bedingungen der Offenheit der Aufnahmegesellschaft und insbesondere die Bedingungen einer strukturellen Sozialintegration in das Aufnahmeland bzw. Assimilation gibt, dann werden sich die assimilativen Tendenzen durchsetzen. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, dann kann es auch zu Marginalität und zu dauerhaften ethnischen Segmentationen über die Generationen hinweg kommen, meist in der Form von ethnischen Schichtungen […] mit allen daran hängenden Tendenzen auch zu ethnischen Spaltungen und Konflikten und zu allen Spielarten »sozialer Probleme«. (Esser 2001b, S. 28) Es entsteht überdies der Eindruck, diese veralteten Denkstrukturen, die Assimilation als Basis für das gesellschaftliche Zusammenleben Aller sehen, malten eine spezifische Form der Mehrsprachigkeit als Schreckensgespenst aus, das die Monolingualität und damit den Mythos einer »Gemeinschaft der Gleichen« bedrohe. Dass Assimilierung als positiv und zielführend erachtet wird, obwohl es Fakten- und Erfahrungswissen ob der Vielschichtigkeit und Vielheit der postmigrantischen Gesellschaft gibt, ist nicht weitsichtig. Eine vollständig assimilierte Gesellschaft wäre de facto nur denkbar, wenn die Bevölkerung vor den großen Migrationsbewegungen insgesamt sehr ähnlich gewesen wäre oder aktuell noch wäre. Dabei ist bereits die Ankunftsgesellschaft keine einheitliche und war es auch nie (siehe Kap. 2.2.1 und 2.2.2). Der Wandel von Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, die Bildungsexpansion und nicht zuletzt die Emanzipation der Frau hat in Deutschland […] zu einer Pluralisierung von Lebensweisen geführt. (Gestring 2014, S. 84) Ein ähnlicher Befund, der die Diversifikation von Lebensrealitäten bescheinigt, kann auch für Österreich ausgestellt werden, wenngleich regionale Besonderheiten und

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Nicht zu verwechseln mit kritischer Forschung.

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Unterschiede in der Stadt-Land-Konstellation mitberücksichtigt werden müssen. Aufgrund der Wandelbarkeit von Gesellschaften und der je eigenen Bevölkerungszusammensetzung muss im wissenschaftlichen Kontext davon Abstand genommen werden, die postmigrantische Gesellschaft als eine homogene Einheit zu imaginieren, an die sich die Neuankömmlinge anpassen müssten. Damit würden Migrant*innen und ihre Nachfolgegenerationen ihre Vergangenheit und ihre Erinnerungen daran gewissermaßen aufgeben. Das Bild eines ahistorischen Menschen wäre dann – traurigerweise – zutreffend. Oder um es mit dem Gedankenspiel Konrad Liessmann zu formulieren: Man stelle sich Österreich ohne Migrant*innen vor! (vgl. Liessmann 2018, o. S.) Wie Österreich ohne Migrant*innen aussehe, wissen wir nicht, und es hat auch nur im Sinne eines kurzen Gedankenexperimentes Relevanz – schließlich ist diese gegenwärtige Gesellschaft so, wie sie aktuell ist, vor allem durch das erlebte und akkumulierte Mobilitätswissen der Menschen geworden. Allein schon der Gedanke daran, wie sehr die Lebens- und Berufswelten von Migrant*innen mit den vorhandenen gesamtgesellschaftlichen Strukturen verknüpft und ihre Biografien mit denen anderer ineinander verzahnt sind, macht sichtbar, dass ein System ohne das Zutun von Migrant*innen und ihrer Nachfolgegenerationen nicht funktionieren würde. Sicher ist genauso, dass die Straßen und Orte Österreichs ohne Menschen mit (familialer) Migrationserfahrung sehr leer und historisch betrachtet geschichtslos, menschlich gesehen (beinahe) gesichtslos wären.8 Die postmigrantische Gesellschaft interpretiere ich als ein Palimpsest, also eine Art Manuskriptrolle, die immer wieder neu beschrieben, überschrieben wird und dadurch einen innovativen, wandelbaren und veränderlichen Charakter erhält.9 Eine homogene und assimilierte Gesellschaft, wie es sich Esser oder Park wünschen, kann kein sinnbildliches Palimpsest bedeuten, da sie die Heterogenität von Menschen und die Veränderbarkeit von Gesellschaften weder mitdenkt noch ihre Potenziale erkennen kann, die sie dementgegen für das Funktionieren des Gesellschaftssystems benötigt. In diesem Unterkapitel wurde anhand der Chicagoer Schule und eines Beispiels aus dem deutschsprachigen Raum nachgezeichnet, wie die Erforschung von Migrationsphänomenen unter dem Deckmantel von Integration dazu führte, dass sowohl einzelne Menschen als auch Generationen von Migrant*innen nach potenzieller Integrierbarkeit kategorisiert und ihre angebliche (fehlende) Bereitschaft zur Assimilation nachhaltige, einschneidende Effekte auf die Nachfolgegeneration(-en) und ihre öffentliche Reputation hatte. Wenngleich der Ursprung dieser Assimilationstheorien beinahe ein Jahrhundert bei Park und Jahrzehnte bzw. Jahre bei Esser zurückliegen, zeigt sich ihre Wirkmächtigkeit teilweise bis in die Gegenwart. Die Tatsache, dass auch heute noch in der Migrationsforschung mehrheimische Subjekte und Generationen als homogene Gruppen vereinheitlicht bzw. nach den Herkunftsländern der (Groß-)Eltern-Generation abgestuft werden, ist höchstbedenklich. Wie wichtig ein anderer Zugang zu Migration, Gesellschaft und vor allem Generation ist, wird nachfolgend verhandelt.

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Der Wohlstand Österreichs baut entscheidend auf der Repression u.a. der Pionier*innen auf. Ein Palimpsest ist eine Manuskriptrolle aus der Archäologie, bei der die Schrift immer wieder abgeschabt und durch neue Texte ersetzt wurde.

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4.1.2 Generationsphänomene und Generationsbegriffe heute Aktuell ist Generation deutungsstark und wird symbolisch sowie emotional aufgeladen diskutiert. Der Begriff Generation wird dabei zumeist basal und unkritisch genutzt und findet in der Alltagssprache, im öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskurs Verwendung. Die Omnipräsenz des Begriffes und des damit zusammenhängenden Diskurses wird deutlich an immer wieder neuen Generationsbezeichnungen, die beinahe täglich neuformiert und umgedeutet werden. Jede*r glaubt scheinbar zu wissen, was mit Generation gemeinhin gemeint sei. Es ist daher ein Terminus, der im höchsten Maße anschlussfähig und assoziationsstark ist. Der Grund, weswegen quasi jede*r die Ansicht vertritt, sich zu Generationsbegriffen, Generationsverständnis und -logik äußern zu können, mag daran liegen, dass wir alle faktisch über mehrere Generationszugehörigkeiten verfügen. Nicht jede dieser Mitgliedschaften sind dem Subjekt zwangsläufig bewusst. Des Weiteren sind diese Zugehörigkeiten zu einer spezifischen generationellen Gemeinschaft nicht unbedingt selbst gewählt und bleiben deswegen des Öfteren unbewusst bzw. unartikuliert. Generation dient vor allem dazu, (mindestens) eine Zugehörigkeit zu einer (generationellen) Gruppe zu markieren. Die Einteilung und Zuordnung zu einer bestimmten Generation meint auch, dass im Umkehrschluss bestimmte Menschen oder Gruppierungen nicht dazugehören. Dieser Umstand macht das Einordnen in Generationen zu etwas Exklusivem. Das Ausschraffieren einer speziellen Generationszugehörigkeit hat also den gleichzeitigen Ausschluss von Menschen und das Hervorheben ihrer Nicht-Zugehörigkeit zur Folge. Das Dazugehören der einen impliziert also den Ausschluss der »Anderen«. Der Begriff Generation gehört mittlerweile zum allgemeinen Wortschatz, ist aber weitaus komplexer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Im Alltagsprachlichen und Wissenschaftlichen wird Generation weithin in zwei Richtungen gedacht. Erstens ist Generation eine biologische Konstante und bedeutet etymologisch übersetzt und abgeleitet aus dem Lateinischen »generatio« so viel wie Zeugungsfähigkeit oder Fortpflanzung. In dieser biologistischen Denkrichtung steht der Fortbestand der familiären Generationslinie im Mittelpunkt. Generation wird genealogisch z.B. in Form einer »Elterngeneration« oder »Kindergeneration« konzeptualisiert sowie in Generationen der Lebensalter gedacht. Zweitens umfasst Generation unterschiedlichste, häufig durchaus fluide und sich schnell wandelbare Generationsbezeichnungen, die Personen aufgrund einer temporären Gemeinsamkeit, eines Merkmals oder einer Wesensbeschreibung zusammenfassen. Auch gemeinsame politische Ideen, aber auch Interessen können dazu führen, dass eine Generationsbezeichnung formiert wird. Generationsbezeichnungen zu finden ist gegenwärtig sehr populär, sodass eine Sichtung dieser zeitaufwändig sein kann. Bohnenkamp nennt unter dem Titel »Playing the Generation Card« (vgl. Bohnenkamp 2011) ausgewählte aktuelle Generationsbezeichnungen, die der zweiten Art von Generationsbenennung zugeordnet werden können: »Generation Smartphone«, »Generation Golf«, »Generation What?«, »Generation beziehungsunfähig«, »Generation Bachelor«, »Generation Zertifikate« oder »Generation Ikea«. »Generation Smartphone« ist ein Paradebeispiel für die Tendenz, aufgrund eines gemeinsamen Interesses Generationsbezeichnungen zu beschließen. Das kollektive Interesse ist hier das der virtuellen Vernetzung und Informationsbeschaffenheit, das durch eine zeitspezifische

4. Generation

Besonderheit konkretisiert werden kann, nämlich die der Digitalisierung. Die Annahme, dass junge Menschen insgesamt von Digitalisierung und digitalen Prozessen begeistert wären, wird auf eine Gruppe ungefähr gleich alter Menschen übertragen. Diese Gruppe wird als besonders technikaffin eingestuft und mit der übergeordneten Kategorie »Smartphone« belegt. Auch die sogenannte »Generation Bachelor« gibt Auskunft über einen momentanen zeithistorischen Befund. Mit der Umstellung der Diplom- und Magisterstudiengänge auf Bachelor- und Masterstudien sowie ein weitestgehendes Wegfallen der Studiengebühren, einer möglichen Finanzierung durch Studienkredite oder durch Stipendien ist es nun für breite Teile der Bevölkerung möglich, zu studieren. Kinder aus Familien mit Bezügen zum Arbeiter*innenmilieu waren vor wenigen Jahrzehnten im Universitätsbetrieb noch stark unterrepräsentiert (vgl. Isleib 2019). Die Universität sah sich lange Zeit der Konservierung des Habitus einer bürgerlichen Elite verpflichtet und sprach dezidiert diese spezifische Klientel an. Mittlerweile inskribieren sich, initiiert durch den sogenannten Bologna-Prozess, Erwachsene aus den verschiedensten Kontexten und schaffen es vielfach, sich binnen kurzer Generationsdauer zu akademisieren. Das Studium der Erziehungswissenschaften beispielsweise gilt derzeit als Studiengang von vor allem Erstakademisierenden, wohingegen etwa das Medizinstudium – auch aufgrund eines hohen finanziellen und zeitlichen Aufwandes – tendenziell eher von sozioökonomisch gut situierten Studierenden besucht wird. Ausnahmen jedoch bestätigen glücklicherweise immer die Regel. Trotz einer Öffnung der Universität für alle Herkunftskontexte und Bevölkerungsschichten gibt es jedoch von verschiedenen Seiten Überzeugungen bzw. Tendenzen, an elitären Strukturen festzuhalten. Die genannten Beispiele stehen einerseits für eine sehr inflationäre Verwendung des Generationenbegriffes und andererseits für mediale, tagespolitische und alltägliche Phänomene, die dafür sorgen, dass immer neue Generationsbegriffe ins Leben gerufen werden. Heute noch aktuelle Generationsbenennungen können jederzeit wieder von neuen Bezeichnungen und Reformulierungen abgelöst werden. Generationsphänomene sind demnach häufig auch Momentaufnahmen. Tages- und Wochenzeitschriften nutzen diese scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der Verwendung von Generationsbegriffen, um den Leser*innen bildhafte Reportagen und Berichte liefern zu können. So wird in der Print-Ausgabe der Zeitung »Kurier vom Sonntag« vom 03. März 2019 über die neuerfundene »Generation Selbstbedienung« und die Frage sinniert, inwieweit die digitale Welt dazu geführt habe, dass spezifische Arbeitsschritte in der Gastronomie oder im Supermarkt von den Mitarbeiter*innen abstrahiert und daher von den Kund*innen, in dem sie etwa an der Selbstzahlkasse bezahlen, eigenständig übernommen werden (müssen). Der Standard titelte 2019 auf der ersten Seite: »›Millenial Burnout‹. Eine ganze Generation im Erschöpfungszustand?« (vgl. Vogt 2019); in dem Artikel fragt er danach, wie die zwischen den frühen 1980er und den späten 1990er Jahren Geborenen zu der Generation werden konnte, die prozentual die meisten Burnout-Erkrankungen aufweist (vgl. ebd., S. 17f.). In diesem Beitrag und bereits in der Überschrift selbst treffen gleich zwei Sammelbegriffe aufeinander: »Burnout« als ein populäres Sammelsurium mehrerer körperlicher und seelischer Krankheitssymptome und »Millenial-Generation« als Sammelbeschreibung für in einem spezifischen Zeitraum Geborene. Darüber hinaus werden mit Millennial spezifische Merkmalbeschreibungen und Erfahrungswerte

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verknüpft. Beide Begriffe werden relativ wahllos verwendet. Sie sind anschlussfähig, denn die Leser*innen haben einen Zugang zu den Begriffen, wenn möglicherweise auch nicht bis ins Detail. Sie sind zudem marketingstrategisch höchst relevant und werden deshalb auch bewusst reproduziert. (Vgl. Onlinemarketing 2022, o. S.) Es muss eine Aura geben, die das Reden über Generationen begleitet, einen Zauber, dem mancher nicht widerstehen kann. Generationen, nein, das Reden über Generationen gibt Versprechen ab, Versprechen auf neue Meinungen, auf neue Thesen, auf neue Erkenntnisse; der Generationenbegriff verspricht spontane Evidenz. Er trägt das Versprechen in sich, etwas über Zeit zu sagen, und häufig: etwas über eine neue Zeit zu sagen. (Bohnenkamp 2011, S. 10) Das Aufkommen immer neuer Generationsbegriffe unterstreicht besonders den wahllosen und unstetigen Charakter des Begriffes. Dabei wird vorschnell vergessen, dass wenn Menschen als einer Generation zugehörig markiert werden, auf sie automatisch die Vorstellung von Homogenität angewandt wird. Wird eine Generation als homogene Gruppe gedeutet, wenngleich dem nicht so ist, bleibt die Frage nach dem Subjekt und der Wirkmächtigkeit der*des Einzelnen auf der Strecke. Zweifelsohne ist es so, dass eine oder einige Gemeinsamkeiten, aufgrund derer Menschen generationell geordnet werden, keine Homogenität oder eine gemeinsame Basis für Entscheidungen und Handlungsweisen begründen. Umgekehrt jedoch, wenn sich Menschen selbst als einer generationellen Gruppe zugehörig erklären und sich dort repräsentiert sehen, können kollektive Kräfte freigesetzt werden. Dieser Umstand lässt sich auch bei der »Deukischen Generation« erkennen, die von Jugendlichen und jungen Erwachsenen 2007 in Berlin konstruiert wurde. Der Begriff »Deukisch« ist ein Neologismus und setzt sich aus den Sprachen »Deutsch« und »Türkisch« sowie den diesbezüglichen geografischen und eventuell auch milieuspezifischen Herkunftsbezeichnungen zusammen. Er beschreibt eine selbst gewählte Benennung sowie eine (nicht selbst gewählte, aber selbst artikulierte und beschlossene) Mitgliedschaft vonseiten junger Erwachsener der dritten Generation, die sich raumübergreifend sowohl in der Türkei als auch in Deutschland verorten und mehrheimische Lebensentwürfe und -welten beschließen. Nicht selbst gewählt hingegen sind die rassistischen Vorurteile, die unhinterfragten Stereotype und die nicht belegten Behauptungen, mit denen sie im Alltag und Bildungskontext konfrontiert wurden und weswegen sie eine Gründung dieses Kollektivs vornahmen. Seit der Gründung der Initiative nahmen ihre Sprecher*innen wiederholt Stellung zu tagespolitischen Themen. Vor Beginn der Covid-19-Pandemie fand sich auf der offiziellen Webseite der Verweis, dass sich die Deukische Generation im Moment in einer Phase der Umstrukturierung befände, sie neue Projekte plane, die große Gruppe der Jugendlichen stärker in den Vordergrund rücken wolle und zudem über einen neuen Namen nachdenke.10 In welche Richtung die neue Bezeichnung gehen könne, wurde noch nicht verlautbart, sie prononcierte jedoch in jedem Falle das neue Motto »Zukunft. Gemeinsam. Jetzt!«.

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Aktuell ist die Webseite nicht mehr zugänglich, weshalb sie in dieser Arbeit auch nicht zitiert wird. Inwiefern die Covid-19-Pandemie die geplante Reorganisation betrifft, kann nur gemutmaßt werden.

4. Generation

4.2 Generation als soziale Kategorie nach Karl Mannheim Hier wird Bezug genommen auf ausgewählte Ideen Mannheims zum Phänomen der Generation, insbesondere der erstmaligen Erkenntnis, Generation als eine soziale Kategorie zu etablieren. Dieser Gedanke wird schließlich weitergedacht und auf die postmigrantische Generation angewandt. Éva Gábor bezeichnet Karl Mannheim (1893-1947), bedeutender Soziologe, Philosoph und (Mit-)Begründer der Wissenssoziologie (vgl. dazu u.a. Endreß/Srubar 2000; Barboza 2009), als einen multidisziplinären Denker (Gábor 2000, S. 161ff.). Es gelingt ihm tatsächlich, gekonnt die Brücke zwischen verschiedenen Disziplinen, aber auch Denkstilen zu schlagen. Des Weiteren war es für ihn dringlich, an Alltagsphänomenen und den Lebenswelten der Menschen, z.B. der aufkommenden Frauenbewegung ab den 1920er Jahren, anzuknüpfen und diese wissenschaftlich fortzuführen und zu vervollständigen. Die Einschätzung Gábors, Mannheims Forschen als multidisziplinär zu bezeichnen, passt überdies zu seinem Generationskonzept, dessen wissenschaftliche Relevanz die Soziologie überschreitet und zeitlich bis in die Gegenwart hineinreicht. Das Mannheim’sche Generationskonzept mit dem Titel »Das Problem der Generationen« ([1928] 1970), das gleichzeitig auch die erste große Abhandlung über die Jugend an sich ist, beschäftigt sich primär mit der Frage, was Generation überhaupt ist bzw. welche Faktoren dazu führen, dass eine Generation als generationelle Gruppe soziologisch erkennbar wird. Mannheims Begriff der Generation muss zusammengedacht werden mit den aktuellen Konzepten der Jugendforschung des 20. Jahrhunderts (vgl. Zinnecker 2003, S. 39). Mannheim spezifiziert die hier zitierten üblichen wissenschaftlichen Betrachtungsweisen auf Generation, indem er für eine Generation folgende drei Voraussetzungen erklärt: •





Um einer soziologisch und politisch relevanten Generation zugehörig zu sein, müssen die Mitglieder in gleichartigen Geburtsjahrgängen geboren worden sein, z.B. in den Jahren 1986, 1987, 1988 und 1989. Er spricht hierbei von einer »Generationslagerung« (Mannheim 1970, S. 527). Menschen sind demnach in den gleichen und verwandten Jahrgängen »gelagert«. Zweitens verorten sich diese Gleichaltrigen im selben historisch-sozialen Raum, in dem sie potenziell gemeinsame Erfahrungen machen (können), wie es aktuell etwa das Engagement vieler Jugendlicher zeigt, die auf den Erfahrungshorizont Klimawandel zurückgreifen und sich über das fehlende ökologische Handeln der vor allem älteren Generationen empören. Mannheim nennt es »Generationszusammenhang« (vgl. Mannheim 1970, S. 524) – die jungen Menschen nehmen als (hier noch) einzelne Subjekte Anteil an einem gemeinsamen erfahr- und erlebbaren Phänomen. Drittens erfahren diese Menschen eine kollektive Verbundenheit aufgrund dieser gemeinsamen Erfahrungen und entwickeln dadurch ein gleich gerichtetes Verhalten und spezifische Handlungsweisen, was sowohl die aktive Teilnahme von Jugendlichen an »Fridays for Future«-Demonstrationen als auch ihre politische und zivilgesellschaftliche Intention und Wertvorstellung, die das kollektive Handeln begründen, veranschaulichen. Mannheim bezeichnet diese letzte Kategorie der Generati-

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onswerdung als »Generationseinheit« (vgl. Mannheim 1970, S. 544) – die Generationsangehörigen entwickeln also, aufgrund des gemeinsamen Alters, der Verortung im gleichen historisch-sozialen Raum und der dort gemachten Erfahrungen, den Impetus, zusammen auf Grundlage gemeinsamer Vorstellungen, Wünsche, Hoffnungen und Haltungen zu handeln und Veränderungen anzustoßen. Erst durch das gemeinschaftliche Handeln, dem in der Regel eine gemeinsame politische oder soziale Grund- oder Werthaltung sowie ethische Bestrebungen oder Zielsetzungen zugrunde liegen, werden die einzelnen Subjekte zu Generationsangehörigen und als Generation soziologisch erkennbar. Neben der bereits diskutierten und grundlegenden Frage der Generationsbestimmung, alltagssprachlich übersetzt mit »Was ist eine Generation?«, theoretisiert Mannheim ausführlich, auf welche Art und Weise diese junge politisch interessierte und engagierte Generation die ältere ablöst und dadurch das gesellschaftliche Ziel des Fortschrittes, der Erneuerung, subsumiert als kulturellen und sozialen Wandel, erwirken kann. »Kultureller und sozialer Wandel wird [bei Mannheim] durch den Verweis auf das regelmäßige Einsetzen (Geburt) und Austreten (Tod) von Kulturträgern interpretiert« (Gloger 2012, S. 44). Die jüngere Generation folgt der älteren nach und löst sie schrittweise in ihren gesellschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Funktionen ab, wenngleich letztere noch Funktionen als Berater*innen innehaben können. Die jüngeren Generationsangehörigen greifen auf bereits vorhandene Kapitalsorten und auf Wissen zurück, das von den Älteren zur Verfügung gestellt wird. Spezifische Formen von Kapital, Wissen, aber auch Erfahrungen, Erinnerungen und Praktiken werden demnach intergenerationell akkumuliert. Andererseits verwirft, vergisst und modifiziert die »neue« Generation bestimmte, ihr nicht mehr zeitgemäß erscheinende Konzepte, Vorstellungen, Wissensformen sowie Erfahrungen der Älteren und entwirft stattdessen veränderte und eigene. Diesem »neuartigen Zugang zu Wissensbeständen« (vgl. Mannheim 1970) kommt besondere Bedeutung zu. Eine Gesellschaft wird nämlich durch (Erfahrungs-)Wissen konstituiert und kann sich nur durch eben jenes weiterentwickeln. Der Zugang zu alten, aber vor allem auch neuen Wissensbeständen wird zum einen durch soziale Mobilität und zum anderen durch die Ablösung der Generationen erwirkt. Ohne das Zurückgreifen auf das Wissen, die Erfahrungen und die Erinnerungen der älteren Generation, exklusive des Kreierens eigener Erfahrungen und Wissensformen und dem Etablieren eigener Erinnerungen im sozialen Raum, würde die Gesellschaft stagnieren. Demnach sind sowohl die Prozesse des Erinnerns als auch im besonderen Maße die unterschätzten Prozesse des Vergessens für die Generationen (lebens-)notwendig, um leben, gestalten, verändern zu können (siehe Kap. 6 sowie 6.1, 6.1.1 und 6.1.2). Nicht Erinnern, sondern Vergessen ist der Grundmodus menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Erinnern ist die Negation des Vergessens und bedeutet in aller Regel eine Anstrengung […]. Nicht das Erinnern, sondern das Vergessen ist also der Normalfall in Kultur und Gesellschaft. Vergessen geschieht lautlos, unspektakulär und allüberall, Erinnern ist demgegenüber die unwahrscheinliche Ausnahme, die auf bestimmten Voraussetzungen beruht. (A. Assmann 2016, S. 30)

4. Generation

Ein großes Verdienst Karl Mannheims ist es, dass Generation nicht mehr ausschließlich als biologische Konstante gedacht wird, wobei, wie bereits skizziert, die Akte der Geburt und des Sterbens als Naturgesetze für die Ablösung der einen Generation durch eine andere relevant sind (vgl. Mannheim 1970, S. 530). Dass Generation damit immer auch biologisch determiniert ist, ist selbsterklärend. Generation nun überdies als soziale Kategorie zu kennzeichnen, ist historisch neu und wissenschaftlich wegweisend. Generation als soziale Kategorie bedeutet einerseits, dass Generation und Generationszugehörigkeit sozial konstruiert sind und sozial hervorgebracht werden. Andererseits meint die soziale Kategorie von Generation gleichermaßen, dass eine generationelle Gruppe unter ähnlichen sozialen Bedingungen lebt und durch (vermutlich) verbindende, soziale und demografisch bedeutende Merkmale evoziert wird. Des Weiteren ist eine soziale Generation durch kollektive, sich überschneidende Ziele, aber auch sozial erlebbare Erfahrungen geprägt. Wesentliche, nachhaltig beeinflussende Erfahrungen, die junge Erwachsene der postmigrantischen Generation vielfach teilen, sind spezifische familiale Migrationserfahrungen – hier die großelterlichen Bezüge zur Arbeitsmigration –, aber auch eigene, etwaige Diskriminierungserfahrungen im Bildungskontext oder auf dem Arbeitsmarkt. Erfahrungen, ob positive oder negative, auf die mehrere Generationsangehörige zurückgreifen können, sind demnach besonders generations-, aber auch sinn- und kulturstiftend (vgl. Mannheim 1970). Daher gehe ich davon aus, dass besonders die Migrationserfahrung der Familie und das daraus resultierende Wissen die generationelle Zugehörigkeit mitformulieren. Die Zugehörigkeit zur Familie und etwa der Enkelkinder-Generation sind nicht selbst gewählt. Menschen sind soziale Wesen (vgl. Vester 2009, S. 25ff.), deswegen sind für sie auch außerfamiliäre Kontakte notwendig. Gerade in bestimmten Lebensaltern und -phasen, wie etwa der Jugend, sind Ablösungsprozesse von der Familie und eine vermehrte Fokussierung auf die Peergroup für die (Weiter-)Entwicklung förderlich. Das hat zur Folge, dass sich junge Menschen neben den familialen Strukturen in Gruppen formieren, die sie selbst gewählt haben. Emotionen und Sympathien spielen in der Frage, mit wem sie ihre Freizeit verbringen möchten, eine entscheidende Rolle (siehe Fallrekonstruktion Nida in Kap. 7.1). Die Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen kann zudem auf ähnlichen Interessen, wie etwa der Faszination für Sport oder Musik, oder auf einem gemeinsamen Erfahrungshorizont beruhen, z.B. dem Aufwachsen in derselben Nachbarschaft. Sowohl die dort gemachten Erfahrungen und lebensweltlichen Gemeinsamkeiten als auch die Außenwirkung, die dem Stadtteil zugesprochen wird, sind vielfach biografisch einschneidend. Weniger das Dazugehören zu einer vermeintlichen ethnischen Community noch eine gemeinsame Erstsprache sind bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen dermaßen verbindend wie die vorhandene oder fehlende Wertschätzung, die ihnen nur aufgrund der familialen Migrationserfahrung, dem (von außen marginalisierten) Wohnort und den damit verknüpften Vorurteilen vonseiten der Schule, der Politik oder der breiten Öffentlichkeit zukommen. Als Beispiel hierfür sind die französischen Banlieues zu nennen (vgl. dazu Bourdieu 2010; Preissing 2019). Robert Castel (2009) betont in seinem Werk »Negative Diskriminierung. Jugendrevolten in den Pariser Banlieues«, dass die Banlieues keine »Gettos« seien (S. 29), die mediale Berichterstattung jedoch zu einer Repräsentation des vermeint-

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Postmigrantische Generation

lichen Gettos erheblich beitrage. »Indem nur die schlimmsten Zustände herausgestellt werden, entsteht das auch von den meisten Medien verbreitete Schreckgespenst ›der‹ Banlieue« (ebd., S. 24). Der Begriff des Banlieues ist über den französischen Kontext hinaus, bekannt. Er wird als warnendes Beispiel dafür genannt, in welche Richtung hin sich bestimmte bereits marginalisierte Stadtteile – aufgrund ihrer Bevölkerungszusammensetzung – entwickeln würden/könnten. Wahrscheinlich befinden sich in jeder Stadt »solche« Stadtteile, die in der öffentlichen Meinung entweder als »gut bürgerlich« kodiert sind oder als »migrantisch« oder »sozialschwach« gelten, wobei Letztere einen negativen Ruf haben.11 Sowohl die abschätzige Außenwirkung des Stadtteils als auch die damit einhergehenden Vorurteile sind den dort wohnenden jungen Menschen sehr wohl bewusst. Auf verschiedene Weise wird [von den befragten Jugendlichen] die Gefahr thematisiert, durch den schlechten Ruf des Stadtteils [Chorweiler] als »Asi« oder »Ghettokids« abgestempelt zu werden. Sie finden es nicht fair, dass ihnen der Stadtteil negativ anhaftet und sie damit der Möglichkeit beraubt werden, sich selbstbestimmt und unabhängig zu präsentieren. Häufig machten sie in diesem Zusammenhang bereits negative Erfahrungen, z.B. in Vorstellungsgesprächen, wenn die Jugendlichen ihren Wohnort nannten. (Yıldız/Preissing 2017, S. 166) Trotz oder gerade wegen dieser oftmals einseitigen und ablehnenden Haltung von Außenstehenden ist die postmigrantische Generation, die zu einer sozialen Gruppe avanciert, durch ein starkes Gefühl der Solidarität verbunden; sie ist dazu in der Lage, Aneignungsprozesse anzustoßen und kollektive wie individuelle Ziele, Wertvorstellungen und Träume zu verfolgen. Aufgrund mindestens einer prägenden Erfahrung und der damit einhergehenden Außenansicht kann die Generationszugehörigkeit durch ein starkes Gefühl der Solidarität und Verbundenheit intensiviert und gefestigt werden, muss es jedoch nicht (vgl. Rotter et al. 2021). Das zeigt sich auch anhand verschiedener zivilgesellschaftlicher und -politischer Aktionen und durch sozial-kollektives Engagement in den Banlieues. »Wir verlangen Respekt«, war eine Forderung, die in den Banlieues immer wieder zu hören war. Die Gruppe Banlieues-respects, […] erklärte nach den Unruhen: »Die Gewalt bringt die Frustrationen von 30 Jahren verweigerter Anerkennung für die Bevölkerung dieser Stadtteile zum Ausdruck.« (Castel 2009, S. 55)

4.2.1 Generation als situative Inszenierung Innerhalb der Generation als soziale Gruppe, deren »entscheidendes Merkmal […] eine gemeinsame Weltanschauung, ein gemeinsames Wissen um die Beschaffenheit der Welt« (Gildemeister/Hericks 2012, S. 96) ist, findet zudem eine Vielzahl an heterogenen Interaktions-, Kommunikations- oder Aushandlungsprozessen statt, die einem stetigen Wandel unterzogen sind. Eine soziale Gruppe kann sich emanzipieren, selbst wenn sie

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In der subjektiven Wahrnehmung von negativ konnotierten Quartieren können ebenso (positive) Verschiebungen und neue Grenzziehungen festgestellt werden.

4. Generation

in der gesellschaftlichen Peripherie nicht in ihrer bereits vielfach erfolgten Etablierung (an-)erkannt wird – das verdeutlicht im Übrigen auch die postmigrantische Generation. Frauen sind bzw. werden durch die Frauenbewegung in genau diesem Sinne eine soziale Gruppe. Ebenso wie sich das Proletariat emanzipiert habe aus der dominierenden bzw. scheinbar einzig wahren Sichtweise der Herrschenden, so emanzipieren sich Frauen nun vom »männlichen axiomatischen Rahmen«, also einer bis dato unumstößlichen Sicht, die die dominante Gruppe […] ihnen vorgab. (Gildemeister/Hericks 2012, S. 96) Dieser Logik folgend, tritt die postmigrantische Generation als soziale Gruppe – punktuell und/oder situativ – aus der dominanten Gruppe der Mehrheit und ausgewählten dominanzgesellschaftlichen Vorstellungen und Konventionen heraus, um eigene Realitäten zu untermauern und Deutungshoheiten zu konstituieren. Die Angehörigen der dritten Generation erfahren nicht auf allen gesellschaftlichen und strukturellen Ebenen Benachteiligung oder Diskriminierung oder »fallen gänzlich aus dem System raus«. Doch das bedeutet keinesfalls, dass die erlebten Diskriminierungs- und/oder Rassismuserfahrungen marginal, nicht real wären oder es unwichtig wäre, sie zu thematisieren, im Gegenteil. Ihre soziale Lage als einzelnes Subjekt, als Generationsmitglied und überdies als Familienmitglied wird durch eben jene negativ prägenden Erfahrungen mitbestimmt, wenngleich das nicht unbedingt den Verlust der eigenen Handlungsmacht einschließt. Sich aufgrund des Nachnamens, der Religionszugehörigkeit, der Optik oder der Familiengeschichte rechtfertigen, verteidigen oder sich »mehr anstrengen« zu müssen als Klassenkamerad*innen, deren Familien nicht migriert sind, ist absurd und erinnert sinnbildlich gesprochen an Don Quijotes Kampf gegen Windmühlen. Dieser manifestiert sich vor allem im Alltäglichen, im Bildungskontext und auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt, vor allem dann, wenn die Staatsbürger*innenschaft, über die ein Großteil der postmigrantischen Generation verfügt, augenscheinlich nicht »ausreiche«, um sie in der Firma einzustellen oder als Mieter*innen auszuwählen. Solche Beispiele des Alltages der postmigrantischen Generation veranschaulichen, wie Staatsbürger*innenrechte und Citizenship mit dem konkreten Erfahrungsschatz der Menschen kollidieren können und Ungleichheitserfahrungen noch zusätzlich verschärft werden. Hierzu schreibt Castel (2009) wie folgt: Wir dürfen also nicht Ross und Reiter verwechseln, wenn wir die Diskriminierungen anprangern. Das Problem stellt sich nicht deshalb, weil es keine Chancengleichheit gibt, sondern weil diese ganz im Gegenteil durchaus möglich und auch rechtlich garantiert ist. Diskriminierung ist skandalös, weil sie eine Verweigerung von Rechten ist, von verfassungsmäßigen Rechten, die im Prinzip gleichbedeutend sind mit der Ausübung der Staatsbürgerschaft. […] Die Frage der Diskriminierung stellt sich dann, wenn man nicht mehr davon ausgeht, dass legitime Unterschiede erblich begründet sind, wie etwa im Falle des Bürgers, der keine Adelsfunktionen bekleiden konnte: Er wurde nicht diskriminiert, sondern nur auf seine Stellung in einer Gesellschaftsstruktur verwiesen, in der jeder »seinen Rang einhalten« musste. (S. 11) Es wurde bereits diskutiert, dass Generationsangehörige wesentlich durch gemeinsam sozial relevante Merkmale und eigene sowie familiale Erfahrungen miteinander

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verbunden sind bzw. durch diese kollektiven Erlebnisse und Eigenschaften sozial hervorgebracht werden. Darüber hinaus gehe ich davon aus, dass Generation immer auch situativ und familial inszeniert wird. Diese Annahmen werden nun näher ausgeführt. Die situative Inszenierung von Generation interpretiere ich als eine Darstellung, die spontan, unregelmäßig und kontextbezogen durchgeführt wird. Das bedeutet konkret, dass sich eine Person in einem spezifischen Moment und Kontext als Zugehörige*r der postmigrantischen Generation inszeniert oder inszenieren kann. Diese Person trifft dabei z.B. auf eine*n Bekannte*n, der*die wiederum für sich die gleiche Selbstexplikation entwirft und sich als der dritten bzw. postmigrantischen Generation zugehörig definiert. Beim Aufeinandertreffen der beiden Menschen, die die Zugehörigkeit zur postmigrantischen Generation bejahen und damit bestätigen12 , wird also situativ Generation im Sinne der Performativität (vgl. Butler 1997, 2004) inszeniert. Im Dialog mit dem Gegenüber, das wegen der Gemeinsamkeit einer familialen Migrationsgeschichte als ähnlich, vertraut, bekannt und vertrauensvoll wahrgenommen werden kann, können ähnliche Erinnerungen oder Erfahrungen offen artikuliert werden. Gerade dieses dialogische Erzählen und der Versuch, der Herstellung eines gemeinsamen bzw. eines geteilten Erinnerns13 , können als generationelle Akte der Vergemeinschaftung verstanden werden. So schnell sich dieses Gefühl der generationellen Vertrautheit und das Bedürfnis, sich situativ als eben diese Generationsangehörige zu inszenieren, einstellen mag, so rasch kann es wieder enden. Etwa beim darauffolgenden Kontakt mit einem anderen Menschen kann das Subjekt eine andere Form der Zugehörigkeit, eine für diesen konkreten Moment »geeignetere« anwenden. So ist auf der Arbeit eine andere Form der Zugehörigkeit(-en) relevant als im Privatleben. Ähnlich wie beim sozialen Geschlecht wird auch die Generationszugehörigkeit in spezifischen Momenten hervorgebracht. Die situative Inszenierung von Generation impliziert ebenfalls, dass wir im Laufe unserer Sozialisierung gelernt haben, uns als Mitglied einer Gruppe zu inszenieren und darzustellen. Spannend ist hierbei die Frage, in welchen konkreten Situationen es die Generationsangehörigen für angebracht bzw. notwendig halten, sich als dieser Generation zugehörig zu inszenieren und damit auch bewusst und aktiv die Mitgliedschaft zu zeigen und wann nicht. Wann will diese spezifische Form der Zugehörigkeit zum Ausdruck gebracht werden und wann soll sie, aus Sicht der jungen Erwachsenen der postmigrantischen Generation, keine Aufmerksamkeit bekommen bzw. keine Rolle spielen? Ferner sollte das Augenmerk darauf gerichtet werden, ob sich jemand selbst inszeniert oder ob er inszeniert wird? Ein Inszeniertwerden meint z.B. automatisch und nicht auf Nachfrage einen Migrationshintergrund zugewiesen zu bekommen. Wenn ich über eine postmigrantische Generation als Kampfbegriff schreibe, sind das selbstverständlich auch Zuschreibungen, die ich treffe. Der Wunsch, diese so gering und die Definitionen so offen wie möglich zu halten, ist jedenfalls impliziert. Damit ist

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Die Bestätigung dieser Form der Zugehörigkeit muss nicht über den Begriff »postmigrantische Generation« erfolgen, sondern kann verbal angedeutet und durch die Gesprächsinhalte deutlich gemacht werden. Jede*r erinnert für sich, wenngleich Erinnerungen auch geteilt und durch unterschiedliche Perspektiven der Erinnerungen und Deutungen erweitert werden können.

4. Generation

gemeint, dass hinzukommend bzw. trotz der Benennung einer postmigrantischen Generation die Interpretationsräume, wie die Angehörigen agieren, denken, handeln würden, zuzüglich zur Theoriearbeit empirisch »befüllt« wurden. In diesem Sinne wurden im Laufe des Forschungsprozesses etliche meiner Vorannahmen durch die biografischen Narrationen der Erzähler*innen als Expert*innen ihrer (Familien-)Geschichte aufgebrochen und revidiert. Es sollen die Eingrenzungen, die Menschen aufgrund weniger gemeinsamer Merkmale in einer Gruppierung ein- bzw. festschreiben, so klein wie möglich gehalten werden. Genauso ist die hier getätigte Zusammenfassung zu einer spezifischen Generation nicht endgültig, nicht festgelegt oder alltagsweltlich gesprochen, nicht in Stein gemeißelt. Wir alle vollziehen Selbstdarstellungen und inszenieren situativ unsere (generationellen) Zugehörigkeiten, wenngleich sich jene Mitgliedschaften weitaus schwieriger gestalten, die sich infolge nicht beeinflussbarer Faktoren ergeben, jedoch von außen wiederholt angeprangert und kritisiert werden. Trotz eines fremdbestimmten, situativen Inszeniertwerdens dürfen die Kämpfe um Anerkennung und die Aushandlungen um Entscheidungsmacht vonseiten der postmigrantischen Generation nicht vergessen werden. Hierneben ist das von den Subjekten selbst vollzogene situative Sich-als-Angehörige-Inszenieren – da selbst entschieden – gewissermaßen ein solcher Kampf und jedenfalls die Momentaufnahme eines widerständigen Charakters, der betont werden muss. Prinzipiell sind mehrere Generationszugehörigkeiten möglich und auch wahrscheinlich. Viele von ihnen sind fluide, zeitlich begrenzt und wandel- und austauschbar. Die Zugehörigkeit zu einer Familie mit Migrationserfahrungen hingegen und das damit einhergehende Mobilitätswissen sind lebensbegleitend14 und langfristig relevant.

4.2.2 Generation als familiale Inszenierung Die familiale Inszenierung von Generation umfasst Unterschiedliches. Zum einen ist hier der Umstand gemeint, dass eine Familie automatisch lernt, die unterschiedlichen Generationen im familialen Kontext zu benennen, z.B. die Kindergeneration. Eine Familie weiß indessen die jeweiligen Generationsangehörigen zu unterscheiden und sie etwa nach Alter, Qualifikation, Aufgabenbereichen im familialen Kontext, teilweise auch nach Geschlecht und geschlechtlicher Zuschreibung einzuteilen und zu charakterisieren. Die Familie ist quasi automatisch dazu in der Lage, inter- und generationelle Gemeinsamkeiten zu erkennen, aber auch Unterschiedlichkeiten und Besonderheiten festzulegen. Mit der Benennung sowie Kategorisierung als Großelterngeneration, Elterngeneration, Enkelkindergeneration, Kindergeneration gehen wandelbare Formen der Zugehörigkeit einher, die vermutlich selten zur Gänze aufgebrochen werden können, schließlich bleibt das Kind der Eltern »ihr« Kind, auch dann, wenn es bereits erwachsen geworden ist. Jemand kann »das Kind seiner Eltern sein« und gehört damit aus Elternsicht der Kindergeneration an, gleichzeitig ist er*sie aber auch Enkelkind und hat womöglich bereits eige14

Familienbindungen können auch aufgelöst werden, indem aus der Familie »herausgetreten« wird oder der Kontakt nicht, anders als im Fließtext beschrieben, ein Leben lang aufrechterhalten bleibt.

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ne Kinder, die nun wiederum einer Kindergeneration als zugehörig verstanden werden. Die Kategorisierung, einer spezifischen familiären Generation zugehörig zu sein, wird meist reproduziert und auch auf andere Familien in und außerhalb der Verwandtschaft angewandt. Jede Familie verfügt über eine eigene Familienlogik, die innerhalb der familialen Strukturen Normalität erzeugt. Familien, deren Logik sich stark von der eigenen unterscheidet, werden trotz des Wissens über die Vielfältigkeit heterogener familialer Realitäten nicht derselbe Grad an »Normalität« wie der eigenen zuerkannt. So wird die heteronormative und einheimische Familie noch vielfach als Norm angesehen – und die eigene Familie im Speziellen, da sie das Bekannte, Alltägliche und den eigenen Kontext Umfassende repräsentiert. Nicht nur Familie an sich ist an Normalitätsvorstellungen, -konstruktionen und -reproduktionen gebunden, auch die jeweiligen Generationen sind davon betroffen. Mit jeder familialen Generation sind demnach in der Regel bestimmte Bilder und Zuschreibungen verflochten, die individuell, aber auch gesellschaftlich erzeugt sein können. Wie »eine Mutter« auszusehen habe, wie sich »ein Junge von 9 Jahren« benehmen solle etc., sind Teil einer innerfamiliären Logik, häufig gleichzeitig einer gesellschaftlichen. Dabei werden den Generationsangehörigen spezifische Merkmale, adäquate Verhaltensweisen und Konformitäten zugesprochen und genauso bestimmte wieder abgesprochen. Familie wird vielfach wie eine Bastion hochgehalten, gar glorifiziert. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Familie ein wirkmächtiges, soziales und gesellschaftliches Konstrukt ist. Konstrukt formuliert hierbei zum einen, dass ideale Verläufe innerhalb einer Familie im Sinne eines biografischen Werdegangs nachgezeichnet werden. Über das Innerfamiliäre hinaus werden romantisierte, hochstilisierte Normen, wie eine Familie bzw. die einzelnen Familienmitglieder zu sein hätten, aktiviert und als Maximen, als Ideale herausgearbeitet. Zum anderen gibt Familie als Konstrukt Auskunft darüber, dass sie tendenziell, – wenngleich die Forschung über vielfältige, über queere Familienmodelle (vgl. Peukert et al. 2020; Sagert 2021) und die Forschung zu Familien mit Migrationserfahrungen (vgl. Geisen et al. 2013; Weiss et al. 2014; Riegel et al. 2018) an Zuwachs gewonnen haben –, in einem heteronormativen Verständnis erfasst wird und jene Familien, die dieser Vorstellung nicht entsprechen, als nicht voll- oder gleichwertig angenommen werden. Genauso wird eine einheimische Familie als Norm, eine mehrheimische als »Sonderform« determiniert. Auch die Gesprächspartner*innen verfügen über das (Erfahrungs- und Alltags-)Wissen, dass Familien mit Migrationserfahrungen die Normalitätsvorstellungen, die im medialen, öffentlichen, politischen und teilweise auch wissenschaftlichen Kontext vermittelt werden, irritieren würden. Um der Konstruktion einer verengten Normalität entgegenzuwirken, verweisen mehrere meiner Gesprächspartner*innen darauf, dass ihre Biografie und ihre Familie »voll normal« wären.15 Die Vorstellungen, wie eine Familie und eine spezifische Generation zu sein hätten, sind zu großen Teilen Ergebnis der Sozialisation und gewissermaßen »antrainiert«. Die daraus resultierenden Effekte auf die einzelnen Familien und vor allem die Generationsangehörigen sind jedoch nicht zu unterschätzen. Sie können Druck, Stress oder schwer erfüllbare Erwartungshaltungen, die akkumuliert werden, bedeuten. Jede Generation 15

Genannt werden Sätze wie »Alles ist normal bei uns« oder »Wir sind voll normal«.

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hat offen artikulierte und/oder implizite Erwartungshaltungen an die nächste, beispielsweise hinsichtlich der eigenen Kinder, vermittelt durch eine hohe Bildungsaspiration. Der Wunsch, die eigenen Kinder würden gute Bildungsabschlüsse erzielen und ökonomische Sicherheit erlangen, wird nicht zwangsläufig als solcher benannt und von den Kindern, an die er gerichtet wird, nicht unbedingt erkannt. Vielmehr findet er durch spezifische Praktiken im Alltag, z.B. durch den Nachhilfeunterricht in der Freizeit oder die akribische Hausaufgabenbetreuung durch ein Elternteil seinen Ausdruck und wird deshalb möglicherweise vonseiten des Kindes als »übertrieben«, »überfürsorglich« oder belastend erlebt. Generation als familiale Inszenierung umfasst auch die Weitergabe, die Akkumulation und die Verwertung der Kapitalsorten. Der Versuch, den Nachfolgegenerationen ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital weiterzugeben, ist zu einem großen Teil den meisten Familien eigen. (Vgl. Bourdieu 1983, 2005) Es werden überdies familiäre Erfahrungen, Erinnerungen sowie Wünsche, aber auch unerfüllte Anliegen, die eigentlich die eigene Lebenssituation betreffen, auf die jüngere Generation übertragen. Dieser Vorgang kann bewusst, aber auch unbewusst vonstattengehen, das heißt die Projektion eigener nicht realisierter Hoffnungen soll idealerweise vom Nachwuchs vollendet werden. Die Erfüllung dieser weitergegebenen Erwartungshaltung kann etwa von der elterlichen Seite gewünscht sein und gleichzeitig der Vorstellung des Kindes kategorisch widersprechen, da sie nicht Teil des selbst verfassten Lebensentwurfs ist. In jedem Falle kann eine unreflektierte Weitergabe der Erwartungshaltungen und die entweder automatische Inkorporation dieser, oder ihre Ablehnung, intergenerationelles Konfliktpotenzial erzeugen. Hierbei wird in der Literatur häufig vom Generationenkonflikt gesprochen (vgl. Gronemeyer 2004), wenngleich Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen zwischen den Generationen zu notwendigen familialen Ablösungsprozessen führen und ergo nicht vorschnell problematisiert werden sollten. Neben den schwierigen Aspekten der Weitergabe von Erwartungen an die jüngeren Generationen, bergen familiale Tradierungen erhebliche Chancen. Nachdrücklich aus den überlieferten Erzählungen, die von diversen Erlebnissen der älteren Generationen vor und nach der Migration handeln, lernt die postmigrantische Generation und gestaltet daraus eigene Entwürfe. Sie versucht, unter anderem ausgehend vom familialen Wissen, persönliche Vorstellungen zu realisieren. Dieser Vorgang funktioniert vor allem dann, wenn die familiären Erwartungshaltungen tatsächlich aufgebrochen werden und nicht wie das sagenumwobene Schwert des Damokles über den Köpfen der einzelnen Familienmitglieder schwebt. Das familiäre Anspruchsdenken, das die Realisation der eigenen verwehrten Wünsche innerhalb der Nachfolgegeneration sucht, muss von den einzelnen Subjekten, den Überträger*innen und Empfänger*innen gleichermaßen, aber auch der Familie als Kollektiv, hinterfragt und bestenfalls in neue, zeitgemäße und zu der jeweiligen Familie passende Familienkonzepte umgewandelt werden. Das Gleiche trifft gewissermaßen auch auf den Umgang mit familiären und generationsspezifischen Vorstellungen hinsichtlich der »antrainierten« und durch Sozialisierungsprozesse initiierten Auslegung von Normalität bezüglich der Familie als Ganzes und den einzelnen Generationen zu. Diese Vorstellungen über Normalität zu sprengen, ist weder einfach noch selbstverständlich.

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Generation wird also, wie soeben nachgezeichnet, sozial inszeniert und familial inszeniert. Wird die Inszenierung von Generation konsequent weitergedacht, muss auch auf die Praxis eines »Doing Generation« hingewiesen werden (vgl. Bohnenkamp 2011), die von der Konzeption des Doing Gender entlehnt wurde. Es geht hierbei um die soziale Konstruktion von Generation und Generationenverhältnissen. Generation wird von den Menschen nahezu in jedem alltäglichen Moment als eine machtvolle Form der sozialen Unterscheidung installiert und genutzt, wonach innerhalb unserer Handlungen, insbesondere in jenen banalen des Alltages, Generationen sozial hervorbracht werden, in Formen der Unterscheidung münden und als solche Mechanismen reaktiviert werden. Als Beispiel: Im Supermarkt blickt eine Frau, die sich auf einen Gehstock stützt, hoch in die oberste Reihe eines Regals. Ein Jugendlicher nähert sich der Dame und fragt sie, ob er ihr behilflich sein könne. Sie freut sich über seine Unterstützung und bittet ihn darum, ein bestimmtes Produkt aus dem Regal zu nehmen. Dieser Moment, den wahrscheinlich jeder in einer ähnlichen Schattierung und Konstellation bereits erlebt hat, verdeutlicht mehreres: Zum einen zeigt er, dass Menschen (in diesem Fall der Jugendliche) im Alltag häufig intuitiv handeln und Generation und Generationszugehörigkeit verhandeln. Der Jugendliche sieht eine Person, die er aufgrund der Kombination des Gehstocks, des Aussehens und der Körperhaltung mit der Angehörigkeit zur Generation des hohen Lebensalters verknüpft. Ihre Körpersprache, also das Hochblicken zum Regal, suggeriert zudem, sie schaffe es nicht problemlos, zu den höher gelagerten Lebensmitteln hochzugreifen, woraufhin der junge Mann der älteren Frau seine Hilfe anbietet. Diese Geste, einer älteren, fremden Generationsangehörigen bei scheinbarem Bedarf Unterstützung zu gewährleisten, ist Teil der Sozialisierung und einer innerfamiliären Werteerziehung. Im richtigen Moment das Richtige zu tun, bedeutet jedoch nicht unbedingt, dass dieses Doing Generation auch vorurteilsfrei ist – im Gegenteil. Eine ältere Generationsangehörige ist nicht per se »hilfsbedürftig«, auch wenn es unsere Verknüpfungen und Generationsvorstellungen assoziieren. So wird die Frau im Supermarkt von Außenstehenden mit zugeschriebenen Merkmalen und Vermutungen belegt, die (teilweise) zutreffend sein können oder auch nicht. Die wahrgenommene Generationszugehörigkeit kann Erwartungen an das Gegenüber wecken, die diesem vielleicht gar nicht entsprechen. Demnach könnte die ältere Dame im obigen Beispiel durchaus in der Lage gewesen sein, das Produkt selbst aus dem Regal zu nehmen oder den Gehstock nur temporär, etwa aufgrund einer Sportverletzung, die ihr von außen nicht »zugetraut« wird, nutzen. Doing Generation schreibt also automatisch durch die Art und Weise, wie wir handeln, die Menschen in unserer Umgebung als spezifische Generationsangehörige fest, denkt und beurteilt sie, je nach Einteilung, nach einem bestimmten Schema. Doing Generation manifestiert sich vor allem in unseren alltäglichen Handlungen und sorgt dafür, dass unterschiedlichen Generationen eigene Konnotationen zukommen und wir sie verschieden bewerten. Mannheims Konzept der Generation wurde bereits konferiert. Die Tatsache, dass seine Ausführungen zur Generationslagerung auf Max Webers Klassenlage (vgl. Weber 1980, S. 532) zurückgehen, blieb bis dato ungesagt. Dieser Umstand wird nun kurz andiskutiert. Die Annahme, ein Mensch gehöre durch die Geburt einer angeborenen sozialen Klasse bzw. einer bestimmten Klassenlage an, konstituiert entweder ein Vorhandensein oder ein Fehlen bestimmter gesellschaftlich und sozial legitimierter Ansprüche, Ansinnen und Privilegien. Menschen in einer spezifischen Klassenlage stünden, nach Weber,

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eine bestimmte Menge an Gütern und Leistungsqualifikationen zur Verfügung. Mit dem Wissen um die eigene soziale Herkunft kann auch eine Art Klassenbewusstsein sowie eine spezielle Außenwirkung im Zusammenhang stehen (vgl. Aumair/Theißl 2021a). Dem Kind einer Ärzt*innenfamilie wird folglich leider immer noch eine (bildungs-)erfolgreichere Zukunft prognostiziert als dem Kind aus einer Arbeiter*innenfamilie. Die Außenwirkung der beiden Kinder unterscheidet sich also stark, sagt aber noch lange nichts über den tatsächlichen biografischen Werdegang der zwei aus. Der postmigrantischen Generation sind durch die Positionierung der Großeltern und meist auch der Eltern im Arbeiter*innenmilieu ein spezifischer Habitus und damit zusammenhängend entweder ein Mehr oder ein Weniger an bestimmten Kapitalsorten inhärent. So schreibt Gloger (2012): […] je nach Lagerung kann es zu einer positiven oder negativen Privilegierung kommen, als Druck oder Chance. Übertragen auf das Konzept der Generation bedeutet dies, dass sich aus dem Zeitpunkt der Geburt ein bestimmtes Gefüge von Belastungen und Chancen ergibt. (S. 45) Die familiäre Verortung im Arbeiter*innenmilieu darf nicht vereinfachend als »Belastung« angenommen oder auf einen Mangel an ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital reduziert werden. Vielmehr ist es essenziell, in der familiären Verortung sowie Milieuspezifik von Familien mit (Arbeits-)Migrationserfahrung, also Familien mit Pionier*status, – und das ist weitestgehend ein Novum – die dortigen Möglichkeitsräume und Perspektiven sichtbar zu machen. Die familiäre Verortung sollte indes als potenzielle Bereicherung verstanden werden und die familialen Migrationserfahrungen und deren Narrationen als persönlichkeitsbildend. Demnach können Erfahrungen, die in der Forschung nicht als »idealtypisch« gelten, den Handlungsspielraum der mehrheimischen Subjekte erweitern. »Belastungen«, wie Gloger es nennt, werden in der Forschung über Migration seit Jahrzehnten einseitig thematisiert und den Familien als ihre eigene Schuld angelastet, strukturelle Ursachen werden weitestgehend ausgeklammert. Dabei können strukturelle, tiefergehende Veränderungen innerhalb der Möglichkeitsräume der Nachfolgegeneration nur dann vollzogen werden, wenn sie eben als strukturelle, vielschichtige und raum- und zeitübergreifende Phänomene erkannt werden und nicht performativ bleiben. Ferner müssen die zahlreichen Chancen, Kompetenzen und Ressourcen, die sich gerade aufgrund der Migration ergeben und etwa bei Familien, die monolingual, sesshaft16 und ortsfest sind, aufgrund der genannten Attribute gar nicht möglich wären, in den Blick gerückt werden. So verfügen viele mehrheimische Familien über transnationale Vernetzungen. Im Gegensatz dazu kann eine sesshafte Familie kaum auf diese Möglichkeiten der familialen Kontakte zurückgreifen, die über einen staatlichen Rahmen und Kontext hinausgehen, die aber gerade im Zeitalter der Globalisierung an Bedeutung gewonnen haben. Doch genau diese dezidierten Gelegenheiten und kreativen Umwege, die sich gerade wegen der Migrationserfahrung ergeben, werden in den Diskursen ausgeklammert. Auch die Tatsache, dass die Nachfolgegeneration im Verhältnis zu einer Generation, die als einheimisch gelabelt wird, insbesondere im Bildungsbereich und beruflichen Kontext stärker gefordert wird und mehr leisten 16

Sesshaft ist hier im Sinne eines Gegenteils von mobil gemeint.

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muss, um als erfolgreich anerkannt zu werden, bleibt weitestgehend unbeachtet. Trotz der Schieflagen im Bildungssystem an Bildungswünschen festzuhalten ist kein einfacher Akt, jedoch ein vielfach erprobter, wie Wassilios Baros (2014) beschreibt: Die Aufrechterhaltung einer hohen Bildungsmotivation trotz Erfahrungen von Missachtung, direkter Beleidigung und Demütigung, fehlender Wertschätzung, mangelnden Respekts ihnen gegenüber und fehlenden Vertrauens der Lehrpersonen in ihre Bildungs- und Selbstentfaltungspotenziale ist dabei besonders hervorzuheben. Dieser starke Bildungswunsch und -wille sowie das Artikulieren der hohen Wertigkeit von Bildung zeugen von einer besonderen »Kompetenz der Überlebenskunst« (Seukwa 2006) gegenüber Ausschließungsprozessen, von einer besonderen Widerstandsstrategie gegen die »Vulnerabilitätsposition« (Castro Varela/Dhawan 2004, 220) dieser Jugendlichen. – Dies sind Handlungsstrategien, mittels derer die Sozialgrammatik der relativen Deprivation von Verwirklichungschancen individuell ausgestaltet wird. (S. 337f.) Es gilt nun, auf dieses Ignorieren struktureller Probleme, auf das Ausklammern von Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen zu verzichten und aufzuzeigen, wie zum einen der familiale Kontext das Fundament des biografischen Werdegangs der Nachfolgegeneration bildet und wie zum anderen die postmigrantische Generation selbst mit negativen Erfahrungen und Fremddeutungen umgeht.

4.3 Generationen im familialen Kontext von den Pionier*innen Auf die Wichtigkeit der familialen Migrationserfahrungen wurde bereits hingewiesen. Die Entscheidung der ersten Generation, zu migrieren bzw. langfristig im Ankunftsort zu bleiben, hat zweifelsohne die Biografien, die Lebensentwürfe und Lebenswelten der zweiten und dritten Generation nachhaltig beeinflusst und geprägt. Wie die Nachfolgegenerationen und speziell jene der Enkelkinder mit der Lebensentscheidung der ersten Generation umgehen, ist individuell sehr unterschiedlich, es lassen sich aber auch zahlreiche Gemeinsamkeiten erkennen. In jedem Falle ist sicher, dass sich die familiale Migrationsbiografie auch auf die jüngeren Generationen auswirkt und einen nachhaltigen Effekt hat. Hier werden nun einige wesentliche Punkte der Generationen im familialen Kontext von den Pionier*innen, die im Zuge der bilateralen Anwerbeabkommen nach Tirol migrierten, erörtert. Wie bereits erläutert wurde, begann die familiale Biografie der Pionier*innen selbstredend bereits vor ihrer Migration. Der gemeinsame Erfahrungsschatz der Familie, der sich durch die einzelnen Puzzlestücke der Erfahrungen und Erinnerungen seitens der einzelnen Familienmitglieder ergibt, ist generations-, orts- und kontextübergreifend. Erfahrungen vor und Erfahrungen nach der Migration bilden den familiären Erfahrungs- und Narrationsrahmen. Die familiale Geschichte geht also weitaus tiefer in die Vergangenheit und umfasst auch weit mehr Generationen als hier besprochen wird. Das familiale Gedächtnis wiederum reicht nur soweit zurück, wie der*die älteste noch lebende Familienangehörige. Mit dem Sterben des ältesten Familienmitglieds sterben auch ein Teil des familialen Gedächtnisses und der spezifische Zugang zu jenen Erin-

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nerungen, die nicht nacherzählt und somit auch nicht akkumuliert werden können, da der*die Erzähler*in eben nicht mehr darüber berichten kann. Familien sind Orte, an denen spezifische Ressourcen, Wissensbestände, Erfahrungen und Erinnerungen weitergegeben werden. Die Migrationserfahrungen und damit einhergehend auch das, was aus den Erfahrungen gelernt wurde, prägen die Nachfolgegeneration besonders. Diese Prägung kann konkrete familiale, familiär tradierte oder biografische Erfahrungen und Erinnerungen, sowohl positive als auch negative, beinhalten. Gleichzeitig impliziert die mehrheimisch-familiäre Prägung auch Denkhaltungen und Selbstverständnisse. Ein solches ist jenes der Mobilität, die grundsätzlich geografische und soziale Bewegungen (siehe Kap. 2) und nebenbei die Kompetenz, diese auch (aus-)zu leben, umfasst. Familial mitgegeben wird zudem eine Grundhaltung, die die Art und Weise regelt, wie jemand mit Schwierigkeiten umgeht. Diese könnte als Mobilität im geistigen Sinne fungieren, oder wie es Şenocak (2018a) formuliert als »Ideenbeschleuniger«: Ideen, die Bewegung bringen, haben oft mit Menschen zu tun, die sich bewegen können und wollen. Die Migration ist dadurch auch ein Ideenbeschleuniger. Denn sie rührt an dem Ansässigen, sie bringt Gewohnheiten durcheinander. Und bewegt somit auch Sprachen. Anders formuliert: Sprachen können Menschen bewegen, von einem Land ins andere, von einer Kultur in die nächste. (S. 82)

4.3.1 Die erste Generation (Großelterngeneration): Die Pionier*innen »Mein Vater war einer der Ersten, die als »Gastarbeiter« nach Österreich gekommen sind. Ursprünglich dachte er, wie viele andere auch, er würde nur wenige Jahre in Österreich arbeiten und dann nach Hause zurückkehren. Aber die Reise verlief anders.« (Emir 2004, S. 158) Die erste Generation, die Pionier*innen – und aus Sicht der postmigrantischen Generation auch »Großelterngeneration« genannt – hat gewissermaßen Geschichte geschrieben. Sie ist trotz oder vielleicht auch wegen des Faktums, dass ihre wichtige Funktion im nationalen Gedächtnis erst nach und nach erkannt und anerkannt wird, wesentlicher Teil einer bis dato verdrängten bzw. systematisch ausgeblendeten und viel zu wenig erforschten städtischen, regionalen, nationalen und transnationalen Geschichte. Was die diversen Familiengeschichten und Familiengedächtnisse betrifft, sind die Pionier*innen auch dort bedeutende Subjekte, die den Werdegang der jüngeren Generationen determiniert bzw. richtungsweisend formuliert haben und ihren späteren Aufstieg (mit-)ermöglichten. Genauso hat die erste Generation aus mehreren Gründen einen Pionier*innenstatus erworben und sich verdient gemacht: Zum einen konnte sie im Ankunftsort den Grundstein für die Nachfolgegenerationen legen, was große familiale, (inter-)generationelle sowie (inter-)biografische Relevanz hat. Zum anderen war sie bei der Entstehung vieler Tiroler Bauwerke und -projekte beteiligt, mehr noch, ohne ihr Zutun hätten Großprojekte nicht in diesem Maße realisiert werden können. Genauso hätte die Produktion in Fabriken aufgrund der fehlenden »Arbeitskräfte« während des Wirtschaftsaufschwungs stagniert. Der heutige Wohlstand ist in der österreichischen Bevölkerung ungerecht verteilt. Trotzdem gilt der österreichische Nationalstaat als weitestgehend öko-

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nomisch solide und finanziell abgesichert. Laut einer Studie des europäischen Statistikamtes Eurostat aus dem Jahr 2019 liegt Österreich nach Luxemburg und Deutschland auf dem dritten Platz des gemessenen »materiellen Wohlstandes pro Kopf« in der EU (vgl. Standard 2019, o. S.). Seit Beginn der Covid-19-Pandemie ist das österreichische Bruttoinlandsprodukt zwar pro Kopf deutlich gesunken, Expert*innen schätzen die langfristige Entwicklung tendenziell positiv ein (vgl. Statistik Austria 2021, o. S.). Solche Statistiken sind irreführend, da sie über die realen Lebenssituationen, -realitäten und -welten der Menschen wenig aussagen. Im Gegenteil, sie suggerieren, es ginge dem Querschnitt der Bevölkerung finanziell überdurchschnittlich gut, was nicht der Fall ist und was sich etwa in den hohen Mietpreisen und der ungleichen Verteilung ökonomischer Güter manifestiert. Dieses Ranking der Staaten in der EU verdeutlicht aber eines, und zwar, dass die Arbeitskraft der Pionier*innen gezielt genutzt wurde, um die wirtschaftliche Situation zu verbessern, auszubauen und in Folge höhere Rendite und Verdienste zu erzielen. Die harte körperliche Arbeitsleistung der Pionier*innen wirkt, wirtschaftlich gesehen und zuweilen im Alltagsweltlichen versteckt, bis in die Gegenwart nach. Zum Beispiel wird das Fahren über die Europabrücke in der Nähe von Innsbruck von vielen Autofahrer*innen als selbstverständlich und banal erachtet, aber die Brücke entstand durch den realen Einsatz der Pionier*innen. Das Wissen, wer mit größtem körperlichem Einsatz und unter teilweise widrigen Bedingungen die Europabrücke gebaut hat, ist quasi in der Dominanzgesellschaft nicht vorhanden. Zumindest werden die Arbeitsleistung und vor allem die erworbene Expertise der Pionier*innen in den vielen, sehr unterschiedlichen Arbeitsbranchen ausgeblendet. Den Subjekten wurde in einer ausbeuterischen, kapitalistischen Arbeitswelt, die den Menschen in den Hintergrund rückt und nur die aufgrund des beschlossenen Rotationsprinzips (vgl. Rupnow 2018, S. 84) wechselnde Arbeitskraft »verschleißt«, kaum Wertschätzung entgegengebracht. Arbeitsrechte und auch spezifische Grund- und Menschenrechte, wie etwa »das Recht auf gleichen Lohn bei gleicher Arbeit«17 (vgl. Amnesty International 2022, o. S.), wurden vielen von ihnen verwehrt. Als sich 1965 Arbeiter*innen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die in einer Fabrik in der Nähe von Salzburg beschäftigt waren, miteinander solidarisierten und zum Streik aufriefen, wurden sie in Schubhaft genommen. Grund des Streikes war, dass sich die Arbeitgeber*innen weigerten, den Arbeiter*innen das vereinbarte Gehalt in voller Höhe auszuzahlen. (Vgl. Gächter/Recherche-Gruppe 2004, S. 35) Dabei gehört auch das Streiken zum Arbeitsrecht. Die Arbeitsmigration der 1960er bis Mitte/Ende der 1970er Jahre ist, und das muss betont werden, ein wesentlicher Teil Österreichischer bzw. Tiroler Geschichte (vgl. Sauermann 2016, S. 80ff.; Hetfleisch 2017b, S. 117ff.). Die Grundidee der zwischenstaatlichen Anwerbeabkommen war es bekanntermaßen, den akuten, einheimischen 17

Formuliert im Artikel 23 der Allgemeinen Menschenrechte. Dort steht: »Artikel 23 (Recht auf Arbeit, gleichen Lohn). 1. Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit. 2. Jeder Mensch, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. 3. Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und der eigenen Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen. 4. Jeder Mensch hat das Recht, zum Schutz der eigenen Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.« (Vgl. Amnesty International 2022, o. S.).

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Arbeitskräftemangel in Österreich durch die temporäre Aufnahme von sogenannten »Gastarbeiter*innen« zu kompensieren. Die zwischenstaatlichen Abkommen begannen 1962 mit Spanien, erwiesen sich jedoch nur in wenigen Fällen als ökonomisch erfolgreich. Die Angeworbenen favorisierten aufgrund des höheren Lohnniveaus zunächst Deutschland und die Schweiz als potenzielle Arbeitsorte. In den späteren Abkommen zwischen Österreich und der Türkei im Jahr 1964 (vgl. Latcheva/Herzog-Punzenberger 2011, S. 4)18 und dem bilateralen Anwerbevertrag zwischen Österreich und dem ehemaligen Jugoslawien 1966 wurden Regulierungen beschlossen, sodass Arbeiter*innen automatisch österreichischen Firmen zugewiesen wurden und so das Mitspracherecht der Vermittelten unterwandert wurde. Des Weiteren wurden zwischen den Staaten »Kontingente« beschlossen. Allein dieser Begriff zeigt, dass nicht der Mensch im Fokus stand, sondern die Arbeitskraft, die wieder zurückgeschickt und durch eine neue ersetzt werden sollte. Neben offiziellen Formen der Rekrutierung von »Arbeitskräften« gab es auch informelle Settings, also Mund-zu-Mund-Propaganda, woraufhin Menschen, die bereits im Ankunftsort waren, Bekannte ansprachen und an die Firma weitervermittelten. Diese Arten der Anwerbung bewirkten, dass sich teilweise Subjekte, die sich bereits vor der Migration kannten, im Ankunftsort wiedertrafen und sich dadurch auch ihre Beziehung verfestigte. So ist es auch im westtürkischen Dorf Adatepe der Fall. Die Biografien der damaligen sowie der heutigen Bewohner*innen des Dorfes sind allesamt, entweder familial oder individuell, durch das Phänomen der Arbeitsmigration und die transnationalen Verbindungen zu Österreich ge(kenn-)zeichnet (vgl. Muradoğlu/Ongan 2004 S. 143ff.). Die Geschichte der Migration ist eine von vielen Geschichten. Wenn sie in den letzten Jahrzehnten nur aus der Sicht der »Gastgeber« erzählt oder sogar ganz verschwiegen, wenn sie nur als Skandal oder als Unzulänglichkeit dargestellt wurde, so liegt dies an der Grundstruktur des bisherigen allgemeinen Umgangs mit dieser Migration. Irgendwo zwischen Stille und Getöse liegt ihre Geschichte verborgen. Wenn wir sie hören wollen, müssen wir dafür sorgen, dass sie als eine unter vielen Geschichten erzählt wird. Und von allen, die darin eine Rolle spielen. (Gürses et al. 2004, S. 26f.) Ein weiterer Begriff, der heute nicht mehr verwendet werden sollte, ist jener des »Gastarbeiters«.19 Bis 1968 wurde vom (männlichen) »Fremdarbeiter« gesprochen und schließlich vom »Gastarbeiter«. Diesbezüglich fragen Gürses, Kogoj und Mattl (2004), Herausgeber*innen und Initiator*innen der Ausstellung »Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration«, wie folgt: Kann, soll, darf man das unkorrekte Wort »Gastarbeiter«, mit dem einst ja kaschiert worden ist, dass die beschäftigten ArbeiterInnen als ökonomische Verschubsmasse

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Eine ausführliche Studie zu türkischer Arbeitsmigration in Deutschland siehe Karin Hunn (Vgl. Hunn 2005). Ich verwende den Begriff »Gastarbeiter« bewusst nicht, da er einerseits Widerspruch in sich ist, denn Gäst*innen arbeiten in der Regel nicht. Andererseits ist er eine diskriminierende Benennungspraxis, die die Pionier*innen weder in ihrer Komplexität noch in ihrer über den Arbeitskontext hinausreichenden Relevanz erkennt.

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beim Nachlassen der Konjunktur wieder retourniert werden sollten, als Leitbegriff verwenden? (S. 14) Die Autor*innen wählen stattdessen »›gastarbajteri‹ […], das serbisch-kroatische Lehnwort für ›Gastarbeiter‹« (ebd.), das zugleich auch als Eigenbenennung slawischer Pionier*innen fungierte. Aus nationalstaatlicher Sicht stellten sich die österreichische Politik und auch weite Teile der Dominanzgesellschaft auf die befristete Aufnahme von Arbeitskräften ein, nicht aber auf die langfristige Inklusion von Menschen mit diversen Bedürfnissen und auch Wünschen. Wurde der millionste Pionier, der 1964 nach Köln kam, noch frenetisch bejubelt, begrüßt und beschenkt, änderte sich die positive oder zumindest neutrale und dem Kosten-Nutzen-Kalkül untergeordnete Konnotation über die neuen Mitbewohner*innen vor Ort bald grundlegend. Die Bleibeintention der Menschen fand kaum politische, institutionelle oder auch informelle Unterstützung, weshalb die Pionier*innen darauf angewiesen waren, sich selbst zu organisieren, zu positionieren und auch zu subjektivieren. Die Geschichte der Pionier*innen wird auch gegenwärtig noch vielfach aus einer ethnisch-national geprägten Sichtweise interpretiert und problematisiert, was selbst noch die institutionalisierten Bildungsbiografien der Nachfolgegenerationen bedingt und mitbeeinflusst. Dilek Ҫınar (2004) entwirft hinsichtlich der fehlenden Wertschätzung durch Österreich und so manche*n Einwohner*innen »drei ketzerische Thesen zu Migration und Integration« (S. 47) und erklärt darin: »Denn entweder arbeiten Gäste nicht, oder sie sind keine Gäste. Die Missachtung dieses Grundsatzes zeichnet die Geschichte der Migration nach Österreich […] aus und prägt deutlich die Gegenwart« (ebd.). Die neuen Ansätze der postmigrantischen Analyse (vgl. u.a. Kaya 2011; Yıldız 2015; El-Tayeb 2016; Spielhaus 2016; Foroutan 2016a, 2016b, 2019) kehren die reduktionistischen und defizitär ausgerichteten Interpretationsweisen der konventionellen Migrationsforschung, aber auch des öffentlichen und politischen Diskurses sowie ihren Blick auf die erste Generation und ihre Familien vollständig um. Die einzelnen Menschen werden nicht mehr als eine homogen und fremd behauptete Gruppe kategorisiert oder erfahren in Abgrenzung zu den Einheimischen eine Abwertung und Pathologisierung. Im Gegenteil, das Konzept der Postmigration ist eine offene Denkhaltung, die eine spezifische Richtung mitdenkt, etwa den Anspruch, mit der binären Ordnung zwischen dem »Wir« und den »Anderen« zu brechen und veraltete Dichotomien zwischen Ein- und Mehrheimischen umzugestalten und Fragen nach dem Potenzial der Mobilität und Diversität seitens der Dazukommenden neu zu deuten. Bereits die Tatsache, dass sich die mehrheimischen Subjekte dazu entschlossen haben, sich zu mobilisieren, indem sie ihr Herkunftsland zeitweilig, länger- oder langfristig verließen und somit ihr Mobilitätspotenzial nutzten, auf das die Nachfolgegenerationen aufzubauen lernten, unterstreicht zurecht ihren Pionier*status (vgl. Yıldız 2015, S. 22). Die Ressource der Mobilität ist nur ein entscheidender Faktor dafür, dass die zweite und vor allem auch die dritte Generation überhaupt erst die Möglichkeit hatte, die Mobilität der ersten Generation in soziale Mobilität und auch in Bildungserfolg zu konvertieren (vgl. Pott 2009, S. 47) und so zu aktiven Gestalter*innen der eigenen Vita zu werden.

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Die Pionier*innen absolvierten zumeist körperliche Tätigkeiten oder Arbeiten im Schicht- oder Akkordbetrieb, für die sie mitunter überqualifiziert waren. Viele von ihnen erlebten im Zuge der Arbeitsmigration eine soziale Deklassierung (vgl. Korun 2004, S. 71), die bis heute nachwirkt und sowohl (im Besonderen) Frauen als auch die Nachfolgegenerationen betrifft. Bezüglich weiblicher Arbeitsmigration lässt sich eine (historische) Blindheit erkennen, die »das Verständnis des heutigen, vorherrschenden Migrantinnenbildes in Österreich« geprägt und »zur Nicht-Berücksichtigung« von weiblichen Lebenswirklichkeiten durch österreichische Behörden und Politik« geführt hat (Korun 2004, S. 70). Ferner werden die Reproduktionstätigkeiten weiblicher Pionier*innen unter dem Stichwort »Hausfrauisierung« (ebd., S. 76) festgeschrieben, wohingegen ihre Erwerbsarbeit wiederum Ausdruck einer Verweiblichung sowie einer »Ethnisierung gesellschaftlich notwendiger, aber […] schlecht bezahlter Arbeit« (ebd., S. 75) ist. Hinsichtlich der nachfolgenden Generationen spielen Deklassierung und Entwertung der Familie nach wie vor eine Rolle, da im kollektiven österreichischen Gedächtnis eine Version der Narration über die Pionier*innen und ihre Familien entworfen wurde, die die Subjekte selbst nur bedingt mitdenkt, sie stattdessen religiösen und kulturellen Deutungsmustern unterwirft und in einseitige Integrationsdebatten einspeist. Diese nationalen Narrationen werden unhinterfragt auf die zweite und dritte Generation übertragen und wirken sich auf die familiale Reputation aus. Der soziale Status einer Familie wird vererbt und der von Migrant*innen wird in seiner Außenwirkung als »belastet« dargestellt. Er kann jedoch, und das zeigt die postmigrantische Generation auf, aufgebrochen, neu interpretiert und übersetzt werden. Die erste Generation ist eine im kollektiven Gedächtnis vergessene Generation, eine aus den kollektiven Erinnerungen und Erfahrungen verdrängte Generation. Davon sind besonders Frauen der ersten Generation betroffen. Dazu trägt vor allem die unkritische Haltung bei, die körperliche Arbeit ausschließlich mit männlicher Arbeit verknüpft. Diese Annahme, dass ausschließlich Männer körperlich beschwerliche Arbeit leisten würden, hat dazu geführt, dass die Arbeitsmigration auch heute noch als männlich konnotiert gilt. Das, was jedoch zu kurzsichtig ist, denn es lässt die arbeitenden Frauen in Vergessenheit geraten, sofern sie sich und ihren Erinnerungen nicht selbst Gehör verschaffen. Das Bild des männlichen Arbeiters wird auch noch gegenwärtig reproduziert. Dabei helfen sowohl altes Bildmaterial und Berichte im Fernsehen und Radio, in denen gezielt Männer befragt wurden. Doch auch die Narrationen über die Pionier*innen von damals handeln größtenteils von Männern. Frauen hingegen werden in die Rolle der Mütter oder in die der im Ankunftsort Wartenden gedrängt oder als die Nachkommenden dargestellt. Dabei warben bestimmte Firmen und Sparten, z.B. Textilfabriken, gezielt und ausschließlich Frauen für die untersten Segmente an. Ein Beispiel hierfür ist die heute nicht mehr existente »Fischfabrik C. Warhanek«, die sich in Wien und an anderen österreichischen Standorten verortete und vor allem jugoslawische Arbeiterinnen anwarb (vgl. Bakondy 2004, S. 134ff.). Ein ehemaliger Vorstand der Firma erzählt dazu: Was noch schwerer ins Gewicht fällt, ist der Umstand, dass die Arbeit […] stets unter Einsatz von kaltem Wasser beim Fischewaschen und von Essig und Salz beim Garbadansetzen vor sich geht, wobei die Arbeitsräume nicht zu stark geheizt sein sollen, um die Verderblichkeit der Ware nicht zu fördern. Schließlich ist es die Geruchsbelästi-

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gung, die notwendigerweise mit der Verarbeitung von Fischen verbunden ist […]. Dies hält viele arbeitssuchende Österreicher ab, sich […] um eine Beschäftigung zu bemühen. (Bakondy 2004, S. 135) Die Arbeitsmigration ist demzufolge nicht (ausschließlich) männlich, sondern geschlechterunabhängig. Das veranschaulichen auch die dezidierten Werbeaktionen, die sich explizit an Frauen richteten:20 »Brauchen derzeit äußerst dringend 30 Hilfsarbeiterinnen. Ledig, gesund und flink, Eignung für Akkordarbeit. Etwas deutschsprachig, aber nicht Bedingung« (Strasser 2019, S. 228). Arbeiterinnen mussten, so lautete eine Anforderung, jung, kräftig, ledig und wenn möglich kinderlos sein. Die Sprachkompetenz hingegen war obligatorisch. Das liegt zum einen am kapitalistischen Nützlichkeitsprinzip, in dem die Produktion und der finanzielle Gewinn des Unternehmens priorisiert werden. Zum anderen hat es mit der Befristung und der Ausdifferenzierung der Arbeitsstellen als Orte zu tun, an denen nicht gesprochen werden müsse. Strasser (2019) meint, dass die arbeitenden weiblichen Pionierinnen indirekt dazu beigetragen hätten, dass sich die einheimischen Frauen emanzipieren und in die Arbeitswelt eintreten konnten (S. 234). Die Frauenbewegung und damit die formale Gleichstellung der Geschlechter wurden im ehemaligen Jugoslawien aufgrund des Sozialismus deutlich früher erwirkt als in Österreich (ebd., S. 228). Dieser Umstand hatte zur Folge, dass sich die Pionierinnen häufig in den Herkunftsorten bereits emanzipiert und eine Ausbildung bzw. Studium absolviert hatten und nun, mit dem Wunsch auf weiteren sozialen und beruflichen Aufstieg entschieden hatten, temporär zu migrieren. Die lukrativen Berufe dieser Zeit, z.B. Sekretärin, waren de facto den hiesigen einheimisch gelesenen Angestellten vorbehalten und unterschieden sich von den marginalisierten, anstrengenden Berufen der Pionierinnen sowohl durch den tatsächlichen Reallohn als auch durch die Schwere der Tätigkeit. Des Weiteren waren die Berufe, in denen einheimische Frauen nun Fuß fassen konnten, häufig Teilzeitberufe, die höheres Ansehen genossen. (Vgl. ebd.) Die Arbeit als Teilzeitkraft sollte die Vereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft fördern. Jene Pionierinnen, die bereits selbst Kinder hatten, arbeiteten hingegen Vollzeit bzw. im Schichtbetrieb und konnten nicht auf die Unterstützung durch die Arbeitgeber*innen oder den Sozialstaat hoffen. Sie mussten sich – und das ist ein Charakteristikum, das die erste Generation als generationelle Gruppe eint – selbst organisieren und Wege finden, um ihren Alltag zu planen und zu vereinbaren. Die Deklassierung und Degradierung, die viele der Pionierinnen in ihrem Arbeitskontext erfahren mussten (vgl. Korun 2004, S. 71ff.), traf sie ganz besonders; sie erlebten intersektionale Diskriminierung und Benachteiligung aufgrund des Geschlechts, der geografischen und sozialen Herkunft sowie der fehlenden Deutschkompetenz. Anzuführen ist das Beispiel einer in Wien lebenden Akademikerin aus der Türkei, bei deren Daten die Gebietskrankenkasse aus ihrem Beruf »Raumplanerin« kurzerhand »Raumpflegerin« machte, widerspricht es doch offensichtlich dem Bild der »typischen« Migrantin. (Korun 2004, S. 71f.) 20

Dieser Umstand kann auch kritisch gesehen werden, da er suggeriert, eine geschlechtergerechte Arbeitsteilung wäre nötig. Dabei ist berufliche Qualifikation selbstredend nicht an das Geschlecht gebunden.

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Sowohl Gesetze, wie das »Inländerprimat«, das Einheimische bevorzugt oder das »Rotationsprinzip«, demzufolge Menschen nach 6 Monaten wieder ins Heimatland zurückgeschickt und durch andere »ersetzt« werden konnten als auch spezifische Lebensrealitäten, wie etwa prekäre Wohnverhältnisse oder fehlende Unterstützung beim Spracherwerb, prägten den Alltag der Pionier*innen. Auch die viel propagierte Hilfe zur Selbsthilfe bleibt weitestgehend eine Farce bzw. eine verwehrte Maßnahme. Doch es darf nicht vergessen werden, dass sich die Pionier*innen vielfach selbst halfen, indem sie sich über ihre Rechte informierten und sie schließlich auch einforderten. Sie lernten, sich im Alltäglichen vor Ort zu arrangieren. Hilfreich dabei war, dass in den Auslagen einiger weniger Wiener Bekleidungsgeschäfte Nationalstaatsfahnen angebracht waren, die den Kund*innen verdeutlichen sollten, dass dort ihre Erstsprache, z.B. Serbisch oder Türkisch, gesprochen wird. Ljubomir Bratić konkretisiert, dass Migrant*innen aufgrund ihrer Positionierung im sozialen Raum zahlreiche soziale Kämpfe bestreiten mussten (vgl. Bratić 2004, S. 140) und charakterisiert in Anlehnung an Foucault folgende widerständige Kämpfe und Praxen des Widerstandes durch Migrant*innen und ihre Selbstorganisationen: Kämpfe gegen die soziale Herrschaft können wir […] als Widerstand gegen die andauernden Versuche der sozialen Reglementierung von MigrantInnen (Assimilation, Integration, Diversitätspolitik usw.) verstehen. Unter die Kämpfe gegen die ökonomische Ausbeutung lassen sich konkrete Formen des Widerstandes am Arbeitsplatz subsumieren. Dazu sind die so genannten wilden Streiks zu zählen, aber auch andere Formen der Vergrößerung der Machtpotenziale innerhalb des Arbeitssystems selbst – wie z.B. Bildung der ethnischen und verwandtschaftlichen Netzwerke oder andauernde Forderungen nach Anerkennung kultureller Eigenarten innerhalb des Unternehmens. Unter Kämpfen gegen die Formen der Subjektivierung sind all jene sozialen Kämpfe zu verstehen, die darauf abzielen, die zugeschriebene Opferrolle aufzubrechen, und zu versuchen, ein autonomes soziales Feld zu strukturieren. (Bratić 2004, S. 140f.) Diese Beispiele zeigen, dass die Pionier*innen eben nicht, entgegen der Behauptungen innerhalb dominanter Diskurse und Narrationen, sprachlos oder machtlos waren bzw. sind. Auch wenn sie in spezifischen Erzählungen nicht vorkommen oder absichtlich vergessen werden, veranschaulicht ihr exemplarisch zivilgesellschaftliches und politisches Engagement, das Gründen von Gewerkschaften und von Vereinen der Freizeit, aber auch ihre gegenseitigen Unterstützungsmaßnahmen im Alltag, dass sie sowohl Pionier*innen ihrer Lebens- und Familienwelten als auch der hiesigen postmigrantischen Gesellschaft sind. Die Lebenswege der Subjekte der ersten Generation von damals bis in die Gegenwart hin gestalten sich divers. Einige von ihnen blieben nur ein paar Jahre in Tirol, andere Jahrzehnte lang und wiederum andere remigrierten mehrfach, pendelten zwischen den Bezugsorten und -menschen hin und her oder verbrachten/verbringen ihren Ruhestand im Herkunfts- oder Ankunftsort. Die ersten Jahre nach der Arbeitsmigration, als die Beschäftigungszahlen rückläufig wurden und die Pionier*innen vonseiten des Nationalstaates »nicht mehr gebraucht wurden«, dem offiziellen Ende der »Gastarbeit« (vgl. Berlinghoff 2013), sind gekennzeichnet durch eigenständige Reorganisation, kreative Entscheidungen hinsichtlich der neuen Lebens- und Arbeitssituation, neue Geschäfts-

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modelle sowie Orts- und Kontextwechsel. Aus der Not heraus und aufgrund mangelnder Arbeitsplätze wurden neue Wege bestritten, etwa vom*von der Arbeitnehmer*in hin zum*zur Arbeitgeber*in (vgl. Berner 2018). Kollektive und individuelle Ressourcen wurden reaktiviert, an die aktuelle Situation angepasst und neu erfunden.

4.3.2 Die zweite Generation: Die Elterngeneration Die zweite Generation, hier auch – ausgehend von der postmigrantischen Generation– als »Elterngeneration« bezeichnet, konnte die Entscheidung der ersten Generation, zu migrieren, nur teilweise selbst treffen und wurde vielfach mit dieser Situation konfrontiert. Es ist im Übrigen nicht überraschend, dass Eltern für ihre Kinder spezifische Entscheidungen treffen, also etwa einen Wohnortwechsel beschließen. Der Entschluss zur Migration ist kein selbstermächtigender Akt vonseiten der Pionier*innen über ihre Kinder, sondern eine elterliche bzw. durch Erwachsene getroffene Entscheidung, mit dem Ziel, der Familie ein besseres, ökonomisch gesichertes Leben ermöglichen zu können. Die tatsächlichen Auswirkungen dieser Entscheidung auf die Kinder können durch die biografischen und generationellen (Nach-)Erzählungen rekonstruiert werden. In der Literatur werden die Subjekte der zweiten Generation in der Logik kulturalisierender Dichotomien beschrieben. Sie werden als »zwischen zwei Welten lebend« (vgl. Aicher-Jakob 2010, S. 15; Yaĝdı 2019, S. 53), als »zwischen zwei Kulturen aufwachsend« (vgl. Atabay 2012, S. 117) oder als sich »zwischen zwei Sprachen befindend« festgeschrieben. Während der vorherigen Generation ein spezifischer aktiver Part, nämlich der des Migrierens, zugesprochen wird, wird die zweite Generation an sich als »zerrissen« (vgl. Aicher-Jakob 2010, S. 131) und ihre Lebensgeschichten aufgrund der Verortung im Ankunfts- und Herkunftsland als durch Konflikte geprägte, »zerrissene Biografien« angenommen. In diesem Sinne suggeriert der Ausdruck »Kofferkinder« eine instabile und brüchige Beziehungskonstellation zwischen den Kindern und Eltern, ohne die kreative Praxis des transnationalen Migrierens sowie der transnationalen Familiennetzwerke, die Voraussetzung für die (Re-)Definition der temporären familialen Bezugsorte waren, zu berücksichtigen. Wenn hier von zweiter Generation die Rede ist, dann nicht in einem ethnisch-zentrierten Verständnis und nicht innerhalb einer diskriminierenden Benennungspraxis (vgl. Hill 2019, S. 33). Das gilt natürlich auch für die Bezeichnungen der ersten und dritten Generation. Die numerische Abfolge der Generationen dient hier vor allem dazu, auszudrücken, dass die Familien sich nicht erst seit Kurzem oder seit gestern in Tirol verorten würden, sondern Teil der Migrationsgesellschaft sind und mit ihren Migrationserfahrungen zur Gestaltung der Vielheit beitragen. Das Problem einer möglichen Homogenisierung sowie Ethnisierung von Migrant*innen durch eine generationelle Einteilung darf nicht verwischt werden, ist hier jedoch nicht beabsichtigt. Vielmehr geht es darum, zu rekonstruieren, wie sich der familiäre Werdegang in Ergänzung zur biografischen Entwicklung gestaltet und schließlich die dritte, die postmigrantische Generation, aus den Erfahrungen der Großeltern- und der Elterngeneration lernt, um – auf dem Weg hin zu einer postmigrantischen Gesellschaft – ihre eigene Vita zu gestalten.

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4.3.3 Die dritte Generation: Die postmigrantische Generation Die dritte Generation bzw. die postmigrantische Generation ist im Gegensatz zu den vorherigen Generationen im Ankunftsort der Großeltern geboren, aufgewachsen und sozialisiert worden, dennoch wird sie mitunter innerhalb einer rigiden dualen Ordnung zwischen »dazugehörig« und »nicht dazugehörig« und der entsprechenden Hierarchisierung fremdgedeutet. Neben der geografischen Verortung (unter anderem) im hiesigen Kontext haben die jungen Erwachsenen der postmigrantischen Generation des Weiteren größtenteils soziale und berufliche Etablierung erwirkt. Trotz ihrer Daseinsberechtigung, die unbestritten sein sollte, und ihres z.B. vielfachen beruflichen Erfolges, lässt sich wiederholt eine weitreichende, in die Biografien hineinwirkende Ambivalenz konstatieren. Diese Ambivalenz besteht darin, als »fremd« tituliert zu werden, aber in Wirklichkeit zur postmigrantischen Gesellschaft zu gehören. Diese beinahe tägliche »Erinnerung« von außen, »nicht oder nur sporadisch Teil der Gemeinschaft« zu sein, kann für die Subjekte verletzend sein. Verschärft werden solche Diskriminierungserfahrungen »des Alltages«, die auf keinen Fall banalisiert oder bagatellisiert werden dürfen, durch rassistische Angriffe, die in den letzten Jahrzehnten, Jahren und Monaten rapide angestiegen sind. Rassistische Angriffe, die rechtsextremen Anschläge, die z.B. durch den NSU verübt wurden, oder rechtsradikale Attentate der Vergangenheit, wie etwa in Hanau, sorgen in der Breite der Gesellschaft und medial für relativ kurzzeitige Empörung und verschwinden recht schnell aus der aktuellen Berichterstattung sowie öffentlichen und politischen Wahrnehmung. Dabei starben und sterben unschuldige Menschen und reißen mit ihrem Ableben große Lücken in die Leben der Angehörigen, Freund*innen und Kolleg*innen. Diese rassistischen und menschenfeindlichen Taten werden gewissermaßen verharmlost, indem sie in den gängigen Diskursen und der öffentlichen Berichterstattung als »fremdenfeindliche Angriffe« bezeichnet werden. Der Begriff »fremdenfeindlich« ist verfehlt, da sich die Angriffe gegen Menschen richten, die keine Fremden sind, sondern (Mehr-)Heimische. Die Menschen, die von den Rechtsradikalen ermordet, angegriffen und verletzt wurden, gehören zum großen Wir dazu. Diese terroristischen Anschläge, die offiziell von (männlichen) Einzeltätern verübt wurden, wären ohne die Aufrechterhaltung rassistischer Strukturen innerhalb der Gesellschaft und das weltweite Vernetzungspotenzial rechtsradikaler Teilnehmer*innen und Sympathisant*innen nicht möglich gewesen. Aus diesen zahlreichen Verstrickungen rechtsradikaler Theorien und Taten ergibt sich die politische und ethische Notwendigkeit, diese Gewalt nicht als »fremdenfeindlich« zu dechiffrieren, sondern klar als rassistisch, im Sinne eines Rassismus (selbstredend) ohne Rassen (vgl. Balibar 1990) zu artikulieren. Zudem gilt es, zu betonen, dass sich die Gewalteskalation gegen Mehrheimische als Mitglieder unserer gemeinsamen Gesellschaft, also gegen uns alle richtet. Die postmigrantische Generation erlebt eine wiederkehrende Lernerfahrung, innerhalb dieser gelernt wird, mit Widersprüchlichkeiten bezüglich einer sich stark unterscheidenden Fremd- und Selbstdeutung/Wahrnehmung umzugehen. Einige von den jungen Erwachsenen möchten nicht auf die Migrationserfahrung der Familie angesprochen werden, wohl aus der Erfahrung heraus, einer reduktionistischen Betrachtungsweise auf die Mehrheimischkeit durch Nichtthematisierung entgegenzuwirken. Andere wiederum möchten darüber reden. Alle Erzähler*innen und/oder Akteur*innen

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haben gemeinsam, dass sie nicht auf die familiale Erfahrungspraxis reduziert werden wollen und selbst entscheiden möchten, wann, mit wem und wie sie über Migration, Generation und Familie sprechen wollen. Postmigrantisch betrachtet, muss der Sprechakt den Erzählenden überlassen werden und damit – auch dies ist Teil und Idee dieser Arbeit – die ersten Deutungen des Gesagten. Eine wichtige Frage ist und bleibt, warum junge Menschen, die vor Ort geboren wurden, aktuell hier leben und sich in die Gemeinschaft miteinbringen (wollen), nicht Teil des nationalen Narrativs sind. Warum sind Menschen, deren Familien nun seit mindestens drei Generationen hier leben, nicht Teil des österreichischen Wir? Warum sind Pflichten, wie das Zahlen der Steuern, bindend, aber Teilhabe und alle öffentlichen Bereiche betreffende Mitbestimmung nicht? Warum dürfen die (Groß-)Eltern hier nicht oder nur auf Gemeindeebene wählen, obwohl der tatsächliche Wahlausgang, die Wahlentscheidung und die Personen, die die Gesellschaft vertreten sollen, auch für sie Regulierungen, Gesetze und Bestimmungen beschließen und somit über sie entscheiden? Solange dominante, dualistische Machtstrukturen aufrechterhalten werden sowie Schlüsselstellen in Politik, Gesellschaft und Elite nicht auch zu gerechten Teilen von Mehrheimischen besetzt werden, ist eine postmigrantische Partizipation eine Farce. Schließlich müssen die »großen« Entscheider*innen gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse auch mehrheimisch sein, denn eine Gruppe, ein Milieu oder eine Gemeinschaft rekrutiert sich selbst. Fördergremien, Fernseh- und Radiosender, Universitäten, Bildungseinrichtungen im Allgemeinen, Gewerkschaften und Vereine benötigen Vielheit und mehrheimische, postmigrantische Mitstreiter*innen. Ähnliches gilt für den Diskurs bzw. die Diskurse. Ein Diskurs ändert sich erst durch neue, noch nicht gehörte, noch nicht sichtbar gemachte Erzählungen von Erzähler*innen, durch bislang ungehörte Stimmen oder ungelesene Botschaften. Es muss Transparenz gefördert werden, sonst wird die Unsichtbarkeit von Migrant*innen und ihren Familien weitergetragen bis hin in die gesellschaftlichen Ränder. Postmigrantisch gedacht, ist es eine Möglichkeit, vom Rand nicht nur zuzuschauen, sondern den Rand zu vergrößern und mitzuwirken. Das Leben der postmigrantischen Generation ist kein Kostümfilm, kein SchwarzWeiß-Film, sondern eine Realität, die in ihrer Buntheit abgebildet werden muss, sodass (endlich) neue Normalitätsvorstellungen in Form innovativer Territorien des Erzählens und Erinnerns kartografiert werden können.

4.4 Die postmigrantische Generation als Erzählende der familialen Migrationsgeschichten Die Angehörigen der postmigrantischen Generation fungieren als Erzählende und zu Teilen auch als Erinnernde der eigenen und der familialen Biografie. Innerhalb des familialen Zusammenlebens nehmen der kommunikative Austausch zwischen den Generationen und das Vermitteln von Erfahrungswissen, veranschaulicht durch Erlebnisse und Anekdoten vonseiten der älteren Familienmitglieder, großen Raum und überdies eine nicht zu unterschätzende Funktion ein. Die Funktion dient primär der Aufrechterhaltung der spezifischen Idee von Familie sowie der Intensivierung des Zugehörigkeitsgefühls der einzelnen Familienmitglieder. Kindern und Jugendlichen werden einzelne

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Familiengeschichten oder Fragmente davon vermittelt. Einige der Erzählungen können auch dogmatisch sein, andere sind z.B. Geschichten des Alltags. In der Regel verfügt jede Familie über mindestens eine Familiennarration, die generationsübergreifende Signifikanz hat, da sie als biografisch einschneidend empfunden wird. Bei mehrheimischen Familien sind das primär, aber nicht einzig, Erzählungen, die mit der Migrationsentscheidung, dem (entbehrungsreichen) Leben im Herkunftsort oder den ersten Erfahrungen im Ankunftsort zusammenhängen. Die Art und Weise, wie in Familien die intergenerationelle Erzählpraxis kommuniziert wird, unterscheidet sich von der meist sachlichen Vermittlungs- und Tradierungsarbeit im schulischen Kontext. Das in der Familie stattfindende Erzählen, Erinnern sowie Vergessen (vgl. A. Assmann 2016) ist durch Banalität und Alltäglichkeit bestimmt und gestaltet sich als etwas Prozesshaftes und Spontanes. Diese Tatsache unterstreicht, wie fluide und auslöschbar Erzählungen sein können, wenn sie nicht wiederholt, verändert und reproduziert werden. Erzählarbeit benötigt demnach sowohl engagierte Erzähler*innen als auch aufmerksame Zuhörer*innen. Die älteren Erzählenden folgen keinem Zeitplan, an dem sie eine bestimmte Narration aus dem Gedächtnis hervorholen, und sie erzählen auch nicht nach vorgefertigtem Skript. Vielmehr werden Erzählungen spontan geteilt, unterschwellig berichtet oder beiläufig in das Gespräch eingebracht. Die Erwachsenen der postmigrantischen Generation kennen viele der Familiengeschichten, die ihnen einst oder kürzlich, meist jedoch mittels einer repetitiven Vorgehensweise weitergeben wurden. Sie nehmen diese erzählten Erinnerungen zur Kenntnis, entscheiden jedoch selbst, inwiefern sie diese Erzählroutinen übernehmen wollen und die Geschichten in ihrem Erzähl- und Erinnerungsrepertoire inkludieren möchten. So zeigt sich wiederholt, dass sich die jungen Menschen mit den Geschichten und nacherzählten Erinnerungen der Familie kritisch auseinandersetzen, sie (um-)deuten und (re-)interpretieren. Sie entscheiden, welche Familiengeschichten auch zu ihren eigenen Narrationen, gewissermaßen zu Selbstartikulationen und Entwürfen des Eigenen werden und welche nicht. Sie konzipieren zudem Formen der Abgrenzung vom Familialen und erfinden neue Definitionsweisen von Familie, Migration, Generation und Biografie. Sie kreieren eigene Formen der Benennung und Selbstbenennung und beschließen, welche Zugehörigkeiten für sie in bestimmten Kontexten Bedeutung haben. Die postmigrantische Generation als Erzählende der familialen Migrationsgeschichte erwirbt zum einen das Vermögen einer ausführlichen, reflektierten Auseinandersetzung mit den familiären Erzählungen, aber auch der Familienkonstellation und dem familialen Konstrukt an sich. Völlig reflektiert ist der Umgang mit dem Familiengedächtnis, der Familienlogik und dem Familiensinn (vgl. Bourdieu 2018, S. 130) aufgrund der eigenen Involviertheit in das Familiengeschehen jedoch selten. Zum anderen geht es in der Erzählung der Familiengeschichte durch die postmigrantische Generation um Politisches und Widerständigkeiten; um die Repräsentation des eigenen Subjektes, aber übergeordnet auch um die politische Außenwirkung der jeweiligen Generation, der »Gruppe« der Mehrheimischen und den Umgang damit. Fokussiert werden auch die verschiedenen politischen Selbstreflexionen und politischen Subjektivierungsprozesse (vgl. Butler 1998) vonseiten der Nachfolgegeneration. Die postmigrantische Subjektivität der dritten Generation entsteht in der Praxis, in Aktion, in der Handlung und muss daher verstanden werden als wesentliche Handlungsmöglich-

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keit, die z.B. einheimischen jungen Erwachsenen nicht in dieser Spezifik und Schattierung zur Verfügung steht. Die postmigrantische Generation macht sich zuweilen eine Art postmigrantische Subversion zu eigen. Sie generiert also Erzählungen über sich, die eigene Lebenswelt und Familie. Sie erzeugt, im Gegensatz zu den vorherigen Generationen, veränderte Sichtweisen auf vieles, allein schon deshalb, da sie anders aufgewachsen ist. Speziell ihre entworfenen Formen der Selbstbenennung können auf Außenstehende bzw. ältere Generationsangehörige irritierend und provozierend wirken. Dabei können innovative Benennungsformen dafür sorgen, dass die jungen Erwachsenen ihren Unmut über die Migrantisierung und Rassifizierung bestimmter Gruppen innerhalb der Gesellschaft laut und offen äußern sowie auf Missstände hinweisen, die unter anderem aus der binären Klassifizierung von Menschen resultieren. Es geht ihnen darum, gehört zu werden, dass ihre Erfahrungen anerkannt und nicht banalisiert werden. Dies funktioniert z.B. durch Aktionen wie »Migrantifa«, für die unter anderem T-Shirts mit eben dieser Aufschrift gedruckt wurden. Migrantifa ist ein Neologismus aus der linkspolitischen Vereinigung Antifa und dem Begriff Migrant*in. Hierbei geht es darum, die immer wieder in breiten Teilen des politischen Spektrums »als zu radikal« in Kritik geratene antifaschistische Vereinigung mit dem »Migrantischen« zu kombinieren, sprich eine hybride Form für eine linke politische Einstellung und eine Zuschreibungsform herzustellen, nämlich Migrant*in zu sein oder einen Migrationshintergrund zu haben. Migrantifa wird zu einem neuen Begriff, der ausdrückt, dass die Mitgliedschaft und die Sympathie für eine Denkhaltung, die als linksgerichtet, migrationsbejahend und postmigrantisch bezeichnet werden kann, positiv und gewinnbringend sei. Ein weiteres Ziel vieler der postmigrantischen Generation ist es, ihre heterogenen Ansichten und Wertvorstellungen einer breiten Öffentlichkeit näherzubringen und ihre gesellschaftliche Relevanz zu unterstreichen. Solche Selbstbenennungen gehen zudem häufig in widerständige (Handlungs-)Praxen und Prozesse der (kollektiven) Politisierung über und fördern dadurch die für Jugendliche und junge Erwachsene notwendigen Formen der (Selbst-)Ermächtigung. Migrantifa kann genauso als ein Beispiel für Politisierung, Selbstorganisation und -ermächtigung sowie zivilgesellschaftliche Anstrengungen gelesen werden. Die für junge Leute zunehmend wichtiger werdenden Möglichkeiten der Vernetzung und Erkenntnisgewinnung durch Podcasts oder Spotify-Formate fördern die Selbstbestimmung, Autonomie und das politische Bewusstsein. Die Namen dieser Medien- und Hörformate lauten etwa »Halbe Katoffl«, »Gute Deutsche«, »Realitäter*innen«, »Rice and Shine« oder »Kanackische Welle«. In der »Halben Katoffl« erzählen junge Mehrheimische ernste, humoristische, widersprüchliche, traurige, schöne oder einschneidende Episoden und Erkenntnisse aus ihrem Leben. Eine junge Frau hebt die Chancen einer bzw. ihrer mehrfachen Zugehörigkeit und Verortung hervor: Du musst dich nicht für eine Seite entscheiden. Da ist keine Wand, die du aufbauen musst, sondern eine Brücke. Das ist was sehr Besonderes, mit dem du viel anfangen kannst! (Wester zit.n. Joung 2020a, o. S.) Eine weitere Erzählerin wiederum macht auf Diskriminierungserfahrungen im öffentlich-amtlichen Raum aufmerksam:

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Meine Herkunft hat nur bei Behördengängen eine Rolle gespielt. Ich habe es gehasst, da hinzugehen. Die haben immer gesagt: »Du. Unterschreiben. Hier.« Da habe ich gemerkt: Ich bin doch nicht von hier. (Doko zit.n. Joung, 2020b, o. S.) Die »Kanackische Welle« kann aufgrund ebendieser Bezeichnung bereits als streitbar, angriffslustig und satirisch betrachtet werden. Nach Malcolm Ohanwe und Marcel Aburakia, Journalisten und Gründer des Podcasts, ist die Kanackische Welle »DER Podcast für Identität im Einwanderungsland Deutschland. Zwei Mal im Monat geht’s um Popkultur, Rassismus, Sexualität, Sport, Musik oder Gender aus einer post-migrantischen Sicht. Leicht verständlich und dennoch wertvoll!« (Aburakia/Ohanwe 2022, o. S.) Die dort angesprochenen Themen sind vielfältig. So wird etwa über die Realität von Polizeigewalt und der rassistischen Praxis des Racial Profiling gesprochen (vgl. Wa Baile et al. 2019). Aber auch Diskussionen rund um Problemstellungen wie Sexismus in migrantischen Gemeinschaften finden ihren Ausdruck, genauso wie das karikierte Verfassen eines »ReiseKnigge für weiße Almans«, wie Aburakia und Ohanwe (2022, o. S.) Deutsche ohne Mobilitätserfahrung nennen. Die eben genannten und auch ähnliche Formate mögen nicht den Geschmack aller Angehörigen der postmigrantischen Generation treffen. Sie zeigen aber auf, dass sich junge Erwachsene Gedanken machen über ihre eigene Biografie, den Migrationsstatus der (Groß-)Eltern, über die von außen erfolgte Festschreibung als Mensch mit Migrationsgeschichte – trotz der hiesigen Sozialisation und Staatsbürger*innenschaft, der Widersprüchlichkeit zwischen Selbst- und Fremdbenennung sowie -verortung und der Positionierung des Subjektes innerhalb der postmigrantischen Gesellschaft. Die postmigrantische Perspektive der dritten Generation macht deutlich, dass ihre kritische Reflexion ein Neu- und Weiterdenken der Familiengeschichten mit sich bringen und ein Umdenken stereotyper Vorstellungen über Migrant*innen und ihre Nachfolgegenerationen forcieren kann.

4.5 Enes: »Je mehr wir studiert haben, je mehr wir gelesen haben, je mehr wir gelernt haben, umso mehr Widerstand wurde geweckt.« Kurzportrait Enes Enes, der sich als Kurde positioniert, ist Anfang 40, hat eine kleine Familie gegründet und lebt mit dieser in einer mittelgroßen Gemeinde in Tirol. Er ist als selbstständiger Tischlermeister tätig, der in seinem Betrieb vor allem mehrheimische junge Menschen ausbildet. Seine komplexen, auch negativen Erfahrungen als mehrheimisches Kind, Jugendlicher und Erwachsener in Tirol bringen ihn dazu, sich in der Lehrlingsausbildung, in Vereinen oder auch im Elternbeirat allgemein für Marginalisierte, unabhängig ihrer Herkunft, Religion, des Geschlechts oder der sozialen Platzierung, einzusetzen. Erzählungen, die seine Ehe betreffen, klammert Enes weitestgehend aus. Er nutzt das biografische Gespräch vielmehr dazu, um seine politischen, sozialen und gesellschaftlichen Forderungen kundzutun.

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Das Interviewsetting Enes und ich lernen uns auf einer Demonstration kennen und kommen ins Gespräch. Ich frage ihn, ob er es sich vorstellen könnte, mir für mein Forschungsprojekt von seinem Leben und seiner Familiengeschichte zu erzählen. Er stimmt zu, wir treffen uns in einem der Vereine, in dem sich der Erzähler engagiert. Enes ist weder eindeutig der zweiten noch der dritten Generation zurechenbar. Dadurch, dass sowohl sein Vater als auch sein Großonkel zeitgleich nach Österreich migrierten – der Großonkel kann als Vertreter der ersten und der Vater gleichzeitig als Angehöriger der ersten und zweiten Generation gelesen werden –, verschwimmen die familiären Generationszugehörigkeiten. Die Familiengeschichte des Protagonisten legt offen, wie uneindeutig Generationen trotz ihrer numerischen Logik sein können. Enes kann je nach Perspektive, der zweiten oder der dritten Generation zugerechnet werden. Er flechtet in seine biografischen Erzählungen familienspezifische Erfahrungen sowie Erinnerungen ein und fungiert damit, obgleich und auch im Sinne der generationellen Uneindeutigkeit, als Erzählender der postmigrantischen Generation. Wir sitzen in einem kleinen Raum im Vereinsgebäude. Durch die Wände sind Stimmen der wenigen Vereinsmitglieder, die sich zeitgleich vor Ort befinden, zu hören. Enes hat den ganzen Tag lang gearbeitet, weshalb er mir in seiner Arbeitskleidung gegenübersitzt. Zu Beginn des Gespräches meint er, er habe so lange Zeit, wie unsere Unterhaltung dauere. Mit fortschreitender Zeit wird der Erzähler ungeduldig, was sich nonverbal äußert. Unser Gespräch ist streckenweise unruhig und hastig. Das liegt vordergründig daran, dass Enes’ Handy, das auf stumm gestaltet ist und am Tisch liegt, im Minutentackt aufleuchtet. Auf dem Display erscheinen laufend Nachrichten. Enes’ Gestik und Mimik verändern sich, sobald eine Nachricht aufpoppt. Er wird, je häufiger Nachrichten erscheinen, zunehmend nervös. Es gibt auch Störungen von außen, so klopft es z.B. an die Tür und Enes wird gefragt, ob hier im Raum ein Feuerlöscher sei. Diese Unterbrechungen erfordern hohe Konzentration, um wieder in das Gesagte einsteigen zu können. Auch der Erzählfluss ist wegen der hastigen Stimmung teilweise abgehakt. Biografische Selbstpositionierung als Überleitung zu politischen Diskursen über Kurd*innen und die Familie Mein Interviewpartner Enes beginnt erzählerisch nicht bei der Geschichte der Großeltern oder Eltern, wie alle anderen Interviewpartner*innen, sondern bei seiner eigenen. Das verwundert nicht, da die eigene Biografie im Fokus des Gespräches steht. Zudem nimmt er seine Lebensgeschichte als Ausgangspunkt, um die Erfahrungen ausgewählter Familienmitglieder punktuell einzuweben. Enes eröffnet wie folgt die biografische Erzählung: Ich bin mittlerweile […] alt und komme aus der Türkei. Ich bin in der Türkei geboren. Ich bin Kurde. Ich komme aus einem Dorf mit 40, 50 Einwohnern. Damals waren es noch mehr Einwohner. Meine Muttersprache ist Kurdisch. Türkisch habe ich in der Schule gelernt. (Zeile 6-8) Die ersten Sätze seiner biografischen Erzählung sind kontextbestimmend für spätere Diskurse, etwa über Machtverhältnisse, Differenz oder Gemeinschaftlichkeit, die im weiteren Gespräch unabwendbar werden. Enes zählt zu Beginn seiner Biogra-

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fiearbeit nicht nur lebensgeschichtliche Eckdaten auf, sondern benennt essenzielle Zugehörigkeiten. Als erste Zugehörigkeit wird die Nationalität benannt. Diese Form der Mitgliedschaft ist jedoch, wie Enes wiederholt verlautbart, nicht in seinem Sinne, weshalb er die Konstrukte Nationalstaat und Nationalitäten wiederholt kritisiert und umdeutet. Die eindeutigen Zugehörigkeiten, die er für sich beschließt, betreffen zum einen die Dorfgemeinschaft und zum anderen die Gruppe der Kurd*innen. Er verortet sich in dem kleinen Dorf, in dem er aufwächst, und bezeichnet sich als Kurde und damit als Teil der größten staatenlosen Ethnie, die rund 30 bis 35 Millionen Menschen umfasst (vgl. Blakemore 2019, o. S.), der jedoch aufgrund kolonialer Praktiken und politischer Repressionen weder territoriales Gebiet noch politische Eigenständigkeit zugestanden wird (vgl. Ludwig 1991, S. 67ff.). Enes spricht von seiner Muttersprache, dem Kurdischen (vgl. Weiss 1991, S. 146), und erklärt, dass er in der Schule Türkisch gelernt habe. Dieser Verweis ist höchstrelevant. Er dient ihm als Überleitung zur familialen Erzählung des Militärputsches im Jahr 1971. Dieser hatte weitreichende Folgen für die Bevölkerung, insbesondere für ethnische, sprachliche, soziale und politische Minderheiten in der Türkei. Von 1969 bis 1971 formierten sich in der Türkei vermehrt studentische und proletarische Bewegungen, riefen zu Streiks auf, besetzten Universitäten und Fabriken. Indessen organisierten sich Bäuer*innen und nahmen (Agrar-)Land ein, Lehrer*innen installierten einen Generalstreik. (Vgl. Bozay et al. 2012, S. 34) Das Aufbegehren in großen Teilen der Bevölkerung, vor allem im linken, proletarischen und liberalen Sektor, bedeutete eine Destabilisierung für die Machtkräfte der Armee, die seit dem ersten Militärputsch im Jahr 1960 (vgl. ebd., S. 30) federführend Einfluss auf die politische Situation vor Ort erwarben. Die Regierung rund um Süleyman Demirel, dem damaligen türkischen Premierminister, wurde durch das Militär zur Abdankung gedrängt. Seine Begründung, anarchistische Strömungen bekämpfen zu wollen, kristallisierte sich als Alibiargument dafür heraus, in Wahrheit die »Zerschlagung der fortschrittlichen Kräfte« (ebd., S. 35) zu intendieren. Dokumentiert sind neben dem Verbot linkspolitischer Organisationen, die als »anarchistisch« subsumiert wurden, zahlreiche Verhaftungen, diverse Menschenrechtsverletzungen und Folterungen politischer Gegner*innen durch das Militär und Paramilitär (vgl. ebd.). Der Militärputsch 1971 als Migrationsgrund – Verflechtungen und Interferenzen zwischen kollektivem und familiärem Gedächtnis Der Militärputsch von 1971 ist bis heute im kollektiven Gedächtnis der Menschen, die in der Türkei leb(t)en oder Bezüge zu Menschen und/oder Orten der Türkei haben, präsent. Wie an diesen und die weiteren Militärputsche gedacht wird, ist nicht zuletzt eine Frage der politischen Positionierung. Die Art des Erinnerns, Erzählens und Gedenkens an den Putsch und seine weitreichenden Auswirkungen auf eine Vielzahl der Bevölkerung sind geprägt durch die Involviertheit der eigenen Familie bzw. der sozialen, politischen Verortungspraxis. Wer sich als links oder liberal definiert respektive auf familiäre (Negativ-)Erfahrungen zurückblicken kann, blickt wütend oder traurig auf diese Historie zurück und zieht, wie Enes, besorgt Parallelen zu heutigen ultranationalistischen, rechtsextremen, faschistischen Tendenzen und Ideologien. In Enes’ (Familien-)Biogra-

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fie zeigen sich Überschneidungen zwischen kollektiver und familiärer Erinnerung an die Vorzeichen des Putsches, den Putsch an sich sowie seine Nachwirkungen. Der Putsch, der weder der erste in der türkischen Geschichte war noch der letzte bleiben sollte (vgl. ebd., S. 38), ist ein historisches Ereignis, das generationsübergreifende Vulnerabilität auslöste und verfestigte. Er war für mehrere Verwandte von Enes einer der ausschlaggebenden Gründe dafür, das Land zu verlassen. Enes’ Vater war bereits ein paar Jahre vor dem Putsch mittels der bilateralen Anwerbeabkommen nach Österreich migriert. Enes erzählt davon, dass es Anfang der 1970er Jahre den Menschen in der Türkei nicht mehr gestattet war, in der Öffentlichkeit Kurdisch sowie andere Erst- und Zweitsprachen, abgesehen von Türkisch, zu sprechen. Die kurdische Sprache umfasst »unterschiedliche Dialekte, welche in die Dialektgruppen Kurmancî (Nordkurdisch), Soranî (Zentralkurdisch) und Südkurdisch« (Schmidt 2021, S. 102) aufgefächert werden.21 Sprachen sind mehr als bloße Verständigung, sie stiften Gemeinschaftsgefühl und sind untrennbar von den Menschen, die sie sprechen. Sprachfreiheit ist ein Grundrecht. Dieses Recht wurde jedoch in der Türkei jahrzehntelang ignoriert und sanktioniert. Das Sprachverbot wurde mittlerweile zwar offiziell aufgehoben, Expert*innen zufolge gibt es sowohl offen artikulierte als auch versteckte Hierarchien der Sprachen. Darüber hinaus ist verfassungsrechtlich nach Art. 42 Abs. 9 Verf TR in türkischen Erziehungs- und Lehranstalten weiterhin verboten, andere Sprachen als Türkisch durch erstsprachlichen Unterricht zu lehren. Unterricht in einer kurdischen Sprache kann nach der geltenden türkischen Verfassung damit in Erziehungs- oder Lehranstalten lediglich in Form von Fremdsprachenunterricht erfolgen. Für den Zeitraum zwischen 1982 und 1991 muss somit von einem generellen gesetzlichen Verbot der kurdischen Sprachen in der Republik Türkei gesprochen werden. Dieses gesetzliche Sprachverbot galt zudem für jede Sprache, die nicht zugleich erste Amtssprache eines von der Republik Türkei anerkannten Staates war. Bezogen auf einen erstsprachlichen Unterricht in Erziehungs- und Lehranstalten unterliegen die kurdischen Sprachen in der Republik Türkei zudem noch heute einem partiellen Sprachverbot. (ebd.) Wie Enes’ Ausführungen zum Sprachenverbot belegen, wurde den Kurd*innen22 nicht nur ihr Recht auf freie, demokratische Verständigung genommen, überdies wurde eine zuvor heterogene Gesellschaft, bestehend aus Mitgliedern mit diverser Herkunft, Sprache, Kultur, Geschichte und Erfahrung, pauschalisiert und homogenisiert. Das Sprachverbot wurde als autokratisches Mittel gegenüber marginalisierten Gruppen genutzt.23 In mehreren Passagen des Interviews werden Enes’ Aversion gegen das Militär, gegen die damalige und heutige politische Situation nebst den Sanktionen gegen Minderheiten und politisch Andersdenkende deutlich. Nie jedoch überträgt Enes sein Ressentiment

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Korrekterweise müsste vom Kurdischen im Plural, sprich von kurdischen Sprachen gesprochen werden. Da Enes’ Bezeichnung für seine Muttersprache Kurdisch lautet, wird die Bezeichnung hier übernommen. Genauso den Armenier*innen. Aktuell kennen wir Sprachverbote, wenngleich mit alternativer Konnotation, aus dem Schulunterricht, in dem Zweit- und Drittsprache der Unterrichtssprache Deutsch untergeordnet werden.

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unreflektiert auf die Zivilgesellschaft vor Ort, sondern bezieht sich in seiner linkspolitischen Kritik bzw. Beanstandung auf die politischen Entscheidungsträger*innen und Machthabenden. Die familiäre Migrationsgeschichte – der Vater und die Verwandten als Pionier*innen im Ankunftsort und zwischen den Orten der Familie Enes führt aus, dass sein Vater fast zwei Jahrzehnte lang allein in Tirol in einem Heim für (männliche) Arbeiter wohnte. Die dort lebenden Männer gestalteten ihr Zusammenleben im Kollektiv, nutzten gemeinschaftlich die Essens- und Schlafräume. Sie agierten wie eine Gemeinschaft, in der sie sich gegenseitig unterstützten. Enes’ Vater half mit seiner Sprachkompetenz. In diesem Heim haben mehrere Kollegen miteinander gelebt. Sie haben die gleiche Küche, das gleiche Bad benutzt und haben die gleichen Zimmer benutzt. Es waren mehrere Leute und sie haben enge soziale Verbindungen miteinander gehabt, weil damals die grundlegenden Bedürfnisse da waren. Sprachlich auch. Weil es für sie relativ schwer war, die Sprache zu lernen. Es haben in diesem Heim, glaube ich, 80 Leute gelebt, und mein Vater war der Einzige, der sich auf Deutsch etwas besser ausdrücken konnte, und er hat immer für sie übersetzt. Und damals hat es auch, so viel ich mich erinnern kann, 88 hat es nur wöchentliche türkische Zeitschriften gegeben. Zeitungen, politische Zeitungen, gab es oft nur monatlich. Und sie hatten auch kein türkisches Fernsehen hier. Alles war auf Deutsch. (Zeile 18-26) Der Vater kam ab und an in die Türkei, um seine Frau und die Kinder zu besuchen. Manchmal schickte er eine Kassette, auf die er eine Nachricht für seine Liebsten gesprochen hatte. Die Kassette wurde von den Zurückgebliebenen ein paar Mal angehört, mit einer Antwort überspielt und an den Vater per Post zurückgeschickt. Diese Form der Kommunikation, die im Kontrast zu Ferngesprächen relativ kostengünstig war, allerdings aufgrund der langen Postwege viel Geduld benötigte, nutzten viele Pionier*innen und ihre Familienmitglieder (vgl. Akkılıç et al. 2016, S. 92). Durch das Anhören der Sprachnachricht wird das geografische Nähe-Distanz-Verhältnis aufgelockert. Das Bespielen und Anhören der Kassetten hilft der Familie, ihre Alltagsnormalität vorübergehend (wieder-)herzustellen. Die geografischen und sozialen Mobilitätsbewegungen des Erzählers Vor und zeitgleich mit Enes’ Vater migrierten nahe Verwandte aus der ersten und zweiten Generation nach Österreich. Je nachdem, wie die Generationsabfolge des gleichzeitigen sowie sich überschneidenden Ankommens gelesen wird, kann Enes der zweiten oder dritten Generation zugedacht werden. In jedem Fall sind seine Erzählungen Ergebnis postmigrantischer Erzähl-, Erinnerungs- und Akteur*innenarbeit. Enes wird, im Gegensatz zu den weiteren Erzähler*innen, nicht in Tirol, sondern in der Türkei geboren. Er ist noch sehr jung, als er gemeinsam mit seiner Mutter und den Geschwistern hierherkommt. Nach wenigen Tagen in der neuen Umgebung muss Enes bereits die hiesige Schule besuchen. Er fühlt sich unvorbereitet auf den unbekannten Schulalltag.

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Ich habe mich in die Schule gehockt, in die Klasse, und habe kein Wort Deutsch sprechen können. Ich musste aufs Klo gehen, aber habe mich nicht getraut, aufzuzeigen, weil ich nicht wusste, was ich sagen soll. Dann habe ich immer gewartet, bis Pause ist, dass ich aufs Klo gehen kann. (Zeile 27-30) Enes beschreibt, dass er rund 1,5 Jahre lang in der Klasse kaum bis gar nicht gesprochen habe. Auf die Fragen seiner Klassenkamerad*innen reagierte er nicht. Er überlegt rückblickend, wie sein Verhalten auf die Kolleg*innen wohl gewirkt habe. »Ich weiß nicht, wie das bei den anderen angekommen ist, dass ich nie geantwortet habe. Vielleicht ist es auch so angekommen, als ob ich nicht mit ihnen reden will« (Zeile 25ff.). Enes charakterisiert den Schulkontext im Besonderen und die Anfangszeit im Allgemeinen als »teilweise gewöhnungsbedürftig« (Zeile 35). Er kennt weder die Logik der hiesigen Bildungseinrichtungen noch sind ihm die Gewohnheiten bekannt, die das Essen oder den Konsum betreffen. Seine Klassenkamerad*innen sind alle jünger als er, da er aufgrund der noch fehlenden Deutschkenntnisse in keine altersentsprechende Schulstufe eingewiesen wird: Das war schon für mich fremd, mit Zweitklässlern in einer Klasse zu sitzen als Fünftklässler. Dort zusammen zu sitzen mit dem Altersunterschied, war komisch. Oder komisch war auch, dass sie Overhead [Overheadprojektor] haben. Ja, das war fremd. (Zeile 441-444) Er beschreibt den einfachen Zugang zu Konsumgütern und die Möglichkeit, jederzeit und jederorts zu konsumieren als »extrem« (Zeile 36). In seinen Erzählungen zeigen sich vor allem das Konträre und Neue, das Enes nun als Kind begegnet, als besonders prägnant. Das Neue wird hierbei mit dem Bekannten verglichen. Er stellt das Dorf, in dem die Bewohner*innen größtenteils autark lebten, dem durch kapitalistische Strukturen geprägten Tirol bzw. Österreich gegenüber. Das Dorf ist eng verschränkt mit der Natur und dem Aufwachsen im behaupteten Einklang mit dieser. Gerade die Betonung der Natur kann als eine Metapher, die die bisherige Kindheit und das Bekannte idealisiert, gelesen werden. Herkunfts- und Ankunftsort unterscheiden sich stark voneinander, was ihn als Kind auch verunsichert, weshalb er an dem Bekannten ein stückweit festhalten möchte. Ein spezielles und kindliches Novum ist für ihn das Fahrrad. An späterer Stelle erzählt Enes begeistert von dem Tag, an dem er sein erstes Fahrrad geschenkt bekommen hat. Es war teilweise gewöhnungsbedürftig hier. Die Essensmöglichkeiten hier. Die waren sehr, sehr stark gewöhnungsbedürftig. Es war extrem. Weil wir aus einem Dorf gekommen sind, aus dem wir alles, außer Öl und Gas, selber produziert haben. Alles. Wir waren direkt in der Natur und dann sind wir in ein modernes, kapitalistisches Land gekommen. In ein Land, in dem man mehr Cola trinkt als Wasser. Das war schon sehr gewöhnungsbedürftig gewesen. Wir hatten auch nicht, also von da, wo wir herkommen, da hat es damals noch keine Fahrräder gegeben. Ich habe dann hier endlich ein Fahrrad gesehen. Nicht? (Zeile 35-41) Enes versichert sich mit dem Einschub »Nicht?« bei mir, ob ich das Gesagte teile, ich reagiere nonverbal durch zustimmendes Nicken und er fährt in seiner Erzählung fort.

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Die Bibliothek als emanzipatorischer Bildungsort Für Enes ist das Lesen in deutscher Sprache der Schlüssel zu deren Aneignung. Mit der Schulklasse besucht er erstmals eine Bibliothek. Der Lehrer nutzt diesen Ausflug, um Enes ein Buch mit dem Hinweis, er solle es unbedingt lesen, nahezulegen. Enes liest das Buch, das er als »sehr dick« (Zeile 47) beschreibt und entdeckt dadurch eine neue Leidenschaft. »Nur durch das Lesen lernt man Deutsch, nicht nur, wenn die Zungen sich treffen!« (Zeile 46f.). Seither erachtet Enes das Lesen als zentrales Instrument, um den sprachlichen Ausdruck und Wortschatz fortlaufend zu verbessern. Büchereien sind emanzipatorische Räume, an denen der Allgemeinheit kulturelles Kapital zugänglich gemacht wird, das ihr ansonsten womöglich in diesem Umfang und Intensität verwehrt bliebe. Die Bibliothek fungiert als Ort, an dem sich der*die interessierte Leser*in weiterbilden und emanzipieren kann. Vor allem einkommensschwächere Leser*innen und Familien profitieren vom Prinzip der kostenlosen bzw. kostengünstigen und frei zugänglichen Sammlungen von Wissens- und Informationsbeständen nebst den Unterhaltungsmedien. Um vom großen Angebot einer Bibliothek schöpfen zu können, muss die Schwelle der Institution, die als antiquiert gilt, überschritten werden. Enes zumindest ist fortan fleißiger Besucher der Bücherei und Abonnent einer österreichischen Wochenzeitschrift. »Der Österreicher bekommt immer die Stelle« und der (Aus-)Weg in die Selbstständigkeit Enes entscheidet sich schließlich dazu, eine 3-jährige Lehre als Tischler zu machen. Als er erfährt, dass jene Lehrlinge mit einem hohen Notendurchschnitt eine Auszeichnung in Form einer monetären Vergütung bekommen würden, ist sein Ehrgeiz geweckt und er zeigt sich als leistungsstark: »[Man hat] damals monatlich fünfhundert Schilling mehr Geld bekommen. Das wurde vom Land gefördert. Mein Ziel war immer, das Geld zu bekommen« (Zeile 66f.). Er schließt seine Lehre mit Auszeichnung ab und beschließt daraufhin, seinen Meister zu machen. Nach der Meisterprüfung bewirbt er sich als Lehrer für Holzhandwerk an einer Berufsschule und rechnet sich aufgrund seiner guten Noten in der Ausbildung und der gesammelten Berufserfahrung reelle Chancen aus. Die Chancen waren relativ groß und wir haben uns zu dritt beworben für eine Stelle. Ich habe viel bessere Noten gehabt als die anderen beiden, aber der Österreicher hat die Stelle bekommen. Der Österreicher bekommt immer die Stelle. Leider Gottes. Ich hinterfrage jetzt nicht so viel. (Zeile 76-79) »Der Österreicher bekommt immer die Stelle« (Zeile 78) ist vielsagend. Diese Aussage resultiert aus dem biografischen Erfahrungs- und Wissensschatz, den sich Enes auf dem Arbeitsmarkt aneignet. Die Erfahrung, dass Österreicher*innen bei gleicher bzw. niedrigerer Qualifikation bevorzugt würden, ist sowohl subjektiv geprägt als auch ein dokumentiertes, individuelles, strukturelles und institutionelles Problem, das rassistische Strukturen und diskriminierende Praktiken innerhalb der Gesellschaft offenlegt. Rassismus ist strukturell verankert und traurige Lebensrealität vieler (post-)migrantischer Subjekte. Umso wichtiger ist es, die Erfahrungen von Erzählenden anzuerkennen und nicht als biografische Sequenz oder als Rechtfertigung für die nicht bekommene Anstellung zu kompromittieren. Enes zeichnet die Erfolgsaussicht auf die Arbeitsstelle »als re-

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lativ groß« (Zeile 76) nach und ist bis heute enttäuscht über die Absage, die er als nicht leistungsbasiert oder gerecht versteht. Die Entscheidung, wer von den Bewerbern (nur männlich) eingestellt wurde, folgte nicht primär dem Leistungs- oder Qualifikationsprinzip, sondern liegt in der Problematisierung von Herkunft und kategorialen Vorstellungen von Differenz begründet. Er deutet mit dem Einsatz »Ich hinterfrage jetzt nicht so viel« (Zeile 79) die Gerechtigkeitsfrage an, formuliert sie jedoch nicht aus. Das Hinterfragen spezifischer Diskriminierungserfahrungen ist gleichzeitig eine Praktik und Haltung, die sich durch das gesamte Gespräch zieht. Der Protagonist nimmt eine widerständige Haltung ein und formiert eine Praktik des Reflektierens und Hinterfragens, indem er despektierliche Erfahrungen, die die eigene oder Familienbiografie betreffen, nebst Diskursen über Migration und Zugehörigkeit als ungerecht, rassistisch oder migrationsfeindlich benennt. In dem Betrieb, in dem Enes seine Lehre absolviert, fühlt er sich sehr wohl. Da das Unternehmen nach Enes’ Abschluss der Meisterprüfung geschlossen wird, arbeitet er für kurze Zeit in einem neuen Betrieb, entscheidet sich jedoch rasch dazu, ein eigenes Unternehmen zu gründen. Den Weg in die Selbstständigkeit wählt er in Ermangelung an Arbeitgeber*innen, die ihn nicht auf seine Familien- bzw. Herkunftsgeschichte reduzieren würden. Er hätte sich zum damaligen Zeitpunkt nicht für die Selbstständigkeit entschieden, wenn er die gewünschte Stelle, die er zuvor zum Thema machte, bekommen hätte. Aus der Retrospektive betrachtet sieht er die selbstständige Beschäftigung jedoch als Gewinn. Ferner ist sie eine wichtige Strategie, um sowohl diskriminierenden Diskursen und Praxen im Arbeitskontext zu entgehen als auch um selbstbestimmt – seit einigen Jahren auch als Chef mehrerer Mitarbeiter*innen, wie er beschreibt – agieren, entscheiden, delegieren und arbeiten zu können. Enes bietet in seinem Tischlereibetrieb Lehrstellen an, die besonders von Lehrlingen aus der (post-)migrantischen Community (vgl. Yıldız/Rotter 2022, S. 405ff.) besetzt werden. Der Protagonist macht sich durch die Entschließung, vor allem Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrations- oder Fluchterfahrung eine Lehrstelle anzubieten, stark für gleiche Zugangschancen im Arbeitsmarkt und für die berufliche Partizipation marginalisierter Akteur*innen und Gruppen. Die Annahme liegt nahe, er reagiere mit der (primären) Adressierung junger mehrheimischer Personen als potenzielle Mitarbeiter*innen in seinem Betrieb auch, jedoch nicht alleinstehend, auf fehlende Chancen in der eigenen frühen Arbeitskarriere. Er stellt Ausbildungsplätze zur Verfügung und ermöglicht/initiiert damit Bildungs- und Ausbildungswege, die er sich selbst schrittweise erkämpfen musste. Für Enes steht zum Zeitpunkt der Betriebsgründung fest, dass das Unternehmen seinen vollen Namen, den Vor- und Schreibnamen tragen wird. Diese Entscheidung, die bei Firmengründungen nicht unüblich ist, wird in seinem familiären und sozialen Umfeld entweder kategorisch abgelehnt (»Poah, warum diesen Namen?«) oder aber kontrovers diskutiert. Dann habe ich beschlossen, dass wenn ich mich selbstständig mache, dann mach ich das mit meinem eigenen Namen. Dann habe ich auf mein Auto riesengroß hinaufgeschrieben »Tischlermeister« und meinen Migrantennamen. Viele haben das kritisiert und haben gesagt: »Poah, warum diesen Namen?« »Man hätte es ja kunterbunt

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machen können«, hat es geheißen. Aber nein, mir war es wichtig, und gerade wegen meinen Erfahrungen wollte ich, dass mein richtiger Name oben steht. Mein Migrantenname. Seit 20 Jahren bin ich nun selbstständig als Tischlermeister. Ich versuche, als Tischlermeister immer wieder gute Leistungen zu bringen, aber leider spüre ich auch, in der Woche sind es ungefähr ein- bis zweimal, dass ich einen schwarzen Kopf habe. Und das, das stecke ich halt weg. (Zeile 86-94) Die Diskussion über die Namensgebung entsteht unter anderem aus den Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen des Umfeldes heraus. Es glaubt nicht, dass sich die einheimischen Kund*innen, mutmaßlich auch aufgrund der großen Konkurrenz im Handwerkssektor, für einen offen als (post-)migrantisch und mehrheimisch artikulierten Gründer entscheiden würden, sondern eher für einheimische, weiße Mitstreiter*innen. In dieser Argumentations- und Denkstruktur wird von einer rassistischen, diskriminierenden Gesellschaft ausgegangen, die als vorurteilsbehaftet vermutet wird. Die ablehnende Haltung bezüglich der Namensgebung offenbart einen Schutzmechanismus, den sich die Diskutant*innen im Laufe ihres Lebens aneigneten. In der Debatte über die Namensgebung spielen vergangene Diskriminierungserfahrungen aufgrund des marginalisierten Namens und die Angst vor neuerlichen Stigmatisierungen mit. Ein weiterer Kritikpunkt begründet sich durch die Mutmaßung, sein »Migrantenname« (Zeile 88) würde weniger Kund*innen anlocken. Selbstständigkeit und Firmengründung sind ein wirtschaftliches Risiko und keine Erfolgsgaranten. In diesem Beispiel gibt es zudem verschärfte Bedingungen in der Firmengründung und -benennung, denn es wird angenommen, dass zusätzlich zur unsicheren Situation einer Geschäftsgründung Kund*innen »einheimische« Tischlerfirmen präferieren würden. Deshalb steht bei Enes’ Umfeld die Befürchtung im Raum, sein Name wäre in einer Gesellschaft, die zwar eine Einwanderungsgesellschaft ist, sich jedoch (größtenteils) nicht als solche versteht, hinderlich. Diese biografische Situation wird demnach, selbst von mehrheimischen Subjekten, entlang der gesellschaftlichen Streitachsen Migration und folglich auch (Nicht-)Zugehörigkeit durch Mobilitätsbewegungen diskutiert. Die familiäre Migrationserfahrung würde durch die offene Artikulation des Namens sichtbar werden und dies könne einen ökonomischen Verlust oder sozialen Schaden bedeuten. Die Debatte über Namensgebung und die Konnotation mehrsprachiger und mehrheimischer Namen darf nicht losgelöst vom geografischen Kontext geführt werden. Innsbruck ist stark durch Diversität geprägt, gleichwohl wird die Stadt weitaus weniger mit Vielheit in Verbindung gebracht, wie es in einer Metropole wie Wien der Fall wäre. Möglicherweise erfolgt hierneben eine Unterstellung, dass die Anwohner*innen, die die Dienste eines*einer Tischler*in in Anspruch nehmen würden, nach Herkunft und Erstsprache und nicht nach Kompetenz, Qualifikation, Empfehlungen oder OnlineBewertungen auswählen würden. Faktisch erfahren Mehrheimische häufig Ungleichheitsbehandlungen aufgrund des Namens (vgl. Verein ZARA – Zivilcourage & Anti-Rassismus-Arbeit 2021, S. 55), etwa bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche bzw. im Bildungskontext. Die Angst vor Ablehnung einer bestimmten Klientel, die Mobilitätsbewegungen skandalisiert, kann daher als real eingestuft werden. Umso bedeutender ist es, Sichtbarkeit bezüglich mehrheimischer Tätigkeit zu schaffen und nicht in der gesellschaftlichen Nische oder am Rand des Ar-

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beitsmarktes zu bleiben, wie von antiquierten Positionen gegenüber Mehrheimischen weiterhin vorgesehen. Ziel ist es, die gesellschaftliche Manifestation vielfältiger, pluraler Lebensrealitäten zu generieren. Das macht Enes, indem er bewusst und möglichen Nachteilen zum Trotz seinen Namen verwendet. Er widersetzt sich damit den Meinungen, Sorgen und Befürchtungen aus seiner Mitwelt. Deren Äußerungen sorgen, wenngleich unbeabsichtigt, für eine Relativierung seiner beruflichen Person und auch der Expertise, die er sich in der Ausbildung und der bestandenen Meisterprüfung angeeignet hat, deshalb ist es essenziell, dass Enes mit der Nennung seines Namens als Firmenbezeichnung einen Normalisierungsprozess einleitet. Wenn er oder seine Mitarbeiter*innen in den Firmenautos, auf denen groß sein Vor- und Nachname geschrieben stehen, durch die Stadt fahren, entsteht eine spezifische Außenwirkung, die Repräsentation befördert. Sichtbarkeit als mehrheimischer Tischler und Unternehmer, als Unternehmen sowie als Teil einer postmigrantischen Community bzw. Gesellschaft. Durch die bedingungslose Nennung seines sogenannten »Migrantennamens« positioniert sich Enes als durch die Erfahrung der Migration geprägtes Subjekt. Die familiäre Erfahrung der Migration wird als essenzielle, – an späterer Stelle ist die Zugehörigkeit zum Arbeiter*innenmilieu relevant – jedoch nicht als einzige Kategorie hervorgehoben, die seine Biografie bedingt. Sein Bekenntnis zur biografischen und familialen Migrationsgeschichte wirkt empowernd und ist Vorbildfunktion für mehrheimische Personen, die über die Hierarchisierung von Vor- und Nachnamen wissen, diese aber als persönlichkeitskonstituierend verstehen und ihn deswegen auch offen verwenden möchten. Enes erklärt, dass er »ungefähr ein- bis zweimal [in der Woche erfahre, dass er], einen schwarzen Kopf habe« (Zeile 94). »Einen schwarzen Kopf haben« umschreibt rassistische Anrufungen, die Enes in der Ausübung seines Berufes erfährt. Auf die konkreten Erfahrungen geht er nicht näher ein, sondern beschreibt stattdessen, dass er immer wieder versuche, mit seinen Tischlerarbeiten gute Leistungen zu bringen. Die Positionierung als Vorkämpfer und Macher für die mehrheimische Community und die linke Arbeiter*innenschaft Enes nutzt das Gespräch mit mir, um sich als »Macher« und Kämpfer gegenüber Ungleichheitserfahrungen und ungleicher Machtverteilung zu positionieren und sein zivilgesellschaftliches, soziales Anliegen und politisches Engagement einer größeren, akademischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Private Fragen, die seine eigene Kleinfamilie betreffen, beantwortet er weniger gern. Die Zuschreibung, ein »Macher« zu sein, beschreibt die engagierte, involvierte, intensive, zeitlich aufwändige Tätigkeit und intrinsische Motivation, die seine Mitarbeit in den verschiedenen Kulturvereinen und selbstorganisierten Migrant*innenvereinen bedeutet. Seine Mitarbeit, die z.B. die Dokumentation von rassistischen Überfällen in Tirol umfasst oder die Organisation von Veranstaltungen, Demonstrationen oder Kundgebungen impliziert, wird nicht vergütet. Er bringt sein Engagement neben seiner Erwerbsarbeit und Familienarbeit ein. Enes hat einen umfassenden Gerechtigkeitssinn. Er kennt die Stereotype und Vorurteile über Migrant*innen und übt sich im politischen Diskurs. Dazu recherchiert er in seiner Freizeit, liest akademische Publikationen, bildet sich durch Fortbildungen und informelle Lernsettings laufend weiter.

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Für mich ist Österreich ein Migrantenland. Die Migranten sind ein starker Anteil vom Volk hier. Mir ist wichtig, dass sie hier auch ihre Rechte bekommen und ihre Pflichten erfüllen, denn man hat 40 Jahre lang versäumt, Migranten miteinzubeziehen. Max Frisch sagt: »Wir haben Arbeitskräfte gerufen, es sind Menschen gekommen!« Man hat aber nie gesehen, dass sie Menschen sind. Man hat sie nur als Arbeitskraft gesehen, […] diese Politiker, egal ob das Sozialdemokraten, Schwarze oder Blaue waren. Die Blauen sind noch schlimmer! Sie wollten uns einfach unter dem Namen Integration assimilieren. Und diese Assimilation zu verhindern, finde ich, sollte man. (Zeile 96-102) Seine Überzeugung, sich für marginalisierte Menschen und Positionen im »Migrantenland Österreich« einzusetzen, ist bedingt durch Ungleichheitserfahrungen, die Familienangehörige, Bekannte, aber auch er selber vor Ort erlebten. Enes denkt hierbei vor allem an die erste Generation und ihre Reduktion als Arbeitskraft. Diese machtvolle Form der Herabsetzung auf den Arbeitskontext wirke bis in die Gegenwart hinein: »Man hat aber nie gesehen, dass sie Menschen sind« (Zeile 99). Gerade die Tatsache, dass Mehrheimische einen quantitativ großen Anteil der postmigrantischen Bevölkerung einnehmen, jedoch politisch »übersehen« werden, sobald es um die essenzielle Anerkennung von Rechten, etwa dem staatsbürgerschaftsunabhängigen Wahlrecht bei Nationalratswahlen geht, untermauert seine Entscheidung, für die Community einzustehen. Man habe, so Enes, 4 Jahrzehnte lang versäumt, Migrant*innen in gesellschaftliche Prozesse miteinzubeziehen, unabhängig davon, welche politische Partei regierte. Vor allem den sogenannten Blauen, also der FPÖ, der Freiheitlichen Partei Österreichs, schreibt der Erzähler zu, Migrant*innen unter dem Deckmantel der Integration assimilieren zu wollen. Integration wird mit Anpassung gleichgesetzt. Sein Anspruch lautet daher, Assimilationsprozesse durch Bildungsarbeit, politische und kulturelle Arbeit zu verhindern und einen Paradigmenwechsel zu forcieren, in dem Akzeptanz auch von Mehrheimischen eingefordert und erhalten wird: »Wenn ich irgendeinen Migrantennamen habe, heißt das nicht, dass ich ein Franz werden soll. Dass ich auch akzeptiert werde, ist wichtig« (Zeile 104f.). Enes beschreibt konkrete biografische und kollektive Diskriminierungen sowie Ausschlussmechanismen, die unter Ungleichheits- und Ungerechtigkeitserfahrungen subsumiert werden können. Besonders stark beschäftigt ihn die Tatsache, wie schwer das Konzept der Staatsbürgerschaft im Alltag vieler Mehrheimischer wiege. Wer österreichische*r Staatsbürger*in sei, werde am Wohnungs- oder Arbeitsmarkt sukzessiv jenen Menschen gegenüber bevorzugt, die genauso den Lebensmittelpunkt vor Ort haben, aber eine andere staatsbürgerliche Zugehörigkeit besitzen. Auch politische Partizipation werde Mehrheimischen wiederkehrend erschwert, wenngleich die Vorstellung, »Es soll einfach jeder in dem Land wählen, in dem er oder sie wohnt« (Dormal 2016, S. 378), aufgrund des hohen Anteils an verschiedenen Staatsbürgerschaften »intuitive Plausibilität« (ebd.) abbilde. […] dass diese Migranten einfach, weil sie keine Staatsbürgerschaft haben, nicht wählen dürfen. Und da habe ich mir gedacht, man muss dagegen was machen und so. Und für mich war sehr wichtig, weil es einfach an diesem Punkt anfängt, das Miteinanderleben. Dass wir auch als Migranten unsere Vertreter aus unserem Kreis wählen kön-

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nen, dass wir unsere politischen Vertreter aus unserem Kreis wählen dürfen. Nicht, dass wir einfach irgendwo eingeschoben werden. Und leider bin ich damals darauf gekommen, dass man, wenn man keine Staatsbürgerschaft hat, auch wenn man viele viele viele Steuern zahlt, nicht mal ein Grundstück besitzen darf, nicht mal eine Wohnung besitzen darf. Auch wenn man Steuerzahler ist in Tirol, und das sind Ungerechtigkeiten, bei denen ich sage, das geht nicht. Ich habe es mir zur Pflicht gemacht, dass ich dagegen kämpfe. (Zeile 116-124) Die Teilnahme an Gemeindewahlen ist, sofern die Bewohner*innen mindestens über einen Hauptwohnsitz vor Ort verfügen und eine bestimmte Mindestzeit vor Ort wohnen, prinzipiell möglich. Ein gleichberechtigtes Mitwirken an (national-)politischen Entscheidungen durch passives und aktives Wahlrecht ist stark reglementiert und damit auch limitiert. Dadurch, dass die Mitbestimmung über wichtige Beschlüsse vielfach auf der nationalen Ebene entschieden werden, werden Diskrepanzen zwischen mehrheimisch und einheimisch Gelesenen produziert und reproduziert. Die Kritik an einem politischen System, das Benachteiligung erzeugt, ist nachvollziehbar, schließlich ist es höchstselektiv, was Zugangschancen und Partizipationsmöglichkeiten der einzelnen Gesellschaftsmitglieder betrifft. Auch hinsichtlich der diversen Staatsbürgerschaften und den damit einhergehenden Möglichkeiten, die etwa Reisefreiheiten betreffen, gibt es große Divergenzen. Menschen mit europäischen Staatsbürgerschaften werden in bürokratischen, politischen, arbeitsrechtlichen Prozessen gegenüber Menschen, die unter anderem aus Drittstaaten stammen, eindeutig bevorteilt. Es gibt unzweifelhaft Asymmetrien innerhalb der Staatsbürgerschaften. Der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft, der mit monetären und sozialen Hürden, aber auch Zeitfristen verbunden ist, bedeutet zudem die Aufgabe der bisherigen staatlichen Angehörigkeit. Es ist eine Entweder-oder-Entscheidung, die Mehrheimische treffen müssen und die sich in der Abgabe der vorherigen Staatsbürgerschaft zugunsten der »neuen« Staatsbürgerschaft ausdrückt. Wer nicht in sämtliche Bürgerrechte einbezogen wird, erfährt eine deutlich schwerere Adressierbarkeit etwa durch politische Entscheidungsträger*innen. Umso wichtiger ist der Part, den Enes in der Vereinsarbeit einnimmt. Er sieht sich dazu verpflichtet, vor allem die reale Ungleichheit, dass Mehrheimische, die seit Generationen vor Ort sind, hier arbeiten, Steuern bezahlen und dennoch von spezifischen Momenten der Mitentscheidung exkludiert werden, zu entlarven. Diese Offenlegung erfolgt durch gezielte, mehrsprachige Informationsvermittlung. Daneben versucht Enes auch, aufzuzeigen, wie Mitsprache gelingen kann, z.B. als Mitglied im Elternbeirat in der Schule der Kinder. Enes engagiert sich dort. Die Bekämpfung gesellschaftlicher und struktureller Ungleichheiten durch linke Bildungsarbeit Der Erzähler reagiert fortlaufend auf Schieflagen in der postmigrantischen Gesellschaft, indem er an gemeinschaftlichen Aktionen teilnimmt, politische Handlungen anstrebt, aber auch spezifische Haltungen kundtut. Diese Praktiken des Widerstandes fußen auf einem links-ideologischen Gerüst, spezifischer einer sozialen Verortung in einem kon-

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struierten linksgerichteten Arbeiter*innenmilieu und einem proletarischen Klassenbewusstsein (Strobl 2021, S. 9). Rassismusbekämpfungsarbeit und die Dokumentation davon, da bin ich dabei. Sowie Rote Hilfe. Weil dieser Rassismus, den wir tagtäglich erleben, oder den viele von uns erleben, viele können es auf Deutsch einfach nicht so gut ausdrücken. Wenn die Polizisten sie aufhalten, weil sie Sprachbarriere haben. Rassismus und Diskriminierung können wir nur bekämpfen innerhalb der Arbeiterklasse, mit der Geschwisterlichkeit. Ich sage bewusst Geschwisterlichkeit und nicht Bürgerlichkeit, weil sehr viel wird auch in Österreich, wenn wir in einem kapitalistischen Land leben, haben Frauen vorm Gesetz, in der Gesellschaft viele Nachteile. Wenn ich nur heute schaue, auch dass man was dazu sagt, wenn eine Frau, die gleiche Arbeit macht wie ein Mann, verdient sie in Tirol 27 Prozent weniger Geld. Und das finde ich, ist ein geschlechtlicher Nachteil. Ein sehr starker. Und das gehört auch bekämpft. Wir Migranten haben schon viel mehr Probleme als Österreicher. Aber wir können, wenn wir uns innerhalb der Arbeiterklasse innerhalb dieser Bündnisse organisieren, können wir diese Probleme bekämpfen. Weil das ist der gemeinsame Nenner von uns. Dass wir uns gegen Ungerechtigkeit miteinander bewegen. Bei den Betriebsräten und bei den Gewerkschaftsarbeiten, bei der Arbeiterkammer und überall. (Zeile 128-141) Enes spricht vom Bekämpfen gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten. Seine politischen Kämpfe richten sich vor allem gegen strukturell erzeugte Ungleichheitsbehandlungen. Darüber hinaus dechiffriert er Ungleichheitserfahrungen in seinen diversen Ausprägungen, die spezifisch Geflüchtete oder Frauen anbelangen und markiert in puncto Bezahlung bei weiblichen Arbeitnehmerinnen einen »geschlechtlichen Nachteil« (Zeile 136). Seine Ausführungen lassen sich als eine intersektionale Kritik an bestehenden Herrschafts- und Machtverhältnissen lesen. Spannend ist der mögliche Ausweg aus den Ungerechtigkeiten, den Enes nachzeichnet. Sie könnten durch den Zusammenschluss Marginalisierter innerhalb einer linken »Arbeiterklasse« behoben – nicht nur minimiert – werden. Die Verortung im Arbeiter*innenmilieu sei der gemeinsame Nenner, der dazu genutzt werden müsse, um im Kollektiv voranzukommen, sich »miteinander [zu] bewegen« (Zeile 611) und dadurch soziale, politische, ökonomische Aufstiegsmobilität zu erwirken. Die bestehenden Machtachsen in der Arbeiter*innenklasse und der Community, nämlich die institutionelle Positionierung durch die Arbeiterkammer oder Gewerkschaften, dienten dazu, Gerechtigkeit zu lancieren. Ein weiterer Weg heraus aus der fatalen Ungleichheit zwischen Mehr- und Einheimischen sei konkrete Bildungsarbeit, die vom Protagonisten als politisch verstanden wird. Enes inszeniert sich als Interessensvertreter seiner Gemeinschaft und gestaltet damit auch das Interview als Teilelement eines größeren politischen Kampfes. Das Gespräch dient dem Erzähler als Plattform, um seine politische Agenda zu transportieren. Es erfolgt eine Positionierung als politisch Involvierter und Marginalisierter aufgrund der Migrationserfahrung. Wenn Enes sowohl seine Kritik als auch seine Forderungen formuliert, spricht er mich als Teil der Mehrheits- bzw. Dominanzgesellschaft an. Enes erzählt, dass der größte Anteil der Wähler*innenschaft des Stadtteils, in dem wir gerade sprechen, die rechte FPÖ gewählt habe. Dass Menschen, die dem Arbeiter*in-

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nenmilieu (das weitaus diverser ist, als Enes es beschreibt), zugerechnet werden können, sich durch rechte Parteipolitik angesprochen fühlen (können), ist für Enes kaum nachvollziehbar (vgl. dazu Eribon 2020). Dominante Familienerzählungen und -erinnerungen bezüglich des Vaters Die dominanten Narrationen sind durch politische Erzählungen und Diskurse geprägt. Biografische und familiäre Erinnerungen werden situativ in das Gespräch eingespeist. So schiebt er eine Randbemerkung zu seiner Schwester ein, die studiert hat und sehr bildungsaffin sei. Eine wichtige Erzählung, die großen Raum einnimmt, handelt von der Totenfeier des Vaters. Sein Vater starb vor wenigen Jahren. Damals trafen sich rund 500 Menschen, um Abschied vom Verstorbenen zu nehmen, der ähnlich wie sein Sohn sehr gesellig und kommunikativ war. Enes geht nicht genauer auf den Tod seines Vaters ein und verzichtet auf das Beschreiben seiner Empfindungen. Stattdessen unterstreicht er, dass die Gemeinschaft, die sich aus den Vereinsmitgliedern, den Bekannten, Freund*innen und der Religionsgemeinschaft ergibt, die Familie in ihrem Trauerprozess begleitet hätten: Und wir als Familie haben fast gar nicht arbeiten brauchen, das haben alle in unserem Bekanntenkreis gemacht. Das ist einfach eine Tradition bei uns, dass wir uns gegenseitig unterstützen, weil das ist ein Trauertag. (Zeile 154-156) Er fügt direkt hinzu, dass er genauso bei der Mitorganisation der Bestattung von Menschen aus der Dorf- und Vereinsgemeinschaft helfen würde. Diese Form der Unterstützung ist für ihn gleichzeitig eine Pflicht und Selbstverständlichkeit, die aus dem Zusammenleben resultiert und dabei helfen könne, »Sorgen (zu) überwinden« (Zeile 159f.). Enes erzählt, dass sein Vater Zeit seines Lebens festgelegt hatte, dass er nach seinem Tod in der Türkei beerdigt werden wolle. Der Wunsch des Vaters, nach wenigen Jahren der Arbeit in den Herkunftsort zurückzukehren, erfüllte sich bekanntermaßen nicht. Umso wichtiger ist es für Enes und seine Familie, nun die Rückführung des Toten zu ermöglichen. Damit endet die Mobilität des Vaters dort, wo sie vor vielen Jahrzehnten begonnen hat. Auch die Mutter, die bei Enes und seiner Kleinfamilie wohnt, verfolgt diesen Impetus. […] mein Vater hat immer gesagt: Wenn er mal stirbt, das gilt auch für meine Mutter jetzt, wir haben das auch ausgeführt, er will dort beerdigt werden, wo er auf die Welt gekommen ist. Wenn er in die Erde fließt, dann soll es diese Erde sein, auf die er das erste Mal getreten ist. (Zeile 162-164) Die kurzen Erzählungen über sich und seine Familie werden wiederholt durch politische Positionierungen und Aussagen ergänzt. Der Erzähler fällt immer wieder in den politischen Diskurs zurück und schiebt familiäre Erzählungen lediglich als Nebensätze oder kurze Erläuterungen ein. Ich frage nach, warum und wie der Vater als Pionier nach Tirol gekommen sei. Enes berichtet, der Vater habe im Radio von den bilateralen Anwerbeabkommen erfahren, und kontextualisiert: »Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Wiederaufbau Europas, und sie sagten, dass sie Arbeitskräfte brauchen« (Zeile 191). Enes erzählt, dass sein Vater eine »Prozedur hat hinter sich bringen müssen« (Zeile 192), um nach Österreich migrieren

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zu können. Diese bestand aus bürokratischen und gesundheitlichen Untersuchungen, die im weit entfernten Istanbul durchgeführt wurden. Dort wurden unter anderem sein Körper genauestens inspiziert und seine Zähne kontrolliert (vgl. Kollender/Kourabas 2020, S. 90). Nachdem die Angestellten der Behörde seinen Gesundheitszustand für »gut« befunden hatten, wurde er einem Unternehmen in Tirol zugeordnet. Die medizinischen Kontrollen stellen einen körperlichen Akt der Verdinglichung dar, in denen der Körper entindividualisiert und das Subjekt entmenschlicht wird. Nach der Bestätigung, er dürfe für den befristeten Zeitraum eines knapp halben Jahres in Österreich nach dem Rotationsprinzip arbeiten, musste er umgehend den Zug dorthin nehmen. Es blieb keine Zeit, sich von der Familie zu verabschieden. Das halbe Jahr war sehr arbeitsintensiv und beschwerlich. Der Arbeitsvertrag wurde zuerst einmalig verlängert, und schließlich zogen die Jahre ins Land, sodass er 18 Jahre lang allein vor Ort in der kleinen Gemeinde wohnte, in der er Jahrzehnte später verstarb: »Ich habe mal meinen Vater gefragt, wie das damals war und warum er nicht zurückgekommen ist. Er hat gesagt, es hat 18 Jahre lang gedauert, bis er seinen Koffer ausgepackt hat« (Zeile 206ff.). Enes Vater wollte nur für ein halbes Jahr in Tirol bleiben, Geld verdienen und sparen. Aber dieser Zeitraum wurde immer weiter ausdividiert und eine potenzielle Heimkehr wurde sukzessive nach hinten geschoben. Aufgrund der politischen Lage in der Türkei der 19070er und 1980er Jahre sowie der systematischen Verfolgung von Kurd*innen und Andersdenkenden fiel 18 Jahre nach Ankunft der Entschluss, die Familie nachzuholen. Enes verweist darauf, dass er viele Leute kenne, denen es ähnlich ergangen war wie seinem Vater. Demnach schritt die Zeit voran und die Pionier*innen blieben. Obwohl sich ihr Alltagsleben vor Ort abspielt(e), wurden die Verbindungen in den Herkunftsort aufrechterhalten. Es wurden, vor allem auch für die finanzielle Absicherung der nächsten Generationen, Immobilien oder Landstücke gekauft. So konnte Enes’ Vater einen hybriden transnationalen Wohlstand erwirken, ausgelöst durch die in der Türkei niedrigeren Immobilienpreise: »Man hat mir immer gesagt: ›Unsere Heimat ist da, wo unser Bauch voll wird.‹ Und danach sind viele einfach hiergeblieben. Nicht? Dageblieben« (Zeile 222-224). Innerhalb von Familien entstehen laufend neue Räume, oftmals auch prekäre. Prekär sind sie unter anderem dann, wenn sie zu ungleicher Verteilung von Aufgaben und Verantwortung beitragen. Anlässlich der geografischen Distanz bekamen die familiären Räume und die dortigen Protagonist*innen eine spezifische Bewandtnis, wodurch Enes’ Mutter die täglichen Care-Aufgaben übernahm und der Vater die ökonomische Sorgepflicht trug. Fraglich ist, ob diese Aufteilung von vornherein gewünscht, geschweige denn »gerecht« bzw. ausbalanciert war. Dominante Familienerzählungen und -erinnerungen bezüglich der Mutter Das Leben der Mutter wird als armselig beschrieben. Sie war Mutter von sieben Kindern, wovon zwei jedoch unmittelbar nach der Geburt verstorben sind. Sie habe sich 18 Jahre lang fast ausschließlich allein um die Kinder gekümmert. Die Mutter gebar die Kinder, wie es in der Dorfgemeinschaft üblich war, mit Unterstützung der Nachbarinnen (weiblich) im Dorf und nicht im Krankenhaus, das weit entfernt lag und daher schwer erreichbar war. Aufgrund von Komplikationen musste sie bei ihrer letzten Entbindung

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jedoch ins Krankenhaus gebracht werden. Die Art und Weise, in der Enes die Situation der Mutter und damit auch den Verlust von den Geschwistern nachzeichnet, unterscheidet sich von bisherigen Ausführungen durch eine erhöhte Emotionalität und innerfamiliäre Involviertheit. Diese nacherzählten Erinnerungen, deren Protagonistin die Mutter als starke Akteurin sowie empathische Kümmerin und Sorgende ist, berühren ihn merklich. Enes glaubt, dass die »Lebensart von unten im Dorf« (Zeile 289), die als prekärer und bäuerlich geprägter (Über-)Lebensstandard übersetzt werden kann, die gesundheitliche Versorgung erschwert und die Überlebenschancen der Neugeborenen minimiert habe. Enes’ Familie ist alevitisch geprägt, er selbst bezeichnet sich als nicht religiös. Dennoch ist es ihm wichtig, zu betonen, dass bei den Alevit*innen Frauen und Männer gleichgestellt seien, und er meint damit unter anderem die Aufteilung der Arbeiten, die für die Versorgung der Familienmitglieder entscheidend sind: Wenn der Mann aufs Feld geht, macht die Frau Zuhause die ganze Arbeit. Und ich denke, das war für meine Mutter hart. Sie war 18 Jahre lang ganz alleine, musste aufs Feld, Zuhause die Arbeit machen und dann noch die Kinder. (Zeile 294-296) In dieser sogenannten Arbeitsteilung, die Enes idealtypisch rekonstruiert, werden geschlechtliche Zuschreibungen hinsichtlich der Tätigkeiten, die als entweder weiblich oder männlich klassifiziert werden, nicht aufgebrochen. Enes möchte mit dieser Einordnung vorrangig exemplifizieren, dass die Mutter alle dieser Arbeiten, die im Alltag anstanden, erledigen musste. Dabei ist er sich sicher, dass sie »die Umstände so akzeptieren [musste]« (Zeile 305) und »mitgespielt« (Zeile 307) habe. Die benannten Umstände umfassen primär die sozioökonomische Lage im Dorf, die dazu führte, dass der Vater migrierte. Der Erzähler möchte den Vater nicht als alleinigen Entscheidungsträger und Verantwortlichen für die mütterliche und familiäre Situation wissen, weswegen er erklärt, dass die Mutter diese Entscheidung des Migrierens mitentschieden und mitgetragen habe: Sie hat gesagt, sie regelt das dort und er macht das hier. Das hat sicher auch deshalb so lange gedauert, dass mein Vater den Koffer nicht ausgepackt hat, weil er wollte irgendwann ja mal zurückgehen. (Zeile 310-312) An späterer Stelle des Gespräches spricht Enes erneut die harten Bedingungen der zurückgebliebenen Familie im Herkunftsort und nachdrücklich die Situation der Mutter als Alleinerziehende an, ohne jedoch die besonderen »Umstände« im Sinne einer rechtfertigenden Argumentation auszusparen: »Ja, die Umstände damals waren einfach so. Ja, es war sicher auch nicht ganz richtig und nicht fein für meine Mutter« (Zeile 321f.). Die gewählten Formulierungen »Nicht ganz richtig« und »nicht fein« relativieren in erster Linie die komplexen Alltags- und Lebensrealitäten der Mutter und vereinfachen ferner die Komplexität der Migrationsentscheidung und Situation nach der Migration aus Sicht des Vaters. Enes’ vorsichtigen Stellungnahmen bezüglich der elterlichen Biografie lassen sich als Versuch lesen, beiden Elternteilen in seiner biografischen Erzählarbeit gerecht zu werden.

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Die Konstruktion des (Herkunfts-)Dorfes als Gemeinschaft in Gegenüberstellung zum kapitalistischen Ankunftsort Nachdem auch die restliche Familie nach Tirol migriert war, ist Enes von dem neuen Umfeld überwältigt. So seien die Möglichkeiten vor Ort groß, die Zwischenmenschlichkeit vermisse er jedoch. Innsbruck und Tirol stellen sich für Enes als kapitalistische Möglichkeitsräume dar, die viele Kaufoptionen beinhalten. Diese beeindrucken ihn zwar, aber als er die Hypothese der Wahlmöglichkeit zwischen damaligem Migrieren und Nicht-Migrieren aufstellt, ist die Antwort eindeutig: »Das waren schon Möglichkeiten, aber wenn ich vergleiche, ich wäre damals lieber dort gewesen« (Zeile 340f.). Er differenziert zwischen der Gemeinschaft im Herkunfts- und Ankunftskontext und emotionalisiert diese unterschiedlich. Das Miteinander war ganz anders. Ich meine, wenn mal jemand krank war im Dorf, hat das ganze Dorf ihm geholfen, seine Felder zu bestellen, weil die Ernte wichtig war. Oder mein Bruder war mal krank und die Straße war zu. Sie haben den Weg mit Schaufeln vier Kilometer lang freigemacht, damit er in die Klinik kommt. Das sind halt andere Werte. Das sind die Werte, die wir mit heraufgenommen haben. Das ist einfach der Unterschied, gel? (Zeile 343-347) Enes vergleicht hier die Dorfgemeinschaft, die aufgrund ihrer Größe, aber auch der geografischen Abgeschiedenheit zu der nächsten Stadt hin eher familial konstruiert sein kann, mit einem größeren Kollektiv, nämlich der Ankunftsgesellschaft. Hier werden zwei Konstrukte verglichen, die weder deckungsgleich sind noch die gleichen Emotionen seitens des Erzählers auslösen. Daher ist für ihn und seine Kernfamilie der Kontakt zu Kurd*innen, die auch migriert sind, essenziell (vgl. Schmidinger 2019, S. 275). Für Enes werden Zugehörigkeit und Gemeinschaft wesentlich durch das Sprechen einer gemeinsamen Erstsprache, die mit dem Dorf assoziiert wird, vermittelt. Wir haben immer viel Besuch gehabt, wir haben ein großes soziales Umfeld und wir waren immer froh, wenn Leute vorbeikamen, die Kurdisch können, weil wir unsere Wurzeln angesprochen gefühlt haben. Oder wenn ich mit jemandem rede, der Kurdisch kann, da fühle ich mich verbunden. Früher, da habe ich mich so gefühlt, als ob ich in meinem Dorf bin, weil der andere meine Sprache spricht. (Zeile 334-338) Um das Dorf gleichzeitig als Familienort und Ort der Sozialisation hervorzuheben, nutzt er zwei Kategorien, die die normative Unterscheidung zwischen Herkunfts- und Ankunftsort aufzeigen sollen. Die erste Kategorie, der Kapitalismus, wird der Stadt(Gesellschaft) Innsbruck und Umgebung zugeordnet, die Gemeinschaftlichkeit als zweite Kategorie hingegen dem kurdisch-türkischen Dorf bzw. der dortigen Gemeinschaft. Während kapitalistische Entwürfe erst nach der Migration der Familie Einzug in den Herkunftskontext gehalten hätten, wären die Handlungsfelder und Emotionen der Zusammengehörigkeit und Solidarität gewissermaßen mit den Migrierenden gemeinsam migriert. Das zeige sich innerhalb der migrantischen Community vor Ort und den verwandtschaftlichen Netzwerken, die nach wie vor in der Türkei existieren. Das erste Unterscheidungsmerkmal, die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, sowie die Kritik daran, zieht sich wie ein roter Faden durch das Gespräch. So unterscheidet Enes in seinen Narrationen zwischen kapitalistischen und nicht kapitalistischen

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Ländern, Orten und Kulturen. Das Dorf seiner frühen Kindheit sei nicht durch kapitalistische Strukturen durchsetzt gewesen, sodass seine Kindheit für ihn damit »freier« war, als es später im Ankunftsort war, wo er eingeschult und institutionalisiert wurde. Möglichst billige Konsumation, die auf Kosten prekär beschäftigter und ausgebeuteter Arbeitnehmer*innen geht, jedoch im neoliberalen System als Symbol der Entscheidungsfreiheit und grenzenlosen Freiheit verkauft wird, ist ein Kritikpunkt, den Enes regressiv und progressiv äußert. Sein Standpunkt kann einerseits als linke Kapitalismuskritik und andererseits als Idealisierung der Kindheit und des Vertrauten verstanden werden. Um die Bedeutung der Gemeinschaftlichkeit zu erläutern, thematisiert Enes erneut die Bestattung seines Vaters und die Trauer um den Verstorbenen, der seit mehreren Jahrzehnten woanders lebte, nur alle paar Jahre zu Besuch kam und dennoch im dörflichen Kollektiv geschätztes Mitglied blieb. Die Trauer wird im Dorf anders verhandelt als in einer städtischen Gesellschaft, die nicht auf das Gemeinschaftsprinzip aufbaut und daher Anonymität, hybride und widersprüchliche Lebensrealitäten herstellt, die nebeneinanderstehen. In der Zeit, als ich meinen Vater rückgeführt habe, von der Kirche bis zum Dorf, sind 47 Autos hintereinandergefahren, weil es einfach dort so ist. Weil alle davon gehört haben. Sie sind mit den Autos hergefahren, das ganze Dorf war pumpvoll mit Menschen, die einfach eine Sehnsucht nacheinander hatten. Der ist nach Europa ausgereist, sie haben sich vielleicht 2, 3 Jahre lang nicht gesehen, jetzt ist er gestorben und deswegen kommen sie. Sie fühlen sich verpflichtet, dort hinzugehen. Und das sind einfach andere Sachen, wie bei uns. Nicht? (Zeile 364-370) Enes schätzt es sehr, dass sich die Mitglieder der Community, jene im Raum Innsbruck und jene im Dorf, gegenseitig unterstützen würden. Die Vereinskolleg*innen seien besonders stark in familiäre Festlichkeiten, wie die Organisation von Hochzeiten involviert. Die Bereitschaft zur Beteiligung werde nicht vorausgesetzt oder sei Teil der Vereinsstatute, sondern werde von den Einzelnen als selbstverständlich betrachtet. »Dieses Miteinander wird einfach gelebt« (Zeile 373). Enes als Elternvertreter Der Protagonist ist auf Anfrage des Direktors der Volksschule seiner Kinder seit Neuestem auch als Elternsprecher aktiv und nimmt diese Aufgabe sehr ernst. Da hat der Direktor zu mir gesagt: »Willst du nicht Elternsprecher werden?« Dann sagte ich: »Ja, warum?« Und er: »Ja, dann tust du endlich was und nicht nur gescheid reden.« ((lacht)) So hat es angefangen, so bin ich Elternsprecher geworden. Für mich war es immer ein Anliegen, dass man die Gemeinsamkeiten trifft in der Schule und überall, weil es meine Aufgabe ist. […] Und ich habe auch gute Beziehungen zum Bürgermeister und so. Wie der Direktor gesagt hat: »Irgendwann musst du halt auch was machen und nicht nur reden.« (Zeile 650-659) Er erzählt in diesem Zusammenhang von einem »Fall« (Zeile 428), mit dem er sich jüngst im Rahmen dieser freiwilligen Tätigkeit beschäftigte. Der Terminus »Fall« objektifiziert den*die »Betroffene*n«. »Fall« impliziert Berufliches, sodass der Eindruck entsteht, Enes würde sich hauptberuflich mit ausgewählten Problemstellungen aus dem Schulkontext

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beschäftigen. Das Kind, um das es ging, ist vor wenigen Jahren gemeinsam mit den Eltern nach Tirol migriert. Die Eltern wurden in die Schule gerufen und sollten ein Dokument, das ihnen von der Lehrperson vorgelegt wurde, unterzeichnen. Es war eine Einverständniserklärung dafür, das Kind aufgrund der als mangelnd attestierten Sprachkenntnisse in die Sonderschule24 zu schicken. Das Kind hat selbstredend Sprachkenntnisse, nur nicht jene, die von einem weitestgehend einsprachigem Bildungssystem gefordert werden. Die Sprachkompetenz, die das Kind bereits hat, wird von den Lehrer*innen als unzureichend wahrgenommen. Dabei sollte die Sonderschule als ein Problemort gekennzeichnet werden, da dort vielfach eine Migrantisierung und Rassifizierung von Schüler*innen erfolgt. Die gesamte Schüler*innenschaft der Sonderschule erfährt eine Entnormalisierung. Des Weiteren wird in der Schullandschaft – nicht alleinstehend in der Sonderschule – künstlich eine ethnische Differenz zwischen mehr- und einheimischen Schüler*innen erzeugt (Gomolla/Radtke 2009, S. 20), die mit »der Bildungsbeteiligung in der Vorschule beginnt und bis zu den Übergängen in die Berufspraxis reicht, [weshalb es nahe liegt] auch in der Schule nach Mechanismen der strukturellen oder institutionellen Diskriminierung zu suchen« (Gomolla/Radtke 2009, S. 22f.). Um die Mechanismen institutioneller Diskriminierung rekonstruieren zu können, mit denen die ungleichen Bildungserfolge von Migrantenkindern in der Organisation hergestellt werden, wäre zu zeigen, wie Diskriminierung als institutionelles Geschehen in der Organisation der Schule sich im Einzelnen vollzieht. (Ebd., S. 86) Viele Angehörige der zweiten Generation wurden in Sonderschulen unterrichtet. Diese Schulform folgt dabei der Logik der Ausländerklassen bzw. der Ausländerpädagogik. Der Bildungsweg dieser Schüler*innen wurde durch ihre Institutionalisierung in der Sonderschule negativ vorgezeichnet und ein späterer Bildungserfolg vielfach verunmöglicht. Durch die Festschreibung dieser spezifischen Schulerfahrung im Lebenslauf sowie in der Biografie wird ein Bild vermittelt, das den*die Besucher*in dieser Schule als nichtnormal reproduziert. In Schulen, die auf Besonderung abzielen, werden also Menschen seit Generationen migrantisiert, ethnisiert und entnormalisiert (siehe Fallbeispiel Nida in Kap. 7.1). Enes informiert die Eltern über die Tragweite einer Beschulung in der Sonderpädagogik, sodass sie sich dazu entschließen, dem Schulwechsel ausdrücklich nicht zuzustimmen. Somit besucht das Kind weiterhin die reguläre Schule. Enes Einsatz für die Zukunft des Kindes, die er durch eine schulische Abstufung bedroht sieht, drückt sein großes Bedürfnis nach Chancengerechtigkeit für Mehrheimische aus. Der Erzähler lehnt diese Schulform nicht per se ab, jedoch aber die Rekrutierung mehrheimischer Schüler*innen aufgrund mangelnder Sprachkompetenz. Grundsätzlich muss kritisch hinterfragt werden, wer auf welcher Grundfrage entscheidet, was unzureichende bzw. ausreichende Sprachkompetenz bedeuten würde. Enes ist sich sicher, dass die sonderpädago-

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Die Gründung der ersten Sonderschule in Tirol lässt sich auf das Jahr 1924 datieren (vgl. Weyermüller 1980, S. 17). Österreichweit wurde 1816 in Hallstadt (Salzburg Land), »eine Schule für Schwachsinnige« (ebd., S. 7) gegründet, die als das erste Modell der Sonderschulen in Österreich gilt. Im Schuljahr 1937/1938 gab es bereits 68 Sonderschulen, in denen über 6 000 Schüler*innen unterrichtet wurden (vgl. ebd.).

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gische Beschulung darauf abziele, »Migrantenkinder als [zukünftige] Arbeitskraft« (Zeile 438) zu nutzen. Vereinsgründung und das Bedürfnis, »aus der Geschichte zu lernen« Enes war Mitbegründer des Kulturvereins, in dem wir für das Interview zusammensitzen. Er erzählt mir, wie es zur Vereinsgründung kam. Ausschlaggebend war zunächst weniger die Situation der Pionier*innen und Nachfolgegenerationen in Tirol, sondern die tagtäglichen Erfahrungen der Kurd*innen und Alevit*innen, die nach wie vor in der Türkei waren und staatliche Repressionen und Entmenschlichung erfuhren. Die Familien und Einzelpersonen vor Ort hielten, so gut es ging, den Kontakt zu den Menschen im kurdischen Dorf und in der Türkei. Sie waren schockiert über ihre Erzählungen und über die wenigen offiziellen Nachrichten, die sie erhielten. Um innerhalb und idealerweise auch über die Staatsgrenzen hinweg agieren und sich gegenseitig in der Not unterstützen zu können, wurde die Vereinsgründung vorgenommen. Enes verweist darauf, dass die Fähigkeit, Unrecht erkennen und benennen zu können, primär durch Bildung und Forschung erlangt werden könne. Wir haben immer mitbekommen, was unten passiert, wie Menschen unterdrückt werden. Wir haben mitbekommen, dass unser Dorf, dass dort viele Menschen gefoltert werden und dass in Folge dieser Folter auch viele Menschen gestorben sind. Sicher elf, zwölf Stück, weil sie gefoltert wurden, weil sie ältere Leute waren. Dadurch, dass wir diese Wurzeln gehabt haben, hat es uns immer aufgeregt, und das war immer so. Uns wurde immer beigebracht, dass Bildung wichtig ist, dass Forschung und Bildung wichtig ist. Wie wir geforscht haben oder wie ich geforscht habe, bin ich darauf gekommen, man muss dagegen was machen. […] Aber das war die Grundursache, dass es Ungerechtigkeiten gibt und dagegen aufzustehen. Das war wichtig. Und man hat auch, auch zum Teil Rassismus erlebt, aber der größte Grund war der, dass wir Aleviten, Kurden unten unterdrückt wurden. Wenn ich Bücher gelesen habe über Genozid an den Armeniern und verglichen habe. Wir haben in der Türkei jeden Tag diese Hymne singen müssen: »Bist du ein Türke, bist du wichtig. Bist du ein Türke, bist du ein Mensch. Bist du ein Türke, hast du mehr Wert.« Da haben wir verstanden, es ist alles Lüge, was sie uns da eingeredet haben. Der Kemalismus. Es wurden 1,5 Millionen Menschen, Armenier, im Genozid ermordet in diesem Land. Wenn ich mir die Geschichte anschaue, 1935 wurden 155 Dörfer niedergebrannt, weil sie Kurden waren, oder 1938, als sie Dörfer mit Gas bombardiert haben. Menschen, Frauen, Kinder, die ermordet worden sind. Je mehr wir studiert haben, je mehr wir gelesen haben, je mehr wir gelernt haben, umso mehr Widerstand wurde geweckt. (Zeile 492-512) Der Genozid an der armenischen Bevölkerung (vgl. Schoeps 2018) beschäftigt Enes sehr, nicht zuletzt auch deshalb, da er Parallelen zwischen der staatlich angeordneten Tötung der Minderheiten der Armenier*innen und der Kurd*innen sieht. Dies versucht er, durch die Nennung historisch überprüfbarer Fakten, nämlich der Verknüpfung historischer Jahreszahlen mit geografischen Orten und Ereignissen zu belegen. Diesen Gräueltaten der Unmenschlichkeit liege, aus Sicht der Täter*innen, ein Menschenbild zugrunde, das dem eigenen imaginierten Menschenbild gegenüber als wertlos betrachtet wird. Die Herabstufung und Herabwürdigung der Menschen, die auf dem

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damaligen türkischen Staatsgebiet als nicht zugehörig diffamiert wurden, legitimiere ihre Verletzung und gipfelte in systematischer Tötung. Enes recherchiert seit Jahren zu dem unsagbaren historischen Ereignis, dem Genozid an den Armenier*innen, dem die systematische Ermordung von schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen zugrunde liegt. Die intensive Beschäftigung mit den historischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit veranlasst ihn dazu, zu handeln. Sein Widerstand richtet sich gegen Menschenrechtsverletzungen und Ungleichheitsbehandlungen jeglicher Art. Sein »Widerstand wurde geweckt« (Zeile 512) durch die Gewalttaten, die im familialen Herkunftskontext verübt wurden. Die Wertorientierungen, wie der Auf- und Ausbau der selbsternannten »Widerstandskultur«, die sich in den biografischen Erzählungen Enes herauslesen lassen, sind grenzüberschreitend. Sie prägen den Alltag vor Ort mit, weswegen die Prämisse des Erzählers lautet, Ungerechtigkeiten lokal, global und transnational, etwa durch die Rote Hilfe, zu bekämpfen. Enes bezeichnet sowohl die Türkei der Vergangenheit als auch der Gegenwart als Staatsregime; eine säkularisierte Trennung zwischen Staat und Religion sei nicht gegeben: »Die Maske Religion hat viel Macht, leider. Leider, leider, leider« (Zeile 580). In diesem Zusammenhang verweist der Erzähler darauf, dass Religion, sobald sie staatstragend werde und das Leben der Gesellschaftsmitglieder beschneide, wie eine Droge wirke: »Und ich finde, für mich ist Religion schon ein bisschen eine Droge. Die Gesellschaft braucht sie, aber in diesem übertriebenen Maß nicht« (Zeile 798f.). Dem Erzähler ist es wichtig, zu betonen, dass sich seine Abneigung gegen die türkische Politik und besonders den Präsidenten bzw. Autokraten Recep Tayyip Erdoĝan inklusive der politischen Führungsriege richte, nicht jedoch gegen die Menschen an sich. Sehr wohl kritisiert er jedoch jenen öffentlichen Diskurs, an dem sich die Wähler*innen der AKP beteiligen würden. In diesem komme »der Rand hervor« (Zeile 586), der sich durch rechte Rhetorik und eine ebensolche Denkhaltung manifestiere. Stellenweise liest Enes, wenn es um politische Einstellungen im türkischen Kontext geht und wenngleich er betont, er habe »kein Problem, wenn es um die Türkei geht« (Zeile 582), »die« Türk*innen als eine homogene Gruppe. Dadurch jedoch, dass der Erzähler wiederholend erklärt, dass die Türkei und die dort lebenden Menschen eben nicht einheitlich wären, liegt die Deutung nahe, er generalisiere nicht sämtliche Mitglieder der türkischen Gesellschaft, sondern vielmehr die konservativen Anhänger*innen des politischen Machtregimes. In diesem Sinne pauschalisiert er diese als Verfechter*innen des Kemalismus, bei denen der Einheitsgedanke, der ein deckungsgleiches, konformes türkisches Volk imaginiere, im Mittelpunkt stehe und beschreibt sie als »stur« (Zeile 587). Die kemalistische Logik würde Minderheiten nicht anerkennen und konträre Weltanschauungen sowie politische Gegenmeinungen nicht berücksichtigen, wodurch Minderheitenrechte und damit Menschenrechte gefährdet und ad absurdum geführt würden. Die Leugnung ethnischer, religiöser und politischer Minderheiten wirke sich letztlich auf Meinungsfreiheit, demokratische Grundrechte und -werte aus und leiste nationalistischen Bewegungen und Bestrebungen Vorschub. Solange es nicht um Politik geht, ist, habe ich kein Problem, wenn es um die Türkei geht. Es ist auch so, wenn ich in die Türkei fliege mit vielen Leuten, auch in unseren Verwandtschaftskreisen, es passt alles. Aber wenn es um die Rechte von Minderhei-

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ten geht, gibt es nicht. Wenn es um Minderheiten geht, sind sie plötzlich Kemalisten. Nein, es gibt laut ihnen keine Kurden, keine Armenier. Das gibt es nicht. Es gibt nur Türken. Und da spaltet es sich sofort. Da kommt gleich der Rand hervor. Da schalten sie gleich aus und werden ganz stur und sagen dann: »Nein das gibt es nicht. Das sind Terroristen«, heißt es dann. (Zeile 582-588) Für Enes ist der Kemalismus, benannt nach Mustafa Kemal Atatürk (vgl. Bezwan 2008, S. 133), der die Staatsgründung der Republik Türkei initiierte, der ideologische Vorläufer einer gefährlichen Ideologie, die Ahmet Insel als l’erdoganisme (Insel 2021, S. 5) bezeichnet und Errol Babacan als sogenannten Erdoĝanismus (Babacan 2020, S. 42) übersetzt. Dieser ist stark personenbezogen, vergleichbar mit einem Personenkult, und manifestiert sich in der gegenwärtigen »Machtkonzentration beim inzwischen zum Staatspräsidenten gewählten Erdoğan« (ebd.). Die politische Türkei entwickle sich seit der Involvierung Erdoĝans in die politische Landschaft hin zu einem totalitären System (vgl. ebd.). In den Augen der Wähler*innenschaft würde Erdoĝan als heroisierter Nachfolger Kemals die kemalistische Ideologie stützen, weiterverbreiten und damit eine konservative und nationalistisch geprägte Religiosität in breiten Teilen der Bevölkerung und innerhalb gesamtgesellschaftlicher Strukturen forcieren (vgl. Babacan 2020, S. 42; S. 192). Als Beispiel für eben diesen Personenkult nennt Enes die kollektiv organisierten Busfahrten, die vor türkischen Präsidentschaftswahlen von konservativen Wähler*innen mit türkischer Staatsbürgerschaft, die vor Ort leben, genutzt würden, um »als Gemeinschaft Erdoĝan [zu] wählen« (Zeile 795). Fazit Enes Schilderungen, ob politisch, sozial oder familial, sind reflektiert. Die Verfolgung, die seine Familie vor wenigen Jahrzehnten erlebte, induziert seinen politischen Aktivismus. Der Protagonist zeigt sich zudem als gleichzeitig Kenner und Kritiker historischer und gegenwärtiger Politik in der Türkei und in Österreich. Er kritisiert die Obrigkeiten und die Unterstützer*innen der Regime, nicht jedoch der gesamten Gesellschaft(-en). Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass mittels Vereinsgründung und politisch-sozialem Engagement länder-, status- und milieu- bzw. klassenübergreifende Veränderungen angestrebt werden. Dieser Prozess kann als transnationale Praxis verstanden werden. Enes’ Meinung, dass die Gewerkschaft in Tirol nichts tue, sei ausschlaggebend dafür, weswegen Migrant*innenorganisationen unter anderem die Streikveranstaltungen am 01. Mai sowie tagespolitische Kundgebungen installieren würden. Ich meine klar, es gibt schon eine Gewerkschaft, aber die tut nix. Die kommt her, also erst kürzlich erst mal kam eine von der Gewerkschaft her und fragte: »Ja können wir ein Foto machen?« Ja, mit Foto machen kommen wir nicht weiter. Das ist einfach. Diese Kultur, diese Widerstandskultur in Tirol haben diese Migrantenvereine aufgebaut. (Zeile 529-532) Es ist dem Erzähler ein besonderes Anliegen, den alevitischen Verein und damit auch die Mitglieder als weltoffen und fortschrittlich nachzuzeichnen. Neben der politischen Arbeit, die dort ihren Platz hat, wird das Frauenkomitee und die kleine Bibliothek als Ort der Weiterbildung hervorgehoben. Obgleich der unter anderem biografisch verletzen-

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den sowie der traumatisierenden familiären Erfahrungen nebst Enes’ politisch-sozialen Kämpfen, die kräftezehrend und fordernd sind, gibt es auch am politischen Schachbrett gewissermaßen Lichtblicke. Einen solchen bilde die Revolution in Roijava ab, die er als wachsende Blume bezeichnet, die von Sympathisant*innen genährt werden müsse. Sie ist für ihn Ausdruck und Hoffnung einer gleichberechtigten (Mikro-)Gesellschaft, in der Minderheiten ihren Platz finden und Geschlechter-, Herrschafts- und Machtverhältnisse obsolet würden. Sein kleiner Anteil an der Revolution bestehe darin, »mit den Leuten immer wieder zu reden, reden, reden« (Zeile 595), um Denkprozesse und in Folge möglicherweise auch veränderte Handlungsweisen anzustoßen. Aber es passieren Gott sei Dank auch auf der ganzen Welt gute Sachen. Es gibt eine Revolution in Roijava. Von dieser Revolution halte ich viel. In Roijava sind viele Genossen von mir unten, wo Frauen und Männer gleichgestellt sind. Wir reden von einem Gebiet, wo vor 5 Jahren Frauen null Wert gehabt haben, und heute regiert die Frau da. Dort sind so viele Minderheiten, Kurden, Aleviten, Türken, Armenier, Jesiden. […] das ist einfach eine Blume, die wächst, und wir sollten dorthin Wasser tragen, damit sie weiterwachsen kann. Damit sie ernährt ist. (Zeile 588-594)

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5. Familie und Biografie »Es ist nicht notwendig, dass andere Menschen anwesend sind; […] denn wir tragen stets eine Anzahl unverwechselbarer Personen mit und in uns.« (Halbwachs 1985, S. 2)

Die Biografie, also wörtlich übersetzt »das Schreiben über das Leben«, ist ein vorwiegend mündlicher Erzählakt, der situativ, kontextbezogen aktiviert und immer wieder aufs Neue und angepasst an die jeweilige Gesprächssituation und an das Gegenüber inszeniert wird. Biografie ist »ein soziales Konstrukt« (Völter et al. 2005, S. 7), das »sowohl (die) soziale Wirklichkeit als auch die Erfahrungs- und Erlebniswelten der Subjekte konstituiert« (Rosenthal 1995, S. 46). Das biografische Erzählen und die Biografieforschung implizieren, nach Gabriele Rosenthal (1995), »immer auch die Einbeziehung der Gesellschaftsanalyse bzw. die Rekonstruktion des Zusammenhangs zwischen individuellen lebensgeschichtlichen und kollektivgeschichtlichen Prozessen« (S. 46). Das heißt, dass sowohl die Erforschung von Biografien als auch ihre Narration in gesellschaftliche Kontexte und Strukturen eingebettet sind und sich in einer Wechselwirkung zwischen der Lebensgeschichte der*des Einzelnen sowie den biografischen Erfahrungen und Erlebnissen des Kollektivs zeigen. Hinsichtlich der Lebensgeschichten von Familien mit (Arbeits-)Migrationserfahrung ist es relevant, historische und gesellschaftliche Settings hervorzuheben, ebenso die sozial-historische Rahmenbedingungen, die die biografischen Entwürfe der Generationen im Einzelnen und im (Gesamt-)Familiären umfassen. Unter historischen und gesellschaftlichen Bedingungen sind hier insbesondere die Anwerbeabkommen als Zeitachse, die Erfahrungen vor der Migration als ausschlaggebende Gründe für die Migration und die Erlebnisse nach der Migration innerhalb des sozial-historischen Raumes gemeint. Familienbiografien sind vielfach Migrationsbiografien. Nahezu jede Familie hat Bezüge zu Migration. Das kann bedeuten, dass die gesamte (Kern-)Familie oder einzelne Familienmitglieder temporär, kurz- oder langfristig woanders wohnen oder sich im Ankunftsort niederlassen, möglicherweise eine Familie gründen und somit neue, sich vielfach transnational und transregional überschneidende Verortungspraxen entwerfen. Die familiale Migrationsbiografie bildet die Mitglieder im Sinne eines familialen und in-

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formellen Lernsettings (weiter) und wirkt sich überdies auf die biografischen Erzählungen der Pionier*innen und die narrativen Rekonstruktionen der zweiten und dritten Generation aus. In diesem Sinne ist das Erzählen und vor allem das Rekonstruieren familialer Erfahrungen informelle Bildungsarbeit, die erlernt werden muss und durch wiederholende Erzählakte, die auch variiert werden, hervorgebracht und intensiviert werden. Gerade Familien, in denen Mitglieder im Zuge der Arbeitsmigration migriert sind, verfügen über zahlreiche biografische Erfahrungen und auch über spezifische Narrationen darüber, die in den von mir durchgeführten Gesprächen/Interviews ihre Artikulation finden. Die heterogenen und subjektiven Erfahrungs- und Lebenswelten bestimmen den familialen, den (inter-)generationellen sowie den kollektiven Kontext mit. Mittels der erzählten Lebensgeschichte wird es möglich, die Verschränkung zwischen Individuum und Gesellschaft sowie die gegenwärtige Situation kollektiver und besonders familialer Vergangenheiten aufzuzeigen. (Rosenthal 1995, S. 61) In der Kontrastierung und Bezugnahme zwischen dem familialen und dem biografischen Setting ergibt sich die Möglichkeit, Querverbindungen und Wechselwirkungen zwischen dem Individuellen und Kollektiven bzw. dem Sozialen zu erfassen (vgl. ebd.). In der Ergänzung von Biografie und Familie liegt also eine Chance der Offenlegung subjektiver, individueller, familialer, aber auch sozialer und kollektiver Besonderheiten und Gemeinsamkeiten. Durch das biografische Erzählen kann vom subjektiv und familial Besonderen auf das allgemeine Gemeinsame geschlossen werden. Über Biografien zu sprechen und sie zu deuten, ist nur mittels einer dezidierten Rekonstruktion von Biografien möglich. Sowohl der*die Forscher*in als auch der*die Erzähler*in der familialen Biografie rekonstruiert das selbst Erlebte, aber auch das ErzähltBekommene, und ergänzt es durch neue Gedanken, Erinnerungen und Ideen automatisch. Dabei ist es wichtig, die lebensgeschichtliche Erzählung immer auch in einen gesellschaftlichen, historischen Kontext zu setzen, um sie in ihrer Komplexität, aber auch in ihrer Widersprüchlichkeit zu erfassen. Schließlich sind Biografien in gesellschaftliche, soziale, kulturelle und politische Strukturen und Prozesse eingebunden und dürfen nicht als unabhängig davon assoziiert werden. Salopp formuliert, sind die Erzähler*innen Kinder ihrer Zeit und daher auch in zeithistorische und gesellschaftlich relevante Phänomene involviert.1 Daneben spielt die Einordnung in familiale Gefüge und generationelle Gruppen eine bedeutende Rolle. Ohne die Betrachtung familiärer und generationeller Besonderheiten bliebe eine erzählte Biografie gewissermaßen unvollständig, da die je eigene Vita auch – aber nicht nur – auf den Erfahrungen, Narrationen und Erinnerungen der vorherigen Generationen aufbaut. Mit der systematischen Betrachtung der einzelnen Lebensgeschichte im Kontext der über Generationen zurückreichenden Familiengeschichte und damit auch der intergenerationellen Tradierungsprozesse etabliert sich, aufgrund der für den Verstehensprozess erforderlichen sozialgeschichtlichen Recherchen, zunehmend eine historische Herangehensweise. (Rosenthal 1995, S. 48)

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Dasselbe gilt auch für ihre Vorfahr*innen, die spezifische zeithistorische Phänomene miterlebten.

5. Familie und Biografie

Das Bezugnehmen auf den Zeitgeist, die Historie, den familialen und gesellschaftlichen Rahmen ist entscheidend, denn der Mensch ist nun mal kein ahistorisches und kein asoziales Wesen, somit ist auch seine erzählte Geschichte weder ahistorisch noch asozial. Seine Biografie ist folglich einerseits Ausdruck einer höchst persönlichen und individuellen Lebens- und Familiengeschichte und andererseits Spiegelbild seiner gesellschaftlichen, sozialen Position(-ierung) sowie der Verwobenheit und Einbettung in eben jene großen, soziohistorischen und kollektiven Erlebnisse bzw. Prozesse. Um die Biografie des Einzelnen zu verstehen, muss zudem ein tieferer Einblick in die familiale Lebenswelt sowie in die Alltagspraxis und die Verortungen der Gesprächspartner*innen möglich sein. Das bedeutet für den*die Forscher*in, neben den Interviews auch Beobachtungen und Hintergrundinformationen, die sich z.B. vor dem Gespräch mit dem*der Erzähler*in ergeben, in die Rekonstruktion und Analyse der Biografien miteinfließen zu lassen, da sie das Bild der Narrationen vervollständigen können (vgl. ebd., S. 47ff.). Eine Biografie, die sich eben nicht auf einen geografischen, zeitlichen, sozialen Kontext reduzieren lässt – und das ist bei den vorliegenden postmigrantischen Biografien eindeutig der Fall –, muss in ihrem sozial-historischen Entstehungskontext, in ihrem familiengeschichtlichen und in ihrem kollektivgeschichtlichen Rahmen betrachtet werden. Deswegen ist es notwendig, die Lebensgeschichte »auf den historisch-sozialen Kontext ihrer Entstehung hin zu befragen und rekonstruktiv und sequentiell auszuwerten« (ebd., S. 49). Des Weiteren geht es darum, in den Narrationen das Allgemeine im Einzelnen zu suchen. Dieser Vorgang gelingt dadurch, dass hier erstens versucht wird, den Migrationsprozess der Vorgängergeneration(-en) zu rekonstruieren, um an späterer Stelle zu untersuchen, wie er sich auf die postmigrantische Generation auswirkt und welche Bedeutung sie ihr zuspricht. Zweitens muss versucht werden, […] die Lebensphase und -erfahrung der Migration im gesamtbiographischen und damit zugleich auch im kollektivgeschichtlichen Zusammenhang zu begreifen. Dazu ist es erforderlich, sowohl die Erfahrungen vor der Migration als auch nach der Migration sowie das Thematischwerden der Migration und die damit zusammenhängenden Reinterpretationen dieser Erfahrungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten hinein zu rekonstruieren. (Ebd., S. 50) Konkret auf die Dissertation angewandt, bedeutet das, dass der historische Bezugsrahmen der Pionier*innen identifiziert werden muss, nämlich die Anwerbung, die Reise nach Tirol, der Arbeitsalltag vor Ort, die Wohnsituation in Wohnheimen und in kleinen Wohnungen, der Nachzug von Familienmitgliedern, das Kontakthalten mit den Angehörigen im Herkunftsort oder die Exklusion von alltäglichen Gestaltungsmöglichkeiten. Konkrete Handlungsfelder und Strategien des Umgangs mit Ungleichheits-, Rassismusund Diskriminierungserfahrungen wurden schließlich von den Pionier*innen selbst erkämpft und können aufgrund der Nacherzählungen der postmigrantischen Generation intergenerationell nachgezeichnet und konkretisiert werden. Gerade in der Erzählung über familiäre Erfahrungen, zwischenmenschliche Anekdoten und besonders persönliche, teils schwierige, komplexe, traumatische und vulnerable Familieninterna, muss bedacht werden, dass die Familienmitglieder auch spezifischen familialen und generationellen Praktiken unterworfen sind, anhand derer ihnen beigebracht wird, was Außenstehenden, Forscher*innen gemeinhin gesagt und

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Postmigrantische Generation

was absichtlich ausgelassen wird. Sie lernen also, welche Erzählungen in welcher Art und Weise nach außen getragen werden dürfen und welche hingegen als zu persönlich markiert werden. Ein Interview stellt im Grunde innerhalb der Erzähllogik einen Zwischenraum zwischen Privatheit und Öffentlichkeit dar, obgleich die Interviewpartner*innen durch Anonymisierung und/oder Pseudonymisierung geschützt und dadurch auch zum Erzählen der breiten Palette familialer Narrationen aufgerufen sind bzw. zur Artikulation dieser ermutigt werden. Die Grenzen dessen, was scheinbar erzählt werden darf oder soll, verschwimmen des Öfteren in einer solch ungewöhnlichen Gesprächssituation. Der Erzählfluss leistet mitunter sein Übriges, sodass Entschließungen vorab des Gespräches, bestimmte Erzählungen auszulassen, die der »innere Zensor« als Schutzmechanismus entwirft, im Gespräch »vergessen« oder bewusst abgelegt werden. Im Wissen um diese verschlüsselten und verworrenen Verhaltens- und Erzählweisen muss in der gegenwärtigen Situation des biografischen Gesprächs versucht werden, nachzuvollziehen, eben welche sozialen Regeln und familialen Normen für die erzählende Person aktuell (noch) gültig sind, da sie Auskunft darüber geben, warum z.B. eine spezifische Erfahrung ausgelassen oder nur schematisch dargestellt wird. Das Auslassen von Erinnerungen kann bewusst oder unbewusst vonstattengehen. Dan Bar-On (1996, S. 17ff.) beschreibt, dass dieses Auslassen von Erfahrungen, die eigentlich erzählt werden könnten bzw. sollten, einer Gewalt des Schweigens zugrunde liegen können. Er bezieht sich hierbei auf die Narrationen der Nachkommen von Überlebenden und Täter*innen des Holocaust (vgl. ebd.). Die Last des Schweigens, wie Bar-On sie beschließt, wird vielfach von den jüngeren Generationsangehörigen als eben solche empfunden, da von ihnen familial eingefordert wird, ausgewählte tradierte Erinnerungen und Erlebnisse auszulassen, zu verschleiern, zu verstecken und somit auch im Ansatz zu verdrängen. Gerade die Thematisierung einerseits unvorstellbarer Gewaltund Leiderfahrungen, andererseits die Artikulation von familialer Täter*innenschaft, also dem Ausüben von Gewalt, kann als heilend empfunden werden, da das Aussprechen einer machtvollen Situation Macht nimmt bzw. das Verbalisieren von Schuldhandlungen den Nachfolgegenerationen intergenerationale »Schuld« nimmt. Das Sprechen über familiäre Leiderfahrungen sowie Gewalthandlungen kann demnach dazu führen, dass das Familiengedächtnis reaktualisiert und von den jüngeren Generationen durch neue Erlebnisse erweitert und schließlich weitergetragen wird. Ferner komplementieren auch diese tragischen Erinnerungen die familiale Geschichte – und nicht nur die »schönen« und leicht(-er) erzählbaren. Das mögliche Verdrängen und Auslassen von familienrelevanten Berichten hat Relevanz für die Angehörigen der postmigrantischen Generation. Ihr Status quo, aber auch Teile ihrer Biografien werden nämlich durch die zahlreichen familiären Gespräche tangiert, und die jeweilige Auseinandersetzung mit diesen entscheidet auch darüber, ob sie sich gewissermaßen als konservative Bewahrer*innen bzw. innovative Reformer*innen des Familiengedächtnisses – oder auch beides – präsentieren. Erzählerische Lücken gehören zu der biografischen Darstellung dazu. Manche Lücken sind den Regeln aus der Vergangenheit geschuldet, die die aktuelle Erzählweise in der Gegenwart mitprägen. Es geht hierbei also mitunter um familiäres Schweigen, das bewusst evoziert wird. Diese Form der Verschwiegenheit kann Banales, aber auch Komplexes umspannen. So ist die Frage danach, was der*die Erzähler*in, gerade wenn es

5. Familie und Biografie

um die eigene Familie geht, nicht artikulieren möchte, besonders interessant. Um dieser auf den Grund zu gehen, plädiert Rosenthal (1995) dafür, sich Hintergrundinformationen, z.B. über historische Zusammenhänge des Jugoslawien-Krieges, zu beschaffen (vgl. S. 55). Diese dürfen aber nicht einfach generalisierend übernommen und unreflektiert auf die erzählende Person übertragen werden, denn sonst besteht die Gefahr, dass die Spezifika des Subjektes aufgrund des historischen Hintergrundes, der schwerwiegen kann, übersehen werden (vgl. ebd.). Das heißt, eine Person ist nicht zwangsläufig traumatisiert, auch wenn sie traumatisierende Erfahrungen erlebt hat. Ähnlich verhält es sich mit Fremdbezeichnungen, die ihren Ursprung in historischen Ereignissen haben und unreflektiert angewandt werden. Jemand ist also nicht automatisch Arbeitsmigrant*in, obwohl er*sie im Zuge und aufgrund der Anwerbeabkommen migrierte – er*sie ist mittlerweile in Rente und entwirft neue Formen der Selbstbenennung und der Persönlichkeitsentwicklung. Ein Mensch ist kein*e Bosnier*in, auch wenn er*sie dort geboren ist – er*sie benennt sich stattdessen, trotz Ende des Staates, als Jugoslaw*in. Diese ambivalenten Formen der Zugehörigkeit und Benennung mitzudenken und zwischen Selbst- und Fremdzugehörigkeiten zu abstrahieren, ist in der Situation, in der Menschen über ihre Biografien sprechen, entscheidend. Denn während gängige öffentliche, politische und teilweise auch wissenschaftliche Diskurse Zugehörigkeiten als nationale Gruppenidentitäten entwerfen, kann für den*die Erzähler*in hingegen eine religiöse oder lokale Zugehörigkeit relevant sein (vgl. ebd., S. 57ff.). Wenn es den Forschenden gelingt, diese diversen Formen der Zugehörigkeit(-en) zu bestimmen, kann zwischen Erzähler*in und Forscher*in eine gemeinsame Sprache gefunden werden, die eine bessere zwischenmenschliche, nonverbale, aber eben auch erzählgenerierende und eine tieferreichende Kommunikation zutage befördert. Biografische Entwürfe und Rekonstruktionen von familiären Erzählungen, Erinnerungen und (Migrations-)Erfahrungen umfassen immer auch »die Frage nach der (retrospektiv konstituierten) Bedeutung von Migrationen im Zusammenhang biografischer Wendepunkte. Damit verbunden ist die Kontextualisierung mit spezifischen Lebensphasen und Familienkonstellationen« (Breckner 2009, S. 361). Die biografischen Wendepunkte der Familienmitglieder sind gleichzeitig subjektspezifisch und familienspezifisch. Gerade die Migrationsentscheidung, aber auch die Bleibeintention oder in manchen Fällen auch das Zurückkehren vereinzelter Familienangehöriger und demnach das »Aufspalten« der Kernfamilie sind solche bedeutenden Umbrüche, die ich als generationsübergreifend bzw. generationsspezifisch erachte. Auch die Zeit nach der Migration markiert einen (erzählerischen) Ausgangspunkt, der jedoch unterschiedliche Auswirkungen und Intensitäten auf die Familienangehörigen hat. Je weiter die Generationsdauer fortschreitet, umso abstrakter wird die eigentliche, von der postmigrantischen Generation nicht selbst erlebte Migration der Vorfahr*innen; umso schwerer fällt mitunter das (tradierte) Erinnern an diesen einschneidenden familialen Moment; umso selbstverständlicher erscheint die Verortung vor Ort, umso alltäglicher ist die Auseinandersetzung mit Lebensrealitäten, die von außen irritierend, weil die binäre Ordnung sprengend wirken. Es gibt offenkundig nicht die eine Familienbiografie und schon gar nicht die eine Migrationsbiografie. Jede biografische Familienerzählung wird vielmehr je nach Erzähler*in und je nach Situation hervorgebracht und interpretiert. Zweifelsohne beeinflusst die Fa-

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Postmigrantische Generation

milienbiografie samt den Mobilitätsgeschichten innerhalb der Familie die eigene Vita und stellt eine enge Verschränkung zwischen Familie und den erlebten sowie erzählten Geschichten innerhalb der Gruppe her. Biografisches Erzählen findet alltäglich in Familien statt und erhält ihren Ausdruck durch kollektive, generationelle, intergenerationelle, individuelle bzw. subjektive Erinnerungen und ihre spezifischen Artikulationen.2 Gerade intergenerationelle Erinnerungen, die tradiert, abgeändert werden, haben hinsichtlich der familialen Biografie und Erinnerungskultur große Bedeutung. Besonders dahingehend, dass den jüngeren Generationsangehörigen bedeutungsvolle Aufgaben zukommen bzw. aufgetragen werden. Sie leisten nämlich, indem sie bestimmte tradierte Erinnerungen – auch über den Tod älterer Familienmitglieder hinweg – bewahren, spezifische Erfahrungen der (Groß-)Eltern neu deuten und aktualisieren, Transkriptions-, Übersetzungs- und Rekonstruktionsarbeit. Ferner schreiben sie bestimmte Erzählungen um und bringen ihre eigenen Erfahrungen mit ein. Familienvergangenheiten sind Änderungen und Variationen unterworfen, sodass neue Familienerzählungen entstehen können. Veraltete Erzählungen und Erfahrungen verlieren in der Übermittlung zwischen den Generationen an Brisanz, wenngleich manche von ihnen die Generationen überdauern, wo wir wieder bei den biografischen Meilen- und Markiersteinen wären, die die gesamte Familie betreffen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Erfahrung der Auswanderung nachträglich als ein biographischer Wendepunkt dar. Damit geht eine retrospektiv spezifische Fokussierung bestimmter Aspekte der Migrationserfahrung, etwa Erlebnisse als »Flüchtlich«, einher. Sie haben den Wendepunkt zwar nicht konstituiert, beinhalten aber Erlebnisaspekte und Potentiale, die einen später einsetzenden Reinterpretationsprozess unterstützen. Die Migration ist in ihren Bedeutungspotentialen vielschichtig angelegt und damit Teil eines generellen biografischen Horizontes. Sie ist nicht zuletzt auch Teil der Familien- und Milieugeschichte, auf die in phasenspezifischer Weise in der biographischen Konstruktion und Bedeutungsgebung zugegriffen wird. (Breckner 2009, S. 358f.)

5.1 Das Familiengedächtnis als Migrationsgedächtnis Das Familiengedächtnis ist Teil des kollektiven Gedächtnisses. Dieses Konzept geht auf den französischen Soziologen Maurice Halbwachs (vgl. 1985, 1991) zurück, der zwischen 1877 und 19453 lebte. Mit seinen umfangreichen Theorien rund um das kollektive Gedächtnis (vgl. Halbwachs 1991), das als eine Art gemeinschaftliche Erinnerungsleistung, -vermögen und -praxis verstanden werden kann, eröffnete er ein Forschungsfeld, das sukzessive weiterentwickelt wurde und wird. Das kollektive Gedächtnis wurde/wird durch untergeordnete bzw. ergänzende Gedächtnisformen, wie dem kommunikativen

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Diese Artikulationen können durchaus auch konflikthaft, ambivalent sein. Maurice Halbwachs wurde aufgrund seiner politischen Einstellung und dem Vorwurf der »Sippenschaft« von den Nationalsozialisten in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Maurice Halbwachs verstarb dort am 16. März 1945.

5. Familie und Biografie

und dem kulturellen Gedächtnis (vgl. J. Assmann/Hölscher 1988; J. Assmann 1999), erweitert und weitergedacht (vgl. Keppler 1994). Das kollektive Gedächtnis ist ausdrücklich kein Universalgedächtnis, es ist »Teil der Identität einer sozialen Gruppe und somit immer pluralistisch« (Reiter 2006, S. 17). Es geht hier zum einen um individuelle Erinnerungsprozesse und zum anderen wird auf Erinnerungen von und innerhalb der Gruppen fokussiert. Die individuellen Erinnerungen bleiben nicht ausschließlich beim Subjekt haften, sondern müssen mit anderen Menschen geteilt werden. Erinnerungen der*des Einzelnen funktionieren nur in Verbindung mit dem Kollektiv. Die Erinnerungen des Subjektes sind demnach, in Anlehnung an Halbwachs und formuliert nach Moller (2010), »Rekonstruktionen, die sich auf soziale Bezugsrahmen der Gegenwart stützen« (S. 85). Erinnern ist, sowohl im individuellen als auch im kollektiven Kontext, immer auch an andere Erinnerungsträger*innen und an den Dialog, an die Transferierung oder Replizierung gebunden. Das heißt, erinnert werden kann nur, was mit anderen Menschen teil- und mitteilbar ist (vgl. ebd.). Das individuelle Gedächtnis ist ein »Ausblickspunkt auf das kollektive Gedächtnis« (Halbwachs 1991, S. 31). Damit ist gemeint, dass sich der Mensch mit seinem individuellen Gedächtnis in verschiedenen Gruppen verortet, denen wiederum eigene (individuelle) Gedächtnisse zur Verfügung stehen, wobei das »Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung […] bei Halbwachs immer das Individuum, ebenso wie das individuelle Gedächtnis immer ein soziales Phänomen ist« (Moller 2010, S. 3). Erinnern ist also das Resultat sozialer Praxis (vgl. Weyand/Sebald 2011, S. 5). Innerhalb dieser kollektiven Gruppe, z.B. in der Familie, Peergroup, Schulklasse, Bürogemeinschaft oder im Religions- oder Freizeitverein, findet ein kommunikativer Austausch statt, der sinnstiftend und sowohl für das Kollektiv als auch den*die Einzelne*n relevant sein kann. Um die Erinnerungen und das Denken des einzelnen Subjektes in seiner Komplexität erfassen zu können, »muss man ihn in Beziehung zu den anderen verschiedenen Gruppen setzen, denen er gleichzeitig angehört, und seine Position innerhalb der jeweiligen Gruppe lokalisieren« (Moller 2010, S. 86). Dies ist nachvollziehbar, denn schließlich wird das Gedächtnis kollektiv gerahmt (vgl. Halbwachs 1985, S. 71; Weyand/Sebald 2011, S. 5) und durch die sozialen Interaktionen, in die Menschen ständig eingebunden sind, determiniert. Gerade Prozesse der Sozialisation haben Einfluss auf das Gedächtnis, indem sie die Arten des Denkens, die Praktiken des Erinnerns, aber auch die Unarten des Erinnerns4 in Form von sogenannten Gegenerinnerungen (vgl. Reiter 2006, S. 17) sowie die Entscheidung, welche freiwillige Gruppenzugehörigkeit (scheinbar freiwillig) gewählt wird, mitgestalten. Das kollektive Gedächtnis kann auch ein Familiengedächtnis ausbilden bzw. als solches in Erscheinung treten. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht darin die Familie als Kollektiv, das sich aus der kommunikativen Auseinandersetzung und dem aufeinander bezogenen, wechselseitigen Handeln der einzelnen Familienmitglieder, die als Verbindungsglieder des familialen Erinnerns und Erzählen fungieren, zusammensetzt.

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Im Sinne von elterlichen Kommentaren, die das Kind adressieren, wie: »Vergiss das schnell wieder!«

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Auf Halbwachs Erkenntnis, dass sowohl das kollektive als auch das individuelle Gedächtnis durch zwischenmenschliche, intergenerationelle Kommunikation und Interaktion sowie die Einbettung in soziale Prozesse und Praktiken hervorgebracht werden, wurde bereits aufmerksam gemacht. Das Familiengedächtnis, das maximal drei Generationen lang zurückreichen könne, interpretiere ich gewissermaßen als Bindeglied zwischen diesen beiden, eben genannten Erinnerungs- und Gedächtnisformen. Obwohl Menschen in verschiedene soziale Gruppen eingebunden sind, kann die (Kern-)Familie als besonders sozialisierend und ein Zugehörigkeitsgefühl erzeugend wahrgenommen werden, wenngleich sie nach der Adoleszenz in der Regel an Wichtigkeit verliert und etwa durch die eigene Partnerschaft etc. ersetzt wird oder um diese erweitert wird. Dahingehend, dass das (Familien-)Gedächtnis sehr spezifische Inhalte vermitteln kann und nicht bei persönlichen Erfahrungen stehenbleibt oder vor emotionalen Generationserzählungen Halt macht, sondern auch gesellschaftliche, soziale, religiöse, kulturelle Vorstellungen und auch Normen (mit-)trägt, ist es ein Gruppengedächtnis, das mehrere erzählerische und emotionale Ebenen beinhaltet. Das Familiengedächtnis umspannt ergo nicht nur Erinnerungen oder Momente, die den familieninternen Beziehungskontext betreffen oder die innerfamiliäre Logik tangieren, sondern geht über das (Familien-)Biografische und das Intergenerationelle hinaus. Die Bezugnahme auf Erinnerungen und Narrationen innerhalb dieses Gedächtnisses setzt eine intensive (Übersetzungs-)Arbeit, Wiederherstellung und Auseinandersetzung mit den und zwischen den einzelnen Mitgliedern voraus. Das »Gedächtnis sei nicht ein Wiederauffinden von abgelagerten Fragmenten, sondern eine Rekonstruktion aus der Perspektive der Gegenwart« (Weyand/Sebald 2011, S. 5). Diese Rekonstruktion wird übernommen sowohl vom einzelnen Subjekt, indem es als Erinnernde*r oder Erzählende*r fungiert, als auch von der Gruppe als Ganzes, indem sie das Erinnern und Erzählen als soziale, kommunikative und interaktive Praxis aktiviert. Das Familiengedächtnis ist nicht nur ein Gruppengedächtnis, sondern auch ein Generationengedächtnis. Dieser Umstand kommt speziell dann zum Tragen, wenn Migrationen und Migrationserfahrungen im Fokus stehen. Migration nimmt in der familialen Erinnerung einen wichtigen Teil ein, bleibt jedoch von Halbwachs und Nachfolger*innen unerwähnt. Die Kritik am fehlenden Migrationsbezug liegt auf der Hand: Der Austausch von Erinnerungen und Gedanken wird in einer Familienlogik gedacht, die als »einheimisch« gekennzeichnet ist, und nicht übertragen auf Familien, die dem Bild nicht entsprechen. Dabei ist klar, dass jede Gemeinschaft, jede Familie Erinnerungsformate und Erzählstrukturen entwirft und intergenerationell weitergibt. Welzer (2001) definiert das Familiengedächtnis – in Anlehnung an Halbwachs (vgl. 1985) – als eine »praktische Vergegenwärtigung […] im Prozess gemeinsamer Erinnerung« (S. 170). Diese wiederholt sich immer aufs Neue und stellt durch die Wiederholung einerseits und das Potenzial zur Veränderung andrerseits die Identität und Einheit der Familie als Erinnerungsgemeinschaft her. Das familiäre Gedächtnis resultiert vor allem aus den kommunikativen Praktiken und Interaktionen, aus der Nähe zueinander, aus geteilten, gemeinsamen Erfahrungen und weitergetragenen Erzählungen. Das familiale Gedächtnis lässt sich als eine spezifische Form des Erinnerungsmilieus charakterisieren. Das heißt konkret, dass das Familiengedächtnis aufrechterhalten wird durch das Erinnern, Erzählen und Verändern von Erzählmustern und Inhalten durch andere

5. Familie und Biografie

Familienmitglieder. Das familiale Gedächtnis lebt also von einem kommunikativen Austausch zwischen den Einzelnen, aber auch von den Aushandlungen, Diskussionen und eventuellen Widersprüchen, die sich aus dem Teilen von Erinnerungen und Erfahrungen ergeben können. In jedem Falle wird auch kollektiv Erlebtes retrospektiv, subjektiv und situativ erzählt. Spannend ist die Frage, ob wir anstelle eines Familiengedächtnisses von einem Migrationsgedächtnis sprechen können, mit dem Ziel, dass Migration und Familie endlich addiert werden und zu einem Paradigmenwechsel führen. Die Idee von Migration als soziohistorisches und alltägliches Phänomen (siehe Kap. 2.2.1 und 2.2.1) legen diesen Vorschlag nahe. Demnach kann problemlos vom Migrationsgedächtnis gesprochen werden, da Migration ein bedeutender Teil und Realität der postmigrantischen Gesellschaft und postmigrantischer Familien ist. Genauso wäre es auch möglich, die Begriffe Migrationsgedächtnis und Familiengedächtnis analog zu verwenden, wobei diese Verwendung vage bleibt und kein Aufbrechen manifester Strukturen befördert. Es zeigt sich, dass Familien mit Migrationsbezügen »das Familiengedächtnis« prominent für die Vermittlung von durch Migration durchdrungene Familienerinnerungen nutzen, die, wie selbstverständlich, neben jenen Erfahrungen stehen, die nicht migrationsspezifisch sind. »Familiengedächtnis« als Bezeichnung für alle Familien, ob mit oder ohne mehrheimische Erfahrung, erscheint dahingehend passend, sofern es außerhalb der Dichotomien gedacht und damit eine neue, zeitgemäße Normalität erzeugen kann. Ich favorisiere es, das Familiengedächtnis als einen durch Migrationsprozesse und Mobilitätsbewegungen beeinflussten Erinnerungsapparat zu sehen und somit Familien mit Migrationserfahrung selbstverständlich im Konzept des Familiengedächtnisses mitzudenken. Das Familiengedächtnis als Migrationsgedächtnis wird intergenerationell vermittelt, tradiert und rekonstruiert, weswegen bei Erll (2017) auch von einem »intergenerationellen Gedächtnis« (S. 14) die Rede ist. Die vor allem mündliche Weitergabe innerhalb des familiären Gruppenerinnerns garantiert das Lebendigbleiben, aber auch die Veränderund Wandelbarkeit der Narrationen und Erinnerungen. Die Familie wird durch ihre gemeinsam entworfenen Erinnerungen und Erzählungen als soziale Gruppe gestärkt und entwickelt dadurch ein Zugehörigkeitsgefühl. Das entworfene und mitunter einseitig gezeichnete Selbstbild der Gruppe soll dabei möglichst aufrechterhalten bleiben, indem spezifische Erinnerungen wiederholt werden und andere unausgesprochen bleiben (vgl. ebd.). Wie intergenerationelles Erinnern und Erzählen als Teil der Familiengeschichte funktionieren kann, wird nun diskutiert.

5.1.1 Intergenerationelles Erinnern und Erzählen als Teil der Familiengeschichte »Meine Welt besteht aus Dritteln. Ein Drittel Deutschland, ein Drittel China und dieses unförmige Drittel dazwischen. Wenn man ›zwischen den Kulturen‹ aufwächst, wie mein Leben gern fremdverortet wird, denken die meisten schnell in Hälften […]. Sowieso habe ich gelernt, mich Halb-Chinesin oder Halb-Deutsche zu nennen, je nachdem, wessen Exotik bedient werden will. Die Rechnung mit den zwei Hälften geht nicht auf, sie ist absurd, aber eben einfacher. Denn das unförmige Drittel wird selten erzählt. […] In diesem Drittel liegt alles, was in keine der ande-

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ren zwei Schubladen passt. Alles, was eher fragt als antwortet, was nationale Identität längst überwunden hat. Was Erfahrungen sammelt, anstatt Pässe zu zählen.« (Hierse 2019a, o. S.) Jede Generation, jede Familie und jedes Subjekt erinnert und erzählt anders und setzt seinen eigenen Fokus hinsichtlich der Wichtigkeit und Art der Erzählung von Erlebtem und Erinnerungen. Nicht jede erzählbar gemachte Narration ist eine selbsterlebte Erfahrung. Sprich, der*die Erzählende aus der postmigrantischen Generation erzählt die Familiengeschichte auf die eigene Art und Weise nach, ohne einen Großteil der Erfahrungen selbst überhaupt erlebt zu haben. Die Nacherzählung, die er*sie vollzieht, basiert daher sowohl auf den Erinnerungen, die etwa die Großmutter dem Enkelkind erzählt, als auch auf den erzählt bekommenen Erzählungen durch die Mutter, die sie wiederum an ihr Kind weitergibt. Die nacherzählte Erzählung wird durch die dritte Generation somit häufig zu einer nacherzählten Nacherzählung. Sie rekonstruiert das Gehörte, aber auch die eigenen direkt (mit-)erlebten Erfahrungen und Erinnerungen. Direkt ist eine Erzählung dann, wenn sie selbst erlebt wurde. Doch sie ist nicht »wahrer« oder »authentischer« als eine nicht selbst erlebte Situation. Auch die direkte Erfahrung, die sich in einer Artikulation darüber manifestiert, wird schließlich rekonstruiert und kann situativ anders erzählt und interpretiert werden. Jede Erzählung, aber speziell die durch mehrere Generationen vermittelte, wandelt sich und wird reinterpretiert in der Erzählweise, der Gesprächssituation und durch die dialogische Auseinandersetzung mit dem Gegenüber. Gewissermaßen erinnert die intergenerationelle Erzählung der Familiengeschichte an das bekannte Kinderspiel »Stille Post«. Dort sitzen die Kinder in einem Kreis. Das erste Kind überlegt sich einen Begriff, den es im Flüsterton dem nächsten Kind ins Ohr sagt. Bestenfalls wird das Wort von Kind zu Kind korrekt gehört und solange »weitergeflüstert« bis es die letzte Person im Kreis nun laut ausspricht. Erfahrungsgemäß kommt der Begriff am Ende der Spielrunde nur selten richtig an, was aber auch den Spielspaß für die Kinder begründet. Das intergenerationelle Erinnern und Erzählen familialer Erfahrungen wird mitunter auch zum Opfer des »Stille Post«-Effekts und verortet sich schließlich zwischen, vereinfacht ausgedrückt, Fiktion und Wahrheit. Einer der Gründe hierfür ist, dass sich die Nach- und Weitererzählung immer auch nach den Gesprächspartner*innen richtet und ihr Interesse durch eine z.B. überspitzte, humoristische, dramatisierende oder auch stark verkürzte Fassung intensiviert und geweckt werden kann. Weitere Ursachen können sein, dass bestimmte Momente, die das Bild der Erzählung komplementieren würden, schlicht und einfach vergessen wurden. Spezifische Fragmente des Erzählten werden zwischen den Generationen ausgelassen, da sie als nicht wichtig bzw. nicht wichtig genug oder als zu persönlich erachtet werden. Diese persönlichen Erfahrungen bleiben als selten oder gar nicht geteiltes Erinnerungsstück Teil des individuellen Gedächtnisses und werden nicht zu den Erinnerungen und Erzählungen des Familiengedächtnisses hinzugefügt. In jedem Fall ist das intergenerationelle Erinnern und Erzählen ein vielschichtiger Erzählakt, der ein hohes Maß an Bildung fordert – Bildung als eine Art situative Bildungsarbeit und nicht Bildung im formalen Kontext –, es fordert ein hohes Maß an Reflexivität, Konflikt- und Diskussionsfähigkeit, die Fähigkeit, Mehrfachdeutungen zuzulassen und über diese zu verhandeln, Dialogfähigkeit, Selbstbewusstsein und nicht zu-

5. Familie und Biografie

letzt an Interesse am Gemeinschaftlichen. Die Kunst, mehrere Subjekte und Generationsangehörige als Erzählende und Erinnernde einzubeziehen und ihre Geschichten zu verknüpfen, sie miteinander, aber auch getrennt voneinander zu denken sowie eigene Deutungen, Interpretationen und Meinungen dazu zu entwickeln, beschreibt den Prozess des Erinnerns und Erzählens über eine Generation hinaus als bedeutenden und kreativen Akt. Jede Generation und jedes Subjekt trägt zur kollektiven Familiengeschichte, die natürlich auch variabel ist, bei. Das jeweilige Subjekt gestaltet also eine je eigene Erzählpraxis, in der einige Erzählungen wegfallen oder entfremdet werden. Eine Familienerzählung und -erinnerung kann durch die unterschiedlichen Blickwinkel der Erzählenden gleichzeitig mehrere Realitäten abbilden und ausdrücken. Der*die Einzelne hat immer nur Anteil an bestimmten Erinnerungen, denn nicht jede dieser wird weitergetragen. Es gibt nicht die eine wahre Erzählung oder Rekonstruktion der Familiengeschichte, sondern unterschiedliche Facetten und Teilerzählungen, die bei Bedarf hervorgebracht oder auch verändert werden (können). Erinnerungen und Erzählungen können einerseits als wesentlicher Teil der Familiengeschichte betrachtet werden. Andrerseits wirken familiale Erfahrungen und Erzählungen in unterschiedlicher Intensität auf die einzelnen Mitglieder. Hinsichtlich der jüngsten Generation ist es besonders wichtig, dass sie lernt, einerseits bestimmte Familienerinnerungen und -erzählungen zu bewahren, zu tradieren, und andererseits sich auch ein Stück weit von diesen abzugrenzen, um eigene Erinnerungen und Narrationen entwickeln zu können. Jedes Mitglied setzt sich jedoch auf seine Weise mit spezifischen Kontexten der familialen (Migrations-)Erfahrungen auseinander und inszeniert sie als biografisches Konstrukt. Hier folgt nun das Beispiel der jungen Redakteurin Lin Hierse, die in ihrer in regelmäßigen Abständen erscheinenden Kolumne »China Town«5 aus ihrem Alltag und Leben erzählt und dabei karikiert, wie intergenerationelles Erinnern und Erzählen als Teil der Familiengeschichte aussehen kann. Bereits der Name der Kolumne »Chinatown« irritiert aufgrund seiner impliziten Vorstellung eines (vermeintlich) kulturell oder ethnisch zentrierten Ortes bzw. Clusters, von dem angenommen wird, dass er sich nicht verändern würde, und weil Chinatown spezifische Bilder in den Köpfen der Leser*innen entstehen lässt. Das rassistische Vorurteil, dass Menschen, die als »Asiat*innen« fremdgedeutet werden, in Stadtvierteln, wie Chinatown leben würden bzw. müssten, wird von Hierse durch die aktive Nutzung des Begriffes entkräftet. Entscheidend ist, dass die Autorin, die in Deutschland geboren ist und trotzdem vielfach nicht als Deutsche anerkannt wird, diesen Begriff selbst und eigenmächtig nutzt und ihn nicht anderen überlässt. Somit kann er als Beispiel für eine Form der politischen Subversion und als Teil einer postmigrantischen (Alltags-)Praxis verstanden werden. Hierse, die, wie sie schreibt, vielfach Rassismuserfahrungen erlebt hat und als »zwischen den Kulturen« aufwachsend fremdverortet wird, (Hierse 2019a, o. S.), reinterpretiert Chinatown »neu«, anders und die Lebenswelten junger Erwachsenen mit familialer Migrationserfahrung postmigrantisch. Titel und Texte der Autorin, wie z.B. die Überschrift »Das unförmige Drittel. Wer ›zwischen den Kulturen‹ aufwächst, besteht für andere oft aus zwei Hälften. Aber diese Rechnung geht nicht auf« (vgl. ebd.), irritieren die hegemoniale Vorstellung von Normalität. So spricht sie zusätzlich auch hochpolitische Themen an, wie die Feststellung, 5

Die Kolumne erscheint in regelmäßigen Abständen in der »taz am Wochenende«.

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dass das Private auch politisch sei (vgl. Hierse 2020a, o. S.), da auch diese ihre Lebensund Erfahrungswelt tangieren und Teil eigener Erfahrungen und Erinnerungen sind. Neben einer Auseinandersetzung mit aktuellen öffentlichen und politischen Diskursen nimmt sie Bezug auf Privates, das auch als generationsrelevant für junge Erwachsene der postmigrantischen Generationen mit ähnlichen Erfahrungen betrachtet werden kann. Sie spricht hierbei von der »vererbten Last der Migration« und fragt darin, was von der Migration der Vorfahr*innen an der Nachfolgegeneration bzw. »an uns kleben bleibt« (Hierse 2020b, o. S.). Hierse beschreibt, dass die Migrationsentscheidung der älteren Generation vonseiten der Nachfolgegeneration immer mitgedacht werde und die eigene Lebensführung, die getroffenen sowie zu treffenden Entscheidungen beeinflusse. Auch die impliziten Erwartungshaltungen der Eltern gegenüber den Kindern seien im familialen Migrationskontext omnipräsent, da dieser auch die Zerbrechlichkeit biografischer Mobilität repräsentiert: »Wie viel Verantwortung tragen wir für das Glück unserer Eltern? Kinder von Migrant:innen spüren oft besonders viel Druck, Erwartungen zu erfüllen – selbst im Urlaub« (ebd.). Neben der Frage, inwieweit die jüngeren Familienmitglieder den älteren etwas zurückgeben müssten, gewährt sie den Leser*innen Einblick in ihr persönliches Familiengedächtnis. In dem Text »Von Kindheit und Großmüttern: Hände, die mich halten. Gelebtes Leben zeichnet sich auch in den Händen ab. Zwei Großmütter haben viel gesehen und erfahren« (Hierse 2019b, o. S.) skizziert sie die generationsübergreifende, familiale Verbundenheit und emotionale Nähe zu ihren Großmüttern, die trotz der Tatsache, dass sie deren Lebensgeschichten nur fragmentarisch kennt, fortbesteht und andauert. Die Biografien der Großmütter und ihre eigene Lebensgeschichte sind auf verschiedene Weisen verwoben – und sei es nur durch die Rekonstruktion sowie die Auseinandersetzung mit den Leerstellen der Erzählungen seitens der Enkelin. So erzählt die Autorin: Ich kenne Anekdoten und Eckdaten aus dem Leben meiner Großmütter, aber eigentlich weiß ich nichts genau. Manchmal male ich mir ihre Lebensgeschichte aus. Ich setze das unvollständig Überlieferte zusammen, und dann male ich. Drumherum, zwischendrin, manchmal über den Rand. (Ebd.) Dieses fehlende Wissen bezüglich bestimmter Teilaspekte der Biografien der Vorfahr*innen ist charakteristisch für quasi alle Familien. Es ist eine Frage des sich Zeitnehmens, aber auch des Zeithabens, um in der familialen Gemeinschaft Biografiearbeit (vgl. Koller/Kokemohr 1994, 2003) zu betreiben. In der Regel geschieht ein tiefergehender mündlicher Austausch beiläufig und in Form einer Szene und Sequenz des Alltages. Dadurch, dass familiales Erzählen meist spontan erfolgt und das Interesse des Gegenübers erfordert, ist es nachvollziehbar, dass Menschen nicht ohne erzählerische Lücken über das Leben ihrer Vorfahr*innen berichten können. Mobilitätsgeschichten sind in der Regel noch komplexer als jene, die sich auf wenige Orte und Kontexte beschränken lassen. Wir schmieren unsere Mückenstiche mit Tigerbalsam ein und stellen fest, dass die Last auch eine spezifische ist. Dass wir uns überdurchschnittlich verantwortlich dafür fühlen, dass die Lebensgeschichte unserer Eltern gelingt. Ich sage: »Weiß nicht, ob Ma ein besseres Leben in Deutschland wollte. Vielleicht wollte sie einfach ein anderes«,

5. Familie und Biografie

und meine Freundin sagt: »Es ist kein Zufall, dass meine Geschwister und ich stabile Berufe gewählt haben.« Was macht das mit dir, wenn deine Eltern für sich und für dich die Zelte abgebrochen haben? Wenn sie an einen Ort gingen, um dort ewige Anfänger:innen zu sein, obwohl sie das Leben schon einmal durchgespielt hatten? Vielleicht macht es dich zu einer Hülle für alles, was sie hoffen. Du trägst nicht die Hoffnung, sie füllt dich aus, das ist schön und schwer. Wo wird Verantwortung zu Schuld, wie viel Abhängigkeit ist Zuhause und wie viel Gefängnis? (Hierse 2020b, o. S.)

5.1.2 Wissensakkumulation im Kontext von Generation »Wissen ist Macht«, schrieb Francis Bacon; »Ich weiß, dass ich nichts weiß«, sinnierte René Descartes; »Der größte Teil unseres Wissens ist ein Halb- oder Viertelwissen, das einem Nichtwissen schon sehr nahe kommt«, schlussfolgerte Brigitte Fuchs (2011); »Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt«, behauptete wiederum Albert Einstein. Vier Ideen von Wissen, vier Assoziationen. Einer Sache wären sich die vier jedoch wahrscheinlich einig, nämlich: Wissen ist überall und Wissen ist höchstkomplex. (Aber) Wissen wird auch biografisch erzeugt und ist alltäglich. Jedem Menschen ist ein spezifisches Wissen inhärent, wenngleich es zahlreiche Schattierungen von Wissen und Wissensarten gibt und es nicht jedem*jeder gleichermaßen zugänglich ist bzw. zugänglich gemacht wird; nicht umsonst verhelfen Wissen und Bildung den Unterdrückten dabei, ihre sinnbildlichen und realen Fesseln zu lösen. Die Aneignung von Wissen stößt, das zeigt auch die postmigrantische Generation, Empowermentprozesse an. In den realen Lebenswelten wird Wissen hergestellt und intergenerationell weitergegeben. Wissen ist demnach nicht nur Teil von machtvollen Strukturen und wird nicht nur erzeugt von bevorrechtigten Menschen und Gruppen, die sich einer bürgerlichen oder akademischen Wissens(re-)produktion verschrieben haben. So ist die Wissenschaft, die nach Wortursprung und eigenem Impetus nach (vermeintlich) Wissen schafft, nicht die einzige Instanz für die Erzeugung von Wissen. Die Idee, Wissen ausschließlich in sozioökonomisch privilegierteren Herkunftskontexten oder spezifischen Institutionen zu finden, mutet bürgerlich bzw. elitär an. Wissen ist nämlich nicht auf das Universitäre bzw. das Bürgerliche beschränkt – das zu denken, wäre antiquiert und arrogant –, sondern wird genauso im Prekären, im Versteckten, Marginalisierten erzeugt. »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht«, so Michel Foucault (1983, S. 96). Übertragen auf die Wissensakkumulation und Tradierung von Bildung vonseiten der Familien mit Mobilitätserfahrung bedeutet das: Sie entwickeln Widerstand oder Widerständigkeit gegen etablierte, hegemoniale Wissensbestände, indem sie ihre eigenen Wissenskomplexe, die von außen selten als solche anerkannt werden, erstens selbst erkennen und zweitens reproduzieren, indem sie sie intergenerationell weitergeben und somit nicht in Vergessenheit geraten lassen. Aufgrund der bewegten Lebenswelten der Mehrheimischen und ihrer Nachfolgegenerationen entwickelt sich dort vielfach ein spezifisches Wissen, dessen sozialer Status unterschätzt wurde und wird. Es entsteht also eine Art postmigrantisches Gegenwissen zum »immobilen Wissen« Einheimischer, das sich eben aufgrund und nicht trotz der Migrationserfahrungen der Familien und Subjekte ergibt und weitergetragen wird. Es hat eine besondere Wirkung auf die ein-

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Postmigrantische Generation

zelnen Generationen, da es größtenteils biografische Erkenntnisse, aber auch geteilte Handlungsstrategien umfasst, die in stabiles Wissen umgewandelt werden können. Wissen oder Gegenwissen – in Abgrenzung von dominanzgesellschaftlich anerkannten Wissensformen –, das durch Biografien und biografisches Erzählen und Erinnern artikuliert und tradiert wird, entsteht weniger im (wissenschaftlichen) Elfenbeinturm, sondern im Lebensweltlichen und Alltäglichen Mehrheimischer. Alle Menschen sind in Prozesse der Wissensproduktion und -reproduktion, in Wissensvermittlung und -tradierung, in die Herstellung von Wissen und Phänomene der Wissensrepräsentation eingebunden. Sie nutzen zum einen situatives Wissen, indem sie in einem bestimmten Moment emotionale Erinnerungen samt ihrer Verknüpfungen abrufen können. Sie verfügen zusätzlich über (zeitunabhängiges) deklaratives Wissen, das auch als Faktenwissen oder konzeptionelles Wissen bekannt ist. Daneben disponieren sie über prozedurales Wissen, also prozesshaftes, rasch einsetzbares Wissen in Form von Handlungsweisen. Des Weiteren ist ihnen ein sensomotorisches Wissen eigen, das im Zusammenspiel von Körper und Geist quasi automatisch vonstattengeht. Neben diesen gängigen Wissensformen werden je nach Forschungsdisziplin und Kontext weitere Arten von Wissen genannt, die sich in der Regel ergänzen, aber auch überschneiden. Mehrheimische Familien verfügen, so eine These der hier vorliegenden Arbeit, über ein »Mehr an Wissen«, das mit ihren unkonventionellen, grenzüberschreitenden Lebensgeschichten in Verbindung steht. Dieses »Mehr an Wissen« ist direkt verknüpft mit der Möglichkeit für die Nachfolgegeneration, auf die Wissensarten zuzugreifen und aufzubauen. Es handelt sich hierbei um Wissen durch Migration, weitergetragen und vervollständigt durch die intergenerationelle Akkumulation. Im Folgenden zeichne ich nach, wie die Wissensakkumulation zwischen den Generationen funktionieren kann und welche Formen des Wissens besondere Relevanz aufweisen. Die Wissensakkumulation im Kontext von Generationen beinhaltet im Allgemeinen, also das Kollektiv von Mehrheimischen umfassend, einen breiten Wissenskomplex, der nur durch (eigene bzw. familiale) Migration zugänglich ist. Wissensakkumulation hinsichtlich der Generationen umfasst im Besonderen, ergo den*die Einzelne*n betreffend, diverse, auch einzigartige Wissensinhalte, die biografisch determiniert sind und vor allem auf lebensgeschichtlich basierten Erfahrungen beruhen. Diese Formen des Wissens, die sowohl individuell als auch kollektiv bzw. familial erfahrbar (gemacht) werden, haben die Gemeinsamkeit, dass sie durch Bewegung entstehen und über den Herkunftsort hinaus weitergetragen werden. Zloch et al. (2018) sprechen hierbei von »Wissen in Bewegung«: Wissen in Bewegung […] signalisiert den großen Stellenwert, den das diskursive Feld von Zirkulation, Austausch, Interaktion, Verflechtung, Mobilität, Transfer und Grenzüberschreitung seit dem letzten Jahrzehnt in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften eingenommen hat. (S. 4) Den Autor*innen zufolge bringt Migration eine Zirkulation von Wissen mit sich (vgl. ebd.), weswegen Wissen in Bewegung innerhalb seiner Zirkulation grundsätzlich als veränderbar charakterisiert und auf seine Rahmenbedingungen hin erforscht werden muss. Veraltet sei es, Wissen auf mögliche Ausgangspunkte des Entstehens hin zu

5. Familie und Biografie

befragen und/oder von einer linearen, klar abgrenzbaren Ausrichtung des Wissens auszugehen (vgl. ebd.). Vielmehr ginge es darum, gezielt zu fragen: Wie und warum zirkuliert Wissen? Welche Grenzen und Hindernisse überwindet es dabei – oder auch nicht? Welche Rolle spielen klassische Sprach-, Staats- oder Disziplinengrenzen und welche der materielle Charakter von Wissen? Wie verändert sich Wissen in Zirkulationsprozessen? (Zloch et al., S. 4f.) Was in der Migrationsforschung der vergangenen Jahrzehnte kaum eine Rolle spielte, ist die Frage nach dem Wissen, das Migrant*innen und ihre Familien vor der Migration erwerben, anhäufen und während sowie nach der Migration erweitern. Es wird mittlerweile im soziologischen und geografischen Kontext durchaus nach den »Informationen im Entscheidungsfindungsprozess vor einer geplanten Migration« (ebd., S. 7) gefragt, und Push- und Pull-Modelle und -faktoren werden um das Verständnis über »die subjektive Perzeption von ökonomischen, politischen und sozialen Faktoren« (ebd.) ergänzt. Ferner fehlt es jedoch vielfach an Forschung, die an den direkten Erzählungen der Migrierenden selbst ansetzt und nach ihrem im Herkunftskontext erworbenen Wissensrepertoire, seiner Akkumulation, Transformation und Neu- bzw. Umgestaltung fragt. Das »›mitgebrachte‹ Wissen von Migrantinnen und Migranten und dessen Verarbeitung, Transfer und Erweiterung im Transit- wie im Zielland« (ebd., S. 8) wird im wissenschaftlichen, aber auch öffentlichen Diskurs vielfach ignoriert. Aktuell ist in der Debatte rund um die Verknüpfung von Migration und Bildung gern von den PISA-Studien und einem tendenziell schlechteren Abschneiden von Schüler*innen mit Migrationshintergrund die Rede. Sozioökonomische Gründe und institutionelle Mechanismen sowie Strukturen, die Diskriminierung und Rassismus fördern bzw. nicht aufdecken, werden selten als weitreichende Faktoren für Schwierigkeiten im institutionellen Bildungskontext enttarnt bzw. diskutiert. Das Zusammendenken von Wissen und Migration werden in dieser einseitigen, nationalstaatlich geprägten Logik als »fehlendes Wissen« oder »geringeres Wissen« betrachtet. Die Pionier*innen etwa informierten sich über die Möglichkeiten der Migration und die potenziellen Zustände und Verdienstmöglichkeiten im Ankunftsort. Gerade Letztere waren in der Realität oft geringer, als es den Arbeiter*innen versprochen worden war. Die Pionier*innen kümmerten sich häufig selbst um die Beschaffung von Informationen über das Anwerbeabkommen. Dazu nutzten sie die neu geschaffenen Anwerbestellen, z.B. in Narmanlı Han, Istanbul (vgl. Muradoğlu/Ongan 2004, S. 122ff.), oder fragten direkt bei Bekannten nach, die bereits migriert waren. Diese Formen der formellen und informellen Nachforschung festigten bereits vor der Migrationserfahrung das Wissen über die mögliche Arbeitssituation oder den Wohnkontext im Ankunftsort und mündeten nach der Migration in tatsächlichem Erfahrungs- sowie Handlungswissen. Beide Wissensarten sind stark lebensgeschichtlich geprägt. Das Erfahrungswissen wird gemeinhin auch als implizites Wissen (vgl. Polanyi 2016) bezeichnet. Diese Wissensform ist gerade für ein intergenerationelles Transfer von Erfahrungen und für das damit verknüpfte Wissen relevant. Die ältere Generation bringt der jüngeren erlernte Arbeitsroutinen bei, während die jüngere der älteren praktische Tipps zum Umgang mit dem Computer gibt. Das Handlungswissen wiederum ist das erworbene Vermögen, auf äußere Umstände, situativ und eigenmächtig zu reagieren. So organisierten sich z.B. zahlreiche

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Postmigrantische Generation

Arbeiter*innen aufgrund der diametralen Gehälter zwischen »inländischen« und »ausländischen« Angestellten gewerkschaftlich. Sie machten also Gebrauch von ihrem Handlungswissen, indem sie neue Handlungsmöglichkeiten ausprobierten und reaktivieren lernten. Die Kenntnisse also, die die Pionier*innen vor der Migration vermittelt bekamen, bestätigten sich oder bestätigten sich nicht. Jedenfalls mündeten diese teilweise in Handlungsmacht bzw. der Bereitschaft, sich zu engagieren. Neben dem Wissen in Bewegung, dem Erfahrungswissen und dem Handlungswissen werden innerhalb von Familien bzw. Generationen spezifische Wissensformen tradiert, neu bewertet und umgedeutet. Familien mit Migrationserfahrungen sind z.B. im besonderen Maße mobil, weswegen Mobilität als eine wesentliche Form des gemeinschaftlichen Wissensrepertoires und Familiengedächtnisses betrachtet werden kann. Dieses Mobilitätswissen (vgl. Yıldız 2018d, S. 57) unterscheidet sich partiell vom Wissen in Bewegung, da es neben den Erkenntnissen und Kenntnissen über bewegte, transnationale Mobilität auch das Wissen über soziale Mobilität, also über einen möglichen sozialen Auf- oder Abstieg umfasst. In vielen Fällen erfahren Migrant*innen am Arbeitsmarkt eine Deklassierung und üben Tätigkeiten aus, für die sie überqualifiziert sind. »Klassische« Abläufe, Prozesse und Mechanismen, die in der Bevorzugung Einheimischer vor Mehrheimischen enden (können), erkennen und rekonstruieren zu können, kann dabei helfen, entsprechendes Handlungswissen zu generieren. Schließlich soll noch eine letzte Wissensart hervorgehoben werden, das als Alltagswissen benannt werden kann. Es ist eine vielfach zu wenig ernstgenommene Wissenspraxis, da sie biografisch erworben wird und alltäglich ist, sie ist eng verstrickt mit dem Erfahrungs-, Handlungs- und Mobilitätswissen. Es bildet gewissermaßen ein Konglomerat aus diesen Wissensformen. Im Fokus stehen dabei die Vermittlung und Anwendbarkeit von Wissen im Alltäglichen und Lebensweltlichen. Das Alltagswissen ist jenes implizite Wissen, das Auskunft darüber gibt, »wie der Hase läuft«. Ein Verständnis darüber zu haben, wie bestimmte alltägliche, banale Strukturen aufgebaut sind, welche habituellen Gepflogenheiten und Gewohnheiten wie funktionieren, ist besonders für Menschen bedeutend, die seit kürzerer Generationsdauer vor Ort leben. Das Alltagswissen umfasst z.B. auch die Kenntnis über bestimmte Praktiken und religiöse (regionale) Rituale oder Treffpunkte, wie das Café im Dorfzentrum, die für die Logik des Zusammenlebens und der Etablierung vor Ort nötig sind und durch die Weitergabe an die nächste Generation gefestigt werden. Es ist ein Wissen, das auch durch Beobachtung entsteht. Ein Beispiel dafür ist die Idee der ersten und zweiten Generation, Geld anzusparen und zu (re-)investieren, um es irgendwann zu vererben. Wissen innerhalb der Familie und Generationen wird größtenteils mündlich vermittelt, kann aber auch schriftlich weitergetragen werden (Weyand/Sebald 2011, S. 8ff.), etwa in Form von Briefen, Notizen oder Tagebucheinträgen. Wissen kann auch medial, z.B. durch Fotos aus dem Urlaub, Schnappschüsse im Alltag oder Videos von Familienfesten kanalisiert werden. In der Weitergabe des Wissens zwischen den Generationen erfährt seine Komplexität mitunter eine Vereinfachung, sodass die Nachfolgegeneration es selbst erweitern oder auch ersetzen kann.

5. Familie und Biografie

5.2 Die Familie als Ort der Vermittlung von Wissen, Erfahrungen, Erinnerungen und Ressourcen Familien bilden mehrere Orte und Räume im Zusammenleben aus. Nicht alle Räume werden von den Mitgliedern gleichermaßen geteilt. Dieser Umstand hängt zusammen mit der unterschiedlichen Generationslagerung, dem Generationszusammenhang und der Generationseinheit (siehe Kap. 4.2) sowie der Verschiedenheit der Lebenswelten, -praktiken und -logiken, in denen sich die Generationsangehörigen außerhalb der Familie verorten. So ist der jüngsten Generation die Arbeitswelt und vielleicht der Freizeitkontext der Eltern fremd und die Elterngeneration kennt den formalen Bildungskontext der Kinder nur aus den kindlichen Erzählungen und den wenigen Momenten, wie den Elternsprechtagen, an denen Treffen zwischen Schule und Familie inszeniert werden. Die Familie als Ort ist selbstredend divers. Sie ist der Ort von Gemeinschaften, in denen Unterschiedliches vermittelt und in Folge auch erweitert, verändert oder auch verworfen wird. Die Familie als Ort hat vielfache Funktionen, wie der Schutz der Kinder (Familie als geschützter Raum und Ort der Sicherheit im kindlichen Aufwachsen)6 , die Unterstützung, Anleitung und Erziehung der Kinder zu mündigen und verantwortungsvollen Erwachsenen (Familie als Ort der Erziehung und Familie als Ort der Wertegemeinschaft) sowie die Vermittlung von Familienwissen und des Familiengedächtnisses zur Aufrechterhaltung und Legitimierung des Fortbestandes des familialen Konstruktes. Genauso kann die Familie ein Ort sein, an dem eine (intensive) Politisierung stattfindet (Familie als Ort der Politisierung und Partizipation).7 Die Familie ist auch ein Ort, an dem Kapitalsorten nach Bourdieu gefördert und vermehrt werden. Büchner und Brake (2006) gehen davon aus, dass innerhalb der Familie eine sogenannte Kapitalbewirtschaftung erfolgt (S. 256), die dafür sorgen will, dass soziale, symbolische Familientraditionen, -rituale, -werte, aber auch familiale Erinnerungsstrukturen erhalten werden. Auch ökonomisches Kapital soll oder will in familialen Gemeinschaften angehäuft, umgewandelt, erweitert werden. So veranschaulichen die Lebensgeschichten der Pionier*innen, dass sie versuch(t)en, das ökonomische Fundament für die Existenzsicherung sowie die Bildung und Ausbildung der Kinder und Enkelkinder zu legen. Des Weiteren ist es so, dass ein höheres bzw. doppeltes Einkommen durch die gleichberechtigte Lohnarbeit von Frauen und Männern den innerfamiliären Bewegungsspielraum erweitert, sodass neben den Grundbedürfnissen, die gestillt werden müssen, Ansparungen, Investitionen, außerschulischer Nachhilfeunterricht, Urlaube oder besondere Freizeitaktivitäten realisierbar sind. Orte innerhalb der Familie und vor allem die Tätigkeiten und Funktionen, die dort ausgeübt werden, sind nicht von sozialen und gesellschaftlichen Abläufen und Strukturen getrennt. Familien sind immer auch in größere gesellschaftliche Zusammenhänge

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Familie als geschützter Raum ist idealtypisch, denn nicht jede Familie erfüllt diese Funktion oder kann sie ausreichend erfüllen. Eine verstärkte, frühzeitige Politisierung innerhalb der Familie haben auch einige der Gesprächspartner*innen dieser Qualifikationsarbeit erlebt. Dazu mehr in den Fallbeispielen. Der Migrationskontext der Großeltern hat in mehreren Fällen Einfluss auf die Hervorbringung eines politischen Bewusstseins und des politischen, zivilgesellschaftlichen Engagements einiger Erzählender.

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Postmigrantische Generation

auf der Metaebene eingebunden. Demnach wird die Erziehungsaufgabe, die primär bzw. (zu Unrecht) ausschließlich der Familie zugerechnet wird, durch Menschen, die die familiäre Kerngruppe erweitern, und durch erziehungsfördernde bzw. sozialisierende Institutionen und Instanzen unterstützt und ergänzt. Die Einführung eines verpflichtenden Kindergartenjahres vor Eintritt in die Schule im Jahr 2010 (vgl. Erkurt 2020, S. 28) wertschätzt die Zeit im Kindergarten als pädagogisch wertvolle, sozialisierende Erfahrung und ist richtungsweisend für eine Perspektive, bei der eine gesamtheitliche(re) Bildungsarbeit früher, also im vorschulischen Bereich beginnt. Mit der Etablierung des zumindest einjährigen Kindergartenbesuchs wurde ein wichtiger Schritt hin zu mehr Bildungsgerechtigkeit getan, dennoch kommen sowohl frühkindlicher Bildung (vgl. ebd., S. 50) als auch familialer Bildungsexpertise zu wenig Anerkennung zu. Dabei bedeutet Bildungsexpertise außerdem die Übernahme einer beratenden Funktion durch die älteren Familienmitglieder. Gleichzeitig übernehmen im Jugendalter gleichaltrige Freund*innen, Professionelle wie Sozialarbeiter*innen oder andere Menschen, die in das Leben der postmigrantischen Generation treten, beratende Tätigkeiten. Aufgrund konträrer Bedürfnisse, Lebensentwürfe und Ansichten seitens der einzelnen Familienangehörigen ist es durchaus wichtig, auch außerhalb der Familie solche ähnlichen Orte zu finden oder eigene zu gründen. Diese zusätzlichen Räume sollten abseits vom Familialen liegen, weil die Familie nicht alle Funktionen erfüllen kann und soll. Beachtet werden muss, dass ein Lerneffekt und die Weitergabe von Bildungsaspekten gleichfalls von den Jüngeren ausgeht und auf die älteren Generationsmitglieder übertragen wird. Die Weitergabe von Wissen, Erfahrungen, Erinnerungen und Ressourcen ist also kein linearer, einseitiger und nur von einer Generation ausgehender Prozess, sondern wirkt reziprok und ist dynamisch. Überdies übernehmen die Jüngeren auch Beratungssettings im Familiären. Es lässt sich gerade hinsichtlich der zweiten und dritten Generation beobachten, dass eine Rollenumkehr zugeschriebener Aufgaben innerhalb der Generationen erfolgen kann. Das zeigt sich z.B. darin, dass die postmigrantische Generation die Verantwortung für Amtsgänge oder Übersetzungsarbeiten übernimmt (siehe Fallrekonstruktion Malu in Kap. 6.3). Aufgrund der (mehrfachen) Sprachkompetenz und des Wissens, wie in einem spezifischen Kontext gesprochen, argumentiert und habituell gehandelt wird, übt sie, als Unterstützungsformat, deutlich früher als die gleichaltrige »einheimische Generation«, Tätigkeiten aus, die primär die Lebenswelten der (Groß-)Eltern betreffen. Die Übernahme von etwa Bürokratischem ist eine mögliche Form der Hilfestellung, wie es für verwandtschaftliche/emotionale Gemeinschaften durchaus typisch ist, und bedeutet nicht, dass die erste oder zweite Generation hilflos oder unselbstständig wäre. Genauso sagt es wenig über ihre Sprachkenntnisse aus; es offenbart nur, dass sich die postmigrantische Generation selbstverständlicher und normalisierter in den Lebens- und Sprachwelten der postmigrantischen Gesellschaft verortet und bewegt. Die (Groß-)Elterngeneration hingegen hat vielfach die Erfahrung gemacht, dass ihr gesprochenes oder schriftliches Deutsch problematisiert und als fehlende oder nicht ausreichende Kompetenz charakterisiert und in Folge auf die Gesamtheit der Person überschrieben wird, denn »Sprachrückstand wird oft verwechselt mit intellektuellem Rückstand« (Schneider et al. 2015, S. 45). Die Familie als Ort der Weitergabe von Wissen, Erfahrungen, Erinnerungen, Ressourcen subsumiere ich als einen Ort der Bildung. Marina Rupp und Adelheid Smolka (2007) unter-

5. Familie und Biografie

streichen die dort herrschende informelle Bildungsfunktion und -ausrichtung von Familie, in der es zur intergenerationalen Weitergabe, Ausbildung und Verarbeitung von »Alltags- und Daseinskompetenzen« kommt (S. 225). Diese Alltags- und Daseinskompetenzen »reichen von sehr konkreten Fertigkeiten und Fähigkeiten, wie beispielsweise Haushaltsführungskompetenzen, Kenntnisse über Gesundheit und Ernährung, Wissen über den Umgang mit Geld, Strategien zur Informationsbeschaffung und die Fähigkeit zu einer differenzierten Bewertung der erhaltenen Information bis hin zu grundlegenden Haltungen und Wertorientierungen« (ebd., S. 225). Büchner und Brake (2006) wiederum bezeichnen Familien als Bildungsorte, an denen familiäre Transmissionsprozesse vollzogen werden (vgl. S. 255ff.). Innerhalb der Familie bildet sich ein je innerfamiliärer bzw. familienspezifischer Habitus aus, der anderen Familien vertraut, zu Teilen (un-)bekannt oder gänzlich unbekannt sein kann. Um die Familie als Bildungsort zu verstehen (siehe Kap. 6.2.1), gilt es, auf die Besonderheiten der Familie, insbesondere ihre Ressourcenlage (vgl. Büchner 2006a, S. 15) zu blicken und darüber hinaus die soziale Praxis der zwischenmenschlichen Vermittlung, Tradierung und Akkumulation von Bildung zu hinterfragen (vgl. ebd.). Die Familie richtet ihren Alltag nicht ausschließlich oder primär auf den Bildungserwerb oder die Weitergabe von Lern- und Bildungseffekten aus, wenngleich etwa die Betreuung und Begleitung der Kinder zur Erarbeitung der Schulaufgaben ritualisiert sein kann. […] viele (vielleicht sogar die Mehrzahl der) kulturellen Praktiken im Familienrahmen dienen (zumindest vordergründig) oft ganz anderen Zwecken (»Freizeit«, »Spaß haben«, alltägliche Gewohnheiten und Rituale), wobei den beteiligten Personen die (mehr oder weniger große) Bildungsrelevanz ihres Handelns oft gar nicht bewusst wird. (Büchner 2006a, S. 15f.) Bildung und ihre Aspiration befördert »Teilhabechancen am kulturellen und sozialen Leben« (Büchner 2006b, S. 23) und wird dadurch zur Bedingung, um in sämtlichen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen, über den Bildungskontext hinaus, partizipieren zu können (vgl. ebd.). Diese Form der Vermittlung und Tradierung informeller Bildung ist wesentlicher Teil der Familie und wird »über die Reziprozität der familialen Generationenbeziehungen und die Wechselseitigkeit des Gebens und Nehmens im Familienalltag realisiert. In diesem Sinne hat Bildung (zunächst!) weniger mit Laufbahndenken und Karrieren zu tun, sondern bezieht sich mehr auf allgemeine Lebensführungskompetenzen« (Büchner 2006b, S. 23). Diese Kompetenzen hinsichtlich der eigenen Lebensführung sind entwicklungsfördernd und persönlichkeitsstärkend. In unseren weiteren Überlegungen gehen wir also davon aus, dass die Formen und Inhalte der Weitergabe und Aneignung von Bildung und Kultur am Bildungsort Familie, die sich im Rahmen der Vielfalt der unterschiedlichen kulturellen Alltagspraktiken in den verschiedenen Familien vollziehen, im gesellschaftlichen Zusammenleben nicht nur in unterschiedlicher, sondern in sehr ungleicher Form anerkannt werden. Denn sobald soziale und kulturelle Differenzen mit Erfahrungen der sozialen und kulturellen Diskriminierung oder Privilegierung aufgrund von unterschiedlichen bildungs- und/oder kulturabhängigen Weltsichten, Lebensstilen oder Geschmacksmus-

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tern einhergehen und mit gesellschaftlichen Inklusions- oder Exklusionseffekten verbunden sind, werden aus sozialen und kulturellen Unterschieden soziale und kulturelle Ungleichheiten. (Büchner 2006b, S. 26) Diese Formen der Ungleichheit werden strukturell weitergetragen und sorgen für eine Verhärtung der Bildungsmöglichkeiten, die sich vielfach als Unmöglichkeiten offenbaren und hervorheben, dass im Bildungssystem doch nicht alle gleich sind (vgl. Hamburger 2005, S. 16). Die Gefahr, dass aus Unterschieden, die aus der heterogenen Transmissionspraxis und ihrer Gewichtung im Familialen resultieren, Ungleichheiten werden bzw. als solche im gesellschaftlichen Zusammenleben noch verstärkt werden, betrifft vor allem mehrheimische Familien. Dabei ist es erforderlich, anstatt weitere Differenzlinien zwischen von außen als »Migrationsfamilien« benannten und »einheimischen Familien« zu ziehen, einen Paradigmenwechsel anzustreben: nämlich anzuerkennen, dass die Pionier*innen und die Nachfolgegenerationen über »weniger (Generationen-)Zeit« im Ankunftsort verfügen als Familien, die seit »jeher« vor Ort leben. Allein daran gemessen – und an spezifischen Biografien veranschaulicht –, zeigt sich, wie beachtlich der soziale, berufliche Aufstieg der Generationen demnach wirklich ist. Darüber hinaus gilt es, hervorzuheben, dass in mehrheimischen Familien Wissensformen, Erfahrungen, Erinnerungen und Ressourcen geteilt werden, die spezifisch sind. Ich verstehe Familien mit und ohne Migrationserfahrungen gleichermaßen als eben solche Orte, an denen die Weitergabe von Kapitalsorten, Erfahrungen erfolgt und Wissensvermittlung vollzogen wird. Anstelle jedoch Migration zu problematisieren, ist die familiale Mobilität eine entscheidende Ressource, die die Biografien der Generationsangehörigen prägt und ihren Lebensweg positiv beeinflussen kann (vgl. Oberlechner et al. 2017). Mehrheimische Familien sind also Orte, an denen Prozesse des Lernens, der Bildung und Weiterbildung angestoßen werden. Die Familie möchte an der Vorstellung, die sie von sich selbst hat, festhalten und diese gewissermaßen in Form eines »Familienprojektes« erhalten und ausweiten. Sie sucht ihre Berechtigung durch das Aufrechterhalten bzw. Ergänzen des Familiengedächtnisses, des erworbenen Erfahrungsschatzes und möchte dem Familienverein einen tieferen Sinn geben. Dieser tiefere Sinn offenbart sich auch in der Art und Weise, wie über familieninterne Wissensformen, wie z.B. dem Mobilitätswissen, oder Ressourcen, etwa der Kompetenz zur Problemlösung, gesprochen und ferner geurteilt wird. Es geht schließlich darum, die Migration nicht als Hemmnis für die Nachfolgegenerationen zu sehen, sondern als bildungsfördernd und biografisch relevant zu betrachten. Der ArbeitsmigrantInnen in der Regel unterstellte traditionale Familialismus stellt demnach nicht per se ein Hindernis für die Realisierung von Bildungsaspirationen in einer »modernen« Gesellschaft dar. Im Gegenteil, emotional stützende familiale Bindungen sind für die zweite Generation vielmehr eine Ressource, einen Lebensweg zu beschreiten, der die Intentionen der Eltern auf ein »besseres Leben« zwar aufnimmt und sich somit zum Migrationsprojekt solidarisch verhält, dies aber mit anderen Mitteln als der puren körperlichen Arbeitskraft zu realisieren versteht, ohne dabei in überwindliche Konflikte mit den Eltern zu geraten. (Breckner 2009, S. 57f.)

5. Familie und Biografie

Es braucht solange ein bestimmtes Überbetonen, ein spezifisches Überzeichnen und ein stetiges Wiederholen, ein angestrengtes Repetieren über die Bedeutung und Daseinsberechtigung von mehrheimischen Familien als Orte der Vermittlung und Tradierung von Erfahrungen, Erinnerungen, Wissensarten und Ressourcen, bis dieses Wissen, endlich Einzug in die allgemeinen Normalitätsvorstellungen über Familie findet und damit irgendwann, wenn von Familie gesprochen, erzählt oder geschrieben wird, tatsächlich jede Familie – und damit meine ich, wirklich jede Familie – gemeint ist bzw. sich als gleichberechtigt angesprochen fühlt. Mit Bourdieu (1998) gesprochen: Kurz, die Familie in ihrer legitimen Definition ist ein Privileg, das zur allgemeinen Norm erhoben wurde. Ein faktisches Privileg, das ein symbolisches Privileg impliziert: das Privileg zu sein, wie es sich gehört, der Norm zu entsprechen, also den symbolischen Profit aus der Normalität zu ziehen. Wer das Privileg hat, eine der Norm entsprechenden Familie zu haben, ist in der Lage, dies auch von allen anderen zu verlangen, ohne die Frage nach den Voraussetzungen (zum Beispiel ein gewisses Einkommen, eine Wohnung usw.) der Verallgemeinerung des Zugangs zu dem stellen zu müssen, was er als ein Universelles verlangt. (S. 131f.)

5.2.1 Familiale Praktiken als Transtopie Familie, Familienkonstellationen und -konstruktionen haben sich sozialhistorisch betrachtet von einer »biologischen bzw. naturgegebenen Notwendigkeit« hin zu einer komplexen Idee und (Herstellungs-)Leistung gewandelt, die die verstärkte Teilnahme am Projekt Familie sowie die Aktivität der einzelnen Mitglieder daran erfordert. Die Familie, die sich in unterschiedlichen Zusammensetzungen zeigt und »kulturell, historisch und individuell variabel« (Maack 2013, S. 47) ist, muss also immer wieder aufs Neue aktiv erzeugt werden und benötigt Menschen, die an dieses Konstrukt und seine Funktion bzw. Nezessität glauben. Die Herstellung von Familie und der jeweiligen Familienlogik erfolgt vor allem durch familiale Praktiken, Interaktionen und Artikulationen, die zum einen die Familie als Gesamtheit legitimieren und zum anderen die verschiedenen Lebenswelten, Bedürfnisse, Vorstellungen, Ideen, Ressourcen und Besonderheiten der Einzelnen kombinieren und verknüpfen wollen. Familiäre Praktiken im Speziellen dienen besonders dazu, Zugehörigkeitsgefühle innerhalb der Familie herzustellen und aufrechtzuerhalten (vgl. ebd.). Familiale Praktiken werden von Familienmitgliedern situations- und kontextbezogen hergestellt. Sie werden diskursiv erzeugt und können auch Teil einer diskursiven Praxis (vgl. Foucault 1973, S. 171) sein. Unter einem Diskurs wird eine sprachliche Formation oder Verkettung verschiedener Aussagen verstanden. Eine diskursive Praxis meint spezifischer »eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben« (ebd., S. 171). Familiale Praktiken werden zu großen Teilen durch solche diskursiven, sprachlichen Aspekte, aber auch durch performative Darstellungsweisen und -akte vermittelt. Mittels sprachlicher und performativer Artikulation gelingt es der Familie – beiläufig und all-

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Postmigrantische Generation

tagsweltlich –, familiäre Selbstverständlichkeiten zu generieren. Familiale Praktiken benötigen alltagsbasierte Räume, in denen die Mitglieder aufeinandertreffen, gemeinsam in Interaktion treten und somit die Prozesse der Herstellung dieser Praktiken vollziehen. Mehrheimische Familien lassen sich nicht auf einen Raum, Ort oder Kontext eingrenzen. Das macht sowohl die Komplexität als auch die Chance und Wandelbarkeit von Räumen aus, in denen nicht alle Familienmitglieder gleichzeitig sein müssen bzw. können. Demnach werden auch ihre intergenerationellen Praktiken an mehreren Orten und in vielfältiger Verknüpfung reaktiviert. Die Tatsache, dass ihre Praktiken translokal sind, macht das Spektrum der Praktiken größer und heterogener und eröffnet neue Handlungsspielräume. Die Translokalität bzw. transnationalen Bezüge machen aber auch die Aufrechterhaltung von Familienbeziehungen komplexer, denen emotionale Verbindungen und das Gefühl von Zugehörigkeit zugrunde liegen (sollen). Es braucht also innerhalb einer durch Mobilität geprägten Familie mitunter eine größere Kraftanstrengung, eine zeitliche und geografische Flexibilität, um familiäre Bezugspunkte zu pflegen und Beziehungsarbeit über die Grenzen hinweg zu leisten, da gemeinsame Räume nicht durchgehend zur Verfügung stehen. Das Bewahren und Neuerfinden familialer Praktiken können jedoch in umgekehrter Weise aufgrund der verschiedenen familiären Bezugspunkte und -menschen qualitativ belebt und innovativ hervorgebracht werden. Eine bewegte Familienbiografie manifestiert sich als Chance, nicht als Risiko. Das familiäre Netzwerk mehrheimischer Familien ist nicht nur haushaltsübergreifend, sondern reicht auch über das Verständnis von Familie als ortsgebundene und statische Gemeinschaft hinaus. Die Familiengemeinschaft per se lebt zwar von den regelmäßigen Gelegenheiten und Möglichkeiten, sich auszutauschen und zu treffen. Dennoch sind die Interaktionen auch dann realisierbar, wenn die Familienmitglieder woanders leben. Durch globalisierte Prozesse, wie etwa die breite Digitalisierung, werden virtuelle Treffen via Videochat ermöglicht. Obendrein verkürzen sich aufgrund vergünstigter sowie verstärkter Flugverbindungen geografische Distanzen und der gemeinsame Besuch von Familienfeiern, wie Hochzeiten oder Geburtstagen, sind keine Seltenheit. Innerhalb, zwischen und außerhalb geografischer Grenzen, im Ent-Grenzten also, entwickeln sich neue Räume des Miteinanders, die auch für die unterschiedlichen Familienkonstellationen interessant sind und intergenerationelle Verbundenheit und Bezugnahme intensivieren können. Es lohnt sich daher, den Blick auf ent-grenzte Wissensarten zu legen, die den Rahmen dominanten Wissens und Denkens ausdehnen. Dieses Grenzwissen, das durch (wörtliche und tatsächliche) Grenzerfahrungen ermöglicht wird, hängt zusammen mit dem Verständnis epistemischer Gewalt (vgl. Castro Varela 2015), das eine eurozentristische bzw. westliche Perspektive auf die Welt als einzig wahre phantasiert und nicht-westliche sowie marginalisierte, vulnerable Positionen ausklammert. Die epistemische Gewalt ermöglicht supplementierend eine Analyse der Wissensproduktionen und fokussiert die Beziehung zwischen Wissen und Macht wie auch ein differenziertes Verständnis von Subjektproduktion dadurch möglich wird. Relevante Fragen sind etwa: Welches Wissen findet Anerkennung? Wer profitiert von welchem Wissen? Und wie wird nicht-hegemoniales Wissen disqualifiziert? (Castro Varela/Dhawan 2016, S. 16)

5. Familie und Biografie

Die Qualität von Familie ergibt sich nicht unbedingt dadurch, dass Familienmitglieder in ständigem persönlichen Kontakt zueinanderstehen, sondern durch das Neuinterpretieren und Lesen zwischen den Zeilen familialer Erinnerungen und Erzählungen. Eine Familie kann sich täglich treffen und trotzdem findet möglicherweise kaum tiefergehende Kommunikation bzw. Interaktion zwischen den Mitgliedern statt, sodass das Familiengedächtnis profan bleibt. Gegenteilig kann innerhalb einer Familie, ungeachtet der Verortungspraxen der Familienangehörigen, eine intensive(-re) Vergemeinschaftung und Tradierung der familiären Ressourcen, Erfahrungen und Erinnerungen vollzogen werden. In der Betrachtung mehrheimischer Familien und postmigrantischer Lebensentwürfe geht es darum, Gewohntes und Erlerntes – also z.B. die Annahme, eine Familie müsste gemeinsam vor Ort leben – zu hinterfragen, um zu verstehen, dass sich Familienmitglieder gleichzeitig (körperlich) voneinander weg- und (emotional) zueinander hinbewegen können. Schließlich verkörpern sie Mobilität und Vielheit und sind mobile Lebensgestalter*innen. Familiensinn, familiale Verbundenheit und das Ausgestalten eigener Lebensentwürfe sind also kein Widerspruch, sondern Prozess und Ergebnis erfindungsreicher und produktiver, intergenerationeller Alltagsbewältigung bzw. Biografiearbeit. Familiale (postmigrantische) Alltagspraktiken interpretiere ich als ein Ergebnis von unterschiedlichen Zugehörigkeitsverhältnissen und Verortungspraxen, intergenerationalen Auseinandersetzungen und zahlreichen Verhandlungen, aus denen spezifische Artikulations- und Wissensformen hervorgehen können. Aufgrund der (beinahe) alltäglichen Überschreitung von Grenzen, Grenzerfahrungen, Lebenswelten und Kontexten innerhalb der getätigten Praktiken kann von intergenerational erzeugten Transtopien (vgl. Yıldız 2013, S. 32) gesprochen werden. Intergenerational gebildete Transtopien sind Räume, in denen biografische und familiale (Migrations-)Erfahrungen sowie unterschiedlichste »lokale und grenzüberschreitende Elemente miteinander verknüpft werden« (Yıldız 2018c, S. 54) und sich zu familialen Praktiken verdichten. Mittels dieser Praktiken werden soziales und kulturelles Kapital, aber auch biografische Erfahrungen und Ressourcen vonseiten der Nachfolgegeneration und ihren Familien verknüpft und je nach Situation und Umstand miteinander kombiniert und ritualisiert. Solche Praktiken, in denen Kapital, akkumulierte biografische Ressourcen sowie familiale Wissensarten je nach Situation und Umstand miteinander kombiniert und in den Alltag übertragen werden, sind z.B. Tischgespräche. Während Angela Keppler (1994) in ihrer Forschung »Tischgespräche« und die dort erfolgte kommunikative Vergemeinschaftung von Familie untersucht, sind bei mehrheimischen Familien multidimensionale Formen dieser Art und Logik von Kommunikation und Artikulation vorzufinden. Am tagtäglichen Gesprächsverhalten bei Tisch wird sichtbar, welche gemeinsamen Fertigkeiten die Mitglieder einer Familie ausgebildet haben, ihre Erfahrungen weiterzugeben und ihre Konflikte zu regeln. An der Konversation am Tisch wird sichtbar, wie individuelle Familien die allgemeinen Möglichkeiten der banalen, alltäglichen Weltaneignung ausnutzen. An diesen Beispielen wird deutlich, in welchem Maß kleine soziale Gemeinschaften wie die (heutige) Familie – im Guten wie im Schlechten – Kommunikationsgemeinschaften sind. (Keppler 1994, S. 27)

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Postmigrantische Generation

Die Tischgespräche von bewegten Familien sind weniger, wie es Keppler skizziert, in ihrem Inhaltlichen, wohl aber teilweise in ihrer Räumlichkeit und Zeitlichkeit geplant und vorstrukturiert. Sie sind unscheinbare Momente des Alltages, an denen situativ gemeinsam erzählt, erinnert, zugehört, diskutiert, gelacht, getrauert und mitunter Dramatisches verarbeitet wird. Gerade gemeinsames Essen, aber auch jene Tätigkeiten, die damit verbunden sind, wie das Kochen der Mahlzeiten, das Decken oder Abräumen des Tisches oder das Abspülen sind normalisierte Handlungen. Die Normalisierung, aber auch die Einfachheit der Tätigkeiten führt dazu, dass nebenbei gesprochen wird. Die Gesprächsinhalte sind mal intensiver, mal banaler. Genauso gehört gezieltes oder zufälliges Schweigen zu Tischgesprächen dazu und gibt Auskunft über die familiäre Gesprächskultur. Die Besonderheit mehrheimischer Familien bezüglich der Gespräche am Mittagstisch ist, dass sich die Art und Weise, wie die Kommunikation erfolgen kann, unterscheidet. Sie ist nicht auf eine Räumlichkeit, eine Örtlichkeit, an der sich alle versammeln oder die Anwesenheit der gesamten Familiengemeinschaft angewiesen, sondern kann auch in wechselnder Zusammensetzung sowie virtuell oder hybride gestaltet werden. Mehrheimische sind darauf angewiesen, Kommunikationsnetzwerke zu formieren und zu nutzen, der dem bewegten Charakter der Familienmitglieder entspricht. Die Pioner*innen etwa schickten ihren Angehörigen Postkarten, schrieben Briefe oder nahmen Audiokassetten auf (siehe Fallrekonstruktion Enes in Kap. 4.5). Die Kassetten wurden meist, nachdem sie von dem*der Empfänger*in gehört wurden, mit eigenen Sprachnachrichten überspielt und wieder zurückgeschickt. Die Kassette fungierte als ein Medium, das familiale Tischgespräche gewissermaßen imitierte, in jedem Falle aber die zwischenmenschliche, generationsübergreifende Verständigung aufrechterhalten konnte. Auf diese Weise wurde versucht, ein räumlich getrenntes Familienleben zu organisieren und so gut wie möglich zusammenzufügen. Sowohl diese Praktiken der grenzübergreifenden bzw. virtuellen Tischgespräche als auch die Dialoge durch Audiokassetten8 sind demnach intergenerational hergestellte Transtopien. Familiäre Praktiken lassen sich nicht nur in Zwischenräumen realisieren, sondern können genauso die Form einer Assemblage einnehmen.

5.2.2 Familiale Praktiken als Assemblage Der familiale Erfahrungshorizont und die diversen familialen Alltagspraxen ergeben sich aus dynamischen Kombinationen und den Verknüpfungen unterschiedlicher Elemente, aus denen wiederum neue Bedeutungen entstehen können, ähnlich einer Assemblage. Das Konzept der Assemblage stammt aus der bildenden Kunst. Dort wird eine Art mehrdimensionale Collage gestaltet, deren reliefartiger Untergrund mit diversen Materialien wie Knöpfen, Metall, Schrauben, Holzstücken, Mosaiksteinen, Tonresten, Plastikteilen oder Stoffen beklebt wird und so für eine räumliche Ausdehnung sorgt. Eine Assemblage verbindet also Materialien und Texturen, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen oder zusammengehören. Wird die Idee der Assemblage wissenschaftlich weitergedacht (vgl. Deleuze/Guattari 1992), ist damit die kontingente 8

Aktuell gewinnen Sprachnachrichten an Bedeutung.

5. Familie und Biografie

Verknüpfung von Praktiken impliziert, die einen bestimmten sozialen Raum etablieren (vgl. De Landa 2006) bzw. eine neue Form der Territorialität erschließen können (vgl. Häußling 2014, S. 89). Die Verbindung dieser Praktiken und das, was daraus entsteht, können, ähnlich wie in der Darstellungsweise in der Kunst bzw. als Kunst(-form), als widersprüchlich oder oberflächlich betrachtet, als nicht zusammengehörend imaginiert werden, wodurch jedoch Mehrwert erst entsteht. Assemblagen sind historisch-spezifische, von den jeweiligen Umständen bestimmte Bündelungen verschiedener Komponenten, die aber nicht als stabile Einheiten zu verstehen sind […]. Die Frage stellt sich: Welche Formen des Handelns, Fühlens, Wünschens sind möglich? Miteinander verknüpft wird ganz Unterschiedliches wie etwa Menschen, Dinge wie z.B. Medien, soziale und kulturelle Praktiken, Institutionen, Diskurse etc. Die daraus erwachsenden Assemblagen sind durch ein Pulsieren von Energien gekennzeichnet, wobei nicht von vornherein festgelegt ist, ob, wann und wo sie sich in welcher Form aktualisieren […]. (Hipfl 2020, S. 306) Die einzelnen Binde- bzw. Mitglieder einer Assemblage sind dazu in der Lage, »andere zu affizieren und selbst affiziert zu werden […]. Das ist vereinfacht ausgedrückt, die Fähigkeit der einzelnen Komponenten, sich mit anderen Komponenten zu verbinden« (ebd.). Durch Assemblagen werden Menschen also einerseits »bewegt«. Andererseits werden sie durch neue Konzepte, Anschauungen und Ideen dazu angeregt, bestimmte Phänomene des Alltags, der Lebenswelt oder altbekannte Theorien sowie Lebensentscheidungen zu hinterfragen und neu zu denken. Assemblagen können also dazu führen, dass sich die Betrachtungsweise auf etwas – z.B. eine Arbeitssituation, eine bestimmte Vorstellung, eine Person, eine Tradition – ändert und ein Perspektivenwechsel vollzogen werden kann. Nicht umsonst können sie, so Hipfl, in Anlehnung an Guattari und Deleuze, Prozesse des Werdens (vgl. ebd.) initiieren, befeuern sowie Phänomene des Doing (vgl. ebd.) anstoßen. Schließlich geht es bei Assemblagen immer auch um das Tun, das Handeln an sich. Die Assemblage als Konzept kann Unterschiedliches umfassen, sowohl die Verknüpfung von Menschen (als Assemblage) als auch die Verknüpfung von Praktiken/ Handlungen (als Assemblage). Zum einen kann eine spezifische Konstellation von Menschen – hervorzuheben ist hierbei die Familie –, eine Assemblage aus- und abbilden. Die Familie als eine Assemblage ist in der Regel relativ stabil, da sie auf normativen, emotionalen, generationsübergreifenden, aber auch ökonomischen und sozialen Grundsätzen, Wertvorstellungen und habituellen Spezifika aufbaut. Dennoch ist auch sie – und das ist charakteristisch für dieses Konzept – durch Dynamiken und das Potenzial zur Veränderung oder Abspaltung gekennzeichnet. Die Familie und ihre Mitglieder variieren und erneuern sich laufend. Innerhalb der (Kern-)Familie können sich, z.B. zwischen den Geschwistern, separate Verbindungen ausbilden. Neben der Familie als Assemblage verfügen die Familienmitglieder über weitere verbindende Zugehörigkeiten, die ihrerseits Assemblagen bilden. Diese sind vielfach fluider und werden vorzeitiger verlassen und durch neuere Varianten ergänzt, als es bei der familialen Gemeinschaft meist der Fall ist. Als Beispiel kann eine Handballmannschaft genannt werden. Die Sportler*innen des Teams teilen bestimmte Verknüpfungen, etwa das Ziel, jeden einzelnen Wettkampf

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der Saison zu gewinnen. Durch diese gemeinsame Haltung erklären die Mitglieder der Assemblage die körperlich fordernden Trainingseinheiten und das Festhalten an bestimmten Ritualen, die außerhalb des Wettkampfsettings kaum Bestand hätten, für legitim und reproduzieren aktiv diese sie als (Sport-)Einheit verknüpfenden Elemente. Möchte jedoch ein Mitglied nicht mehr an der Vielzahl der intensiven Trainings teilnehmen oder fordert lautstark mehr Freizeit oder eine Neuausrichtung des Teams ein, verändert und bewegt sich die Konstellation. Sie hat wahrscheinlich den Fortgang des anklagenden Mitgliedes zur Folge oder endet – eher unwahrscheinlicher – in einer (Neu-)Konzeptualisierung der Einstellung zu Sport und der Trainingsroutine. Durch jede Assemblage, in und mit der sich das Subjekt verknüpft – z.B. mittels Jugend-Assemblagen (vgl. Hipfl 2020, S. 309ff.), Medien-Assemblagen (vgl. ebd., S. 312ff.), Internet-Assemblagen (vgl. Harper/Savat 2016, S. 6) oder jenen, die in der Freizeit oder am Arbeitsplatz entstehen – werden unterschiedliche, unabhängige Formen der Positionierung und Verortung gestaltet. Neben der Verknüpfung von Menschen zu einer Assemblage können durch die Verbindungen verschiedener Konstellationen heterogene Praktiken sowie Momente des Handelns und Agierens beschlossen werden. Im Folgenden wird auf familiale Praktiken als Assemblage fokussiert. Familiale Praktiken werden durch die Verknüpfung diverser Elemente, z.B. im Umgang mit alltäglichen Herausforderungen oder etwaigen Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen, asymmetrischen Machtverhältnissen oder Ungleichheitsbehandlungen, sichtbar gemacht und können daraufhin neu interpretiert und transformiert werden. Familiale Praktiken als Assemblage entstehen vor allem zwischen den Generationen und sind das Ergebnis der vielfältigen Betrachtungsweisen auf z.B. ein Thema, eine Situation, eine Idee. Familiale Praktiken sind meist unauffällig und geschehen spontan bzw. in ritualisierter Form. Unter familialen Alltagspraktiken verstehen Rattay und Kolleg*innen (2012) »die Gestaltung der Mahlzeiten, das Bewegungs- und Freizeitverhalten in der Familie, feste Tageszeiten für das Aufstehen und Ins-Bett-Gehen, die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen« (S. 146). Diese Praktiken sind vor allem durch einen positiven (elterlichen) Einfluss auf die Kinder gekennzeichnet und markieren die (potenzielle) Vorbildfunktion der Eltern auf den Nachwuchs. Daneben skizzieren die Autor*innen auch mögliche Praktiken der Eltern, die der Vorbildfunktion nicht gerecht werden, wie hoher Alkoholkonsum, da sie sowohl die elterliche Gesundheit negativ prägen als auch das Verständnis der Kinder hinsichtlich des Umgangs mit Suchtmitteln einseitig beeinflussen können. Rattay und Kolleg*innen konkretisieren, wie sehr Kinder durch Beobachtung sowie Nachahmung lernen und sich so die Rituale des Alltäglichen in ihre Lebenswelt übertragen, sich verfestigen und normalisieren (vgl. ebd.). Eine weitere klassische Praktik innerhalb der Familie ist das gemeinsame Essen, das familienspezifisch an einem bestimmten Tag, spontan, an einzelnen Wochentagen oder am Wochenende stattfinden kann. Das Miteinander, das durch ein gemeinsames Frühstück, Mittag- oder Abendessen oder Brunch zelebriert und inszeniert wird, festigt familiale Strukturen, indem das Zusammengehörigkeitsgefühl fortwährend reaktiviert und so häufig gestärkt wird. Auch wenn bei diesen Zusammentreffen scheinbar keine großen Weltthemen besprochen, geschweige denn gelöst werden können oder nicht jedes Mitglied regelmäßig teilnehmen kann oder will, ist es ein wichtiges Symbol für die Auf-

5. Familie und Biografie

rechterhaltung und Intensivierung der familialen Einheit und Gemeinschaft. Ein wichtiger Punkt bei dieser Art von Treffen ist jener der Vergemeinschaftung (vgl. Keppler 1994, S. 23ff.), der durch Tischgespräche, versinnbildlicht als soziale Veranstaltungen, hervorgebracht wird und die Familie als kommunikativen Prozess (vgl. ebd.) beschließt. Einerseits kann das gemeinsame Essen als willkommene Möglichkeit zum verbalen Austausch innerhalb und zwischen den Generationen genutzt werden und sich zu einem banalen, aber essenziellen Bestandteil familiärer Handlungen verdichten. Andererseits sind bereits die gemeinsame Zubereitung des Essens und insbesondere das gemeinsame Essen bedeutende Praktiken, durch die die Familienmitglieder eine Assemblage ausbilden können. Essen ist in hohem Maße in das Alltagshandeln eingebunden und essenzieller Bestandteil der täglichen Daseinsvorsorge (Leonhäuser et al. 2009). Diese ist unmittelbar mit dem Alltag von familialen Haushalten verknüpft und lässt sich im Rückschluss als Essalltag benennen. Der Essalltag umfasst weit mehr als die bloße Nahrungsaufnahme, sondern ist in einen sozialen, kulturellen, räumlichen und zeitlichen Kontext eingebunden; er ist so aus ganzheitlicher Sicht zu deuten. Somit ist der Essalltag sowohl mit Praxis- als auch mit Sinnsetzungen familialer Haushalte verbunden und kann zu dem Konzept des Doing Family in Relation gesetzt werden. (Bauer 2016, S. 54) Vicki Täubig (2016) untersucht die Bedeutung von Essen im Erziehungs- und Bildungsalltag und unterstreicht neben seiner »physiologischen Notwendigkeit« seine große Bedeutung als »Gegenstand von Sorgebeziehungen sowie der Bedürfnisorganisation und -befriedigung« (S. 7) im Familien- und Bildungskontext. Durch die Heterogenität der generationellen Bedürfnisse und die unterschiedlichen Erwartungen innerhalb der Familie wird auch die Gestaltung des Zusammenlebens vielschichtiger und herausfordernder, was sich auch auf Alltagspraktiken und die Essenspraktiken auswirkt (vgl. Bauer 2016, S. 52). Das Eingebundensein der Familienmitglieder in eine Assemblage, in der das Essen als familiale Praktik fungiert, ist nicht frei von Normierungen und Konflikten. So kann z.B. der Fleischverzicht eines Familienmitglieds Auswirkungen auf die familiale Praxis der Essenszubereitung haben (siehe Fallrekonstruktion Vindal in Kap. 3.3). In jedem Falle finden gerade bei der Diskussion um die Zubereitung von Nahrungsmitteln Prozesse der (intergenerationellen) Auseinandersetzung und Ausdifferenzierung statt. Des Weiteren können religiöse Handlungen und Rituale Teil einer familialen Praktik bzw. einer familialen Assemblage sein und verwirklicht werden durch die intergenerationelle Weitergabe von Gebetstexten und -liedern, religiösen Symbolen oder Traditionen wie das Beten oder das Besuchen der Moschee, der Synagoge oder der Kirche. Die Möglichkeit, dass mit fortschreitender Generationsdauer eine Abkehr vom (intensiven bzw. ritualisierten) Glauben oder das Hinterfragen religiöser Dogmen und Strukturen evoziert wird, ist gegeben bzw. wahrscheinlich. Das meint jedoch nicht, dass damit automatisch auch von »größeren« oder tiefergehenden Familientraditionen Abstand genommen wird. Ein Beispiel hierfür ist die Rückführung der Toten in die »Heimaterde«, die für einen großen Teil alevitischer und muslimischer Gläubige, obwohl sie lange Zeit ihres Lebens im Ankunftsort verbrachten, weitreichende Bedeutung hat. Diese Praktik, die Toten trotz der großen geografischen Distanz, des zeitlichen, finanziellen Aufwan-

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Postmigrantische Generation

des und vor allen Dingen der emotionalen Belastung, im Herkunftsort zu beerdigen, kann über die eigene Überzeugung des Subjektes hinsichtlich der »Sinnhaftigkeit« religiöser Riten hinausgehen. Dadurch, dass diese Bräuche (meist) nahe Bezugspersonen treffen sowie familiär-generationelle Erwartungshaltungen nach dem Motto »Es ist der Wunsch des*der Verstorbenen« tangieren, werden sie sowohl von den einzelnen Familienmitgliedern als auch von der familialen Gemeinschaft mitgetragen; selbst dann, wenn sich die eigene Betrachtung nicht mit den Vorstellungen älterer Generationsangehöriger oder Verstorbener deckt (siehe Fallrekonstruktion Enes in Kap. 4.5). Eine weitere familiale Praktik als Assemblage umfasst (inter-)generationelle Erwartungshaltungen, die entweder manifest sind und offen angesprochen werden oder latent sind, damit teilweise verdeckt oder gänzlich unausgesprochen – aber dennoch vorhanden – bleiben. Genauer gesagt, tangiert es Erwartungshaltungen und die (Nicht-)Auseinandersetzung damit. Die Tatsache, dass Eltern und Großeltern selbst nicht realisierte Pläne, aber auch (un-)eigennützige Hoffnungen und Wünsche hinsichtlich einer »besseren« Zukunft an die Nachfolgegeneration weitergeben, ist nachvollziehbar. Doch auch die postmigrantische Generation hat spezifische Erwartungen an die Familie und insbesondere an sich. Sie kann Erwartungshaltungen an sich selbst erzeugen, die aus dem Wissen, dass die (Groß-)Eltern zahlreiche soziale, ökonomische Entbehrungen auf sich nahmen, damit die (Enkel-)Kinder in relativ stabilen und finanziell gesicherten Verhältnissen aufwachsen konnten, hervorgehen. Im Migrationskontext wird Integration als vermeintliche Bringschuld an die Dominanzgesellschaft diskutiert (vgl. Gogolin 2005, S. 280), die bereits in dieser Arbeit entkräftet wurde (siehe dazu Kap. 2.2). In den halbnarrativen Interviews findet sich eine alternative Form der Verpflichtung, nämlich gehäufte Artikulationen intergenerationeller Bringschuld im Sinne einer »Migrationsschuld«, die (Enkel-)Kinder gegenüber ihren Vorfahr*innen entwickeln können, da sie von den Entbehrungen der (Groß-)Eltern hinsichtlich der Migrationserfahrungen wissen und sich im Umkehrschluss ihnen gegenüber dankbar zeigen oder Wiedergutmachung leisten wollen. Kinder migrierter Eltern leben oft in dem Wissen, dass ihre Eltern viel aufgegeben haben, um sich und ihnen ein »besseres Leben« zu ermöglichen. Damit sind Gefühle wie Dankbarkeit und Liebe verbunden, aber auch: Schuldgefühle. Und die wirken sich auf die Beziehung aus. (Setrae Koohestani 2020, o. S.) Neben einem Gefühl der Migrationsschuld, das zur Folge hat, dass die Migrationserfahrungen der Vorfahr*innen an sich und die damit verbundene Dankbarkeit gegenüber den (Groß-)Eltern in nahezu jeder Lebenslage mitgedacht werden und sich auf eigene biografische Entscheidungen auswirken, gilt zu bedenken, dass die Situation der postmigrantischen Generation nicht nur wegen der familiären Migrationserfahrungen eine besondere ist. Als sogenanntes Arbeiter*innenkind weiß das Kind zusätzlich um die milieuspezifische, ökonomische und soziale Lage der Familie und kennt die Erzählungen über körperliche Arbeit und mögliche Entbehrungen, die aus einem vergleichsweise geringeren ökonomischen Kapital und habituellen Gepflogenheiten resultieren können. Es lässt sich daher eine enge Verschränkung zwischen Migration und dem Arbeiter*innenmileu der (Groß-)Eltern feststellen. Die Aspiration, selbst beruflich und sozial aufzusteigen, ergibt sich nicht nur, aber verstärkt aus einem intergenerationellen Verant-

5. Familie und Biografie

wortungsgefühl den Vorfahr*innen gegenüber. Eventuell empfinden die jungen Subjekte eine Art imaginierte »doppelte Schuld« – eine Migrations- und Milieuschuld –, weil die (Groß-)Eltern auf die vertraute Umgebung verzichtet und im neuen Kontext unter prekären Umständen gearbeitet haben. Hinzukommend sei die Klassenreise genannt zwischen Herkunfts- und Bildungsmilieu, die die jungen Erwachsenen absolvieren, »geprägt von Momenten des Abwägens und des Schweigens« (Aumair/Theißl 2021c, S. 23f.). Weder in der Klasse des Herkommens noch in jener des Ankommens könnten die erlebten Erfahrungen der Aufsteiger*innen tatsächlich geteilt werden. Sowohl der Familie als auch der neuen sozialen Umgebung fehle der Zugang zu den komplexen, hybriden Erfahrungen der Protagonist*innen (vgl. ebd.). Dabei bedeuten weder der Migrations- noch der Arbeiter*innenstatus der (Groß-)Eltern, also der sozioökonomische Status, dass die (Enkel-)Kinder die Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen, die Lebenswelten der älteren Generationen oder die Erfüllung familiärer-intergenerationeller Wünsche oder Erwartungen übernehmen müssten. Ein offenes Gespräch darüber, ob die älteren Familienangehörigen aufgrund ihrer eigenen komplexen Lebenswege und -entschließungen tatsächlich solche oder ähnliche Erwartungshaltungen an die Jüngeren haben und wie mit eventuellen Diskrepanzen umgangen werden kann, ist entscheidend und fördert ferner die familiale Diskussions- und Kommunikationskultur. Vielmehr zeigt sich, dass die Last, die sich jüngere Familienmitglieder aufhalsen, in dieser Intensität gar nicht notwendig wäre, sondern das Ergebnis nicht thematisierter intergenerationeller Vorurteile und unreflektierter Annahmen sind. Neuerliche familiäre Praktiken als Assemblage sind die Tradierung von Literalität, in Gestalt literaler Praktiken, wie etwa dem Vorlesen von Kindergeschichten oder Märchen (vgl. Kuyumcu/Şenyıldız 2011). Das Vorlesen fördert das kindliche Verständnis von Sprache(-n), Artikulationen, Grammatik und erweitert den Wortschatz. Es kann zudem potenziellen schulischen Problemen entgegenwirken (vgl. ebd., S. 110) und ist demnach auch eine wesentliche Bildungspraktik. Gerade von frühkindlicher und auf spielerische Art und Weise vermittelter Literalität können Kinder und ihre Familien nachhaltig profitieren. Wer zu Hause (Vor-)Lesen und Schreiben als alltäglich erlebt, liest und schreibt auch im Kindergarten. Die anderen Kinder müssen dies zunächst einmal kennenlernen und eine positive Einstellung dazu entwickeln. (Kuyumcu/Şenyıldız 2011, S. 119) Auch das mündliche Erzählen und Weitergeben von familiären Geschichten und Erfahrungen an die Nachfolgegeneration kann als solch eine familiär tradierte Bildungspraktik spezifiziert werden, durch die das Hörverständnis, also die Kompetenz des verstehenden Hörens und Interpretierens von Kindern geschult wird. Neben dem pädagogischen Lerneffekt lernen Kinder und Jugendliche ihre Familiengeschichte(-n) besser kennen und setzen sich in Folge auf ihre Art und Weise damit auseinander. All diese hier beschriebenen ritualisierten Handlungen setzen vielfach im Alltagsweltlichen an (Essen, Kochen, Vorlesen als familiäre Praktiken) oder entstehen in Ausnahmesituationen (Rückführung der Verstorbenen). Manche dieser Praktiken werden immer wieder neu reaktiviert, erneuert, andere sind weitaus weniger langlebig und werden nicht auf Dauer aufrechterhalten.

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Insgesamt kann das Konzept der Assemblage dabei helfen, zu rekonstruieren, welche alltäglichen Praktiken, sozialen und kulturellen Prozesse innerhalb einer spezifischen Familie wirksam sind und welche Elemente genutzt und zusammengefügt werden, sodass daraus neue familiale Wissensformen auftreten und sich schließlich zu spezifischen Lebensstrategien und Dynamiken verdichten können. Die familiären Praktiken als Assemblagen und ihre Besonderheiten sagen viel über die jeweilige Familienlogik aus. Der familiale Erfahrungshorizont und die diversen familialen Alltagspraxen ergeben sich dabei aus dynamischen Kombinationen und Verknüpfungen unterschiedlicher Elemente, aus denen neue Bedeutungen, z.B. Formen familialer Wissensproduktionen oder, wie nachfolgend skizziert, transnationale Netzwerke entstehen und nutzbar gemacht werden können.

5.2.3 Transnationale Verbindungen im familialen Kontext Familien mit Mobilitätserfahrung(-en) verfügen größtenteils über transnationale Verbindungen zu Familienangehörigen und initiieren Netzwerke, die grenzüberschreitend und generationsübergreifend aktiv sind. Gerade für mehrheimische Familien ist die Zugehörigkeit zu bzw. die Verbundenheit mit mehreren Orten und Menschen längst zur Realität geworden. Sie haben durch ihre glokalen, städtischen, überregionalen und übernationalen Verbindungen und Mehrfachzugehörigkeiten Kompetenzen erworben, die durch die transnationale Migrationsgeschichte der (Groß-)Eltern (vgl. Apitzsch/Siouti 2013) befördert und durch innerfamiliäre bzw. intergenerationelle Weitergabe von Ressourcen und vor allem auch Erinnerungen sukzessive erweitert wurden. Ursula Apitzsch (2014) beschreibt in ihren Ausführungen zur »Transnationalen Familienkooperation« (S. 13ff.) anschaulich, wie sich mehrheimische Familien im Laufe der Zeit durch Mobilitätsbewegungen kontinuierlich veränderten und (transnationale) Kooperationsformen über die Generationen hinweg tradierten oder neu bildeten (vgl. ebd., S. 21). In ihrer Studie kommt sie zu dem Ergebnis, dass transnationale Familien innerhalb der Ankunftsgesellschaft von Anfang an dazu genötigt waren, verschiedene, vor allem transnationale Kooperationsnetzwerke zu etablieren, die in Folge neue Wege und Umwege des sozialen Aufstiegs für die Angehörigen der zweiten und dritten Generation eröffneten (vgl. ebd., S. 22). Im Gegenzug zu immobilen Familien konnten sie nämlich nicht auf das seit Generationen etablierte Erfahrungsspektrum vor Ort zurückgreifen und mussten sich daher alternativ organisieren und auf ihre veränderte Lebenssituation nonkonformistisch reagieren. Dieses unkonventionelle Umdenken, das dynamische Weiterdenken von Handlungsmöglichkeiten, einschließlich des Schaffens von eigenen Kooperationen und Netzwerken, ermöglichte es ihnen vielfach, sich »transnationales biographisches Wissen« (ebd., S. 22) anzueignen, das »aufgrund vergangener, fortwirkender und zukünftig notwendiger Trennungen und Grenzüberschreitungen unterschiedliche, sich teilweise überlappende relationale soziale Räume im Sinne von Orientierungskoordinaten des individuellen und des Gruppenhandelns« organisierte. (ebd., S. 23). Das Vermögen, Transtopien zu erzeugen (siehe Kap. 5.2.1) und »altes« Wissen aus dem Herkunftsort mit neuen Erfahrungen im Ankunftsort zu fusionieren, ist dem Erwerb transnationaler Handlungsweisen und -strategien, unter anderem auch der sogenannten sozialen Aufwärtsmobilität (ebd., S. 14) zu verdanken.

5. Familie und Biografie

Dieses biographische Wissen bringt in die Konstitution sozialer Räume die Zeitachse ein, insofern aufgeschichtete Erfahrung die Vergangenheitsdimension, biographische Planung die antizipierte Zukunft repräsentiert. Es geht um die Strukturen und Auswirkungen solcher Grenzüberschreitungen und deren psychosoziale Bewältigung in menschlichen Biographien, die miteinander vernetzt sind und untereinander in Interaktion treten. Familienmitglieder, die an einem Migrationsprozess beteiligt sind, erfahren diesen Prozess unterschiedlich entsprechend ihrem Alter, Geschlecht, ihrer Stellung in der Geschwisterreihe etc. Trotz der je unterschiedlichen Individualität der einzelnen Biographieträger gibt es migrationsspezifische typische Verläufe, die uns viel über die – unsichtbaren, aber sehr realen – Strukturen der Einwanderungsgesellschaft verraten. (Apitzsch 2014, S. 23) Dieses für Familien wichtige Wissen umfasst auch das »Hin- und Herpendeln« (ebd.) zwischen den mehrfachen Orten der Familie und kann nach Apitzsch als »Ressource für die Bildungskarriere« und somit als »soziale Absicherung« (ebd., S. 19) betrachtet werden. Das Hin- und Herpendeln ist aber nicht nur auf geografische Orte beschränkt, sondern meint zudem ein Kombinieren von Bildungswegen, die sich auf den ersten Blick widersprechen können, aber letztendlich dazu führen, dass das Ziel, z.B. der Erwerb des Abiturs, realisiert werden kann (vgl. ebd.). Deswegen sind transnationale Lebensstrategien, Familiennetzwerke und Familienkooperationen, die vor Ort entwickelt und zwischen den einzelnen geografischen Punkten und Beteiligten ausformuliert wurden, wichtige Ressourcen für die Lebensentwürfe und Verortungsstrategien aktueller und kommender Generationen. Speziell jene Fragen, wie Familien mit den Herausforderungen der Migrationssituation umgehen, auf welche Ressourcen sie dabei zurückgreifen, auf welche Hindernisse sie stoßen und wie sie darauf reagieren, spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle (vgl. Riegel et al. 2018). In der empirischen Forschung und der reflexiven Auseinandersetzung mit den (familial-)biografischen Narrationen der Erzählenden fällt generell auf, dass die mehrheimischen Familien sich in der Vergangenheit sehr vielfältig mit den nicht immer einfachen Lebensbedingungen vor Ort auseinandersetzten und zahlreiche Strategien erwarben, um auf unzureichende Unterstützungsangebote im Ankunftsland zu reagieren. In das Alltagsweltliche übersetzt heißt das, dass viele der Pionier*innen kreativ wurden, um sich gegenseitig – Dank ihrer jeweiligen Fähigkeiten und Ressourcen – zu unterstützen. Diejenigen, die etwa schnell die Sprache lernten, halfen z.B. als Übersetzer*innen aus. Andere wiederum gründeten einen Fußballverein oder fanden Räume für einen Gebetsraum, der auch als Treffpunkt fungiert(e). Nicht nur in der größeren Gemeinschaft fanden die Pionier*innen also Mittel und Wege, um den Alltag vor Ort zu erleichtern und zu verschönern; vor allem auch die Elterngeneration und die postmigrantische Generation erwarben die Fähigkeit, die familiären Migrationserfahrungen in eigene Handlungskompetenz und transnationales Wissen zu konvertieren. Ein Beispiel, das dies belegen soll, hat mit den transnationalen Verbindungen der Familien zu tun. Ein Großteil der mehrheimischen Familien hat Bezüge zu anderen Orten, Ländern und auch zu Familienangehörigen, die woanders wohnen. In den verschiedenen Diskursen werden diese Verbindungen jedoch problematisiert. Dabei sind transnationale Verknüpfungen wichtige

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Möglichkeitsräume, in denen auch zahlreiche Empowermentprozesse vonstattengehen. Die Familien nutzen diese Formen der Vernetzung aktiv und halten den Kontakt zueinander auch über die Ländergrenzen hinweg. Gerade das Senden von Remittances, spezifischer von sozialen, ökonomischen, aber auch politischen Rimessen, ist eine transnationale Praxis, die nur durch den Aufbau und die Aufrechterhaltung eines stabilen transnationalen Netzwerkes vollzogen werden kann (vgl. Krawatzek/Sasse 2018). Ferner ist der Hausbau im Herkunftsort, auch wenn die Kernfamilie den Lebensmittelpunkt woanders hat, ein transnationaler Akt, der sowohl die Sorge um und die ökonomische Absicherung der Nachfolgegenerationen impliziert als auch finanzielle Aspekte mitdenkt, z.B. günstigere Wohnpreise und zeitliche Komponenten (Zeit nach der Rente) – um nur einige Motivationen zu nennen (vgl. Bürkle 2018b). Ein weiteres Exempel, das die weitreichende Wirkung transnationaler Netzwerke demonstriert, betrifft die deutschsprachige Bildungslandschaft. Das deutschsprachige Bildungssystem beschließt, wie hier bereits mehrfach andiskutiert wurde, bewusst Mechanismen des Einschlusses und des Ausschlusses, sodass nicht jede*r Schüler*in die vielfach propagierten »gleichen Chancen« erhält, Bildung zu erwerben und in Form von Zertifikaten anzuhäufen. Ursula Apitzsch (2014) zufolge konnten insbesondere die Nachfolgegenerationen griechischer Pionier*innen9 durch die Etablierung eigener Schulen, die exakt nach griechischem Vorbild und schulischem Fahrplan konzipiert und durch den griechischen Staat finanziert werden, spezifische »Präventionsmaßnahmen gegen Ausschlüsse im deutschen Schulsystem« (S. 16) erwirken. Die neuen Mitbürger*innen reagierten mit den Schulgründungen und der Etablierung (in Deutschland noch) unbekannter Schultypen auf ein veraltetes Bildungssystem, das stark auf soziale, geografische und sprachliche Herkunft fokussiert und es als ein (Haupt-)Kriterium für Bildungserfolg bzw. Bildungsmisserfolg fehlinterpretiert. Sowohl die Schulgründung als Prozess als auch die Idee dahinter – gewissermaßen als Gegenmaßnahme zur Schulproblematik des vererbten Bildungserfolges – wurde durch das transnationale Wissen über das Bildungssystem im Herkunftsland, also Griechenland, und mittels der transnationalen Vernetzung durchgesetzt.10 Transnationales Wissen und transnationale Kooperation waren die ausschlaggebenden Kompetenzen der mehrheimischen Schulgründer*innen bzw. die entscheidenden Gründe, die für viele Kinder und Jugendlichen der griechischen Nachfolgegenerationen Entlastung im Bildungssystem bedeuteten und etwas mehr Bildungsgerechtigkeit einforderten. Man kann sagen, dass durch die Entdeckung und Nutzung eines transnationalen europäischen Bildungsraumes die Ausschlussmechanismen des deutschen Bildungsraumes vielfach erfolgreicher unterlaufen werden konnten, als dies durch bedingungslose Assimilation an das deutsche Bildungssystem möglich war. (Apitzsch 2014, S. 16)

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In Deutschland wurden, im Gegensatz zu Österreich, offizielle Anwerbeabkommen mit Griechenland beschlossen. Insgesamt gab es in Deutschland acht Anwerbeabkommen, in Österreich hingegen drei (siehe dazu Kap. 4.3.1). Ausführlich dazu bei Irini Siouti (2014) bezüglich der Transmigrationsprozesse der Nachfolgegeneration griechischer Arbeitsmigrant*innen.

5. Familie und Biografie

Mehrheimische Familien, die transnational leben, formieren fluide, veränderbare und multiple Identitäten (vgl. Glick Schiller et al. 1992, zit.n. Apitzsch 2014, S. 20), um sich – ähnlich wie ein Chamäleon – in den verschiedenen Kontexten, Situationen, Lebenswelten und Orten entsprechend zu arrangieren, zu verhalten und mit den dort geltenden Anforderungen umzugehen. Sara Fürstenau wiederum beschreibt in ihrer 2004 veröffentlichten Studie über bildungserfolgreiche Kinder von portugiesischen Arbeitsmigrant*innen, dass gerade die Nachfolgegenerationen von den transnationalen Familiennetzwerken profitieren würden. Sie kommt zu dem Schluss, dass viele der jungen Erwachsenen die transnationalen Familiennetzwerke flexibel nutzen würden, um etwa eine Zeit lang im Herkunftsort der Eltern bzw. Großeltern zu arbeiten, zu studieren oder Erfahrungen zu sammeln. Dort würden die Nachfolgegenerationen hilfreiche »Orientierungsmuster für (ihre) Zukunftsentwürfe« erwerben und langfristig davon profitieren (Fürstenau 2004, S. 49). Nun folgen zwei Fallrekonstruktionen von jungen Frauen der postmigrantischen Generation. Anhand der biografischen Erzählungen von Jasemin wird rekonstruiert, wie ihre Familie als Ort der Vermittlung fungiert und die Protagonistin trotz schwieriger Beziehung zum Großvater seine gelebte Praktik des Organisierens und Helfens übernimmt und erweitert. Die narrativen Artikulationen von Selma wiederum zeigen die Bedeutung und Neuninterpretation transnationaler Familiennetzwerke auf.

5.3 Jasemin: »Es ist schon unglaublich, was da auf den Rücken von anderen im Prinzip uns ermöglicht worden ist.« Kurzportrait Jasemin Jasemin, die Mitte 20 ist, trägt die familiäre Tradition des*der Organisator*in oder der Tätigkeit des »Fixers« (Zeile 154), was hier so viel wie »Macher*in« bedeutet, weiter. Während der Vater und Großvater in der Vergangenheit oder Gegenwart informelle und unentgeltliche Beratungs- und Vermittlungsarbeit innerhalb der mehrheimischen Community leisteten, kann Jasemin ihre Passion, Menschen zu unterstützen und zu beraten, zum Beruf machen. Die Bereitschaft, zu organisieren, ist eine intergenerationell weitergetragene Praxis, die sich Jasemin nicht zuletzt durch die Erzählungen und Erinnerungen des Vaters aneignet. Die Familie wird als ein Ort verstanden, der unterschiedliche Erfahrungen, Erinnerungen, Wissensarten und Ressourcen vermitteln kann. Die Protagonistin nutzt vereinzelte dieser Erfahrungs-, Erinnerungs- und Wissenspraktiken und inkludiert sie in ihrem postmigrantischen Lebensentwurf. Erste familiale Migrationen: Die Großmutter und die Mutter Die Familiengeschichte Jasemins ist gekennzeichnet durch Binnenmigration, Migrationsbewegungen ins Nachbarsland und ins weiter entfernte Ausland sowie durch Fluchtbewegungen aufgrund des Jugoslawienkrieges. Jasemin zieht zeitlich betrachtet die erste Migrationserfahrung der Mutter und Großmutter, die kurz nach der Geburt der Ersteren beginnt, erzählerisch den früheren innerfamiliären Mobilitätsbewegungen vor. Jasemin zeichnet zu Beginn des Gespräches die Geburt der Mutter, die in Bosnien zur Welt kam, nach. Unmittelbar nach diesem Ereignis ließen sich Jasemins Großeltern scheiden

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Postmigrantische Generation

und die Oma zog, gemeinsam mit dem Baby, zu deren Mutter, der Urgroßmutter der Erzählerin, nach Kroatien. Jasemins Großmutter hatte zuvor in Bosnien in einer ländlichen Gegend gelebt, in der die Arbeitsmöglichkeiten rar waren. Im neuen Ankunftsort in Kroatien arbeitete sie in unterschiedlichen Fabriken, während sich ihre Mutter um das Kleinkind kümmerte. Jasemins Großmutter ist mittlerweile kroatische Staatsbürgerin. Die Pionier*arbeit des Großvaters Die nächste Mobilitätsbewegung, die erläutert wird, ist jene des Großvaters väterlicherseits. Er zog Ende der 1960er Jahre als Pionier nach Innsbruck, wobei seine Wunschdestination eigentlich Wolfsburg war, wo bereits Bekannte von ihm im Schichtbetrieb arbeiteten. (Vgl. Richter/Richter 2012, S. 60ff.) Die Entscheidung, in welcher Stadt und Firma er arbeiten solle, traf das Anwerbebüro. Mein Opa kam mit dem Zug in Innsbruck an, und das Glück war, dass er ein paar Leute aus seinem Heimatort kannte. Die haben ihn abgeholt, ihn in die Unterkunft gebracht. Am nächsten Tag hat er gleich mit dem Arbeiten angefangen. Er hat in den ersten Jahren nur gearbeitet. (Zeile 38-40; Rotter 2019a, o. S.) Die Erfahrung, dass sich das Leben fast ausschließlich auf der Arbeit abspielte, teilte und einte den Großteil der Pionier*innen. Durch die rigorose Einspannung in den Betrieb wurde der Arbeitsort zum zentralen Bezugsort. Neben der Arbeit und den Arbeitskolleg*innen verloren (temporär) andere Lebenspunkte und -konstanten sowie Personen an Bedeutung. Jasemins Großvater arbeitete zunächst als Abwäscher, später bediente er Maschinen im Schichtbetrieb. Seine Ehefrau kam ca. 2 Jahre später nach. Die Liebe der Eltern als Anlass eines intergenerationalen Konfliktes und dessen Folgen für die familiären Beziehungskonstellationen Jasemins Vater, der im gleichen Jahr geboren wurde, in dem der Großvater wegzog, wuchs derweil bei seinen Großeltern in Bosnien auf, ähnlich wie es bei der Mutter der Erzählerin der Fall war. Die Eltern Jasemins lernten sich während ihrer Schulzeit kennen und lieben, stießen jedoch bei Jasemins Großvater auf wenig Verständnis. Dieser sprach sich aufgrund der unterschiedlichen Religionszugehörigkeiten gegen die Beziehung aus – die Familie väterlicherseits ist muslimisch, die Familie mütterlicherseits serbischorthodox. Die Erzählerin, die aufgrund dieses Konfliktes ohne religiöses Bekenntnis aufwuchs, kann weder die Abneigung des Großvaters gegen die beiden Verliebten noch seine Argumentation, die ihre Beziehung unterbinden solle, nachvollziehen. Nicht nur in diesem Punkt ist die Erzählerin, die ein schwieriges bzw. kaum existentes Verhältnis zu den Großeltern väterlicherseits hatte und noch hat, nicht seiner Meinung. Auch an späteren Stellen reklamiert sie einige seiner Entscheidungen oder Vorstellungen, die sie als religiös-dogmatisch interpretiert. Trotz der generationsübergreifenden Konflikte und Meinungsverschiedenheiten ist sie dem Großvater dankbar dafür, dass er hierhin migrierte und damit den Lebensmittelpunkt der (späteren) Familie nach Tirol verlagerte. Die Thematisierung der Beziehung zur Großmutter ist weniger stark emotional aufgeladen und kann eher als gleichgültig gelesen werden.

5. Familie und Biografie

Jasemin ist sich sicher, dass die Negativität und Komplexität, die bis zum Tod des Großvaters die Beziehung zwischen ihm und den Vater charakterisierten, ihren Ursprung in der fehlenden Nähe und Bindung zueinander hätten. Eine dominante Familienerzählung umfasst die erste Erinnerung, die ihr Vater an seine Eltern hat. Die erste Erinnerung, die er hat, über seine Eltern, und das ist eigentlich ziemlich traurig, weil er hat erzählt, er war irgendwo unterwegs auf einem Feld, ich weiß nicht, irgendwo. Er war unterwegs mit seiner Oma, und dann hat sie zu ihm gesagt: »Ja, deine Eltern kommen heute.« Und er war total beunruhigt, weil er das nicht verstanden hat, was das denn genau bedeutet. Er hat gefragt, warum er und seine Oma jetzt unterwegs sind. Denn er hatte Angst, dass seine Eltern ihnen jetzt alles aus dem Haus stehlen würden, wenn sie kommen. Es war zu dem Zeitpunkt ja niemand zu Hause, um darauf aufzupassen. Also, da sieht man ja schon, dass zwischen Papa und seinen Eltern eine ganz große Distanz da war. (Zeile 59-66) Jasemins Eltern könnten als »Kofferkinder« (vgl. Wilhelm 2011) gelesen werden, die nicht bei ihren Eltern, sondern bei Verwandten aufwuchsen. Wenngleich ihre Eltern bemüht und besorgt um sie waren und versuchten, die Wohn- und Lebenssituation des Nachwuchses so angenehm und liebevoll wie möglich zu gestalten, blieb väterlicherseits das Verhältnis angespannt und wurde Jahre später durch den Einwand des Großvaters hinsichtlich der Beziehung von Sohn und Schwiegertochter beinahe verunmöglicht. Das familiale Migrationsgedächtnis in seiner Komplexität In der Rekonstruktion der familiären Erinnerungen, die die Kindheit der Eltern betreffen, kristallisiert sich eine Ambivalenz heraus zwischen großer Dankbarkeit gegenüber den Pionier*innen, ihrer Aufopferung und Leistung, sowie der Erkenntnis, dass die Migration auch Schwierigkeiten und Leerstellen, etwa in Form nicht aufgearbeiteter Konflikte innerhalb der Familie hinterlassen habe. Jasemin formuliert diese Diskrepanz wie folgt: Ich weiß nicht, was z.B. aus mir geworden wäre, wenn eben mein Opa und auch mein Papa und meine Familie eben nicht hergekommen wären, weil ich denke mir, in Bosnien […] also abgesehen davon, dass dort der Lebensstandard noch immer eine Katastrophe ist, leider Gottes. Und das Land, das regeneriert sich langsam, also in den letzten 2, 3 Jahren spüre ich so, es ist wie ein Aufatmen. […] Es ist schon unglaublich, was da auf den Rücken von anderen im Prinzip uns ermöglicht worden ist. (Zeile 684-691) Jasemin beschreibt, dass sie ihr Leben vor Ort den Migrationsentscheidungen und -erfahrungen von Opa und Papa zu verdanken habe. Die Chancen und Möglichkeiten, über die die postmigrantische Generation nun verfüge, baue »auf den Rücken von anderen« auf, den Vertreter*innen der ersten Generation. Diese Überzeugung ist nicht einfach nur vorschnell formuliert, sondern ist mitentscheidend für die spätere Wahl ihres Berufes, in dem sie unter anderem mit der historischen Aufarbeitung biografischer Migrationserfahrungen beschäftigt ist. Die Wichtigkeit der Sichtbarmachung migrantischer und mehrheimischer Verortungspraxen im Ankunftsort ist nur ein Grund dafür, weshalb Ja-

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Postmigrantische Generation

semin sich diesem Thema gewidmet hat. Eine Tatsache, die die Erleichterung über die Möglichkeit zur Migration noch dringlicher und verständlicher macht, hat mit dem Bosnienkrieg zu tun, und der Realität, dass einige Familienmitglieder als Geflüchtete nach Tirol kamen. Heutzutage leben mehrere Onkel und Tanten samt ihren Familien in Tirol. Jasemins Erzählungen unterstreichen die Bedeutung der zeitlichen Komponente des Ankommens, da sie über Regularität des Einreisens und die Hierarchisierung des Bleiberechts entscheidet. Ihr Vater hatte eine Arbeitserlaubnis, an die das unbefristete Aufenthaltsrecht gekoppelt war. Die Mutter wiederum durfte durch die sogenannte Familienzusammenführung, die aufgrund der Heirat möglich war, nach Österreich migrieren, aber nicht arbeiten (vgl. Korun 2004, S. 76). Die Verwandten hingegen, die während des Krieges als Geflüchtete einreisten, erwarteten bürokratische, juristische, arbeits-, aufenthalts- und wohnrechtliche Reglementierungen und Herausforderungen. Sie wurden zum Spielball einer nationalstaatlichen Politik, in der Migration unterschiedlich bewertet, hierarchisiert und verhandelt wird. […] und er [ein Onkel] ist noch rechtzeitig gekommen und die anderen zwei Familienmitglieder haben es nicht mehr geschafft. Also die zwei sind dann als Flüchtlinge gekommen und ähm einer, also der Älteste, das ist eigentlich ziemlich dramatisch, der ist gekommen und der hätte dann auch das Visum und alles bekommen und der hat sich dann aber dazu entschieden, wieder zurückzugehen. Und das war dann ganz schlimm. Denn er ist dann auch in so einem, so einem Lager gelandet mit seinen Kindern. Der hat drei Kinder zu dieser Zeit gehabt. Und ähm eben sie reden nicht viel darüber, ich weiß leider fast gar nichts darüber. Aber sie haben es, Gott sei Dank, alle lebendig rausgeschafft. (Zeile 185-191) Der Großvater sei, Jahrzehnte zuvor, nicht ausschließlich aus ökonomischen Gründen migriert. Mit der Beschreibung des familiären Bauernhofs und der Nutztiere, die es dort gab, entkräftet sie in diesem konkreten Fall das Narrativ der Arbeitsmigrant*innen, die die Migration als einzigen Ausweg zum Erhalt der Familie sahen. Er ließ sich diese Idee von Bekannten, die bereits als Pionier*innen migriert waren, schmackhaft machen. Die Arbeit im Ankunftsort war körperlich sehr anspruchsvoll, vor allem die Tätigkeit in der Fleischproduktion war beschwerlich. Nach einem längeren Krankenstand fand er schließlich eine Anstellung in der Fabrik, während seine Ehefrau in verschiedenen Firmen putzte. Die Dienstverträge, die die Pionier*innen erhielten, unterschieden sich von jenen der Einheimischen. Dadurch, dass der Großvater auf der Arbeit die Rolle des Organisators übernahm und sich um die Belange seiner Kolleg*innen und der Neuankömmlinge kümmerte, wurde er vom Arbeitgeber positiv hervorgehoben und besser behandelt. Nach ihrer ersten Wohnung, die feucht, modrig und sehr klein war, bekamen sie eine Dienstwohnung und schließlich eine Stadtwohnung. Jasemins Großvater verstarb vor ein paar Jahren, die Großmutter lebt nach wie vor in eben dieser Wohnung. Jasemin überlegt, ob die Oma die österreichische Staatsbürgerschaft habe, kann es aber nicht verifizieren. Jasemins Eltern beschlossen, trotz der Widerstände zu heiraten und Bosnien zu verlassen. Als mögliche neue Wohnorte standen Deutschland, Tirol und Brasilien zur Auswahl. Aus pragmatischen Gründen fiel die Wahl auf Tirol. Jasemins Vater ging voraus, um das Ankommen vorzubereiten. In der Zwischenzeit arbeitete die Mutter in der Gastrono-

5. Familie und Biografie

mie und fragte sich, ob er das Versprechen, sie nach Tirol »zu holen«, einhalten oder sich von den Vorurteilen des Großvaters beeinflussen lassen würde. Nach rund einem Jahr trafen sie sich in Bosnien wieder, heirateten und fuhren am nächsten Tag gemeinsam nach Innsbruck. Die Anfangszeit der Mutter beschreibt die Erzählerin folgendermaßen: Die ersten Jahre waren sehr schlimm, denn sie hat sich das einfach anders vorgestellt. Nicht äh dieser kulturelle Unterschied und auch die sprachliche Barriere und so weiter, sicher ist das auch schwer. Und es war auch nicht einfach, sich hier zurechtzufinden, aber es war halt vor allem auch das, dass sie hier niemanden gehabt hat. Niemand Vertrautes. Und im Prinzip hat sie sich in einem Umfeld befunden, das umgeben war von Menschen, die sie nicht dahaben wollten. (Zeile 90-95) Der Krieg, der nicht vor den Grenzen Halt macht Die Mutter wurde alsbald schwanger. Kurz vor der Geburt Jasemins brach 1991 der Jugoslawienkrieg aus, der bis 1995 andauern sollte (vgl. Geiss/Intemann 1995, S. 54). Die ehemaligen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien hatten nach Volksabstimmungen ihre Unabhängigkeit erklärt. Die Lebenssituation vor Ort wurde durch den Krieg »überschattet« und stellte den Alltag der kleinen Familie auf den Kopf. Der Krieg hat, so veranschaulichen es die Narrationen Jasemins, Spuren in den Biografien aller hinterlassen, auch dann, wenn sie den Krieg nicht direkt miterleben mussten. Die Erzählungen über den Krieg prägten sich nachhaltig in das familiale Gedächtnis ein. Dass Kriege nicht an der Grenze haltmachen, veranschaulicht eindrücklich die Geschichte über eine junge geflüchtete Frau, die gerade ihr Kind geboren hatte, jedoch im Geflüchtetenheim keinen Platz bekam. Der Vater erfährt von dieser tragischen Situation und bringt sie eine Zeit lang Zuhause im Wohnzimmer unter. Jasemin ist zu jung, um sich an die Frau und ihr Kind, die vorübergehend bei ihnen lebten, zu erinnern, zeigt sich jedoch beeindruckt von der selbstlosen Hilfsbereitschaft ihrer Eltern, denen es selbst finanziell nicht gut ging. Von ihrer Mutter weiß die Protagonistin, dass nach deren Auszug die Gastfreundschaft nicht beendet war, sondern wiederholt fremde Menschen, die geflohen waren und keine Unterkunft besaßen, temporär bei ihnen lebten. Die Vermittlung elterlich-familiärer Wertvorstellungen und die familiären Erinnerungen vor und nach dem Bruch Der Krieg war immer präsent, bereits als kleines Kind kennt Jasemin den Begriff und versteht ihn. Es wird von den Erwachsenen oft über Krieg gesprochen, und Jasemin, die sich als neugieriges Kind bezeichnet, fragt nach. Sie erklärt, dass ihr das Wort »Krieg« vor dem Begriff »Gott« geläufig ist, den sie erst im Kindergarten lernt. Damit ist das Wort, aber auch das Phänomen Krieg für Jasemin greifbarer als jenes der Religion. Ihre Eltern seien »Kinder Jugoslawiens«, die den Kommunismus miterlebten, aber selbst wenig Bezüge zu Religion und Religiosität hatten. Während für den Großvater die Zugehörigkeit zu verschiedenen Konfessionen bedeutete, dass eine Verpartnerung unmöglich wäre, sahen die Eltern das Trennende nicht in den Religionen an sich, sehr wohl aber in ihrer religiös motivierten, dogmatischen Deutung. Also es ist total lustig und […] weil da herrscht auch so ein bisschen eine Absurdität für mich auch in meinem Großwerden, weil dadurch, dass meine Eltern eben mit diesen

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Postmigrantische Generation

religiösen Konflikten konfrontiert waren, aufgrund ihrer Beziehung, haben sie sich geschworen, dass wir als Kinder nicht religiös erzogen werden. (Zeile 228-231) Die Erinnerungen und Erzählungen, die die Familie, besonders die Eltern betreffen, werden in eine Zeit »vor dem Bruch« (Zeile 258) und in eine Zeit »nach dem Bruch« (ebd.) eingeteilt, womit die Zeit vor der Trennung und jener nach der Trennung Jugoslawiens gemeint ist. Jasemin sieht ihre Erziehung als durch die Werte und den Zeitgeist der ehemals jugoslawischen Gemeinschaft geprägt und stellt sich damit gegen das Denken in nationalen Containern und Zugehörigkeiten. Als sie an späterer Stelle über ihre Schulzeit erzählt, fällt unter anderem die Selbstbezeichnung »Jugo«, den sie, sofern er mit negativer Konnotation von außen genutzt wird, problematisch einschätzt. Das heißt, für mich gibt es nicht »Bist du Serbe, bist du Kroate, bist du Bosnier, bist du Makedonier, bist du?« Für mich war das immer irgendwie eins. Also dann diese Sprache, die diese Völker miteinander vereint, und auch eben dieser Zeitgeist, der halt meine Eltern geprägt hat, der ist halt an mich weitergegeben worden. Und dadurch, dass sie halt eben immigriert sind, bevor dieser Bruch passiert ist, haben sie den Bruch, glaub ich, emotional ganz lang von sich wegschieben können. Und deswegen bin ich halt mit diesen Werten groß geworden. (Zeile 253-259) Während des Krieges ist Jasemin noch zu jung, um die Aufspaltung in Nationalstaaten und die damit einhergehenden Veränderungen in den Gesellschaften der ehemaligen Teilrepubliken zu realisieren. Erst als in der Schule einige Nachbarskinder, deren Familien während des Krieges nach Österreich gekommen sind, beginnen, sich als Bürger*in eines spezifischen Staates zu benennen und darauf aufbauend die anderen nach deren Zugehörigkeit fragen, wird ihr die Teilung Jugoslawiens bewusst. Retrospektiv sieht die Erzählerin in diesen kindlichen Gebärden die Ausbildung nationaler bis nationalistischer Denkmuster, die zur Aufspaltung der Kinder in einzelne Gruppen führen. Jasemin, die sich nicht in eine solche Gruppe einordnet, ist von diesem Vorgehen, das die Spielgemeinschaft auseinanderdividiert, irritiert und verunsichert. Weder ist in ihrer Familie eine eindeutige geografische Verortung gegeben noch teilt sie die Vorstellung, sich in eine Gruppe einordnen zu müssen. Die Eltern vermitteln Jasemin eine Haltung, in der das Gemeinsame prononciert wird, und schaffen damit auch Bilder von Gesellschaft und Zusammenleben. Daneben wird in der Familie viel über die soziale und politische Situation Ex-Jugoslawiens gesprochen. So kennt Jasemin als kleines Kind wie selbstverständlich die entworfene Figuration Tito, die wenig mit der Person und politischen Figur in all ihrer Widersprüchlichkeit zu tun hat (vgl. Djilas 1980; Carmichael 2016). Unter Josip Broz Tito, der, je nach Blickpunkt Involvierter, dualistisch entweder als Diktator oder als Held gedeutet wird, ist das ehemalige Jugoslawien ein sozialistischer Vielvölkerstaat. Die Heroisierung Titos hat sich vielfach bis in die Gegenwart gehalten und wird im Sinne einer sogenannten »Jugonostalgie« (vgl. Grilic 2012, S. 182ff.) archiviert und reaktiviert. Den Eltern widerspricht zwar das nationale Denken und sie sympathisieren prinzipiell mit einer solidarischen und kollektiven Grundhaltung, dennoch lässt sich keine Tito-Idealisierung feststellen, die gleichzeitig auf die Heroisierung und die unhinterfragte Identifikation mit Tito und seinen Taten abzielt. Sehr wohl aber beschäftigt die Eltern nach wie vor der Zusammenbruch des Staates, in dem sie lebten und den sie zeitweise, ähnlich wie

5. Familie und Biografie

es häufig bei Geschehnissen der Vergangenheit ist, schönmalen. Die Idealisierung einiger Momente und Erfahrungen in den Herkunftsorten sind nicht gleichzusetzen mit der Glorifizierung einer Person, Ideologie und eines politischen Systems. Jasemins »blinder Fleck« Jasemin sagt, dass ihr »blinder Fleck« (Zeile 269) die Frage nach der familiären Herkunft, kombiniert mit dem Aufwachsen vor Ort, betreffen würde. Je nach Perspektive könne die Frage unterschiedlich, jedoch nicht eindeutig beantwortet werden. Ginge es um den »Ursprung« der Familie, müsse sie historisch und damit mit der Antwort »aus Jugoslawien« argumentieren. Wenn es um die Verortung einzelner Familienmitglieder ginge, müsse sie erklären, dass die Großmutter in Kroatien, weitere Verwandte in Bosnien und in Österreich leben würden. Eine simplifizierte Antwort wird den hybriden Lebensweisen und Lebensrealitäten der Familie nicht gerecht. Jasemin sucht jedoch nach ihrer eigenen Erklärung und entwirft komplexe Identitätskonstruktionen, die die verschiedenen Faktoren der elterlichen Sozialisation, der familiären Herkunft, der Ambivalenz zwischen der Zeit vor und nach dem Bruch mit den eigenen biografischen Erfahrungen und Erkenntnissen individueller Zugehörigkeit zu verknüpfen und zu berücksichtigen versuchen. Konkret bedeutet das, dass sie aus dem familiären, elterlichen und biografischen Erfahrungsschatz schöpft. Sie zeigt sich als geprägt durch die familiäre Migrationsgeschichte, den elterlichen Wertekanon und ihren eigenen Erlebnissen, Mitgliedschaften und Neuorientierungen vor Ort. Herauskommt die Benennung einer mehrheimischen Zugehörigkeit, die sehr individuell, komplex und teilweise auch verworren und widersprüchlich ist. Obwohl sich Jasemin bezüglich ihrer mehrfachen Zugehörigkeit(-en) sicher ist bzw. geworden ist, ist sie ratlos, ob der Gruppenzugehörigkeiten, die in der Peergroup aufgrund nationaler Grenzziehungen künstlich geschaffen werden. Sie überlegt sich, weshalb nationale Zugehörigkeiten, die zuvor scheinbar nicht notwendig waren, nun beschlossen werden. Jasemins Bildungs(Um)wege Jasemin, die sich als mehrheimische Tirolerin präsentiert, die den familiären Background zu schätzen weiß, berichtet sehr detailliert aus ihrer Kindheit. Die Zeit im Kindergarten der Marktgemeinde rekonstruiert sie als eine »super tolle Zeit« (Zeile 378f.), in der sie im Kontakt mit den anderen Kindern spielerisch Deutsch gelernt habe. Zuhause wird damals vor allem BKS11 gesprochen, als sie älter wird, werden die Familiensprachen durch Deutsch bzw. Tiroler Dialekt erweitert und in den Alltag integriert. Im Gegensatz zur Kindergartenzeit habe sie die Schulzeit vom zweiten Tag an gehasst,

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BKS steht im deutschsprachigen Raum für das Sammelsurium der Sprachen Bosnisch, Kroatisch und Serbisch und umfasst das vormalige Serbo-Kroatisch, das bis 1992 eine der offiziellen Landessprachen des ehemaligen Jugoslawiens war (vgl. Romić 2016, S. 189). Während BKS die Sprachenvielfalt in Jugoslawien vereint, ist mittlerweile das Bestreben dominant, die Sprachen auseinanderzudividieren, indem sie als nicht zusammenhängende Sprachen in den Diskurs eingespeist werden, was gewissermaßen auch eine ideologische oder politische Form der Positionierung ist (vgl. ebd.). In Jasemins Artikulationen wird bewusst am Konstrukt BKS festgehalten.

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was an der »Urgestein-Lehrerin« (Zeile 390) lag, die ihre Klasse unterrichtete. Trotz ihrer Abneigung gegen die Klassenlehrerin war sie eine gute Schülerin mit ebenso guten Noten: »Ich hatte nur Einser und Zweier« (Zeile 397f.). Jasemin bemängelt, dass bestimmte schulische Strukturen wie zeitliche Vorgaben oder Unterrichtsmethoden mit ihrer Arbeitsweise schwer kompatibel sind: »Ich war als Kind, ich war in vielen Sachen langsamer, weil ich mir immer viel Zeit genommen habe für gewisse Dinge, und das funktioniert halt in einem Schulalltag nicht.« (Zeile 392f.). Sprachen, vor allem auch die Zweitsprache Deutsch, begeistern sie. Die Eltern wollen, dass Jasemin auf das Gymnasium geht, was aus Notensicht realistisch ist, sie erhält jedoch eine Absage, weswegen sie weiterhin die Hauptschule absolviert. Jasemin beschreibt sich stolz als das einzige Kind mit Migrationshintergrund, das in allen Leistungsgruppen in der ersten Gruppe ist. Daran anschließend besucht sie für 1 Jahr ein Oberstufengymnasium. Jasemin, die respektable Noten schreibt und sprachaffin ist, bricht aufgrund mehrerer diskriminierender Vorfälle die Schule ab, die sie als »sehr konservativ« (Zeile 435) bezeichnet, artikuliert den Abbruch im Gespräch aber nicht als solchen, sondern sieht darin einen Ausweg aus der für sie unerträglichen Situation. Der Schulabbruch ist ihr Weg heraus aus einem diskriminierenden und rassistischen Umfeld. Den Erfahrungen, die sie ohne weitere Ergänzung als »traumatisch« (ebd.) bezeichnet, widmet sie nur wenige, ausweichende Sätze. Wie wirkmächtig die Erlebnisse waren, kann durch die Attribute »traumatisch« und »sehr konservativ« nachvollzogen werden. Um der Gefahr einer möglichen Retraumatisierung durch die biografische Erzählarbeit entgegenzuwirken, frage ich diesbezüglich nicht weiter nach. Jasemin macht ihren Schulabschluss am Abendgymnasium, was sie positiv in Erinnerung hat: »Wir wurden dort nicht mehr wie Kinder behandelt [sondern wie Erwachsene]« (Zeile 441). Die intergenerationelle Fortführung der Familientradition als Organisator*in Jasemin hat ihr Bachelorstudium abgeschlossen und arbeitet nun in einer Organisation, in der sie Bildungs-, Beratungs- und Projektarbeit betreibt und ihre mehrsprachige Kompetenz einbringen kann. Während ihr Großvater und Vater ehrenamtlich agierten, wird Jasemins Tätigkeit vergütet. Das Interesse an Menschen, die neu dazugekommen sind, über noch keine Netzwerke vor Ort verfügen und daher Unterstützung benötigen könnten, wird familial vermittelt, wie es etwa das Beispiel der jungen Frau veranschaulicht, die mit ihrem Baby bei der Familie unterkam. Jasemin sieht die soziale Notwendigkeit, in schwierigen Momenten Beistand zu leisten, aber auch Informationen zu vermitteln, und adaptiert den Wunsch, die Traditionslinie der beiden familiären Vertreter der ersten und zweiten Generation auf professionalisierte sowie institutionalisierte Art und Weise weiterzuführen. Der Großvater half vielen Pionier*innen Dank seines Engagements informell, unentgeltlich und unbürokratisch weiter. Er leistete in der Community Organisations- und Vermittlungsarbeit, indem er für die Pionier*innen, die er bei der Arbeit oder in den Migrant*innenvereinen kennenlernte, ins Bosnische, BKS und ins Deutsche übersetzte oder sie über die mögliche Inanspruchnahme unterstützender Maßnahmen durch gesetzliche Interessensvertretungen oder den Zugang ins Gesundheitssystem informierte. Er wusste genau Bescheid über die Zuständigkeiten der einzel-

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nen Behörden, z.B. wo Zuschüsse für die Wohnungsmiete beantragt werden konnten. Er hatte sich selbstständig einen beeindruckenden Sachverstand angeeignet, wodurch er komplexe, bürokratische Prozesse durchschaute und diese seinen Arbeitskolleg*innen und Bekannten näherbrachte. Er praktizierte und ermöglichte den Kolleg*innen eine Reund Selbstorganisation des öffentlichen Lebens vor Ort. Jasemin erkennt dieses kollegiale Handeln des Großvaters als solches an, unterstreicht aber auch ihre Enttäuschung und Verletzung darüber, dass sein Einsatz vor allem an Außenstehende gerichtet war und sie als Enkelin kaum Zuwendung erhielt. Sie wertschätzt sein Handeln und Einstehen für die Gemeinschaft, was sie schließlich in ihrer beruflichen Entwicklung mitprägte. Ferner empfindet Jasemin jedoch dem Großvater gegenüber eine tiefe Kränkung, Traurigkeit und manchmal Wut, weil er kaum Interesse an ihr zeigte. Das Desinteresse am Enkelkind resultiert aus dem ausgesprochenen Verbot des Großvaters, das er hinsichtlich der Ehe von Jasemins Eltern formulierte. Ja, weil vielleicht ist das auch noch interessant zum Ergänzen, ich habe überhaupt kein Verhältnis zu meinen Großeltern väterlicherseits. So obwohl sie da gelebt haben, in derselben Stadt. Ich kann mich erinnern, als kleines Kind schon, mein Papa hat mich gelegentlich mitgenommen, als er zu ihnen gegangen ist. Ich habe mich aber bei ihnen total unwohl gefühlt, wenn ich dort war. Meine Mama war aber nie irgendwie, die irgendwas erzählt oder gesagt hätte, dass meine Großeltern mich nicht mögen würden oder so. Sie hat mich nie in irgendeiner Form hier negativ geprägt oder beeinflusst. Aber ich habe das einfach gespürt, dass da eine Ablehnung besteht, vor allem von meinem Großvater aus. Die Oma hat sich eh so halb bemüht, aber er hat das oft nicht zugelassen. Also, er hat es ihr auch verboten, mit uns in Kontakt zu treten, und das war ja auch eine Beziehung, die extrem patriarchalisch war zwischen den beiden. Also, sie hat da nie viel zu sagen gehabt bei den beiden. Und ähm dementsprechend bin ich immer mit einer Distanz zu ihnen aufgewachsen. (Zeile 524-535) Ausgangspunkt für die wenig stabile Beziehung zwischen dem Großvater bzw. den Großeltern und dem Enkelkind ist der nicht aufgearbeitete Konflikt zwischen ihm und seinem Sohn. Obwohl dieser die Protagonist*innen der ersten und zweiten, nicht jedoch Jasemin betrifft, überträgt der Großvater diesen auf sie, ähnlich wie eine »Generationsschuld«, und belastet damit nachhaltig deren Verhältnis. Für ihre Kusinen hingegen war er ein »klassischer« Opa, zu ihr blieb das Verhältnis, das aus sehr unregelmäßigen Treffen bestand, bis zu seinem Tod distanziert. Durch die starke Eingebundenheit in die mehrheimische Community nahmen viele Menschen an seinem Begräbnis teil und verabschiedeten sich von ihm. Ich bin so dagestanden und habe so rumgeschaut und alle waren so traurig. Und ich habe mir einfach nur gedacht, dass die Leute meinen Opa einfach besser kennen, als ich ihn gekannt habe, und das war wirklich total schlimm für mich. Also, irgendwie der Mensch ist jetzt tot und ich kann das nie wieder nachholen und ich weiß nicht, wer das gewesen ist. (Zeile 562-566) Der Streit zwischen den vorherigen Generationen unterminiert die Beziehung zwischen dem Großvater und der Enkelin. Die fehlende Nähe zwischen ihnen kann nicht überwunden werden und ist für die Erzählerin biografisch einprägsam und traurig. Das Bei-

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spiel instruiert, dass biologische Verwandtschaft nicht zwangsläufig eine qualitätsvolle und dauerhafte Bindung zueinander befördert, sondern Beziehungen müssen aufgebaut, gewollt und gepflegt werden (siehe Kap. 5). Daher legt Verwandtschaft nicht automatisch die Verbundenheit von Familienmitgliedern fest. In diesem Sinne fungiert der Lebenspartner der geschiedenen Großmutter mütterlicherseits, die in Kroatien wohnt, als eine Art Ersatz-Opa für Jasemin. Liebe und Verbundenheit sind also nicht biologisch determiniert, und das Sprichwort »Blut ist dicker als Wasser« als Binsenweisheit ist widerlegt. Genauso bedeutet das gemeinsame Vor-Ort-Sein nicht zwangsläufig, dass die Beziehungsarbeit ernst genommen oder intensiviert wird, sprich, geografische Nähe macht soziale und emotionale Distanz nicht unmöglich (siehe Kap. 5.2.1). Das familiäre Handeln des »Fixers« (Zeile 154), wie es Jasemin nennt – gemeint ist damit die Rolles des*der Organisator*in –, liegt ihrem Vater, ähnlich wie seinem Vater. Der Ausdruck »Fixer« ist von der Anstrengung des Fixierens, des Reparierens, des In-Ordnung-Bringens entlehnt. Der Vater handelt gewissermaßen in einer familiären Traditionslinie, die sich nun durch Jasemins Tätigkeit über drei Generationen erstreckt. Der Vater lernt schnell und leicht Menschen kennen, knüpft Kontakte, baut sie aus und nutzt sie. »Jeder kennt ihn« (Zeile 1287), schmunzelt Jasemin. Auch er macht in seiner Freizeit Behördengänge für Verwandte, nahe und entfernte Bekannte, aber auch fremde Personen. Er organisierte in der Vergangenheit auch das ein oder andere Treffen zwischen Arbeitssuchenden und potenziellen Arbeitgeber*innen, verhalf Menschen zu einer Unterkunft und sprang in Notfällen auch persönlich ein. Während das Engagement des Großvaters primär Community-Arbeit war und auf die Interessen und Bedürfnisse der ersten Generation abzielte, ist das des Vaters umfassender und nicht ausschließlich auf den migrantischen Kontext beschränkt. »Der Papa hilft dort, wo seine Hilfe gebraucht wird« (Zeile 587). […] mein Papa hat ganz gute Connections gehabt. Deswegen er hat immer jemanden gekannt, der irgendwen kennt. Also, das ist er immer noch. So ist er einfach immer noch. ich habe gerade letztens eine Waschmaschine geschenkt bekommen, weil er wieder irgendwo eine Waschmaschine organisiert hat […]. (Zeile 926-929) Jasemin erwähnt, dass ihr Vater selbst nie im Mittelpunkt stehe, immer nur geben und selten nehmen würde. Er erzähle generell wenig von sich als Person, seinen Gefühlen und den negativen Erfahrungen der Vergangenheit. Umso mehr freut es sie, dass die beiden kürzlich auf ihr Bitten hin ein intensives Gespräch führten. Darin legte er einige frühere Erzählungen offen, die er bisher bewusst vermieden hatte; Jasemin lernte ihren Vater so besser kennen. Die Unterhaltung implizierte eine emotionale Verständigung, die Jasemin half, Teile der Familiengeschichte zusammenzusetzen und zu bewerten. Und dadurch war es für mich auch super, mal mehr von ihm zu erfahren, mal zu schauen, wie das für ihn war, wie er das alles erlebt hat, weil, wie gesagt, ich habe es nicht gewusst. […| Und es war im Endeffekt eine sehr tolle Erfahrung, und es hat auch uns irgendwie miteinander mehr verbunden und hat auch mir geholfen, eben Dinge zu verstehen. Dementsprechend bin ich froh, dass das passiert ist. Tatsächlich. (Zeile 588-593)

5. Familie und Biografie

Biografische Erfahrungen und Erinnerungen materialisieren sich durch den Austausch, den Dialog. Durch das intensive Gespräch zwischen Jasemin und dem Vater wird ein Verstehensprozess eingeleitet, der nicht nur biografische Fakten enthält, sondern familiäre Ereignisse und Beziehungskonstellationen neu einordnet. Es hilft der Protagonistin, bestimmte Handlungen des Vaters, aber auch spezifische Reaktionen, bestimmte Aussagen und Kommunikationsstrategien besser zu begreifen. Doch nicht nur das Verständnis bezüglich des Papas verändert sich, auch die Perspektive auf ihre eigene Lebensgeschichte erweitert sich: »Und dadurch eben habe ich auch viel über mich erfahren, und man reflektiert dann auch bestimmte Dinge aus dem eigenen Leben anders« (Zeile 590f.). Familie als Orte der Vermittlung und was die Erzählerin daraus macht Jasemin rekonstruiert zwei Familiengedächtnisse, eines mütterlicherseits, eines väterlicherseits, die nun durch den*die Protagonist*in der postmigrantischen Generation zu einem Gedächtnis subsumiert werden. Die Erzählerin entwirft, die beiden Familienzweige tangierend, sehr kontrastierende Erinnerungen und Narrationen. Während sie bezüglich der ersten Generation väterlicherseits vor allem die Migrationsgeschichte des Großvaters und seine Motivation, Außenstehenden weiterzuhelfen, nachzeichnet und in Relation zur Beziehung zu ihm setzt, beschreibt sie die Großmutter mütterlicherseits als »eine richtige Self-made-Frau« (Zeile 629). Die Großmutter heiratete sehr jung, ließ sich wider der gesellschaftlichen Konventionen scheiden und lebte dann abwechselnd, anfangs mit Jasemins Mutter, später allein, heute in Partnerschaft, sowohl im heutigen Bosnien als auch in Kroatien. Sie eröffnete nach jahrzehntelanger Fabrikarbeit ihr eigenes Restaurant, das aufgrund der Zubereitung eines lokalen Speisegerichtes an Berühmtheit erlangte, wie Jasemin stolz erläutert. Jasemin besucht ihre Großmutter jedes Jahr im Sommer und sagt, dass ein Sommer ohne Besuch in Kroatien kein richtiger Sommer sei. Nach Bosnien fährt sie rund alle paar Jahre. Durch diese Fahrten in die Herkunftsorte der ersten und zweiten Generation werden neue Erinnerungsräume generiert, zu denen die Erzählerin nun, im Gegensatz zu den intergenerationell tradierten Erinnerungen, direkten Zugang hat. Die Erzählerin versucht, ausgewählte Traditionen der Familie weiterzuführen. Jasemin erzählt davon, dass in ihrer Kindheit die Autofahrten nach Bosnien immer nach dem gleichen Schema abliefen. Das Auto war vollbepackt mit Schokolade und Kaffee und Geschenke für alle nahen und entfernten Verwandten. Jasemin nennt das befüllte Fahrzeug »Z-Wort-Auto«12 (Zeile 718) und betont dann zugleich, dass man dies nicht sagen dürfe. Die Verwendung des Begriffes ist nicht harmlos, sondern ist antiziganistisch, und impliziert einen gesellschaftlich akzeptierten und strukturell verankerten Rassismus, der soziale Gruppen als Z-Wort stigmatisiert, homogenisiert und essenzialisiert (vgl. Allianz gegen Antiziganismus 2017, S. 5). Der Vater konnte während der Fahrt nur durch den Rückspiegel sehen und sich daran orientieren. Seit Jasemin mit ihrem Partner zusammenlebt, fährt sie mit ihm und nicht

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Die Erzählerin spricht das Z-Wort aus, das hier jedoch nicht als solches genannt wird, um keine Rassismen zu reproduzieren.

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mehr mit den Eltern in den gemeinsamen Urlaub. Im Sinne der Familientradition wird das Auto genauso vollbepackt wie in ihrer Kindheit. Aber mittlerweile ist es halt so, dass für mich macht es nicht mehr so viel Sinn, mit den Eltern zu fahren. Das will ich auch gar nicht mehr so, weil es macht mir mehr Spaß, selber zu entscheiden, wo ich hinfahre, wann ich hinfahre und meinen eigenen Rhythmus zu haben. Aber gewisse Sachen bleiben. Es ist trotzdem so, ich bin vor 2 Jahren mit meinem Freund zum ersten Mal hingefahren. Da sind wir nach Zagreb gefahren, ans Meer, und auch noch nach Bosnien, weil ich wollte ihm das alles zeigen, wo quasi irgendwie meine Wurzeln her sind. Und das war lustig, weil wir sind genauso mit diesem [Z-Wort-Auto; siehe vorherige Fußnote] sind wir auch zurückgefahren, weil wir haben dann im Endeffekt so viele Sachen von dort mitgenommen und nach Österreich zurückgebracht. (Zeile 723-731) Jasemin möchte ihrem Partner die Orte ihrer Kindheit und der Familie zeigen und ihm damit Zugang zum familialen Erinnerungsrepertoire gewähren. Mit der Fortsetzung der Autofahrten in die familialen Bezugsorte, jedoch mit veränderter generationeller und personeller Besetzung, werden die Räume und Praktiken der Familie umgedeutet und in die Gegenwart übersetzt. Aus der Historisierung der weiblichen »Linie« (Zeile 1482) mütterlicherseits und der Attribuierung, dass die Frauen in der Vergangenheit und Gegenwart starke Persönlichkeiten waren und sind, wird der Bogen zwischen den weiblichen Protagonistinnen der verschiedenen Generationen gespannt, und gleichzeitig entsteht die selbstbewusste Versicherung sowie Selbstpositionierung, dass die Erzählerin selbst dieser Tradition starker Akteurinnen folge. Die dominanten (Familien-)Erzählungen über die Urgroßmutter, die Großmutter, die Mutter und Jasemin selbst legt die verknüpften, generationsübergreifenden Erfahrungen und Erkenntnisse im Sinne einer Trias der Zeitlichkeit (siehe Kap. 2.3.1) offen. Demnach sei die Urgroßmutter »der größte Buddy im Dorf« (Zeile 1241) und sei »der Chef Zuhause gewesen« (Zeile 1242). […] also mein Uropa ist z.B. in das Haus von meiner Uroma gekommen, weil sie hat halt dieses Grundstück gehabt und das Haus ist freigestanden, und dementsprechend ist er dann aus pragmatischen Gründen zu ihr gekommen, vor allem aber auch, weil sie dort einfach auch nicht wegwollte. Sie hat gesagt: »Das ist mein Zuhause, das ist mein Haus. Wenn du mich heiraten willst, dann kommst du zu mir! Fertig!« (Zeile 1245-1249) Auch die Großmutter und Mutter werden als sehr starke Personen beschrieben. Besonders Letztere wird gelobt für ihren »Mumm, […] einen Mann zu heiraten, dessen Familie sie nicht will, und in ein Land zu gehen, in dem sie niemanden hat außer diese Familie, in der sie sooo verhasst ist« (Zeile 1260-1262). Sie hatte, als sie nach Tirol kam, »Keine Arbeitsbewilligung, [war] abhängig vom Gehalt vom Papa, abhängig davon, dass er quasi die Brötchen nach Hause bringt, hatte keine Sprache, war verantwortlich für mich« (Zeile 1265-1267). Die Mutter verblieb jedoch nicht in dieser Handlungsunfähigkeit, sondern lernte stattdessen mit den kindlichen Schulbüchern und dem deutschsprachigen Fernsehprogramm Deutsch. Sie machte den Führerschein, beschaffte sich eine Arbeitserlaubnis samt Arbeit und fing an, »den Laden zu schmeißen, weil er sonst untergegan-

5. Familie und Biografie

gen wäre« (Zeile 1274). Jasemin zeichnet mit der Formulierung, dass der Laden ohne das Zutun der Mutter untergangen wäre, eine finanziell und emotional schwierige Zeit der Kleinfamilie nach. Der Vater arbeitete zu jener Zeit im Ausland, die Geschichte der temporären Abwesenheit des Vaters habe sich wiederholt. Retrospektiv ist Jasemin dankbar für die Ambitioniertheit der Mutter, mit der sie das alltägliche Zusammenleben der Familie, das durch zeithistorische Ereignisse, wie den Zusammenbruch Jugoslawiens und die innerfamiliären Herausforderungen gekennzeichnet war, regelte und somit normalisierte. […] ich würde schon auch sagen, dass ich auch dieses Selbstbewusstsein, dass die Frauen mütterlicherseits haben, dass ich das definitiv auch in mir aufgenommen habe. Also da kann ich definitiv eine Linie erkennen, sagen wir mal so. (Zeile 1480-1483) Fazit Jasemins Familiengeschichte ist strukturiert durch Binnenmigration, transnationale Mobilität, bilaterale Arbeits- und FluchtMigration, deren relevante Orte und familiären Bezugspunkte durch die Erzählerin innerhalb einer familiären Kartografie rekonstruiert werden. Einige der örtlichen familialen Referenzpunkte, die mit den Erfahrungen der Eltern und Großeltern im ehemaligen Jugoslawien assoziiert werden, liegen nun, territorial betrachtet, in den neuen Nationalstaaten, wohingegen die elterliche Erinnerung die staatliche Aufspaltung nur schwer realisiert. Im Familiengedächtnis bleiben damit unter anderem Erinnerungen an ein Land dominant, das es in dieser Form nicht mehr gibt. Genauso bleiben im familialen Archiv bislang ausgewählte dominante Familienerzählungen sowie Praktiken, Haltungen und Funktionen, etwa jene des Organisierens und Beratens erhalten, die von Jasemin übernommen werden. Spezifische normative und religiöse Vorstellungen einzelner älterer Familienmitglieder hingegen werden von der Protagonistin abgelehnt und ersetzt durch eigene Wertvorstellungen, die etablierte Diskurse offener denken.

5.4 Selma: »Von meiner Mama die Mama hat georgische Wurzeln. Also, es liegt in meiner Familie, dass wir Auswanderer sind.« Kurzportrait Selma Selma ist das jüngste mehrerer Kinder und als Einzige im Ankunftsort geboren. Einen wesentlichen Teil ihrer biografischen Artikulation nimmt eine Erfahrung in Anspruch, die noch in der Zukunft liegt. Für die Umsetzung des großen Wunsches, in Kürze ein Auslandsjahr zu begehen, reaktiviert sie die familiären Netzwerke in der Türkei, im Wissen, dass sich ihre emotionale Verbindung zu den Verwandten von jener der älteren Geschwister unterscheidet. Trotzdem will sie die Möglichkeit, zunächst bei den Verwandten zu wohnen, aktiv nutzen. Mit dem Auslandsjahr möchte sich Selma, die von ihren Schwestern und Brüdern immer als »Kleine« (Zeile 932) bezeichnet wird, absetzen.

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Die familiale Mobilitätsgeschichte Selmas Großvater kam in den Anfängen der 1970er Jahren als Pionier aus der Türkei nach Österreich und blieb, wie es das Rotationsprinzip der zwischenstaatlichen Anwerbeabkommen gesetzlich regulierte (vgl. Rupnow 2018, S. 84; siehe Kap. 4.3.1), ein halbes Jahr lang dort. Dann ging er wieder zurückging und kam nie wieder nach Österreich. Selmas Vater wiederum, der bereits mit ihrer Mutter verheiratet war, migrierte eigenständig Mitte der 1980er Jahre nach Tirol. Die Mutter und ihre Kinder blieben währenddessen in der Türkei, Selma war zu diesem Zeitpunkt noch nicht geboren. Für den Großvater war die Migrationserfahrung eine relativ kurze Zwischenstation in seiner Biografie, der Vater hingegen, der kaum Kontakt zu Ersterem hat, blieb langfristig. Es kostete ihn mehrere Anläufe, bis er hierhin einwandern konnte sowie eine Aufenthaltsgenehmigung erhielt. Er war nicht in die staatlich organisierte Anwerbepolitik eingebunden und verschuldete sich für den Traum von einem finanziell und sozial abgesicherten Leben für die Familie und sich. Selma resümiert diesbezüglich: »Er ist auf eigene Faust gekommen« (Zeile 22). Per Anhalter und auf zahlreichen Umwegen nach Tirol Die Hintergründe, die zur Migration des Vaters und später auch der restlichen Familienangehörigen führten, sowie die Narrationen rund um die beschwerlichen Mobilitätsbewegungen des Vaters sind Teil einer dominanten Familienerzählung, die intergenerationell an Selma und ihre Geschwister weitergetragen wurde. Selmas Mutter und Vater wohnten in einem kleinen Dorf in der Türkei. Der Vater transportierte, um den Lebensunterhalt seiner Familie zu bestreiten, gefällte Bäume in die Sägefabrik. Die körperlich anspruchsvolle Arbeit war schlecht bezahlt, sodass er vorerst seine sechs Kinder, seine Ehefrau und das kleine Dorf, in dem er aufgewachsen war, verließ und via Binnenmigration nach Istanbul ging. Sein Wunsch war es, direkt nach Österreich weiterzuziehen, um die Lebenssituation der Zurückgebliebenen zu verbessern. Er musste jedoch sehr lange auf seine Ausreisepapiere und Arbeitsdokumente warten und hielt sich daher zwischenzeitlich durch Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Selma beschreibt, wie ökonomisch schlecht es um die Familie stand. Viele der Pionier*innen der ersten und zweiten Generation fuhren mit dem Zug nach Österreich. Denjenigen, die bereits vor der Abreise eine befristete Arbeitsstelle zugewiesen bekamen, wurde die Zugfahrt teilweise vorfinanziert bzw. rückerstattet. Der Vater jedoch hatte keine fixe Aussicht auf, geschweige denn eine Zusage für eine Anstellung, weswegen er sich dazu entschied, per Autostopp in den weit entfernten Wunschort zu gelangen. Selma erzählt detailliert von vereinzelten Etappen, die ihr Vater bewältigen musste. Ein Autofahrer aus Zypern etwa nahm ihn als Anhalter mit durch Bulgarien und Serbien. In Serbien angekommen, stieg er abwechselnd auf Zug und Bus um. Die Kriegssituation in den Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawiens verkomplizierte und verlängerte die Migrationsetappen zusätzlich. Die Fahrt glich einer Odyssee. Die rund 3 000 Kilometer lange Strecke wurde durch zahlreiche Umwege – bestimmte Orte mussten großflächig umfahren werden – verlängert, bis er schließlich in Wien eintraf. Selma zufolge lernte der Vater schnell, mit den Mitreisenden und den Autofahrern (männlich), die in mitnahmen, zu interagieren und sich nonverbal mitzuteilen. Dieses Beispiel ver-

5. Familie und Biografie

deutlicht, dass Verständigung trotz unterschiedlicher Sprachzugehörigkeiten und Lebensrealitäten funktionieren kann, wenn gegenseitige Bereitschaft zur Kooperation und solidarischem Handeln besteht. Obwohl der Vater zu dieser Zeit weder Englisch noch Deutsch oder die Sprachen der Reisebegleitungen beherrschte, funktionierte die Interaktion. Eine Verwandte der Familie aus der ersten Generation lebte und arbeitete nach wie vor in Tirol. Um die Anfangszeit zu überbrücken, wohnte der Vater erstmals bei ihr. Er fand in dem Ort, der touristisch gut angeschlossen ist, eine Anstellung in der Küche eines großen Hotels. Er kümmerte sich um den Abwasch und half bei Hilfstätigkeiten in der Küche. Fortan arbeitete er mehrere Jahre lang als saisonal Angestellter in unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen der Gastronomie und Hotellerie. Besonders im Küchenbetrieb arbeiteten vor allem Migrant*innen, vielfach Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Selma beschreibt die Zusammensetzung jener in der Küche Arbeitenden, die zuarbeiteten bzw. keine hohe Position und/oder formale Qualifizierung hatten, wie folgt: »[…] da waren nicht so viele Türken, nur Jugos waren da« (Zeile 95f.). Mit der Erklärung, dass »nicht so viele« Türk*innen mit dem Vater gearbeitet hätten, möchte sie verdeutlichen, dass er geografisch, aber auch emotional weit entfernt von Zuhause oder dem bisher Bekannten war. Die Formulierung »Jugos« reproduziert stereotype, abwertende und teilweise auch rassistische Vorstellungen über Menschen, die direkte oder familiale Verbindungen zu den Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawiens besitzen. Diese Begrifflichkeit, die eine Gruppe von Menschen herabsetzt, um die eigene Gruppenidentität, die konträr zur ersteren definiert wird, zu stärken, wird in einigen Interviews unreflektiert verwendet. Das lässt die Annahme zu, dass sich die beleidigende Bezeichnung im Sprachgebrauch vor Ort trotz des Wissens der meisten Sprechenden bezüglich des machtvollen und verletzenden Sprechaktes etabliert hat. Die Küchenmitarbeiter*innen pflegten ein respektvolles und kollegiales Verhältnis untereinander und sahen sich ob der prekären Arbeitsbedingungen geeint. Die gesamte Familie ist dem kleinen Ort, an dem sich die erste Arbeitsstelle befand, bis heute tief verbunden, unter anderem deshalb, da Selma dort geboren wurde. Die Erzählerin gerät ins Schwärmen, sobald sie von dem Dorf berichtet, das der erste geografische Zugang zu Tirol bzw. Österreich war und in dem der Vater zuvor allein und später die (Kern-)Familie mehrere Jahre lang gemeinsam lebte: »In [Dorfname] war das alles möglich. In [Dorfname] war es schön« (Zeile 209f.). Der Vater konnte nach etwa 4 Jahren, die er allein in einem Zimmer des Hotels wohnte, seine Familie nachholen. Ungefähr zeitgleich wechselte er aus der Gastronomie in den Bausektor und war er unter anderem im Tunnelbau tätig. Die unterschiedlichen Berufe, die der Vater ausübte, veranschaulichen, welch hohe Flexibilität, körperliche und zeitliche Aufwendung, gar Aufopferung von Migrant*innen eingefordert wurden. Bevor die Familienzusammenführung erfolgte, arbeitete die Mutter in der Türkei auf dem Feld, kümmerte sich um die vielen Kinder und pflegte ihre Mutter, die aus Georgien stammte. Die Großeltern mütterlicherseits starben früh, noch bevor Selma zur Welt kam. Selma ist traurig darüber, sie nie kennengelernt zu haben, und unterstreicht, dass ihr das Erinnerungsmoment zu ihnen fehlt:

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Sie waren die ganze Zeit dort in der Türkei und dann sind sie eh gestorben. Für mich ist das schwierig, weil ich habe niemals mit meiner Oma oder mit meinem Opa oder so eine gemeinsame Erinnerung gehabt. Überhaupt nichts, nein. (Zeile 973-975) Selma trifft die Großeltern väterlicherseits nur sporadisch, sodass sie auch zu ihnen keine emotionale Bindung oder Vertrauensbasis aufbauen kann. Im Jugendalter verbringt sie gemeinsam mit den Geschwistern 1 Monat bei den Großeltern in der Türkei, ist jedoch enttäuscht darüber, dass sich das Verhältnis zur Oma und zum Opa kaum verbessert. Die Beziehung bleibt bis heute respektvoll, aber distanziert. Also meine Geschwister haben alle Erinnerungen an die Großeltern, also sie haben positive Erinnerungen. Sie sind zusammen aufgewachsen und haben immer wieder Schokolade und so bekommen. Aber ich kann da nichts berichten ((lacht)). Weil ich hier auf die Welt gekommen bin. Wirklich nichts. Also mir sind sie so fremd […]. (Zeile 996-999) Der Familiennachzug, die Geburt Selmas und der Alltag vor Ort Selma wird als einzige ihrer Geschwister im Ankunftsort geboren. Die Mutter ging unmittelbar nach der Ankunft auf Arbeitssuche und fand eine Anstellung im Hotelgeschäft. Abgesehen vom zweitältesten Kind, das direkt den Kindergarten besuchte, war die Umgewöhnung für die älteren Geschwister, die den gewohnten Kontext durch die Migration verließen, groß und stellenweise kompliziert. Selmas Geschwister, die größtenteils bereits in der Türkei eingeschult wurden, dort den Schulalltag kannten, erfuhren vor Ort pädagogisch fundierte Unterstützung. Die Erzählerin wirft ein, dass dennoch »das Gefühl, ein Ausländer zu sein, schon da [war]« (Zeile 180). Die Schulausbildung zweier Geschwister war bereits abgeschlossen und so sollten auch sie direkt in die Arbeitswelt eintreten, was zu Überforderung führte. Der Vater organisierte derweil eine Wohnung, die groß genug war für die achtköpfige Familie: Und der Wohnungsbesitzer hat meinen Papa geliebt. Er liebt ihn heute noch. ((lacht)). Nein, er hat da überhaupt keine Schwierigkeiten gehabt, etwas zu finden. ((lacht)) Es war fast schon eine Vater-Sohn-Beziehung. Mein Papa hatte keine so schöne Beziehung zu seinem Vater, aber mit dem Vermieter war es super. Sie haben zwar mal gestritten, aber am nächsten Tag waren sie wieder wie Papa und Sohn. (Zeile 195-200) Nach und nach ziehen die älteren Kinder aus der gemeinsamen Familienwohnung aus. Häufig fällt gegenüber Selma der Satz: »Du kannst das nicht als Kleine« (Zeile 931f.), der als Demonstration alltäglicher und normaler Geschwisterrivalität gelesen werden kann. Dennoch stört er Selma nachhaltig und motiviert sie Jahre später dazu, ihre Bedenken bezüglich des geplanten Auslandsjahres zu verwerfen und den älteren Geschwistern zu zeigen, dass sie sich als Erste in der Familie traut, vorerst für 1 Jahr nach Istanbul zu ziehen. Sie versucht, sich von den negativen Reaktionen einzelner Familienmitglieder und Bekannter nicht verunsichern zu lassen: »Oder man wird sofort negativ vorbereitet. Also so, wenn man was erzählt, heißt es: ›Du kommst eh wieder zurück!‹ und so.« (Zeile 776). Selma erzählt, dass sie als Kinder überall rund ums Haus herumspielen konnten und der Vermieter sehr kinderfreundlich war.

5. Familie und Biografie

Als Kinder haben wir überall spielen dürfen und das ist heutzutage wirklich schwierig. In [Ortsname] war das alles möglich. In [Ortsname] war es schön. Wir waren sehr sozial und ja. (Zeile 208f.) Selma spricht davon, »sozial [zu] sein« (Zeile 210), und meint damit, »integriert zu sein«. Sie verfügt über ein Standardrepertoire an Integrationsvorstellungen, die dominanzgesellschaftlich artikuliert und als selbstverständlich betrachtet werden. Sie benennt das Moment und die behauptete Wichtigkeit von Integration, indem sie die Familie als »gut integriert« und sozial etabliert nachzeichnet. Das Konzept der Integration wird nicht hinterfragt oder kritisiert, sondern wird als gegeben dargestellt. Es findet eine Naturalisierung der Notwendigkeit statt, sich an eine Gesellschaft, die nicht gleich ist, anpassen zu müssen und zu wollen. In den weiteren Erzählmomenten lässt sich konstatieren, dass eine vermeintliche Integration bzw. das, was darunter verstanden wird, nämlich gewissermaßen unauffällig und nicht als mehrheimisch »entlarvt« zu werden, angestrebt, aber kaum erreicht wird. So differenziert Selma wiederkehrend zwischen Mehrheimischen und Einheimischen und markiert Gruppenzugehörigkeiten, die entscheidend aus der Beurteilung von außen entstehen und primär nicht selbst gewählt sind. Verbunden-Sein mit der Nachbarsfamilie aufgrund der mehrheimischen Zugehörigkeit Die erste gemeinsame Wohnung der Familie im Ankunftsort ist für die Protagonistin untrennbar von den Nachbar*innen und Nachbarskindern, mit denen sie ihre Freizeit verbringt: »Unsere Nachbarn waren aus Bosnien. So wie wir halt« (Zeile 214). Mit dieser Beschreibung wird ein Gemeinschaftsgefühl zwischen der bosnischen Nachbarsfamilie und der eigenen erzeugt. Jede Migrationserfahrung und ihre Umstände sind spezifisch, für Selma überwiegt das Verbindende. Als assoziative Elemente können die Migrationserfahrung an sich und die spezifischen Erlebnisse in der Nachbarschaft sowie Ankunftsgesellschaft, folglich die Lebensrealitäten nach der Migration im Sinne postmigrantischer Erfahrungen rekonstruiert werden. Wenngleich also die Herkunftskontexte, die detaillierten Lebens- und Erfahrungswelten der beiden Familien divergieren, wird die gemeinsame Erfahrungsbasis positiv hervorgehoben. Ein neues Familienprojekt entsteht Aufgrund gesundheitlicher Probleme, die durch die schwere körperliche Arbeit verstärkt wurden, musste der Vater seinen letzten Job quittieren. Er wollte sich beruflich verwirklichen und investierte in ein kleines Familienunternehmen, in dem nun mehrere Kinder arbeiten bzw. in ihrer Freizeit mithelfen (sollen). Selma beschreibt die Mitarbeit im Unternehmen als selbstverständlich, bemerkt aber, dass sie diese Zuwendung in ihrer Freizeit leiste, also nach Erledigung ihrer eigentlichen Lohnarbeit und/oder der Aufgaben, die mit dem derzeitigen Vollzeitstudium verbunden sind. Sie beschwert sich nicht über die eingeforderte Mithilfe, erwähnt jedoch vielfach, wie eng getaktet und verplant ihr Tag sei. Etwaige Kritik am Projekt des Vaters, das zum intergenerationellen Familienprojekt avancierte, wird vorsichtig formuliert, nur angedeutet, sprich nicht direkt benannt.

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Bildungsarbeit, -etappen und -logiken: »dadurch, dass meine Hauptschullehrer ein bisschen rassistisch waren, haben sie das ein bisschen so verhindert« (Zeile 276-278) Selma beschreibt die Zeit in der Volksschule als »okay«. Spaß bereitet habe ihr der Besuch des Kirchenchors, in dem sie sang. Die muslimische Familie ist gläubig, dennoch wird der regelmäßige Besuch der Kirche nie problematisiert, sondern als Teil der schulischen Vergemeinschaftung akzeptiert. Selma betont, damals die einzige Türkin in der Klasse gewesen zu sein, die sowohl im Chor als auch in der Schulgemeinschaft war. Erst in der Hauptschule, die sich in der nächstgrößeren Stadt befindet, wird die Zusammensetzung der Klassengemeinschaft heterogener und vielfältiger. Im Erzählen über die Zeit in der weiterführenden Schule wird ein situatives Wissen über die Hierarchisierung von Schultypen und den guten oder schlechten Ruf spezifischer Schulen offengelegt. Des Weiteren weiß Selma, dass Lehrer*innen mitunter über unterschiedliche Beurteilungs- und Handlungspraktiken hinsichtlich der Schüler*innen verfügen, die aus einem kategorischen Differenzdenken herrühren. Die Einteilung der Schüler*innen in einheimisch und nicht-einheimisch (be-)fördert, nicht in nur in diesem Beispiel, rassistische Denk- und Handlungsweisen. Ich bin dann in die Hauptschule gekommen, leider. Die Hauptschule in [Ortsname] war eher … (überlegt). Es war eine schöne Zeit, aber ich habe es dann doch nicht geschafft, was meine Geschwister halt geschafft haben. Was sie geschafft haben, habe ich nicht geschafft. Also, sie sind. Also, ich wollte z.B. in die HAK kommen, und dadurch, dass meine Hauptschullehrer ein bisschen rassistisch waren, haben sie das ein bisschen so verhindert. Weil da waren sehr, sehr viele Ausländer. Also, die Hauptschule in [Ortsname] hat heute noch so einen schlechten Ruf. Das haben wir damals nicht gewusst. (Zeile 273-279) Selma misst sich in diesem Beispiel mit den schulischen Erfolgen der älteren Geschwister. Es sei ihr nicht gelungen, was die Geschwister geschafft haben, nämlich nach deren Vorbild die Handelsakademie zu besuchen. Die zu negativen und einseitigen Beurteilungen der Lehrer*innen, die »ein bisschen rassistisch waren«, beschnitten die Möglichkeit, auf die genannte weiterführende Schule zu gehen. Mit der Beschreibung »rassistisch« spricht die Erzählerin einerseits rassifizierende Handlungen und diskriminierende Verhaltens- und Beurteilungsweisen ihrer Lehrer*innen an und andererseits relativiert sie diese durch den Einschub »ein bisschen«. Letztere Bezeichnung mildert einerseits die beträchtliche Machtposition der Lehrer*innen sowie ihre Entscheidungs- und Deutungsmacht, die mit ihrer Beurteilung, ob der*die Schüler*in als geeignet erachtet werde, eine spezifische konsekutive Bildungsstätte zu besuchen, ab. Andererseits verbirgt sich dahinter eine große Unsicherheit seitens der Protagonistin, ob das Verhalten der Professionellen rassistisch oder »nur« diskriminierend war bzw. wie meine persönliche Einschätzung als wissenschaftliche Gesprächspartnerin dazu sei. Es fehlt an einem gemeinsamen Verständnis zwischen Erzähler*in und Interviewer*in hinsichtlich des Deutungs- und Definitionsrahmen von Rassismus und Diskriminierung. Spannend ist die Aussage, die Familie hätte nicht Bescheid gewusst über den schlechten Ruf der Hauptschule. Das bedeutet nicht, dass die Wahrnehmung eines schlechten Rufes, die häufig von außen erfolgt, der Realität entspricht. Die Behauptung, durch die eine Schule als »Problemschule« festgeschrieben wird (siehe Kap. 2),

5. Familie und Biografie

folgt einer defizitären Betrachtung von Migration und Vielheit. Wegen der mehrheimischen Klientel wird die Schule als Problem reproduziert, unabhängig von möglichen Transformationen oder Verbesserungen im Stundenplan oder ähnliches, denn als »Problem« wird weiterhin die heterogene Schüler*innenschaft decodiert. Der Ruf einer Bildungseinrichtung, ob der nun positiv, neutral oder negativ ist, hält sich in der Regel lange und das auch über Jahre oder Generationen hinweg. Das fehlende Wissen, das Selma bezüglich Reputation und Logik der Schule nachzeichnet, erklärt sich damit, dass die Familie, abgesehen vom Vater, dessen bisheriges Alltagswissen nicht diese ausgewählten Bildungsfragen umfasst, bis dato keinen Zugang hatte zu diesem »einheimischen Wissen«, das sich über einen deutlich längeren Zeitraum etablieren konnte. Dieses entsteht primär durch die Kommunikation mit anderen Eltern, deren Kinder selbst schulpflichtig sind oder waren und funktioniert wie eine Art Mund-zu-MundPropaganda. Gezielte und detaillierte Recherchen oder Gespräche mit Expert*innen aus dem Bildungsbereich werden meist nur dann in Erwägung gezogen, wenn eben dieses intergenerationelle Erfahrungswissen fehlt, das niemals objektiv ist und selten Veränderungen in der Schullandschaft, Lehrer*innenschaft oder auch im Stundenplan berücksichtigt. Häufig haben besonders im dörflichen oder kleinstädtischen Kontext Elternteile, ältere Geschwister oder Bekannte eigene Erfahrungen in einer bestimmten Schule gemacht, wodurch, je nach Konnotation des Erlebten, entschieden wird, ob die Schule zum Nachwuchs passen würde. Die Schulwahl wird meist in dem Bewusstsein, wie bedeutend diese für spätere Bildungsprozesse sein kann, gewählt. Im Gegensatz zur Wahl der Grundschule existiert bei weiterführenden Schulen keine Sprengelpflicht, sodass der Besuch einer weit(er) entfernten Schule eine Option sein kann. Dabei stellt sich dezidiert die Frage, welche Familien über die Möglichkeit verfügen, die geografische Mobilität der Kinder, die ökonomische und zeitliche Ressourcen erfordert, zu gewährleisten. Ferner kann es kompliziert sein, diese werktägige Form der Mobilität in den Familienalltag zu inkludieren. Bei Selmas Familie, die nicht zuletzt wegen des Familienbetriebes auf die Unterstützung der einzelnen Familienmitglieder angewiesen ist, ist eine solche geografische, aber auch soziale Bewegungsintensität heikel. Selma beschreibt die Klassengemeinschaft in der Hauptschule als »super« (Zeile 292) und fügt an, dass die Lehrer*innen »nicht so begeistert von uns« (Zeile 278) waren, was sie damit begründet, »Weil da waren sehr, sehr viele Ausländer« (ebd.). Selma verbalisiert mit der gewählten Benennungskategorie »Ausländer«, in die sich miteinschließt, die Denkmuster eines binären Diskurses über Migration und ihre Subjekte. Ihr persönliches Verhältnis zu den Lehrer*innen ist durchaus ambivalent. Einige von ihnen beachten Selma nicht weiter und ignorieren sie stellenweise, was verletzend sein kann. Andere wiederum geben höchst bedenkliche Aussagen von sich, die die junge Frau gegenwärtig noch belasten. Als Selma eine Lehrerin darauf anspricht, sie würde gerne die Handelsakademie besuchen, reagiert diese mit unkonkreten Zugeständnissen und deutet an, sie werde es schon schaffen. Als Selma wiederholt nachfragt, vertröstet die Lehrperson sie damit, dass sie einfach abwarten solle. Zu dieser Zeit sind die Eltern Selmas sehr beschäftigt mit der Arbeit, Kindererziehung und innerfamiliären Schwierigkeiten, weswegen die Vorbereitung auf die höhere Bildungsanstalt größtenteils von Selma allein getragen wird. Gerade weil die Schulwahl sehr segregierend ist und Kinder aus sozioökono-

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misch schwächeren Familien oftmals die dafür notwendigen bildungsbürgerlichen Wissenspraktiken fehlen, geht sie auf die Pädagog*innen zu. Während die eine Lehrperson trotz Nachfrage der Schülerin sie über den Ablauf, die Chancen und Schwierigkeiten der Schulwahl nicht informiert, eliminiert sich der zweite Lehrer durch die Artikulation veralteter Vorstellungen über Religion und Geschlecht: Ein anderer Lehrer hat mir mal gesagt: »Du wirst sowieso mit 17 heiraten. Du brauchst eh nicht die Matura zu machen.« Das hat er mir wirklich gesagt. Wirklich. Damals war ich 12, 11 oder 12. Ich glaube, ich ging in die dritte oder vierte Klasse Hauptschule. (Zeile 291-293) Der Lehrer disqualifiziert sich und vor allem seine pädagogische Position durch diese essenzialistische Aussage, in der er antiquierte Geschlechterrollen mit vorurteilsbeladenen Zuschreibungen über Muslim*innen kombiniert. Der Lehrer zeichnet Selma als Muslima als rückständig und spricht ihr das Bestreben sowie die Notwendigkeit ab, das Abitur, das stellvertretend für jegliche Aus- und Weiterbildung steht, abschließen zu wollen. (Vgl. Baghdadi 2012, S. 50). Die Aussage wird durch das unausgewogene Machtverhältnis zwischen Lehrer und Schülerin noch zusätzlich verschärft. Auf meine Nachfrage, wie sie sich in dieser nicht ausbalancierten Situation gefühlt habe, antwortet sie knapp: »Komisch« (Zeile 305) und verweist darauf, dass die gängige Empfehlung der dortigen Lehrer*innen war, die Schüler*innen sollten eine Lehre beginnen und keine weiterführende Schule besuchen. Solche und ähnliche Ansprachen seitens der Pädagog*innen können Bildungswege zerstören. Selma kann glücklicherweise die Informationen, die ihr in der Bildungsinstitution verwehrt werden, teilweise durch die Erfahrungen einer älteren Schwester, die woanders zur Hauptschule geht, ausgleichen. Die Agitation dieser Lehrer*innen, die von Selma beschrieben und nicht die Meinung und Handlungen des gesamten Kollegiums umfassen, bleibt erschreckend. Es entsteht das Bild, sie würden den Schüler*innen eine erfolgreiche Bildungskarriere nicht zutrauen. Die reproduzierten Vorurteile spiegeln einen Bildungspessimismus und Kulturpessimismus wider und sorgen dafür, dass eine marginalisierte Gruppe noch weiter marginalisiert wird. Anhand der Ausführungen Selmas bezüglich dieser Lehrer*innen kann dargelegt werden, dass ihnen Vertrauen in die zu unterrichtende Zielgruppe vollständig fehlt. Gleichzeitig lässt sich ein gefährlicher Pragmatismus konstatieren, der auf einer fehlenden beruflichen Expertise beruht. Dieser ist deshalb gefährlich, da er einerseits einem Schüler*innenkollektiv nicht gerecht wird, dessen (Weiter-)Bildung aus Sicht der Lehrer*innen priorisiert werden müsste. Andererseits sind die Anforderungen an Lehrer*innen sehr hoch und die Unterstützung ihrer Tätigkeit wiederum sehr gering. Diese Faktoren rechtfertigen jedoch nicht das oben beschriebene Verhalten bzw. die unreflektierte Stereotypisierung der Schüler*innen: Ja, sie [die Lehrer*innen] haben uns nicht unterstützt. Und da waren auch unsere Eltern mit Schuld, weil sie niemals in die Schule gegangen sind und gefragt haben, was da los ist. Für sie war das eher so »Egal«. Ein Egal von beiden Seiten. (Zeile 321-323) Selma zufolge waren ihre schulische Zukunft und die ihrer mehrheimischen Schulfreund*innen den Lehrer*innen gleichgültig. Doch auch den Eltern gibt sie eine Teilschuld an den Schwierigkeiten im Bildungsweg, da sie sich nicht am Schulalltag beteiligt

5. Familie und Biografie

und keine Elternversammlungen besucht hätten. Den Eltern pauschal Desinteresse an den schulischen Belangen der Erzählerin zu unterstellen, greift eindeutig zu kurz. Gründe für die fehlende oder mangelnde Involviertheit in schulische Belange können neben der privaten und beruflichen Auslastung, die divergierenden Schulsysteme, die die verschiedenen Generationsangehörigen entweder in Herkunfts- oder Ankunftsort besuchten, (mit-)erklärt werden. Das Bildungssystem in der Türkei ist an das französische angelehnt, der Schulalltag wird in der Regel in Ganztagsklassen organisiert. Dadurch spielt sich der Großteil der Bildungsarbeit, auch die Hausaufgabenbetreuung, im schulischen Kontext ab. Im türkischen Schulsystem gibt es eine Schulpflicht für 8 Jahre: 5 Jahre Grundschule und 3 Jahre Mittelschule (vgl. Schwarz 2014, S. 138), die anschließende Beschulung im Sekundarbereich, die »eine mindestens vierjährige weiterführende Ausbildung für die Altersgruppe der 14- bis 18-Jährigen« (Schwarz 2014, S. 143) enthält, ist fakultativ.13 Durch die Einführung kostenloser Zugangsmöglichkeiten im vorschulischen Bildungsbereich werden vermehrt Familien angesprochen, die sich die frühkindliche Bildungsarbeit bislang nicht leisten konnten, dennoch werden im gesamten Bildungssystem – analog zum hiesigen – bildungsspezifische Ungleichheiten, die aus irregulären Startvoraussetzungen der Schüler*innen resultieren, reproduziert und als »sozio-ökonomische Spaltung« (ebd., S. 142) sichtbar gemacht. Die Trennung von Bildung und Erziehung wird im deutschsprachigen (Bildungs-)Raum rigider vollzogen, als es in der Türkei der Fall ist. Daher ist es im türkischen Schulalltag weniger Usus, dass sich Eltern in schulische Belange einbringen (sollen). Der Vorwurf Selmas an die Eltern ist jedenfalls auf biografischer und emotionaler Ebene nachvollziehbar. Was Selma gegenwärtig noch kränkt, ist die Tatsache, dass ihre Probleme von den Eltern weniger wahrgenommen wurden als die zeitgleichen Schwierigkeiten eines Bruders. Diese wurden als komplexer und dringender bewertet als ihre, daher fühlte sie sich zeitweilig vernachlässigt und mit den damaligen Herausforderungen allein gelassen. Selma versteht die Not des Geschwisterteils und erklärt die Fokussierung der Eltern auf seine Belastung mit der Quantität an Kindern innerhalb der Familie: Alles war neu für sie [die Eltern] und leider hatte mein älterer Bruder Eheprobleme und das war für sie halt das Hauptthema damals. Und wenn so viele Kinder sind, wird halt eines vernachlässigt. Und man muss wirklich auf eigene Faust da durchkommen. (Zeile 332-335) Selma kommt schließlich in die Handelsschule und beschreibt diese Periode als »keine Traumzeit« (Zeile 386), was vor allem an der großen Klasse liegt, die wenig Interesse am Lernen zeigt. Die Erzählerin stellt zufrieden fest, dass dort die Herkunft der Schüler*innen bzw. Familien nicht problematisiert wurde. Das liege vor allem an der Offenheit der dortigen Pädagog*innen. In der Narration über diese neue Schuletappe fällt Selma repetitiv in Ausführungen zurück, die die vorhergehende Zeit an der Hauptschule betreffen. Also, in der Handelsschule war unsere Herkunft niemals ein Thema bei den Lehrern. Weil die Lehrer selber irgendwie so offen waren. Das hat man auch gesehen. Sie ha-

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Der Besuch dieser Schultypen sowie die Betreuung im vorschulischen Bildungssystem sind kostenlos, wobei es zahlreiche Privatschulen gibt, die kostenpflichtig sind.

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Postmigrantische Generation

ben sich niemals so, ich weiß nicht, anders verhalten. In der Hauptschule war das wirklich so. Da hat uns eine Lehrerin gesagt: »Wir sind hier nicht in Istanbul am Bazar. Also seid nicht so laut.« Solche Aussagen machten sie in der Handelsschule nicht. Nein, da geht es nur darum, dass wenn man gute Noten hat, hat man gute Noten. Solche Anmerkungen gab es überhaupt nicht, nein. Aber es war wirklich so in der Hauptschule. Da bin ich nicht die Einzige, die da gelitten hat. (Zeile 394-401) Auf meinen Einschub, dass ich in Interviews mehrfach von Schwierigkeiten in den weiterführenden Schulen erzählt bekommen habe, sagt Selma: Ja genau. Aber es waren auch ein paar super Lehrer dabei und ja, die haben schon versucht, uns zu unterstützen. Mir hat sogar eine Lehrerin bei einem Referat gesagt, dass ich sehr gut Deutsch spreche und dass man gar nicht hört, dass ich, dass Türkisch meine Muttersprache ist. Ja, das gibt es auch. Aber irgendwie war das halt so. Es hat so sein müssen. Man weiß es nicht. (Zeile 407-411) Selma freut sich über die Rückmeldung der Lehrerin, Deutsch wie ein*e Muttersprachler*in zu sprechen, was auch eine Zuschreibung ist. Solche Beispiele werden wissenschaftlich oft als eine Art positiver Diskriminierung (vgl. Hein 2006, S. 215ff.) gedeutet. Dabei sind diskriminierende, also nach dem Wortursprung unterscheidende bzw. trennende Praktiken nie positiv, auch dann nicht, wenn sie von dem*der Adressierten als Kompliment erfasst werden, schließlich wird mit einer solchen Äußerung eine duale Separierung vorgenommen. Der*die Einzelne*r wird für ein Verhalten oder eine Kompetenz gelobt, das jedoch gleichzeitig der Gruppe, der er*sie von außen zugeordnet wird, abgesprochen wird. Selma beschließt, das Abitur zu machen und eventuell später zu studieren. Nun bekommt sie die für sie wichtige Rückendeckung vom Vater, der sie in ihrem Wunsch bestärkt und finanziell bezuschusst. Die (Mit-)Finanzierung einer Schulausbildung oder eines Studiums wird in Familien vielfach als selbstverständlich erachtet bzw. nicht hinterfragt. Selma, die von klein auf mit familiären Geldsorgen, zugespitzt mit Schulden, konfrontiert ist, weiß von existenziellen Nöten und der Schwierigkeit der ökonomischen Absicherung. Lange Zeit ging es in der Familie vor allem um die Deckung der Grundbedürfnisse. Seit das Familienunternehmen Geld erwirtschaftet, sind auch größere Ausgaben möglich. Sie äußert ihre Wertschätzung und Dankbarkeit hinsichtlich der finanziellen und emotionalen Zuwendung und offenbart ihre eigene Einstellung zu Geld mit der Erklärung, dass sie, seit sie 17 Jahre alt war, anfangs in Teilzeit, später hauptberuflich gearbeitet habe. Und ich weiß noch, dass ich die Deutsch-Matura an einem Samstag schriftlich 5 Stunden lang geschrieben habe und dann am gleichen Tag wieder nach [Name des Arbeitsortes] gefahren bin, um zu arbeiten. Das war echt heftig. Und ich habe mich immer soo … (überlegt), damals war ich 18 und es war halt kein gutes Gefühl, weil man versteht die Welt nicht, warum ich jetzt das durchmachen muss und die anderen halt, ja, die anderen halt nicht. (Zeile 471-475) Selma empfindet die Situation, dass sie, im Gegensatz zu den Kommiliton*innen, neben dem Lernen in der Abendschule und besonders in der abschließenden Prüfungsphase

5. Familie und Biografie

arbeiten muss, als ungerecht. Sie betreibt jedoch keine Opferstilisierung. Befreundete Gleichaltrige arbeiten weder während der Schulzeit noch in der Vorbereitung auf den Schulabschluss. Die Protagonistin nimmt auch die längeren Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln vom Bildungsort hin zum Arbeitsort und zurück zur elterlichen Wohnung in Kauf. Zwei der Hauptfächer besteht Selma problemlos. Die Vorbereitungszeit für die Prüfung im Fach Mathematik muss sie wiederholen, und so maturiert Selma zwar mit Verzögerung, jedoch erfolgreich, was angesichts des hohen Arbeitspensum erstaunlich ist. Also, Freizeit habe ich damals keine gehabt. Also, für Englisch war es schaffbar und Deutsch auch. Und Mathe eben am Anfang nicht, weil ich eben die Zeit dafür nicht hatte. Das hat sich halt gezeigt, mit der Note 5. Die Zeit war einfach zu knapp, um zu bestehen. Und da muss man wirklich diszipliniert sein. Also, ich weiß noch, dass ich um 6 Uhr nach Hause gekommen bin und dann um 18:45 Uhr ist mein Unterricht losgegangen. Das war echt schlimm. Also, ich würde es nicht mehr machen. Ich würde es auch nicht empfehlen. […] Und nicht so mit nebenher arbeiten. Oder wenn man arbeitet, dann zumindest in Teilzeit, und auch nicht in der Tourismusbranche, weil dort geht es heftig zu. Ich würde es nicht mehr machen. (Zeile 491-499) Nach dem Abitur verlässt Selma den Tourismusbereich und wechselt in die Verwaltung, in der sie eine Vollzeittätigkeit annimmt. Sie hat ein freundschaftliches Verhältnis zu ihren Arbeitskolleg*innen und ihrem Chef. Dieser ermutigt sie, als sie einige Jahre später erklärt, sie würde gern nebenberuflich studieren, und bietet ihr eine Teilzeitvereinbarung an. Vorüberlegungen und Vorbereitungen auf das Erasmus-Jahr: Selma als transnationale Grenzgängerin Zum Zeitpunkt unseres Gespräches ist Selma im ersten Jahr ihres Studiums. An der Universität erfährt sie vom Erasmus-Programm. In diesem können Studierende, sofern sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen, einen bis zu 1 Jahr andauernden Auslandsaufenthalt an einer europäischen oder außer-europäischen Partneruniversität durchführen. Selma wird in Kürze ihr Auslandsjahr an einer privaten Universität in Istanbul starten. Sie kombiniert hierfür Bildungsaspekte mit familiären Ressourcen. Das heißt, Selma wird zumindest die Anfangszeit in Istanbul, Dank transnationaler Familiennetzwerke, bei ihrem Onkel verbringen. Sie hätten derzeit »keinen festen Kontakt« (Zeile 642) zueinander. Die Erzählerin stellt fest: »Es war aber irgendwie klar, dass ich zu Beginn erstmal bei ihm wohnen werde. So ist das bei Familien« (Zeile 631f.). Selma dividiert die Vorstellung von Familie aus, die nicht nur die Kernfamilie umfasse, sondern länderübergreifend gelebt und gepflegt werde. Das Pflegen der familiären und verwandtschaftlichen Kontakte sei von großer Bedeutung, vor allem in der Elterngeneration: Also, meine Eltern kriegen immer sehr viel Besuch, weil sie ja älter sind und die ganzen Nichten und Neffen von meinem Papa kommen immer mal wieder vorbei. (Zeile 1031-1033)

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Postmigrantische Generation

Auch ihre Generation würde, wenngleich in veränderter Manier und Intensität, vor allem an religiösen Feiertagen oder Geburtstagen mit den älteren Verwandten kommunizieren. Ja, das merkt man bei den Festtagen. Am kommenden Wochenende findet bei uns das Opferfest statt. Da ruft man die älteren Leute an, also z.B. die Tante oder den Onkel. Und dadurch, dass ich jetzt überhaupt keinen guten Kontakt habe, rufe ich niemanden an. Meine Eltern und meine Schwestern rufen halt an, weil sie die Verwandten halt von früher besser kennen. Und das merkt man halt schon, aber ja. Ja, meine Eltern können ja auch nichts dafür. (Zeile 1017-1021) Selma umgeht diese familiäre Tradition des Anrufens, da sie als Jüngste der Geschwister und als Einzige, die nicht in der Türkei geboren wurde, ein loseres Verhältnis zu den Verwandten hat. Ihre Geschwister verknüpfen mit den entfernten Familienmitgliedern spezifische Erlebnisse und Erinnerungen, die Selma sich im Erwachsenenalter z.B. durch das baldige (bessere) Kennenlernen des Onkels und seiner Familie in Istanbul nachholen wird. In Situationen, in denen inner- und interfamiliär Übernachtungs- oder Wohnmöglichkeiten, wie bei Selma, benötigt werden, wird Familie situativ reaktiviert und intensiviert. In Istanbul zu leben, sei ihr selbsterklärter »Kindheitstraum« (Zeile 733), ihr Sehnsuchtsort, den sie aus Familienurlauben und den Besuchen bei Verwandten kennt. Es ginge ihr vor allem darum, neue Erfahrungen zu sammeln, eine unbekannte Umgebung kennenzulernen, sich eigenständig zurechtzufinden und zu überprüfen, ob sie sich dort eine berufliche und private Zukunft aufbauen kann. Selma hat ihre Arbeitsstelle in Tirol gekündigt, um ihren Traum in Istanbul zu verwirklichen und ihre Bildungskarriere durch die Auslandserfahrung zu ergänzen: Ich habe mich letztes Jahr getraut, mich dafür zu entscheiden, und weiß halt noch nicht, ob das jetzt positiv wird oder negativ ist, weil es war schon eine schwierige Entscheidung zwischen einer fixen Stelle und dem Studium. (Zeile 734-736) Selma berichtet, dass sie großen Respekt davor habe, sich in der Metropole, in der über 15 Millionen Menschen leben, zurechtzufinden. Eine weitere Unsicherheit resultiert daraus, dass der familiäre Sprachhabitus einen »türkischen Dialekt« umfasst und weniger »Hochtürkisch« gesprochen werde. Sie rekurriert damit in erster Linie auf ein fehlerund akzentfreies Türkisch, durch das sie als dazugehörig betrachtet werde und nicht negativ auffalle: »[…] ich habe immer wieder Angst, wenn ich Hochtürkisch oder wenn ich Türkisch spreche, dass ich etwas Falsches sage« (Zeile 854f.). Trotz der genannten Bedenken überwiegt bei der Protagonistin die Vorfreude auf ein Abenteuer. Inspiriert dazu hat sie zuallererst die Biografie eines weiteren Onkels, der ihr als Vorbild in Bezug auf Bildungserfolg dient. Mein Onkel hat […] in Armut das Abitur gemacht und dann die beste Uni in Istanbul besucht. Er hat ein Stipendium gewonnen und dann studiert. […] Die Uni ist sehr bekannt. Weltweit bekannt. An der Uni hat er Englisch studiert. Jetzt ist er Englischlehrer. Solche Fälle gibt es auch bei uns. Wo Leute aus der Armut kamen und von selbst zu

5. Familie und Biografie

Fuß den weiten Weg zur Schule gegangen sind und dann beruflich erfolgreich wurden. (Zeile 1122-1127) Selma ist genaustens informiert über das Lehrangebot an der türkischen Privatuniversität und hat die Kurse, die sie belegen möchte, bereits akribisch ausgewählt. Gerade aufgrund der bisherigen Umwege hin zum Studium und dem Auslandsjahr möchte sie gut vorbereitet sein. Selma gefällt die Vorstellung, dass sie als Jüngste der Familie – »Ich bin die Jüngste. Die Nummer 8« (Zeile 907) – »die Erste jetzt [ist], die wirklich geht« (Zeile 678). Trotz einiger neidvoller oder gehässiger Kommentare im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis, wie etwa »Du kommst eh wieder zurück!« (Zeile 777), lässt sie sich nicht von ihrem Plan abbringen. Sie fühle sich »so euphorisch«, wenn sie in Istanbul sei und liebe die Vielseitigkeit dort: Diese Abwechslung. Ich liebe es, mit dem Boot auf dem Meer zu fahren. Egal wo ich bin. Mir gefällt es einfach. Es war mir schon immer klar, entweder Istanbul oder die Ägäis, weil ich mag das Meer und die Ägäis ist auch so. Ich fühle mich dort entspannter. Am Meer fühle ich mich entspannter. (Zeile 832-835) Fazit Selmas bisheriger Lebens- bzw. Bildungsweg ist, postmigrantisch gelesen, ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich Mobilitätsbewegungen innerhalb weniger Generationen transformieren können. Während der Großvater sowie der Vater aus existenzieller Notwendigkeit migrierten und der Vater die familiäre Verschuldung und eine aufreibende Reise via Autostopp auf sich nahm, jahrelang allein im Ankunftsort lebte und daher am Familienleben seiner Frau und Kinder kaum teilnehmen konnte, ist Selmas Mobilitätserfahrung eine völlig andere. Sie hat in ihre Bildung viel investiert, unter anderem Zeit, Energie, Engagement, Geld und Freizeit. Im Vergleich zu den vorherigen Generationen ist sie privilegierter, kann sich formal und informell weiterbilden, indem sie obendrein transnationale Familiennetzwerke nutzt. Im Verhältnis zu anderen jungen Erwachsenen ist sie wiederum weniger privilegiert, weiß jedoch mit biografischen Herausforderungen umzugehen. Um Privilegien auszubalancieren, wäre es notwendig, dass Begünstigte Privilegien abgeben. Die Zunahme von Möglichkeiten, Chancen und Vorteilen bedeutet automatisch die Abnahme bzw. Abgabe von Bevorzugung und Macht durch die bisher Bevorzugten. In der Regel ist diese Umverteilung nicht in deren Sinne, denn sie profitieren bislang von der Marginalisierung anderer Gruppen. Hinsichtlich der Fortbewegung nutzt Selma – im Vergleich zu ihrem Vater und Großvater – für ihre Reise nach Istanbul selbstredend das Flugzeug. Die Arten und Gründe für die Mobilitätsbewegungen veränderten sich folglich innerhalb der drei migrierenden Generationen. Gerade die Erlebnisse der ersten und zweiten Generation dienen der Erzählerin als Anregung für ihr Auslandsjahr. Daher inspirieren die Migrationsgeschichte des Großvaters und des Vaters hinsichtlich geografischer Mobilität und die Mobilitätserfahrung des Onkels bezüglich sozialer und Bildungsmobilität Selma zu ihrer eigenen transnationalen Bildungsreise. In diesem Sinne nimmt sie sich die Akteur*innen die vorherigen Generationen und deren Überlebenstechniken zum Vorbild und entwickelt trotz schulischer Rückschläge und biografischer Belastungsproben solide Bildungstechniken.

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Das Auslandsjahr, das sie mit Freude erwartet, fungiert sowohl als Investition in die Zukunft als auch als Belohnung für vergangene Anstrengungen und Entbehrungen. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Selma kann als eine Grenzgängerin tituliert werden, da sie transnationale Familiennetzwerke lanciert und den familiären Pionier*status als Ausgangspunkt ihrer anstehenden Bildungsreise nimmt und weiterdenkt. Sie bedient sich den Mobilitätserfahrungen der Älteren, die zum Kapital der Familie gehören, und erweitert sie durch ihren Erasmus-Aufenthalt.

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess »Wir nehmen stillschweigend an, daß die Realität, die wir mit dem Namen Familie belegen und unter die Kategorie der richtigen Familie einreihen, eine reale Familie ist.« (Bourdieu 2018, S. 128)

Das Familiengedächtnis begreife ich als einen Erinnerungsapparat, der Migrationsbewegungen und vor allem die durch Mobilität resultierenden mehrheimischen Erfahrungen und möglichen strukturellen Barrieren mitdenkt (siehe Kap. 5.1). Intergenerationales Erzählen und Erinnern ist demzufolge eine Denkleistung, ergo eine Arbeitsleistung in Form aktiver und gemeinschaftlicher Teilhabe und Teilnahme am Erinnerungsapparat der Familie. Die Aufrechterhaltung und Fortsetzung des familialen Gedächtnisses müssen von den Mitgliedern gewollt sein und aktiv vorangetrieben werden. Jede Familiengemeinschaft bildet ein Familiengedächtnis aus, in dem Erfahrungen in Form von Erinnerungen und Narrationen konserviert werden. Ein Familiengedächtnis, das jedoch über die Gedächtnisleistung hinaus, auch Bildungsprozesse (re-)aktivieren und anstoßen kann, ist auf eine tiefergehende Gedächtnisaktivierung, Erinnerungspraktik und Kraftanstrengung der Mitglieder angewiesen. Ein Familiengedächtnis, in dem sich ein Bildungsprozess manifestieren kann, verbleibt nicht bei der Konservierung oder Bewahrung von Erzählungen und Erinnerungen, sondern schafft zum einen eine Verbindung zwischen den alten Erzählungen, die für die Familie zeitlos sind bzw. die Generationen mittel- und/oder langfristig überdauern, und den innovativen gegenwärtigen Artikulationen der jüngeren Generationsangehörigen. Zum anderen werden neben dem Aufrechterhalten ausgewählter Erzählungen, Erfahrungen und Erinnerungen, zeitgemäße Narrationen, Erlebnisse und Besonderheiten in das Gedächtnis eingeschrieben sowie neue Interpretationen und Lesearten entwickelt. Neben ausgewählten familienrelevanten älteren Erzählungen gewinnen daher genauso aktuelle Geschichten, berichtet von der postmigrantischen Generation, an Bedeutung. Familiengedächtnis als Bildungsprozess bedeutet unter anderem, generationsübergreifend an Erinnerungskulturen in derzeitiger Gestalt und an ihrer künftigen

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Fortführung und Ausdifferenzierung mitzuwirken. Erinnerungskulturen im (Post-)Migrationskontext sind von regionalem, transnationalen, urbanen und selbstredend auch von familialem Belang. Erinnerungskulturen sind daher ein wesentlicher Bestandteil gemeinsamer, kollektiv begreifbar bzw. erfahrbar gemachter Erinnerung. Mit ihr verbunden ist eine aktive Erinnerungsarbeit, die den historischen Erinnerungsgegenstand nachempfindbar und weitmöglichst erfassbar macht. Erinnerungskulturen umfassen die unterschiedlichsten Repräsentationsmodi der Geschichte, »darunter den geschichtswissenschaftlichen Diskurs sowie die nur ›privaten‹ Erinnerungen, jedenfalls soweit sie in der Öffentlichkeit Spuren hinterlassen haben« (Cornelißen 2003, S. 555). Die Träger*innen dieser Erinnerungen können diverse soziale Gruppen, z.B. in Form von milieubedingten Schicksalsgemeinschaften oder Verfechter*innen ähnlicher politischer Ideen, aber auch größere Interessensgemeinschaften oder nationale Gemeinschaften sein (vgl. ebd.). Gemeinsam ist den verschiedenen Gruppierungen, dass sie in der Regel aufgrund des gemeinsamen Erinnerungsgegenstandes über eine Gruppenkohäsion verfügen. Auch wenn die möglichen Gemeinschaften an die gleiche historische Zeit oder Begebenheit erinnern, kann die Art und Weise, wie Vergangenes erinnert, rekonstruiert, interpretiert und schließlich auch mittels einer intergenerationellen Vermittlung tradiert wird, auseinanderstreben. Voraussetzung dafür, im Kollektiv zu erinnern, ist eine produktive Auseinandersetzung mit einer spezifischen Historie oder einem historischen Narrativ. Während das individuelle Erinnern des Subjektes auf seine Lebenszeit begrenzt und daher zeitlich sowie durch die eigene lebensweltliche Einschränkung limitiert ist, kann eine kollektive Erinnerungspraxis Generationen überdauern, sofern an (nationalen) Riten, institutionell verankerten Erinnerungsräumen sowie an Wissensformen, die durch Schule oder Universität vermitteltet werden und an medialer, literaler Kommunikations- und Vermittlungstätigkeit fortlaufend gearbeitet und festgehalten werden. Gedenktage, wie der 27. Januar, an dem an die Opfer des Nationalsozialismus gedacht und wichtige Botschaften wie »Wehret den Anfängen« in das kulturelle und individuelle Gedächtnis zurückgeholt werden sollen, sind erheblicher Teil der Erinnerungskultur. Dabei unterliegt auch eine nationale Erinnerungskultur Veränderungen bzw. hat das Potenzial zur Transformation und Korrektur. In diesem Sinne formuliert Aleida Assmann (2018a) zum einen die weitreichende These: »Die neue Erinnerungskultur ist dialogisch« (S. 52). Die »alte« nationale Erinnerungskultur, die sich primär in der Zeit vor der Gründung der europäischen Idee verortete, (ebd., S. 11ff.) folgte der Logik einer binären, hegemonialen Erinnerungspraxis, die den »europäischen Traum« (A. Assmann 2018a) oder das »Projekt Europa« (ebd., S. 82) weder visualisierte noch anstrebte, sondern nationale Narrative produzierte, die eine Heroisierung des Eigenen und eine Dämonisierung des »Fremden« und »Anderen« anstrebte und die Täter*innenschaft durch Opferschaft ersetzte. Eine »neue« Erinnerungskultur, die nun also dialogisch ist und in Form eines wechselseitigen Austausches kommuniziert wird, denkt Geschichtserinnerung multiperspektivisch, kritisch und erkennt hinsichtlich der Erinnerung an Vergangenes genauso Verbrechen, Unzulänglichkeiten und strukturelle Besonderheiten, die Ereignisse begünstigten sowie Opfergeschichten an. Dynamische Erinnerungskulturen, die immer wieder neu bewertet werden, sind für die gegenwärtigen Generationen und für das Vermögen, aus der Geschichte zu lernen (vgl. ebd., S. 82), essenziell.

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

In einer Demokratie vollziehen sich kontinuierlich Aushandlungsprozesse, in denen zum einen die Bedeutung bestimmter Ereignisse kontrovers diskutiert, neue Streitbarkeiten erzeugt und zum anderen auch der derzeitige Umgang mit der Historie verhandelt wird. Demokratien müssen lernen, auch bei antidemokratischen Strukturen und eben solchen Einstellungen sowie Gruppierungen demokratisch zu bleiben und widersprüchliche Themen sowie spannungsgeladene Interessenskonflikte adäquat zu verhandeln. Neben der Bereitschaft, Aushandlungsprozesse und konfliktreiche Debatten zu unterstützen, muss die oberste Prämisse sein, dass an spezifischen historischen Deutungen und Bedeutungen, denen die Vorstellung »Nie wieder Faschismus!« und liberale Grundwerte zugrunde liegen, nicht verhandelt werden. Das Gleiche gilt für Menschenrechte, unter denen Asylrechte, Bleiberechte, Wohnrechte subsumiert sind bzw. sein sollten. Neben der Unverhandelbarkeit von diesen Wertvorstellungen, die Voraussetzung für die Weiterentwicklung der postmigrantischen Gesellschaft sind, müssen Erinnerungskulturen weiter ausdifferenziert und ausgeweitet werden. Diese Ausdehnung kann vollzogen werden, indem kollektive Erinnerung etwa regional (weiter-)gedacht wird. Eine Möglichkeit, kollektive Erinnerung zu multiplizieren, ist es, einerseits dort anzusetzen, wo viele Menschen zusammenkommen, etwa in Schulen oder Museen, und andererseits eben letztere Orte zu öffnen, die gemeinhin als »verstaubt« oder hochkulturell geprägt gelten. So werden in der musealen Landschaft Tirols seit einigen Jahren dezidiert Ausstellungsformate konzipiert, an denen unter anderem selbstorganisierte Vereine von und für Migrant*innen mitwirken und die ergänzend interdisziplinär von Wissenschaftler*innen betreut werden. In diesen Ausstellungen, die »Alles fremd – alles Tirol« oder »Migrationsgeschichten aus Tirol« heißen (siehe dazu Kap. 2.2), werden mehrheimische Erinnerungskulturen für eine breite Öffentlichkeit geöffnet, um zu veranschaulichen, dass diese speziellen Erinnerungen, die etwa an die regionale Arbeitsmigration anknüpfen, übersehene kollektive Erinnerungen oder Gedächtnislücken sind, die aufgefüllt gehören. Des Weiteren erfolgt mit den bis dato marginalisierten Geschichten, die nun verstärkt im Museum präsentiert und neu kontextualisiert werden, eine neue Art der Sichtbarmachung jener, die in der jüngsten Vergangenheit weder als potenzielle Museumsbesucher*innen noch als eigenständige Repräsentationsfiguren dieser geschlossenen bzw. exklusiv gehaltenen Kultursphäre in Erscheinung treten durften.1 Die Museumsgeschichte reproduzierte – und tut es zuweilen immer noch – Bilder, Vorstellungen und Stereotype von »Anderen« bzw. »Ver-Anderten«, umso wichtiger ist es, postmigrantische und mehrheimische Repräsentationsräume zu schaffen und mit neuen Inhalten auszustatten, die für die Bevölkerung in ihrer Heterogenität nutzbar gemacht werden können.

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Repräsentiert wurden Migrant*innen in Museen nur dann, wenn sie verfremdet wurden oder als Exempel für die behauptete Abweichung von der Norm dargestellt wurden.

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6.1 Erinnern und Vergessen Erinnerungskulturen des Kollektiv-Nationalen, wie sie etwa bei den eben genannten Museumsformaten aktiviert werden, überschneiden sich vielfach mit jenen des Kollektiv-Familialen oder münden in einer Ergänzung und Komplementierung des familiären Erinnerungsvermögens. Dabei muss jedoch bedacht werden, dass das familiale Gedächtnis nicht wie ein Gefäß funktioniert, das endlos befüllt werden kann, oder eine Bibliothek darstellt, die unendlich viel Platz für genauso viele Bücher hat. Um auch weiterhin Zugriff zu wichtigen Erinnerungen zu haben, ist das Gedächtnis darauf angewiesen, Prozesse des Vergessens zu initiieren. Somit nimmt das Vergessen neben dem Erinnern einen wichtigen, mindestens gleichwertigen Part ein. Im familialen Gedächtnis spielen sich ergo sowohl Vorgänge des Vergessens als auch des Erinnerns ab, wenngleich sie sich nicht diametral zueinander verhalten. Es dominieren abwechselnd, begleitend sowie ergänzend Prozesse des Erinnerns und/oder Vergessens. Das Wort »Vergessen« steht im Deutschen üblicherweise in einem klaren Gegensatz zu »Erinnern«. Vergessen scheint in dieser Bedeutungs-Konstellation als Antipode und Widersacher des Erinnerns, das eine schließt das andere effektiv aus. Dieser Gegensatz zwischen Erinnern und Vergessen prägt sich auch in unserem Denken aus. (A. Assmann 2016, S. 12) Das Erinnern als kognitiver Akt wird jenem des Vergessens gemeinhin vorgezogen, es wird instinktiv als positiv und komplex assoziiert. Das Vergessen hingegen wird vorschnell mit negativen Attributen versehen. (Vgl. ebd.) Neueren Erkenntnissen aus der Gedächtnisforschung zufolge (vgl. Erll 2017, S. 117; Metten 2021, S. 30) bringen die beiden Gedächtnisleistungen, das Erinnern und das Vergessen, gleichermaßen Nutzen für das kulturelle Gedächtnis (vgl. A. Assmann 2016, S. 19) der Gemeinschaft mit, so auch für die Familie als mikrosoziales Phänomen. Insofern müssen sie betrachtet werden als gleichberechtigte Bedingungen für Kommunikationsprozesse zwischen Erinnernden und Erzählenden, die am gemeinsamen Gedächtnis teilhaben. Die Fähigkeit, zu vergessen, ist nicht höher zu bewerten als die Fähigkeit, sich an Spezifisches zu erinnern. Ebenso ist die Fähigkeit, zu erinnern, nicht bedeutender als die Fähigkeit, zu vergessen. Das Gehirn arbeitet einerseits wie ein Speichergerät2 , mit dessen Hilfe permanent Erinnerungen abgerufen werden können. Andererseits operiert der Erinnerungsapparat wie ein Schredder, wodurch Erinnerungen verworfen werden, damit Platz für neue, substanzielle Erinnerungen entsteht. Zu selten wird also auf das Vergessen fokussiert bzw. die Gleichwertigkeit beider kognitiven Leistungen betont, weswegen ich nun auf »Vergessenskulturen«, wie ich sie nenne, – als Ambivalent zu Erinnerungskulturen – eingehe.

6.1.1 Vergessenskulturen Menschen betreiben nicht nur Erinnerungskulturen, also das Praktizieren und Tradieren von Erinnerungsgegenständen, sondern auch Vergessenskulturen. Das Handeln 2

Aleida Assmann (2016) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass das Gehirn auch als Archiv genutzt wird (S. 19).

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

im Sinne einer Vergessenskultur begreife ich als aktiv hergestelltes und handlungsorientiertes Vermögen, Erinnerungen, die für den*die Einzelne*n oder die Gruppe an Wichtigkeit verloren haben, neu zu sortieren und gegebenenfalls anders zu hierarchisieren. Das bewusste Vergessen ist ein vielschichtiger Prozess des Gedächtnisses, aber auch der sozialen Gruppe und ist über Generationen hinweg dem Wandel und dem Zeitgeist einer jüngeren Generation unterworfen. Den familialen Erinnerungen können mithilfe des Vergessens neue Bedeutungen und Deutungsebenen zugeordnet werden. Vergessen dient dazu, den vorhandenen Platz des Gedächtnisapparates mit seinen derzeitigen »Inhalten« zu strukturieren und gegebenenfalls Raum zu schaffen für neue Reminiszenzen. Vergessenskulturen werden sozial hergestellt und können sozialisierend wirken. Während die Erinnerungskultur als solche den Umgang des Subjektes und des Kollektivs mit der Vergangenheit beschreibt, ist eine Vergessenskultur notwendig, um einerseits die Aufrechterhaltung der Gedächtnisgruppe mit neuen Träger*innen des familialen Gedächtnisses zu gewährleisten und andererseits alte Orientierungen zu hinterfragen sowie neue Ordnungen zu realisieren. Vergessen ist somit ein lebenswichtiger und aktiv erzeugter Prozess des Gehirns, der erlernt werden kann und bedeutender Teil der Sozialisierung ist. Manche dieser vielfältigen Prozesse des Vergessens sind gewollt, also bewusst herbeigeführt, andere wiederum nicht. Vergessenskulturen beeinflussen einerseits das einzelne Subjekt und andererseits das Kollektiv, unter anderem die familiale Gemeinschaft. Weder ein Subjekt noch eine Gemeinschaft definiert und fixiert grundsätzlich seine*ihre Vergessenskulturen, sondern kann durch äußere Umstände, etwa einer Krankheit, die Auswirkungen auf das Gedächtnis haben kann, oder von gesellschaftlich etablierten Machtgefällen zum Vergessen »gebracht« werden. Ein Mensch, der an Alzheimer leidet, kann seine Gedächtnisleistung nur begrenzt kontrollieren. Er hat wenig Einfluss auf das, woran er sich erinnern kann, und auf das, was er vergessen möchte. Marginalisierten Gruppen werden zum einen eine (vor-)herrschende Geschichtsschreibung und damit eine spezifische Art des Erinnerns und Vergessens aufgedrängt. Zum anderen werden sie durch die »Geschichtsvergessenheit« seitens und vor allem zugunsten der Dominanzkultur (vgl. Rommelspacher 1995) ihrer Möglichkeiten beraubt, mitzuentscheiden, welche Formen des Vergessens und Erinnerns für die Gruppe und das Subjekt Relevanz aufweisen. Dies zeigt sich exemplarisch am Beispiel der Rom*nja und Sinti*zze, die Teile der Geschichte nebst der postmigrantischen Gegenwart sind, jedoch durch bewusstes Verdrängen aus der Geschichte und der Gesellschaft heraus an den Rand beider Sphären, der öffentlichen und kulturell-historischen, gedrängt wurden (vgl. Fings 2016). Die weitgehende Verdrängung eines »Minderheitengedächtnisses« aus dem kollektiven Gedächtnis, den national-kulturellen Riten, Geschichtsbüchern und Gedenkmomenten, reproduziert die machtvolle Erinnerungshoheit der Dominanten und unterstützt gleichzeitig eine national-paradigmatische Vergessenspolitik, die von den »Vergessenen« nicht forciert wurde. Rom*nja und Sinti*zze sind nur punktuell im Geschichtsverständnis verankert und gesondert in der Gesellschaft der Vielen repräsentiert. Daher verfügen sie über ein eingeschränktes Mitspracherecht hinsichtlich des gemeinsamen nationalen Vergessens und Erinnerns. Die gemeinsame Geschichte, die das Zusammenleben Aller rahmt(e), begründet weder das Verständnis für die Komplexität und Vulnerabilität von Vergessenskulturen, noch mündet sie unbedingt

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im Austausch darüber, welche Vergessens- und Erinnerungskulturen notwendig wären, um neue gemeinsame Erinnerungen der Gegenwart und Zukunft zu schaffen. Wenn wir über Vergessenskulturen sprechen, ist also die Frage entscheidend, wer kollektives und individuelles Vergessen praktiziert und vor allem zu welchem Zweck. Während das Vergessen schmerzhafter Familienerinnerungen Heilung bedeuten kann, ist das gezielte politisch bzw. ideologisch motivierte Vergessenmachen von Menschen, Kollektiven oder historischen Tatsachen toxisch. Letzteres liegt einem ungleichen, nationalen Machtkomplex zugrunde und bezweckt die Auslöschung von politischen Gegner*innen. Vergessenskulturen werden damit zu den Rezipienten von Macht und Ungleichheit. Die tatsächliche Reichweite, aber auch Bedeutungsschwere von Vergessenskultur(-en) könnte subsumiert werden unter der Frage: »Vergessen wir Eigenes oder lassen wir die Erinnerungen Anderer vergessen?« Die vielschichtigen Gründe, die hinter manifesten Vergessenskulturen verborgen sind bzw. werden, offenbaren bei näherer Betrachtung des Gegenstandes, der vergessen werden möchte oder soll, den normativen Grundsatz sowie die eigentliche Intention hinter dem Vergessen. Der normative Grundsatz des Vergessens sagt etwas über die Art und Intensität der moralischen Vorstellungen, sprich die moralischen Nuancen, also Ausdifferenzierungen einer Erinnerungsgemeinschaft aus. Dort besteht in der Regel breiter Konsens über den Rahmen, der die Grenzen dessen festlegt, was vergessen werden darf. Ist die Übereinkunft über den Ermessensspielraum der Erinnerungen, die nicht mehr zur Verfügung stehen oder versiegelt werden sollen, nicht gegeben, müssen die basalen Grundsätze der Vergessenskultur neu erarbeitet und mögliche potenzielle Inhalte und Strukturen des Vergessens ausdiskutiert werden. Die Stärke von Vergessenskulturen lässt sich primär in der Neuausrichtung des Gedächtnisses von Erinnerungsgemeinschaften und in der Stärkung der Gruppeninteressen durch die Kultivierung neuer Erinnerungen mittels des Vergessens finden. Wenn jedoch die Gruppeninteressen Anderer zum Vorteil des eigenen Kollektivs ersetzt werden, kristallisiert sich der widersprüchliche und gefährliche Charakter des bewussten, aktiven Vergessens heraus. Vergessenskulturen, die über die Gruppe hinaus protegierend und zukunftsweisend sind, können unter dem Paradigma der Wandelbarkeit und des Transfers neuer Gedächtnisleistungen subsumiert werden. Die postmigrantische Generation nutzt den Rückgriff auf familiale und biografische Erinnerungen, verwertet aber auch die Möglichkeit, durch das Etablieren von Vergessenskulturen mitzuentscheiden, welche innerfamiliären Gedächtnisleistungen als veraltet erachtet und temporär oder langfristig im Sinne eines wandelbaren mehrheimischen Familiengedächtnisses ersetzt werden können. Das Ersetzen obsoleter Gedächtnisleistungen durch weiterentwickelte, also emanzipierte Erinnerungen, fußt in entscheidendem Maße auf intergenerationell synthetisierten Vergessenskulturen, die bildungsbiografisch bedeutend sind. Kollektive Vergessenskulturen werden kleinschrittig vollzogen und zeugen von der Notwendigkeit, familiale Auseinandersetzungen streitbar zu gestalten.

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

6.1.2 Techniken des Vergessens als bedeutende Kompetenz der postmigrantischen Generation Bevor nachgezeichnet wird, wie die postmigrantische Generation das Zusammenspiel und die gleichzeitige Widersprüchlichkeit der Praktiken des Vergessens und Erinnerns für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des Familiengedächtnisses nutzt, werden die Techniken des Vergessens nach Aleida Assmann, auf denen Vergessenskulturen idealtypisch aufbauen, skizziert. Selbstredend gehen einzelne Formen ineinander über und sind in der Praxis nicht einfach voneinander trennbar. Sie nun zu umreißen, hilft jedoch dabei, einen Eindruck zu vermitteln, wie aufwändig und widersprüchlich das Vergessen als Komplex sowie in seinen Kleinteilen ist und wie wirkmächtig die Mechanismen sind, die die implizite Frage nach dem Dürfen, Sollen und Müssen von Vergessen strukturieren. Das Vergessen als Sammelsurium mehrerer sogenannter Techniken des Vergessens (A. Assmann 2016, S. 21) beschreibt erstens das »Löschen«. Das Löschen gilt als »radikalste Form, eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit endgültig zu durchtrennen«, (ebd.) um etwa das Erinnern an eine Person, eine Gruppe oder ein Ereignis unmöglich zu machen (ebd.). Löschen ist vielfach eine antidemokratische, autokratische, repressive und oder totalitaristische Praxis und eben diesen gleichermaßen politisch motivierten Strömungen zuzurechnen. Das »Zudecken« (ebd., S. 21f.) verhindert das Sprechen über ein bewusst verdecktes Thema oder Begebnis, das gewissermaßen aus dem (Familien-)Gedächtnis entfernt wird, wenngleich die Mitglieder teilweise oder gänzlich davon wissen, jedoch nicht darüber sprechen sollen bzw. dürfen (vgl. ebd., S. 22). Das Zudecken spezifischer Erinnerungsfragmente oder ganzer biografischer Erzählungen kann der Glättung oder der Verschleierung biografischer (Mit-)Schuld dienen und zeitlich betrachtet, entweder temporär oder dauerhaft sein. Mit der Änderung der Familienkonstellation, etwa durch das Ableben eines*einer dominanten Erinnerungsträger*in, kann das explizite Aufdecken des Vergessenen zum Zwecke seiner familiären Aufarbeitung seitens der restlichen bzw. jüngeren Familienmitglieder angestrebt werden. Das zuvor Verdeckte wird also durch seine Offenlegung wieder erinnerungstechnisch zugänglich gemacht. Das »Verbergen« meint zweierlei. Zum einen ist es qua Freud eine spezifische Art des Verdrängens von Schuld oder Scham (vgl. A. Assmann 2016, S. 22), die jedoch kaum in einer Katharsis endet, sondern im Gegenteil, die Psychohygiene kolportieren kann. Zum anderen können, kulturgeschichtlich gesehen, durch das Verborgenhalten wertvolle Güter aus der Archäologie vor Dieben und kulturellem Missbrauch geschützt werden (vgl. ebd.). Die Technik des Verbergens nimmt also einerseits eine Schutzfunktion materiellen und kulturellen Reichtums ein und umschließt andererseits die Gefährdung der psychischen Gesundheit aufgrund eben dieser Überlagerung der speziellen Erinnerung. Das Schweigen innerhalb der Gruppe impliziert den Konsens darüber, über den verborgenen Erinnerungsgegenstand nicht zu kommunizieren. Nur wenn diese Entscheidung, eine Erinnerung zu verbergen, tatsächlich gemeinsam getragen wird, kann sie zur Stabilisierung der Gemeinschaft beitragen (vgl. ebd., S. 22f.). Aleida Assmann (2016) identifiziert das »Überschreiben« als »eine universale Operation des Vergessens, die bewusst und unbewusst in ganzen unterschiedlichen Materiali-

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en praktiziert wird« (S. 23). Die Art des Überschreibens hat diverse Erscheinungsformen; sie zeigt sich den Menschen z.B. in der stetigen Veränderung des Stadtbildes, in dem die alten Gebäude eine neue Funktion erhalten. Auch die Familie vollzieht in ihrer innerfamiliären und intergenerationellen Kommunikation Praktiken des Überschreibens. Wie selbstverständlich werden dort Erinnerungen erweitert und überschrieben. Migrationsprozesse erweitern den Erfahrungsraum der Familie als Ganzes und der einzelnen Angehörigen aus den unterschiedlichen Generationen zusätzlich. Vor allem die Erlebnisse, die in der Zeit vor und während der dominanten Migrationserfahrung3 , auf der individualen und kollektiven Ebene erworben wurden, erscheinen den direkt Beteiligten weitaus lebendiger und sind für sie nachvollziehbarer als für die späteren Mitglieder, die im Zuge fortlaufender Generationsdauer neue Verortungspraxen erarbeiten. Die Migration der Großeltern bildet weiterhin das Fundament der mehrheimischen Lebenswelten der Enkelkinder ab, verliert im Alltag vor Ort zwar an unmittelbarer Präsenz, jedoch nicht an familienspezifischer und intergenerationeller Bedeutung. Daher ist es nachvollziehbar, dass prävalente Erzählungen im Familiengedächtnis behalten und weniger dominante durch aktuellere überschrieben werden. Das »Ignorieren« von Erinnerungen kann weitreichende Auswirkungen auf die Personen haben, die in der dominanten Erinnerung nicht mehr vorkommen sollen, es wirkt sich auch auf die ausgeblendeten Objekte aus (vgl. Assmann 2016, S. 24). Mit dem absichtlichen Übersehen und Übergehen spezifischer Erinnerungsträger*innen gehen fehlende, ignorierte Repräsentationen dieser Menschen und Objekte einher. In Bezug auf das Ignorieren als Technik des Vergessens stellt sich die Frage, wer denn die Geschichte schreibt und daher die Macht besitzt, Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten zu schaffen. Das Ignorieren betrifft gerade Familien mit Mobilitätsgeschichte, sowohl in der Vergangenheit als auch gegenwärtig. Im Kontext der Arbeitsmigration der Pionier*innen fällt auf, dass ihre Erfahrungen, aber auch Perspektiven in der hegemonialen Betrachtung ausgeblendet werden. Derzeit lässt sich feststellen, dass Mehrheimische noch immer in diversen prestigereichen Bereichen der Gesellschaft stark unterrepräsentiert bzw. unverhältnismäßig wenig Visibilität erfahren. Das Problem der Unterrepräsentation von Mehrheimischen in den Chefpositionen, im Parlament, im Film (siehe Kap. 3.) zu beheben, kann nur durch gezielte Gegenstrategien und Gegenhandlungen erreicht werden, etwa einer gesetzlich verankerten Quote für Migrant*innen. Auf freiwilliger Basis funktionierte bis dato eine gleichberechtigte- und wertige Einbindung von Menschen mit Mobilitätsgeschichte in alle Bereiche der Gesellschaft nur im Ansatz, weswegen eine Quote längst nicht aufklärerisch oder emanzipatorisch ist oder herbeigesehnt wurde, aber – leider – notwendig ist, denn Repräsentationsdefizite können nur mittels eindeutiger Aktionen und Beschlüsse behoben werden. Eine Quote würde ein Verständnis für die Vielheit der Menschen schaffen und wir würden an reale Bevölkerungsstrukturen herangeführt werden. Nur wenn Menschen als Repräsentant*innen von Vielfältigkeit diese auch abbilden dürfen, ergibt sich in der Öffentlichkeit ein korrekteres, zeitge-

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Zwar ist in den halbnarrativen Interviews die Arbeitsmigration als bedeutende familial geteilte Erfahrung vorherrschend und richtungsweisend, dazukommend gibt es in den meisten Familien der Erzähler*innen zuzüglich alternative, sich überschneidende Migrationserfahrungen (siehe u.a. Fallrekonstruktion Jasemin in Kap. 5.3).

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

mäßes Bild der Gesellschaft. Gemessen an den wenigen Politiker*innen mit Migrationsbiografien, die derzeit im österreichischen Parlament vertreten sind, zeigt sich aus postmigrantischer Perspektive die fortwährende Schieflage zwischen der Bevölkerungszusammensetzung, die Heterogenität widerspiegelt, und ihrer tatsächlichen Vertretung, durch die Diversität in Homogenität übersetzt wird. Bei Frauen mit mehrheimischen Bezügen können fehlende Sichtbarkeiten im Sinne der intersektionalen Mehrfachdiskriminierung verstärkend wirken. Während auf der offiziellen Webseite des österreichischen Parlaments mit der seit Gründung der Republik höchsten Frauenquote von 41,53 % (Stand 2022; vgl. Österreichisches Parlament 2022) geworben wird, sind Statistiken, die Auskunft über etwaige Migrationsbezüge der Politiker*innen geben, schwer zugänglich. Wäre die Überlegung, auf das Veröffentlichen herkunftsbezogener Statistiken auf der zitierten Webseite zu verzichten dadurch begründet, dass die familiale und soziale Herkunft eines Menschen seine berufliche, gesellschaftliche Vita weder positiv noch negativ beeinflusse, sondern Chancen- und Repräsentationsgleichheit zwischen und von Menschen ohne und mit mehrheimischen Bezügen bestünde, wäre das lobenswert. Mit dem Wissen, dass sich die österreichische Regierung durch ihre jüngste Abschiebepolitik (vgl. Dahlvik 2017; Laube 2017) und Konzeptionen wie der »Rot-Weiß-Rot-Karte«4 in den letzten Jahren kaum als migrationsfreundlich erwiesen hat, muss allerdings unterstellt werden, dass die fehlende Zugänglichkeit zu Statistiken über Mobilitätsbezüge von Politiker*innen dazu dienen, das Faktum der Unterrepräsentation – gerade auch im Assmann’schen Sinne zu verdecken bzw. zu verschleiern. Bei der nächsten Technik des Vergessens, dem »Neutralisieren«, werden historischen Geschehnissen neue Wertigkeiten in Form einer wertebasierten Rückstufung zugeteilt (vgl. A. Assmann 2016, S. 25). Vergangene zeitliche Phänomene und damit auch politische Einstellungen werden infrage gestellt und aktualisiert. Dies betrifft z.B. die Neuausrichtung der Akzeptanz von politisch indoktrinierten Statuen, die Jahre zuvor glorifiziert wurden und nun aufgrund eines gesellschaftlich weitreichenden Paradigmenwechsels als verpönt gelten. Das »Leugnen« bildet die Umkehrung zur eben beschriebenen Technik und ist »die hartnäckige Erhaltung eines Ereignisses oder einer Person im Gedächtnis der Gruppe unter der Verwendung eines negativen Vorzeichens« (ebd., S. 25). Es wird vor allem von Menschen praktiziert, die an kruden Theorien, Verschwörungstheorien festhalten und reale Menschenverbrechen, wie den Holocaust, leugnen (vgl. ebd.). Als letzte Technik nennt die Forscherin das »Verlieren« von Erinnerungsbeständen, bei dem das einzelne Subjekt plötzlich, graduell oder unumkehrbar nicht mehr auf diese zugreifen kann. Das Verlieren als sukzessiver, teilweiser oder seltener vollständiger 4

Die »Rot-Weiß-Rot-Karte« wird vorwiegend sogenannten Hochqualifizierten aus »Drittstaaten« für einen befristeten Zeitraum innerhalb eines stark eingeschränkten Arbeitsfeldes zuerkannt. Konkret entscheiden die politisch Zuständigen zuzüglich der wirtschaftlichen Interessensvertretungen, wie viele potenzielle Arbeitnehmer*innen aus »Drittstaaten« überdies zu den vor Ort arbeitenden Österreicher*innen, EU-Bürger*innen, EWR-Bürger*innen sowie Schweizer*innen »benötigt« würden. (Vgl. Offizielle Homepage Österreich 2022, o. S.) Das systematische Auswählen von »geeigneten« Arbeitnehmer*innen und die Erstellung der Rahmenbedingungen erinnern stark an die Bedingungen, Logik und Strukturen der Pionierarbeit.

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Gedächtnisverlust kann familial bedeutend sein, da Krankheiten wie Alzheimer für viele Familien traurige Realität sind und sowohl der*die Kranke als auch die Familienmitglieder damit umgehen lernen müssen. (Vgl. ebd.) Menschen lernen, sich Techniken des Vergessens anzueignen und sich dieser zu bedienen, ohne sie konkretisieren zu brauchen oder sie dezidiert benennen zu können. Sie werden situativ, automatisiert angewandt und verfolgen bestimmte Ziele sowie Implikationen. Ziele des Vergessens können durch eigene Anliegen oder aber Gruppeninteressen bestimmt sein. Im familialen Kontext finden in der Regel jene Interessen besondere Berücksichtigung, die den familialen Fortbestand sichern und den intergenerationalen Zusammenhalt gewährleisten sollen. Für die postmigrantische Generation und ihre Familien bedeutet das, dass implizites Erfahrungswissen und damit verknüpft Handlungskompetenzen organisiert werden, die kollektives Vergessen und Erinnern erst möglich machen. Beide Gedächtnisleistungen nehmen eine aktive und passive Bedeutung ein. Sie bedingen einander indem »zentripetale Kräfte des Bewahrens und Konservierens auf zentrifugale Kräfte des Zerstreuens und Zerstörens[treffen]« (ebd., S. 19). Ohne Vergessen wäre kein Erinnern und ohne Erinnern kein Vergessen möglich. Die postmigrantische Generation hat großen Einfluss auf das Erinnern und Vergessen innerhalb der Familie. Sie fungiert nämlich als eine wesentliche Entscheidungsträgerin, die (anteilig) festlegt, welche Erinnerungen im Familiengedächtnis durch Tradierung, Adaption oder Veränderung erhalten und welche aussortiert werden. Sie trifft also sowohl aktiv-bewusst als auch passiv-unbewusst eine Auswahl darüber, welche familialen bzw. intergenerationalen Geschichten in diesem spezifischen, kollektiven Gedächtnis (vorerst) archiviert werden. Wie jeder jüngeren Generation fehlt der postmigrantischen Generation hinsichtlich der Zeithistorie mitunter ein fundiertes Verständnis für zeitlich, aber auch emotional »weit entfernte« Erfahrungen und Erinnerungen. Jene, die für die Nachfolgegeneration emotional schwer begreifbar sind, liegen außerhalb des eigenen Vorstellungs- und Möglichkeitsspektrums. Nicht jede tradierte Erzählung bzw. Erfahrung ist somit direkt nachvollziehbar, vorstellbar oder kann mit eigenen lebensweltlichen Inhalten und Vorstellungen verknüpft werden. Aus diesem Grund sind Mitgefühl und Einfühlungsvermögen, mit deren Hilfe sowohl die Bedürfnisse des Gegenübers besser verstanden werden können als auch die Intention, die zum Erzählen speziell dieser einen Geschichte anregt, nicht zu unterschätzen. Auch die Ebene der intergenerationellen Kommunikation und die Kenntnisse der habituellen, sprachbasierten, zwischenmenschlichen Spielregeln sind entscheidend in der Aufrechterhaltung des Familiengedächtnisses, seiner Ausdifferenzierung und möglichen Neuausrichtung. Das Familiengedächtnis lebt durch die Verschiedenheit der Erzählungen, genauso durch die der Ableger*innen, die gleichzeitig auch Erzählende und Zuhörer*innen sein können – und ihre Wechselbeziehungen –. Es ist zudem auf die individuelle Bereitschaft der einzelnen am Familienprojekt beteiligten Menschen, erinnern, zuhören und erzählen zu wollen, angewiesen. Im staatlich-kollektiven wie im familialen Kontext gilt außerdem, dass Erinnern in Form gemeinsamen Gedenkens auch kollektives Handeln hervorbringen und im Sinne eines »Wider das Vergessen« an Bedeutung gewinnen kann. Zusammenfassend: Das Familiengedächtnis besteht aus einer Trias aus Altem, Neuem und Verknüpftem. Das Alte dient der Konservierung und dem Fortbestand, der Aufrechterhaltung der Familienerzählungen. Das Neue verfolgt das Ziel eines generationel-

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

len Wandels, einer Neuausrichtung und Akzentuierung der Narrationen. Das Verknüpfte wiederum sieht ihre Bestimmung in der Reaktivierung, Erweiterung und Veränderung spezifischer Erzählungen, Erinnerungs- als auch Vergessenskulturen. Gerade das Verknüpfen von alten und neuen Erinnerungen sowie Narrationen ist geprägt durch Prozesse der intergenerationellen Wechselwirkung und Auseinandersetzung.

6.2 Die Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion als Prozess der Aufarbeitung familialer Erzähl- und Erinnerungslücken im Bildungsprozess Erinnern, Erzählen und Vergessen innerhalb des familialen Gedächtnisses sind soziale Akte bzw. Akte der Vergemeinschaftung. Indem bewusst erinnert, erzählt oder eben vergessen wird, wird nicht nur die Familie als Gemeinschaft inszeniert. Sofern die gemeinsame Erinnerung obendrein über das bloße Erinnern und Erzählen hinausgeht, indem sie durch einen wechselseitigen Austausch stimuliert, weitergedacht wird, kann ein generationsübergreifender Bildungsprozess (vgl. Koller et al. 2003; Bukow et al. 2006) entstehen. Eine besondere Form des Bildungsprozesses bezieht sich auf die erworbene bzw. antrainierte Fähigkeit der postmigrantischen Generation, die Familiengeschichte bzw. Teile davon zu konstruieren, rekonstruieren und gegebenenfalls zu dekonstruieren. Die jungen Erwachsenen nehmen unbeantwortete Fragen im Familiengedächtnis nur bedingt hin, sie versuchen, Unklarheiten und Leerstellen selbst zu beforschen, zu beantworten und, falls nötig, durch eigene Rekonstruktionen zu füllen, um die dominanten Familienerinnerungen zu komplementieren bzw. ihnen durch Dekonstruktionen neue Wendungen und Interpretationsmöglichkeiten zu geben. Das Familiengedächtnis ist Ergebnis der Ausdifferenzierung intergenerationeller Erfahrungs-, Erlebens-, Erinnerungs- und Vergessenspraktiken. In das Familiengedächtnis wirken die einzelnen Lebensgeschichten der Mitglieder, die jene genannten Praktiken beherbergen, hinein und qualifizieren sich somit als bedeutender Teil dieses postmigrantischen Bildungsprozesses. Genauso die familienunabhängigen Erfahrungen des erzählenden Subjektes, die nicht (unmittelbar) im Familialen generiert werden, können bildungsspezifisch höchst relevant sein. Lebensgeschichte als Bildungsprozess (vgl. Koller/Wulftange 2014) meint daher, dass Bildungsmomente und -phänomene, auch wenn sie noch so begrenzt oder kleinschrittig sein mögen und von dem*der Erzählenden nicht als solche erfasst werden, die (Familien-)Biografie konstituieren und komplementieren können. Ferner verlangt Lebensgeschichte als Bildungsprozess eine Rekonstruktion des Phänomens Bildung innerhalb der Biografie. Rekonstruiert werden dabei unter anderem die Ausgangsbedingungen und die Gründe, die den Bildungsprozess initiieren, aber auch sein Verlauf. Marc Hill (2016) zufolge können Bildungsprozesse in Bezug auf Migration und globalen Wandel (S. 139) gezielt durch praktische Methoden, wie die Erstellung eines soge-

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nannten Biografieprotokolls5 (vgl. ebd.) sowie durch eine theoretisierende Vorgehensweise rekonstruiert, dekonstruiert und konstruiert (ebd., S. 139) werden. Mithilfe der folgenden Biografieprotokolle werden marginalisierte Wissensarten der Migration aus dem Klagenfurter Stadtbezirk St. Ruprecht ins Zentrum gestellt. Diese Vorgehensweise ist nicht im Sinne einer künstlichen Aufwertung von subjektiven Narrationen zu verstehen, sondern als ein Ernstnehmen und eine Rekonstruktion von Migrations-, Marginalisierungs- und Alltagserfahrungen. Im Vordergrund der Analyse der durchgeführten Interviews steht die Generierung einer neuen Perspektive auf Stadt und Migration. (Hill 2016, S. 141f.) Das Biografieprotokoll entwerfen die Erzählenden selbst. Sie werden vor oder nach dem Erzählprozess innerhalb der Interviewsituation gebeten, ihre als wichtig empfundenen biografischen Punkte und Lebensstationen auf Papier bzw. in einer vorgefertigten Schablone sichtbar zu machen, indem sie sie aufzeichnen, malen und/oder aufschreiben. Dabei sollte nicht nur geografische/räumliche Mobilität, sondern auch soziale Bewegung im Sinne einer horizontalen oder vertikalen Auf- oder Abstiegsmobilität berücksichtigt werden. Die Visualisierung des bisherigen Lebens kann erkenntnisreich sein, da sie den Blick auf eigene Bewegungen in ihrer Mehrheimischkeit, Vielfältigkeit und Komplexität schärft. Neben alltäglichen, bekannten Bewegungen und den damit zusammenhängenden Bezügen und Zugehörigkeiten können auch multiple, verschachtelte und damit schwer fassbare Verbindungen, Beziehungen, Bindungen, Relationen und Zusammenhänge ihre Repräsentation finden. Genauso informelle und formelle Bildungsphänomene sowie biografische Besonderheiten oder Erfahrungen auf der Beziehungsebene, die etwa durch familiäre Netzwerke gestützt werden, fließen in das Biografieprotokoll mit ein. Ein detailliertes Biografieprotokoll deckt nicht nur Offensichtliches, wie die banalen Etappen der Schulkarriere auf, sondern kann neue Erkenntnisse über den jeweiligen Sozialraum, dem der*die Erzählende innewohnt, identifizieren. Der Sozialraum hat eine Außenwirkung auf andere, was den Erzählenden nicht unbedingt bewusst sein muss. Hill (2016) zufolge färbt vor allem »die Marginalisierung eines Sozialraumes auf alle in dem betreffenden geografischen Abschnitt lebenden Menschen ab« (S. 155). Die Bewohner*innen des Stadtteiles würden »Unabhängig davon, welchen sozialen Status sie haben oder in welcher Rolle sie sich dort bewegen, […] einfach dazugezählt. Bereits Erving Goffman beschrieb dieses Phänomen exemplarisch mit der Situation einer Feldforscherin im Rotlichtmilieu. Von außen wurde sie automatisch als Prostituierte wahrgenommen (vgl. Goffman 1975, S. 106)« (Hill 2016, S. 155). Die Interpretation der biografischen Punkte im Biografieprotokoll veranschaulicht, dass der*die Erzählerin immer 5

Das Entwerfen eines Biografieprotokolls eröffnet einen anderen Zugang zur (familialen) Lebensgeschichte. Durch die Visualisierung biografischer Punkte werden Erfahrungen an sich, aber auch Erinnerungen und ihre Verknüpfungen sichtbar, deren Verständnis bislang als selbstverständlich bzw. unwichtig interpretiert wurden. Die Idee des Biografieprotokolls orientiert sich am sogenannten Bewegungsprotokoll der Künstlerin Morgan O’Hara (vgl. 2022, o. S.), das primär geografische Stationen der Person berücksichtigt und im Rahmen des Sparkling-und-Citizen-Science-Projektes »Gesichter der Migration. Jugendliche aus Tirol erforschen gemeinsam ihre familiale Migrationsgeschichte« weiterentwickelt und an den schulischen Kontext lebensweltlichen Kontext von Jugendlichen adaptiert wurde (siehe Kap. 2).

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

auch im Wechselspiel mit der Außenwelt agiert. Die eigene Lebensgeschichte reicht über die Biografie hinaus und spiegelt die unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Relationen zwischen Subjekt und Familie sowie Subjekt und Außenwelt wider. Die Erzähler*innen rekonstruieren ihre bisherige Lebensgeschichte nicht nur durch mündliche Erzählungen, sondern auch mittels der Erstellung eines Biografieprotokolls. Um diese zu inszenieren, werden sequenziell ausgewählte Erlebnisse herangezogen. Die daraus resultierende Erzählarbeit stellt sich aufgrund der Komplexität zwischen subjektivem Erinnern und gedanklichem Interpretieren sowie dem dialogischen Kontextualisieren und Artikulieren der Erinnerungen im Gespräch mit dem*der Forscher*in als Biografie- und damit auch Bildungsarbeit dar. Die Rekonstruktion von Bildungsprozessen innerhalb der eigenen Lebensgeschichte löst zuweilen einen Aha-Moment aus: Der*die Erzähler*in erinnert sich an biografische Meilensteine, die er*sie vergessen hatte, da er*sie sie zum damaligen Zeitpunkt als banal betrachtete und ihnen wenig Aufmerksamkeit schenkte. Das Konstruieren der Lebensgeschichte kann des Weiteren als postmigrantischer Entdeckungsprozess ausgelegt werden, in dem zum einen identifiziert wird, in welchem Ausmaß die eigene und die familiale Vita mehrheimisch geprägt sind und wie stark sie auf Mobilität(-en) basieren. Zum anderen wird festgestellt, dass viele Erfahrungen und Erinnerungen, die in der postmigrantischen Gesellschaft alltäglich sind, durch Migration konstituiert wurden. Durch diesen zeitgemäßen Blickwinkel auf Migration und Gesellschaft, die ineinandergreifen, entstehen neue Selbstverständnisse über Zugehörigkeit und gemeinsam geteilte Narrative, die das Märchen homogener Gesellschaften konterkarieren. Konstruieren ist gemeint im Sinne des ungefähren Entwerfens der Biografie, eines Lebensplanes und -entwurfes, der am gedanklichen Reißbrett entsteht und je nach Subjekt ausgeprägter, detaillierter und vice versa ist. Das Entwerfen ist dynamisch, zeitlich begrenzt und unterliegt multifaktoriellen Bedingungen, subjektiven Vorstellungen über das Leben, individuellen Wünschen, erlernten Wert- und Normvorstellungen. Rekonstruiert wird die Lebensgeschichte während des biografischen Gespräches vonseiten des*der Erzählenden und schließlich von der Forscherin im Auswertungsprozess. Bezüglich mehrheimischer Biografien kann eine Rekonstruktion dazu dienen, »ein Wissen aus der Erfahrung der Migration zu schöpfen. Dieses Wissen macht die kulturelle Vielfalt im Alltag sichtbar« (Hill 2016, S. 200). Dekonstruieren (vgl. Derrida 1999) an sich ist ein kritisches Hinterfragen von Gesagtem, aber auch Erlebtem und Erfahrenem. Die Dekonstruktion kann ausgelegt werden als eine Kunst des neuen und anderen Lesens (Feustel 2015, S. 12f.). Diese Leseart zielt ursprünglich auf das Verstehen von Texten ab (vgl. ebd.), ist jedoch anwendbar auf biografisches Erinnern, Erzählen und Erforschen. Innerhalb der biografischen Forschung werden mittels der dekonstruktiven Betrachtung neben den persönlichen Einstellungen, die das Subjekt betreffen, genauso gesamtgesellschaftliche Vorstellungen, Meinungen und Irrwege hinsichtlich eines Themas oder einer drängenden Krux aufgedeckt. Dekonstruktion dechiffriert Anschauungen, Ur- und Vorurteile über Migration aus subjektbezogener und gesamtgesellschaftlicher Perspektive. Sie funktioniert daher als ein Aufdecken von privaten Erinnerungen, Erzählungen und Erfahrungen sowie von kollektiv relevanten Erinnerungsbeständen und Diskursen, aber auch von Hierarchien und Ungleichheiten, die derzeit bestehen. Im biografischen (Forschungs-)Kontext dient das kri-

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tische Vertiefen und Reflektieren dazu, den Kern der Frage oder des Untersuchungsgegenstandes zu erreichen. Wortwörtlich soll versucht werden, das zuvor Konstruierte zu zerlegen, zu entschlüsseln und abzubauen. Dekonstruiert werden – in der Erzählung und im Biografieprotokoll – etablierte Deutungen in der Familiengeschichte, die der*die Erzähler*in nicht auf die gleiche Art und Weise mittragen möchte, sie alternativ versteht und deswegen eigene Interpretationen und Erklärungsmuster vorlegt. Dekonstruieren heißt »Bedeutungen zu verschieben« (Feustel 2015, S. 14), und das nicht nur im Text- und Literaturverständnis, wofür die Dekonstruktion ursprünglich konzipiert wurde. Gerade das Zusammendenken von Konstruktion, Re- und Dekonstruktion, also als »Re/De/ Konstruktion« der Biografie (Hill 2016, S. 136), macht sie für die empirische Forschung innerhalb der Erziehungs- und Bildungswissenschaft probat. Dort fungiert sie als Trias einer zu entschlüsselnden Erzähl- und Erinnerungspraktik, die die Bearbeitung nebst der Verarbeitung von Lebensgeschichtlichem ermöglicht.

6.2.1 Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion im und als Bildungsprozess – Zugänge zum Bildungsbegriff Koller und Wulftange (2014) untersuchen gemeinsam mit Kolleg*innen, inwieweit Lebensgeschichten als Bildungsprozesse in Erscheinung treten können. Sie forcierten einst die Etablierung einer bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung, und nun, nachdem dieser Zugang innerhalb der Erziehungs- und Bildungswissenschaft vermehrt angewandt wird, ihre Intensivierung. Diese Methode hat das Ziel, die beiden traditionell strikt voneinander getrennten Forschungsrichtungen der Erziehungswissenschaft, »die philosophisch orientierte Bildungstheorie, die sich innerhalb der Erziehungswissenschaft als Ort der Reflexion über Ziele, Begründung und Kritik pädagogischen Handelns verstehen lässt, und die empirische Bildungsforschung, genauer: die qualitative Erforschung der Verlaufsformen und Bedingungen von Bildungsprozessen« aufeinander abzustimmen und die jeweiligen Stärken zu vereinen (Koller/Wulftange 2014, S. 7). Die bildungstheoretische Biografieforschung reagiert also auf Lücken und Leerstellen (vgl. ebd.), die weder die theoretische Bildungsforschung noch die empirische Bildungsforschung allein adäquat füllen könnten. Die Fragmente, die jede der beiden einzelnen Forschungsrichtungen hinterlässt, können durch die Nutzbarmachung des theoretischen Bildungsbegriffes und die empirische Rekonstruktion von Bildungsprozessen komplementiert werden. Die theoriebasierte Biografieforschung benötigt daher zum einen die Kompetenz und das Wissen um die Theoretisierung des Bildungsbegriffes, veranschaulicht durch die Frage, was Bildung innerhalb der konkreten Untersuchung sowie Fragestellung überhaupt bedeute. Zum anderen ist die Erkenntnis, wie empirische Bildungsprozesse nutzbar gemacht, konkretisiert, rekonstruiert und erforscht werden können, Voraussetzung. Die bildungstheoretische Biografieforschung ist dazu in der Lage, ihren theoretischen Gegenstand, nämlich den der Bildung mit samt ihrer Spezifika und normativen Implikationen, zu theoretisieren und für die Empirie nutzbar zu machen. Dabei ist es wichtig, zu beachten, dass Bildung und ihre Prozesse, also Bildungsprozesse, keineswegs objektive Gegebenheiten (vgl. ebd., S. 8) sind.

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

Bildungsprozesse lassen sich vielmehr im Sinne des interpretativen Paradigmas als interaktiv hervorgebrachte, sinnhafte Phänomene begreifen, die nur angemessen zu erfassen sind, wenn man die Bedeutungszuschreibungen rekonstruiert, die ihnen zugrunde liegen. (Koller/Wulftange 2014, S. 8) Bildungsprozesse sind meist langfristige und vielschichtige Geschehen und sind eingebettet in den Kontext lebensgeschichtlicher Erfahrungs- und Entwicklungslinien (vgl. ebd.), sodass biografische Verfahren gut geeignet sind, um Bildungsprozesse innerhalb ihrer individuellen, familialen und gesellschaftlichen Bedingungen zu erforschen. Die individuellen Bildungsverläufe- und Erfahrungen, die rekonstruiert werden sollen, prägen und verändern das Selbst- und Weltverhältnis (vgl. Koller/Wulftange 2014, S. 9; Kokemohr 2014, S. 20) des Subjektes. Bildung wandelt gewissermaßen den Blick des Subjektes auf sich selbst, seine nahe, bekannte Umgebung und die Welt und deren Zusammenhänge. Der*die Angehörige der postmigrantischen Generation durchläuft seine*ihre je eigenen Bildungsprozesse und wird davon individuell geprägt. Die Verortung im Selbst- und Weltverhältnis (ebd.) kann durch Bildung reformiert werden. Alltagsweltlich gesprochen, öffnet Bildung den Horizont. Das Selbstverhältnis des jungen Erwachsenen wird durch die mehrheimische Familie als Bildungsort repräsentiert. Sein Weltverhältnis wird sowohl durch die Zugehörigkeit zur postmigrantischen Generation und zur postmigrantischen Gesellschaft charakterisiert. Hier geht es ergo um das postmigrantische Subjekt in seiner Positionierung innerhalb der mehrheimischen Familie, der postmigrantischen Generation und (am Rande) der postmigrantischen Gesellschaft. In all diesen Bereichen und auf diesen unterschiedlichen Ebenen können Bildungsprozesse initiiert werden. Streitbar ist, wann eine Lebensgeschichte eine Bildungsgeschichte, wann ein lebensweltlicher Prozess ein Bildungsprozess ist und welche Orte als Bildungsorte erfasst werden können. Die vorliegende Dissertation verfolgt das Paradigma, dass Bildung als Begriff und Konzept geöffnet werden muss und auch an Orten, in Kontexten stattfindet, die bisher als bildungsfern wahrgenommen wurden. Mit »Bildungsferne« werden in der öffentlichen Wahrnehmung, im politischen und wissenschaftlichen Diskurs häufig Familien mit mehrheimischen Erfahrungen attribuiert. Auch in den Erziehungs- und Bildungswissenschaften galten diese Familien aufgrund ihrer geringeren Einbeziehung in mehrheitsgesellschaftlich-dominante Partizipations- und Entscheidungsprozesse sowie ihrer tendenziell sozialen Verortung in Arbeiter*innenmilieus bzw. arbeiterähnlichen Schichtungen zu lange als bildungsfern. Ferner stoßen sie des Öfteren auf Beschränkungen und Hürden, die strukturell erzeugt und sich in Normierungen und Stereotypen über die vermeintlich »Anderen« und ihre attestierte »mangelnde Bildungskompetenz« manifestieren. Der Begriff der »Bildungsferne« sorgt nicht nur vorschnell für eine Markierung marginalisierter Gruppen, sondern impliziert die Herstellung einer Ferne, einer Distanz, die bewusst erzeugt wird, um die hegemoniale Ordnung zwischen Mehrheimischen und Einheimischen beizubehalten. Sprache wirkt in unseren Alltag, in unsere Handlungen, in unsere Wahrnehmungen, Diskurse und Bildungsvorstellungen hinein, sodass das Konstrukt der »Bildungsferne« eine Abkoppelung spezifischer Gruppen von der vermeintlichen Mehrheit erzeugt. Ich störe mich zudem am Terminus des Bildungserfolges, der einer ähnlichen Logik folgt wie der der »Bildungsferne«.

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Bildungserfolg ist in der Regel institutionell verankert, durch strukturelle Regeln, Vorstellungen und Normen festgeschrieben und habituell beeinflusst. Ein Bildungsbegriff, der aufgrund der familialen Herkunft – geografisch wie sozial – Bildungsaspiration, Bildungserfolg oder Bildungsmisserfolg vermutet, fixiert von vornherein, wer in der Praxis als potenziell erfolgreich oder nicht erfolgreich gilt. Ein Erfahrungswissen, das von alltagweltlichen und öffentlichen Annahmen, Stereotypen und Vorurteilen genährt und mitbestimmt wird, ist kein professionell pädagogisches Wissen, aber dennoch Teil des Bildungskontextes und der täglichen Arbeit von Professionellen. Nur durch intensive Reflexionsarbeit und der Beschäftigung mit den eigenen blinden Flecken können Pädagog*innen einem Raster, in dem Schüler*innen bzw. Studierende mit und ohne mehrheimische Bezüge automatisch als erfolgreich oder diametral eingestuft werden, erkennen und diesem Selektionsmechanismus entgegenwirken. So muss es pädagogisches und erziehungswissenschaftliches Ziel sein, Schüler*innen und Studierende nicht zu kategorisieren und sie fernab von Herkunftsdialogen zu benoten. Die Vorstellung von Bildung wird mit der Person Humboldt assoziiert, mit der viel zitierten und aus heutiger Sicht verzerrten, weil schöngemalten Vorstellung vom Bildungsideal, und der Annahme, die Universität sei ein besonderer, wenn nicht gar der Bildungsort schlechthin (siehe Kap. 5.2). Bei akribischer Lektüre der Humboldt’schen Schriften zur Bildung (2017) fällt jedoch auf, dass Bildung vor allem als immanenter biografischer Prozess, als Prozess der »Menschenbildung« (vgl. Lauer 2017, S. 261)6 Bedeutung hat. Von »Bildung«, vergleichbar mit den heutigen Besonderheiten, oder den (zu) hoch eingeschätzten »Bildungsidealen«, spricht Wilhelm von Humboldt jedoch randständig. Gerhard Lauer (2017), der die gesammelten Schriften Humboldts zur Bildung herausgab, erklärt den Mythos von Humboldts wie folgt: »Wie Bücher so haben auch Namen ein Schicksal. Der Name Humboldt hat zweifellos ein solches Schicksal erfahren, denn wie kein zweiter verbindet er sich geradezu stereotyp mit empathischen Vorstellungen über Bildung« (S. 236). Und er ergänzt: »Humboldt ist ein Topos in den Debatten um Aufgabe und Zukunft von Bildung und Universität, nicht viel mehr« (ebd.). Humboldt (2017) bespricht die Möglichkeiten und Änderungspotenziale von Bildung im Elementar-, Schul- und Universitätsunterricht (S. 111). Aufgrund seiner Tätigkeit als Direktor der Sektion Kultus (vgl. Lauer 2017, S. 234) erarbeitet er Vorschläge und Konzepte, die zu einer vollständigen Überarbeitung des damaligen preußischen Bildungssystems führen sollten. Seine Arbeit ist durch den Impetus der Aufklärung geprägt und enthält daher Überlegungen, dass der Entfaltung von Bildung Raum gegeben werden müsse, damit sich der sogenannte Bildungstrieb im Subjekt entwickeln könne (ebd., S. 240).7 Trotz dieser neuen Offenheit gegenüber sich Bildenden, bleibt die Vorstellung von ganzheitlicher Bildung elitär, da ihre Vermittlung an Institutionen geknüpft und dort strukturelle Machtverhältnisse und Hierarchien reproduziert sowie gleichberechtigte Zugangschancen und -möglichkeiten limitiert werden. Somit ist der Zugang zu Bil-

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Das Werk »Schriften zur Bildung« ist eine Sammlung der Originaltexte von Wilhelm von Humboldt zur Bildung bzw. Bildungsfrage. Das hier zitierte Nachwort des Herausgebers Gerhard Lauer dient dazu, die unterschiedlichen Überlegungen Humboldts zu kontextualisieren. Bezüglich der Konzeption »Bildungstrieb« muss Johann Friedrich Blumenthal und seine Publikation »Über den Bildungstrieb« aus dem Jahr 1791 genannt werden (S. 32).

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

dung damals – und gewissermaßen auch heute – nicht per se bzw. ohne ökonomische, kulturelle und soziale Kapitalsorten sowie familiale Ressourcen gegeben. Umso zentraler ist es, Bildungsprozesse auch im Marginalisierten, Familialen zu untersuchen. Idealisierte Bildungsorte entfernen sich zusehends von der Vorstellung der ganzheitlichen, humanistischen Menschbildung auf Kosten von ökonomischer Verwertbarkeit eben dieser Orte und derer, die sich dort aufhalten. Bildung im institutionellen Rahmen verliert kontinuierlich ihren Selbstzweck, der besagt, dass sich das Subjekt seinetwegen und seiner Verantwortung der Welt gegenüber bilde. Das zeigt sich am Beispiel der Universität an zeitgenössischen bildungspolitischen Neuerungen wie dem BolognaProzess (vgl. Brändle 2010) und besonders an den wirtschaftlichen Grundsätzen wie der neoliberalen Ausrichtung, die die Uni primär als Wirtschaftsbetrieb begreift, der ökonomischen Gewinn bringen soll. Zweitrangig geworden ist die Idee des humanistischen Bildungsideals samt der verkürzten, idealisierten Vorstellung und Vermittlung von Bildung, die durchaus auch kritische Punkte – Stichpunkt Elite – enthält. Ein erweiterter Bildungsort fernab einer akademischen oder blasierten Grundhaltung, die andere Bildungsorte, -prozesse und -momente deklassiert, ist im Grunde jeder Ort, an dem Bildung in einer seiner vielen Facetten begünstigt wird: Bildung ist weder orts- noch status- oder altersgebunden. Bildung verortet sich neben den bekannten Bildungsorten wie Schule oder Universität geradezu in den unterschiedlichsten Settings und an vielerlei Orten, die nicht unbedingt auf den ersten Blick als Bildungstempel oder bildungsfördernd begriffen werden. Zwei Zugänge zum Bildungsbegriff und -konzept: Der hier favorisierte Bildungsbegriff bzw. die Vorstellung von Bildung soll möglichst deutungsoffen bleiben, baut jedoch wesentlich auf der Erkenntnis auf, dass sich Bildung im Leben abspiele und sich wesentlich durch informelles Lernen manifestiere (vgl. Thiersch 2020, S. 1767). Bildungsprozesse sind somit in einen alltags- und lebensweltlichen Bezugsrahmen eingebettet und fußen nicht uneingeschränkt auf Institutionen samt formalisierten Strukturen. Bildung ist damit kein hochintellektuelles bzw. bürgerliches und abstraktes Konstrukt mehr, sondern für alle Menschen notwendig, und den informellen Charakter betreffend auch für alle zugänglich. »Bildung ist Bildung für alle, allgemeine Bildung. Sie steht gegen gesellschaftliche Macht und Ungleichheitsstrukturen; Bildung ist allgemeines Menschenrecht« (Thiersch 2020, S. 1766). Bildung »gehört« daher allen. Das Grundmuster einer Bildung im Lebenslauf greift das Projekt »Bildung« auf und profiliert es normativ: Bildung ist Selbstzweck, ist Sinn des Lebens. Bildung ist Selbsttätigkeit in der Aneignung von Lebensverhältnissen, in der Auseinandersetzung mit Welt. Bildung zielt auf die Ausprägung von Individualität und ebenso ganzheitlich auf die Ausbildung aller reichen menschlichen Möglichkeiten und Kompetenzen, auf die Ausbildung von Kopf, Herz und Hand und das Verhältnis zum Leib; dem entspricht die Auseinandersetzung mit dem Bild einer in ihren vielfältigen Aspekten vergegenwärtigten und transparenten Wirklichkeit. (Ebd.) Bildung »gehört«, wiederholt, also allen, wenngleich die breite Auffassung dominiert, sie wäre vermehrt dem Mittelstand bzw. dem Bildungsbürgertum inhärent, das den Gegenstand bereits im Namen trägt.

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Der zweite Zugang zum Bildungsbegriff ist inspiriert von der bildungstheoretischen Biografieforschung (vgl. Marotzki 1990; Kokemohr 2007; Koller/Wulftange 2014) und insbesondere von den wissenschaftlichen Erkenntnissen von Rainer Kokemohr (2007, 2014). Kokemohrs Wissensbestände und -kenntnisse, die über Jahrzehnte angeeignet und wiederholt reformuliert wurden, überschneiden sich punktuell sowie ergänzen sich vielfach mit jenen von Koller et al. (2007). In dieser Denk- und Forschungstradition, als die die bildungstheoretische Biografieforschung durchaus gedacht werden kann, muss Bildung als ein vielschichtiger Prozess, der Veränderungen unterliegt und sich durch Modifikation auf die Betrachtung des Selbst und der Außenwelt auswirkt, verstanden werden (vgl. Kokemohr 2014, S. 19). Ein Bildungsprozess wird also angestoßen, in dem sich die Weltund Selbstverhältnisse (vgl. ebd.) derart transformieren, dass das Subjekt neue Orientierungen, Antworten, Erkenntnisse erhält, also Erfahrungen, die bildend wirken – Bildungserfahrungen (ebd.). Ein Bildungsprozess ist, in Anlehnung an Kokemohr, zusammenfassend ein »Transformationsprozess, in dem das Welt- und Selbstverhältnis eines Menschen durch die Konfrontation mit neuartigen Problemlagen eine weitreichende Veränderung erfährt« (Koller et al. 2007, S. 7). Zwei weitere Punkte machen diese Explikation bedeutend. Zum einen die These, dass Bildungsprozesse erst durch krisenhafte Erfahrungen oder biografische Herausforderungen entstehen würden (vgl. ebd.). Ein Erlebnis, das das Subjekt nicht herausfordert, ist daher kein Bildungsprozess. Oder anders formuliert: Krisen bilden. Das Selbst- und Weltverhältnis ändert sich in der Regel durch schwierige Situationen, die das Subjekt meistern oder akzeptieren lernt. Damit evolviert besonders auch die Art und Weise, wie es sich und die Welt nun sieht. Durch Krisen und Herausforderungen wird das bisherige Selbstverständnis, mit dem die eigene Person, aber auch die (Um-)Welt betrachtet wurde, modifiziert, und idealerweise vollzieht sich schließlich ein Bildungsprozess (ebd.). Zum anderen, das ist der zweite Punkt, müssen Bildungsprozesse empirisch gedacht, rekonstruiert und interpretiert werden (vgl. ebd.). Ich […] fasse Bildung aber als qualitativ spezifischen Prozess auf, der, anders als ein Lernprozess, die kategorialen Figuren betrifft, kraft derer sich das Verhältnis von Subjekt und Welt entwirft und modifiziert. Diese Auffassung schließt ein, dass ein Bildungsprozess »Subjekt« und »Welt« in ihrer je gegebenen symbolisch typisierenden Konfiguration aufbricht und anders refiguriert. Dieser Bildungsbegriff hat den Vorteil, das Krisenhafte von Bildungsprozessen in den Blick zu bringen und das grundsätzlich Prekäre eines jeden Welt- und Selbstentwurfs gegenwärtig zu halten. (Kokemohr 2007, S. 16) Subjekt und Um- oder Außenwelt, bzw. mit Kokemohr gesprochen, Selbst- und Weltentwurf (vgl. ebd.) sind nicht voneinander getrennt, weswegen sie nicht als »zwei Entitäten« (Kokemohr 2007, S. 15) beschlossen werden dürfen. Nur durch ein Zusammendenken der beiden bildungswissenschaftlichen Gegenstände ist eine Bezugnahme des Subjektes gegeben, das eine biografische Dissonanz erfährt und darauf aufbauend seinen Blick auf das eigene Selbst- und Weltverhältnis nachhaltig transformiert. Das Verständnis von Thiersch (2020, S. 1767), »Bildung im Leben«, ergo im Alltagsweltlichen zu konstatieren und mit Kokemohr als transformatorischen Bildungsprozess hinsichtlich des eigenen Selbst- und Weltverhältnisses zu begreifen, möchte ich kombi-

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nieren sowie weiterdenken: Bildungsprozesse spielen sich wesentlich im Familialen ab und wirken dort auf zwei Ebenen: Die Familie als Handlungsfeld profitiert von den internen Praktiken, wie intergenerationeller und sozialer Interaktion, die Veränderungspotenziale hinsichtlich des Handlungsfeldes und -spielraums entfalten können. Die Familie als Trägerin des Familiengedächtnisses wiederum lukriert Transformationsprozesse durch das Tradieren und (Neu-)Deuten von Erzähltem und Erinnertem. Die Aufhebung einer dualen Unterscheidung von Bildung und Familie bzw. Bildungsort und Familie als (Bildungs-)Ort verweist auf ein definitorisches Problem, das der deutschsprachige Kontext und die deutsche Sprache, in dem Bildung und Erziehung sphärisch nicht notwendigerweise zusammengedacht werden, mit sich bringen. Ohne die notwendige Differenz und Differenzierung von Bildung und Erziehung leugnen zu wollen, lohnt es sich, die Familie und Bildung bzw. die Bildungsprozesse, die im Familialen erzeugt werden können, zu bündeln. Eine weitere Annahme, die aus der strikten Trennung von Erziehung und Bildung resultiert, lautet, dass der Bildungsauftrag ausschließlich im Zuständigkeitsbereich der Schulen liege, wohingegen die Erziehung sowie lebensweltliches Lernen »zuhause« vermittelt werden sollten. Die festgelegten Verantwortlichkeiten zwischen Schule und »Elternhaus«, die sich zeitgenössisch beobachten lassen, werden durchaus diskutiert und ihre mögliche Ausdifferenzierung, die das Ziel einer vermehrten oder aber geringeren Einflussnahme der einen oder anderen Sozialisationsinstanz verfolgen, werden in gesellschaftlichen Debatten regelmäßig laut.8 Welche Instanz wann, wie und wo Bildungs- und Erziehungsinhalte vermitteln sollte, kann ausgehandelt werden, weniger aber die Tatsache, dass Bildung und Erziehung reziprok zueinanderstehen, ergo zusammengehören. Im englischsprachigen Kontext ist Education als Konglomerat der beiden erziehungswissenschaftlichen Handlungsfelder angelegt und damit keine strikt getrennte bzw. auf einen Bereich beschränkte Aufgabe. Education als nondualistisches Konzept, das parallel Bildung und Erziehung umfasst, geht alle an, die Familie, die Bildungseinrichtungen und natürlich die Adressat*innen, die Bildung erwerben und Erziehung erfahren. Als einen wichtigen Teil der Vermittlung von Bildung verstehe ich unter anderem konkrete, praktisch erworbene Handlungskompetenzen und Sozialkompetenzen, aber auch Fertigkeiten, die bei der Ausformulierung von biografischen Wünschen, der Etablierung einer Idee vom Selbst und dem Erfassen sowie Ausdifferenzieren des eigenen Radius im Wechselspiel mit der (Außen-)Welt hilfreich sein können. Lernprozesse werden bildungstheoretisch vielfach von Bildungsprozessen getrennt betrachtet, bewertet und untersucht. (Vgl. dazu King/Koller 2009; Meyer-Drawe 2012) Einstweilen werden Bildungs- und Lernprozesse auch zusammengedacht (vgl. dazu Overwien 2007; Nohl et al. 2015; Benedetti et al. 2020). Eine grundsätzliche Kompetenz, die im Familialen gefördert werden kann, ist jene des intergenerationellen Austausches, der Artikulation zwischen den Familienmitgliedern und Generationen. Nicht nur durch Wissensvermittlung im klassischen Sinne wird Wissen erzeugt und weitergegeben, genauso ist die Tradierung von familiären Migrationserfahrungen eine spezifische Form von Wissensakkumulation, die die jüngere Generation auf das weitere Leben vorbereitet. Wer seine Familiengeschichte kennt, erkennt sich möglicherweise selbst oder 8

Die Covid-19-Pandemie hat die räumliche und strukturelle Trennung zwischen Schule und Elternhaus in der Praxis überworfen bzw. die zuvor eindeutigen Trennlinien verzerrt.

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in seinem Denken und Handeln wieder, auch dann, wenn keine durchgängige Identifikation mit der Familie gegeben ist. Lernen als Aneignung und Potenzierung von Wissen, Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sollte als ein Teil von Bildung verstanden werden, der durchaus auch familialen Ursprung haben kann. Die mehrheimische Familie erachte ich per se als bildungsfördernd. Bildungsfördernd sind zum einen das innerfamiliäre, intergenerational ausgestaltete Erlernen und der Umgang mit sozialen, multiperspektivischen, mehrheimischen und transkulturellen Kompetenzen. Ferner können Mobilitätserfahrungen geografischer, biografischer oder sozialer Art Einfluss auf die Bildungsbiografie des Subjektes und der Familie als Ganzes haben. Zum anderen werden im Familienleben spezifische Werte, Grundsatzvorstellungen vermittelt, die vielfach genauso als bildungsfördernd interpretiert werden können. Zahlreiche Studien (vgl. dazu Schuchart/Maaz 2007; Gresch 2012; Klapproth et al. 2014; Lagemann/Winkler 2019) legen dar, dass mehrheimische Familien in der Regel über hohe Bildungsaspirationen verfügen, die mit dem Wissen verknüpft sind, formelle Bildung könne den Bildungsaufstieg der jüngeren Generation erleichtern (vgl. Rotter/Schacht 2018, S. 155). Fereidooni (2011) hebt den großen Wunsch mehrheimischer Familien bzw. Eltern nach Bildung hervor (S. 72), unterstreicht jedoch, dass der familiäre Hintergrund ein »entscheidender Parameter für Bildungs(miss)erfolg« (ebd., S. 128) sei und bereits die »Schulformentscheidung der Eltern sowie die schulische Performanz der Schüler« (ebd., S. 128) beeinflussen würde. Es wäre jedoch zu einfach, aufgrund von Schuluntersuchungen und Vergleichsstudien an dualistischen Interpretationen festzuhalten, die Bildungswege von Menschen mit und Menschen ohne mehrheimische Bezüge separiert, denn zum einen gibt es zahlreiche Gegenbeispiele, die diese vorgenommene Hierarchisierung bzw. Trennung widerlegen, und zum anderen sollte häufiger die Frage nach dem Warum gestellt werden, ebenso die Frage nach den Faktoren und Strukturen, die Bildung autorisieren. Statt eine einseitige Sichtweise auf Bildung in Korrelation mit Migration und Mehrheimischkeit einzunehmen, wäre es sinnvoll, neue Kategorien zur »Messung« von Bildungserfolg, wie die mehrsprachige Kompetenz, einzubeziehen und zu den bisherigen Anforderungen zu addieren sowie bereits vorhandene Unterstützungsangebote, die scheinbar nur begrenzt wirken würden, zu variieren. Hinzukommend gilt es, innovative Diskurse zu stärken, die postmigrantische Familien- und Lebensentwürfe anerkennen und damit neue Sichtweisen auf Familie etablieren. Schließlich wirken die Diskurse über die Familie als Konzept und die Diskurse über die Familie als Bildungsort in gesellschaftliche und damit auch bildungsspezifische Diskurse und ferner Praktiken hinein. Das Bildungsrecht bzw. das Recht auf Bildung ist in den Menschenrechten verankert, bleibt jedoch einstweilen Utopie und gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Strukturell erzeugte Ungleichheiten und künstlich aufrechterhaltene Differenzlinien führen das Recht auf Bildung gewissermaßen ad absurdum, da die Förderung und Ermöglichung von Bildung verkompliziert werden. Im familialen Kontext erzeugt die Familie in ihrer Mehrheimischkeit den Erwerb und den Ausbau von Bildungsressourcen. Sie begünstigt also Transformationsprozesse, die durch familiale Migrationserfahrungen entstehen und die wiederum individuelle sowie kollektive Bildungserfahrungen protegieren. Der Moment der Herausforderung, der nach Kokemohr einen Bildungsprozess auslösen kann, ist gegeben durch (familien-)biografisch relevante, möglicherweise auch krisenhafte Einschnitte, die nicht nur das Selbst- und Weltbild, sondern auch das bisher

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für ausreichend oder gut befundene Familien- und Weltbild herausfordern können. Das Selbstverhältnis wird hier ergänzt um das punktuell gewandelte Familienbild bzw. Familienverhältnis, das sich im Austausch mit dem Welt-Verhältnis bewegt und Mobilität im Sinne der biografischen Neuorientierung erzeugt. Die Familie gilt hierbei als erweiterter Teil des Selbst. Das Selbstverständnis vom Proprium in Wechselwirkung zur Umwelt und/oder der Familie ändert sich durch lebensgeschichtliche Unsicherheiten und Risiken, was wichtig ist, denn nur so bildet sich das Subjekt tatsächlich aus und weiter. Für Brake und Büchner (2009) stellt Familie einen wichtigen Bildungsort dar (siehe Kap. 5.2) Die Bildungsstrategien, die im Familialen entstehen und intergenerationell weitergetragen werden, manifestieren sich zum einen in Form der Tradierung und Vermittlung, von den Autor*innen als »input« (S. 65) bezeichnet, und zum anderen als »intake« (vgl. ebd.), also durch das Aneignen und Übernehmen dieser. Dabei sind die Vermittlungsarbeit durch die zumeist Älteren und die Annahmebereitschaft der in der Regel Jüngeren durchaus Diskussionen unterworfen. Bildungsarbeit im Familialen erfordert Konsens zwischen den Familienmitgliedern und Generationen oder zumindest die Bereitschaft, zu verhandeln, zu debattieren, Bildungsinhalte auszuwählen und gegebenenfalls zu verändern oder aufzugeben. Diese wechselseitigen kulturellen Transmissionsprozesse verlaufen dabei keineswegs immer ohne Reibung. Vielmehr ist davon auszugehen, dass stetige Aushandlungen nötig sind, da familiale Mehrgenerationennetze immer auch soziale Gefüge darstellen, in denen spezifische geschlechter- und generationenbezogene Machtverteilungen ihre Wirksamkeit entfalten, etwa über ungleich zwischen den Generationen verteiltes ökonomisches Kapital oder in der Art, wie das Geschlechterverhältnis von symbolischer Herrschaft gekennzeichnet ist. (Brake/Büchner 2009, S. 65) Die Familie als Bildungsort und sozialer Ort bedeutet auch, dass die kleine Gemeinschaft individuell, sprich familieneigen auf Herausforderungen reagiert und ihren Alltag familienspezifisch organisiert und meistert. Jede Familie verhandelt ihre Themen unterschiedlich und erschafft, neben den öffentlich zugänglichen und mit Menschen außerhalb der Familie geteilten Räumen, eigene Orte und Handlungsräume, in denen Praktiken einstudiert, verhandelt und optional zwischen den Generationen tradiert werden. Gerade der kontroverse Meinungsaustausch zwischen den einzelnen Mitgliedern benötigt Kraftanstrengung, lanciert jedoch auch Bildungsprozesse. Diese sind prinzipiell jeder Familie inhärent bzw. können dort aktiviert und reaktiviert werden, wenngleich die Bereitschaft, in Bildung und Bildungsressourcen zu investieren, oder die Intensität divergiert, mit der Bildungsprozesse ausgelebt werden. Der Erwerb von Bildung wird durch spezifische Faktoren und Ressourcen erleichtert, ist jedoch nicht per se milieuabhängig oder ausschließlich habituell vorbestimmt. Dennoch kann eine Familie, die ökonomisch oder sozial gut situiert ist, mit geringerer Kraftanstrengung und mit erhöhter, weil antrainierter, im Grunde »angeborener« bzw. habitueller Selbstverständlichkeit Möglichkeitsräume eröffnen, in denen Bildungsangebote und -prozesse potenziert werden. Mit der Formulierung einer antrainierten Selbstverständlichkeit, die dazu befähigen soll, Bildungsprozesse zu inkorporieren, ist auch der Anspruch der Etablierten verknüpft, Bildung wäre ihr Vorrecht im Gegensatz zu marginalisierten Gruppen. Dieser von etablierten Gruppen und etablierten Famili-

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en eingeforderte Bildungsanspruch mündet in Dominanzverhältnisse, die durch strukturelle Machtverhältnisse gestützt werden, jedoch durch postmigrantische Bildungsansprüche teilweise aufgedeckt und ein Stück weit irritiert werden. Daher muss die Prämisse lauten: Möglichkeitsräume neu und damit durchgehend mehrheimisch-postmigrantisch zu denken. In dieser Logik ist eine Familie, die nicht über dieselben finanziellen Mittel wie eine Familie mit hohem sozioökonomischen Kapital verfügt, auf einen anderen, alternativen, jedoch nicht weniger bedeutenden Wissenskorpus zurückgreifen kann, ebenso dazu befähigt, Bildungsprozesse einzuleiten. Eine mehrheimische Familie besitzt Bildungsressourcen und lernt, diese zu aktivieren, auszubauen und intergenerationell zu akkumulieren. Ihre Bildungsressourcen sind unter anderem durch Erfahrungen der Migration gekennzeichnet und heben sich somit von jenen nicht-mehrheimischer Familien deutlich ab. Des Weiteren wird bisweilen der symbolische Wert von Bildung ignoriert. Mehrheimische Familien müssen sich vielfach, ähnlich wie sozioökonomisch benachteiligte Familien, ihren Anspruch auf Aus- und Weiterbildung erkämpfen. Dabei würde es ausreichen, die bereits vorhandenen innerfamiliären Ressourcen um außerschulisch erworbene Alltags- und Sozialkompetenzen sowie institutionell vermittelten Qualifikationen zu ergänzen. Exemplarisch ist die Familie nicht der Ort, an dem Latein oder Mathematik unterrichtet wird9 , dafür qualifiziert sich die entsprechende Bildungseinrichtung. Jedoch wäre es vielversprechend, die Familie und Bildungsinstitutionen in ihrer Ergänzung und Komplementierung zu betrachten, und anstatt Bildungsprozesse vorrangig in der Hochkultur zu suchen, die an den Lebensrealitäten vieler vorbeigeht, die Alltags- und Familienkulturen in ihrer Differenziertheit sowie als wesentliche und gleichwertige Bestandteile der Bildungsbiografien einzubeziehen. Bildung ist also ein vielschichtiger (Lern-)Prozess, der durch vorhandene – verkürzt – familiale Unterstützung begünstigt wird. Das Bereitstellen von verfügbaren Bildungsressourcen und die Sicherstellung eines möglichst barrierefreien Zugangs zu Bildung qualifiziert die Familie als bedeutenden Bildungsort. Bildungsprozesse, die die familiale Gemeinschaft initiierte oder förderte, sind dynamisch und meist zeitlich begrenzt, sodass das Subjekt beim Aufwachsen, in der Jugend und Adoleszenz, eigenständige Bildungsprozesse begeht, also weitestgehend ohne die Hilfe der Familie auskommt. Die Familie jedoch legt idealtypisch den Grundstein dafür, dass Lernund Bildungserfahrungen gemacht werden. Gelingt es einer Familie, trotz monetärer, sprachlicher, lebensweltlicher oder sozialer Herausforderungen einen soliden Einstieg zu Bildung möglich zu machen und den potenziellen Mehrwert durch Bildung im Sinne der Bildungsaspiration zu verdeutlichen, ist ein nicht zu unterschätzender Schritt gemacht hin zur Begründung der Lebensgeschichte als Bildungsbiografie. Die Familie schafft das Fundament dafür, dass die Heranwachsenden Bildung als biografisch bedeutend begreifen und in Folge Bildungsarbeit leisten. Innerhalb des Kollektivs Familie, aber auch zwischen den einzelnen in laufender Interaktion, Kommunikation sowie in Diskussion und/oder Konflikt stehenden Mitgliedern, ändert sich laufend das Nähe-Distanz-Verhältnis: Die Mitglieder haben mal 9

Zwar obliegt die Vermittlung der Schulfächer primär den pädagogisch Professionellen bzw. der Schule als Institution. Eine mögliche Hilfestellung bei der Hausaufgabenbegleitung leisten in der Regel, sofern kein bezahlter Nachhilfeunterricht möglich ist, einzelne Familienmitglieder.

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mehr, mal weniger Distanz, mal ist ihre Interaktion intensiver, mal weniger intensiv. Die Familie verändert sich laufend allein schon aufgrund von verschiedenen Lebensaltern und -stationen. Dennoch kann die Familie als Gemeinschaft und Idee für die postmigrantische Generation bereichernd und zukunftsweisend sein. Das für vielfach selbstverständlich erachtete Familienleben wird im Laufe des Älterwerdens durch eigene Lebensentwürfe, Familienkonzepte sowie eine eigene Familie, die sich diametral von der Herkunftsfamilie unterscheiden kann, eingetauscht und ablöst. Normative Vorstellungen und Einstellungen zur Bildung, die familial ausgehandelt und erarbeitet wurden, werden jedenfalls biografisch abgespeichert, wodurch die jungen Erwachsenen die Fähigkeit erwarben, auf das Wissen über die Komplexität und Bedeutung von Bildung, Bildungsprozessen und -erfolg zurückzugreifen. Familie ist, wer Familie sein möchte.

6.2.2 Rekonstruktion familialer Leerstellen in der Erinnerung und Erzählung durch die postmigrantische Generation In der familialen Erinnerungsforschung werden nicht nur Erinnerungen untersucht, die auf eigenen Erfahrungen aufbauen und vom erinnernden Subjekt rekonstruiert und anschließend an die nächsten Generationen weitergegeben werden, sondern es wird auch den Lücken (vgl. Windsperger 2013, S. 32), den fehlenden Fragmenten, den Leerstellen innerhalb der intergenerationell tradierten Erinnerungen eine besondere Relevanz zugewiesen. Gerade in der transgenerationalen Erforschung jüdischer Familienerinnerungen (vgl. Bar-On 1996; Rosenthal 1997; Hirsch 2008) lässt sich konstatieren, dass sowohl die weitergetragenen Erzählungen von Holocaust-Überlebenden als auch die Rekonstruktionen seitens der Nachfolgegenerationen lückenhaft sind. Diese erzählerischen Lücken können als Schutzfunktion fungieren, die die Älteren den Jüngeren gegenüber einnehmen, indem sie bewusst spezifische Familienerinnerungen und -erzählungen weglassen. Diese Lücken können jedoch auch unbewusst entstehen und ihren Ursprung in traumatischen, gewaltvollen Erlebnissen haben. Das Phänomen, dass zwischen den Generationen bruchstückhafte bzw. rudimentäre Erzählungen weitergetragen werden, lässt sich auch aufseiten der nachkommenden Generationen der Täter*innen feststellen. In der (familien-)biografischen Aufarbeitung der NS-Geschichte, die sich vielfach mit der Familiengeschichte überschneidet, bleiben spezifische Handlungen und Haltungen unausgesprochen, eventuelle Sympathien mit der Diktatur werden verschwiegen und spezifische Wahrheiten fehlen teilweise oder gänzlich. Jene Nachkommen von Nationalsozialist*innen, die trotz der Gräueltaten ihrer Vorfahr*innen die gesamte Familienerzählung untersuchen und begreifen möchten, sehen sich mit verwischten Narrativen, unvollständigen Erzählungen, und retrospektiven Verzerrungen sowie geglätteten Teilerzählungen befasst. Die Auseinandersetzung mit rational und emotional schwer begreiflichen historischen Ungerechtigkeiten sind Teil des kollektiven Gedächtnisses und Aufgabe von uns allen. Die direkte Involviertheit und Täter*innenschaft von Familienmitgliedern im Nationalsozialismus wird innerhalb familialer Erzählungen häufig relativiert oder kleingeredet (vgl. Mettauer 2012; Windsperger 2013). Die Nachfolgegenerationen der Opfer,

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aber auch der Täter*innen (vgl. Welzer et al. 2015) erarbeiten sich in kleinteiliger, affektiver Herangehensweise die weitestgehend mögliche Vervollständigung der Familiengeschichte (vgl. Windsperger 2013), die jedoch nie (vollständig) eigene Erinnerung wird, sondern Rekonstruktion und Re-Erinnerung bleibt. Marianne Hirsch (2008) spricht hinsichtlich der Wiederherstellung der Familiengeschichte von Postmemory. Postmemory meint keine eigene Erinnerung oder Reminiszenz, sondern die schrittweise Bezugnahme der Nachfolgegenerationen auf komplexe, traumatische Prozesse der Vergangenheit, in die die Vorfahr*innen, jedoch nicht die Nachfahr*innen selbst involviert waren. Postmemory describes the relationship of the second generation to power-ful, often traumatic, experiences that preceded their births but that were never-theless transmitted to them so deeply as to seem to constitute memories in their own right. (Hirsch 2008, S. 103) Dieses Gedächtnis darf jedoch nicht als »movement, method or idea« (ebd., S. 106), also als Bewegung, Methode oder Idee fehlinterpretiert werden. Stattdessen denkt die Forscherin das Postmemory als »a structure of inter- and trans-generational transmission of traumatic knowl-edge and experience. It is a consequence of traumatic recall but (unlike post-traumatic stress disorder) at a generational remove« weiter (ebd., S. 106). Die zentrale These Hirschs ist, dass traumatische Erlebnisse dezidiert Auswirkungen auf die Nachkommen haben können und deswegen von ihnen hinterfragt, analysiert und in ihr individuelles Verständnis von der eigenen Familie inkludiert werden müssen (siehe Fallrekonstruktion Malu in Kap. 6.3). Die Forscherin sieht die Möglichkeiten des Postmemory, also der wörtlich ins Deutsche übersetzten »Nacherinnerung« darin, dass die Nachfolgegenerationen durch die intensive Beschäftigung mit familialen Erzählungen und Erinnerungen eigene Lesearten zum Begreifen und Weiterdenken der Familiengeschichte generieren können, die den Vorfahr*innen aufgrund der Involviertheit in der Vergangenheit nicht zur Verfügung standen. Das »nachträgliche Erinnern« der Nachfolgegeneration im Sinne des Postmemory funktioniert ähnlich wie das Verfassen von Notizen auf kleinen Zettelchen, sprich Post-its: […] die gelben Notizzettelchen, die über lückenhafte Erinnerungstexte verteilt werden, wiesen auf Lesearten der zweiten Generation hin, sie halten nachträgliche Gedanken fest, können aber gleichzeitig leicht von ihrem ursprünglichen Kontext gelöst werden und fordern dann eine aktive Erinnerungsarbeit. (Windsperger 2013, S. 32) Diese Notizen sind keine realen schriftlichen Vermerke, sondern spiegeln gedankliche und interpretative Momentaufnahmen wider. Ferner bieten sie eine Chance, die zur Ausformulierung komplexer biografischer Erfahrungen beiträgt und die familiale Kommunikation zwischen den Generationen belebt. Spezifische »Notizen« werden verworfen, andere in Form neuer Lesearten (vgl. ebd.) ersetzt und um abgeänderte Interpretationen und innovative Wissensformen amplifiziert. Menschen, die mehrere Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, kennen Erzählungen aus dieser Zeit primär aus dem Geschichtsunterricht, seltener aus familiären Erzählungen. Sowohl die Enkelkinder der Opfer der Shoah als auch jene der Täter*innen zeigen wiederholt Interesse an der Erörterung familiärer Erinnerungen und der konsequenten Aufarbeitung des Familiengedächtnisses. (Vgl. Windsperger

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

2013) Neben den familiären Haupterzählungen, die vielleicht schon in ähnlicher Form bekannt sind, werden ihnen Nebenerzählungen, die die Familiengeschichte aus Sicht der Enkelkinder (vgl. Mettauer 2012) komplementieren würden, mitunter vorenthalten. Die Forschung, die sich mit den biografischen Erzählungen der Nachfolgegenerationen von Überlebenden der Schoah beschäftigt (vgl. Reiter 2006; Keil/Mettauer 2016), konkretisiert, dass Traumata intergenerationell weitergegeben und nicht primär selbst erlebt werden müssen, um traumatisierende Effekte zu haben. Seelisch bzw. körperlich verletzende Einzelerfahrungen können daher zu belastenden Familienerinnerungen werden, umso wichtiger ist ihre Artikulation und Aufarbeitung. Eine kollektiv gestaltete Erinnerungsarbeit bzw. »Memory Work« (vgl. Haug 2008, S. 537ff.) ist essenziell. Diese kann je nach Lebensalter mehr oder weniger Bedeutung für die Einzelnen haben, jedoch dabei dienlich sein, Leerstellen im Familiengedächtnis nachträglich zu füllen, um in Folge gegebenenfalls eine kollektivierende, kathartische Wirkung zu erzielen. Eben skizzierte Nacherinnerungen können im Rahmen der Familie, ausgewählter Familienkonstellationen oder autonom erarbeitet werden. Jede Familie hat ihre je eigenen dominanten Erzählungen, wobei es sozio- und zeithistorische Überschneidungen und Wendepunkte gibt, die einen biografischen Einschnitt markieren und somit eine Person bzw. Generation überdauern können. Migration kann ein solcher Wendepunkt sein. Sie wirkt über die einzelnen Biografien hinaus und hat daher trans- und intergenerationelle Relevanz. Migrationsentscheidung, -moment und -erfahrungen erzeugen eine Aus- und Nachwirkung, die generationsübergreifend ist und daher über Generationen hinweg thematisiert wird. Auch in Familien, in denen Mobilität ein wesentlicher Bezugspunkt ist, werden spezifische Erinnerungen nicht oder nur lapidar besprochen. Grund für die Verschwiegenheit hinsichtlich ausgewählter Erinnerungen kann ihre jeweilige Intensität, Komplexität oder Vulnerabilität sein. Daneben wollen bestimmte Erinnerungen und Erfahrungen im Sinne einer erzählerischen und biografischen Freiheit grundsätzlich nicht mit den (Enkel-)Kindern geteilt werden, da sie als zu privat eingestuft werden. In den biografischen Narrationen der Erzähler*innen der postmigrantischen Generation wird deutlich, dass die Fragezeichen hinsichtlich der Familiengeschichte als bedeutend eingestuft werden und diese die Neugierde der jungen Erwachsenen wecken (können). So wird mehrheitlich der Versuch unternommen, das »Davor«, sprich das »Vor ihrer Zeit« in die (familiale) Lebensgeschichte zu inkludieren (vgl. Windsperger 2013, S. 38). Es wird versucht, subjektbezogene Erfahrungen und Erinnerungen mit familienbezogenen zu ergänzen, indem die Verwobenheit der zeitlichen generationellen Achsen mit emotionalen Bezügen kombiniert werden. So müssen spezifische Erfahrungen nicht selbst erlebt worden sein, um an sie zu erinnern und einen emotionalen Zugang zu diesen zu haben. Durch das mehrfache Tradieren derselben Erzählung kann diese Erinnerung den Zuhörenden zunehmend vertrauter werden. Diese Vertrautheit kann suggerieren, abwesende Familienmitglieder oder Angehörige der Nachfolgegeneration wären in einem weit in der Vergangenheit liegenden Ereignis aktiv dabei gewesen. Dieses Phänomen wird in den halbnarrativen Interviews durch die wechselnde Erzählperspektive deutlich, in der die Erzähler*innen von erzählt bekommenen Narrationen berichten und dabei situativ in die Ich-Perspektive fallen, bevor sie wieder in die Erzählsicht der dritten Person zurückkehren. In dieser Hinsicht ist das Gedächtnis durchaus

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trügerisch, da tradierte Erinnerungen mit eigenen Erinnerungen verwechselt sowie verdichtet werden können. Dadurch also, dass bestimmte problematische Erfahrungen im Familiengedächtnis ausgeblendet oder ausgeklammert werden, fehlen der postmigrantischen Generation Bruchstücke der Familienerinnerung. Unter anderem übersetzt sie ihr Fehlen mit den Worten »Alles ist normal (bei uns)« oder sie bedient sich eigener Interpretationen, Reund Dekonstruktionen der Leerstellen, die bis zuletzt teilweise spekulativ bleiben (werden). Beide Phänomene, einerseits die Relativierung dieser Lücken, indem sie mit dem Hinweis der Normalität weiter zugedeckt werden, und andererseits der Versuch, die Leerstellen zu füllen, werden in den biografischen Narrationen dieser Arbeit sichtbar. Nida (siehe Kap. 7.1) und Tania (siehe Kap. 7.2) beispielsweise tendieren in ihren Artikulationen familialer Migrationserfahrungen stellenweise dazu, sowohl die familiären Erfahrungen und Erinnerungen als auch ihre Familie als Gemeinschaft als »normal« zu positionieren10 und damit auch erinnerungsspezifische Lücken zu ignorieren. Malu (siehe Kap. 6.3) und Jasemin (siehe Kap. 5.3) wiederum versuchen, familiale Erinnerungsfragmente zu sichten, kreativ durch eigene Sichtweisen sowie Nachfragen bei den direkt Erinnernden zu ergänzen und dadurch stellenweise Neues entstehen zu lassen. Da der Zugang zum Familiengedächtnis Ordnungen und Regelungen unterliegt und der Zugriff damit auf spezifische Narrationen beschränkt bleibt, ist es eine aktive Entscheidung der postmigrantischen Generation, falls möglich, bei den vorherigen Generationen nachzufragen, eigenständig nachzuforschen und/oder die Erzähllücken selbst aufzufüllen versuchen, wodurch die bisherigen Sichtweisen auf die Familiengeschichte partiell neu geregelt werden. Fraglos bilden die biografischen Artikulationen der Erzählenden den Korpus aus, auf dem die biografische Forschung und die Rekonstruktion der Lebensgeschichten aufbauen. Daneben ist höchstspannend, was in eben diesen Narrationen nicht erzählt wird; das Ausgelassene, das die erzählende Person selbst beschließt oder nicht erzählen kann, weil das detaillierte Wissen darüber (noch) nicht zur Verfügung steht. Indem die postmigrantische Generation die vorhandenen, die vollständig fehlenden und fragmentarischen Erinnerungen rekonstruiert, dekonstruiert und neu erfindet, befindet sie sich in einem biografischen Bildungsprozess wieder, der wiederum Einfluss auf die Fortsetzung des familialen Gedächtnisses hat. Biografische Erinnerungen werden dann zu generationsübergreifenden Gruppenerinnerungen (vgl. J. Assmann 2007, S. 59), wenn sie durch intergenerationelle Erinnerungsowie Übersetzungsarbeit greifbar gemacht werden. […] die Enkel/innen können durch ihre Bewegung statische Erinnerungssysteme ins Wanken bringen. Die Spurensuche dient aber […] auch dazu, wieder Kohärenz herzustellen, Bedeutungszusammenhänge für fragmentierte Erinnerungen zu rekonstruieren und durch die Rückkehr an familiengeschichtlich bedeutende Orte die eigene Existenz zu verifizieren. (Windsperger 2013, S. 37) Die nach Windsperger formulierte Spurensuche (vgl. ebd.) bedeutet aus Sicht der postmigrantischen Generation Unterschiedliches. Zum einen vollzieht sich ein Gedenken an 10

Daneben überlegen auch Tania und Nida, weshalb bestimmte Themen innerfamiliär bislang nicht angesprochen wurden, und denken über mögliche Auslegungen nach.

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

familial präferierte Erfahrungen, um wider das Vergessen vorzugehen. Zum anderen gestaltet sich das Füllen erzählerischer Lücken durch ein Neudenken, Rekonstruieren und Reinterpretieren aus. Des Weiteren setzt ein bewusstes partielles Vergessen »unwichtiger« Narrationen zum Zwecke innovativer, neuer Erinnerungen ein, die intergenerationell an zukünftige Generationen weitergegeben werden können. Daneben ist die kurzzeitige oder längerfristige »Rückkehr« an familiäre Orte, die die jungen Erwachsenen vorwiegend aus intergenerationell weitergegebenen Erzählungen oder aus dortigen Besuchen in der Kindheit kennen, als Prozess der (Wieder-)Entdeckung und Neu- sowie Einschreibung in das Familiengedächtnis sinnstiftend.

6.3 Malu: »Ich bin kein Baum, ich komme aus Deutschland, ich habe die deutsche Staatsbürgerschaft. Was brauchst du von mir? Brauchst du den Ariernachweis?« Kurzportrait Malu Malu ist Ende 20 und eine politisch und sozial engagierte Person. Die Familienbiografie ist durch eine starke Politisierung als Linke geprägt. Die Erzählerin positioniert sich als Antifaschistin und Kurdin, stellenweise auch als Alevitin und Türkin, Mehrfachzuordnungen werden benannt. Verletzende Erfahrungen und Erinnerungen im Familiengedächtnis, die als politische Willkür und Machtdemonstration durch die türkische Staatsmacht interpretiert werden, werden vonseiten der ersten und zweiten Generation mit dem Nachwuchs geteilt, sodass Malu sich sehr früh links positioniert. Eine Grundhaltung, die in der Familie eingenommen wird, lautet: »Zuschauen ist die falsche Option« (Zeile 1132), was zu einer Art Lebensmotto der Erzählerin wird. Sie internalisiert die Erfahrungen einzelner Familienmitglieder im Herkunftsort, etwa die politische Inhaftierung ihres Onkels im türkischen Gefängnis, und begründet davon ausgehend ihr Einstehen für linkspolitische Ideale und Wertvorstellungen. Ihr Handeln und Denken ist dabei global, glokal, transnational sowie regional ausgerichtet. Das Interviewsetting und das politische Verständnis als gemeinsame Gesprächsbasis zwischen Erzählerin und Forscherin Zwischen Malu, der Erzählerin, und mir, der Forscherin, entwickelt sich während des mehrstündigen Gespräches eine gemeinsame Erzählbasis, die sich zusammensetzt durch ein weitestgehend übereinstimmendes politisches Grundverständnis, das als linkes oder als antifaschistisches Wissen und Repertoire bezeichnet werden kann. Es umfasst demokratische, pluralistische, antirassistische, antifaschistische und diversitätsoffene Implikationen und manifestiert sich in einem Selbstverständnis darüber, dass alltägliches, individuelles und kollektives Handeln sowie Denken grundsätzlich links bzw. antifaschistisch ausgerichtet sein müsse. Es impliziert die geteilte Annahme, dass es überdies antirassistisch und antisexistisch konstituiert sein müsse. An heiklen Gesprächsstellen und innerhalb komplexer, kontroverser Diskurse sucht die Erzählerin eine verbale und nonverbale Vergewisserung, ob die »gleiche Sprache« gesprochen werde oder politische Codes und Kürzel vom Gegenüber verstanden würden. Dieses Sich-Vergewissern dient dazu, bewusst oder unbewusst anzudeuten und fest-

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zustellen, ob der Unterhaltung ein kollektives politisches Verständnis zugrunde liege. Innerhalb politischer Diskursarbeit – teilweise fungiert das biografische Gespräch als solches – kann eine Vergemeinschaftung festgestellt werden, etwa aufgrund gemeinsamer Kategorien und Selbstbenennungspraxen als Antifaschist*in, Frau oder Linke. Wissenschaftliche Forschungsarbeit und damit auch biografische Erzählarbeit ist nie vollständig herrschaftsfrei oder nonhierarchisch, auch wenn ein antiautoritärer, nondualistischer und nonkonformer Erzählraum zur Verfügung gestellt werden möchte. Gerade dieses Interview veranschaulicht, dass die Hierarchien zwischen Forschender und Erzählender zeitweilig aufgehoben werden, gerade dann, wenn ein gemeinsames Grundverständnis besteht. Dennoch liegt die letztliche Deutungshoheit des Erzählten bei der Forscher*in, weshalb ein spezifisches Machtgefälle zwischen den beteiligten Personen nicht geleugnet werden darf. Die Ebene des gemeinsamen Verstehens verändert sich bzw. wird verlassen, sobald die zuvor geteilte Erfahrung der Forscherin plötzlich nicht mehr zugänglich ist, also wenn beispielsweise die Migrationserfahrung von Malu im Fokus steht. Obgleich sowohl die Erzählerin als auch die Forscherin nicht in Österreich geboren wurden und daher als mehrheimische Personen gelesen werden können, unterliegen sie divergenten Außenwirkungen, Zuschreibungen und Privilegien. Nicht in Österreich geboren zu sein, ist eine Gemeinsamkeit, die jedoch ob der Hierarchien und Abstufungen von Mobilität und Mobilitätsländern als schwindend gering aufgefasst werden muss. Der Versuch einer Chronologie des Erzählens Malu erklärt zu Beginn des Gespräches, dass ihre Muttersprache Türkisch sei, sie sich jedoch primär als Kurdin positioniere. Die Erzählerin differenziert in ihren Artikulationen größtenteils zwischen »Kurd*in« und »Türk*in« sowie »kurdisch sein« und »türkisch sein« bzw. sich entsprechend zu »fühlen«, teilweise werden diese Formen der Zugehörigkeit ambivalent verwendet. Die Erzählerin erklärt, in ihrer biografischen Narration chronologisch beginnen zu wollen, also bei den Großeltern, die zu dieser Zeit im Herkunftsort leben, um einem möglichen »Erzählchaos« (Zeile 12) entgegenzuwirken. Warum die erste Generation migrierte, begründet Malu damit, dass die vier Großelternteile aus ärmlichen, bäuerlichen Verhältnissen stammen. Also, beide Teile meiner Großeltern kommen aus dem gleichen Dorf. Das heißt, ich glaube einfach, dass wir die gleiche Grundlage der Migration gehabt haben, bevor sie nach Österreich oder Deutschland gekommen sind. (Zeile 12-14) Malu widmet sich den familiären Erfahrungen vor der Migration und veranschaulicht, wie stark die damaligen Umstände im Alltag die spätere Migrationsentscheidung beeinflussten. Der Vater verbrachte, nach der Volksschulzeit, nur noch die Sommermonate im Dorf, in der restlichen Zeit lebte er im Internat. Die gesamte Familie Malus, die Verwandten mütterlicher- und väterlicherseits stammen aus der gleichen Gegend, aus Nachbarsdörfern. Etwa zeitgleich, als der Vater ins Internat kam, zog die Familie mütterlicherseits nach Istanbul, war jedoch nach wie vor mit den Dörfern verbunden.

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

Vor der Migration: Der Alltag als Bäuer*innen und das Zusammenleben kurdischer und armenischer Nachbar*innen in der Zeit vor dem Genozid Die gesamte Familie Malus, mütterlicherseits und väterlicherseits, kommt aus dem kurdischen Gebiet in der Türkei. Die Großeltern arbeiteten allesamt als Kleinbäuer*innen. Sie betrieben Viehzucht und versuchten, ihren Lebenserhalt als Selbstversorger*innen und durch die Produktion tierischer Lebensmittel zu sichern. »Also, das, was sie halt produziert haben, das war Käse, Joghurt, Butter, Weizen und Fleisch. Und Milch natürlich auch.« (Zeile 16-18) Malu spricht von ärmlichen Verhältnissen, prekären Bedingungen und schiebt gleich daraufhin ein, dass ein Großvater über etwas Gold verfügte, das »den« Armenier*innen, die in demselben Gebiet gelebt hatten, gehörte: Es war das Gold von den Armeniern, die 1917, wo der Genozid an ihnen ausgeübt wurde, und wir haben, also sie haben auch z.B. häufig armenische Frauen geheiratet und Kinder übernommen, weil die sonst massakriert worden wären. Und es war halt ihr Gold. Das Gold der Armenier und nicht unseres. (Zeile 20-23) Weshalb der Großvater Gold besaß, das ihm ursprünglich nicht gehörte, und welchem Aneignungsprozess oder Schenkungsmoment dieses zugrunde lag, wird nicht näher thematisiert. Aufgrund der Tatsache, dass die unterschiedlichen Ethnien der Kurd*innen und Armenier*innen gemeinsam, friedlich mit- und nebeneinander lebten, es Hochzeiten mit armenischen Frauen und »Übernahmen«, quasi informelle Adoptionen armenischer Kinder gab, »weil die sonst massakriert worden wären« (Zeile 22), lässt die Vermutung zu, dass das Gold nicht geraubt war. Deutungsoffen bleibt dennoch, wie und weshalb das Edelmetall in den Besitz des Großvaters kam. Der Protagonistin ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass das »bisschen Reichtum in der Familie […] nicht ihr Reichtum [war]. Es ist nicht gerecht. Es ist kein Reichtum, den sie sich selber erarbeitet haben« (Zeile 23f.). Malu erwähnt den Genozid an der armenischen Bevölkerung, der als historische Tatsache nachgewiesen ist, jedoch von der türkischen Regierung sowie Einzelpersonen bis heute dementiert wird (vgl. Bezwan 2008, S. 125ff.; Hofmann 2018, S. 68; Moré 2018, S. 114ff.). Wenn Malu über das kurdische Gebiet oder Kurdistan spricht, geht sie von dem historischen Raum der Vielfalt aus, auf dem Menschen unterschiedlicher Herkünfte und Religionen mit ihrer je eigenen Geschichte lebten und leben, deren Lebensrealitäten jedoch zum Spielball im Konflikt zwischen Machthabern und deren grausamen Interessen wurde. Der türkische Nationalstaat erkennt die historische und gegenwärtige Heterogenität der Bevölkerung der Vielen, den Vielvölkerstaat, nicht an. Im Zuge der Gleichmachung der dort und in den Grenzgebieten lebenden Menschen wurde eine panturkistische Ideologie verfolgt, die ein türkisches Großreich imaginierte. Die Vielfalt der Bevölkerung wurde problematisiert, durch staatliche Repressalien, Angstpolitik und Gewalt verdeckt sowie Menschenleben durch einen Genozid ausgelöscht. (Vgl. Bozay et al. 2012, S. 15 und S. 18) Malu erklärt, dass das Zusammenleben im Herkunftsort aufgrund der guten Nachbar*innenschaft »irgendwie« funktionierte, jedoch beschwerlich war. So entschieden sich beide Großväter dazu, ihr Glück vorerst im Ausland zu versuchen: Einer ging als Pionier nach Deutschland, der andere nach Österreich.

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Die Pionier*arbeit beider Großväter Der Großvater, der nach Franken migrierte, arbeitete zunächst in unterschiedlichen Firmen der Metall- und Glasindustrie, bis er eine Anstellung in der Fabrik fand und dort bis zu seiner Pensionierung blieb. Seine Frau und die Kinder verblieben bis zum Militärputsch 1980 in der Türkei. Also, die Oma wollte ihre Kinder nicht alleine lassen im Dorf. Sie hat es abgelehnt. Sie hat gesagt: »Egal, du kannst nach Deutschland gehen, du kannst dein Geld verdienen. Ich bin Bäuerin, ich kann uns versorgen.« Sie hat die Familie alleine verpflegt. […] Sie hat genug Käse gehabt, sie hat Brot gebacken. Also, sie hat sie durchgebracht. Sie hat es lange Zeit abgelehnt, wegzugehen. Also, ich glaube, bei ihr war es dann politisch motiviert, dass sie da rausmusste, dass sie wegziehen und hierherkommen musste. (Zeile 95-102) Der Opa väterlicherseits, der in Tirol war, war als Hausmeister und später jahrzehntelang als Bauarbeiter tätig. Die Großmutter, die minimal nach ihm zuzog, arbeitete über Jahrzehnte als Abwäscherin, die später nachgezogenen Verwandten waren im Tourismus beschäftigt. Ungefähr zeitgleich versuchten die Pionier*innen, die nun in Franken und in Tirol waren, Familienzusammenführungen zu organisieren. Bis diese realisiert werden konnten, wohnten die Kinder bei Verwandten oder Bekannten in der Türkei. Zunächst wurden in beiden Familienteilen die jüngsten Kinder nachgeholt, die Älteren blieben erstmals vor Ort. Auch Malus Vater wollte zunächst in der Türkei bleiben und sein begonnenes Studium abschließen. Er hatte seine zukünftige Frau kennengelernt, und sie überlegten, ob sie in der Türkei bleiben oder »nachziehen« sollten. Der Großvater als örtlich getrennter Beobachter der politischen und familialen Situation im Herkunftsort Besonders der Großvater in Franken, der Vater von Malus Mutter, zeigte sich bestrebt darin, die gesamte Familie nachzuholen. Er schickte den großen Teil seines Lohns zu den Familienmitgliedern in der Türkei. Der Großvater beobachtete die politische Situation von Deutschland aus und schlussfolgerte schließlich in den 1980er Jahren, ca. in der Zeit des dritten Putsches, dass seine Familie unbedingt nachkommen müsse, da es für sie in der Türkei nicht mehr sicher sei. Die politische Situation in der Türkei hatte sich besonders für marginalisierte Gruppen zugespitzt (siehe dazu Fallrekonstruktion Enes in Kap. 4.5). Malus Onkel, der Bruder ihrer Mutter, saß bereits seit Jahren im Gefängnis und die Situation für die Besucher*innen wurde zunehmend gefährlicher. Der Onkel Malus hatte Flyer gedruckt und war im linken kurdischen Widerstand organisiert. Insgesamt war er 8 Jahre lang inhaftiert. Weil mein ältester Onkel eben im Gefängnis war, und das war dann einfach viel zu gefährlich für alle anderen, weil sie mussten ständig in eine andere Stadt in der Türkei fahren, den Onkel besuchen, und für meinem Opa war das einfach nicht mehr auszuhalten. Also er hat es nicht mehr akzeptiert. Er hat gesagt, dass wir hier alle rausmüssen, weil sonst passiert euch was. (Zeile 53-57) Die Inhaftierung des Onkels ist ein traumatisches Ereignis für die gesamte Familie und wird im Gespräch mehrfach erläutert. Der Großvater konnte das Überleben der Familie

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

im Herkunftsort durch die Geldüberweisungen (vgl. Meyer 2020) sichern, dennoch war der Alltag der vor Ort Gebliebenen durch polizeiliche Willkür und Stigmatisierungen gezeichnet. Es war also eher ein Überleben als ein Leben. Also, meine Mutter erzählt immer, es war immer Gendarmerie vor der Tür und es war immer sehr schwer und du bist halt direkt abgestempelt worden. Sie haben zwar kein Geld gebraucht, weil eben der Opa aus Deutschland das Geld reinschicken konnte zum Überleben. Aber sie hat gesagt, es war trotzdem schwer in der Schule, denn wenn sie wissen, dass dein ältester Bruder linksradikal und im Gefängnis sitzt und er wird jetzt für die nächsten 20, 30 Jahre im Gefängnis sitzen, war das dann halt schwer. Aber dann haben sie meinen Onkel, also, er ist 8 Jahre gesessen, und dann haben sie ihn ein bisschen rausgekauft. Also mit dem Geld, das sie in Deutschland verdient haben, haben sie ihn quasi rausgekauft und dann haben sie ihn auch nach Deutschland geholt. (Zeile 57-66) Der Onkel wurde durch das in Deutschland verdiente Geld »ein bisschen rausgekauft« (Zeile 64), wie es Malu nennt. Seine Freilassung war nur möglich, da sich im korrumpierten System einige Verantwortliche finanziell bereichern wollten. Indem der Staat bzw. staatliche Vertreter*innen korrupt waren, war es also möglich, Bestechungsgeld einzusetzen und damit die Entlassung des politischen Gefangenen zu erwirken. Er konnte schließlich gemeinsam mit Malus Mutter und ihrer Großmutter, die sich bis zum Schluss geweigert hatte, zu gehen, nach Deutschland einreisen. Das Familiengedächtnis vor der Migration Malu erfasst, die Familie des Vaters oder den Vater selbst als Protagonisten betreffend, drei wichtige Erinnerungen und Erzählungen. Sie zeichnet diese bedeutenden Erinnerungen des familialen Gedächtnisses in der Zeit vor der Migration nach. Die erste Erzählung, die ihr durch den Vater intergenerationell weitergegeben wurde, betrifft habituelle Essenspraktiken und Logiken des Alltages. Es gab die Regelung, dass die Kinder erst dann mit dem Essen beginnen durften als die Erwachsenen, müde durch die anstrengende Feldarbeit und Viehzucht, bereits satt waren. Jungs bekamen Fleisch, Mädchen hingegen hauptsächlich Getreide. Es wurden also Unterschiede hinsichtlich der Behandlung der Geschlechter markiert, mitarbeiten mussten aber alle Kinder, ob Mädchen oder Bub, gleichermaßen. Der Vater bezeichnet sich in den Narrationen gerne als Hirte und beschreibt seine Tätigkeit beim Schafe Hüten als Gemeinschaftsarbeit mit den anderen Kindern aus der Familie und im Dorf. Er wuchs gemeinsam mit ihnen auf, ähnlich wie in einer »Großfamilie« (Zeile 125). In den Narrationen über die Kindheit des Vaters wird das Kollektiv, in dem sich die Bewohner*innen »kommunenartig« (Zeile 120) einrichteten, hervorgehoben. Sowohl die Kindererziehung als auch die Bewirtschaftung der Felder sowie die Ertragssicherung wurde gemeinschaftlich geteilt und aufgeteilt. Besitz spielte im Verständnis der Dorfbewohner*innen eine untergeordnete Rolle. Also mein Vater erzählt halt immer er, dass er Hirte ist, dass er immer mit anderen Kindern zusammen schon seit er 5 oder 6 ist, zusammen die Schafe hüten gegangen ist mit den Hunden. Sie haben schon sehr viel mitarbeiten müssen, und es war aber eher ein kollektives Aufziehen der Kinder. Also es gibt nicht mein Kind, dein Kind. Es

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gibt da einen Haufen Kinder. Sie müssen gefüttert werden. Sie waren kommunenartig. Genau. Es gibt auch nicht z.B. Grenzen in den Feldern, alle Felder werden zusammen gemäht und alles wird aufgeteilt. Und genau so ist es eben beim Hirten oder bei der Viehzucht. Es gibt natürlich Leute, die haben mehr Vieh, aber die gehen trotzdem alle zusammen auf die Alm. Also es ist nicht so, dass jeder sein kleines Eigentum hat, sondern es ist eher wie eine Großfamilie. (Zeile 118-125) Der Vater wertschätzt die kollektive Idee, auch Malu sympathisiert stellenweise mit ihr, wenngleich sie auch eine Gefahr in ihr sieht. Dadurch, dass die elterliche Fürsorge und Erziehung im Dorf erweitert wurde und nicht nur den eigenen Kindern galt, konnte nicht zwangsläufig sichergestellt werden, dass die Kinder auch den Schutz erhielten, der ihnen zusteht. Malu analysiert die Entstehung und Reproduktion einer Normalität, die es möglich machte, das Schlagen von Kindern zu legitimieren. Eigene und fremde Kinder gab es in diesem Sinne nicht. Während eine Vielzahl der Erwachsenen an dieser Logik der kollektiven Kindererziehung festhielt, wurde sie von der Großmutter mütterlicherseits größtenteils abgelehnt. Sie hat z.B. nie erlaubt, dass jemand anderes ihre Kinder schlägt oder so, sie hat jetzt selber ihre Kinder auch nie geschlagen. Es war halt nicht so etwas abwegig, dass Andere andere Kinder schlagen, weil es gibt einfach nicht dein Kind, mein Kind. Das ist alles zusammen. Wenn ein Kind ein Fenster einschlagen hat, dann ist es egal, wessen Kind es war. (Zeile 147-151) Die zweite dominante Erzählung im Familiengedächtnis (väterlicherseits) betrifft die Schulzeit des Vaters. Um die Volksschule zu erreichen, bewältigte die Kindergruppe aus dem Dorf – auch die Mädchen – tagtäglich einen Fußweg von über zehn Kilometern. Nach zwei Jahren Grundschule wurde der Vater aufs Internat geschickt. Die Jungen dort mussten nicht nur mit einigen Herausforderungen und Entbehrungen umgehen lernen, sondern nahmen vielfach Verletzungen aus dieser Zeit mit. Zum einen hatten sie großes Heimweh, zum anderen wurde ihnen ihr bisheriges Selbstverständnis Kurd*innen zu sein, abgesprochen. Stattdessen wurde ihnen wiederholt doziert, »dass sie Türken sind und dass jeder in der Türkei Türke ist« (Zeile 173f.). Malu spricht davon, dass Kurd*innen und Alevit*innen im staatlichen Internat zwangsislamisiert und assimiliert werden sollten (Zeile 172). Des Weiteren analysiert sie ausgehend von den Erzählungen des Vaters gewaltvolle Handlungen seitens der Erwachsenen, die körperliche und psychische Gewalt an den Kindern sowie temporäres Hungernlassen implizierten: Und auch sie haben sehr viel, sehr viel Gewalt erlebt im Internat. Also sie sind sehr oft geschlagen worden. Also sehr oft geschlagen worden. Sie sind hungrig, sehr lange hungrig gewesen. (Zeile 174-176) Diese traumatisierende Zeit im Internat wirke noch heute auf den Vater ein, bestimmte Erfahrungen konnte er nicht verarbeiten. Das Internet habe ihn gelernt, alleine zurechtkommen zu müssen. Die Mädchen des Dorfes wurden bewusst nicht in das Internet geschickt, da die Angst bestand, sie würden sexuell missbraucht werden. Körperlicher, seelischer Missbrauch sowie Machtmissbrauch standen auf der Tagesordnung und betraf auch viele der Jungen. Mehrfach büxten die Jungs aus dem Internat aus, kamen zurück

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

ins Dorf und bettelten, dort bleiben zu dürfen. Sie wurden dann auf den Traktor gesetzt und von einem Dorfbewohner wieder ins Internat zurückgebracht mit dem Argument: »Es wurde gesagt: ›Nein, ihr müsst Schule gehen. Uns geht’s so dreckig, ihr müsst etwas aus eurem Leben machen‹, hieß es dann.« (Zeile 190f.). Die Familien im Dorf wussten über die Bedeutung schulischer Bildung und legten Wert darauf, zumindest vereinzelte Kinder, vor allem die Jungen, auf weiterführende Schulen zu schicken, um in Folge einen möglichen Bildungs- und ökonomischen Erfolg zu generieren. Diese öffentlichen Bildungseinrichtungen waren jedoch weit verteilt und für die ländliche Bevölkerung schwer erreichbar. Private Schulen waren zu teuer und bevor die Schüler*innen keine Bildungsstätte besucht hätten, wurde die seelische und körperliche Gewalteinwirkung sowie Maßnahmen der Umerziehung im Internat widerwillig geduldet, ertragen oder aber ignoriert. Zugunsten von Bildung wurde die physische und psychische Unversehrtheit der Kinder gefährdet. Das Internat wurde aufgrund der geografischen Lage größtenteils von kurdischen, aber auch von türkischen Schüler*innen besucht, deren Familien zwangsumgesiedelt wurden, um die (pro-)kurdischen Gebiete zu bewohnen. Malu beschreibt, dass also einerseits im Internat kurdische Kinder »zwangsislamisiert« und »zwangstürkisiert« (Zeile 242) wurden und andererseits türkische Familien in die Umgebung zwangsmigrieren mussten. Beide dieser Realitäten prangert die Erzählerin an: »Aber die Türken wurden auch zwangsumgesiedelt in kurdische Gebiete, damit es zwangstürkisiert wird. Also es ist auch Zwangsmigration« (Zeile 242f.). Malu spricht wiederholt von »Umerziehung und Umzucht« (Zeile 233), die im Internat institutionalisiert wurden, und versteht darunter die staatlich, politisch und sozial konstruierte sowie reproduzierte Abwertung der kurdischen und/oder alevitischen Minderheit. Die Herabsetzung der einen »Gruppe« verfolgt die Logik, die andere »Gruppe« höher zu bewerten und erstere an zweitere gewaltvoll anzupassen. Die Erzählerin schlussfolgert: »Der Kurde hat halt keinen Wert, sein Leben hat halt keinen Wert. Und das hat man dann auch, glaube ich, an den Kindern ausgelassen« (Zeile 233f.). Die Nebenerzählung über den späteren Berufswunsch des Vaters, Pilot beim Militär zu werden, ist relevant für die Haupterzählung, da er laut Malu die Erklärung für die erfahrene Indoktrination im Internat gewesen sei. Die tagtägliche Einflussnahme im Internat habe ihn verdrängen lassen, dass er Kurde und Alevit sei: »Er war schon zwangstürkisiert. Er hätte sogar für die Türkei quasi Kurden bombardiert ((veränderter Tonfall))« (Zeile 263f.). Er bestand die körperliche Gesundheitskontrolle wegen attestierter Kurzsichtigkeit nicht. Malu ist froh über diese Diagnose, zweifelt sie jedoch an, da sich die vermeintliche Sehschwäche bis heute nicht gezeigt habe. Als Kind bemerkte Malu die vielen Narben auf dem Körper des Vaters. Sie fragte und bohrte rastlos nach, weshalb und woher er die Verletzungen habe. Er weigerte sich, über die Narben zu sprechen, bis er schließlich nachgab und in wenigen Worten berichtete, dass sie im Internat mit Gürteln geschlagen wurden. Er aber sei, da er ein sehr guter Schüler war und versucht habe, fleißig und brav zu sein, weitaus seltener »gezüchtigt« (Zeile 175) worden als seine Klassenkamerad*innen. Schüler*innen, die sich etwa weigerten, Türkisch zu sprechen, wurden besonders häufig körperlich misshandelt. Malu ist sicher, dass den Kindern in den Bildungsinstitutionen weitaus mehr psychischer und körperlicher Schaden zugefügt wurde, als der Vater erzählen möchte: »Und ich glaube

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auch, dass sie sicher viel Schlimmeres erlebt haben, es aber nie zur Sprache bringen« (Zeile 199f.) Die Annahme, dass der Vater nicht zu detailliert aus dieser Zeit berichten möchte, ist nachvollziehbar. Schließlich können spezifische Erinnerungen Retraumatisierungen auslösen (siehe dazu Kap. 6.2.2). Zudem werden bestimmte Themen vor den Kindern, unerheblich ob sie bereits erwachsen sind, bewusst verschwiegen oder nur vage angedeutet, um sie nicht zusätzlich zu belasten. Bei den intergenerationell weitergegebenen Erzählungen über das Internat handelt es sich um kaschierte und reduzierte Narrationen. Die Brutalität, mit der die Kinder behandelt wurden, wird aus mehreren Gründen verschwiegen, wohl um die Kinder und sich selbst rückwirkend als damaliges Kind zu schützen (siehe ebd.). Die soeben skizzierten Familienerinnerungen und -erzählungen betrafen lebensgeschichtliche Episoden im Herkunftskontext der väterlichen Familienlinie. Bezüglich des mütterlichen Familiengedächtnisses hebt Malu zwei Narrationen hervor. Die Erste betrifft ihre Mutter, die als Kind eher »behütet« aufwuchs. Das liege daran, dass ihre »Oma einfach ganz einen anderen Bezug zu ihren Kindern gehabt hat. Sie hat immer versucht, sie zu schützen« (Zeile 146f.). Die Mutter erzählte Malu mehrmals, dass sie der Direktor in der Schule eines Tages an den Ohren zog. Als sie Zuhause von diesem Erlebnis erzählte, ging Malus Großmutter unverzüglich in die Schule: Und meine Oma ist halt mit halb türkisch in die Schule einmarschiert und hat gesagt: »Ich knall dich ab!« ((Lacht auf)) Die ist eine Bäuerin, die hat eine Waffe, die knallt dich ab, wenn du noch mal ihr Kind anfasst. (Zeile 205f.) Die Mutter sei in einfachen, primitiven, aber liebevollen Verhältnissen aufgewachsen. Im Dorf war sie als Angehörige zweier Minderheiten durch die gelebte Gemeinschaftlichkeit geschützt, nach dem Umzug nach Istanbul musste sie vorsichtig sein, wie sie sich nach außen hin repräsentierte. Sich offen als Alevitin oder Kurdin zu verbalisieren, wurde ihr strikt untersagt: Meine Oma hat ihr verboten, zu sagen, dass sie Kurden sind. Wenn sie sagen, dass sie Kurdisch können, könnte es sein, dass unser Haus brennt. Deswegen sollten sie leise sein und so tun, als seien sie einfach Türken aus Istanbul. (Zeile 490-492) Der Onkel, sein antifaschistischer Widerstand und die Gefangenschaft Die wohl bis heute präsenteste Familienerzählung auf der mütterlichen Seite ist die Verhaftung und Haftzeit des Onkels sowie deren Auswirkung auf die Familie. Die Inhaftierung des Onkels, des Bruders der Mutter, war ein großes Thema in der Nachbarschaft und führte dazu, dass beinahe täglich Polizei vor dem Haus stand und die wenigen Familienmitglieder, die noch in der Türkei lebten, beobachteten. Sie entschieden sich dazu, dem Protagonisten durch Besuche zur Seite zu stehen und politisierten sich analog zur Verhaftung zusätzlich. Malu zufolge wäre bereits die Zugehörigkeit zu den »3 K« ausreichend dafür, ein politisches und soziales Bewusstsein zu entwickeln. Ferner sind die biografischen Erfahrungen maßgebend, die Ungleichheits- und Diskriminierungserfahrungen oder repressive Machtdemonstrationen beinhalten. Von nun an standen politische Diskurse auf der familialen Tagesordnung und wurden hinter der emotiona-

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len Befangenheit, Involviertheit und Betroffenheit auch z.B. gegenüber den Türk*innen, die zwangsumgesiedelt wurden, versteckt. Wenn du das 3K hast, […] wenn du das Wort türkisch dieses 3K hast, bist du in der Türkei fertig. Das ist Kurde, kızılbaş und Kommunist, also links. Also, aber in der Türkei werden alle Linke als Kommunisten abgestempelt und Kurde und kızılbaş ist Alevite. Also rot, weil sie sich ein rotes Tuch an den Kopf gebunden. Vor 100 Jahren. Und wenn du dieses 3K hast, bist du einfach, hast du einfach keinen Wert in der Türkei, und wir haben halt dieses Dreieck. Sie sind halt links gewesen, kurdisch und alevitisch, und das war einfach ein Todesurteil. (Zeile 239-245) Die Leugnung dieser drei Zugehörigkeiten wäre kaum möglich gewesen, denn im Pass, der eine Art Stammbaum enthielt, wurde detailliert Auskunft über die religiöse und ethnische Zugehörigkeit geliefert. Der Onkel, der gerade volljährig geworden war, hatte sich im antifaschistischen Widerstand organisiert. Zunächst druckte er gemeinsam mit Sympathisant*innen Bücher von Marx und Lenin und solche, die verboten und nur unter Hand zu bekommen waren. Die vor allem jungen Antifaschist*innen hatten diverse Herkunftsgeschichten und Backgrounds, gemeinsam war ihnen die politische Ideologie und der Wunsch nach Veränderung im totalitären System. Sie trafen sich im Geheimen und diskutierten zu Beginn im Untergrund. Einige von ihnen, auch Malus Onkel, schlossen sich einer linksextremen Organisation an. Nicht jede*r Anwärter*in wurde in die Vereinigung aufgenommen, sondern es wurde zuvor getestet, ob die Radikalität hinsichtlich Theorie und Praxis mit denen der Gründer*innen übereinstimmte. Die Lebenskosten stiegen Ende der 1970er, Anfang der 1980er rapide an, die Preise für Butter verdreifachten sich. So trafen die Mitglieder der Vereinigung eine folgenschwere Entscheidung. Sie stahlen LKWs und raubten damit Lager aus, in denen Lebensmittel aufbewahrt wurden. Die erbeuteten Nahrungsmittel wurden schließlich an Bedürftige verteilt. Malus Erklärung »es hats halt gerade eben gebraucht« (Zeile 292) lässt sich als eine Art Robin-Hood-Mythisierung deuten, denn die Antifaschist*innen agieren ähnlich wie Hood »In diesem Spannungsfeld, wo Unrecht und Gerechtigkeit, Armut und Reichtum aufeinanderstoßen«, (Leonhardt 2019, S. 74) wodurch »Hood sein Heldentum« etabliere. Und die haben dann angefangen, LKW oder Lager auszuplündern und das Essen dem Volk zu verteilen. Also, es war schon eine sehr utopische Art, aber es hat gut Gewichtigkeit bekommen, es hats halt gerade eben gebraucht. Die Leute hatten Hunger. Deswegen haben sie es gemacht. Sie haben hunderte Lager ausgeräumt, bewaffnet ausgeräumt und einfach im Armenviertel verteilt. (Zeile 290-294) Die Putschisten verhafteten und verschleppten im Zuge des dritten Staatsstreiches 1980 eine Vielzahl an Minderheiten und politischen Gegner*innen, darunter zahlreiche Linke. Besonders prekär war die Situation des Onkels wegen seiner Mehrfachzugehörigkeiten, die von den Wärtern im Gefängnis als Rechtfertigung genutzt wurden, um ihn zu foltern. »Er hat halt, er hat sehr viel mehr gelitten, weil er nicht nur links war, sondern auch ein Kurde und Alevit« (Zeile 301f.).

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In den ersten Wochen war die Familie völlig ahnungslos, wo er sich befand. Später erzählte der Onkel, dass er entführt worden war und erst Wochen später in ein reguläres Gefängnis gebracht wurde. Malus Großmutter investierte das Geld, das ihr Mann ihr aus Franken schickte, in mehrere Anwälte, die sich auf die Suche nach ihrem Sohn begaben. Da der juristische Weg wenig vielversprechend war, bestach sie einzelne Polizisten und Personen, die beim Militär waren. Schließlich tauchte sein Name in einem Polizeiregister auf, und die Familie erhielt die Information, dass er noch am Leben war. Den Gesundheitszustand beschreibt Malu folgendermaßen: Sie wurden sehr extrem gefoltert. Sie wurden unter Strom gesetzt. Sie wurden tagelang auf nassen, kalten Boden immer wieder mit Wasser bespritzt. Er hat sehr schwere Lungenprobleme, sehr schwere Krankheiten. […] Seine Lunge hat immer Wasser gespeichert, weil er eben Monate oder tagelang auf diesem kalten Boden hat schlafen müssen. Sie haben nichts zum Essen bekommen. (Zeile 300-308) Einer seiner Gefangenen war ein Medizinstudent. Dieser verfügte über ein bestimmtes medizinisches Know-how, mit dem er versuchte, seinen Kollegen weiterzuhelfen. Die Gefangenen waren auf sich allein gestellt und konnten von den Wärtern, deren Handeln politisch motiviert war, keine Hilfe erwarten, weshalb sie sich untereinander verbrüderten. Der Medizinstudent, der in der Erzählung namenlos bleibt, nahm eine wichtige Rolle unter den Inhaftierten ein. Er war bis auf wenige Ausnahmen die einzige medizinische Unterstützung, die die politischen Gefangenen, die in der Hierarchie im Gefängnis weit unten standen, erhielten. […] es hat eben irgendwer meinem Onkel die Nase zertrümmert, und der Medizinstudent hat Zündhölzer genommen, sie haben halt rauchen dürfen, und hat quasi die Zündhölzer in seine Nase reingesteckt und seiner Nase die Form wieder verliehen, dass seine Nase nicht so zusammenwächst, wie sie gebrochen ist. (Zeile 310-314) Nach den wenigen Besuchen, die Malus Mutter, Oma und Tanten gestattet wurden (Vater und Bruder waren als Pionier*innen in Deutschland), sagten die Soldaten zu ihm, er solle ihnen Namen der Komplizen nennen, ansonsten würden die Mutter und die Schwestern vergewaltigt werden. […] die Soldaten oder Polizisten, die haben immer gesagt: »So, jetzt vergewaltigen wir deine Schwester, deine Frau vor deinen Augen und du gibst uns alle Namen. Oder du nennst uns alles, was du gemacht hast und so.« Das war halt schwer für ihn, aber er hat immer gesagt: »Auch wenn ihr das macht, werde ich nichts sagen, weil meine Geschwister werden es verstehen, dass sie quasi mit Gewalt nichts erreichen werden. Und sie haben Ehre und ihr könnt ihnen die Ehre mit einer Vergewaltigung nicht nehmen.« (Zeile 327-333) Malu resümiert, dass es »Glück« war, dass er nicht im Diyarbakır-Gefängnis untergebracht war. Dieses hatte nach dem Militärputsch traurige Berühmtheit als »Diyarbakır cehennemi« erlangte, übersetzt bedeutet das so viel, wie »die Hölle von Diyarbakır«. Bis 1988 wurde dort das Kriegsrecht angewandt, die Haftanstalt galt als Kriegsgefängnis, in der unsagbare Folterpraktiken durchgeführt wurden und Menschenrechte reine Wort-

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

hülsen blieben: »Also, viele Kurden, Aleviten, Linke sind dort gestorben aufgrund von Folter« (Zeile 338). Ich glaube, dass das sehr viel, in der Türkei sehr viel kollektiv aufgearbeitet wird. Dort gibt es sehr wenige, die individuell zum Psychologen oder Therapeuten gehen und. Da das ja auch kein individueller Angriff ist, glaube ich auch, dass man damit ganz anders umgeht. Weil es einfach volle Struktur hat. (Zeile 346-349) Malu charakterisiert die Geschichte des Onkels, die sich in ähnlicher Art und Weise in vielen linken oder kurdischen und/oder alevitischen Familien der 1980er Jahre in der Türkei zutrug, als kollektive Geschichte, die auch eine gemeinschaftliche Aufarbeitung benötige, »Weil es einfach volle Struktur hat« (Zeile 349). Fraglich bleibt, inwieweit die von den Minderheiten erlebte kollektive Geschichte auch heute Teil eines nationalen Gedächtnisses (vgl. J. Assmann 1988) ist bzw. wie jenes Gedächtnis trotz der dominanten Erinnerungspolitik des Erdoĝan-Regimes als marginalisiertes Minderheitengedächtnis Bestand haben kann. Die Blickwinkel auf diesen gewaltvollen Teil türkischer, kurdischer, armenischer, alevitischer Geschichte sind nicht eindeutig, sie divergieren je nach Standpunkt, doch letztlich schreiben die vermeintlichen Sieger*innen die Geschichte. Umso wichtiger sind biografische (Nach-)Erzählungen und Erinnerungen, die diese Gräueltaten offenlegen, und Malu leistet dazu einen wesentlichen Beitrag. Die Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen waren keine »Verfehlungen« einzelner Wärter, sondern waren strukturell geprägt, sodass Normalisierungsprozesse der alltäglichen Gewalt und -ausübung praktiziert wurden. Die Gewalt war alltäglich. Malu erläutert, dass die Inhaftierungswelle und die Gewaltausübung »kein individueller Angriff« (Zeile 347) auf Einzelne waren, sondern dass gezielt gegen Minderheiten, Andersdenkende und politische Gegner*innen und ihre jeweiligen Familien vorgegangen wurde. Die militärisch groß angelegte Gefangennahme in Folge des dritten Militärputsches muss subsumiert werden als ein kollektiver Gewaltstreich gegenüber Menschen, die eine andere, heterogene, offene Gesellschaft für möglich und erstrebenswert hielten. Die Erzählerin erklärt, dass die Verhaftung ihres Onkels die gesamte Familie beeinflusste und auch aktuell noch die Nachfolgegeneration beschäftigt. Die politische Widerständigkeit der Großmutter, Mutter und Tante Malu rekonstruiert in unserem Gespräch eine Nebenerzählung, die sich nach Entführung bzw. Verhaftung des Onkels abspielte. Nachdem der Onkel verschwunden war und niemand seinen genauen Aufenthaltsort kannte, kam ein von der Erzählerin nicht näher beschriebener oder definierter Mann zur Großmutter und deren Tochter (Malus Mutter) nach Hause und warnte sie, dass ihr Sohn (Onkel) verhaftet worden sei und sie mögliches belastendes Material sofort vernichten sollten. Die Polizei wollte den Beweis dafür haben, dass er ein Terrorist sei. Malus Mutter war damals 14 Jahre alt. Ihre Mutter leitete sie dazu an, die Bücher und die Flyer, die ihr Bruder als Zeichen seines politischen Widerstandes gedruckt hatte, unverzüglich zu verbrennen. Sie warf die Schriften und Druckerzeugnisse in die Badewanne, übergoss sie mit Heizöl und zündete sie an. Kurz darauf öffnete die Polizei gewaltsam die Wohnung, durchsuchte und verwüstete sie. Die Frauen wurden von den Polizisten unter Druck gesetzt, geschlagen und bedroht. Einer der Soldaten öffnete schließlich die Badezimmertür, schaute hinein, bemerkte die ver-

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brannten Flyer und Bücher, doch schloss die Türe sogleich wieder; er sagte dem Kommandanten nicht, dass da die verkohlten Beweisstücke lagen. Der Kommandant, der die Durchsuchung leitete – Malus Mutter nennt ihn in ihren Narrationen für gewöhnlich den »faschistischen Kommandanten« (Zeile 436) –, sagte, sie sollen zum Fenster gehen und nach unten schauen, denn da würde der Sohn bzw. Bruder auf sie warten. Malus Mutter blickte zu dem Soldaten, und dieser deutete »mit den Augenbrauen [an], ›Nein, geht nicht raus!‹« (Zeile 439). Als sie nicht zum Fenster gingen, drohte der Kommandant damit, sie würden den jungen Mann nun das letzte Mal sehen, bevor sie ihn hinrichten, und die Frauen später abtransportieren würden, doch sie blieben standhaft. […] meine Mama, sie sagt immer, es war schon so voll schwer, weil du willst deinen Bruder sehen. Du denkst, er ist draußen, und sie sagen, sie werden ihn töten. Es kann sein, dass du ihn jetzt das letzte Mal sehen kannst. Aber es steht einfach ein ganz anderes Spiel dahinter. Wenn du rausschaust, werden sie dich erschießen […]. (Zeile 444-448) Nachdem die Soldaten ihre Wohnung verließen, berichteten die Nachbar*innen den Frauen, dass weitere Soldaten11 im Hof gestanden und ihre Gewehre in Richtung des Fensters gerichtet hatten. Die Anwesenheit vom Sohn bzw. Bruder war erfunden. Malus Mutter rätselt auch gegenwärtig noch darüber, weshalb der Soldat, der durch die Badezimmertür geblickt habe, sie nicht verraten habe. […] sie hat gesagt, es gab schon auch Polizisten, die waren wahrscheinlich Kurden oder Aleviten oder Linke oder einfach Menschen, die sich solidarisieren können und die halt Empathie haben und die haben uns schon so ein bisschen durchgeholfen, dass wir halt ein bisschen mehr unversehrt bleiben, aber trotzdem haben wir einfach voll oft Schläge bekommen von einem Polizisten und sind halt voll oft verfolgt worden und sie haben nicht mehr alleine rausgehen können. (Zeile 449-454) Malu wechselt in dieser Erzählung zwischen den Erzählperspektiven hin und her. Sie nutzt stellenweise die Außenperspektive, indem sie Erinnerungen der ersten und zweiten Generation anhand ihrer Narrationen nacherzählt und dabei von »ihr« oder »ihnen« spricht. Vereinzelt wechselt sie in die Wir-Erzählung, was entscheidend auf die solidarische Haltung der Erzählerin zu den Familienmitgliedern und deren Erfahrungen hindeutet (siehe Kap. 6.2.2). Die Tante von Malu trug die Tradition des illegalen Flyer-Druckens weiter. Ihre Gründe, ob sie sich mit dem Bruder solidarisieren wollte, sich für die politische Sache einsetzte, also linken Widerstand leisten wollte oder beides, werden nicht benannt. Jedoch zeichnet die Erzählerin nach, dass die Großeltern große Angst wegen dieser Aktionen hatten. Und irgendwann haben sie dann die Flyer in ihrer Tasche gefunden und haben sie halt voll fertiggemacht und gefragt, ob sie auch ins Gefängnis will, ob sie will, dass ihre

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Die Begriffe Soldaten und Polizisten (nur männlich) werden in dieser Erzählung von der Erzählerin synonym genutzt und von der Forscherin übernommen.

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Mutter nochmal so traurig ist. Aber meine Tante hat trotzdem weitergemacht, deswegen hatten eben meine Oma und mein Opa auch so Angst, dass jetzt beide Kinder oder alle Kinder quasi links werden und Revolutionäre werden und sie alle Kinder ans Gefängnis verlieren. (Zeile 457-461) Wegen der Verstrickung der Tante in politische sowie soziale Praktiken, die gefährlich und illegal waren, sahen die Großeltern die Familienzusammenführung in Deutschland als einzigen Ausweg aus der Situation, der Dank der Bemühungen des Großvaters, der in Franken Pionier*arbeit leistete, gelang. Malu erklärt die Migration der in der Türkei verbliebenen Familienmitglieder folgendermaßen: Es ist halt du wirst in der Türkei automatisch politisiert, vor allem wenn du kurdisch bist oder alevitisch. Und dann hat er [der Onkel] einfach nicht mehr dortbleiben können und so. (Zeile 46-48) Malus Mutter blieb als Einzige 1 Jahr länger in der Türkei, um ihre Ausbildung zu Ende zu machen. Aus dieser prägnanten Familienerzählung begründet die Erzählerin dreierlei: erstens ihre eigene politische Einstellung als Antifaschistin, die sie als »Den einzigen Weg, den du gehen kannst« (Zeile 376) bezeichnet. Zweitens überträgt Malu als Jugendliche das Unrechtsregime, unter dem die Mutter, der Onkel, die Oma und die Tanten gelitten hatten, eins zu eins auf den aktuellen türkischen Kontext, weswegen sie sich als Jugendliche weigerte, gemeinsam mit der Familie in die Türkei zu fahren und Verwandte oder Bekannte zu besuchen. Der türkische Staat in seiner gegenwärtigen Ausprägung ist für Malu nach wie vor ein »faschistischer Staat« (Zeile 390), der jedoch nicht die gesamte Bevölkerung widerspiegelt. Drittens ist für sie die Verknüpfung zwischen Gefängnis und der Zuschreibung, Migrant*in zu sein, »nicht so weit weg« (Zeile 352). »Ich denke, Gefängnis gehört zu uns irgendwie« (Zeile 353). Mit dieser Aussage erwägt sie, dass aufgrund der Kriminalisierung und Rassifizierung von Migrant*innen und Minderheiten eine vorschnelle Inhaftierung prinzipiell nicht ausgeschlossen werden kann. Sie ergänzt, dass sie als Kind »irgendwie stolz darauf« (Zeile 354) war, dass der Onkel im Gefängnis inhaftiert war. Erst später realisierte sie, was diese Zeit für ihn und die Familie bedeutete. Er ist chronisch krank und kämpft bis heute mit schwerwiegenden körperlichen und seelischen Erkrankungen. Und dann hörst du, wieso er im Gefängnis war, wenn du das dann ein bisschen nachvollziehen kannst, dass er gefoltert wurde und dass er so viel leiden musste aufgrund dessen, was er ist, es macht es schon so, es macht halt die Türkei riesig oder den türkischen Staat und dich macht es einfach winzig klein, und ich hab danach schon so eine Trotzhaltung gehabt, ich wollte nie in die Türkei gehen und ich habe gesagt, ich will da nicht hin. (Zeile 354-359) Die biografischen Sequenzen, die die Gefängniszeit und die familiären Kämpfe um die Freilassung des Onkels betreffen, veranschaulichen, dass Traumata und Traumatisierungen intergenerationell weitergegeben werden können. Die Kinder des Onkels, aber auch Malu als Nichte, zeigen sich betroffen und schockiert. Malu findet es spannend,

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dass ihre Cousinen und Cousins trotz der erzählten Geschichten und Erfahrungen des Vaters nicht linksradikal geworden seien, denn: Entweder entscheidest du dich für Unterdrückung oder gegen. Es gibt in der Türkei kein »Mir ist egal«. Egal gibt’s nicht, weil du bist einfach jeden Tag damit konfrontiert. Es ist ein bisschen wie Rassismus. »Mir ist Rassismus egal«, geht nicht. Du bist rassistisch, die Struktur ist rassistisch und der andere, der Rassismus erlebt. Also, es zieht sich durch die ganze Gesellschaft, und es ist nicht etwas, was nur Migranten betrifft. Und in der Türkei, finde ich auch, da gibt es daneben noch diese nationale Frage oder religiöse Frage. Also, der türkische Staat ist ein faschistischer Staat. Du hast gar keine andere Chance. Entweder leistest du Widerstand oder du schaust weg. Nein, wegschauen geht nicht, oder du arbeitest mit denen zusammen. (Zeile 387-391) Die Migrationsentscheidung der Eltern als Einflussfaktor auf die Biografie der Erzählerin Malus Eltern lernten sich als junge Erwachsene im besagten Dorf kennen. Es sei Tradition, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Sommer aus den Städten und Ländern, in denen sie nun lebten, anreisen und den Älteren und Verwandten bei der Feldarbeit und Viehwirtschaft helfen. Sie schrieben sich zunächst Briefe. Der Vater, der inzwischen nach Tirol gezogen und dort sein Studium, das er in der Türkei begonnen hatte abschließen wollte, zog schließlich zu seiner Frau nach Deutschland. Das Studium konnte er nicht beenden, stattdessen arbeitete er nun in der Fabrik, in der auch sein Vater arbeitete. Malu kam in Deutschland in einem Dorf zur Welt. Über die Zeit dort sagt sie: […] wenn von dir keine Gefahr ausgeht, ihrer Meinung nach, ((lacht auf)) […] und wenn sie sehen, du arbeitest, deine Kinder gehen hier zur Schule, dann glaube ich, dass sie dich einfach viel stärker und schneller in die eigene Gesellschaft aufnehmen. (Zeile 543-546) Malus Eltern entschieden sich dazu, nach Tirol zu gehen und dort zu versuchen, als Unternehmer*innen in der Gastronomie Fuß zu fassen. Malu wohnte vorerst gemeinsam mit einem Onkel, seiner Frau sowie Malus Großeltern im gemeinsamen Haus, anschließend wurde sie von den Eltern, die täglich rund 16 Stunden arbeiten, nachgeholt. Schlaglichter im Bildungsprozess In Malus Schulzeit, die sich in Franken und in Tirol abspielt, wird sie regelmäßig von Lehrer*innen und Mitschüler*innen beurteilt. Insbesondere am Gymnasium, das Malu als christlich und weiß geprägt beschreibt, werden ihre Handlungen im Unterricht automatisch als kulturelle Ergebnisse und nicht als eigenständige, autonome Vorgehensweisen pauschalisiert. Sie erfährt permanent Übertragungen ethnisierender und kultureller Deutungsmuster: Und wenn du schwätzt, dann gehört das zu deiner Kultur, weil es heißt, wir labern viel ((lacht auf)). Und wenn du laut bist, dann gehört das zu deiner Kultur, und wenn du dreckig bist, gehört das zu deiner Kultur. (Zeile 747-749)

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

Als eine Lehrerin Malu, als sie Schnupfen hat, als »türkisches Schweinchen« (Zeile 745) tituliert, brechen die Dämme: Ich hab dann gesagt: »Ich bin kein türkisches Schweinchen. Nein, ich bin erstens keine Türkin, zweitens kein Schwein!« Und es ist richtig ausgeartet. Sie [die Lehrerin] hat die Klasse verlassen müssen, weil mich hat man schon festgehalten. (Zeile 763-765) Die Mutter wurde daraufhin mit den Worten kontaktiert, ihre Tochter zeige in der Schule aggressives Verhalten. Malu ging fortan nicht mehr zum Unterricht und beendete ihre Schulbildung ohne Abitur. Heutet arbeitet sie im Familienbetrieb. Die Eltern äußerten vereinzelt den Wunsch, sie möge die Matura nachholen und studieren, aber Malu entscheidet sich bewusst dagegen. Stattdessen übernimmt sie im Restaurant der Eltern, die sie als »recht progressive Eltern« (Zeile 963) bezeichnet, mit denen sie »viel Glück« (ebd.) habe, einen Großteil der Schichten und würdigt damit deren Jahrzehnte lange harte Arbeit und zeigt Verständnis dafür, dass sie vor allem auch bürokratische Aufgaben übernehmen soll. Die politische Positionierung der Erzählerin Nach der Migration hätten die Eltern erstmals in Österreich Rassismus erfahren. Gerade seit der Gründung des Unternehmens häuften sich rassistisch motivierte Vorfälle, nicht nur einmal wurde auf die Außenwand des Restaurants ein Hakenkreuz gesprüht. »In unser Auto wurde auch ein Hakenkreuz rein gekratzt« (Zeile 1019f.). Das Restaurant befindet sich in einem Seitental Tirols und ist immer gut besucht, doch es sei gleichzeitig der Raum, in dem sich Alltagsrassismus und Prozesse des Othering (vgl. Riegel 2016) in konzentrierter Form manifestieren würden. Malu berichtet davon, dass der Kundenkontakt mit Gäst*innen teilweise Dialoge befördern würde, die sie nicht so dastehen lasse wolle. Etwa die Frage nach der Herkunft (siehe Fallrekonstruktion Tania in Kap. 7.2) ist omnipräsent. Manchmal erklärt Malu, dass sie in Deutschland geboren ist und die deutsche Staatsbürgerschaft habe. Wenn das Gegenüber nachbohrt und repetitiv nach ihren »Wurzeln« fragt, entgegnet sie, dass sie kein Baum sei. Auf vermehrtes Nachfragen reagiert sie mit der Gegenfrage: Brauchst du den Ariernachweis? Und dann sind sie eh so: »Okay. Wir haben es verstanden. Und seit wann leben deine Großeltern in Deutschland?« Und dann sage ich: »Sicher genauso lange wie deine Großeltern in Deutschland sind.« Es ist einfach nur rassistisch […] (Zeile 1199-1202) Es geht der Erzählerin mit der provokanten und irritierenden Gegenfrage »Brauchst du den Ariernachweis?« (Zeile 1199) nicht darum, die unsagbaren Gräueltaten des Nationalsozialismus zu relativieren. Sie ist aufgrund des permanenten Nachfragens, woher sie wirklich komme, sowohl Ausweg als auch (Gegen-)Strategie, um dem*der Fragenden zu verdeutlichen, dass die Grenzen des Fragbaren nun erreicht seien. Zudem reagiert sie aus der Erfahrung heraus, beinahe täglich als Andere festgeschrieben zu werden und das Wort »Ariernachweis« fungiert dabei als ein Signalwort, das die Richtung des Gespräches bzw. die Unterhaltung insgesamt für beendet erklärt.

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Ausdrücklich deutschsprachige Kund*innen wären an privaten Themen wie ihrer Herkunft interessiert, Gäst*innen aus anderen Kontexten würden eher Banalitäten wie Geplänkel über das Wetter austauschen wollen: […] jeder einzelne Deutschsprachige hat mich gefragt, wo ich her bin. Engländer nicht, Holländer auch nicht so, aber Deutschsprachige, Schweiz, Österreich, Deutschland alle. (Zeile 1168f.) Malus Partner, der ab und an im Familienunternehmen aushilft, erfährt genauso diskriminierende und rassistische Anrufungen: Und bei ihm heißt es immer: »Türke, mach mal Pizza!« oder: »Isst du Schweinefleisch oder schlägst du deine Frau?« oder: »Musst du fünfmal am Tag beten?« (Zeile 1152f.) Malu betont, dass es durchaus Kund*innen gäbe, die sie nicht bediene und mit dem Verweis auf das Hausrecht fortschicke, wie z.B. jüngst einen Mann, der sich offen als Nazi bezeichnete. Und ich will in unserem Lokal einfach keine rechten Menschen bedienen und auch Menschen, die keine eigene Meinung haben, will ich auch nicht bedienen. Ich bediene sicher auch rechte Menschen, aber ohne es zu wissen. (Zeile 1137-1139) Diese offene Grundhaltung, keine Rechten zu bewirtschaften, ist ein Anliegen der Protagonistin, obwohl sie damit sich, die Familie und das Unternehmen verletzlich macht. In der touristisch geprägten Gemeinde habe sich herumgesprochen, dass Malu diese Überzeugung offen vertrete. Temporär lebt Malu gemeinsam mit ihrem Partner in der Nähe des Restaurantstandortes. Sie entschließen sich dazu, in die nächstgelegene Stadt zu ziehen, denn »ich hatte Angst, dass jeden Moment ein Angriff passiert« (Zeile 1052). Die Erzählerin zieht Parallelen zu den NSU-Morden in Deutschland und erläutert: »Du bist die einzige Angriffsfläche, die es in diesem Dorf gibt« (Zeile 1055) und fügt hinzu: »Ich erwarte diesen Angriff. Also ich erwarte es, es klingt scheiße, ich meine nicht direkt erwarten, aber ich befürchte, dass es (bricht ab).« (Zeile 1733f.) Trotz der fortdauernden Angst vor rechter Gewalt möchte Malu sich und ihre politischen Aktivitäten, die sie mit ihren »weltweiten politischen Freunden« (Zeile 1363) teilt, nicht einschränken lassen. In diesem Zusammenhang erzählt sie von der zuletzt besuchten Demonstration in Wien, in der sich prokurdische und österreichischkurdische Linke versammelt hätten, um den dort aufmarschierenden österreichischtürkischen Faschist*innen Paroli zu bieten. Die Protagonistin hält das Aufstehen gegen die Grauen Wölfe (vgl. Bozay et al. 2012), einer türkisch-österreichisch-nationalistischen und faschistischen Gruppe, für absolut notwendig, kritisiert jedoch die Forderungen linker Protestierender, Erstere in die Türkei abzuschieben oder verhaften zu lassen. Sie argumentiert damit, dass die rechtsextremen Demonstrant*innen »Faschisten [seien], die hier geboren sind« (Zeile 1454 f). »Die Eltern sind zwar aus der Türkei. Eigentlich sind es aber fast schon österreichische Nazis, auch wenn sie das nicht hören wollen« (Zeile 1455ff.). Damit seien die Grauen Wölfe nicht nur ein Problem, das die türkische Bevölkerung und Politik tangiere, sondern die österreichische gleichermaßen. Es ginge nicht an, marginalisierte Gruppen gegeneinander auszuspielen. Sie als Antifaschistin opponiere gegen Faschist*innen. Ob diese migriert wären oder nicht, sei in diesem

6. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

Moment nicht von Belang. »Und als linke Antifaschistin stelle ich mich dagegen. Da gehts um links gegen rechts« (Zeile 1469f.). Des Weiteren kritisiert Malu, dass sich während der Demo linksgerichtete Personen an die Polizist*innen vor Ort, quasi den ideologischen Feind wandten, mit dem Wissen, dass der Polizeiapparat Rassismus strukturell befördern und des Öfteren gegen die migrantische und/oder linke Community vorgehen würde (»Die Polizei ist das Rassistischste, was wir in Österreich haben«, Zeile 1460; vgl. Rotter 2022, S. 143). Malu bezieht sich in ihrer Einwendung, wie gefährlich es wäre, zu skandieren, man solle die Rechtsextremen abschieben, primär auf das Phänomen, dass sich vielfach marginalisierte Jugendliche von den Grauen Wölfen fasziniert zeigten. Es müsse im Interesse der Gesellschaft sein, zu versuchen, den Jugendlichen einen Ausweg aus der menschenverachtenden Weltanschauung zu vermitteln. Ferner würde eine Verbannung der Rechtsextremen das Problem nationalistischer und faschistischer Ideologien nicht lösen, lediglich verschieben. Malu hält es für nicht vereinbar, einerseits gegen Polizeigewalt aufzustehen und andererseits zu fordern, die Polizei solle mit Härte gegen politische Gegner*innen vorgehen, denn letztlich ginge es auch darum, links-ideologische Vorstellungen nicht zu verraten, indem sie nun kontra Gegenspieler*innen angewandt würden. Malu fasst zusammen, wie traurig sie es findet, dass die Demonstration eskalierte, und wie falsch die Entscheidung gewesen sei, die Demonstration ultra-nationalistischer Gruppen ausgerechnet im 10. Wiener Gemeindebezirk zu erlauben, wo sich doch dort das Ernst-Kirchweger-Haus, kurz EHK, befindet, ein antifaschistischer Raum, in dem unter anderem das ATIGF, ein linker türkischer Verein, sowie offene Jugendräume für mehrheimische Jugendliche untergebracht seien. Die Protagonistin bekräftigt, dass bestimmte Werte, Grundsätze, Haltungen und Wahrheiten nicht verhandelbar seien, etwa dass das EKH nicht angegriffen werden dürfe. Das Ereignis »zwischen uns Migranten« (Zeile 1505)12 habe zu vielen neuen Problemen geführt, und das, obwohl »wir […] schon auf einem recht okayen Weg [waren]« (Zeile 1505). Also die AKP-ler haben sich ein bisschen zurückgezogen gehabt. Die Jugendlichen waren untereinander wieder recht okay. Es gab einfach eine Zeit, wo ich gemerkt habe, die reden nicht miteinander. Wir sind zusammen aufgewachsen, in gleiche Schulen gegangen. Sie reden nicht miteinander, weil die AKP spaltet. Und es gibt linke und rechte Jugendliche und Gedankengut, und die reden nicht miteinander, obwohl es ja so viel zum Teilen gibt. (Zeile 1508-1513) Malu skandiert, dass die Jugendarbeit und die informellen Annäherungen mehrheimischer Jugendlicher, die sich politisch unterschiedlich positionieren, durch diese Demo zunichte gemacht wurden und nun neuerliche Anstrengungen der Annäherung benötigen würden.

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Mit »zwischen uns Migranten« meint Malu an dieser Stelle Menschen mit mehrheimischen Bezügen, die sich als links oder rechts bzw. mitte-rechts positionieren. Sie bezieht sich nicht auf rechtsextreme Menschen oder Gruppierungen.

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Fazit Malus biografischen Erzählungen können nicht unabhängig von ihrem Linkssein und der kurdischen sowie alevitischen Vergemeinschaftung rekonstruiert werden. Ihre Politisierung hat ihren Ursprung in der familialen Auseinandersetzung mit dem Unrechtsregime der 1970er und 1980er Jahre in der Türkei und findet ihren Höhepunkt im Militärputsch 1980, der die Inhaftierung des Onkels zur Folge hatte. Die Geschichte eben dieses Onkels prägt Malu bis in der Gegenwart. Linkssein ist also Teil der Familien- und eigenen Lebensgeschichte. Zugleich ist die politische Positionierung Resultat einer intergenerational transportierten Familienpraxis. Malu spricht von einer »produktiven Wut« (Zeile 1477), die sie dazu bringe, gegen Faschist*innen aufzustehen. Sie zeichnet die linken Kämpfe und Ziele, die regional, national, transnational und global geführt werden müssten, als »anstrengend« (Zeile 1133) nach, aber nicht als unmöglich. Am Ende des Gespräches fasst Malu zusammen, dass sie einfach von einer besseren Welt träumt und sich wünscht, dass die vermeintlichen Unterschiede von Menschen nicht mehr dazu genutzt werden, sich auseinanderzudividieren. Aber wir müssen ja von einer besseren, schöneren Gesellschaft träumen und an eine sehr, sehr, sehr antirassistische Gesellschaft denken, wo dann die deutsche Sprache nicht als Machtinstrument verwendet wird, sondern einfach als Sprache. […] Ich will einfach, dass wir alle miteinander klarkommen. Ich wünsche mir, dass wir alle blind werden, dann sehen sie nicht, wie wir alle ausschauen ((lacht)). (Zeile 1806-1809)

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

Es liegt nahe, diese Arbeit mit ausgewählten biografischen Erzählungen junger Erwachsener der postmigrantischen Generation, den Erzählerinnen Nida und Tania, zu schließen, bevor eine Zusammenschau der empirisch-theoretischen Erkenntnisse sowie ein abschließender Ausblick erfolgt.

7.1 Nida: »Ich bin seit so vielen Jahren da, jetzt sollten sie schon wissen, was mein Vor- und was mein Nachname ist.« Kurzportrait Nida Nida ist Mitte zwanzig und Angestellte in einem großen Unternehmen. Sie ist überaus interessiert an den familiären Erzählungen vor, während und nach den Migrationen, die in der Zaza-Familie bereits vor der Zeit der bilateralen Anwerbeabkommen vollzogen und als intergenerationelle Fortführung der innerfamiliären Mobilität sowie als familiale Konstanten normalisiert werden. Sie fokussiert sich in der Biografiearbeit vor allem auf die Familiengeschichte väterlicherseits, die Familie mütterlicherseits lebt vorwiegend in Istanbul. Die Erzählerin möchte die unterschiedlichen Familienorte kennenlernen und organisiert unter anderem eine Reise in den Geburtsort des Vaters. Ferner will sie spezifische Erinnerungen im Familiengedächtnis an ihre zukünftigen Kinder vermitteln und bedauert, dass sie bislang keinen tieferen Zugang zur zazakischen Sprache, der Interaktionsform ihrer Eltern, gefunden hat. Nida schattiert die Mobilitätserfahrungen der Familie weiter aus, indem sie soziale Mobilität vielfältig gestaltet. Trotz der Gruppen, die sich auf dem Schulhof bilden, nämlich den als einheimisch und den als migrantisch gelesenen Jugendlichen, möchte sie sich keiner dauerhaft anschließen, sondern verständigt sich mit beiden. Beispiellos ist Nida durch eine spezifische Erfahrung im beruflichen Kontext beeinflusst, die sie durch die Unterstützung ihrer Familie bewältigen lernt.

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Postmigrantische Generation

Die Pionier*arbeit der ersten und zweiten Generation und die Prämisse der »Integration« Nida beginnt die biografische Rekonstruktion der Familiengeschichte mit folgendem Satz: »Okay dann fange ich ganz von vorne an, an das ich mich erinnern kann, was sie mir erzählt haben« (Zeile 8f.). Der Anspruch, in der Biografisierung (Sackmann 2013, S. 21) der familiären Lebensgeschichte bei den Lebensgeschichten und -welten der ersten Generation zu beginnen, ist nur möglich Dank der intergenerationell vermittelten Erinnerungen, die Nida durch Gespräche mit Familienmitgliedern der vorherigen Generationen erschließen kann. Nida verwendet, wenn sie über die Pionier*arbeit des Großvaters und vereinzelter Verwandten spricht, die umstrittene Bezeichnung »Gastarbeiter«.1 Ihr Opa väterlicherseits kam mit einem seiner Söhne, also Nidas Onkel, in den 1980er Jahren erst nach Vorarlberg und etwas später nach Tirol. Ihr Onkel entschied, dass es sinnvoll wäre, die anderen Geschwister nachzuholen. Der Großvater stimmte dem Vorschlag zu. Die beiden arbeiteten zunächst in einem bekannten österreichischen Unternehmen, als nach und nach weitere Onkel und Tanten nachkamen. Im Alter von rund zehn Jahren zog auch Nidas Vater hierher. Der besagte Onkel übernahm familiäre Aufgaben, die darin bestanden, für die Nachgekommenen zu dolmetschen, sie zu beraten und Behördengänge zu absolvieren. Nida zufolge war »der Opa […] immer arbeiten und der Onkel hat so ein Ding gehabt als Vaterrolle, also er war nicht so oft arbeiten, dafür hat er geschaut, dass mit der Familie alles passt.« (Zeile 18ff.). Letzterer war es auch, der entschied, dass die Familie in allen Bereichen der Gesellschaft ankommen müsse: »[…] dann hat er gesagt: ›Wir sind jetzt alle da, angekommen, aber wir müssen uns integrieren.‹« (Zeile 20f.). Für den Onkel stand fest, die Präsenz vor Ort bedeute, sich an die hiesigen Gegebenheiten anzupassen. Daran zeigt sich, wie wirkmächtig einerseits das Integrationsparadox (vgl. El-Mafaalani 2018; siehe Einleitung und Kap. 2.2) für Neudazugekommene sein kann und andererseits wie präsent die politische sowie gesellschaftliche Forderung nach Integration ist und damit die neuen Lebensrealitäten der Mehrheimischen determiniert. Der Onkel wollte für seine jüngeren Geschwister Möglichkeiten der Partizipation schaffen, indem er versuchte, sie in ihrer Freizeit in Sportvereine einzubinden. Nidas Vater durfte Sportkurse absolvieren, das Boxen ist bis heute eine große Passion von ihm. Er besuchte mehrmals in der Woche den Unterricht und fand dort Anschluss an gleichaltrige Jugendliche. In der Schule war es so, da hat er sich konzentrieren müssen, dass er Deutsch lernt, da hat er es sich nicht so verknüpfen können, aber beim Boxen hat er eine Gruppe gehabt, wo er geredet hat. (Zeile 25-27) Er besuchte die Hauptschule und wollte direkt mit einer Lehre beginnen, musste jedoch, da sein Deutsch als nicht gut genug eingestuft wurde, für ein Jahr in die Sonderschule (siehe Fallrekonstruktion Enes in Kap. 4.5). Anschließend begann er eine Lehre.

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Eine kritische Kontextualisierung des Begriffes sowie der Konzeption erfolgten in dieser Arbeit bereits mehrfach (siehe Kap. 4.3.1 und 2.2).

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

Die Migrationen vor der Mobilitätsbewegung nach Österreich Nida erzählt, dass sie ihren Großvater nie kennenlernte konnte, da er vor ihrer Geburt starb. Er stammte, so wurde ihr erzählt, aus einem kleinen, armen Dorf in Anatolien. […] da gibt es nichts aber in dem Dorf, also jeder von ihnen hat im Ausland gearbeitet, also ich kenne einen Onkel der hat in Pakistan gearbeitet, in Indien und es war immer schon so aufgeteilt, dass die Männer auswärts gearbeitet haben. (Zeile 42-45) Anlässlich der unzureichenden Jobmöglichkeiten im Dorf hatte sich die Tradition eingespielt, dass die jungen Männer, sobald sie volljährig waren, den Ort verließen, in die Großstadt oder ins Ausland gingen, um dort ökonomisches Kapital anzuhäufen. (Familiale) Arbeitsmigration war damit bereits vor der Etablierung der bilateralen Anwerbeabkommen alltäglich, der Prozess der Migration wird folglich über Generationen hinweg normalisiert. Nida erklärt, dass ihr Wissen über das Leben des Großvaters begrenzt sei, da ihr Vater nicht gerne über ihn spreche und bestimme Erinnerungen verdränge. Hierbei nutzt er den Zugriff auf Vergessenskulturen bzw. Techniken des Vergessens, indem er ein absichtliches Verbergen (vgl. A. Assmann 2016, S. 22f.) schmerzhafter Erinnerung vornimmt. Nida veranschaulicht, dass er bezüglich seines Vaters sehr emotional reagiere, weil er im Sprechen über das Elternteil »seinen Verlust wieder erlebt« (Zeile 41). Der Großvater selbst migrierte das erste Mal als Achtzehnjähriger in den Iran, um dort Geld zu verdienen. Als er hörte, es werden in einzelnen europäischen Staaten (männliche) Arbeiter gesucht, entschied er sich dazu, den Iran zu verlassen. Sein Ziel war schon immer […] nach Europa, er wollte eigentlich nach Berlin, aber dann hat es geheißen, nein in Berlin passt alles, sie brauchen keine Arbeiter. Dann hat er, genau das habe ich vergessen zu sagen, er ist nach Vorarlberg gekommen, damit er den Aufenthaltstitel kriegt, weil Tirol wollte Arbeiter, aber sie haben keinen Aufenthaltstitel genehmigt, dann ist er nach Vorarlberg, von Vorarlberg nach Tirol […] (Zeile 52-57) Seitens des Großvaters bestand der Wunsch zur temporären Arbeit nach Deutschland zu gehen. Ähnlich wie bei vielen weiteren Pionier*innen war Österreich nicht das erste Wunschziel, sondern wurde aus Zufall, Perspektivlosigkeit oder wie in Nidas Familie als Notlösung gewählt. Häufig wurde die finale Entscheidung für einen Ort aufgrund der bereits vorhandenen Netzwerke von Verwandten oder Bekannten, die bereits dort arbeiteten und wohnten, erleichtert. Im Gegensatz zu Deutschland, das in den Herkunftsorten bekannt war und auf eine große Arbeitslandschaft mit lukrativen Marken und Firmennamen blicken konnte, war das Nachbarland Österreich den Pionier*innen weitestgehend unbekannt bzw. ob seiner Größe und weitaus geringeren Anzahl an Großstädten tendenziell eher uninteressant. Die schrittweise Zusammenführung der Familienangehörigen Die Großeltern hatten als Jugendliche im Dorf geheiratet. Während der Großvater im Alter von 50 Jahren mit dem ältesten Sohn, der rund zwanzig Jahre jünger war, nach Tirol migrierte, blieb die Großmutter in der Zwischenzeit mit den jüngsten Kindern in

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der Türkei. Nach und nach zogen die älteren Kinder zum Großvater bis schließlich auch die Großmutter gemeinsam mit dem jüngsten Kind, als Letzte, nachkam. Nidas Oma schwärmte in Unterhaltungen mit der Enkeltochter Nida geradezu vom Ankunftsort und betonte den guten Lebensstandard für die Kinder und Enkelkinder. Im Zentrum der familiären Mobilität stand von Anfang an die Überzeugung, die Migrationsbewegung würde die Ausgangsposition der jüngsten Generation erheblich verbessern. Nida zieht im großelterlichen Denken an die Kinder Parallelen zu ihrer Mutter, die stets sage: »[…] die Kinder sollen es fein haben, dann habe ich es auch fein« (Zeile 84). Der einzige Wermutstropfen der Großmutter war es, ihre eigenen Eltern in der Türkei zurücklassen zu müssen und sie nur noch aus der Ferne, etwa durch Remittances, unterstützen zu können. Familiäre Mottos und Ratschläge als intendierte biografische Hilfestellungen Im Laufe des Gespräches herauskristallisieren sich zwei Mottos, die sich durch die familiäre Logik ziehen, zum einen »Wir sind angekommen« (Zeile 102) und zum anderen: »nimm die Migration nicht als Ausrede [für negative Erfahrungen]« (Zeile 473). Nida zieht aus den familiären Erzählungen, die ihr zugetragen wurden, die Auffassung, weder Eltern noch Großeltern hätten es in Vorarlberg oder in Tirol sonderlich schwer gehabt. Sie mutmaßt: »Also ich glaube, weder haben sie diskriminierte Aussagen gehabt noch also gespürt, es hat immer alles gepasst« (Zeile 107f.). Diese generalisierende Annahme, es habe alles gepasst, ist geleitet durch den familiär dominanten Ausspruch: »Wir sind angekommen« (Zeile 102). Zu Beginn war die Verbundenheit zur türkischen Community, die im Zuge der Pionier*arbeit vor Ort entstand, einschneidend. Bald darauf wurde innerfamiliär entschieden, man müsse in der Gesellschaft »noch mehr ankommen« (Zeile 104), weshalb integrative Bestrebungen, wie das möglichst einwandfreie Sprechen der hiesigen Erstsprache und die Mitwirkung in Vereinen, effektuiert wurden. Es lässt sich ein strategisches Denken und Handeln dahingehend feststellen, partizipativ am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, mit der langfristigen Bestrebung den Kindern Türen und Angeln für ihre Zukunft zu öffnen. Die Handlungsweisen der ersten und zweiten Generation lassen sich daher als ausgeprägte Bemühungen lesen, für die postmigrantische Generation Aufstiegsmöglichkeiten zu arrangieren. Das geografische Ankommen der Großeltern und Eltern sollte idealerweise im Ankommen der dritten Generation in sämtlichen Teilen und (Bildungs-)Etagen der Gesellschaft münden. Dahingehend lässt sich auch die zweite Leitlinie der Familie, die Migrationserfahrung nicht als Rechtfertigung für Misserfolg oder Schwierigkeiten heranzuziehen, interpretieren. Dieser Satz, der Nidas Biografie noch nachdrücklich beeinflussen wird, ist in ähnlicher Weise in der schulischen Biografie des Vaters präsent. Auf die Nachfrage, wie es dem Vater in der Sonderschule ging, erzählt Nida, dass die Zusammensetzung der Klassen konträr war zur aktuellen Schüler*innenschaft in den Sonderschulen. Nein wiederum weil eben viele Türken waren, die Sonderschule wie sie jetzt ist schaut anders aus, wirklich für Kinder, die sich ein bisschen schwerer tun und so aber früher war es so, hat der Papa erzählt, da waren keine Kinder mit Behinderungen, sondern Kinder die Migranten waren und die deutsche Sprache nicht konnten. (Zeile 112-115) Mit dem Verweis, dass in der Institution heute, im Gegensatz zu damals, Schüler*innen unterrichtet werden, die »sich ein bisschen schwerer tun« (Zeile 113), untermauert die

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

Erzählerin den Anspruch, Normalität hinsichtlich der biografischen Erfahrungen des Vaters zu erzeugen und zu versichern, dass er noch nicht genügend Deutsch konnte, davon abgesehen »geeignet« für die Regelschule war. Die Einschulung des Vaters wird daher als unabwendbar anlässlich des »sprachlichen Problems« dargestellt, was in direktem Zusammenhang mit der Stigmatisierung der Sonderschulen steht. Schüler*innen, die eine Sonderschule besuchen (müssen), erfahren eine konstruierte Besonderung, die nicht zuletzt im Lebenslauf festgeschrieben wird. Während Bildungssysteme außerhalb von Österreich, etwa Italien, erfolgreich auf eine Weiterführung der Sonderschulen, in denen Prozesse der Migrantisierung, Rassifizierung und Entnormalisierung von Behinderung reproduziert werden, verzichten, haben Lehrpersonen hierzulande immer noch die Möglichkeit, Kinder und Jugendliche für diese Schulform vorzuschlagen. Den vermeintlichen Expert*innen kommt hierbei eine übergroße Entscheidungsmacht zu, die (Bildungs-)Biografien ruinieren kann (vgl. Gomolla/Radtke 2009). Die in Nidas Nacherzählung erfolgte Auswahl der Schüler*innen aus migrierten Familien spricht dafür, dass die Sonderschule ein veraltetes Schulmodell ist, das abgeschafft werden müsste, da es zu Exklusion und nicht Inklusion, wie propagiert, führt. Für tatsächliche Schwierigkeiten beim Erlernen oder Ausüben der Unterrichtssprache ist die Sonderschule nicht der geeignete Ort, sondern alternative Ansätze und Unterstützungsmaßnahmen, auch außerhalb der Institutionen, sind notwendig. Wiewohl wissen die Besucher*innen über die Außenwirkung der Sonderschule und erfahren vielfach eine vorschnelle Kategorisierung als Schulversager*innen. Diese Stigmatisierung abzulegen erweist sich als schwierig, weswegen Nidas Vaters hin und wieder entsetzt formuliere: »Ich war in der Sonderschule!« (Zeile 116) und sofort einwende: Aber es war ja nicht so, also das hat nichts mit mir persönlich zu tun, sondern nur weil ich halt zu jung war oder halt mir schwer getan habe mit der deutschen Sprache. (Zeile 117f.) Die Darstellungsweise des Vaters, für die Regelschule zu jung gewesen zu sein und Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache gehabt zu haben, schließt eine vorurteilsbeladene oder migrationsfeindliche Auswahlpraxis aus. Der Vater spricht zwar von der »Sprachproblematik«, problematisiert jedoch nicht die familiäre Migrationserfahrung als ursächlich für den Schulbesuch. Selbstverständlich sind weder Sprachkompetenz noch Schulerfolg bzw. Schulmisserfolg migrationsspezifisch, werden aber institutionell und pädagogisch als Gründe klassifiziert. Die Tatsache, dass viele der Schüler*innen nicht Deutsch als Erstsprache sprechen, deutet des Weiteren auf eine systematische, institutionalisierte Auswahl bestimmter Schülergruppen hin, denn letztlich legitimiert sich die Einrichtung nur so lange, wie eine potenzielle Schüler*innenschaft besteht und wenn das bedeutet, die Klientel absichtlich in marginalisierten Gruppen zu suchen (siehe Fallrekonstruktion Enes in Kap. 4.5). Das Kennenlernen der Eltern, die Mystifikation »des Europäers« und die Enttäuschung über Innsbruck Nidas Eltern wurden einander in der Türkei, in der Hoffnung, sie würden sich ineinander verlieben, vorgestellt. Der Vater arbeitete damals bereits in Tirol und war für die Sommermonate nach Anatolien zurückgekehrt. Er wurde Nidas Mutter, um ihn inter-

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essant zu machen, als »Europäer« prätendiert und inszeniert. In der Mystifikation und Konstruktion »eines Europäers« werden selektive Wahrnehmungen verallgemeinert. Europa wiederum wird als europäischer Traum (vgl. A. Assmann 2018a) weichgezeichnet, der Raum biete für Neuankömmlinge eine hoffnungsvolle Zukunft. Dabei kamen die Elternteile aus dem gleichen geografischen und sozialen Kontext, der Vater gehört genauso wie die Mutter zu der Volksgruppe der Zaza, deren Sprache Zazakisch2 ist (vgl. Werner 2019). Die stereotype Vorstellung der Mutter, wie ein Europäer aussehe oder sich angeblich verhalte, divergierte. »Sie hat gesagt: ›Einen Europäer hätte ich mir anders vorgestellt‹« (Zeile 144f.). Als der Vater wieder zurück nach Tirol ging, hielten sie weiterhin zueinander Kontakt. Zunächst war die Beziehung freundschaftlicher Natur, rund ein Jahr später kam er wieder in die Türkei, die beiden verlobten sich und heiraten. Die Mutter, die als »Aufpasserin« (Zeile 167) für die Geschwister, wenige Jahre lang gemeinsam mit ihren Brüdern in einer türkischen Großstadt gelebt und diese versorgt hatte, – sie waren von ihrem Vater, der Bürgermeister im Dorf gewesen war und den Ort selbst nicht verlassen wollte, in die Metropole geschickt worden – war enttäuscht als sie in Innsbruck ankam. Der Großvater zog später selbst nach Istanbul. […] sie erzählt immer, sie hat sich das anders vorgestellt, also der Papa sagt so, er hat Istanbul noch nicht gesehen, für ihn war Innsbruck eine Großstadt, deswegen war es für ihn ein Wow-Effekt. Die Mama sagt wiederum, […] sie hat gesehen, was eine Großstadt ist, deswegen war Innsbruck jetzt nichts Besonderes für sie. (Zeile 175-178) Das frisch vermählte Paar wohnte vorerst bei den Eltern von Nidas Vater, bis sie sich was eigenes leisten konnten. Es zog einige Male um, arrangierte sich in verschiedenen Wohnkonstellationen, mal gemeinsam mit den Schwiegereltern, mal zusammen mit entfernteren Verwandten. Mittlerweile wohnen sie in einem Dorf in der Nähe der Tiroler Landeshauptstadt. »Meine Eltern sind Zazaken, aber ich weiß von nichts.« – Das mögliche Ende einer familiären Sprachtradition Nida beschreibt ihre Mutter als offene und selbstbewusste Person, die »die deutsche Sprache immer noch nicht so gut [kann]« (Zeile 198f.), aber ihrem Umfeld stolz erkläre: »Ich weiß ich rede falsch, aber ich rede« (Zeile 200f.). Anhand dieser Beschreibung lässt sich explizieren, wie sehr der Diskurs um Sprache und Sprachfähigkeit in das Alltagswissen und -handeln eingeschrieben ist. Die Mutter hatte nach eigenen Aussagen keine Zeit, um im Ankunftsort Hochdeutsch zu lernen, denn sie war damit beschäftigt, sich sowohl um ihre Kinder zu kümmern, den Haushalt zu führen und als Arbeitnehmerin zu arbeiten. Bis heute spricht sie mit ihrem Partner vorzugsweise Zazakisch, mit den Kindern Türkisch und im Alltag Tiroler Dialekt, der gewissermaßen zu ihrer Drittsprache avanciert ist. Nida selbst spricht kein Za-

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Die wissenschaftliche Quellenlage bezüglich der Zaza und ihrer Sprache ist sehr dünn. Ferner geht es hier in der Arbeit nicht darum, eine ethnologische Erfassung oder Beschreibung einer Volksgruppe zu generieren, sondern primär die Selbstbezeichnung von Nidas Eltern, Zazaken zu sein, ernst zu nehmen und anschließend zu versuchen, zu rekonstruieren, welche Bedeutung dieses Familienvermächtnis für die Erzählerin der postmigrantischen Generation hat.

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

zakisch, versteht jedoch wenige Begriffe. Die Artikulation wird mündlich weitergegeben und nicht verschriftlicht, wodurch die Sprache vergänglicher ist als Schriftsprachen. Die Gemeinschaft der Zaza ist also auf die intergenerationelle Weitergabe der Interaktionsform angewiesen. Das Zazakische indiziert, wie fluide eine Sprache sein kann, wenn sie von nur wenigen Personen gesprochen wird, so tue es der Erzählerin sehr leid, dass sie die innerfamiliäre Sprachtradition nicht an ihre späteren Kinder weitertragen könne: […] es tut mir schon weh, weil wenn irgendwann meine Mama stirbt und so, dann kann ich schon sagen, meine Eltern sind Zazaken aber ich weiß von nichts. (Zeile 297f.) Eine »Gemeinschaftskassa« und innerfamiliäre Sorgebeziehungen Die Mehrfachbelastung der Mutter bzw. der Eltern wurden verschärft durch die Krankheit und den späteren Tod Nidas Großvaters. Er hatte mit seinem Einkommen auch die Familien der Kinder finanziell unterstützt. So sah Nidas Mutter sich dazu verpflichtet, einen Anteil der Aufgaben ihres Schwiegervaters zu übernehmen und die nahen Verwandten sowie die durch Geburten neu entstandenen Kernfamilien zu assistieren. Die Eltern hätten immer versucht, »noch mehr Gas zu geben, damit sie wirklich jeden finanzieren können. Dann ist der Opa gestorben eben und sie hat gesagt: ›Wir haben keine Zeit zum Trauern gehabt, weil jeder ist arbeiten gegangen‹« (Zeile 233-236). Der Trauerprozess wurde weitestgehend vertragt bzw. verdrängt, um weiterhin in den Betrieben zu arbeiten und für das Kollektiv zu funktionieren. Nida spricht von einer Art »Gemeinschaftskassa« (Zeile 240), die durch gegenseitige ökonomische Beteiligung nach dem im anatolischen Dorf angewandten Prinzip, kollektiv geteilt wurde. Während die Verwandten im Dorf fortwährend mit existenziellen Fragen, wie »Haben wir genug Milch, wenn wir genug Eier haben, dass wir sie verkaufen, was ist, wenn die Tiere krank werden?« (Zeile 256f.) konfrontiert waren, änderte sich nach der Migration die Verfügbarkeit von Geld, denn »egal wie es ihnen finanziell schlecht gegangen ist, trotzdem haben sie gesehen, wir gehen morgen arbeiten, deswegen kriegen wir morgen Geld« (Zeile 254f.). Ein prägendes Ereignis als Anlass für die Etablierung einer mehrsprachigen Erziehung Nida erzählt vom ersten Kindergartentag ihres älteren Bruders. Das Erlebte ist nicht nur biografisch relevant für ihr Geschwisterteil, sondern beförderte einen Paradigmenwechsel in der Erziehung der postmigrantischen Generation, denn bis zu diesem Tag hin, sprach die Mutter mit dem Bruder vor allem Türkisch oder Zazakisch. […] am ersten Kindertagtag ist mein Bruder heimgekommen und hat voll zum Plärren angefangen und hat gesagt: »Ich wollte aufs Klo gehen, aber habe nicht gewusst, was Klo auf Deutsch bedeutet, ich habe es angedeutet, aber die Tante hat es zu spät verstanden«, und das hat ihm richtig schiach getan [es war ihm sehr unangenehm]. Dann hat die Mama gesagt: »Okay, das war ein Fehler von ihr«, sie muss jetzt alles dafür tun, dass er Deutsch lernt. […] wie mein Bruder mit sechs Jahren in die Schule gegangen ist, hat er gut Deutsch können also in den drei Jahren, hat meine Mama gesagt, hat er richtig gut gelernt und für die Mama war es auch, sie ist nie einen Kurs oder so gegangen, darauf ist sie volle stolz, sie hat immer gesagt, das habe ich mir selbst beigebracht […] dann bin ich auf die Welt gekommen […]. (Zeile 370-382)

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Die Mutter kaufte Bücher und lernte fortan gemeinsam mit dem Sohn Deutsch. Sie schwor sich, mit ihrer Tochter von klein auf vorwiegend Deutsch zu sprechen und sie überall hin mitzunehmen, damit sie die Sprache nebenbei hören und lernen kann. Es setzt ein Automatismus ein, sodass Nida wie selbstverständlich mit mehreren Sprachen gleichzeitig aufwächst und sie spielend lernt. Der Besuch des Kindergartens gestaltet sich für die Erzählerin, die zuvor pausenlos bei der Mutter ist, als tränenreich. Das kleine Kind ist ängstlich und fürchtet sich davor, nicht abgeholt zu werden. Nachdem sie erkennt, dass ihre Mutter verlässlich im Kindergarten erscheint, um sie nach Hause zu bringen, entspannt sie sich etwas. Nidas Schulzeit In der Grundschule sei Nida »die einzige Ausländerin« (Zeile 422) gewesen, doch das wäre kein Problem für sie gewesen. In der beiläufigen Rekonstruktion der Schulzeit nutzt Nida ambivalente Narrationen. Zum einen beschreibt sie sich als »Ausländerin«, wohl aus einer Außenperspektive bzw. Fremdheitsperspektive heraus. Zum anderen nutzt sie eine Entproblematisierungs- sowie Normalisierungsstrategie, mit der sie erklärt, dass es kein Problem gewesen wäre, dass sie die Einzige in der Klasse mit mehrheimischen Bezügen war. Die Formulierung »kein Problem« (Zeile 422f.), das später übersetzt wird mit »es war normal« (Zeile 423), bezieht sich auf zweierlei Blickpunkte, einerseits die Klassengemeinschaft inklusive der Lehrer*innen und andererseits die eigene Person. Die Erzählerin generiert mit dieser Erklärung den Konsens zwischen der Ich-Person und den außenstehenden Individuen, was für den Normalisierungsprozess ihrer Verortung im Bildungssystem zentral ist. Die Beschreibung »normal« bzw. »ganz normal« (Zeile 547) macht Nida an späterer Stelle nutzbar, als sie darauf hinweist, dass sie während der Schulzeit, sobald sie Schwierigkeiten oder Sorgen hat, in die Dorfkirche geht und dort betet. Es sei für die alevitische Familie opportun, katholische Beerdigungen oder Hochzeiten zu besuchen und die Kirche als Raum, der von der Familie als offen für alle Gläubigen interpretiert wird, zu gebrauchen. Nida positioniert sich als Gläubige. Die spaltende Frage hingegen, ob sie entweder an Mohammed oder an Jesus glaube, sei obsolet, da die beiden Propheten für sie denselben Propheten darstellen bzw. dieselbe religiöse Grundidee vermitteln würden. […] es war immer für uns ganz normal. Sie [die Mutter] hat auch gesagt: »Wenn du mal das Bedürfnis hast zu beten oder so kannst du auch in die Kirche.« Bei mir war es halt so, ich bin, was ich sagen kann, ich glaube an Gott und an alle Religionen was es gibt, also für mich ist der Jesus gleich wie der Mohammed, für mich gibt es da keinen Unterschied und oft wenn es mir nicht gut gegangen ist z.B. in der Hauptschulzeit war die Mama krank und das hat mich sehr belastet und da war ich oft in der Kirche […] (Zeile 547-552) Nida berichtet, dass sie den katholischen Religionsunterricht, der in der ersten Schulstunde stattfand, damit verbringen sollte, Mandalas zu malen, was sie als gegeben hinnimmt und nicht weiter anprangert. Für Schüler*innen divergierender Religionsgemeinschaften bzw. ohne Konfession wurde kein alternativer Religionsunterricht angeboten. Von dieser Erzählung abgesehen, nennt sie kaum Details hinsichtlich des Schulalltages in der Volksschule.

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

Die Hauptschule im Dorf wird von vier weiteren Jugendlichen besucht, die die Erzählerin als »Ausländer« (Zeile 435) fremdzeichnet, jedoch eine minimale Zusammengehörigkeit herstellt, indem sie anfügt: »[…] ich war nicht die einzige Ausländerin« (Zeile 435). Nida findet diesen Umstand, dass weitere mehrheimische Jugendliche die Schule besuchen, »komisch« (Zeile 436) und erklärt dies damit, dass »die Türken, die bei mir in der Umgebung waren, waren meine Cousinen und Cousins« (Zeile 438f.). Die Erzählerin zeigt sich irritiert, dass es weitere türkisch gelesene Jugendliche in den Nachbarsdörfern gab, die sie bis dato nicht kannte. Auf der weiterführenden berufsbildenden Schule findet eine rigorose Cliquenbildung statt. Nida, die sich zuvor vielfach mit den einheimischen Nachbarskindern trifft, befindet sich nun in einem Spannungsfeld zwischen zwei künstlich erzeugten Gruppen, den als österreichisch und den als türkisch konstruierten Jugendlichen.3 Die Dorfkinder, mit denen sie zuvor befreundet war, hätten »oft rassistische Sachen gesagt, denn sie haben nur mich gekannt und jetzt auf einmal sind sie voll unter Türken und oft haben sie […] ein bisschen verarscht haben sie mich, dann haben die Türken zu mir gesagt: ›Komm hock dich zu uns, du gehörst zu uns.‹ […]« (Zeile 612-614). Nida, die, wie im Übrigen viele der Gleichaltrigen genauso, sowohl ein- als auch mehrheimisch ist und das vorgefertigte Raster, das Eindeutigkeit fordert, sprengt, fühlt sich in dieser Spaltung nicht wohl. Sie beobachtet, wie auf beiden Seiten stereotype Ansichten über die vermeintlich »Anderen« reproduziert werden und sich dadurch die Differenzen verstärken. Nida möchte sich trotz vereinzelter rassistischer Äußerungen seitens der Mitschüler*innen nicht von den einzelnen Gruppen vereinnahmen lassen. Sie versucht sich mit und zwischen den Cliquen zu bewegen, was ihr meist gelingt. Diesbezüglich fasst sie zusammen: »[…] ich war immer dazwischen, es hat mir gepasst, weil ich gewusst habe, beide Seiten akzeptieren mich, beide Seiten schätzen mich und es passt« (Zeile 675f.). Nida funktioniert die dualistische Entweder-oder-Haltung der Schulkolleg*innen um und pointiert anhand ihres Verhaltens, dass es möglich sein muss, sich zwischen den erzeugten Gruppen hin- und herzubewegen. Dennoch muss hervorgehoben werden, dass diese sozialen Mobilitätsakte für die Protagonistin eine hohe Kraftanstrengung bedeuten und nicht frei gewählt sind. Die Fallstricke der Erziehungsregel »[…] sagt nicht, das war, weil ich Türke bin« – Umgang mit Rassismus am Arbeitsplatz Biografische Erfahrungen, aber auch Wertvorstellungen und persönliche Einstellungen werden mit jenen von Freund*innen oder Bekannten aus anderen mehrheimischen Familien verglichen und binär strukturiert. Diese Art der Gegenüberstellung dient der Erzählerin dazu, zu präzisieren, dass sie und ihr Bruder im Gegensatz zu den Gleichaltrigen konträr erzogen worden seien. Das Gegensätzliche der familialen Erziehungspraktiken liegt für Nida vor allem darin, dass viele aus ihrem Bekannten- und Freundeskreis

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Nida spricht von Türk*innen wenn sie von sich, ihrem Bruder, den Cousins, Cousinen, Freund*innen, also jungen Erwachsenen der postmigrantischen Generation spricht. Im Erzählen über die Eltern verwendet sie sowohl die Zugehörigkeit zu den Zaza (im Dialektalen auch »Zazaken«) als auch zu Türk*innen.

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negative Erfahrungen oder Misserfolge als rassistisch motiviert betrachten würden und nicht als – ergänzend oder ausschließlich – selbst verschuldet. Schlechte Schulnoten etwa würden generell damit erklärt werden, dass die Lehrperson Rassist*in sei. Ihr Vater habe ihnen immer eingeschärft, die Gründe, die zu nicht erreichten Zielen, wie einem erfolglosen Bewerbungsgespräch führten, zu analysieren und sich nicht als »Opfer« eines diskriminierenden oder rassistischen Vorfalls zu stilisieren. Ich glaube das kommt von daheim, mein Papa hat immer zu mir und meinem Bruder auch immer gesagt: »Wenn ihr was im Leben nicht schafft oder wenn ihr eine Prüfung nicht besteht oder irgendein Bewerbungsgespräch […], sagt nicht, das war, weil ich ein Türke bin.« Das gibt es leider viel zu oft. Der Papa hat gesagt: »Dann sagst du, das nächste Mal bin ich besser und du sagst aber nicht, ja der Lehrer war gemein zu mir, weil ich ein Türke bin.« (Zeile 468-472) Nida verinnerlicht die Haltung des Vaters, die familiäre Herkunftsgeschichte nicht als Argument für schulische oder berufliche Misserfolge heranzuziehen, erwähnt aber auch, dass es »Natürlich […] auch solche Fälle [gibt], aber der Papa hat immer gesagt, das ist die Ausrede für die« (Zeile 480). Die elterliche Forderung einer grundsätzlich reflektierten und selbstkritischen Einstellung ist durchaus nachvollziehbar, jedoch exponiert die im Folgenden rekonstruierte biografische Erfahrung von Nida die großen Fallstricke dieser Erziehungsregel: Nida erzählt aus ihrer Lehrzeit in einem Unternehmen, in dem sie unter anderem im Rotationsprinzip in verschiedenen Abteilungen tätig ist. Eine langjährige Mitarbeiterin, mit der Nida eng zusammenarbeiten soll, pflegt einen fragwürdigen Umgangston. Sie macht die Auszubildende wiederholt darauf aufmerksam, dass sie sich nicht im Unternehmen auskennen und ihre Aufgaben nicht korrekt erfüllen würde. Als die Erzählerin zu Beginn der Lehrzeit einen von der Mitarbeiterin verwendeten Fachterminus nicht kennt, geht Letztere zum Vorgesetzten und behauptet, Nida könne kein Deutsch. Der Arbeitgeber arrangiert daraufhin kurzerhand eine Aufnahmeprüfung, wodurch geklärt werden soll, ob sie ausreichend Deutsch spreche und verstehe. Er verlässt sich auf die Behauptung der Mitarbeiterin, die Nida ihr Sprachvermögen abspricht, anstatt sich ein eigenes Bild zu machen. Nida besteht die selektive Prüfung und darf ihre Lehrzeit fortführen. Zu Nidas Aufgaben gehört fortan unter anderem das Telefonieren mit Kund*innen. Die Arbeitskollegin, die Nida im Interview stellenweise entweder beim Vornamen oder »die Rassistin« (Zeile 781) nennt, nutzt scheinbar jede Möglichkeit, um Nida bloßzustellen. Sobald Nida einen Anruf erhält, kommt es wiederholt zu folgender Situation: »Immer wenn das Telefon geläutet hat, habe ich gewusst, sie horcht zu, […] dann ist sie dazwischen gegangen und hat gesagt: ›Ma gib her, kannst es ja nicht.‹« (Zeile 743-746). Eben diese Mitarbeiterin spricht Nida vor den Kund*innen sowie Arbeitskolleg*innen Kompetenzen ab und reagiert auf Fragen der Auszubildenden genervt. Es kostet die junge Frau tagtäglich große Überwindung zur Arbeitsstelle zu gehen, da sie »oft gemobbt« (Zeile 738) wird. Die stringente Benennung »die Rassistin« erwirkt zweierlei. Zum einen erhält die Erzählerin rückwirkend Deutungsmacht bezüglich der damaligen Situation der Ohnmacht (zurück) und zum anderen wird retrospektiv festgestellt, dass das Verhalten der

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

Mitarbeiterin nicht (mehr) geschönt werden darf, sondern eindeutig rassistisch motiviert war. Es war immer so, ein Jahr war ich immer bei ihr und […] bevor ich die Tür aufmache, habe ich angefangen zu weinen. Ich habe meine Tränen abgewischt und habe die Tür aufgemacht und »Guten Morgen!« gesagt. Sie hat immer solche Sachen, wie »Das kannst du nicht, wieso kannst du das nicht?« runtergedrückt, aber nicht nur bei mir, sondern auch bei den anderen, aber sie hat mich auch oft gemobbt […] (Zeile 734-738) Die Tatsache, dass die Mitarbeiterin jene Arbeitskolleg*innen, die ihr hierarchisch unterstellt sind, tendenziell abwertend behandle, lässt aus den Auszubildenden eine Art Schicksalsgemeinschaft, die sich gegenseitig (unter)stützen will, entstehen. Zwei junge Frauen jedoch, deren Familien aus den ehemaligen Balkanstaaten migriert waren, »haben gleich gekündigt nach einem Monat, weil sie gesagt haben: ›Mit der Rassistin kann ich nicht arbeiten‹« (Zeile 801f.). Der Akt der freiwilligen Kündigung gibt Nida durchaus zu denken und lässt sie ihre konkrete Situation kritisch hinterfragen. Dennoch überwiegt zu diesem Zeitpunkt noch die Mahnung des Vaters, die Migrationserfahrung nicht als Rechtfertigung für negative Erfahrungen zu verwenden. Nida hat diese erzieherische Programmatik, mit der sie aufwächst, internalisiert und möchte daher weder Zuhause die belastende Situation bei der Arbeit erläutern noch ihren Ausbildungsplatz, der nach der Lehre zu ihrem Arbeitsplatz wird, aufgeben. Die Protagonistin hält die sich zuspitzenden Bedingungen und Benennungspraxen aus. Selbst nach einigen Jahren der Zusammenarbeit kann bzw. möchte die Mitarbeiterin den Vor- und Nachnamen Nidas nicht unterscheiden können, was in der Erzählerin Fassungslosigkeit hervorruft. »[…] ich bin seit so vielen Jahren da, jetzt sollten sie schon wissen, was mein Vor- und was mein Nachname ist […]« (Zeile 824f.). Nach vielen Momenten, in denen sich die Person implizit bzw. explizit rassistisch gegenüber Nida äußert, kommt es zu einem Ereignis, das als folgenschwer und einschneidend bezeichnet werden muss. Es markiert für Nida den Moment, die erfahrene Ungerechtigkeit nicht mehr stillschweigend erdulden zu wollen: Eine Arbeitskollegin unterhält sich mit Nida, verschüttet währenddessen ein Getränk und beginnt damit, es aufzuwischen. Plötzlich kommt die von Nida als »die Rassistin« angerufene Mitarbeiterin an den beiden Frauen vorbei und konstatiert: Dann ist die [Name] gekommen, die Rassistin, und sagt: »Du bist ja die Türkin unter uns, du musst das ja machen.« Dann war ich so perplex, dann habe ich sie angeschaut, dann habe ich auf den Boden geschaut und bin gegangen, dann bin ich zu meinen Kolleginnen, also zur [Name], zur Bereichsleiterin gegangen und sie hat gesagt: »Was ist denn?«, dann habe ich gesagt: »Die [Name] hat so und so«, dann hat sie gesagt: »Ma, horch nicht auf die, du weißt ja wie sie ist«, dann habe ich gesagt: »Nein, aber das ist mir zu weit gegangen.« (Zeile 833-838) Die Mitarbeiterin praktiziert einen rassistischen Sprechakt, indem sie Nida als Reinigungskraft identifiziert und klassifiziert. Die Tätigkeit des Putzens bzw. der Beruf an sich steht als Chiffre für migrantische und/oder illegalisierte bzw. verdeckte Arbeit, die in der Rangordnung von Berufsgruppen weit unten changiert (siehe Fallrekonstrukti-

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on Vindal in Kap. 3.3). Die rassistische Artikulation ist Ergebnis einer abfälligen und dominanten Betrachtungsweise auf migrantisierte Frauen, deren Kompetenzen im beruflichen Sektor geringgeschätzt werden. Die rassistische Anrufung impliziert, dass Nidas beruflicher Weg bzw. Bildungsweg aufgrund der familiären Bezüge zur Türkei vorgezeichnet wären. Die Anmerkung, »Du bist ja die Türkin unter uns«, legt nahe, dass die Mitarbeiterin von einer homogenen betrieblichen Gruppe4 ausgeht, deren Bild Nida durch uneindeutige bzw. mehrdeutige Bezüge »stört«. Dabei ist die familiäre Biografie vielmehr Ausdruck einer tatsächlichen, radikalen Vielheit bzw. »Radical Diversity« (vgl. Perko 2020, S. 11), die die gesellschaftliche Grundlage des Zusammenlebens Vieler bzw. Unterschiedlicher abbildet und nicht ihre Problematik ist. Anstelle der Anerkennung, wie sich eine postmigrantische Gesellschaft und Arbeitswelt zusammensetzt, eignete sich die Mitarbeitende restaurative Diskurse über Migration und Gender an und forciert damit eine Vorstellung, in der Migrantinnen im Verborgenen agieren sollten. In dieser Logik wird eine weiblich gelesene Reinigungskraft mit Unsichtbarkeit kombiniert (vgl. Hadj-Abdou 2012, S. 49), jedoch als nützlich erachtet. Sobald migrantisierte Frauen jedoch Repräsentation in der Arbeitswelt einfordern (vgl. ebd.), werden neue Differenzlinien konstruiert und ihre Forderungen reklamiert. Die Denk- und Handlungsweise der Mitarbeiterin verrät weitaus mehr über sie selbst als über Nida, denn die Erzählerin lässt sich nicht in die vorgefertigten Kategorien Ersterer einordnen. Die Angestellte hat ein Menschenbild verinnerlicht, das reaktionäre Diskurse aufgreift und von rassistischen Strukturen in der Arbeitswelt sowie der Rassifizierung bestimmter Personen(-gruppen) profitiert. Hinzukommend exploitiert sie ein ungleiches Macht- und Kräfteverhältnis, das zwischen ihr und Nida, die ihr beruflich unterstellt ist, besteht. Als Nida sich mit der Darstellung des schmerzlichen Ereignisses an die Bereichsleiterin wendet, versucht diese den Vorfall mit dem Hinweis, die Erzählerin wisse doch, wie eben diese Mitarbeiterin sei, wegzuwischen. Die Frau in leitender Position unterstützt mit ihrem Einwand die Handlungs- und Artikulationsweise der Mitarbeiterin und begeht dadurch gewissermaßen Mittäter*innenschaft, denn durch das Verschweigen rassistischer Artikulationen und Handlungen werden in Institutionen rassistische und ungleichheiterzeugende Strukturen verstärkt. Nida benennt deutlich ihre Position und entgegnet der Bereichsleiterin: »Nein, das ist mir zu weit gegangen« (Zeile 838). Es ist der Akteurin, nachdem sie – erzählerisch – von der Hauptnarration des Vorfalls in die Rekonstruktion der Nebenerzählung kommt, wichtig zu betonen, dass prinzipiell bei der Arbeit auch Späße gemacht werden können und sollen. Sie differenziert jedoch nicht näher, wie sich Humor ausstaffieren sollte. Es bleibt die Frage, wer welche Art von Späßen machen darf und auf wessen Kosten sie gehen (vgl. dazu Rotter/Yıldız 2021, S. 181). Als die Erzählerin am selben Abend mit der Familie am Essenstisch sitzt, ist die Belastung so groß, dass sie zu weinen beginnt und schließlich auf Bitten der Familienmitglieder hin erläutert, was sich bei der Arbeit zugetragen hat. Nida berichtet nicht nur von diesem spezifischen Eklat, sondern von den weiteren Mechanismen und Prozessen der

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Der Betrieb kann an dieser ausgewählten Stelle mit Gesellschaft übersetzt werden.

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

kulturellen Zuschreibung, den Vorurteilen und spitzen Kommentaren, mit denen sie gehäuft konfrontiert wird. Der Vater ist schockiert, dass sich die junge Frau erst nach der eskalierenden Situation an die Familie wendet. Nida erklärt ihm daraufhin, weshalb sie bislang nichts gesagt habe. Ich habe gesagt: »Ja, weil du immer gesagt hast, sag nicht, etwas passiert mir, weil ich eine Türkin bin!«, dann hat er gesagt: »Das ist ja was anderes, sie hat das ja offensichtlich gemacht.« Dann hat die Mama gesagt zu meinem Papa: »Siehst du, ich sag dir ja, die Nida ist seit Tagen so komisch.« (Zeile 846-849) Am nächsten Tag wird Nida in das Büro ihres Vorgesetzten zitiert. Dort wartet bereits die Mitarbeiterin, die sie rassistisch angerufen hat. Noch bevor sie sich setzen kann, persifliert die Angestellte, dass Nida sie missverstanden hätte, sie sich aber dennoch für die falsch verstandene Aussage entschuldigen wolle. Die Entschuldigung ist keine (ernstgemeinte), sondern wird in eine Anschuldigung umgedeutet, dass Nida erstens missverstanden habe und zweitens überreagieren würde. Nida wehrt sich gegenüber diesem Vorwurf und entgegnet: »[…] nein [Name], ich kenne dich, ich habe dich nicht missverstanden« (Zeile 877f.). Die Mitarbeiterin versucht eine halbherzige Rechtfertigung, indem sie wiederholt, dass es sich um einen Irrtum gehandelt habe und sie lediglich einen Scherz machen wollte. Sowohl Personalchef als auch eine weitere Führungsperson, die bei dem sehr kurzen Gespräch, das ein »Zwei, Drei Minuten Gespräch« (Zeile 884) ist, anwesend sind, ermutigen Nida dazu, die vermeintliche Entschuldigung anzunehmen. Die Protagonistin fasst diese Ermutigung als eine hierarchisch angeleitete Form des Drängens auf. Die erlebte Rassismus- und Ungerechtigkeitserfahrung wird von den Vorgesetzten als gefühlte Erfahrung verkannt, was gleichbedeutend ist mit der Behauptung, der rassistische Akt hätte nicht stattgefunden: »[…] sie haben so getan, als hätte ich sie missverstanden« (Zeile 888). Mit der unausgesprochenen, jedoch inhärenten Unterstellung, Nida würde sich »gerade reinsteigern« (ebd.), wird der jungen Frau sowohl die Erfahrung abgesprochen als auch ihre Deutungshoheit entzogen. Des Weiteren wird Nida durch die ungleichen Hierarchien und Machtverhältnisse in eine Rolle der Passivität hineingedrängt. Mittels der Behauptung, die Mitarbeiterin hätte gespaßt bzw. Nida tue ihr mit dem Vorwurf einer rassistischen Anrufung Unrecht, wird die Täter*innenschaft abgegeben und durch die Unterstützung der Vorgesetzten ad absurdum geführt. Das geschlossene Bündnis der Mitarbeiterin mit den beiden Arbeitgeber*innen dient dazu, die strukturell sowie durch Einzelpersonen erzeugten Schieflagen im Unternehmen zu kaschieren. Die Schwere der Verletzungen durch eine rassistische Äußerung hängt auch von der Autorität der Sprecher*innen ab. Genießt die Sprecherin wenig Anerkennung, wird ihre Äußerung möglicherweise nicht ernst genommen oder sogar verlacht werden. Besitzt sie hingegen große Autorität, wird die soziale Abwertung in der Regel schwerwiegender sein. (Schütze 2020, S. 387) Die Protagonistin stimmt widerwillig dem präsentierten Einvernehmen zu, das Geschehen abhaken zu wollen, da sie ihren Handlungsspielraum begrenzt sieht. Gemeinsam mit der Familie schmiedet sie den Plan, einen Antrag auf Bildungskarenz zu stellen, um einerseits die Berufsreife abzuschließen und andererseits sieht sie die Weiterbildungs-

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möglichkeit als Strategie, um vorerst nicht mehr mit der Mitarbeiterin zusammenarbeiten zu müssen. Der Vorgesetzte lehnt den gestellten Antrag auf Bildungskarenz ab, woraufhin Nida kündigt. […] irgendwann bin ich mit der Kündigung dagestanden, dann hat er gesagt: »Dein Ernst?«, dann habe ich gesagt: »Ich habe es ja gesagt, wenn ich nicht in Bildungskarenz gehen kann, dann gehe ich.« Dann hat er gesagt: »Ja passt, kann man nichts tun.« Dann habe ich gekündigt. (Zeile 901-903) Nida reflektiert, dass es ihr im Unternehmen nicht mehr gut gehe und deswegen die Kündigung das einzige Mittel sei, um aus dieser Situation herauszukommen. Gerne verlässt sie die Firma nicht, denn »die Arbeit habe ich geliebt. Ich muss immer noch sagen, ich finde es immer noch schade, weil die Arbeit habe ich wirklich geliebt. Ich habe es so gern gemacht aber Klima hat nicht gepasst« (Zeile 927-929). Erst später erfährt Nida, die Kontakt zu vereinzelten ehemaligen Arbeitskolleg*innen hält, dass die damalige Aufnahmeprüfung in ihrem Fachbereich gar nicht vorgesehen war. Erst durch die besagte Mitarbeiterin, die behauptete, Nida verstehe und spreche kein Deutsch, entschied der damalige Vorgesetzte, sie solle durch eine Prüfung den Vorwurf bestätigen oder das Gegenteil beweisen. Von Anfang an intrigierte die Angestellte in Richtung Erzählerin. Das neu gewonnene Wissen über die vorsätzliche Einflussnahme der Mitarbeiterin bestätigt Nida im Entschluss das Arbeitsverhältnis gelöst zu haben. Weitere Konsequenz der Problematik ist, dass sie den erzieherischen Ratschlag des Vaters erstmalig hinterfragt. Der Rat sollte, so die Intention des Vaters, der Protagonistin eigentlich dabei helfen, ehrlich zu sich selber zu sein und die Schuld nicht vorschnell bei anderen, etwa Lehrpersonen oder Arbeitgeber*innen zu suchen. Der väterliche Ratschlag schadet jedoch situativ, da die Akteurin sich dazu angeleitet sieht, die verletzenden Vorfälle zunächst auszuhalten. Das diskutierte Beispiel deckt auf, dass der intergenerationelle Ratschlag grundlegend missverstanden und eine Gefahr der Bagatellisierung diskriminierender sowie rassistischer Praktiken implizieren kann. Rassistische Erfahrungen zu artikulieren und damit sichtbar zu machen, wird durch gut gemeinte Erziehungsansätze sowie Empfehlungen zusätzlich erschwert. Um gegen rassistische Anrufungen vorzugehen, sind (Handlungs-)Strategien notwendig, wenngleich es für Betroffene schwierig sei, »die alten Ideologien zu durchschauen, zu durchbrechen und sie durch neue zu ersetzen und das selbst dann (oder vielleicht vor allem dann), wenn die herrschenden Differenzordnungen ihnen eine Minderwertigkeit ›einreden‹ und sie Gehorsamkeit statt Hörsamkeit (Achtsamkeit) und Vernunft entwickeln.« (Ivanova 2017, S. 276-277). Nidas Strategie in diesem Sinne ist die Einforderung der Bildungskarenz und weil sie nicht genehmigt wird, die darauffolgende Kündigung. Aktuell arbeitet Nida in einem großen Betrieb und ist glücklich liiert. Fazit Abschließend lässt sich feststellen, dass innerhalb Nidas Familienbiografie Migration als Normalität und gleichzeitig als Notwendigkeit verstanden und im Alltag (aus-)gelebt wird. Der dörfliche, ärmliche (Herkunfts-)Kontext wird nicht als gegeben oder unveränderbar hingenommen, sondern befristet bzw. auf lange Sicht ausgetauscht oder erwei-

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tert, sodass mehrere unterschiedliche Orte der Familie, zusammen mit dem Dorf, nebeneinanderstehen und genutzt werden können. Da Nida weiß, wie wichtig ihrem Vater der Ort seiner Kindheit ist, ermutigt sie ihn vor ein paar Jahren, mit den Worten »Komm Papa, wir fliegen in dein Dorf!« (Zeile 1151) dazu, gemeinsam dorthin zurückzukehren. Die Erzählerin habe ihren Vater schon lange nicht mehr so zufrieden gesehen. »Er war so glücklich, also er hat nicht schlafen können, er war um sechs Uhr schon auf« (Zeile 1170). Durch diese Reise der unterschiedlichen Generationsangehörigen werden die Orte der Erzählung und Erinnerung für die Angehörige der postmigrantischen Generation auf eine neue Art und Weise erfahrbar und begreifbar gemacht (siehe 6.2.2). Das Bild, das Nida in den Gedanken und durch Erinnerungen über den Ort gemalt hatte, wird nun stellenweise komplementiert, aber auch zurechtgerückt. Als ihr alte Fotos vom Haus gezeigt werden, in dem ihr Vater aufwuchs, stellt sie für sich fest: »Das war kein Haus für mich, das war einfach so ein, als wäre es ein Rohbau« (Zeile 1173). Wenngleich Vater und Tochter also unterschiedliche Vorstellungen über den Ort und auch divergierende Erwartungshaltungen hinsichtlich des Ausfluges haben, sehen sie sich in einer gemeinsamen Erfahrung, auf die sie seitdem gerne in Gesprächen Bezug nehmen, geeint. Während im Familienzweig mütterlicherseits primär Formen der Binnenmigration, aber auch Remigrationen zwischen dem anatolischen Dorf und der türkischen Metropole stattfanden, ist es in der väterlichen Familienlinie eine intergenerationelle Tradition, dass die jungen Männer beim Erreichen der Volljährigkeit in Nachbarländer zogen/ziehen um dort als »Arbeitsmigrierende« Geld zu verdienen. Die familiäre Pionier*arbeit begann also nicht erst mit den Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Österreich, sondern ist älter und wurde/wird innerfamiliär beschlossen und ritualisiert. In diesem Sinne setzt sich die Familie bereits seit weitaus mehr als drei oder vier Generationen aus Pionieren (männlich) zusammen. Gerade die Frauen der Familie ordneten sich in die Tradition der Pionier*tätigkeit ein, etwa Nidas Großmutter, die in Tirol neue Verortungspraxen entwarf und ihren Heimatbegriff ausweitete. Sie erkannte sowohl die Besonderheiten und Bezugspunkte zum Dorf an (»Das Brot im Dorf hat anders geschmeckt!«, Zeile 1106 – anders wird als Kennwort für besser genutzt) als auch jene vor Ort. Das Dorf blieb für sie bis zu ihrem Tod ein Sehnsuchtsort, an dem sie jedoch ob der komplexen Lebensumstände nicht mehr leben wollte. Ihr Zuhause sei schließlich in Tirol gewesen, wo ein Großteil der Familie war und sie die soziale und ökonomische Sicherheit hatte, die sie vor allem den Nachfolgegenerationen immer gewünscht hatte: […] meine Großeltern sagten immer: »Es ist so, egal wie viel Geld du hast, du kannst so reich sein wie du willst in der Türkei, das was wir da als Sicherheit haben, gibt es nirgends, also gibt es in der Türkei einfach nicht.« Die Oma hat einmal gehustet und dann sind sie zum Hausarzt gegangen, das ist für sie ein Luxus gewesen. (Zeile 1584-1587) Nidas Mutter muss genauso – aus mehreren Gründen – als Pionierin gelesen werden. Zum einen ließ sie sich von den Herausforderungen und Schwierigkeiten, die zunächst die Binnenmigration und die spätere transnationale Migration mit sich brachten, nicht verunsichern, sondern gab ihr Bestmöglichstes, um die Anforderungen von außen und die selbst auferlegten Erwartungshaltungen, gerade hinsichtlich der Kinder, zu erfüllen.

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Zum anderen übernahm sie nach dem Tod des Schwiegervaters nicht nur Verantwortung für die eigene Kleinfamilie, sondern für den Familienbund als Ganzes. Nida nimmt aus ihrer Vergangenheit einige essenzielle Lernmomente mit. Unvergleichlich bleibt die Reflexion des rassistischen Vorfalls und die Erkenntnis, ähnliche Anrufungen zukünftig nicht mehr aushalten zu wollen, sondern unverzüglich darauf zu reagieren, etwa durch Kompliz*innenschaft. Indem sie ihre Familie über das traumatische Ereignis informiert, erzeugt sie Handlungsmacht und verwendet die kollektive Expertise, um neue Handlungs- und Empowerment-Strategien zu entwerfen. Des Weiteren erfährt sie, wie sehr, gut gemeinte, jedoch missverständliche Erziehungsratschläge und -praktiken das Subjekt bis ins Erwachsenenalter prägen können und wie notwendig es ist, diese zu überprüfen. Nicht jede Situation lässt sich durch eine pauschale Regel adäquat und sinnvoll lösen. Nida schreibt ihr Lebensgeschichte mit jedem Tag weiter und im Moment besonders schnell. Sie befindet sich noch nicht in der Phase der Änderung ihrer derzeitigen Lebensumstände, jedoch im Prozess des Ausmalens, wie sich ihre Zukunft gestalten könne und werde. Zum Zeitpunkt des Interviews sinniert und spinnt sie gemeinsam mit dem Lebensgefährten Zukunftspläne, die zwar noch etwas unkonkret bleiben, aber den Wunsch beider gemeinsam eine Familie zu gründen, beinhalten. Ab und an überlegt sich Nida, wie es wäre, woanders zu leben und ob sie mit der Entscheidung langfristig fortzugehen, glücklich wäre. Im Interview beantwortet sie diese Frage mit »Tirol ist für mich Heimat« (Zeile 1531) und ergänzt, dass sie trotzdem manchmal gerne wegwolle. Diese Ambivalenz zwischen gehen und bleiben wollen gibt wieder, wie uneindeutig Verortungen an sich und die Identifikation mit einer vertrauten Umgebung sein können. Im Gespräch wird die Wichtigkeit »eines Tapetenwechsels« diskutiert, sodass Orte der Verbundenheit punktuell verlassen werden müssen, um sie später wieder zu schätzen. Ich war einmal alleine in der Türkei, also mit Freundinnen, aber dann bin ich allein zurückgekommen und ich war so nervös, weil ich mir gedacht habe, da geht es mir nicht gut. Sobald ich in Kufstein war, wo ich die Berge gesehen habe, habe ich gedacht, egal was mir jetzt gerade passiert, ich bin daheim und wegziehen, glaube ich wird es nicht, aber manchmal denke ich, ich schmeiße alles nieder, aber dann bleibe ich trotzdem gern hier. (Zeile 1538-1542)

7.2 Tania: »Ich werde das Geld für uns verdienen und ich werde uns aus allem rausholen!« Kurzportrait Tania Tania ist zum Zeitpunkt des Interviews Anfang 20, Studentin und hat große Pläne, ihre und die familiäre Zukunft betreffend. Sie möchte den Geldmangel aus ihrer Kindheit durch geschickte Investitionen und geplante Sparanlagen korrigieren und dadurch die Familie ökonomisch festigen. Tanias Visionen entstehen nicht zuletzt aus einer tiefen Verbundenheit und Dankbarkeit den (Groß-)Eltern gegenüber, die die Migrationsentscheidung sowie den späteren Entschluss vor Ort zu bleiben, als Zukunftsentwurf für die

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

Familie als Kollektiv und die Nachfolgegenerationen im Besonderen beschlossen. Neben der dominanten Familienerzählung bezüglich fehlenden Geldes zeichnet die Protagonistin komplexe Fremdheitserfahrungen im Bildungssystem und in der Peergroup nach und bricht sie auf. Die Migrationsentscheidung dechiffriert intergenerationelle Dankbarkeit und gleichzeitig Unverständnis Tania wählt als Einstieg in unser Gespräch, Erzählungen, die ihren Großvater väterlicherseits betreffen und ihr größtenteils durch eine dritte Person, nämlich den Vater erzählt wurden. In der Thematisierung der familialen und biografischen Geschichte treffen sich daher »die erlebte und die erzählte Lebensgeschichte« (Rosenthal 1995, S. 226). Der Opa, wie Tania ihn nennt, migrierte mittels der Anwerbeabkommen gemeinsam mit seinen Brüdern nach Österreich, seine Ehefrau verblieb unterdessen mit den Kindern im bosnischen Herkunftsort. Nachdem diese ihr jüngstes der fünf Kinder geboren hatte, entschied sie sich nach Tirol zu migrieren. Tania nennt den Grund, der zur Migration der Großmutter geführt habe, »aus Eifersucht« (Zeile 24). Die Großmutter traf diese Entscheidung gemeinsam mit mehreren Frauen des Dorfes, unter anderem ihren Schwägerinnen. Die Kinder blieben derweil in Bosnien. Und dann haben sich halt die Omas, die Tanten und alle möglichen Menschen um die Kinder gekümmert, weil es halt für die Eltern viel wichtiger war, hier her zu kommen und Geld zu verdienen als bei den Kindern zu bleiben. Und mein Papa hat auch nie ein so gutes Verhältnis mit ihnen gehabt, weil sie einfach nie da waren. Er ist eigentlich ohne sie aufgewachsen und sicher haben sie gut leben können wegen den Eltern. Weil sie ihnen halt immer Geld geschickt haben und sie haben immer die neusten Sachen gehabt, die nie jemand gehabt hat und aber trotzdem waren sie halt ohne Eltern immer. (Zeile 27-33) Tania kann diese Aushandlung, die für ihren Vater und die anderen Kinder bedeutete, dass sie im Dorf zurückbleiben mussten, nicht nachvollziehen. Während die zweite Generation durch die geografisch bedingte Elternlosigkeit gelitten habe, profitiere sie, als Angehörige der dritten Generation von der Migrationsentscheidung. Der Vater wiederum konnte aufgrund der fehlenden Beziehung zu seinen Eltern, so die Interpretation Tanias, nur schwer die Vaterrolle für seine eigenen Kinder übernehmen. Dieser Logik zufolge habe er die Mutter-Vater-Kind-Konstellation, wie er sie als Kind kennengelernt hatte, unreflektiert – über einen längeren Zeitraum hinweg – auf die Beziehung zu den eigenen Kindern übertragen. Weil eigentlich ist sein Vater der Grund, warum ich hier bin. Wieso wir überhaupt in Österreich sind, weil er eben als Gastarbeiter gekommen ist nach Österreich in den 60er Jahren. Wären Oma und Opa nicht migriert, wäre ich jetzt nicht da, wo ich bin! (Zeile 8-11; Rotter 2019a, o. S.) Die Großeltern blieben in Österreich, wenngleich sie sich hier nie langfristig aufhalten, sondern etliche Male zurückkehren wollten. Zum einen wurde das Leben und Arbeiten im Ankunftsort zur Gewohnheit und es gelang ihnen, sich ein (weitestgehend) ökonomisch und sozial gesichertes Leben aufzubauen. Zum anderen brach, als die Familie aus-

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giebig über eine mögliche baldige Rückkehr in den Herkunftskontext nachdachte und debattierte, der Jugoslawienkrieg aus, der jugoslawische Zerfallskrieg (vgl. Calic 2011, S. 448), der selbst nach seinem Ende die bisherige Normalität und gewohnte Ordnung, die die Familie aus der Vergangenheit kannte und idealisierte, zerstört hatte.5 Die Herkunftsorte der Familie gab es entweder nicht mehr oder in alternativer Gestalt. Schlussendlich war den Großeltern Tirol mittlerweile vertrauter als die neu formierten Staaten, die auf dem alten Territorialgebiet Jugoslawiens politisch konstruiert wurden. Neue nationalstaatliche Grenzen als Begrenzungen im sozialen Miteinander Die Familie mütterlicherseits lebte in einem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens, das heute die Grenze zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien markiert. Durch den Ausbruch des Krieges änderte sich das eingespielte Leben samt bisheriger Selbstverständlichkeiten. Genauso öffentliche, politische und teils private Diskurse alternierten und wurden durch neu entworfene nationale (Nicht-)Zugehörigkeiten umgeschrieben. Die Verfechter*innen der nationalstaatlichen Aufspaltung Jugoslawiens und pro-nationalistische Gruppen sowie die Menschen, deren Lebensrealitäten durch den politischen Umbruch umgeworfen wurden und reorganisiert werden mussten, bildeten plötzlich eine neue »Gemeinschaft« aus. Der Einschluss von Menschen, die nun als »serbisch« oder »kroatisch« definiert wurden, implizierte gleichzeitig den Ausschluss jener, die nun nicht (mehr) dieser Logik entsprachen. Damit trennten neue nationalstaatliche Grenzen Familienangehörige oder Freund*innen territorial, sozial und politisch voneinander. Dennoch ließ sich die Familie der Erzählerin nicht unterkriegen und versuchte, sich mit der unbekannten Situation zu arrangieren. Zeitgleiche Pionier*arbeit im Herkunfts- und Ankunftskontext Es gibt Analogien hinsichtlich der Arbeitssituation und -intensität der Familienangehörigen, die nach Tirol migriert und jenen, die nicht migriert waren. Sie arbeiteten allesamt in ähnlich prekären Settings und verrichteten Schichtdienste in Fabriken. Tanias Erzählung zufolge war das gesamte Leben um die Arbeit herum organisiert. In beiden Kontexten verrichtete die erste Generation Pionier*arbeit, denn die harte Erwerbstätigkeit diente nicht zuletzt dazu, das Schaffen von Möglichkeiten und das Kreieren von Möglichkeitsräumen, vor allem hinsichtlich der Kinder und Enkelkinder, zu forcieren. Die haben sooo viel gearbeitet. Sie haben so gut wie keine Pausen gehabt. Sie haben eigentlich nur Pausen gehabt, wenn sie geschlafen haben. Also nur wenn sie zum Schlafen Zuhause waren. Und sie haben sogar eine Wohnung in dieser Firma gehabt. Also du warst immer dort. (Zeile 61-64) Nachteil der (zu) hohen Arbeitsbelastung war, dass zwischenmenschliche, intergenerationelle Beziehungen vernachlässigt wurden. Die Großeltern väterlicherseits versuchten die fehlende Nähe zu den Kindern durch Geschenke zu kompensieren. Der Großvater

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Tania spricht stellenweise sowohl vom Jugoslawienkrieg als auch vom Bosnienkrieg und nutzt ihre Nennung weitestgehend analog. Die Forscherin übernimmt, je nach Erzählpraktik der Protagonistin die eine oder andere Bezeichnung bzw. versucht, ausgehend vom Kontext abzuwiegen, auf welche historischen, sozialen und politischen Bezugsgrößen sich Tania im konkreten Fall bezieht.

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

mietete hierfür sogar ein ganzes Zugabteil, um die Geschenke für den Nachwuchs und die Verwandten unterzubringen und zu transportieren. Da waren Fahrräder dabei, Möbel, Essen. Alles Mögliche. Und wenn er zurückgefahren ist, hat er halt auch aaalles Mögliche mitgenommen. Von Essen, Gemüse und Fleisch und alles Mögliche, weil man wollte halt doch ein Stück Heimat wieder zurücknehmen, aber man wollte auch den anderen zeigen. »Hey schau für das bin ich da.« Man hat immer versucht, sich irgendwie zu rechtfertigen. Das glaube ich zumindest. (Zeile 77-81) Die Erzählungen Tanias demonstrieren komplexe Lebensumstände, die die Zeit vor, während und nach der Migration betreffen. Gerade die Lebensrealitäten im Herkunftsort, die der Migration vorgelagert waren bzw. je nach Generationsfolge teilweise zeitgleich stattfanden, sind genauso relevant wie die tatsächlichen Migrationserfahrungen und die Erfahrungen nach der Mobilität. Die Mutter als wichtige Protagonistin der familialen Biografie Tania beschäftigt sich in ihren Erzählungen gründlich mit den Erinnerungen, die ihre Mutter an die Anfangszeit in Tirol hat und die diese ihrer Tochter auf Nachfragen sowie mittels beiläufiger Anekdoten weitergegeben hat. (Vgl. Keppler 1994, S. 67) Die Mutter konnte, als sie nach Österreich kam, kaum Deutsch sprechen, wusste sich jedoch zu helfen. Um Deutsch zu lernen, setzte sie sich täglich um halb sieben vor den Fernseher und schaute sich eine Sendung an, in der Russischsprachigen deutsche Vokabeln beigebracht wurden. Über die russische Sprache, die die Mutter bereits beherrschte, also über sprachliche Umwege, verbesserte sie kontinuierlich ihre Deutschkompetenz. So Deutsch lernen für Russen quasi. Meine Mama hat in der Schule Russisch gelernt und hat das dann genutzt. Sie hat also über Russisch Deutsch gelernt! Sie hat das jeden Morgen geschaut, damit sie Deutsch lernt und zum Arzt gehen kann. ((lacht)) Und sie hat sich dann so ein Wörterbuch gekauft. Ein Bosnisch-Deutsch-Wörterbuch und hat dann halt einfach so kommuniziert. Am Anfang ist sie noch mit diesem Wörterbuch zum Arzt gegangen und hat halt versucht, irgendwie zu kommunizieren. (Zeile 144-149; Rotter 2019a, o. S.) Tania erklärt, dass ihre Mutter rasch begann »normal gut Deutsch [zu] reden« (Zeile 224) und an der Idee, über das Fernsehen die Sprache zu lernen und kontinuierlich zu verbessern, festhielt. So war es bis ins junge Erwachsenenalter der Kinder geregelt, dass bei den Eltern Zuhause nur deutschsprachiges Fernsehen geschaut werden sollte: »Bei uns muss deutsches Fernsehen laufen!« (Zeile 227). Vorschulische und (außer-)schulische Bildung Tania besucht früh die Kinderkrippe und anschließend den Kindergarten. Der Besuch dieser Einrichtungen ist notwendig, da die Mutter das Einkommen des Vaters, der bislang Alleinernährer war, aufbessern muss. Tania lebt sich nur schwer in die Kinderkrippe ein, was auch die Eltern beunruhigt und sie an der Unterbringung in der Einrichtung zweifeln lässt. Letztlich ist es jedoch notwendig, dass Tania und ihr Bruder pädagogisch professionell versorgt werden.

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Ich habe nicht verstanden, warum ich da bin. Meine Mama sagt auch immer, die ersten Monate waren so schlimm, weil ich einfach so hysterisch geweint habe, weil ich einfach soo Angst gehabt habe. Ich wollte auch nie mit jemandem spielen, ich bin immer alleine gewesen und ich war immer so ängstlich. Und irgendwann bin ich dann in den normalen Kindergarten gekommen, so mit drei, glaube ich. Und ähm eben ich habe immer noch kein Deutsch gesprochen. Ich habe alles verstanden, alles was sie zu mir gesagt haben, habe ich verstanden, aber ich habe ihnen einfach auf Bosnisch geantwortet. Ich wollte einfach kein Deutsch sprechen und für meine Mama war das voll schlimm, weil sie uns immer vor diesem, dass wir Ausländer sind, beschützen wollte, weil sie war eben Ausländer. (Zeile 266-274) Tania möchte zunächst kein Deutsch sprechen und antwortet auf Fragen ausnahmslos auf Bosnisch. Die Mutter versucht ihr zu erklären, dass sie im Kindergarten Deutsch sprechen müsse, um dazuzugehören und Teil der Gemeinschaft zu sein. Tania widersetzt sich jedoch. Tania erklärt, die Mutter wollte sie aufgrund der eigenen Erfahrung, »weil sie [die Eltern] eben Ausländer sind« (Zeile 274), davor bewahren, ebenso als »Ausländer« betrachtet zu werden und ergänzt: »Sie war immer Ausländer, der sich nicht integriert, der Höhlenmensch ist, so und sie wollte uns einfach immer vor dem beschützen« (Zeile 274f.). Die Erzählerin verweist mit der Erklärung, weswegen das Erlernen der deutschen Sprache für die Mutter oberste Priorität war, auf den gängigen Diskurs bezüglich Integration (vgl. Gogolin 2005; Baumann 2022). Die direkte Migrationserfahrung der Eltern deute darauf hin, diese müssten integriert werden. Sie werden als »Ausländer*innen« und damit als abweichend von der vermeintlichen Norm der Bevölkerung gelesen. Tania entwirft zum besseren Verständnis dieses vorurteilsbehafteten Diskurses über Integration und Zugehörigkeit das Bild des Höhlenmenschen, mit dem der*die Ausländer*in, der*die nicht integrierbar sei, assoziiert werde. Als Kind hat Tania selbstredend keinen tiefergehenden Zugang zu diesen komplexen Diskursen sowie der daraus resultierenden Ermutigung der Erziehungsberechtigten, sie möge Deutsch sprechen. Erst als ihr Bruder ihr erklärt, als Tochter von Migrant*innen habe sie vielen Einheimischen gegenüber den entscheidenden Vorteil, mehrere Sprachen reden und verstehen zu können, beginnt Tania damit, problemlos Deutsch zu sprechen: »Und dann habe ich angefangen, immer damit anzugeben. Ich habe den anderen dann immer erzählt: ›Schau ich kann zwei Sprachen und du nicht‹ und so« (Zeile 290ff.). Die Inferiorisierung und Festschreibung als »Andere« im Bildungskontext Tania beschreibt sich, gerade die Vergangenheit und den schulischen Kontext tangierend, als »Einzelgänger Typ« (Zeile 316), was zum einen daran liegt, dass sie sich situationsbezogen als etwas Besseres gefühlt habe. »Und ich habe mich schon gefühlt, wie die anderen, sogar ein bisschen besser, weil ich mehr kann. ((lacht))« (Zeile 313f.). Zum anderen wird ihr wiederholt zugetragen, sie unterliege einer Inferiorität und wäre den Schulkolleg*innen gegenüber nicht gleichwertig, sondern tendenziell unterlegen. Es sind direkte Kommentare von sowohl Schüler*innen als auch Lehrer*innen, die sie als anders festschreiben. Daneben werden explizite und implizite Mechanismen genutzt, mit deren Hilfe der Protagonistin sowie den wenigen mehrheimischen Schüler*innen der Klasse, Andersartigkeit oder Fremdheit unterstellt werden. »Man hat uns gezeigt, dass wir

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

anders sind« (Zeile 323), indem sie, speziell im Deutschunterricht gehäuft laut vorlesen müssen. Für Tania bedeutet diese spezielle Behandlung seitens der Lehrperson keine Förderungs- oder Unterstützungsmaßnahme, sondern wird als kränkend und nicht notwendig empfunden. Das alltägliche Phänomen, dass »viel mehr auf uns eingegangen [wurde]« (Zeile 321), interpretiert Tania als ausgrenzend und wenig zuträglich. Durch die Sonderbehandlung gerät die Definition über die eigene Zugehörigkeit ins Wanken. So formuliert Tania: Alles andere waren Österreicher. Ich meine, ich bin auch Österreicher, aber anscheinend doch nicht! @(.)@ Und mir hat das immer so, mich hat das so gestört, weil man hat sich immer so ein bisschen dumm gefühlt. Ich habe mich immer so gefühlt, als ob ich viel schlechter als die anderen wäre, dabei habe ich genauso gut Deutsch gesprochen wie die anderen auch. (Zeile 325-329) Tania begleitet ihren Bruder an ausgewählten Nachmittagen in den sogenannten Muttersprachenunterricht, sodass sie vor dem Eintritt in die Schule lernt, bosnische Buchstaben und einzelne Wörter zu lesen. In der Gruppe der älteren Kinder empowert sie sich. Tania ist beim Eintritt in die erste Klasse stolz darauf, dass sie bereits das bosnische Alphabet beherrscht und findet das deutsche, das weniger Buchstaben hat, entsprechend einfach. Trotzdem wird ihr suggeriert, sie benötige beim Erlernen des Lesens und Schreibens mehr Hilfe als die ausschließlich deutschsprachigen Kinder. Während die Klassenkamerad*innen im Fach Religion unterrichtet werden, »haben wir, also jetzt meine ich wirklich nur Kinder mit Migrationshintergrund, wir waren eine Gruppe, […] also mit diesen anderen Kindern aus der Parallelklasse zusammen« (Zeile 347f.) den Förderunterricht besucht. Tania betont, wie kränkend sie es findet, Förderunterricht im Schulfach Deutsch absolvieren zu müssen, obwohl sie dort keine Schwierigkeiten hat. Die Logik lautet, dass ausnahmslos alle Kinder mit Migrationshintergrund Probleme oder Aufholbedarf hinsichtlich der Unterrichtssprache hätten. Tania erhält aufgrund des hohen Arbeitspensums der Mutter Zuhause keine durchgehende Unterstützung bei der Erledigung der Hausaufgaben, ihren Bruder will sie nicht um Hilfe bitten, (auch) weil sie überzeugt davon ist, es alleine zu schaffen: »Ich habe immer alles alleine gemacht« (Zeile 521). Aufgaben sowie Herausforderungen selbstständig bewältigen zu können, ist ein Mantra, das sich durch Tanias bisherigen Lebensweg zieht. Es kostet Tania generell Überwindung, um Hilfe zu bitten, wie es an späterer Stelle noch detailliert rekonstruiert wird. Besonders ärgert es sie, wenn Lehrer*innen anlässlich ihrer familiären Migrationsgeschichte meinen, sie liege mit ihrer schulischen Leistung hinter jener der Klassenkamerad*innen zurück, was für sie gleichbedeutend ist mit der Behauptung, weniger intelligent zu sein: […] du kannst das alles und dann wird dir aber gesagt, du kannst das gar nicht. Und das bringt halt dein Selbstbewusstsein ganz, ganz runter. (Zeile 359-361) Die Fokussierung auf Sprachdefizite im Förderunterricht hat eine spezifische Auswirkung auf Tania: Sie fühlt sich hineingedrängt in die vorgefertigte Kategorie »Ausländer*in«, die mit einer pädagogisierten Besonderung einhergeht, sodass sie beginnt, an sich, ihrer Selbstwahrnehmung, ihren Leistungen, ihrer Intelligenz und Fähigkeiten zu

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zweifeln und nun vermehrt darüber nachdenkt, ob diese vermeintliche Andersartigkeit, die ihr attestiert wird, nicht doch auf sie zutreffen würde: Du fängst dann halt wirklich damit an, darüber nachzudenken ob du wirklich anders bist. Und irgendwann findest du dich einfach damit ab. Irgendwann sagst du dann einfach zu dir selber: »Okay dann bin ich halt Ausländer und das ist einfach so«. (Zeile 361-363) Tania konkretisiert, dass sie schließlich diese Fremddeutung des*der Ausländer*in angenommen und teilweise übernommen habe. Sie zeigt sich irritiert darin, dass sie im österreichischen Bildungssystem als Fremde, manchmal als Bosnierin, angesprochen wird und konträr dazu bei Besuchen in Bosnien als Österreicherin. »Und das Problem ist aber, wenn du nach Bosnien fährst, dann bist du halt der Österreicher« (Zeile 363f.). Vonseiten der Anrufenden besteht in der Zuschreibung, Tania sei entweder Bosnierin oder Österreicherin, eine Eindeutigkeit, die in der Realität einer mehrheimischen Person jedoch nicht gegeben ist. Die (Un-)Logik einer national kodierten Festschreibung entwirft einfache, präzise und klare Vorstellungen von Menschen. Die Lebensrealitäten von Personen sind jedoch selten eindeutig. Aus dieser ambivalenten Praxis der Fest- und Fremdschreibung resultiert, dass Tania während der Schulzeit ihre eigene Zugehörigkeit und Praxis der Selbstbenennung nicht mehr bestimmen kann. Anstatt sich einem oder beiden gesellschaftlichen Kontexten/Konstrukten zugehörig zu »fühlen«, gewinnt sie den Eindruck, dass sie sich nirgendwo verorten könne, doch gerade in der Kindheit und Jugend sind Mitgliedschaft und Zugehörigkeit wesentliche identitätsstiftende Konzepte. Etwas entspannter wird Tanias Blick auf sich selbst und die Umgebung im Verlauf der Hauptschulzeit, an die sie gute Erinnerungen hat. Dadurch, dass sehr wenige Schüler*innen in der Schule aus mehrheimischen Familien stammen, hat sie fortan vermehrt Kontakt mit Österreicher*innen. Die Frage nach der Herkunft: »Woher kommst du?« und »Was bist du?« Im Jugendalter erweitert sich kontinuierlich Tanias Freundeskreis. Die Akteurin lernt vermehrt Gleichaltrige kennen, deren Eltern im Zuge des Jugoslawienkrieges nach Tirol geflüchtet waren. Man hat soo viele Gemeinsamkeiten und findet es halt voll cool und trifft dann irgendwann nur noch die Leute, weil dann kennt man den und dann kennt man den und den und den und irgendwann ist das halt eine riesige Masse und irgendwann ist mir klar geworden, dass da irgendwas ganz Komisches passiert, weil immer wenn ich mich mit diesen Menschen getroffen habe, war das Erste, was sie mich gefragt haben: »Was bist du?«, nicht »Wie heißt du?«, sondern »Was bist du?« Und mir ist das so auf die Nerven gegangen, weil ich nicht verstanden habe, was sie von mir wollen. Ich habe nicht verstanden, ob sie wissen sollen, welche Religion ich habe oder ob sie jetzt wissen wollen, woher ich komme, wo ich geboren bin. Ich habe es einfach nicht verstanden. Und das ist mir aber auch so passiert, weil wenn mich ein Österreicher gefragt hat: »Wie heißt du?«, dann habe ich gesagt: »Ich heiße Tania.« Ich habe es ziemlich leicht. Aber sobald sie meinen Nachnamen lesen, war es so, ich meine sie wissen es eh, weil es ist sehr offensichtlicher Nachname. Aber dann fragen sie halt:

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

»Ja woher kommst du?« Und dann denkst du dir halt: »Ja aus Österreich.« Aber dann fragen sie dich: »Ja aber, woher kommst du eigentlich?« Und dann denkst du dir so: »Ja aus Österreich.« Aber du weißt halt genau, was sie hören wollen und ich habe dann anfangs immer gesagt: »Ja aus Bosnien«. (Zeile 386-406) Diese Erfahrung nach der Herkunft gefragt zu werden, betrachtet Tania aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Einerseits verbinden Tania und die Jugendlichen viele Gemeinsamkeiten, etwa hinsichtlich des Essverhaltens, dem Zusammenleben, der »Mentalität« (Zeile 390) und dem »Benehmen« (Zeile 391) Zuhause. Diese Gemeinsamkeiten, subsumiert als »gleich sein« (ebd.), faszinieren sie zunächst. Andererseits wird die Erzählerin, getarnt mit der Frage »Was bist du?« (Zeile 396), vermehrt auf ihre Herkunft angesprochen, ob diese biografisch oder familiär gemeint ist, bleibt anfänglich offen. Tania beschreibt diesen Vorgang als »etwas Komisches« (Zeile 394) und macht auf die Irritation aufmerksam, die die Frage, die sie nur teilweise einordnen kann, in ihr auslöst. Die Frage »Was bist du?« objektifiziert das Subjekt, ferner ist sie übergriffig, missverständlich und dechiffriert nicht, ob das Gegenüber ihren Namen oder eine andere Kategorie, wie Konfession, Geburtsort oder Herkunftsort der (Groß-)Eltern abfragt. Diese oder ähnliche Suggestivfragen werden Tania genauso von einheimischen Jugendlichen gestellt. Die Frage nach dem Vornamen ist für die Protagonistin unproblematisch. Ihre Eltern haben bewusst einen Vornamen gewählt, der in ähnlichen Schreibweisen in verschiedenen Sprachen vorkommt und im Gegensatz zum Nachnamen nicht direkt den potenziellen Herkunftsraum der Familie entschlüsselt. Ist die erwartete Antwort des*der Fragenden nicht zufriedenstellend, wird ein Fragenkatalog (»Woher kommst du wirklich?«, Zeile 403) geöffnet. Tania hat seit ihrem Jugendalter unterschiedliche Antworten auf die Herkunftsfrage parat, je nachdem wer sie auf welche Art und Weise fragt. (Vgl. Rotter 2022, S. 138) Bei österreichisch markierten Menschen antwortet sie »Ich komme aus Österreich.« (Zeile 404), mit dem Wissen, dass spätestens mit der Ergänzung des Nachnamens nachgebohrt werde (»Woher kommst du ursprünglich?«, Zeile 418). Tania verfügt über das Erfahrungswissen, welche Antwort die Fragenden potenziell hören wollen und entscheidet sich dazu, diesem Begehren nicht mehr nachzukommen, indem sie auf wiederholtes Nachfragen nicht mehr antwortet, sondern fortan schweigt. Irgendwann aber ist mir das so auf die Nerven gegangen, dass ich gesagt habe: Nein. Ich höre jetzt auf damit. Wenn mich jetzt jemand fragt, kommuniziere ich jetzt einfach nicht mehr mit den Leuten. Und ich ziehe das auch wirklich bis heute durch @(.)@. Also wenn mich jemand fragt: »Woher kommst du?« und ich sage: »Österreich« und sie sind dann immer noch nicht zufrieden, dann rede ich einfach nicht mehr mit ihnen. (Zeile 406-410) Im neuen Freundeskreis wird die Herkunftsfrage reaktiviert, jedoch aus einer differenten Motivation heraus. Wurde sie zuvor vorwiegend im institutionalisierten Schulkontext und von sogenannten Einheimischen und Erwachsenen gefragt, hört sie sie nun in der Freizeit von sogenannten Gleichen. Das Gleichsein ergibt sich aufgrund eines ähnlichen familiären Erfahrungsschatzes und potenziell korrespondierender Erfahrungen

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etwa im Bildungssystem und Alltag.6 Umso mehr verwundert es Tania, dass die Gleichaltrigen, die wie sie, repetitiv als Andere markiert wurden, die Frage adaptieren und je nach Aufdeckung einen Ausschluss der antwortenden Person beschließen. Die vermeintlich Gleichen reproduzieren somit Ungleichheit innerhalb der Peergroup. Tania erkennt schließlich, dass »Was bist du?« entweder auf die Religionszugehörigkeit oder die eigene bzw. die Nationalität der Eltern abziele. Tania selbst ist österreichische Staatsbürgerin und kann sich weder mit der einheimisch etablierten Betrachtungsweise noch mit der jugendlich marginalisierten Perspektive auf Zugehörigkeit anfreunden, da beide exkludierend sind. Der Erzählerin zufolge verorten sich sowohl »Woher kommst du?« als auch »Was bist du?« innerhalb zweier Extreme, da sie die befragte Person in eine Ecke drängen, sich biografisch erklären, positionieren und sich gewissermaßen »bekennen« zu müssen. Mit dem kann ich schon umgehen, aber damals war das einfach so extrem, weil ich halt zwischen zwei Extreme gestellt war. Ich war in der Schule zwischen ganz, ganz vielen Österreichern, die immer wissen wollten: »Woher kommst du eigentlich?« Und dann war ich zwischen diesen Freunden, (formt mit den Händen Anführungszeichen) die dich fragen: »Was bist du?« Und das war so schlimm für mich, weil ich einfach die Frage nicht verstanden habe. Und sie wollten eigentlich immer wissen, was meine Religion ist, weil sie ein bisschen aus ganz schlimmen Familien sind. […] Es sind einfach diese Familien, die halt irgendwann während des Krieges gekommen sind und soo viel Hass in sich tragen gegenüber den anderen Nationen aus Jugoslawien. (Zeile 423-432) Tania berichtet, dass die familiale Herkunft entscheidend gewesen sei, ob die Gruppenmitglieder mit ihr befreundet sein wollten oder nicht. Herkunft wird dabei durchaus flexibel genutzt, sodass bei Sympathie des*der Neuen gegenüber, die geografische Verortung einzelner Familienangehöriger als »Beweis für die Zugehörigkeit« zu Nation XY genutzt werden kann. Die Jugendlichen sortieren und separieren sich nach der Herkunft der Eltern selbst in Gruppen und bedienen sich den Kategorien »Kroat*innen«, »Serb*innen« und »Bosnier*innen«. Tanias Familiengeschichte verortet sich durch einzelne Protagonist*innen in allen drei Ländern. Sie beschreibt, dass sie »von einer Gruppe in die nächste gegangen« (Zeile 442) sei, schlussendlich aber keiner mehr angehören wollte: »Ich bin nichts davon!« (Zeile 447).

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Die Jugendlichen verfügen über eine gemeinsame generationelle Lagerung aufgrund ihrer gleichartigen Geburtsjahrgänge sowie über einen kollektiven generationellen Zusammenhang hinsichtlich ihrer ähnlichen sozialen und geografischen Verortung und der Erfahrungen, die dort stattfinden. Die vergleichbaren, diskriminierenden Erfahrungen, die sie erleb(t)en, können eine spezifische Verbundenheit zwischen den Subjekten eröffnen und ein gleichgerichtetes Verhalten bzw. Handlungsweisen anleiten, hier in Form der aktiven Aneignung des Herkunftsdiskurses. (Vgl. Mannheim 1970, S. 524ff.; siehe 4.2) Die Gruppe der Jugendlichen bildet folglich eine Generationslagerung, einen Generationszusammenhang und eine Generationseinheit aus und lässt sich daher mit Mannheim – temporär – als soziologisch erkennbare Generation sowie als soziale Kategorie lesen (ebd.; siehe 4.2).

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

Also wenn ich mit den Kroaten war, da war das so: »Ja deine Tante ist in Kroatien, also bist du Kroatin.« Wenn ich mit den Bosniern war, war ich Bosnierin, weil meine Eltern ursprünglich aus Bosnien sind. Und wenn ich mit den Serben war, hat es auch gepasst, weil meine Mama ist ja eigentlich serbisch-orthodox. (Zeile 442-446) Tania analysiert, dass die Jugendlichen die familiären Erfahrungen während des Jugoslawienkrieges reproduzieren und auf junge Erwachsene aus einer divergierenden ethnischen und/oder religiösen Gemeinschaft, gegenteilige Attribute sowie Schuldzuweisungen hinsichtlich der historischen Konflikte übertragen würden. Sondern wirklich unsere Leute haben so viel Hass gegenüber denen, dass einfach das Wichtigste für sie ist, was du bist. Weil wenn du jetzt nicht Kroate wie sie bist, dann kannst du nicht mit ihnen befreundet sein, weil dann du ein schlechter Mensch bist. (Zeile 436-438) Tania sagt »unsere Leute« und meint damit all jene Menschen, die Bezüge zum historischen Jugoslawien haben. Sie unterscheidet kaum nach nationalstaatlicher Herkunft in Folge der Aufspaltung des ehemaligen Vielvölkerstaates. Ihre Eltern hätten sie »anders« erzogen, ihr Denken und Handeln wäre nicht durch das Einteilen in Gruppen bestimmt. Die Diskurse über nationale und religiöse Zugehörigkeit, die Freundschaften aufgrund von Gleichheit stiften oder wegen divergierender Kategorien Beziehungen verbieten, engen sie ein. Der Besuch des Gymnasiums als »schlimmste Zeit überhaupt« und die Umwandlung negativer Bildungserfahrungen in die »schönste Zeit meines Lebens« Tania fühlt sich in diesem Freundeskreis nicht mehr wohl und bricht den Kontakt zu den Gleichaltrigen ab, dennoch wirken deren Identitätskonzepte nach. Mit den Worten »Irgendwas stimmt nicht mit mir, irgendwas geht nicht mehr« (Zeile 460) sucht sich Tania eigenständig professionelle Hilfe. Als es ihr psychisch wieder besser geht, steht ein Schulwechsel auf das Gymnasium an, die sich als »schlimmste Zeit überhaupt« (Zeile 465f.) charakterisiert. Tania erinnert sich in der Narration über das Gymnasium, an erfahrene Demütigungen und Kränkungen, die sie nach rund einem Jahr dazu bewegen, die Schule abzubrechen. Die Zusammensetzung der Klasse ist relativ homogen und besteht fast zur Gänze aus »einheimischen« Schüler*innen mit akademischem Familienbackground. Tania irritiert scheinbar durch ihren familiären Hintergrund, der sich sowohl aus der familialen Migrationserfahrung bzw. Mehrheimischkeit als auch aus dem Arbeiter*innenkontext ergibt, die Vorstellung einiger Lehrer*innen und Klassenkolleg*innen hinsichtlich Bildung. Wir waren die einzigen zwei. Es waren nur Österreicher. Was ja nicht schlimm ist, aber für diese Situation dort, war es schlimm. Weil das die Lehrer, glaube ich, noch mehr irgendwie in ihrem Denken unterstützt hat. Und das Schlimme war aber, dass das primär Kinder waren, in diesem Alter ist man ja eigentlich noch ein Kind, Kinder waren, die nur da hocken, weil ihre Eltern irgendwelche Akademiker sind. (Zeile 485-488)

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Tania möchte sich zunächst nur auf das Lernen und ihre primäre Bestrebung erfolgreich das Abitur abzuschließen, konzentrieren, sie wird jedoch vonseiten der Lehrer*innen und Klassenkolleg*innen in der Rolle der Lernenden wenig ernst genommen. Einerseits werden ihr Bildungsaspiration und die tatsächliche schulische Leistung7 , die sie erbringt, abgesprochen und andererseits wird sie permanent migrantisiert. Aufgrund ihrer fehlenden akademischen Herkunft könne sie, so argumentiert eine Lehrerin, nicht (bildungs-)erfolgreich sein. Bildungserfolg folgt der Logik eines Privilegs, eines Bildungsprivilegs und wird vordergründig nur der »eigenen« dominanten Gruppe, die mit einem bildungsspezifischen Habitus ausgestattet sei, zuerkannt. Die Lehrerin nutzt ethnische Deutungsmuster bezüglich der Schüler*innenschaft und hält damit an einer konstruierten Vorstellung über Bildungsnormalität fest (vgl. Yıldız 2016, S. 35), die in der Institution Gymnasium im besonderen Maße, aber auch in den Lehrplänen oder Schulbüchern Anwendung findet. (Vgl. ebd.) Tanias Reaktion auf Haltungen und Handlungen, durch die sie ver-andert wird, ignoriert sie zunächst. Den Klassenkamerad*innen gegenüber will sie mit Gleichgültigkeit begegnen und kein Interesse an ihnen zeigen. Ein missglückter Test und die daraus resultierende abfällige Reaktion des prüfenden Lehrers »Du wirst das eh nie schaffen!« (Zeile 1661), wirkt wie eine Initialzündung und bringt die Protagonistin dazu, ihr vorherige Strategie des Ignorierens und Schweigens zu adaptieren: »Ich habe dann wirklich angefangen, dagegen zu reden« (Zeile 504-505). Tania ergänzt, dass sie teilweise sehr frech zu den Lehrer*innen ist und spezifiziert: »Für mich war das halt auch eine […] Taktik in diesem Moment. Ja, ich habe dann wirklich auch bestimmte Sachen absichtlich gemacht, weil es mir halt wirklich auch egal war« (Zeile 510ff.). Das Verhalten und Auftreten der Erzählerin im Schulkontext ändern sich nun drastisch. Sie verhält sich nun so, wie es ihr seit dem ersten Schultag am Gymnasium zugeschrieben wurde. Tania wird nach eigenen Worten zu dieser Person gemacht, im Sinne eines Othering-Prozesses (vgl. Riegel 2016; siehe Fallrekonstruktion Malu in Kap. 6.3). Sie wendet Othering nun auf sich selbst an, verhält sowie artikuliert sich konträr zur Art und Weise, wie sie es normalerweise tue. Jene Personen, die behaupteten, dass sie dumm sei, nicht bildungserfolgreich wäre oder sich nicht in die Normalitätsvorstellung des*der Österreicher*in integrieren lasse, »haben mich zu dem gemacht« (Zeile 552), reflektiert sie. »Sie« sind die vor allem die Pädagog*innen des Gymnasiums und die dortigen Schüler*innen aus sozioökonomisch gut situierten Familien, die Tania aufgrund der familiären Migrations- und Klassenerfahrung (Aumair/Theißl 2021d, S. 12) abwerten würden. Und das war für mich so schlimm, weil die Leute ein so schlechtes Bild von mir gehabt haben, dass ich etwas bin, das ich gar nicht bin. Aber sie haben mich zu dem gemacht. Weil sie die ganze Zeit so getan haben, also ob ich anders bin, als ob ich dumm bin und sie haben mich irgendwann dazu gemacht. (Zeile 549-552) Tania nimmt dieses »schlechte Bild«, das die Schulgemeinschaft von ihr hat, wie eine selbsterfüllende Prophezeiung auf und agiert fortan nach eben diesem Muster. Sie spielt

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Eine Lehrerin benotet die Hausaufgabe der Protagonistin als negativ, eine weitere Schülerin gibt die gleiche Hausaufgabe ab und erhält eine gute Note.

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vermehrt mit dem Gedanken, die Schule zu wechseln und die Familie erst nach dem Abgang vom Gymnasium darüber zu informieren. Da sie zum damaligen Zeitpunkt noch nicht volljährig ist, kann sie diese Entscheidung nicht eigenständig treffen. Das zweite Schuljahr beginnt und Tania fragt sich, ob sie sich das Verhalten, mit dem sie tagtäglich konfrontiert wird, nur einbilde. Sie hinterfragt ihr eigenes Empfinden und ihre Einschätzung dem Schulumfeld gegenüber, sie wird zunehmend unruhiger und verschlossener. Ihre Verunsicherung überspielt sie, indem ihr Handeln und die Haltung, die sie nach außen trägt, immer konfrontativer werden. Den andauernden Lästereien von Mitschüler*innen begegnet sie mit Gegenfragen, wie »Was hast du für ein Problem?« (Zeile 532). Tania spricht Zuhause nicht über die Schwierigkeiten in der Schule, da sie niemanden belasten möchte: »Ich war es halt gewohnt, immer auf mich alleine gestellt zu sein und ich habe gewusst, ich kann das auch dieses Mal machen« (Zeile 522f.). Die Mutter besucht die Elternsprechtage, erkennt aber nicht, wie schlecht es der Tochter gerade geht. Es kommt schließlich zu einem Vorfall mit einem Pädagogen, der jeden Tag nach Schulbeginn am Schulhof steht und die Schüler*innen, die sich verspäten, nach ihren Gründen fragt. Tania, die nur wenige Tage in der Woche in der Schule verbringt, erzählt, dass sie ihn eines Tages zusammenstaucht, »zusammengelassen hat« (Zeile 548). Der Vorfall macht Tania »zur traurigen Berühmtheit«. Sie schämt sich, dass sie nun die gesamte Schule kennen würde und häuft weitere Fehlstunden an, die sie in ihrem Zimmer verbringt. Tania sucht ein Ventil für ihre Emotionen und Ängste und beginnt damit, sich selbst zu verletzen. Und ich habe mich immer sehr sehr viel aufgeregt und ähm für mich war das einfach sehr schlimm, weil ich eigentlich nicht so ein Mensch bin. Also ich kann eigentlich mit sowas überhaupt nicht umgehen und dann habe ich damit angefangen, mich überall aufzukratzen, also so richtig. Sachen, die eigentlich aus dem Kopf kommen, sind überall erschienen und irgendwann bin ich einfach nicht mehr in die Schule gegangen. (Zeile 532-536) Trotz beinahe 300 Fehlstunden schließt Tania das Schuljahr positiv ab, was sehr wichtig ist, weil sie nicht die »Dumme« (Zeile 559) sein wollte. Sie kann jedoch die Fassade, dass es ihr gut ginge, nicht mehr aufrechterhalten und weiht die Mutter in ihre Probleme ein. Gemeinsam wird die Lösung gefunden, trotz der erlebten Erfahrungen nicht mehr an das Gymnasium zurückzukehren und stattdessen die Abendschule, die sich als bislang »schönste Zeit meines Lebens« (Zeile 577; vgl. Rotter 2022, S. 140) ausgestalten wird, zu besuchen. Tania schätzt sowohl den dortigen Umgang der Lehrenden mit den Lernenden, der nicht herkunftsbasiert ist, als auch die zwischenmenschliche Kommunikation zwischen den Besucher*innen. Die Lehrenden appellieren an die Eigenverantwortlichkeit der zu Unterrichtenden, wer lernen wolle, solle lernen, wer nicht lernen wolle, wiederum nicht. Wenn Tania von den Erfahrungen auf der Abendschule spricht, verwendet sie die Attribute »schön« und »glücklich«, gepaart mit »sooo« oder »sehr«, um die Intensität ihres Wohlwollens und -fühlens auszudrücken. Sie erklärt die Schönheit der Lernerfahrung damit, dass sie sich an diesem Ort »normal« gefühlt habe und auch ebenso wahrgenommen wurde. Herkunft spielte in den Augen der Lehrenden keine Rolle und bei den Ler-

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nenden nur während interessierter zwischenmenschlicher Gespräche in der Pause. Die Auslegung von Normalität wird in diesem Abschnitt von Tanias Bildungsbiografie neu verhandelt. Die Besucher*innen der Abendschule, die unterschiedliche Lebensalter, Geschlecht, Professionen haben, machten ähnliche negative Erfahrungen im Bildungskontext. Die mehrheimischen Bezüge, die der Großteil von ihnen hat, werden, im Gegensatz zu den institutionalisierten Auffassungen im konventionellen Bildungssystem, zur Normalität erklärt und tragen der postmigrantischen Gesellschaft Rechnung. In der Abendschule bekommt Tania ihr bislang bestes Zeugnis und erreicht die wichtige Bildungsetappe Abitur, das ihr neue Entscheidungsmöglichkeiten hinsichtlich des beruflichen Weges ermöglicht. Tania entschließt sich dazu, studieren zu wollen: Du hast 12 Jahre lang dafür gekämpft, du warst der Ausländer, der Dumme ((lacht)) und hast du jetzt endlich deine Matura und es ist das beste Zeugnis, das du je gehabt hast und dann weißt du nicht, was du studieren sollst […] (Zeile 622-625) Die Studienwahl stellt die Erzählerin nochmals vor Herausforderungen, da die neuen Möglichkeitsräume, die sich mit einem Studium zu öffnen scheinen, unbekannt sind. Als Arbeiter*innenkind verfügt sie weder über das implizite Wissen hinsichtlich der Universitätslogik noch die an diesem Ort erwarteten habituellen Gepflogenheiten. Genauso muss sie die innerfamiliären Erwartungshaltungen hinsichtlich einer möglichen Studienwahl aufdecken, sortieren und schließlich überlegen, was ihr persönliches Traumstudium ist. Stolz stellt Tania während unseres Gespräches fest: »Und jetzt sitz ich in der Uni und studiere.« (Zeile 625) und beschreibt damit als sogenannte »first-generation student« (Stephens et al. 2014, S. 943) sowohl eine biografische Momentaufnahme als auch eine gemeisterte Bildungsetappe. Biografisch-generationale Kompensation familial geleisteter (Migrations-)Entbehrungen durch die Anhäufung ökonomischen Kapitals Die Entscheidung für das Studienfach Wirtschaftswissenschaft erfolgt vor allem aus pragmatischen Gründen, ihre Passion gilt jedoch der Kunst. Die Studienwahl steht im Zeichen der vergangenen Sorge um Geld und impliziert die Vorstellung, durch das im Studium erworbene Wissen, möglichen finanziellen Problemen frühzeitig entgegenzuwirken: »Ich mag Business« (Zeile 702). Die Studienwahl obliegt nicht nur dem Interesse an dieser Disziplin, sondern ist vor allem innerfamiliär und intergenerationell begründet. Tania erklärt, dass sie bereits als Kind verstanden habe, »dass wir kein Geld haben« (Zeile 703), wenngleich die Mutter bemüht war, diesen Umstand zu verschleiern. Die Eltern intendierten, dass es den Kindern an nichts fehle, dennoch weiß Tania von klein auf, dass sich die Familie finanziell stark einschränken muss. Und ich bin schon als Kind immer so gewesen, dass wenn wir halt irgendwo waren, immer etwas bestellt haben, das billig war, obwohl die Mama das nie verlangt hat. Aber ich habe es einfach gewusst. Wenn wir einkaufen waren, habe ich immer auf den Preis geschaut. Egal, wie gut es mir gefallen hat. Wenn es teuer war, also wenn es für mich teuer war, habe ich immer gesagt: »Nein das will ich nicht. Nein das gefällt mir nicht.« (Zeile 706-710)

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

Um den Eltern unter die Arme zu greifen, versucht Tania damals ihr Taschengeld selber zu verdienen und das meist mit Erfolg. Hierfür veranstaltet sie in der Nachbarschaft ihren eigenen Flohmarkt, putzt gegen ein kleines Entgelt fremde Fahrräder oder pflückt große Blumensträuße und verkauft sie. Tania nennt diesen Vorrang, den sie als Kind regelmäßig betreibt, »Business machen« (Zeile 702), der aus der finanziellen Notlage der Familie heraus entsteht und bis heute, in abgeänderter Form, praktiziert wird. Als ihre beste, kindliche Idee beschreibt sie den Kauf von einer Großpackung einzeln verpackter Eissorten, die sie an Passant*innen verkauft und damit ihre mühsam ersparte Investition verdreifacht. Und meine Mama war immer so erstaunt: »Woher hast du das?« Sie hat einfach nie verstanden, woher ich das Geld habe und ich wollte ihr das nie erzählen. Das waren immer so meine Sachen und ich habe das Gefühl gehabt, immer, ich muss mich um mich selber kümmern. Irgendwann habe ich ganz viel Geld, das war der Plan, und dann kann ich es ihr geben. Und das ist bis heute so. (Zeile 728-731) Tania spricht hiermit das kindliche Bestreben an, das bis heute anhält, die Mutter finanziell unterstützen zu wollen. Sie ist der Mutter dankbar für ihren Einsatz, den diese für die Kleinfamilie anwandte und möchte gewissermaßen eine Art intergenerationelle Kompensation familial geleisteter (Migrations-)Entbehrungen forcieren, indem sie Geld akkumulieren und familiär reinvestieren möchte. Die finanzielle Situation der Familie ist gegenwärtig noch immer ein Thema, das permanent unterschwellig präsent ist. So zeigt sich einerseits die Mutter traurig darüber, dass sie ihren Kindern kein Eigentum oder finanzielle Rücklagen hinterlassen könne und andererseits möchte Tania die Familie unterstützen, aus Dankbarkeit sowie aus der festen Überzeugung heraus ohne ihr Zutun ginge es nicht. Tania erklärt der Mutter, dass es »Blödsinn« sei (Zeile 811), dass ihre Mutter den Kindern ökonomisches Kapital hinterlassen wolle, denn: Weil was soll ich mit irgendeiner Wohnung, die du mir hinterlässt und dafür hast du dein ganzes Leben lang soo gebuckelt, damit du wenn du gehst, mir was hinterlassen kannst? Das brauche ich nicht! Ich habe lieber jemanden, der sich um mich gekümmert hat und mir alles das beigebracht hat und mich zu dem gemacht hat, der ich jetzt bin. Als irgendwas Materielles, das brauche ich nicht. Wenn ich etwas haben will, dann kaufe ich es mir! Ich kann das auch selber machen. (Zeile 1649-1653) Stellenweise relativiert Tania die finanzielle Situation der Familie und erklärt, dass es der Familie mittlerweile ökonomisch sehr gut gehe und alle arbeiten würden. Sie habe aber immer noch Angst davor, sich eines Tages im Supermarkt, wie in der Kindheit, nur noch Semmeln leisten zu können. In diesem Zusammenhang artikuliert sie laute Kritik an Kindern, die reiche Eltern haben und diesen Umstand nicht wertschätzen würden. Sie musste und müsse, im Gegensatz zu Bekannten ihrer Generation, alles selber leisten und alleine schaffen. Sie weiß jedoch auch, dass das Realisieren eigener Ziele prinzipiell möglich sei: Und genau das, ist glaube ich der Unterschied. Dass wir einfach wissen, wir können das machen. Egal wie hart es ist, aber wir können das schaffen. Einfach weil wir von Anfang an die Möglichkeit gehabt haben, das auch so zu sehen. Weil was hätte mein

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Opa, wenn der gekommen ist, machen können, außer die ganze Zeit über zu arbeiten und zu hoffen, irgendwann zurück zu gehen, weil er hier keine Zukunft gehabt hat. Und mein Papa und meine Mama genauso. Natürlich hätten sie gerne studiert und keine Ahnung was gemacht. Aber das war damals einfach nicht möglich. Und wir haben die Möglichkeiten jetzt und waren uns von Anfang an bewusst, dass wir diese Möglichkeiten haben und deswegen glaube ich, haben wir auch diesen Ehrgeiz zu sagen: »Wir können das machen, egal wie irre das ist.« (Zeile 1654-1662) Tania spricht hier Phänomene der ökonomischen und sozio-kulturellen Bevorzugung sowie Benachteiligung an, die sich entweder als Privilegiertheit oder aber als Depriviligiertheit manifestieren. Anhand der biografischen Erzählungen lässt sich konstatieren, dass durch die Migration der ersten Generation Möglichkeitsräume, etwa Bildungsräume, für die postmigrantische Generation eröffnet wurden. Trotzdem spielt ein Weniger an den familiären Kapitalsorten nach wie vor eine große Rolle auf dem Bildungsweg der jungen Erwachsenen, der häufig durch Erwerbsarbeit, die der alleinigen oder anteiligen Finanzierung der Aus- und Weiterbildung dient, ergänzt wird: »Wie oft rede ich mit Freunden und denke mir: ›Ihr wisst gar nicht, wiiie hart es einen treffen kann‹« (Zeile 1667f.).8 Die Kindheit und Jugend vieler ihrer Freund*innen, die als Österreicher*innen gelesen werden, sei »perfekt strukturiert« (Zeile 1669) gewesen. Tania wirft ein, dass jede*r Trauer oder Schmerz gleichermaßen empfinde und es dabei egal sei, ob jemand arm oder reich wäre. Familiäre Schicksalsschläge könnten jede*n ereilen, mit bestimmten Problemen jedoch, wie Geldnot oder sozialer Stigmatisierung, würden Menschen, die Tania als »Reiche« betitelt, kaum konfrontiert werden. Tania differenziert nicht zwischen Reichen und Mittelstand, sondern bezieht die Zuschreibung reich, privilegiert und strukturiert zu sein, verallgemeinernd auf einheimische Familien ohne Migrations- und Arbeiter*innenbiografie. Sie prangert nicht direkt den Vorschuss an, mit der gleichaltrige, weiß Positionierte ins Leben starten würden, sondern skandalisiert deren fehlende Wertschätzung und Reflexion bezüglich ihrer Bevorzugung und Privilegien. (Vgl. kritisch dazu El-Mafaalani 2011; Röggla 2012; Tißberger 2020) Aber trotzdem gibt es manche Sachen oder Erfahrungen, die sie bis jetzt noch nie gemacht haben und wahrscheinlich auch nie machen werden. Und ich aber schon und ich glaube, oft denke ich mir dann so: »Ihr seid gar nicht dankbar für das. Ihr wisst gar nicht, wie schön ihr es in manchen Sachen gehabt habt.« (Zeile 1668-1672) Tania beschreibt ein konkretes Ereignis in ihrer Kindheit, das sich heute noch als Lehrstück dahingehend präsentiert, mögliche existenziellen Sorgen unbedingt abwehren zu wollen. Dem Wunsch des Bruders, Salami anstelle von Extrawurst zu kaufen, kann die Mutter in der prekären finanziellen Situation nicht nachkommen. Tania reflektiert hier nicht nur das Bedürfnis des Kindes, einmalig eine andere Wurstsorte für das Abendbrot 8

Die Generationsdauer der mehrheimischen Familie vor Ort ist geringer als jene der einheimischen Familien. In Anbetracht dessen ist die innerfamiliäre Kapitalakkumulation, die erfolgte, beeindruckend, im Vergleich zu alteingesessenen Familien jedoch bislang bzw. mitunter geringer. Die drei familiären Generationen erkämpfen sich Zugangschancen und Partizipationsmöglichkeiten, die für einheimische Familien in der Regel selbstverständlich und einfacher zugänglich sind.

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

zu wollen, sondern gleichsam die Schieflage zwischen den Lebensrealitäten ihrer Kindheit und jenen Realitäten im Aufwachsen (vieler) Gleichaltriger mit einem einheimischen Background. Ich werde nie vergessen, das war voll schlimm, wir haben eine Phase gehabt, da haben wir wirklich sehr, sehr wenig Geld, also wirklich extrem wenig Geld gehabt und die Mama hat halt im [Supermarktname] immer Semmeln gekauft. Diese 10 Stück und Extrawurst. Und mein Bruder liebt aber Salami. […] Wir sind dagestanden und dann hat sie eben diese Extrawurst bestellt und dann hat mein Bruder sich umgedreht und gesagt: »Ja aber Mama, warum kaufst du schon wieder Extrawurst, ich hätte so gern Salami!« Aber Salami war einfach so teuer und das wissen sie einfach gar nicht. Weil dieses Problem haben sie haben sie wahrscheinlich nie gehabt. Sie haben nie gewusst, wie es ist, jeden Tag Extrawurst zu essen und von Salami zu träumen! Sie haben vielleicht ein Spielzeug gehabt und hätten gerne noch ein Größeres. Natürlich fühlt es sich ähnlich an, aber es ist einfach das, wo wir gesagt haben: »Nie wieder! Das soll nie wieder passieren!« Und das wissen die anderen gar nicht. Sie wissen gar nicht wie. Deswegen haben viele auch diesen Ehrgeiz nicht zu sagen, sie ziehen das jetzt durch. Weil sie einfach nicht wissen, was da unten eigentlich auf sie wartet. Und das haben wir halt auch nur zu spüren bekommen […] weil wir diese Geschichte haben, die wir haben. (Zeile 1464-1489) Tania erklärt, »sie wissen nicht« wie es war und attestiert damit der Peergroup ein mangelndes Erfahrungswissen, das sich durch die (von der Erzählerin angenommene) Tatsache ergäbe, sie wären als Heranwachsende mutmaßlich nicht mit Geldnot konfrontiert worden. Die Erzählerin nutzt rückblickend die eigenen Mangelerfahrungen aus der Kindheit als Lernerfahrung und zeichnet nach, dass sie aus dieser ökonomischen Not heraus, großen Ehrgeiz entwickelt habe, um eine Wiederkehr der damaligen ökonomischen Situation zu verhindern, es »durchzuziehen« (Zeile 1688), wie Tania formuliert. Diese Kompetenz spricht sie sich zu und den Gleichaltrigen wiederum – aufgrund der fehlenden Erfahrung – ab. »Weil wir diese Geschichte haben, die wir haben« als Ausgangspunkt für vergangenheits- und zukunftsorientierte Lebensentwürfe Die Protagonistin bespricht »diese Geschichte […], die wir haben« (Zeile 1690) und konstruiert davon ausgehend, verletzende Erfahrungen der Vergangenheit, die sie in der Gegenwart stärken würden. Damit in Verbindung steht auch der Stolz über ihren Familiennamen, der zwar wiederholt Auslöser für Anfeindungen von außen war, aber sie gleichzeitig an die Vergangenheit der Familie und den Mut der familiären Pionier*innen erinnert, auf deren Erlebnisse und Erkenntnissen sie aufbaut. Sie trägt den Nachnamen aus Überzeugung und möchte ihn in Falle einer Heirat unbedingt beibehalten. Der Familienname spiegelt die familiale Migrationserfahrung wider, ist Teil des Familienkapitals und archiviert Erinnerungen des familiären Gedächtnisses. Also, ich, ich würde nie meinen Nachnamen hergeben, nie! Wenn ich jetzt heiraten würde, ich könnte nicht meinen Nachnamen hergeben. Also so viel Leid dieses -ic mir gebracht hat, ich würde es nie hergeben. Niemals! Weil das ist einfach meins und je

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meehr die Leute sich dagegen wehren, umso mehr werde ich stolz darauf. Und ich und sie sagen auch immer: »Nieeemals!« Und wenn auch maximal ein Doppelname, aber dieses -ic muss einfach bleiben, weil die Leute wissen sollen, dass es ein -ic war. Weil die Leute wissen sollen, weil sie vielleicht dadurch akzeptieren, dass wir nicht anders sind und, dass wir genauso zu dem Land gehören wie die anderen auch. (Zeile 833-840)9 Tania resümiert, dass sie den Nachnamen an ihre späteren Kinder weitergeben möchte, als Zeitzeugnis dafür, dass die Familie zugleich Bezüge zu den Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawiens und zu Tirol hat, also mehrheimisch gelesen werden kann. Die Mehrheimischkeit drückt eine Mehrfachzugehörigkeit aus und unterstreicht besonders auch die selbstdefinierte Zugehörigkeit zum hiesigen Kontext (»dass wir genauso zu dem Land gehören wie die anderen auch«, Zeile 840f.), unabhängig der Fremddeutung von außen. Tania möchte ihren Nachfolgegenerationen durch die Weitergabe des Nachnamens sowie ausgewählte Tradierungen vermitteln, »wie wir überhaupt hergekommen sind« (Zeile 1513). Das »Wir« von dem die Erzählerin spricht, kann in Anlehnung an die Idee der Familie als Kollektiv interpretiert werden. Die Migrationsleistung der Pionier*innen wird als generationsübergreifendes Gemeinschaftserlebnis und -leistung festgehalten. Obwohl die Durchführung der tatsächlichen Migrationserfahrung limitiert ist, wirkt sich der Effekt des Migrierens nachhaltig auf die Generationsmitglieder aus. Neben den maßangebenden Erzählungen des Ankommens, möchte die Protagonistin ihren potenziellen Kindern auch lustige Anekdoten weitergeben, die das Bild der Familie und die Familiengeschichte komplementieren sollen. So erzählt Tania von sogenannten »Balkan-Memes« (Zeile 1522), die in sozialen Netzwerken geteilt werden. Ein Meme ist in der Regel ein humorbasiertes, satirisches oder sarkastisches Stilmittel, das digital genutzt wird, um verkürzte Bild- und Textteile, die schnell erfassbar und zuordenbar sind, zu transportieren. Diese Bild-Text-Darstellungen arbeiten mit simplen, reduzierten, verallgemeinernden und häufig stereotypen Witzen. Sie wollen eine breites Zielpublikum erreichen und in den digitalen Netzwerken durch das Teilen des Inhaltes vervielfältigt werden. Über ein solches Meme spricht Tania, das sie in der Auffassung stützt, die im ehemaligen Jugoslawien aufgewachsenen Eltern der Nachfolgegenerationen würden sich, egal wo sie mittlerweile leben, in ihren Erfahrungen und Verhaltensweisen gleichen. Ihr Argument dafür lautet: »Alle schreiben, dass das so ist« (Zeile 1533). Es ist so lustig, es gibt immer so […] diese Seiten […] Vor allem gibt es diese BalkanMemes. Und da sind immer so, eben Memes über Menschen aus Ex-Jugoslawien und ihre Geschichten und wie sie sich benehmen. […] Das ist so lustig, […] oft wird auch von Herr der Ringe die Szene genommen, wo sie über das Nebelgebirge gehen. Und dann steht so: »Wie mein Vater seinen Schulweg beschreibt.« Und genau so ist es. Also wenn mein Papa seinen Schulweg beschreibt, dann sagt er, er hat über Berge gehen müssen und Kilometer lang und über Wasser und ist immer nass und zu spät in die Schule gekommen. Und es ist sooo lustig, weil anscheinend einfach jeeeder so ist. Und diese Seiten haben Millionen von Followern. Alle schreiben, dass das so ist. 9

Siehe dazu auch Rotter 2022.

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

Und wer weiß, wo diese Menschen leben. Irgendwo in Amerika, Australien, Kanada. (Zeile 1522-1534) Tania meint die im Meme parodierte Beschreibung des Schulweges durch die Narration des Vaters gewissermaßen wiederzuerkennen und schlussfolgert daraus, dass nicht nur die Erfahrungen der Elterngeneration, sondern auch das (Erzähl-)Verhalten, etwa das Ausschmücken des Schulweges, kulturell bedingt wären. Aufgrund der vielen Kommentare der Online-Nutzer*innen induziert sie generationelle Gemeinsamkeiten nebst Charakterisierungen und übernimmt kulturalisierende und ethnisierende Deutungsmuster. Tania öffnet mit dieser biografischen Sequenz den Zugang zu einem digitalen Raum, der nationalstaatliche Grenzen fluider werden lässt. Durch das Besuchen gezielter Seiten auf spezifischen Internetplattformen lernen sich Personen scheinbar kennen und entwickeln aufgrund des gemeinsamen Backgrounds ein Verständnis für einander. Es entsteht eine neue Form der Gemeinschaft in Form eines generationellen Netzwerkes, das reale geografische Distanzen reduziert und kategoriale Übereinstimmungen zwischen den Nutzer*innen markiert, ähnlich einer Assemblage (siehe Kap. 5.2.2). Die postmigrantische Generation zieht aufgrund zufälliger virtueller Begegnungen Parallelen zwischen eigener und fremder (Familien-)Erfahrung und erweitert somit die Vorstellung einer postmigrantischen Generation, die eine ähnliche geografische und/oder soziale familiäre Ausgangsbasis hatte und nun den je eigenen, individuellen Lebensentwurf zu realisieren versucht. Fazit Tania rekonstruiert sowohl die Familienbiografie als auch die eigene Lebensgeschichte als entbehrungsreich, stellenweise kompliziert und schwierig. Indessen lanciert sie besonders die negativen biografischen Erlebnisse und Erinnerungen als Warnung für die Zukunft. Retrospektiv bilanziert sie, dass sie ihre Ziele trotz gegenteiliger Meinungen von Außenstehenden oder Professionellen, wie Lehrer*innen, erreichen konnte. Tania verwendet das Ende unseres Gesprächs als narratives Zwischenresümee, um ihre biografischen Erkenntnisse aufzuschlüsseln: Sie wolle sich nicht mehr unterdrücken lassen, sei es durch Gleichaltrige oder Autoritäten und werde sich bei Ungerechtigkeiten wehren. In der Erklärung, wie sie Mechanismen und Praktiken der Fremdschreibung bzw. Ungleichheitsbehandlung begegnen möchte, verweist sie nochmals auf das kollektive Wir, das an dieser Stelle ihren Bruder und sie umfasst: Wir lassen uns nicht unterdrücken. Wir sind das nicht und das muss irgendwo aufhören. Die Grenze muss irgendwo gezogen werden. Und ich glaube, das ist auch der Fehler, der so vielen anderen passiert. Dass sie sagen oder, dass sie einfach irgendwann akzeptieren […] und sagen: »Ich bin Ausländer!« Das würde ich nie machen. Ich würde mich nie wie ein Ausländer benehmen, weil wieso? Und das tun einfach ganz viele und wir haben für uns einfach gesagt, dass wir das lange genug gesehen haben und wir haben die Folgen gesehen und das darf einfach nicht mehr passieren und ich glaube, deswegen reagieren wir auch so wütend, wenn wir mitbekommen, dass es passiert. Ich glaube, das ist das wo wir so reagieren. Und vor allem auch die Bildung. Dass wir die Möglichkeit haben, auch wenn es einfach, wie gesagt, schwieriger für uns

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ist. Weil wir haben weder irgendwelche ähm irgendwas, was wir erben können. (Zeile 1629-1638)

7.3 Zusammenschau Kernthese 1: Biografische Erfahrungen und erzählte Erinnerungen materialisieren sich durch den intergenerationellen Austausch und werden zu vorübergehenden oder langfristigen Konstanten im Familiengedächtnis. Die jungen Erwachsenen der postmigrantischen Generation treten in einen generationsübergreifenden Dialog mit einem Eltern- oder Großelternteil und bringen durch dezidiertes Nachfragen nebst aktivem Zuhören familienbiografische Erkenntnisse in Erfahrung, die sie zuallererst für sich neu sortieren (müssen), bevor sie sie schließlich in der Neuausrichtung des Familiengedächtnisses übernehmen, abändern oder verwerfen. Durch das Dialogische wird ein generationsübergreifender Verstehens- und Lernprozess eingeleitet, der einerseits das Erzählte, die vermeintliche »Faktenlage« tangiert und wandelt, indem noch offene Fragen formuliert und mitunter vom Gegenüber befriedigend beantwortet werden. Andererseits ordnet der kommunikative Austausch familiäre Ereignisse sowie Beziehungskonstellationen neu ein und stärkt Letztere. In diesem Zusammenhang berichtet Tania, die das bevorstehende halbnarrative Interview als Anlass nahm, um ihrem Vater brennende Fragen zu seiner und der Vergangenheit des Opas zu stellen, dass sie aufgrund der Kontextualisierung des Familiengeschichtlichen spezifische Handlungs- und Verhaltensweisen, die sie jahrelang ratlos machten, nun besser nachvollziehen könne. Sie rekonstruiert, ausgehend von seinen Artikulationen bezüglich des Verhältnisses zu seinen Eltern, weshalb er in der Erziehung Tanias ihr gegenüber streng war und ihre Bedürfnisse als Teenager nicht verstand. Es kostet Tania Überwindung, an spezifischen Stellen des Gespräches nachzuhaken und im Wissen über seine Involviertheit in komplexe zwischenmenschliche Prozesse heikle Fragen zu eben dieser emotionalen Verstrickung zu stellen. Jasemin wiederum nutzt weniger die Besonderheit des Erzählanlasses, sondern die Alltäglichkeit der Kommunikation, um Erkundigungen bezüglich der Familiengeschichte anzustellen, indem sie an bestimmten Stellen beiläufiger Gespräche gezielt ansetzt: »Ich habe dann schon oft die Mama nebenbei gefragt: ›Hey, wie war das? Und wie war das und was war da? Und wieso ist das passiert und wieso ist jenes passiert?‹« (Jasemin, Zeile 809f.). Ein intergenerationales Gespräch, das über bloße Wissensvermittlung des Familienund Lebensgeschichtlichen hinausgehen soll, benötigt jedenfalls, neben dem geeigneten Erzählrahmen, diverse Formen der Kraftanstrengung seitens der ungleich Beteiligten. Die Angehörigen der jüngeren Generation benötigen den Antrieb und manches Mal Mut, Fragen zu stellen, um beispielsweise erwartbare oder unerwartete, neue, adaptierte, verletzende oder auch gar keine Antworten zu erhalten. Die Erfahrung, wie komplex der Prozess des Nachfragens ist und dass dieser, retrospektiv Verletzung oder Retraumatisierung hervorrufen kann, macht Malu, als sie ihren Vater auf seine Erlebnisse im Internat anspricht und Unbeantwortetes, also die Leerstellen, selbstständig rekonstruiert. Die älteren Erzählenden wiederum bedürfen sowohl der Aufgeschlossenheit bezüg-

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

lich der Fragen der (Enkel-)Kinder als auch der Bereitwilligkeit, nicht nur basal, sondern tiefergreifender, plastischer als bisher zu erzählen, bislang Verdecktes preiszugeben oder offenzulegen, dass Spezifisches situativ bzw. mit dem Gegenüber nicht geteilt werden kann bzw. möchte. Zusammenfassend: Es geht innerhalb des familialen Dialoges um die Auseinandersetzung mit konkreten historischen und lebensgeschichtlichen Begebenheiten und gleichzeitig dem jeweiligen Umgang mit biografischen »Wahrheiten«, mit unterschiedlichen Begehren, Sichtweisen und Emotionen der Beteiligten, die zirkulär, parallel, abwechselnd als Erzählende, Erinnernde und Fragende auftreten. Biografische Erfahrungen und erlebte Geschichten, die in der intergenerationalen Artikulation vermittelt werden, werden zu temporären oder langfristigen Konstanten im Familiengedächtnis, sofern sie generationsübergreifend als bedeutend erachtet werden. Diese Konstanten treten im Familiengedächtnis in Form dominanter (Familien-)Erzählungen und Erinnerungen in Erscheinung. Welche Narrationen als dominant-prägend erachtet werden, unterliegt der spezifischen familialen Logik und Betrachtungsweise der Erinnernden und Erzählenden. Die Erzähler*innen der postmigrantischen Generation haben ob ihres Aufwachens, der Sozialisierung und mehrheimischen Verortungen (nicht nur) vor Ort ein anderes Sichtverhältnis auf die Lebens- und Erfahrungswelten der vorherigen Generationen, weswegen nicht jede erzählte Geschichte als gleichermaßen bedeutend reinterpretiert wird. Jene Narrationen jedoch, für die die jungen Erwachsenen empfänglich sind, werden als (familien-)biografisch relevante Erzählungen abstrahiert. Woran erinnern bzw. wovon erzählen also die jungen Erwachsenen der postmigrantischen Generation? Sie erinnern in den biografischen Rekonstruktionen an erzählte, lebensgeschichtliche Erfahrungen, die an einzelne Protagonist*innen, an eine oder mehrere Generationen oder an die Familie als konstruierte Gemeinschaft geknüpft werden. Es lassen sich folgende familienübergreifende Narrationen, die Konstanten im Familiengedächtnis bilden, rekonstruieren: Diese umfassen zuallererst die Geschichten des (Fort-)Gehens und Ankommens. Geschichten des Gehens und Ankommens implizieren Unterschiedliches. Erstens sind es die Mobilitätserfahrungen der Pionier*innen, die entscheidend, jedoch nicht ausschließlich die erste Generation betreffen, sondern die gesamte Familienlogik herausfordern. Mit der Migrationsentscheidung und der tatsächlichen Migrationserfahrung einzelner oder mehrerer familialer Akteur*innen geht eine familiale Reorganisation des bislang Gewohnten, Alltäglichen und damit Normalisierten einher. Diese Reorganisation betrifft erstens die vorübergehende oder langfristige Neustrukturierung familialer Räume. Die familialen Orte öffnen sich durch den Weggang mindestens einer familial bedeutenden Person, meist des Großvaters10 , sie werden zu hybriden, transnationalen oder grenzüberschreitenden Räumen, zu Transtopien. Zweitens werden strukturelle Veränderungen im Familiengefüge sichtbar, indem die damaligen Kinder, also die Eltern der Erzähler*innen, vorübergehend bei Verwandten wohnen (siehe Malu, Familie väterlicherseits), Großmütter allein (siehe Jasemin) oder in Begleitung mit Schwägerinnen (siehe Tania) oder gemeinsam mit

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Die Familienverhältnisse werden aus Sicht der erzählenden Enkelkinder benannt und rekonstruiert.

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den Kindern (siehe Malu, Enes und Selma) nachziehen.11 Es bilden sich temporäre familiale Assemblagen aus. Genauso wird über zeitgleiche oder zeitnahe Migration der ersten und zweiten Generation berichtet, sodass etwa Vindals Mutter als Pionierin erst in Vorarlberg, anschließend in Tirol auftritt oder Enes’ Vater analog mit dessen Onkel migriert, wodurch sich die generationellen Zeitachsen überschneiden und Enes sowohl der zweiten als auch der dritten Generation zugerechnet werden könnte.12 Drittens erfordern die innerfamiliären »Mobilitäten« die familiale Reorganisation der bisherigen selbstverständlichen Zuständigkeiten. So werden Reproduktionsarbeit und Erwerbstätigkeit neu aufgeteilt, zugeteilt, verschoben sowie bewertet. Malus Großeltern mütterlicherseits verständigen sich auf eine gemeinsam geteilte Verantwortlichkeit und Grundversorgung ihrer Kinder, wobei die tagtägliche Erziehungsaufgabe der Großmutter zukommt, die mit ihnen über viele Jahre in der Türkei zurückbleiben möchte. Ihr Ehemann versorgt die Familie anteilig durch monatliche Rücküberweisungen in den Herkunftsort, sie wiederum bestellt Ackerfelder und kümmert sich um eine kleine Käse-, Milch sowie Fleischproduktion. Die partielle Aufteilung der vor allem finanziellen Sorgepflicht gegenüber dem Nachwuchs sowie pflegebedürftigen Familienmitgliedern ist keine Selbstverständlichkeit, sondern wird je nach Möglichkeit und Bedarf familienspezifisch geregelt. In einigen der biografischen Gespräche wird artikuliert, dass die Großeltern bemüht waren, das Problem der getrennten Familiensphären zu lösen. Die Vorstellung, die Pionier*innen würden nach maximal einem Jahr im Ausland wieder zurückkehren, ließ sie die Situation zunächst »ertragen« und forderte schließlich, je länger sie fort waren, eine nachhaltige Entscheidung. Aus der neu entstandenen Irregularität der familialen Situation wurde eine dauerhafte Normalität der grenzüberschreitenden Familienlogik konstruiert. Die zu Beginn der Pionier*arbeit vorwiegend – nicht ausschließlich – männliche Positionierung im österreichischen Arbeitsleben hat zur Folge, dass Care-Arbeit zeitgebunden zur tendenziell weiblichen Aufgabe wurde und damit geschlechtliche Rollenbilder verfestigte, teilweise verschärfte, jedoch später, durch die Familienzusammenführung und den Einstieg einiger Großmütter in den österreichischen Arbeitsmarkt, teilweise wieder aufgehoben wurden. Eine in den familialen Artikulationen fehlende oder zu geringe Genderperspektive wird von Vindal angeprangert. Enes erkennt und diskutiert die belastende Lage für die Mutter, die sich allein gelassen fühlte, mit den Worten: »Sie war 18 Jahre lang ganz alleine, musste aufs Feld, Zuhause die Arbeit machen und dann noch die Kinder« (Enes, Zeile 296f.). Viertens wirkt die familiale Mobilitätserfahrung der 1960er und 1970er Jahre substanziell bis in die Gegenwart hinein und hat damit eine nachhaltige Auswirkung auf die postmigrantische Generation. Die Migrationserfahrung stellt aus Sicht der jungen Erzähler*innen den Grundstein, das Fundament der Familie als Ganzes und ihrer Generation im Besonderen dar, da sie den Ort ihrer Geburt, ihres Aufwachsens, nebst den derzeitigen Lebensmittelpunkt markiert, obgleich die Familiengeschichte viel

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Malus Großmutter mütterlicherseits weigerte sich, die Kinder allein bzw. bei Verwandten wohnend im Dorf zu lassen, während die Oma väterlicherseits unmittelbar nach dem Wegzug ihres Ehemannes nach Österreich zog und dort zu arbeiten begann. Solche Überschneidungen und Uneindeutigkeiten prägen die Interviews, sie werden als Chance, nicht als Unmöglichkeit rekonstruiert.

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

früher beginnt. So teilen alle Gesprächspartner*innen die Überzeugung, die Geschichten des (Fort-)Gehens und Ankommens an die nächste Generation weitergeben zu wollen. Oder mit Tania gesprochen: »[…] da werde ich auf jeden Fall auch den Kindern erzählen, wie wir überhaupt hergekommen sind« (Tania, Zeile 1515). Dass Tania »wir« in dem Satz »Wie wir überhaupt hergekommen sind« sagt, verdeutlicht, dass die Leistung einzelner Personen bzw. Generationen eine kollektive Bedeutung und Brisanz hat, die trotz der innerfamiliären Konflikte, die in den Narrationen nicht ausgespart, sondern klar kommuniziert werden, überwiegt. Auf die Migrationsentscheidung und -erfahrung baut die nächste dominante Familienerzählung auf, jene der generationsübergreifenden Dankbarkeit. Unter dieser Bezeichnung können Erfahrungen sowie Artikulationen subsumiert werden, die einerseits die Wertschätzung der jungen Erwachsenen gegenüber den Kämpfen der Vorfahr*innen in der Ankunftsgesellschaft13 sowie deren Entbehrungen, vielfach zugunsten der Nachfolgegenerationen, unterstreichen und daraus partiell das Gefühl einer intergenerationellen Bringschuld zum Zwecke der älteren Familienmitglieder entstehen lassen. Die mitunter Notlagen der Vorgängergenerationen rechtfertigen aus Sicht der Enkelkinder den Wunsch, den (Groß-)Eltern etwas zurückzugeben, etwa durch die Übernahme bürokratischer Aufgaben, Übersetzungstätigkeit oder monetäre Hilfestellung. Die Erzählungen über intergenerationelle Dankbarkeit werden also unter anderem in postmigrantische Verantwortlichkeit konvertiert. Andererseits wird die intergenerationelle Zuwendung durch kritische Positionierungen und Deutungen hinsichtlich bestimmter Entscheidungen und Verhaltensweisen von Einzelpersonen befeuert. Vor allem das Fortgehen der Großeltern, das das temporäre Zurücklassen der zweiten Generation, also die Trennung von Kind und Eltern(teil) bedeutete, wird unter anderem von Jasemin stark kritisiert. Gleichzeitig stellt sie die Vermutung in den Raum: »wer weiß, wo ich heutzutage wäre [ohne die Migration der Großeltern]« (Jasemin, Zeile 690) und betont sogleich im nächsten Satz, dass ihre Möglichkeiten vor Ort, z.B. die Option der Bildung, Resultat der Unmöglichkeiten und der daraus wachsenden Widerständigkeit der ersten Generation waren. Die erste Generation kreierte daher Möglichkeitsräume, auf die insbesondere die postmigrantische Generation nun aufbaut und Dankbarkeit artikuliert. Eine kritische Betrachtungsweise nimmt auch Tania ein, indem sie fragt, inwieweit »mangelhafte« Erziehungsmuster der Pionier*innen von der zweiten Generation übernommen und auf die postmigrantische Generation angewandt worden wären. Außerdem werden fehlendes Engagement bezüglich Elternsprechtage, genderspezifische »Rollenbilder« oder religiöse Traditionen infrage gestellt, weswegen die jungen Erzähler*innen gleichzeitig als Sympathisant*innen und Kritiker*innen familialer Handlungen und Entscheidungen in Erscheinung treten und so manche Neben- oder Haupterzählung desillusionieren. Weitere Konstanten im Familiengedächtnis sind Narrative der verwehrten Zugehörigkeit und Exklusion, artikuliert als Interpretation, dass die Eltern »wie Ausländer behandelt werden« (Tania, Zeile 820), oder, dass getan werde »als ob wir Höhlenmenschen wären!« 13

Es sind Praktiken der Auflehnung gegenüber Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen am Arbeitsmarkt, gegenüber Ungleichbehandlungen im Wohnungskontext und Versuche, Aspekte fehlender Repräsentation auszugleichen.

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(ebd., Zeile 167). Hinzukommende Narrationen, die insgesamt sichtbar gemacht werden und sich vorwiegend auf die Großelterngeneration beziehen – generationsspezifische Orientierungen sichtbar machen –, sind die Geschichten der Arbeit. Malu verweist in diesem Zusammenhang auf Streiks wegen ungleichen Lohns, die in der Fabrik, in der die Großmutter Akkordarbeit verrichtete, organisiert wurden und schließlich eine Angleichung an das Gehalt der einheimisch gelesenen Arbeiter*innen erzielten. Enes macht auf die Gründung von migrantischen Arbeiter*innenvereinen aufmerksam und die restlichen Erzählenden sprechen von prekären Arbeitsbedingungen, zahlreichen Überstunden, der Wohnsituation, etwa der Unterbringung »in einer Baracke […], gleich hinter der Fabrik« (Malu, Zeile 661f.) sowie schweren Erkrankungen, die durch die körperliche Arbeit begründet werden und die Betroffenen zur Quittierung der bisherigen Tätigkeit oder sogar in die Frührente zwangen. Viele prägende Erzählungen betreffen die Gemeinschaftlichkeit, die vor allem mit den Herkunftsorten sowie -gemeinschaften assoziiert werden14 und wesentlich, jedoch nicht ausschließlich, die dortigen Erfahrungen vor der Migration tangieren. Der Großteil der Pionier*innen migrierte aus ökonomischen Gründen; Selma sieht als weiteres Motiv ihres Vaters, den Verwandten nachzufolgen, Abenteuerlust. In den familialen Erfahrungen von Malu und Enes spielen anteilig auch politische Gründe, bei Jasemin und Tanias (entfernteren) Familienmitgliedern der Kriegsausbruch in den Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawiens eine Rolle. Die Gründe für die Migration prägen den Blickwinkel auf die Herkunftsgemeinschaft mit. Es lassen sich zwei gängige Perspektiven auf diese feststellen, die vor allem als Nachbarschaft, Dorfgemeinschaft oder »kommunenartig« (Malu, Zeile 120) beschrieben wird15 : Die Community wird als erweiterte Familie bzw. Solidargemeinschaft betrachtet, die, im Gegensatz zur hiesigen »Gesellschaft«, nachbarschaftliche, gemeinschaftliche Unterstützung und Hilfestellung anbietet und auslebt. Retrospektiv lassen sich mitunter verklärende Interpretationen auf Erstere feststellen. Der zweite Blickwinkel, der insbesondere von Erzähler*innen eingenommen wird, die die familialen Bezugsorte selbst besuchen konnten, ist ein kapitalistischer. Die Community und die Herkunftsorte werden mehrfach als »arm« oder »ärmlich« beschrieben oder als zivilisatorisch inaktuell oder provinziell umschrieben: »aber es war eine Dorfstraße, nicht dass du sagst eine Landstraße oder so […] und dann waren zwei Häuser, aber auch nicht nebeneinander, sondern eines war auf einem Gipfel, das andere auf dem anderen Gipfel, also wirklich weit voneinander entfernt, und es war schon ein Kulturschock für mich« (Nida, Zeile 1234-1239). Hinzukommende dominante Familienerzählungen betreffen Prämissen und Anforderungen des Integrationsregimes, wobei diese unterschiedlich gedeutet werden. »Integration« wird, ausgehend von den vermittelten öffentlichen und politischen Diskursen, ent14

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Es bilden sich aufgrund der Pionier*arbeit und der FluchtMigration im Zuge der Jugoslawienkriege in Tirol spezifische migrantische Communities heraus, in denen einige Erzähler*innen und ihre Familienmitglieder durchaus aktiv sind, andere haben keinen Bezug dazu. Je dörflicher bzw. ländlicher gelegen die Gemeinschaften sind, umso mehr werden sie in den Erzählungen mit Gemeinschaftlichkeit verknüpft. Hinsichtlich der städtischen Verortung ändert sich das Narrativ merklich. Bei Jasemin wird die Gemeinschaftlichkeit mit dem Vielvölkerstaat Jugoslawien in Verbindung gebracht bzw. mit dem »Zeitgeist, der halt meine Eltern geprägt hat« (Jasemin, Zeile 256).

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

weder als grundlegendes Paradigma für das partizipative Ankommen in der Gesellschaft oder konträr als assimilativer Akt und damit als nicht erstrebenswert im Familiengedächtnis festgeschrieben. Genauso sind Erzählungen über Sprache und Sprachvermittlung, Narrationen über tradierte Feste und Traditionen bedeutend, wie das Opferfest in der Familie Selmas, das Feiern von großen Hochzeiten bei Nida, das Zelebrieren biografischer (Bildungs-)Erfolge bei Vindal oder die Rückführung der Toten bei Enes. Oder wie es Jasemin formuliert: »Also bei uns ist das total jugoslawisch, sagen wir mal so. Wir feiern nämlich alles« (Jasemin, Zeile 1032f.). Neben den biografischen (Familien-)Erzählungen, die generations-, erzähl- und hier vielfach familienübergreifend sind, wenngleich sie in unterschiedlicher Schattierung auftreten, gibt es eine Vielzahl wegweisender Narrationen, die ausschließlich familienspezifisch sind. Diese umfassen exemplarisch – detailliert dazu die einzelnen Fallrekonstruktionen – Artikulationen über die Inhaftierung von Malus Onkel, der familial als linker, kurdischer Widerstandskämpfer gelesen wird und durch seine Gefangennahme indirekt eine generationsübergreifende Politisierung in Gang setzt; es sind Narrationen über starke Frauenfiguren, über weibliche Pionier*arbeit, über die Besonderung des Vaters in der Sonderschule, die Situation und Studienwahl als Arbeiter*innenkind an der Universität oder die regelmäßigen auf Deutsch geführten Telefongespräche mit dem Großvater, der vor wenigen Jahren in die Türkei remigrierte, um dort seinen Ruhestand zu verbringen. Wie erinnern die Erzähler*innen und wie setzen sie sich mit der familialen Migrationsgeschichte auseinander? Es zeigt sich deutlich, wie wichtig es den jungen Erwachsenen der postmigrantischen Generation ist, an die familiale Mobilitätsgeschichte, die familiären Orte im Herkunftsland, im Ankunftsort und in den Zwischenstationen zu erinnern und davon zu erzählen. Mit jede*r neue*n Erzähler*in ändert sich der Blick auf die Familiengeschichte und die Art und Weise der Artikulation. Diese ist nie bloße Nacherzählung, sondern gestaltet sich als teils mühevolle, kleinteilige Übersetzungsarbeit, die aber genauso einen Interpretations- und Gestaltungsspielraum offenhält, sodass der*die Erzählende eigene Deutungen und Rekonstruktionen des Tradierten vornimmt. Darüber hinaus wird in jedem einzelnen Interview eine kollektive Realität (der Gegenwart) hinsichtlich der eigenen Familie konstruiert, die Ergebnis der familialen Geschichten, der selbst erlebten biografischen Erfahrungen und der Interpretation aus Sicht der postmigrantischen Generation ist. So werden die familialen Erzählungen situativ erweitert, anders gelesen. Die jungen Erwachsenen halten fest am Erinnerungsgebot familialer Bedeutsamkeiten und erschaffen durch das biografische Gespräch eine Gegenwärtigkeit der Vergangenheit. Auf einige meiner Fragen erklären sie, dass sie die Antwort nicht oder nicht konkret wüssten oder Details dazu vergessen hätten. Gerade das Vergessen ist hilfreich, um im Familiengedächtnis Platz für neue Erinnerungen zu schaffen. Kernthese 2: Institutionelle Exklusionsmechanismen, implizite und explizite Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen im Bildungssystem bewegen die Erzählenden dazu, sich biografische und familiale Strategien anzueignen, um ihre Bildungsziele auf »UmWegen« zu erreichen.

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Ausnahmslos alle Erzähler*innen berichten von diskriminierenden bzw. rassistischen Erfahrungen oder Benachteiligungsstrukturen im institutionalisierten Bildungskontext. Die biografisch einschneidende, traurige und aus Sicht der Bildungslandschaft beschämende Palette der schulischen Erfahrungen bewegt sich von kulturalisierenden Zuschreibungen, die Schüler*innen verhielten sich wie auf dem Bazar in Istanbul (siehe Selma), der rassistischen Anrufung »du türkisches Schweinchen« (Malu, Zeile 745), über die Konstruktion von Andersartigkeit durch »gut gemeinte«, jedoch aus Sicht von Tania verfehlte, weil verstärkte Aufforderung, laut in der Klasse vorlesen zu müssen16 , bis hin zu nicht nachvollziehbaren Notengebungen. Einige der jungen Erwachsenen betonen zudem, mehr geben, mehr leisten zu müssen als »einheimische« Gleichaltrige. Während die Kindergarten- und Grundschulzeit durchweg als schön oder zumindest »okay« beschrieben werden, nehmen im sekundären Bildungsweg Exklusionsmechanismen, Klassismus, Stereotypisierungen aufgrund der familialen Herkunft oder Mehrsprachigkeit erheblich zu und steigern sich bei drei Erzählenden dermaßen, dass sie die Schule abbrechen. Zwei von ihnen wählen die Strategie des Besuchs der Abendschule und maturieren schließlich erfolgreich. Das Gymnasium als elitärer Ort wird als besonders ausgrenzend gegenüber Schüler*innen aus mehrheimischen sowie Arbeiter*innenfamilien empfunden. Die negativen Erfahrungen im Bildungssystem überdecken die positiven. Die Angehörigen der postmigrantischen Generation verfügen über unterschiedliche Bildungsabschlüsse: Eine Vielzahl hat maturiert, eine Fachausbildung absolviert, einige Erzähler*innen studieren oder haben das Studium abgeschlossen, vereinzelte beendeten die Schule mit einem Pflichtschulabschluss. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich biografische Strategien antrainieren und familiäre Erkenntnisse, Wissensformen und Kompetenzen nutzen, um mit einem ausgrenzenden Bildungssystem umzugehen, bestimmte Schwierigkeiten zu umgehen und anderweitig Bildungserfolge zu erwerben. Biografisch betrachtet sind zu nennen: der Wechsel von einem toxischen Schulumfeld hin zu einer neutralen Umgebung, die Einbeziehung von erwachsenen Vertrauenspersonen, die Inanspruchnahme professioneller psychologischer Hilfe, die Solidarisierung in der Peergroup, die Artikulation rassistischer Erfahrungen, (Re-)Claiming als Widerstandspraxis (vgl. Schmidt/Thiemann 2022), die Nutzbarmachung transnationaler Familiennetzwerke im Zuge eines Auslandsjahres sowie die gezielte Verwertung der mehrsprachigen Kompetenz in einem globalisierten Kontext. Familial ist die Erkenntnis zentral, dass die mehrheimische Familie als Bildungsort fungiert und die jüngste Generation auf Bildungsherausforderungen vorbereiten kann und möchte. Bildung spielt sich im Leben ab (vgl. Thiersch 2020, S. 1767), somit entscheidend (auch) im Familialen, und verändert sukzessive eigene Welt- und Selbstverhältnisse (vgl. Kokemohr 2014). Familien mit Mobilitätsgeschichte werden ohnehin häufig Bildungsaspiration zuerkannt, jedoch nur in Ausnahmefällen tatsächlich erreichter Bildungserfolg. Die hier vorliegende Untersuchung belegt vielmehr, dass die Bildung nicht beim Wunsch verharrt, sondern gezielt Praktiken, Ressourcen und Möglichkeiten vermittelt werden, die die jungen Erwachsenen dazu anregen, 16

Zitat Tania: »[I]ch habe zum Beispiel viel öfter vorlesen müssen oder? man hat einfach gespürt, man hat uns gezeigt, dass wir anders sind« (Tania, Zeile 323f.).

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

Bildungserfolg anzustreben und tatsächlich vielfach zu erwirken. Die mehrheimische Familie stößt also Bildungsprozesse an (vgl. ebd.). Nicht umsonst sind mehrere Erzähler*innen »first-generation students« bzw. Klassenreisende, die Dank der familialen Kapitalakkumulation und der informellen Unterstützung durch vereinzelte Familienmitglieder in eine akademische Welt eintauchen können. Der vielfach von der Elternoder Großelterngeneration geäußerte Wunsch, die (Enkel-)Kinder würden vor Ort (bildungs-)erfolgreich werden, spornt die Erzähler*innen einerseits an, löst andererseits Druck aus, wie es Selma berichtet. Familiale Migration kann, da sie generations- und personenübergreifend relevant ist, als familiäres Gemeinschaftsprojekt verstanden werden. Ähnlich verhält es sich mit dem potenziellen Aufstieg der postmigrantischen Generation, deren Erfolg nicht zuletzt Resultat der Migrationstatsache und erbrachten Leistungen der vorherigen Generationen vor Ort und zwischen den Orten ist.17 Daraus folgend akkumulieren die Erzähler*innen ökonomisches Kapital in inkorporiertes kulturelles Kapital (vgl. Bourdieu 2005, S. 55ff.) sowie teilweise in institutionalisiertes kulturelles Kapital in Form von Bildungsabschlüssen (ebd., S. 61ff.), zu sehen, unter anderem bei Jasemin. Demgegenüber tritt die Familie als Transtopie in Erscheinung, indem biografische und intergenerationelle Lernerfahrungen und Perspektiven ausgetauscht, Erinnerungen der Gegenwart und Vergangenheit geteilt und verglichen, Visionen bezüglich der eigenen und familialen Zukunft entworfen sowie entlegene und nahe Räume verbunden werden. Familiale Transtopien, ausgebildet als Bildungsräume, in denen Kompetenzen aktiviert werden (z.B. Mehrsprachigkeit, intergenerationales Erfahrungswissen, Alltagswissen, marginalisiertes Wissen oder Grenzwissen), bestehen neben den außerfamilialen Bildungsorten, denen eine gleichberechtigte Nutzung zukommen kann. Die städtische Bibliothek ist für Enes ein solcher Raum, der nicht nur die Spracherweiterung in Gang setzt, sondern die Persönlichkeitsentwicklung fördert. Eine vergleichende Wirksamkeit hat für mehrere Erzählende die Abendschule, die die vom staatlichen Bildungssystem versprochenen, jedoch nicht eingelösten Desiderate ausbügelt. Die Abendschule behebt vielfach das Verfehlen der regulären Schulen. Aus diesem Grund ist die Kritik an der »Schule als einer organisierten Institution« (vgl. Gomolla/Radtke 2009, S. 59ff.) angebracht, in der spezifische Agitationen von Lehrer*innen vorausgesetzt, institutionalisiert werden. Vorgenommene kulturalisierende Kollektivstatt Individualbeurteilungen entsprechen genauso dieser Logik wie ein vorgeschobenes Leistungsprinzip zum Zwecke einer Egalität, die nicht alle Schüler*innen erfüllen können. Mehrheimischen Familien gelingt es einstweilen, ersichtlich bei Selma, dass komplexe Startbedingungen im Bildungssystem, das Eindeutigkeit und Einheimischkeit präferiert, durch transnationale Familiennetzwerke ausgeglichen werden können, die eine universitäre Auslandserfahrung realisieren. Abschließend sei hier das Plädoyer angebracht, mehrheimisch-familiale Bildungsräume und -ressourcen sichtbar zu machen und den Bildungsbegriff zu öffnen. Schließlich ist das, was Enes in der beruflichen Ausbildung von Lehrlingen und in der Vereinssowie Elternarbeit macht, essenzielle Bildungsarbeit.

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Ergänzend zum kollektiven Erfolg ist die biografische Leistung immer auch ein wichtiger Individualerfolg.

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Kernthese 3: Die mehrheimischen Familien verfügen über ein Repertoire diverser Mobilitätsbewegungen und -strategien, die bereits vor der Arbeitsmigration nach Tirol ansetzen und in ihrer Gleichzeitigkeit, Zirkularität und Interdependenz gelesen werden müssen. Die familialen Migrationserfahrungen beginnen nicht erst, wie es in der Historisierung der Arbeitsmigration vielfach pauschalisiert wird, mit den zwischenstaatlichen Anwerbeabkommen der 1960er bis 1970er Jahre, sondern setzen familienspezifisch (deutlich) früher an. Damit ist die Arbeitsmigration in der Regel nicht die erste Migrationserfahrung der Familienmitglieder. In diesem Zusammenhang zeichnet Nida nach, dass ihr Großvater väterlicherseits bereits Jahrzehnte vor der Pionier*arbeit in Österreich in regelmäßigen Abständen zwischen der Türkei und dem Iran hin- und herpendelte, wo er zeitlich befristet, nebst zirkulär arbeitete. Welcher Profession er als junger Mann im Iran nachkam, ist eine erzählerische Leerstelle im Familiengedächtnis, über die Nida nicht Bescheid weiß, jedoch Vermutungen anstellt. Sehr wohl aber verfügt sie über die weiterführende Information, dass es im Dorf, in dem auch ihr Vater geboren wurde, als Tradition galt, dass die jungen Männer mit ihrer Volljährigkeit temporär wegzogen, um ökonomisches und soziales Kapital anzuhäufen und es familiär und nachbarschaftlich einsetzen zu können. Es geht hier also nicht ausschließlich um die Erwirtschaftung ökonomischen Kapitals in Form eines Individualaktes, sondern um eine kollektive Unterstützung und das Zuarbeiten gemeinschaftlich geteilter Ressourcen. Ferner erwähnt Nida die Migrationsetappen einzelner Familienmitglieder in Indien und Pakistan. Selmas Uroma wiederum wurde in Georgien geboren und migrierte in die Türkei, nähere Umstände sind auch hier der Erzählerin nicht bekannt. In vielen der Narrationen wird innerfamiliäre Binnenmigration thematisiert. Gerade zwischen den in den meisten Fällen dörflich bzw. ländlichen Herkunftsorten der Vorfahr*innen gab es unterschiedliche Mobilitätsbewegungen. Malu beschreibt die Remigrationen ihrer Eltern, Tanten und Onkeln, die im Herbst und Winter tendenziell in größeren Orten oder in der Stadt arbeiteten, eine Ausbildung machten und in den Sommermonaten zur Heuernte temporär ins Dorf zurückkehrten. Neben gemeinschaftlich »organisierter« Migration im Inland sowie transnational werden in den biografischen Gesprächen einzelne Akteur*innen hervorgehoben, die ihr Glück woanders versuchten. So rekonstruiert Jasemin, wie ihre Großmutter die Entscheidung traf, die Scheidung einzureichen und gemeinsam mit ihrem Baby das heutige Bosnien verließ, nach Kroatien zog, dort für eine lange Zeit in einer Fabrik arbeitete und sich darauf aufbauend den Traum einer eigenen Gastronomie erfüllte. Ferner wird die Abwanderung einzelner Protagonist*innen und/oder ganzer Familienzweige vom Land in die Metropolen, exemplarisch Istanbul oder Zagreb, dargelegt. Des Weiteren spricht Malu das komplexe Thema der Zwangsmigration und -ansiedelung in den kurdischen Gebieten der Türkei an. Hinzukommend ist das Phänomen der FluchtMigration in den Erzählungen Tanias, Jasemins und Malus präsent. Insgesamt lassen sich anhand der intergenerationellen und biografischen Artikulationen familiale Traditionen des Migrierens erkennen. Genauso wird Migration als kurz- oder langfristiger Ausweg aus komplexen Lebensumständen oder als (postmigrantischer) Versuch erachtet, Möglichkeitsräume zu erweitern. In den Familien finden simultan, generationsübergreifend und -spezifisch ergänzend und überschneidend diverse Mobilitätsbewegungen statt, die Einfluss auf das Fa-

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

miliengedächtnis, den Handlungsspielraum und Erfahrungsschatz der Familie als Ganzes und der einzelnen Angehörigen im Besonderen haben. Es ist prägnant, dass vereinzelte Erzählende detailliert über die Zeit vor der Arbeitsmigration sprechen und auf die Wichtigkeit dieser Prozesse hinweisen, wie Selma, die betont, dass das Auswandern Teil der familialen Logik sei. Weder sind die mehrheimischen Subjekte noch ihre Familiengeschichte ahistorisch oder immobil. Die Ergebnisse dieser Forschung sprechen eindeutig gegen eine Ahistorizität der familialen Protagonist*innen sowie einer alleinigen bzw. zu engen Fokussierung auf die Arbeitsmigration als einzige bzw. wichtigste Migrationsbewegung innerhalb der Familie. Die Pionier*arbeit ist eine sehr bedeutende, generationsspezifische und gleichzeitig intergenerationell prägnante Erfahrung, aber bei Weitem nicht die einzige Form der vergangenen oder gegenwärtigen Mobilität, die als einschneidend betrachtet werden muss. Konkret lassen sich in beinahe jeder einzelnen Familiengeschichte Migrationsbewegungen, die der Arbeitsmigration nach Tirol vorgelagert sind, feststellen. Die Pionier*arbeit beginnt also nicht erst mit den Anwerbeabkommen 1962, 1964 oder 1966 (siehe Kap. 4.3.1) und ist auch nicht auf den hiesigen Kontext beschränkt. Um künftig dem andauernden Ausklammern und Nivellieren heterogener, kleiner und großer Migrationserfahrungen vor und während der Pionier*arbeit Rechnung zu tragen, muss die Schlussfolgerung erstens lauten: In den mehrheimischen Familien werden seit jeher zusammenhängende und alleinstehende, konträre, sich ergänzende und überschneidende Mobilitätsbewegungen jeglicher Art veralltäglicht und als transformatorische Chance realisiert. Diese Implikation muss zweitens durch die Erkenntnis ergänzt werden, dass vor, nach und während der bilateralen Arbeitsmigration Frauen gleichermaßen als Wegbereiterinnen der Mobilität agierten, weshalb die Pionier*arbeit retrospektiv um eine weibliche Perspektive erweitert werden muss (vgl. Kontos 2000, S. 172; Lutz 2000, S. 39). Insgesamt ist der Begriff der familialen Migrationserfahrung nur bedingt treffend, besser wäre die Reformulierung in Erfahrung(en) mit familialen Migrationen bzw. die Ausdifferenzierung der familialen Geschichte in ihrer Pluralität. Kernthese 4: Die jungen Erwachsenen der postmigrantischen Generation entwerfen, ausgehend von der eigenen Lebens- und Familiengeschichte, unkonventionelle, nondualistische Verortungspraxen, formulieren Kritik und Fragen sowie Antworten der (Nicht-)Zugehörigkeit und positionieren sich außerhalb der Familie in postmigrantischen Allianzen. Die Erzähler*innen nutzen die biografischen Gespräche als Gelegenheit, ihre Deutungen des Familien- sowie Lebensgeschichtlichen kundzutun. Während sie situativ als Rezensent*innen agieren, indem sie spezifische Handlungen und Haltungen einzelner Familienmitglieder hinterfragen, prangern sie, die Dominanzgesellschaft betreffend, z.B. binäre, elitäre, »einheimische«, weiße Diskurse sowie Normalitätsvorstellungen an, die Menschen aufgrund der Herkunft, Religion, Erstsprache kategorisieren und auseinanderdividieren wollen. Die innerfamiliäre (Teil-)Kritik18 impliziert unter anderem die in den Interviews wiederkehrende Irritation, es brauche gezieltes Nachfragen, teilweise

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Siehe Kernthese 1.

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Nachbohren ihrerseits, um die (Groß-)Eltern zum tiefergehenden Erzählen und Erinnern bestimmter Geschehnisse zu animieren. Daneben wird von einzelnen Erzähler*innen artikuliert, sie hätten erst im späten Jugend- oder frühen Erwachsenenalter die bewusste Chance eines intergenerationellen lebensgeschichtlichen Dialoges ergriffen und ihre tatsächliche Bedeutung begriffen. Die Kritik an der Dominanzgesellschaft ist indes grundlegender und bisweilen rigoros. Sie resultiert aus dem (von einem Großteil der Erzähler*innen) vermittelten Gefühl von außen sowie substanziellen Erfahrungen, nicht oder nur bedingt dazuzugehören, und sind zuallererst biografisch begründet. Sie gestalten sich je nach Perspektive und Akteur*in unterschiedlich aus. Bei Tania ist es eine Kritik gegenüber einem exkludierenden Bildungssystem sowie jener Menschen, die Zugehörigkeit (ausschließlich) über geografische, religiöse oder soziale Herkunft definieren und kein Dazwischen, das der postmigrantischen Generation eigen ist, gelten lassen wollen. Bei Malu ist es erstens die Kritik, dass die Repräsentation von Mehrheimischen außerhalb eines problematisierenden Diskurses fehlt; und zweitens die Sichtbarmachung und Feststellung, dass »es eben eine Wahrheit der Migration gibt« (Malu, Zeile 1523). Mit der Formulierung »Wahrheit der Migration« bezieht sich die Protagonistin auf die soziohistorische und alltägliche Normalität, sprich Realität von Mobilitätsbewegungen im österreichischen und transnationalen Kontext. Enes prangert seinerseits strukturelle Barrieren und Diskriminierungen in der pädagogischen Schulempfehlung an, Nida entlarvt rassistische Einzelund Kollektivhandlungen im Arbeitskontext. Die Erzähler*innen nehmen familiale und biografische Negativerfahrungen zum Anstoß, um, je nach Sicht- und Darstellungsweise, eine konkrete oder vage, implizite und explizite System-, Gesellschafts-, stellenweise Religions- und prinzipiell Machtkritik zu manifestieren. Dies geschieht unter anderem in der Narration, wie aus ihren Großeltern, die als Gäst*innen kamen (jedoch nicht als solche behandelt wurden), Mitbürger*innen wurden, diese Erkenntnis ungeachtet dessen von etlichen Seiten ignoriert wird. Die Enkelkinder problematisieren des Weiteren den auf verschiedenen Ebenen fraglichen Umgang mit der Großeltern- und Elterngeneration, die durch Haltungen und Handlungen des Gegenübers herabgewürdigt und defizitär gedeutet werden. Tania erzählt diesbezüglich: Irgendwo war sie [die Mutter] in irgendeinem Geschäft und sie haben einen neuen Staubsauger gebraucht und […] also die Leute haben sich allen Ernstes so benommen als ob meine Mama nicht wissen würde, was ein Staubsauger (starke Betonung) ist, also so ganz, ganz schlimm. (Tania, Zeile 163-166) Der aktiven Praxis einer falschen Namensgebung, dem unabsichtlichen oder absichtlichen Vergessen des migrantisch markierten Namens und der Problematisierung mehrheimischer Vor- und Nachnamen speziell am Arbeits- und Wohnmarkt, in (Bildungs-)Institutionen sowie im Alltäglichen werden zahlreiche erzählerische Artikulationen gewidmet. Sie betreffen alle drei Generationen, exemplarisch den Vater Tanias, der von einem Arbeitgeber, der sich dessen Vornamen nicht merken konnte oder vielmehr wollte, ihm stattdessen einen italienischen Namen gab und ihn fortan als »Paolo«19 19

Wie die übrigen verwendeten Namen ist auch dieser pseudonymisiert. Genaueres dazu in Kapitel 1.4.

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

ansprach. Tanias Vater nutzte infolgedessen die Gegenstrategie der Aneignung des rassistisch markierten Namens, indem er ihn fortan selbst verwendete. Auch heute noch nutzt er ihn ergänzend zum Geburtsnamen. Nida wiederum spricht über Arbeitskolleg*innen, die nach mehrjähriger Zusammenarbeit ihren Vor- nicht vom Nachnamen unterscheiden können bzw. wollen. Enes rekonstruiert die im Vorfeld der Umsetzung getätigten Diskussionen innerhalb der Community, sein gegründetes Unternehmen nach seinem Nachnamen benennen zu wollen. Als internes Gegenargument wird die Angst formuliert, der Name könne aufgrund rassistischer Strukturen und Haltungen hinderlich für die Auftragslage sein. Tania verweist darauf, dass sie ihren Nachnamen den späteren Kindern weitergeben möchte: Also, so viel Leid dieses -ic mir gebracht hat, ich würde es nie hergeben. Und wenn auch maximal ein Doppelname, aber dieses -ic muss einfach bleiben, weil die Leute wissen sollen, dass es ein -ic war. (Tania, Zeile 836-839) In Anbetracht der ersten Generation werden kritische Erzählungen laut, die offenlegen, dass sich die namentlichen Adressierungen der Pionier*innen im Arbeitsleben in der Regel auf »du«, »du da!« oder »Sie« bzw. »Sie da!« beschränkten, das Ansprechen per Namen sowie eine adäquate, respektvolle Anredeform waren rar. Die diversen Ausführungen zur kritischen Stellungnahme der jungen Erwachsenen setzen einen Reflexionsprozess vergangener und gegenwärtiger, generationsspezifischer und -übergreifender Negativerfahrungen sowie ein Um- und Neudenken dominanzgesellschaftlicher Diskurse, Haltungen und Handlungen in Gang. Die Protagonist*innen der postmigrantischen Generation positionieren sich ausgehend vom familialen und lebensgeschichtlichen Erfahrungsspektrum. Sie verdeutlichen, dass ihnen die familialen Migrationsgeschichten und die familiäre Zugehörigkeit per se wichtig sind, aber nicht die einzigen Konstanten und Kategorien bilden, die ihre Lebensrealität determinieren. Dabei geht es um die selbstbestimmte Entscheidung, wann sie sich als Enkel*innen von Pionier*innen, Vertreter*in der postmigrantischen Generation und wann migrationsunabhängig als Frau*, Student*in, Sportler*in oder XY artikulieren möchten und wann nicht. Ähnliches trifft auf ihre Verortungspraxen zu, die in einer Doppel- bzw. Mehrdeutigkeit gelesen werden müssen. So möchte sich keine*r der Erzähler*innen durch Außenpositionen auf einen Ort, Kontext oder ein einfaches, eindeutiges Gefühl der Zugehörigkeit oder Verortung reduzieren lassen: »Ich bin von hier und das ist mein Zuhause […] das Andere sind meine Wurzeln und das ist mir genauso wichtig« (Jasemin, Zeile 317f.). Gleichzeitig unterstreichen die Akteur*innen das Bedürfnis, eigene Kämpfe und Kämpfe der Vorgängergenerationen sichtbar zu machen, und organisieren sich in postmigrantischen Allianzen, die sie als eine Art der Vergemeinschaftung zum Zwecke einer Offenlegung mehrheimischer, emanzipatorischer, sozialpolitischer und gesellschaftlicher Themen und Belange gründen. Postmigrantische Allianzen werden nicht ausschließlich von Menschen mit (familialer) Migrationsbiografie eingegangen. Verbindend ist ein gemeinsamer Anspruch an das gesellschaftliche Zusammenleben innerhalb der postmigrantischen Gesellschaft, so geht es vor allem um »eine geteilte Haltung, die auf Gleichheit, pluraler Demokratie und der aktiven Akzeptanz von Diversität und Vielfalt beruht« (Foroutan 2018b, S. 23). Ziel ist es, eine breite Repräsentation der Com-

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munity sowie Gleichgesinnter und – aus Solidarität, Dankbarkeit und Fürsorge heraus (vgl. Stjepandić/Karakayalı 2018) – der mehrheimischen Familie als Normalität zu begründen. Innerhalb der postmigrantischen Allianzen werden Übereinkünfte, Bündnisse zwischen Befürworter*innen von Pluralität, unter anderem ausgedrückt durch Migration, geschaffen, die politische und soziale Rechte einfordern, aber auch Visionen darüber vorschlagen, wie gleichberechtigtes Zusammenleben gelingen kann. Einer Gesellschaft, die spezifische Gruppen und Subjekte ausgrenzt, werden im Umkehrschluss durch aktivistische Handlungen, neue Diskurse und durch normative Vorstellungen die Grenzen dessen aufgezeigt, was nicht mehr verhandelbar ist. Eine zuweilen subversive postmigrantische Praxis, die die Interessen und Positionen der jungen Erwachsenen deutlich macht, impliziert nicht die Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft als solches20 , sondern postuliert eine zeitgemäße gemeinsame Gestaltung der Gesellschaft mit Einbezug von Migration als Reaktion auf die vorhandene Realität der Vielheit. Demnach ist die postmigrantische Generation als Korrektiv aktiv, das ihre Ansichten und Erhebungen in die postmigrantische Debatte miteinbringt. Sie agiert als eine selbstbewusste Generation, die sich trotz oder wegen zahlreicher (familien-)biografischer Erfahrungen behaupten lernte. Nur wenn wir gerade dagegenstehen, auch wenn wir allein sind, kann man das überwinden, überbrücken und bekämpfen. Anders würde Zustimmung bedeuten. Nicht dagegen laut sein, heißt einfach, automatisch zustimmen und leider passiert das viel zu oft. (Enes, Zeile 181-183)

7.4 Ausblick Jede (mehrheimische) Familie hat ihre je eigenen dominanten erzählten und erlebten Lebensgeschichten, wobei es sozio- und zeithistorische Überschneidungen und Wendepunkte gibt, die einen (familien-)biografischen Einschnitt markieren und somit eine Person bzw. Generation überdauern können: Migration ist ein solcher Wendepunkt. Sie wirkt über die einzelnen Biografien hinaus und hat daher trans- und intergenerationelle Relevanz. Migrationsentscheidung und -erfahrungen erzeugen also eine Aus- und Nachwirkung, die generations-, zeit- und raumübergreifend sind. Die Aushandlungsprozesse der ersten und zweiten Generation im und zwischen Herkunfts- und Ankunftsort(en) legen schließlich den Grundstein für die (Un-)Möglichkeiten und späteren Etablierungsprozesse der postmigrantischen Generation. Die Erinnerungs-, Erzähl- und letztlich Rekonstruktionsarbeit durch die jungen Erwachsenen geben der familialen Gruppe, aber auch der postmigrantischen Community Bedeutung und Beheimatung – im Plural. Damit einher geht die Forderung nach gesellschaftlicher und politischer Anerkennung der Pionier*arbeit sowie der Leistungen der Elterngeneration als Bestandteil glokaler, lokaler, regionaler Historie sowie als Erinnerungsmoment innerhalb des kollektiven Gedächtnisses. Um über Familie und Community hinaus gemeinsam zu erinnern, ist ein postmigrantisches Narrativ unentbehrlich.

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Sehr wohl jedoch der Dominanzgesellschaft.

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

Dieses begreift herkunftsunabhängig familiale und biografische Erfahrungen in ihrer Besonderheit, Heterogenität und Überschneidung und hebt gleichzeitig nationale, normative, binäre Vorstellungen darüber auf, wie Familie sein solle. Auf wissenschaftlicher Ebene sollte eine künftige Forschung gerade die stellenweise Unsicherheit der jungen Erzählenden, inwieweit sensible Erinnerungen von Familienangehörigen thematisiert werden dürfen, stärker berücksichtigen. Daher wird nahegelegt, ergänzend zu deren Artikulationen, die direkten Erzählweisen älterer Generationsmitglieder miteinzubeziehen, um dadurch das Erzählspektrum und die unterschiedlichen Blickpunkte (familien-)biografischer Erfahrungen umfangreicher ausdifferenzieren zu können. Ferner sollte der Tatsache, dass die Herkunftsfamilie durch die Verpartnerung der jüngsten Generationsangehörigen oder die Gründung einer eigenen Familie ausgebaut wird, Rechnung getragen werden, indem das Interviewsetting ausgedehnt und um die Perspektiven »neuer« Familienmitglieder erweitert werden. Familial betrachtet und gleichzeitig die (sozial-)politische und gesellschaftliche Ebene betreffend sind sich die Erzähler*innen der Familiengeschichte sowie innerfamiliären Akkumulation von Ressourcen und Kapitalsorten bewusst. Dieses Wissen wird durch die Akteur*innen selbstbewusst artikuliert und in gesellschaftliche Debatten eingebracht, woraufhin die Frage nach der Konkretisierung eines kollektiven Narrativs verhandelt werden kann. Das postmigrantische Narrativ muss erstens Vorstellungen über familiale Normalität, Zugehörigkeit und Ressourcen fernab von Herkunft, Erstsprache, Religion und Nation denken und zweitens sich auf alle beziehen, die bereits vor Ort sind – dabei ist zweitrangig, wie lange –, und auf alle, die noch dazukommen werden. Ausgehend von den Perspektiven der jungen Erwachsenen und den Erkenntnissen dieser Forschung lohnt es sich, in die Zukunft zu blicken und bisherige Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu diskutieren, neu zu bewerten und dezidiert zu verändern. Von den teilweise schockierenden Bildungserfahrungen etwa und den angewandten Gegenstrategien der jungen Erwachsenen lernend, sollte ein Verständnis dafür entstehen, wie dringend ein Umdenken hinsichtlich der »Integration« von Neudazukommenden in die Gesellschaft als Ganzes und das Bildungssystem im Besonderen ist. Dies betrifft auch die unvorstellbare Tatsache, dass seit Februar 202221 Krieg in der Ukraine und damit Krieg in Europa22 herrscht und aufgrund dessen Millionen von

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Bereits 2014 kam es durch die gewaltvolle Besetzung der ukrainischen Krim durch Putins Regime zum Bruch völkerrechtlicher vertraglicher Vereinbarungen. Dieser Zeitraum bis Anfang des Jahres 2022 kann als Vorläufer des Ukrainekrieges betrachtet werden. Der Ukrainekrieg ist nicht der einzige Krieg der Gegenwart und/oder jüngsten Vergangenheit im europäischen und weltweiten Kontext. Hinsichtlich des europäischen Bezugsrahmens bleiben innerhalb medialer Berichterstattung und gesellschaftlicher sowie politischer Diskurse die Kriege im ehemaligen Jugoslawien weitestgehend unthematisiert. Ähnliches trifft auf die jüngsten Kriege in Syrien oder Afghanistan zu. Der vielfach zitierte Satz, dass mit dem Ukrainekrieg nun erstmals nach Ende des Zweiten Weltkriegs der »Krieg in Europa« angekommen sei, verschweigt bereits erwähnte gewaltvolle Konflikte und menschliche Schicksale. In der öffentlichen und politischen Rhetorik über Geflüchtete aus der Ukraine lässt sich zudem eine weitreichende Blickverschiebung dahingehend attestieren, dass diese Form der Flucht, im Gegensatz zu 2015 und nach 2015, gesamtgesellschaftlich und -politisch weitestgehend anerkannt wird. Solidarität sollte allen Menschen gelten, die FluchtMigration als Ausweg betrachten (müssen), unabhängig davon, ob sie

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Menschen flüchten und humanitären Schutz in den Nachbarländern und weiteren europäischen Staaten suchen. Wien reagiert auf die Beschulung der schulpflichtigen Kinder mit sogenannten »Neu in Wien«-Klassen (vgl. Tomaselli 2022, o. S.) und sind, so der Eindruck, bemüht, den Geflohenen, vor allem den Kindern, den Alltag vor Ort zu erleichtern.23 Bleibt nur zu hoffen, dass die Fehler der Vergangenheit, prominent ersichtlich anhand der Ausländerpädagogik, nicht wiederholt werden. Sehen wir die absichtliche, politisch getroffene Entscheidung, Kinder und Jugendliche in Ausländerklassen von den »einheimischen« Gleichaltrigen zu separieren, als Warnung dahingehend an, wie eine Gesellschaft als Ganzes scheitern kann, indem sie Menschen auf den Migrations- oder Fluchtstatus reduziert und sie nicht als Teil eines großen Ganzen imaginiert. Eine postmigrantische Gesellschaft ist gefordert, sich auf globalen Wandel und damit unter anderem neue Bewohner*innen einzustellen, wegzukommen von defizitären Diskursen über Migration und Pluralität und dem Nützlichkeitsprinzip potenzieller Arbeitskräfte. Stattdessen täte es gut, Lerneffekte aus der Vergangenheit aufzugreifen und zeitgemäße Wege der Annäherung Unterschiedlicher zu bestreiten. Eine Engführung auf Eindeutigkeit hingegen, z.B. die Fokussierung auf Deutsch als Integrationsdispositiv, ist wenig zielführend, denn sie impliziert die Verschwendung von den konkreten mehrheimischen, mehrsprachigen und transkulturellen Ressourcen der Bewohner*innen. Folglich sollte vielmehr die Uneindeutigkeit, die nun mal die Lebensrealität Vieler besser übersetzt, anvisiert werden. Außerdem bringt es uns nicht weiter, wenn wir an Fragen und Konzepten festhalten, die sich ausschließlich über binäre, nationale, ergo exkludierende Kategorien beantworten lassen (wollen). Diese Kategorien funktionieren in einer postmigrantischen Gesellschaft nicht (mehr), da das Dazwischen die gelebte Praxis vieler Mehrheimischer ist und ihre Verortungspraxen weitaus vielfältiger sind als auf den ersten Blick ersichtlich. Zusammenfassend und ausblickend, lässt sich eine familiäre und gesellschaftliche Dringlichkeit des Erinnerns und Erzählens vergangener Mobilitätsbewegungen feststellen, vor allem mit dem Ziel, zu rekonstruieren, wie wir zu dieser Gesellschaft in ihrer Momentaufnahme – entscheidend durch Migrationen – geworden sind. Damit ist die Betonung der Mobilitätserfahrung situativ geboten, vor allem dann, wenn der*die Protagonist*in beschließt, dass der familiäre Migrationshintergrund, im Sinne einer emanzipatorischen Praktik der Selbstbezeichnung, in den Vordergrund treten darf. Die Herkunft als machtvolle Frage und Kategorie von außen bleibt problematisch und ist wenig zukunftsorientiert. Wo jemand selbst oder familial »herkommt«, sagt erst dann etwas aus, wenn das Gegenüber biografische Erzähl-, Erinnerungs- und Kontextualisierungsarbeit leisten möchte. Warum sollten wir also nicht die Herkunft mit der Tatsache der Ankunft als prägende Gemeinsamkeit aller vor Ort Seienden ersetzen oder zumindest addieren?

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innerhalb oder außerhalb Europas fliehen müssen. Der Hierarchisierung von Menschen aufgrund des Migrations- bzw. Fluchtkontextes ist entschieden entgegenzutreten. Die Vertriebenen-Schutzrichtlinien, die jedoch nicht für Drittstaatenangehörige aus der Ukraine gelten, verhelfen Menschen, die aus der Ukraine flüchten, zu einer »menschenwürdigeren« Asylpolitik als es bislang der Fall war. Diese Tatsache zeigt zweierlei: Zum einen, dass eine solche Asylpolitik entgegen bisheriger politischer Verlautbarungen möglich ist bzw. praktiziert werden kann, und zum anderen, dass es eine willkürliche Hierarchisierung von Geflüchteten gibt.

7. Biografische Erzählungen der postmigrantischen Generation

Wo sich jemand im Moment aufhält und wo er*sie hinwill, ist entscheidend(er), da es das gegenwärtige Verhältnis zu sich selbst, den Bezugspersonen, den vorhandenen Räumen und Orten und den sich dort aufhaltenden Menschen beantwortet. Die Fokussierung auf alle, die da sind und noch dazukommen werden, löst nicht sämtliche Problemstellungen und Konfliktlinien, sondern macht neue Diskursverschiebungen auf, mit denen nicht jede*r einverstanden ist. Sie eröffnet jedoch auch einen offeneren Blick auf eine plurale Gesellschaft und eine postmigrantische Migrationsforschung, die Gesellschaftsforschung ist, da sie diese betrifft und verändert(e): Migration ist Normalität! Bis sich dieses Denken mit samt einer Entzauberung dualer und nationaler Diskurse etabliert hat, gilt es, mehrheimische, marginalisierte und postmigrantische Erzählungen und Erinnerungen vermehrt wissenschaftlich zu rekonstruieren.24 Die Kämpfe um Anerkennung, Etablierung und Repräsentation seitens der postmigrantischen Generation dauern an und denken (Nicht-)Gleichgesinnte innerhalb der postmigrantischen Allianzen und außerhalb dieser mit. »Wir werden Forderungen stellen, die wir zuvor nie gewagt hätten zu stellen, und wir werden dabei nicht ›bitte‹ sagen, denn man sagt gar nicht ›bitte‹ bei Revolutionen. Man sagt nur ›danke‹ zu denen, die mitgekämpft haben.« (Stokowski 2021, S. 228)

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In wahrscheinlich jeder Familie finden sich Verbindungen zu Mobilitätsbewegungen wieder. Vielleicht auch in der Biografie des*der Leser*in – es lohnt sich auf jeden Fall, darüber nachzudenken!

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Literaturverzeichnis

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Holger Angenent, Jörg Petri, Tatiana Zimenkova (Hg.)

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Ivana Pilic, Anne Wiederhold-Daryanavard (eds.)

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