Postkoloniale Soziologie: Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention [1. Aufl.] 9783839409060

Dieser Band steht für ein Programm, das die Relevanz postkolonialer Theorien für die Soziologie aufzeigt. Er bringt die

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Postkoloniale Soziologie: Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention [1. Aufl.]
 9783839409060

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Programmatik
Provincializing Soziologie. Postkoloniale Theorie als Herausforderung
Kultur
Postkoloniale Soziologie: ein Programm
Empirische Befunde
Am I that Other? Postkoloniale Intellektuelle und die Grenzen des Postkolonialismus
Biographieforschung im Lichte postkolonialer Theorien
Postkoloniale Dimensionen von Islamismus und islamischem Fundamentalismus. Beispiele aus Indonesien
Das Eigene und das Fremde im »globalen Dorf« – Perspektiven einer kritischen Soziologie der Globalisierung
Theoretische Anschlüsse
Bourdieu, postkolonial. Anmerkungen zu einem Oxymoron
Edward W. Saids postkolonialer Kosmopolitismus
Eine kaleidoskopische Dialektik als Antwort auf eine postkoloniale Soziologie
Verhält sich intersektional zu lokal wie postkolonial zu global? Zur Relation von postkolonialen Studien und Intersektionalitätsforschung
Politische Intervention
Postkoloniale Kritik als politisches Projekt
Subalternität, Diff erenz und Ethnisierung – Problematiken. Postkolonialer Theorie im Kontext politischer Transformation
Mission Impossible: Postkoloniale Theorie im deutschsprachigen Raum?
Autorinnen und Autoren

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Julia Reuter, Paula-Irene Villa (Hg.) Postkoloniale Soziologie

POSTCOLONIAL STUDIES | Band 2

2009-11-03 15-00-00 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ed225157628598|(S.

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Julia Reuter, Paula-Irene Villa (Hg.)

Postkoloniale Soziologie Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention

2009-11-03 15-00-00 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ed225157628598|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Übersetzung: Henning Thies, Dortmund Korrektorat: Katrin Gellermann, Avignon Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-906-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

Vorwort ...............................................................................................

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Programmatik Julia Reuter & Paula-Irene Villa Provincializing Soziologie. Postkoloniale Theorie als Herausforderung ...................................

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Gayatri Chakravorty Spivak Kultur .................................................................................................

47

Manuela Boatcă & Sérgio Costa Postkoloniale Soziologie: ein Programm .........................................

69

Empirische Befunde Miriam Nandi Am I that Other? Postkoloniale Intellektuelle und die Grenzen des Postkolonialismus .........................................

91

Helma Lutz Biographieforschung im Lichte postkolonialer Theorien ..............

115

Susanne Schröter Postkoloniale Dimensionen von Islamismus und islamischem Fundamentalismus. Beispiele aus Indonesien ...............................

137

Wolfgang Gabbert Das Eigene und das Fremde im »globalen Dorf« – Perspektiven einer kritischen Soziologie der Globalisierung ....... 159

Theoretische Anschlüsse Nirmal Puwar Bourdieu, postkolonial. Anmerkungen zu einem Oxymoron ......

181

Benedikt Köhler Edward W. Saids postkolonialer Kosmopolitismus ........................ 193 Boike Rehbein Eine kaleidoskopische Dialektik als Antwort auf eine postkoloniale Soziologie ................................ 213 Ina Kerner Verhält sich intersektional zu lokal wie postkolonial zu global? Zur Relation von postkolonialen Studien und Intersektionalitätsforschung .................................................... 237

Politische Intervention Kien Nghi Ha Postkoloniale Kritik als politisches Projekt ..................................... 259 Ceren Türkmen Subalternität, Differenz und Ethnisierung – Problematiken Postkolonialer Theorie im Kontext politischer Transformation ... 281 María do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan Mission Impossible: Postkoloniale Theorie im deutschsprachigen Raum? .................... 303

Autorinnen und Autoren ..................................................................

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Vorwort

Postkolonialismus boomt – auch in Deutschland. Auf wissenschaftlichen Tagungen und Konferenzen zu Themenbereichen wie Kultur, Identität oder Globalisierung sind der Begriff und die damit verbundene Perspektive unverzichtbar geworden. Insbesondere in den Literatur- und Kulturwissenschaften blickt das postkoloniale Projekt auf eine Erfolgsgeschichte zurück, von der nicht nur die populären postkolonialen Intellektuellen in ihrer Publizität profitieren, sondern zunehmend auch ihre SchülerInnen an den Universitäten in Form von Lehrveranstaltungen und Veröffentlichungen, Forschungsprojekten oder Förderprogrammen, wie etwa das gleichnamige (mittlerweile abgeschlossene) von der DFG geförderte Graduiertenzentrum in München oder auch das Gießener Graduiertenzentrum »Postcolonial und Gender Studies« zeigen. Diese Institutionalisierung der postkolonialen Theorien an deutschen Hochschulen setzt sich zudem in der Einrichtung von Forschungszentren und Lehrstühlen fort, wie etwa die Besetzung von Juniorprofessuren mit der Widmung »Postcolonial und Gender Studies« an den Universitäten Trier und Frankfurt a.M. verdeutlichen. Interessant ist, dass hier das postkoloniale Projekt trotz der Verortung in konkreten Fächern (in diesem Fall in der Kunstgeschichte und Politikwissenschaft) häufig ganz bewusst als ›offenes‹, das heißt disziplinübergreifendes Projekt konzipiert ist, das sich als an eine Vielzahl an Disziplinen und Themen anschlussfähig erweist: Allen voran die Literaturwissenschaften, wie Anglistik oder Romanistik, aber auch in Ethnologie und Philosophie, Kunst und Filmwissenschaften, Bildungs- und Medienwissenschaften, Geschichte und Politikwissenschaften werden postkoloniale Theorien zunehmend rezipiert. Nur nicht unbedingt in der Soziologie. Schaut man in die gegenwärtige soziologische Landschaft, gewinnt man schnell den Eindruck,

8 | Postkoloniale Soziologie dass hier die postkolonialen Theorien und Konzepte zögerlich diskutiert werden – wenn überhaupt. Zu sehr hält sich im Fach die Idee einer theoretischen wie methodischen Unabhängigkeit von anderen Disziplinen aufrecht und damit zusammenhängend auch die Furcht vor einer vermeintlichen literatur- beziehungsweise kulturwissenschaftlichen ›Verwässerung‹ der eigenen, vornehmlich an den ›hard sciences‹ ausgerichteten Ideen/Ideale. Nicht selten erscheint zudem die Beschäftigung mit postkolonialen Themen selbst als ›exotisch‹ und – schaut man sich das inhaltliche Profi l der Stellenausschreibungen hierzulande an – nicht unbedingt reputierlich für den wissenschaftlichen Nachwuchs. So stellte sich für uns als Herausgeberinnen die Suche nach postkolonialistisch inspirierten SoziologInnen beziehungsweise soziologisch interessierten und postkolonial informierten AutorInnen für diesen Band als eine Herausforderung dar: Nicht nur weil es ›offensichtlich‹ wenige gibt, sondern auch weil eine postkoloniale Reflexion der Soziologie ein thematisch ebenso weites wie – zumindest in der deutschsprachigen Community – bislang faktisch unbearbeitetes Feld darstellt. Der vorliegende Band ist daher zunächst einmal eine Einladung, sich auf die postkoloniale Herausforderung der Soziologie einzulassen, ohne eine vollständige oder gar endgültige Antwort auf die Frage nach ihrem Profil beziehungsweise ihrem Standort geben zu wollen. Er dokumentiert aber auch den Versuch, der Diskussion einen festen Platz in der deutschsprachigen fachinternen wie -übergreifenden öffentlichen Selbstreflexion einzuräumen. In Gestalt des mit Eigenmitteln realisierten ›Eröff nungsbandes‹ der Reihe Postcolonial Studies hat der transcript Verlag diese Idee wesentlich (mit-)unterstützt. Damit stellt der Band in der deutschen Fachverlagslandschaft sicherlich eine Ausnahme dar, denn postkoloniale Theorien tauchen (noch) nicht unbedingt als Namensgeber eigener Reihen auf – allenfalls finden sich die Arbeiten in Reihen zur Inter- und Multikultur, wobei diese Labels – lässt man sich auf die postkoloniale Kulturdefinition ein – gerade nicht passen. Inwieweit postkoloniale Theorien zumindest Teile der Soziologie nachhaltig berühren, erschüttern oder gar erneuern können, bleibt vorerst eine offene Frage. Sicherlich bietet die Soziologie als Wissenschaft, die sich unter anderem professionell mit dem gesellschaftlichen Wandel beschäftigt, eine gute Basis, um soziale Phänomene und damit auch sich selbst immer wieder neu zu betrachten. In diesem Sinne wünschen wir uns viele kritische und produktive LeserInnen, die mit eigenen Arbeiten dazu beitragen, die Soziologie im besten Sinne zu ›provinzialisieren‹.

Vorwort | 9

Wir danken An erster Stelle möchten wir den AutorInnen in diesem Band danken, die durch ihre ebenso grundlegenden wie innovativen Beiträge das Projekt einer postkolonialen Soziologie im deutschsprachigen Raum wesentlich vorantreiben. Wir danken Gayatri Chakravorty Spivak für die genehmigte Neufassung ihres Textes und Henning Thies für die Übersetzung zentraler Textpassagen aus »A Critique of Postcolonial Reason«. Nikita Dhawan sei für die unkomplizierte und überaus herzliche ›Vermittlungsarbeit‹ in diesem Zusammenhang gedankt. Darüber hinaus gilt unser Dank Karin Werner und Michael Volkmer vom transcript Verlag, die uns bereits früh für die Idee begeistern konnten, die deutschsprachige Postkolonialismusdebatte in der Soziologie in einem Buchband zusammenzuführen und uns schließlich in der Verwirklichung dieser Idee wesentlich unterstützt und gefördert haben. Sie tragen durch ihr verlegerisches Gespür und durch ihr persönliches Interesse wesentlich zur Institutionalisierung der Postkolonialen Theorie in der deutschsprachigen Fachliteratur bei und konnten nicht zuletzt für die verlagseigene Postcolonial-Studies-Reihe wichtige internationale VertreterInnen Postkolonialer Theorie gewinnen. Imke Schmincke (LMU München) sei herzlich für ihre kritische Durchsicht einzelner Beiträge gedankt und Eva Ross (Universität Trier) für die Unterstützung bei der Erstellung des Typoskripts. Die Herausgeberinnen, Trier/München im Juni 2009

Provincializing Soziologie. Postkoloniale Theorie als Herausforderung Julia Reuter & Paula-Irene Villa Postkolonial? Der Begriff klingt für deutschsprachige SoziologInnen befremdlich. Und genau darin liegt dessen Potential.1 In diesem Buch wollen wir zeigen, wie produktiv die Rekontextualisierung soziologischen Denkens und Forschens ist, die der postkoloniale Horizont ermöglicht. Insofern laden wir alle Lesenden ein, sich befremden zu lassen und das bislang Bekannte – so zum Beispiel Bourdieus Theorie der Praxis, die Diagnose der reflexiven Modernisierung oder die Analyse von Vergeschlechtlichungsprozessen – durch eine neue, vor allem aber komplexere Brille zu sehen. Diese Brille bewirkt im Wesentlichen eine hinterfragende, de-essentialisierende, dekonstruktive Sicht auf folgende, oft implizite und darum umso wirkmächtigere Grundannahmen des Sozialen (wie wir im Laufe dieser Einleitung noch ausführlicher skizzieren und die vor allem in den einzelnen Beiträgen im Detail präsentiert und diskutiert werden):

1 | Befremdung als analytisches und methodologisches Potential ist freilich kein neuer Topos innerhalb der Soziologie und auch keine ›Erfindung‹ postkolonialer Reflexivität. Vgl. hierzu Hirschauer/Amman (1997) sowie Villa (2009). Allerdings steht eine fundierte Kritik an bisweilen naiven und romantisch-verklärenden Projektionen von ›Fremdheit‹ und ›Befremdung‹, der ›Anderen‹ und deren ›anderer Blick‹ innerhalb der deutschsprachigen Soziologie unseres Erachtens noch aus. Genau dies können die hier versammelten Beiträge leisten, zumindest in ersten Annäherungen. Vgl. insbesondere Ha (2005).

12 | Julia Reuter & Paula-Irene Villa •

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Identität – vor allem als stabile Identifizierung mit vermeintlich stabilen soziokulturellen Positionen und Zugehörigkeiten wie Nation, Ethnizität, Geschlecht; Differenz – vor allem als ontologischer Status der Alterität zwischen etwa Ethnien, Religionen, Kulturen, Geschlechtern; Universalismus – als Annahme eines differenzübergreifenden Kerns von Bedeutungen, etwa von ›Moderne‹, ›Wissen‹, ›Rationalität‹ usw.; Alterität/Fremdheit/Andere – als an sich existierende ›Abweichungen‹ von der eigentlichen Form des Eigentlichen (›Eigenen‹, ›Vertrauten‹); Eindimensionalität – als vor allem methodologischer Rahmen, der in der sozialwissenschaftlichen Analyse einzelner Differenz- und Ungleichheitskategorien wie Religion, Geschlecht, Nationalität, Schicht von der komplexen Intersektionalität struktureller Verortungen konkreter Personen abstrahiert; Wissen/Kritik – als verobjektivierte, voneinander und von anderen Semantiken distinkte Formen der Reflexion und Forschung.

Sich hierauf einzulassen wird allerdings erfordern, die eigene Position als SoziologIn kritisch zu reflektieren. Und das heißt auch, das eigene soziologische Tun herrschaftskritisch zu rahmen. Zu den irritierendsten Stärken postkolonialer Perspektiven gehört nämlich die Reflexion des eigenen Standpunkts in epistemologischer, zugleich normativer und damit politischer Hinsicht als zwingend privilegierter Standpunkt. Anders formuliert: Postkoloniale Perspektiven ermöglichen eine ebenso ernüchternde wie horizonterweiternde ›Provinzialisierung‹ der Soziologie in ihren bislang hegemonialen Formen, wie sie auch (und gerade!) für den deutschsprachigen Raum charakteristisch ist.2 Mit Provinzialisierung meinen wir die, insbesondere in Deutschland, fällige Relativierung beziehungsweise Ver-Ortung der Soziologie als einer notwendigerweise partikularen. In Anlehnung an Dipesh Chakrabartys Losung »Provincializing Europe« beschreibt es ein Programm, das in die soziologische Geschichte der Moderne, aber auch in die moderne Geschichte der Soziologie die Ambivalenzen, die Widersprüche, die Gewaltanwendung, Tragödien und Ironien einzuschreiben vermag, die sie begleiten – und die eben nicht als Anachronismen, Rückfälle oder Marginalia verschleiert, sondern als konstitutiver Bestandteil der europäischen Moderne verstanden werden (vgl. hierzu v.a. Chakrabatry 2002: 305ff.). Was dies im Einzelnen bedeutet, wird 2 | Dank an Marian Burchardt für diese Formulierung.

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anhand der Beiträge in diesem Band deutlich werden. An dieser Stelle wollen wir lediglich programmatisch festhalten, dass eine postkoloniale Rahmung der deutschsprachigen Soziologie unseres Erachtens zur (Selbst-)Reflexion über die materiell-strukturelle wie symbolischkulturelle und metaphorische Ver-Ortung der eigenen soziologischen Praxis zwingt. Zwar ist diese Form der Reflexivität mitnichten neu – sie ist seit jeher Lippenbekenntnis der Soziologie als »Reflexionswissenschaft« (vgl. Nassehi 2003: 27ff.) und sie ist schon lange konstitutives Charakteristikum derjenigen Bereiche des Faches, die sich an den lebensweltlich wirksamen Ungleichheiten orientieren, allen voran der Geschlechterforschung –, doch systematisch umgesetzt wird die Reflexion auf den eigenen Standpunkt in der Soziologie noch lange nicht. Kritische Selbstrefl exion gilt, dies darf getrost behauptet werden, nach wie vor als politisch (wie in ›versus‹ wissenschaftlich) und als eher lästige Nabelschau (oder schlimmer: Verknechtung durch die ominöse political correctness). Postkoloniale Perspektiven sehen exakt hierin eine Herrschaftsgeste, die darin besteht, sich mit bestimmten Fragen und Problemen nicht beschäftigen zu müssen, weil man von ihnen profitiert. So gesehen und alltagsweltlich formuliert, haben ›AusländerInnen‹ eine ethnische Identität, ›Schwarze‹ eine Hautfarbe, ›Frauen‹ ein Geschlecht, ›Homosexuelle‹ eine Sexualität oder ›Afrika‹ eine koloniale Vergangenheit. Dass mit einer postkolonialen Brille nicht nur klar wird, dass auch ›Deutschland‹ Teil kolonialer Konstellationen war, auch ›Deutsche‹ ethnisch konstituiert sind, auch ›Männer‹ ein Geschlecht haben usw. macht nicht nur ihr Reflexivitätspotential aus, sondern überdies die Verkomplizierung dieser Einsichten durch die Analyse der realen Verwicklungen, Komplizenschaften, Interdependenzen und (Un-)Gleichzeitigkeiten verschiedenster Zugehörigkeiten und Positionen. Insbesondere für diejenigen SoziologInnen, die sich aus den hehrsten Gründen als kritisch, reflektiert/reflexiv und engagiert verstehen, stellen postkoloniale Perspektiven eine – auch emotional – diffizile Herausforderung dar. Was es heißt, »outside in the teaching machine« (Spivak 1993) zu sein, das heißt eine zwar einerseits marginalisierte Position innerhalb des andererseits dann doch anerkannten und institutionalisierten Kanons in den ›westlichen‹ Zentren einzunehmen, ist eine schwierige und ausgesprochen ambivalente Frage. Die entsprechende Artikulation »dissidenter Partizipation« (Hark 2005) – etwa als MigrantInnen und/oder FeministInnen in der (deutschsprachigen) Soziologie – ist entsprechend fragil und widersprüchlich, nicht zuletzt weil sie provoziert durch die Entlarvung der Partikularität jedweder Position sowie der faktischen Uneindeutigkeit vermeintlicher Klarhei-

14 | Julia Reuter & Paula-Irene Villa ten. So arbeiten die Postcolonial Studies heraus, dass es mitnichten klar ist, wer und wie die hegemonialen ›Zentren‹ und wer beziehungsweise wie die marginalisierten Ränder sind. Unklar ist auch, wer beziehungsweise wie ›Subalterne‹ sind und welche Artikulationen sie (re-)präsentieren (vgl. Spivak 2008; Steyerl/Gutiérrez Rodríguez 2003). Es ist »niemals richtig klar […], wer oder was hier wen bestimmt«, so Spivak in diesem Band. Solche Veruneindeutigungen sind der Verwobenheit von Kontext und Text, von soziostrukturellen Positionen einerseits und inhaltlichen Analysen und Wissensformen andererseits geschuldet, auf die die Postcolonial Studies hinweisen und die eine Reihe der Beiträge in diesem Band entfalten. Dabei ist vor allem wichtig, dass eben nicht – wie die traditionelle sozialwissenschaftliche Migrations- oder auch Teile der Frauen- und Geschlechterforschung meinen – nur die markierten Kontexte partikulare Texte hervorbringen. Es sind also keinesfalls nur die ›Anderen‹ ethnisch, nicht nur die Frauen geschlechtlich, nicht nur der ›Süden‹ auf einer Landkarte verortet – auch Männer sind geschlechtlich konstituiert, auch ist Weiß-Sein Effekt komplexer und sehr wirkmächtiger rassischer Konstitutionen, auch ›der deutsche Soziologe‹ ist ethnisch, national usw. positioniert. So ist jede Position eben eine Position – wer das, auch und gerade inhaltlich in der eigenen Arbeit, zu leugnen in der Lage ist, genießt die strukturell erzeugten Dividenden hegemonialer Positionen.3 Dass dies noch lange nicht in der deutschsprachigen Soziologie angekommen ist, mag der Hinweis auf den letzten Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (Jena, Oktober 2008) verdeutlichen. In Jena konnte man sich ziemlich sicher sein: Wenn im Titel nichts drauf steht, ist sicher Deutschland im Vortrag drin. Ist hingegen von China, Indien oder der Schweiz die Rede, wird das auch explizit im Titel markiert. Das erinnert an die mediale Logik der ethnischen Markierung von ›Jugendlichen türkischer Herkunft‹, wohingegen die ›Jugendlichen‹ quasi selbsterklärend ›die Deutschen‹ sind. Die postkolonial geschliffene Brille sieht in solchen Beispielen die komplexen und effektiven (Herrschafts-)Strategien der Unsichtbarmachung und Markierung einzelner Positionen. Dass sich dadurch auch die analytischen Werkzeuge der Soziologie sowie das empirische Instrumentarium ändern, ist ebenfalls irritierend: Die postkolonialen ›Fremden‹ stellen durch ihre dezidierte Bezugnahme auf soziologische TheoretikerInnen und Theoreme den Anspruch, die Soziologie phänomenologisch wie (sozial-)theoretisch zu erweitern. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Soziologie 3 | Frei nach Connells Formulierung der »patriarchalen Dividende« (Connell 1999: 100).

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der (kulturellen) Globalisierung, in der sich – langsam, aber sicher – eine postkoloniale Perspektive etabliert (vgl. hierzu auch Gabbert in diesem Band). Dies gilt aber auch für andere Soziologien, führend die Migrations- und Geschlechtersoziologie, in denen die Rezeption postkolonialer AutorInnen zunehmend von den Rändern in die Zentren der Aufmerksamkeit rückt. Dennoch bedeutet dies nicht automatisch die Herauf kunft einer postkolonialen Soziologie. Während in der angloamerikanischen Rezeption postkoloniale Ansätze im Kontext der Cultural Studies bereits eine kritische Rekonstruktion der bisherigen wissenschaftlichen Paradigmen einschließlich des Umschreibens der Sozialtheorien angestoßen haben (vgl. Reuter/Wieser 2006), bleibt es hierzulande – wenn überhaupt – nicht selten bei der Erwähnung postkolonialer AutorInnen und Konzepte innerhalb spezieller Soziologien. In die als Zentren des Faches anerkannten Felder – (Gesellschafts-) Theorie, Sozialstrukturanalyse und Ungleichheitsforschung, Organisations- und Wirtschaftssoziologie oder die Handlungstheorien – haben sie dagegen noch wenig bis gar keinen Eingang gefunden. Innerhalb der deutschsprachigen Soziologie ist dies sicher auf das historisch sedimentierte Selbstverständnis deutschsprachiger Länder, vor allem Deutschlands selbst, als kulturell homogene Nicht-Einwanderungsgesellschaften zurückzuführen. 4 Für die Soziologie kommt verstärkend hinzu, dass die tatsächlich stark von deutschen Autoren geprägte Geschichte des Faches mit ihren wirkmächtigen ›Gründungsvätern‹ wie Karl Marx, Max Weber, Georg Simmel, Ferdinand Tönnies usw. eine nationale Verengung des Faches lange Zeit legitimiert hat. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf die Entdeckung, Thematisierung und Analyse gesellschaftlicher Phänomene, das heißt auf die Deutungsmuster der (Alltags-)Welt. Es leitet auch das Wissen in der wissenschaftlichen Welt an: Wie die Soziologie sich selbst als Fach – auch im Verhältnis zu anderen Fächern – sieht, welche Aufgabenteilung sie prägt, welchen Stellenwert ihre Diskurse besitzen und wie sie diese plausibilisiert, das ist bislang durchgängig national gerahmt.5 Um

4 | Es ist in diesem Zusammenhang nicht verwunderlich, dass ein wesentlicher Teil der deutschen Postkolonialismusdiskussion – auch in unserem Band – selbst von ›provinzialisierten‹ SozialwissenschaftlerInnen geführt wird, insofern sie durch ihre ›fremden‹ Namen und biographischen Konstellationen besondere ›partikulare‹ Positionen in Deutschland zugewiesen bekommen. 5 | Vgl. hierzu Ulrich Becks Kritik am »methodologischen Nationalismus« der Soziologie (vgl. Beck 1998: 48f.).

16 | Julia Reuter & Paula-Irene Villa diese doppelte Verortung des soziologischen Wissens mit Hilfe einer postkolonialen (Erkenntnis-)Theorie geht es im vorliegenden Band.

Was ist Postkoloniale Theorie? Dass die deutschsprachige Soziologie bislang die Postkoloniale Theorie wenig zur Kenntnis genommen hat, ist mitunter der Tatsache geschuldet, dass Letztere keine einheitliche Theorieschule bildet, sondern sich vielmehr als ein komplexes, zuweilen diff uses Theoriefeld präsentiert, das zudem stark von Kultur- und LiteraturwissenschaftlerInnen dominiert wird. Ein üblicher – nicht nur soziologischer – Vorwurf lautet, dass Postkoloniale Theorie, im angelsächsischen Kontext auch als Postcolonial Studies bezeichnet, streng genommen überhaupt keine Theorie darstelle. Dem stimmen auch wir zu. Bei postkolonialen Zugängen handelt es sich vielmehr um verschiedene Beiträge mit unterschiedlichen theoretischen und analytischen Ansätzen, die jedoch alle ein gemeinsames Merkmal aufweisen: »[S]ie gehen alle von der Methode aus, über die Dekonstruktion von Essentialismen einen kritischen erkenntnistheoretischen Kontrapunkt zu den dominierenden Modernitätskonzepten zu entwickeln.« (Costa 2005: 221) Unter Dekonstruktion wird dabei sowohl ein Verfahren wie auch eine Perspektive verstanden – eine in den Worten Derridas »Lektürestrategie« für soziale Texte oder auch ›Skripte‹ jedweder Art –, die die immanente Kontextualität und die (machtgetränkte) Herstellung von sichtbaren ›objektiven‹ Bedeutungen aufzeigt. Bedeutungskonstitution in dekonstruktivistischer Perspektive ergibt sich insbesondere durch die Spuren dessen, was unsichtbar gemacht und ausgeschlossen wird, und durch die »différance« (Derrida 2004), das heißt der unvermeidlichen und prinzipiell unabschließbaren inter- und innertextuellen Verschiebung von Sinn.6 Postkoloniale Ansätze teilen die Annahme: Keine Bedeutung und keine Kategorie ist selbstevident, keine ist zwingend – insbesondere nicht vermeintlich selbstverständliche, faktisch asymmetrische Begriffspaare wie Okzident-Orient, Nord-Süd, modern-traditionell, entwickelt-unterentwickelt, rational-exotisch, eigenfremd, progressiv-konservativ usw. und deren Gebrauch im (auch wissenschaftlichen) Alltag. Auch die Bezeichnung ›postkolonial‹ ist keinesfalls selbsterklärend, zum einen weil die Vorsilbe ›post-‹ nicht zwangsläufig als historische Kategorie eines einfachen Verhältnisses des ›Danach‹, einer 6 | Vgl. auch Villa (2006) für eine kompakte Darstellung.

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›nach-kolonialen Situation‹ gelesen werden darf, bei der die politische Unabhängigkeit ehemaliger Kolonialländer von den westlichen Kolonialmächten markiert wird (vgl. Ashcroft/Griffiths/Tiffin 1995: 1ff.; Castro Varela/Dhawan 2005: 23; Ha 1999: 84f.; Reckwitz 2008a: 96f.). Zum anderen, weil sie die binäre Form ›damals‹ und ›jetzt‹, in der koloniale Begegnungen lange Zeit gedacht wurden, selbst in Frage stellt. Das Präfi x ›Post‹ ist also weder Ausdruck einer Abfolge noch einer Polarität (vgl. Hall 2002: 226; Bhabha 1997: 128). So ist auch der Begriff ›postkolonial‹ eher als eine politisch motivierte Analysekategorie zu verstehen, die einerseits die nachhaltige Prägung der globalen Situation durch Kolonialismus, Dekolonisierung und neokolonialistische Tendenzen aufzeigt – und damit nicht nur die aktuelle Wirkmächtigkeit eines unabgeschlossenen Kolonialdiskurses konstatiert, sondern auch ein chronologisches Geschichtsverständnis kritisiert. Andererseits wird über diese Feststellung eine diskurskritische Kulturtheorie auf den Weg gebracht, die eurozentrische Wissensordnungen und Repräsentationssysteme ins Visier nimmt (vgl. Bachmann-Medick 2006: 184; Castro Varela/Dhawan 2005: 24f.). Insofern wird die Postkoloniale Theorie gerne auch als ›theoretischer Widerstand‹ beziehungsweise ›Theorie(n) des Widerstands‹ tituliert – gegen unilineare, eurozentrische, vermeintlich unpolitische und damit ebenso einseitige wie diskriminierende Mainstream-Theorien von kultureller/nationaler Identität, gesellschaftlichen Machtbeziehungen, sozialem Wandel und Integration und deren akademischer Diskursivierung. Postkoloniale Ansätze konvergieren weniger in ihren theoretischen Verweisen und Grundannahmen als vielmehr in ihrer methodologischen Zugangs- beziehungsweise Sichtweise auf soziale Probleme: Die häufig als ›verschoben‹ beziehungsweise ›seitenverkehrt‹ bezeichnete Perspektive zeichnet sich dadurch aus, die Gegenstände ihrer Analyse von ›außen‹, von ihrer ›Begrenzung‹ beziehungsweise ›Grenzziehung‹ her zu betrachten. Denn jedes Phänomen, jeder Gegenstand – so die Grundannahme – existiert nur in Relation zu einer MachtWissens-Struktur und wird durch diese geformt. Auch widerständige, kritische, marginalisierte Positionen sind demnach verwickelt mit den hegemonialen Positionen, gegen die sie sich richten. Komplizenschaft ist in diesem Zusammenhang ein zentraler, komplexer Begriff (vgl. Spivak in diesem Band). Postkoloniale AutorInnen – die sich häufig selbst als Rand- beziehungsweise GrenzgängerInnen verstehen – gehen von der Idee aus, »dass von den Rändern oder Peripherien her die Machtstrukturen und Organisationsstrukturen des Wissens klarer sichtbar werden« (De Sousa Santos 2005: 201). Ihr Blick richtet sich auf das konstitutive Außen als verborgene und zugleich konstitutive

18 | Julia Reuter & Paula-Irene Villa Kehrseite von kulturellen Universalisierungsprozessen ganz im Sinne des Poststrukturalismus und des Dekonstruktivismus. Das heißt, der Kolonialismus wird nicht als Nebenerscheinung der ›Moderne‹ oder des ›Kapitalismus‹ aufgefasst, sondern als ihr konstitutiver Bestandteil. Damit gerät dasjenige, was auch soziologisch als ›Eigentliches‹ tradiert wurde – zum Beispiel die westliche Moderne – als eine Semantik und Konstruktion in den Blick, die durch ihr Außen ko-konstituiert ist. Und damit wird der analytische Blick gewissermaßen umgedreht beziehungsweise verschoben: nicht mehr vom definitorischen Zentrum auf die davon abweichende Peripherie, sondern von der Peripherie her auf die (historischen und politischen Prozesse der) Konstitution der Differenz zwischen Peripherie und Zentrum sowie deren wechselseitige Bedingtheit (vgl. auch Reckwitz 2008a: 95). Auch die Bezeichnungen Postkolonialismus, Postkoloniale Theorie beziehungsweise Postcolonial Studies lassen sich nicht unbedingt synonym verwenden, bezeichnen doch strenggenommen die Postcolonial Studies den materialen, empirischen Zweig des Postkolonialismus, während die Postkoloniale Theorie, beziehungsweise Postcolonial Theory im Englischen, für den stärker theoretisch-konzeptionellen Zweig steht (vgl. Reckwitz 2008a: 97). Diese Differenzierung ist nicht zuletzt den unterschiedlichen Entwicklungslinien und Einflussfaktoren geschuldet, die zur Entstehung des Postkolonialismus geführt haben:7 Eine zentrale Entstehungsbedingung waren die antikolonialen Widerstandsbewegungen, die sich auf der Basis der jeweiligen nationalen Unabhängigkeits- und Befreiungskämpfe während der Phase der Dekolonisierung in den ehemaligen Kolonialgesellschaften Afrikas, Indiens, der Karibik usw. herausgebildet haben. Neben der Négritude-Bewegung und dem Pan-Afrikanismus der 1930er und 1940er Jahre zählten hierzu vor allem auch antikoloniale Bewegungen der Nachkriegszeit, insbesondere im Umkreis der Entkolonialisierungskonflikte wie dem Algerienkrieg. So stand der Postkolonialismus in der Anfangsphase weniger für ein theoretisches Programm, sondern mehr für eine Plattform für ›Befreiungsideologien‹ von Intellektuellen, die selbst in dieses Erfahrungsumfeld von Entkolonialisierungskonflikten und Versuchen der Identitätsfindung als Minderheit ver7 | »Postkoloniale Theorien sind selbst (wie ihr Feind) Produkt einer Geschichte, kontextbedingt entstanden, von hegemonialen Sozialwissenschaften in anderen geopolitischen Räumen erschaffen, durch andere theoretische und analytische Rahmenkonzepte beeinflusst, vor allem aber durch andere Prozesse, Praktiken und Organisation der wissenschaftlichen Erkenntnis hervorgebracht.« (De Sousa Santos 2005: 217)

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wickelt waren. Als einer der berühmtesten Vertreter dieser (Gründungs-)Phase des Postkolonialismus gilt der in Martinique geborene Psychiater Frantz Fanon, der am Befreiungskampf der französischen Kolonie Algerien teilnahm. Sein Buch Schwarze Haut, weiße Masken (1952), das mit Hilfe psychoanalytischer Modelle die Auswirkungen der rassistischen kolonialen Unterdrückung auf die kolonisierten Subjekte und deren Kompensationsstrategien untersucht, gilt als Vorläufer der Postkolonialen Theoriebildung.8 Erst in den 1970er Jahren kam es jedoch zum Umschwung von historisch-politischen Ansätzen hin zu einer (kultur-)philosophisch-theoretischen Ausrichtung (vgl. Bachmann-Medick 2006: 187) – bedingt durch die Einsicht, dass koloniale Macht nicht nur politisch oder ökonomisch, sondern auch diskursiv über das (westliche) Wissenssystem ausgeübt wird (ebd.), bedingt aber auch durch die differenztheoretische Rezeption französischer Poststrukturalisten wie Foucault oder Derrida sowie der aufkommenden Postmoderne-Debatte (vgl. Reckwitz 2008a: 97). Obwohl Postkolonialismus ebenso wie Postmodernismus Kategorien der (kritisch-emanzipativen) Rekonfiguration/Transformation kennzeichnen (vgl. Kerner 1999: 35), meinen sie – vor allem empirisch – nicht dasselbe. Denn während sich der Postmodernismus auf die Zentren der abendländischen Gesellschaft bezieht, liegt der Fokus des Postkolonialismus auf den ›Peripherien‹ ›unserer‹ Gesellschaften beziehungsweise gleich auf den ›fremden‹ Gesellschaften in geopolitischen Randgebieten und ihren komplexen Abhängigkeitsbeziehungen zum Westen – in den Worten De Sousa Santos (2005: 205): In der Postkolonialen Theorie geht es immer schon um beide Seiten und um ihre Dialektik, um »den Norden und den Süden« oder, in den Worten Stuart Halls (1992), um »the West and the Rest«.9 Edward W. Saids Analyse der Dialektik west8 | Unter der »Soziologie der Dekolonisation« (vgl. hierzu Grohs/Ti-

bi 1973) verbirgt sich ein Mix theoretischer Positionen in Anlehnung an Dependenztheorie und die Arbeiten Fanons mit dem Ziel, »einen analytischen Beitrag zu leisten, die Strukturen der Abhängigkeit zu erkennen sowie die Hürden und Schwierigkeiten ihrer Überwindung zu thematisieren« (Luig 2002: 74). 9 | Wörtlich heißt es bei De Sousa Santos: »Durch die Metapher des Südens stelle ich die Nord-Süd-Beziehungen ins Zentrum der Neuerfindung der sozialen Emanzipation und setze mich ausdrücklich gegen das herrschende postmoderne und poststrukturalistische Denken ab […], da dort die imperiale Unterordnung des Südens unter den Norden nicht thematisiert wird, als ob der Norden, also wir, lediglich ›Wir‹ wären und nicht ›wir und sie‹.« (De Sousa Santos 2005: 205)

20 | Julia Reuter & Paula-Irene Villa licher Diskurse und orientalischer Mythen (Said 1978) bildet hierfür ein anschauliches Beispiel und gilt mittlerweile als ›Gründungstext‹ der Postkolonialen Literatur. Von seinem zum Klassiker gewordenen Text Orientalism (1978) aus entfaltet sich quasi die ›Heilige Dreifaltigkeit‹ (›Holy Trinity‹) der Leitfiguren des Postkolonialismus, zu denen neben dem in Palästina geborenen Edward W. Said die indische Literaturwissenschaftlerin Gayatri C. Spivak und der indische Literaturwissenschaftler Homi K. Bhabha zählen (vgl. Bachmann-Medick 2006: 189).10 Diese AutorInnen haben die Postcolonial Studies als auch theoretisches Projekt artikuliert, etwa durch die Anwendung der Foucault’schen Diskurstheorie und des Hegemoniebegriffs von Antonio Gramsci auf literarische, religiöse und wissenschaftliche (Herrschafts-)Diskurse der europäischen Kultur (Said)11 , des marxistischen Begriffs der Subalternität und der hegemonialen Macht auf die Situation der Frauen im indischen Kastenwesen (Spivak), der Derrida’schen Dekonstruktion auf politisch und sozialwissenschaftlich wirksame Kategorien (Spivak) oder der Lacan’schen Spiegelmetapher und des Freud’schen Fetischkonzeptes auf die Identitätsbildungsprozesse kolonisierter Subjekte (Bhabha). Neben ihren innovativen wissenschaftlichen Arbeiten, die wesentlich zur Theoretisierung der Postkolonialen Theorie beigetragen und die entsprechenden Theoriestränge entscheidend gestaltet haben, ist es nicht zuletzt dem persönlichen Engagement dieser AutorInnen zu verdanken, dass die Postkoloniale Theorie 10 | Offensichtlich beschränkt sich der Postkolonialismus nicht nur auf die drei AutorInnen Said, Spivak und Bhabha. Im Post-Colonial Studies Reader werden zum Beispiel insgesamt 74 PC-AutorInnen kanonisiert (vgl. Ashcroft/Griffiths/Triffin 1995). 11 | Saids Werk gilt auch als ein Vorreiter der sogenannten »Weltliteraturdiskussion«, in der es um eine von der Peripherie (Indien, Afrika, Karibik usw.) ausgehende Re-Definition von Weltliteratur geht, genauer: um die Aufdeckung der kolonialistischen Implikationen europäischer Literatur, der frankophonen, angelsächsischen Commonwealth Literature (Bsp. Shakespeare-Dramen, Defoe, Bronté, Conrad, Kaf ka), wie es in dem programmatischen Sammelband The Empire Writes Back (1989) von Ashcroft/ Griffiths/Tiffi n heißt. Die Vielfalt der Rezeptionsrahmen der Orientalismusstudie und die damit zusammenhängende Vielfalt der theoretischen sowie politischen Verortungen des Autors – als neoliberaler Kosmopolit, als literaturwissenschaftlicher Poststrukturalist, als radikaler Internationalist, als palästinensischer Widerständler – führt Markus Schmitz auf die gleichzeitige Anwendung konkurrierender Theorien und die weit gefasste Themenwahl des Buches zurück (vgl. Schmitz 2008: 134f.).

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ihr unverwechselbares ›Gesicht‹ bekommen hat. Postkoloniale AutorInnen adressieren ihre Arbeiten häufig nicht nur an die ›akademische Welt‹, sondern intervenieren gezielt in öffentlichen Kontroversen und verkörpern damit einen spezifischen Typus des/der »öffentlichen Intellektuellen« (vgl. auch Randeria 2004: 18f.; sowie Nandi in diesem Band). Während die gegenwärtige Postkolonialismusliteratur durch die von Said, Spivak und Bhabha ausgehende kritische Rezeption europäischer, insbesondere französischer Axiome des philosophischen Poststrukturalismus geprägt ist und nach wie vor geprägt wird, ist in den letzten Jahren/Jahrzehnten gleichfalls neben der Öff nung gegenüber neuen Theorien/theoretischen Ansätzen auch ein verstärkter Anwendungsbezug postkolonialer Ansätze erkennbar. Aufgrund der alltäglichen Sichtbarkeit kultureller Globalisierung – bedingt durch die globale Marktwirtschaft, Migration und Medialisierung – und auch damit einhergehender Kommerzialisierungen von ›Differenz‹ (vgl. kritisch Ha 2005), ist eine stärkere Hinwendung zu Theorien und Modellen der empirischen Kulturwissenschaften auszumachen, führend aus der Cultural Anthropology und Ethnologie, aber auch aus der neueren Kultursoziologie. Andreas Reckwitz spricht in diesem Zusammenhang nicht nur von einer zunehmenden empirischen Ausrichtung der Postkolonialen Theorie, sondern auch von ihrer verstärkten Soziologisierung (vgl. Reckwitz 2008a: 98). Insbesondere in den Analysen zur kulturellen Globalisierung stehen weniger die textuellen Repräsentationen des kolonisierten Anderen im Vordergrund als vielmehr die sozialen Praktiken der Identitätskonstitution, Integration und Vergemeinschaftung im globalen Raum (vgl. ebd.). Es werden dabei nicht nur die ehemaligen Kolonialmächte und Kolonialländer – empirisch – ins Auge gefasst, sondern im bereits skizzierten Sinne die Konstitutionsprozesse des ›Eigentlichen‹, der Zentren und Hegemonien. Die postkoloniale Perspektive findet überdies zunehmend auch dort Anwendung, wo auf den ersten Blick keine ›kolonialen‹ Abhängigkeitsund Unterdrückungsverhältnisse existieren – etwa wenn es um die Analyse von Identitätskonstruktionen junger muslimischer Frauen beziehungsweise türkischer MigrantInnen im deutschen Alltag geht (vgl. exemplarisch Nökel 2002), der Darstellung der HipHop-Kultur in großstädtischen Räumen (vgl. exemplarisch Winter 2004) oder des alltäglichen Mode- und Fernsehkonsums von Jugendlichen (vgl. exemplarisch Ha 2005). In dieser stärkeren Fokussierung auf Alltagspraktiken, -ethiken und -ästhetiken, Gebrauchs- und Aneignungsweisen symbolischer Formen sowie Ausdrucksformen kultureller Identitäten angesichts der globalen Kommunikations- und Migrationsströme äh-

22 | Julia Reuter & Paula-Irene Villa nelt die Postkoloniale Theorie nicht nur den Cultural Studies (vgl. Winter/Hörning 1999: 10).12 Die ›Übersetzung‹ Postkolonialer Theorie für andere, alltagsbezogene Kontexte sowie ihre empirische Ausrichtung machen sie auch für stärker sozialwissenschaftlich orientierte Analysen interessant. In diesen Zusammenhang fällt schließlich auch die Institutionalisierung der Postkolonialen Theorie als (Fach-)Disziplin, zum einen, weil sie über die Auseinandersetzung mit einschlägigen Modellen und Begriffen selbst neue konzeptionelle Analyseangebote macht und neue Leitbegriffe (und damit auch Forschungsfelder) definiert – wie etwa den Begriff der ›Hybridität‹, des ›Third Space‹, der ›Kreolisierung‹ oder der ›Liminalität‹. Zum anderen, weil sie den Anspruch erhebt, als empirische Gegenwartswissenschaft die globale Vielfalt diskursiver ebenso wie materieller Unterdrückungs- und Marginalisierungseffekte (imperialer) Herrschaft und die damit einhergehende Konstruktion des ›Anderen‹ (›Othering‹) selbständig und innovativ aufarbeiten zu können. Die gesamte Transnationalismus- und Intersektionalitätsforschung, aber auch die neueren Arbeiten zur (migrantischen) Identitätspolitik zählen zu den innovativsten ›Denkbaustellen‹, die aus der kulturtheoretischen Öffnung wie Empirisierung der Postkolonialen Theorie hervorgegangen ist.13 Die gegenwärtige Postkoloniale Theorie fordert auf, neben der Revision klassischer Wissenschaftstheorien und -modelle auch die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse neu zu betrachten. Wie schon zu ihren Anfängen setzen sie sich weiterhin für die akademische Sichtbarmachung der Veränderbarkeit der sozialen Welt ein (vgl. Kerner 1999: 36; Bachmann-Medick 2006: 185). Dieser dezidiert politische Anspruch hebt die Postkoloniale Theorie von ›werturteilsfreien‹ Sozialtheorien ab, wie die postkolonialen AutorInnen im Übrigen selbst immer wieder betonen: Postkoloniale Theorie ist Erkenntnispolitik, die als »Gesamtprojekt einer Entthronung des Eurozentris12 | Vor allem in der englischen Ausprägung der Cultural Studies im Anschluss an Stuart Hall, wie sie seit Mitte der 1980er Jahre vom Birmingham Center for Contemporary Studies betrieben wird, sind beide Felder nahezu identisch (vgl. Costa 2007: 93), wobei Spivak das Verhältnis von Postcolonial und Cultural Studies durchaus kritisch sieht (in diesem Band). 13 | Gegenwärtig schlägt sich die Institutionalisierung Postkolonialer Theorie in Instituts- wie Stellenprofi len, Lehr- wie Tagungsprogrammen, aber auch in der Fachliteratur- wie Fachverlagslandschaft nieder. Zur Intersektionalitätsdebatte, die sich in der Geschlechterforschung verortet, vgl. Kerner in diesem Band sowie Klinger/Knapp (2008).

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mus« beziehungsweise als »Kampf um den großen Kanon« konzipiert wird (vgl. exemplarisch Said 1997: 90). Ihr Selbstverständnis steht geradezu im Widerspruch zu positivistischen Wissenschafts- und Theorieverständnissen mitsamt ihren verdinglichenden Begriffen, klar konturierten Fachidentitäten, reduktionistischen Analysen einzelner sozialer Kategorien, ›objektiven‹ Quantifizierungen und Repräsentationen usw. Insbesondere in den letzten Jahren lässt sich hier eine Professionalisierung postkolonialer Wissenschaftskritik ausmachen, die auf der Grundaussage basiert: »Wissenschaftliche Aussagen sind politisch, weil jede Aussage ihrem Entstehungsort verpflichtet ist.« (Vgl. Costa 2005: 221) So knüpfen postkoloniale Perspektiven an die in der feministischen Theorie schon lange diskutierte und systematisch bearbeitete »politics of location« (Rich 1986) an und führen diese kritisch fort. Die Postkoloniale Theorie – so könnte man sagen – tritt nun in ihre vierte Phase, in der sie sich nach der materialreichen Analyse kultureller Globalisierungsprozesse nun wieder verstärkt – wie in den 1970er Jahren – der wissenschaftstheoretischen Seite zuwendet und das diskursive (Selbst-)Verständnis hegemonialer Fachidentitäten mit Hilfe von vor allem sozialwissenschaftlichem Analysewerkzeug dekonstruiert. Auf der Grundlage der Arbeiten postkolonialer ›Klassiker‹ liegt es nun an ihren ›SchülerInnen‹, diesen postcolonial turn zur postkolonialen Erkenntnistheorie mit Leben zu füllen. Federführend im deutschsprachigen Raum sind hier die Arbeiten von Sergio Costa, Maria do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan, Shalini Randeria. Der kritische Zugang und zugleich wissenschaftliche ›Mehrwert‹ ihrer postkolonialen Zugänge besteht im Aufzeigen der Partikularitäten, Verengungen und blinden Flecken vermeintlich universaler oder eben nicht-normativer Begriffe und Theorien im (sozial-)wissenschaftlichen Feld. Sie zeigen auf, dass auch – und gerade – dort, wo ›allgemeine‹ Theorie formuliert beziehungsweise universale Ansprüche auf Gültigkeit wissenschaftlicher Reflexion erhoben werden, faktisch Hegemonie ausgeübt wird. Begriffe, Theorien, Konzepte und auch Gegenstandsbereiche sind demnach immer sozial und politisch verortet; auch wissenschaftliches Wissen ist, um es soziologisch zu wenden, »seins- und standortgebunden« im Sinne Karl Mannheims – und die Möglichkeit, dies nicht zu reflektieren beziehungsweise in Rezeption und Kritik nicht mit dieser Gebundenheit konfrontiert zu sein, das macht die hegemoniale Position derjenigen sichtbar, die aus dem Zentrum heraus Wissenschaft betreiben. Wie bereits Said in seiner Fundamental-Kritik am westlichen/europäischen Orientdiskurs deutlich gemacht hat, geht es auch in den vornehmlich wissenschaftssoziologisch argumentieren-

24 | Julia Reuter & Paula-Irene Villa den postkolonialen Arbeiten um die Aufdeckung der methodischen Zirkularität (geistes-)wissenschaftlicher Erkenntnis, indem sie zeigen wollen, dass ›neue‹ Erkenntnisse, die von einem bestimmten Repräsentationssystem ausgehen, gleichzeitig dasselbe System widerspiegeln (vgl. v.a. Said 1978: 30f.; Costa 2007: 94). Über die reine Kritik der Erkenntnisse des wissenschaftlichen Zentrums hinaus weisen postkoloniale Arbeiten nachdrücklich darauf hin, dass zwar minorisierte Standpunkte (etwa die von MigrantInnen) oder Regionen (Lateinamerika, Afrika, Karibik usw.) im Feld der Wissenschaft als ›anders‹ markiert sind, dass aber faktisch jedes Denken ›anders‹ ist. Allerdings haben aufgrund historischer Prozesse manche Standpunkte die Relevanz des Allgemeingültigen erworben, wohingegen andere als partikular und politisch wahrgenommen werden.14 Diese Kritik hat interessante und produktive Parallelen zur Verortung von feministischen und geschlechtertheoretischen Positionen etwa im Feld der sogenannten ›allgemeinen‹ Soziologie.15

Postkoloniale Kritik der Soziologie Welche Aspekte der postkolonialen Wissenschaftskritik sind aus soziologischer Perspektive interessant beziehungsweise wo lässt sich eine dezidierte Soziologiekritik ausmachen? Grundsätzlich meinen wir, dass die Verkomplizierung, Dezentrierung und letztlich Dekonstruktion einiger Axiome der Soziologie den Kern postkolonialer Reflexivität ausmachen: Die Konstitution, Konstruktion und Konsumption von Differenz, die Entgegensetzung von Eigentlichem und Deviantem/Anderem, die Komplexität und Prozessualität von sozialen Verortungen und daraus resultierenden ›Stimmen‹ sowie Identitäten, die unauflösliche Verwobenheit von Kontext und Text – dies sind einige Kernfragen postkolonialer Soziologie. Ein ganz zentraler, wenn nicht der zentralste Kritikpunkt liegt in der postkolonialen Kritik der (impliziten) Teleologie beziehungsweise des (impliziten) Universalismus der soziologischen Modernisierungs14 | Für postkoloniale Arbeiten gibt es diese Unterscheidung nicht, da es für sie keinen unparteiischen Raum für die Repräsentation des Sozialen schlechthin gibt. 15 | Erinnert sei hier etwa an Donna Haraways (1995) mittlerweile klassischen Beitrag zum ›situierten Wissen‹, in dem sie die Unmöglichkeiten einer vollständigen, universalistischen Perspektive in der Wissenschaft konstatiert.

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theorie.16 Wie Sergio Costa anmerkt: »Die moderne Soziologie nimmt Werte, soziale Maßstäbe und Strukturen der als westlich definierten Gesellschaften als universelle Parameter für die Definition dessen, was eine moderne Gesellschaft ist.« (Costa 2005: 225) Costa greift hier wesentlich auf die Kritik sozialwissenschaftlicher Modernisierungstheorien von Shalini Randeria zurück, die durch das In-Beziehung-Setzen ›westlicher‹ Modernitätsdebatten mit ›indischen‹ Erfahrungen und Diskursen zum Thema bereits in den 1990er Jahren auf das Problem einer ethnozentrischen Soziologie der Modernisierung hingewiesen hatte (vgl. exemplarisch Randeria 1999b). Neben der Relativierung wie Präzisierung des Konzepts der ›Moderne‹ fördere die Auseinandersetzung mit ›anderen‹, in ihrem Falle ›indischen‹ Modernisierungsperspektiven vor allem die Einsicht, dass Modernisierungsprozesse in den Metropolen und Peripherien voneinander abhängen beziehungsweise ihre Entwicklung nur aus dem konstitutiven Bedingungsverhältnis heraus zu verstehen sind. Es handele sich im Ergebnis um »entangled modernities«, das heißt multiple und miteinander verwobene Modernitäten. Zentraler noch aber sei die Bedeutung der Positionalität der Akteure wie TheoretikerInnen innerhalb dieser Interaktionsbeziehung: Denn während die ›indischen‹ Modernisierungserfahrungen wie -debatten aufgrund der ungleichen Verteilung von Definitions- und Handlungsmacht von westlichen AutorInnen kaum zur Kenntnis genommen würden, hätte auf Seiten der ›indischen‹ SozialwissenschaftlerInnen durchaus eine – wenn auch selektive – Rezeption westlicher Theorien und Modelle stattgefunden (vgl. Randeria 2004: 28f.). Auch wenn die postkoloniale Kritik am Modernisierungstelos scheinbar nur einen exklusiven Teil der Disziplin berührt, geht es ihr doch um mehr: Die Soziologie als Projekt der Moderne beruht auf deren Leitunterscheidungen – auch wenn sie in der Lage ist, dies systematisch zu reflektieren (vgl. Beck/Bonß 2001; Nassehi 2006). Schließlich waren nicht nur die soziologischen Klassiker selbst Betroffene wie Ak16 | Andreas Reckwitz (2008c: 227f.) zufolge lassen sich die großen soziologischen Erzählungen der Moderne entlang von vier Elementen bestimmen: 1. Struktur-Kultur-Differenz, das heißt die Zuschreibung von Struktur als Primat moderner und Kultur als Primat nichtmoderner Gesellschaften, 2. die Traditionalität/Moderne-Differenz, das heißt die raumzeitliche Expansion von Modernität auf Kosten von Traditionalität, 3. die Einheit/Linearität der Moderne, das heißt eine strukturbezogene Homogenität der Moderne, 4. die Rationalität moderner Muster, das heißt Geltung eines Rationalitätsnarrativs im weitesten Sinne.

26 | Julia Reuter & Paula-Irene Villa teure der Modernisierung; auch die von ihnen begründeten Schulen, ebenso das nachfolgende makrosoziologische Denken, das durch die Globalisierungsdiskussion ein gewisses Revival erfahren hat, hält eine modernistische Soziologie am Leben (vgl. Costa 2007: 118f.). Stuart Hall (1992: 318) bringt es in seinem Schlusssatz zur Analyse des historisch geronnenen machtvollen westlichen Modernisierungsdiskurses, der zugleich ein Orientalismusdiskurs ist, auf den Punkt: »[O]ne of the surprising places where its [the discourse of ›the West and the Rest‹] effects can still be seen is in the language, theoretical models and hidden assumptions of modern sociology itself.« Anstelle des generalisierenden Theoriestils (vgl. Costa 2005: 243) müsse die bisherige Theorie und Geschichte der Moderne mit einem neuen, ›dezentrierten‹ Blickwinkel konfrontiert und analysiert werden, »der nicht länger von einer scheinbar naturwüchsigen Modernisierung und Verwestlichung als ›master narrative‹ der Moderne ausgeht« (Reckwitz 2008a: 96), sondern der die Vielzahl und die Verflechtung der »geteilten Geschichten« (Randeria 2002) in den unterschiedlichen Entwicklungslinien der Modernisierung (»multiple modernities«) untersucht. Dafür war jedoch der soziologische Blick lange Zeit verstellt, da sich die Soziologie in ihrer hegemonialen Form implizit zuständig für westliche Gesellschaften – als ›eigentlich‹ moderne und damit ›eigentliche‹ Gesellschaften – wähnte und die Beschäftigung mit dem ›Anderen‹ aus der Moderne in die Kulturanthropologie ausgliederte oder als spezielle (Entwicklungs-)Soziologie an den Rand des Fachs drängte (vgl. Randeria 1999: 375). Dies hatte unter anderem zur Folge, dass wissenschaftliche VertreterInnen und Einsichten aus nicht-westlichen Gesellschaften nicht ernst genommen wurden – weder als Gegenstand soziologischer Forschung noch als Orte sozialwissenschaftlicher Produktion (ebd.: 373). Bis heute drückt sich dies in einer Soziologie der (Unter-)Entwicklung aus, die sich darüber legitimiert, dass sie die materiell ärmeren Gesellschaften immer noch als die unterlegenen und zivilisationsbedürftigen Anderen repräsentiert (vgl. Costa 2007: 117) – und als ›Sonderfälle‹ sowieso. Damit verbunden ist das Problem, dass nur wenige nicht-deutsche beziehungsweise migrantische SozialwissenschaftlerInnen in der deutschsprachigen akademischen Landschaft relevante Positionen innehaben. WissenschaftlerInnen aus europäischen Ex-Kolonien sind im deutschsprachigen Raum praktisch nicht vertreten (vgl. Costa 2005: 221). Die Soziologie entstand als Fachdisziplin aus dem ›Geist‹ der imperialen Trennung zwischen einer europäischen Welt der Moderne und einer kolonisierten Welt ›vormoderner‹ Kulturen. Diese selbst höchst kolonialistische Trennung spiegelte sich in der institutionel-

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len Trennung der modernen europäischen Gegenwartsdisziplin der Soziologie und einer auf die traditionellen, nicht-industrialisierten Gesellschaften Außeneuropas fi xierten Ethnologie beziehungsweise Kulturanthropologie – Letztere gewissermaßen als Verwalterin dessen, wovon sich die Moderne abgegrenzt hat (vgl. Conrad/Randeria 2002: 21; Reuter 2002: 142 oder auch Boatcă/Costa in diesem Band). Diese der Arbeitsteilung inhärente Polarität zwischen dem »Westen« und dem »Rest« prägt Stuart Hall zufolge auch das Muster des historischen Narrativs, das die moderne Soziologie in progressiven Theorien des Wandels bis heute verwendet (vgl. Hall 1992: 314ff.). Progressive Theorien des Wandels in Gestalt einfacher Modernisierungstheorien 17 beziehen ihre Erklärungskraft, ihr Funktionieren, aus dem Gegensatz zu einer Nicht-modernen beziehungsweise traditionellen Gesellschaft. Dabei ist die Unterscheidung ›traditionell‹ und ›modern‹ mehr als eine bloße Kennzeichnung von sozialen Strukturen, sie ist eine idealtypische Konstruktion, die sich aus dem Bewegungsgesetz eines vielgestaltigen Differenzierungsprozesses generiert, bei der ›das Traditionelle‹ und ›das Moderne‹ für zwei unterschiedlich zu bewertende Differenzierungsgrade stehen, da ihnen eine progressive Unterscheidung zugrunde liegt (vgl. Reuter 2002: 190). Moderne Gesellschaften sind demnach per definitionem Gesellschaften des beständigen, schnellen und permanenten Wandels, traditionelle Gesellschaften zeichneten sich demgegenüber durch ihre Vergangenheitsfi xiertheit und ein Raum-Zeit-Kontinuum aus (vgl. Hall 1999a: 397). Postkoloniale Arbeiten wollen einerseits diesen ›blinden Fleck‹ soziologischer Modernisierungstheorien aufzeigen und andererseits eine reflexive Soziologie der Modernisierung auf den Weg bringen, die sich nicht nur auf ihre zukünftigen unbeabsichtigten technischen, ökologischen und arbeitsmarktpolitischen Nebenfolgen und Risiken besinnt (vgl. Beck/Giddens/Lash 1990), sondern vor allem auch ihrer ursprünglichen kolonialen Experimentierfelder gewahr wird (vgl. Costa 2007: 101f.), in denen ›moderne‹ Projekte, Methoden und Techniken, zumeist noch bevor sie in Europa implementiert wurden, Anwendung fanden und bis heue finden.18 Neben dieser eher inhaltlichen Kritik des Postkolonialismus an 17 | Ulrich Beck unterscheidet zwischen ›einfachen‹ und ›reflexiven‹ Modernisierungstheorien bzw. -soziologien (vgl. Beck 1996: 34ff.). 18 | Dies betriff t nicht nur moderne staatliche Reformen, Reurbanisierungsprojekte oder staatliche Überwachungstechnologien, sondern etwa auch medizinische Praktiken und Therapien, allen voran im Kontext von sogenannten Reproduktionstechnologien.

28 | Julia Reuter & Paula-Irene Villa der Soziologie werden auch methodologische beziehungsweise stilistische Kritikpunkte angeführt. So sieht etwa McLennon ein Problem in der Tatsache, dass sich die Soziologie – insbesondere in ihrer empiristischen Auslegung – auf das Erklären spezialisiert hat, demgegenüber aber schlecht beschreiben, berichten, evaluieren kann (McLennon 2003: 70). Weiter kritisiert er, dass die Perspektive, aus der heraus erklärt wird, in gewisser Weise nach dem Prinzip des »top-down« (Kontrollprozess) angelegt ist, während postkoloniale Konzepte immer schon als ausgehandelt beziehungsweise hybridisiert gelten (ebd.: 75). Insbesondere neuere ethnologisch inspirierte postkoloniale Ansätze sehen in Anlehnung an die fachinterne ›Writing-Culture-Debatte‹ der 1980er Jahre (vgl. Marcus/George 1986) ebenso die Soziologie mit dem Problem der Textualität ihrer eigenen Verfahren konfrontiert. Ihr Vorwurf richtet sich gegen die Naivität soziologischer Geschichtsschreibung, die ihre Gesellschaftsbeschreibungen zuweilen für den schieren Ausdruck ›nackter Tatsachen‹ zu halten scheint. Während in der Ethnologie die von der Linguistik inspirierte Writing-Culture-Debatte zu einer weitreichenden institutionalisierten Selbstkritik geführt hat, ist innerhalb der Soziologie die Reflexion der eigenen Methoden der Repräsentation – nicht nur der Erkenntnismodelle, sondern auch der (profanen) Sprach- und Schreibkonventionen, des Umgangs mit visuellen Darstellungen usw. – keinesfalls üblich (wenngleich präsent, vgl. Hirschauer/Amman 1997). Dies liegt nicht nur an der nach wie vor strikten – aber zunehmend angefochtenen – Abgrenzung des Fachs gegenüber Sprach- und Medienwissenschaften, sondern auch am fachinternen Habitus: Gerade soziologische Intellektuelle stellen gerne die Welt in Frage, aber selten die eigene (intellektuelle) Welt und seltener noch den eigenen Standpunkt in dieser (vgl. Bourdieu 2002). Hier kann eine postkoloniale Perspektive auf die »literarische Politik der Erkenntnis«, wie sie vor allem in den Arbeiten von Edward W. Said (z.B. Said 1997: 94f.) entwickelt wurde, interessante Fragestellungen und neue Forschungsfelder eröffnen. Denn auch soziologische Texte sind nicht bloß Texte – sie vertreten in der Regel bestimmte Werte, verfolgen ein bestimmtes Ziel, gehören einem bestimmten Genre an, sind in einem bestimmten Stil verfasst, unterscheiden zwischen guten und unbedeutenden AutorInnen beziehungsweise ziehen bestimmte Texte anderen vor (vgl. hierzu auch Köhler in diesem Band).

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Soziologische Kritik des Postkolonialismus Abgesehen davon, dass ein vorwurfsvoller Gestus gegenüber dem soziologischen ›Establishment‹ nicht immer eine gute Kommunikationsbasis für einen Dialog der Perspektiven darstellt, lassen sich auch einige der bereits oben genannten Kritikpunkte gegen die Postkoloniale Theorie selbst richten. So gibt etwa Costa zu bedenken, dass die fehlende effektive Einbindung postkolonialer Studien in die Soziologie an der postkolonialen Ignoranz gegenüber soziologischen Ansätzen selbst liegt. Insbesondere ihre Kritik an evolutionistischen Modernisierungstheorien bleibt seltsam ›hermetisch‹ gegenüber solchen modernisierungskritischen Beiträgen, die von der Soziologie selbst angestoßen wurden, wie etwa die Dependenztheorie oder Theorien reflexiver Modernisierung. Hier fehlt es seiner Ansicht nach an einer Dialogbereitschaft seitens der Postkolonialen Theorie, auch oder gerade gegenüber dem ›Establishment‹ (vgl. Costa 2007: 120). Ein zweites Argument betriff t den Vorwurf, soziologische Erklärungsversuche formulierten implizit wie explizit einen universellen Anspruch: »In the universal language of modern social theory, the history of the West is always written as world history.« (Randeria 2002: 216) Auch wenn dies eher mehr denn weniger zutriff t, so neigt auch postkoloniales Theoretisieren mitunter dazu, im Zuge seiner zunehmenden Institutionalisierung und Kanonisierung selbst ›generalistische‹ Erklärungsmuster auszubilden.19 Denn, wie Sergio Costa anmerkt, Theorie(n) zu entwickeln und zu institutionalisieren birgt immer die Gefahr, die sozialen Erfahrungen den Prioritäten und konzeptionellen Kategorien des gewählten analytischen Ansatzes anzupassen, wobei die konkreten Erfahrungen reduziert und simplifiziert werden (vgl. Costa 2005: 243). So erscheint bisweilen die Kategorie des (Hyper-)Kolonialismus als Mastererklärung für sämtliche (Herrschafts-)Phänomene zu fungieren, was aus Sicht De Sousa Santos zu einfach für komplexe Gesellschaften gedacht ist: »[I]ch bin z.B. nicht der Ansicht, dass die Klassenbeziehungen immer und in derselben Form durch den Kolonialismus und durch die Kolonialität in ihren Determinierungen überformt werden.« (De Sousa Santos 2005: 210) 19 | Hinzu kommt, dass die zunehmende Popularisierung »postkolonialer Kritik« und ihr Inbeziehungsetzen zu leicht(er) vermarktbaren Labels wie »Antirassistische Politik«, »Multikulturalismus« oder »Diversity« nicht nur zu einer Verwässerung ihrer Ideen/Ideale, sondern auch zu einem Verlust ihrer politischen Schlagkraft geführt hat (vgl. hierzu Castro Varela und Dhawan in diesem Band).

30 | Julia Reuter & Paula-Irene Villa Mittlerweile ist auch die Kritik an der in Anlehnung an Bhabha prominent gewordenen postkolonialen Kategorie der Hybridität (Bhabha 1994) etabliert. Dies nicht unbedingt, weil der postkoloniale Grundsatz ›alles ist seit jeher hybrid‹ angezweifelt wird, sondern weil auch die Hybriditätskategorie nicht resistent gegen Essentialismen ist 20 und oft genug selbst zum Synonym des eigentlich zu erklärenden Prozesses wird, und weil sie selbst wieder Ideologien (Lob des Hybriden) befördern kann (vgl. Ha 2005). Schaut man in die gegenwärtige Kulturund Medienlandschaft, drängt sich angesichts der zahlreichen Daily Soaps beziehungsweise Werbeplakate, welche die kulturelle Vielfalt als Visitenkarte nutzen, der Eindruck auf, dass das Hybride grundsätzlich als ›bereichernd‹ empfunden und in Kaffeewerbung, Musikvideos oder Modelabels gefeiert wird. Doch bleibt den ›Anderen‹ aus der Perspektive des Zentrums meist lediglich eine Unterhaltungsqualität. Ihre Repräsentation ist häufig auf eine für den Massenkonsum innerhalb einer »Differenzkonsummaschine« (Terkessidis 2006) zurechtgestutzte Klischee-Fremdheit reduziert, die nicht frei von einem »rassistischen Exotismus« ist (vgl. Reuter/Bucakli 2004). Wie in solchen kommerziell erfolgreichen Prozessen der Ver-Anderung Projektionen und Konstruktionen von Geschlecht und Ethnizität verschmelzen, ist Gegenstand wiederum kritischer postkolonialer Theorien (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 111ff.) sowie einzelner Studien (vgl. exemplarisch Ha 2005, Villa 2002). Gewissermaßen klassisch ist auch der sogenannte ›Kulturalismusvorwurf‹, der kulturelle Differenzen als Bezugsrahmen für sämtliche Phänomene und Konflikte zugrunde legt, dabei aber ›materielle‹ Differenzen aus dem Blick verliert. Dies betriff t nicht nur die postkoloniale Theoriebildung, sondern auch die Entwürfe und Forderungen postkolonialer Identitätspolitik, denn die Anerkennung von Differenz reicht nicht aus, »wenn ökonomische, soziale und politische Bedingungen nicht die Gleichheit der Verschiedenheit garantieren« (De Sousa Santos 2005: 208f.). De Sousa Santos sieht einen Grund hierfür in der nach wie vor vorherrschenden Dominanz literatur- und kulturwissenschaftlicher Ansätze innerhalb der Postkolonialen Theorie: »Die postkolonialen Studien waren bisher vorherrschend kulturelle 20 | Während einerseits (organische) Hybridisierung durchaus gewissermaßen ein anthropologischer Normalfall ist und auch eine Kraft sein kann, die neue Formen der Identität hervorbringt, gibt es gleichermaßen machtvolle Versuche gerade angesichts und gegen (intendierte) Hybridität »reine« Identitäten und Kohärenz durch Schließungen und die Wiederbesinnung auf Tradition wiederzuerlangen (vgl. Hall 1994: 219).

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Studien, kritische Analysen von literarischen und anderen Diskursen, von sozialen Mentalitäten und Subjektivitäten, von Ideologien und symbolischen Praktiken, die die koloniale Hierarchie voraussetzen sowie die Unmöglichkeit für den Kolonisierten, sich in seiner eigenen Begrifflichkeit zu äußern, und die sich selbst noch am Ende der politischen Kolonialbeziehung reproduzieren.« (De Sousa Santos 2005: 208) Man könnte auch bündiger formulieren: Die Betonung von ›kultureller Differenz‹ – bei ihrer gleichzeitigen Infragestellung und Problematisierung – verleitet dazu, sämtliche Differenzen und vor allem auch Ungleichheiten als kulturelle Konstruktion zu beschreiben und dadurch ›Kultur‹ selbst zu ontologisieren (vgl. kritisch Benhabib 2002 sowie Türkmen in diesem Band). Rademacher sieht in der fachlichen Verengung der Soziologie einen Grund für die systematische Ignoranz Postkolonialer Theorie innerhalb der Sozialwissenschaften, die auf der Grundlage der Unterscheidung von wissenschaftlichen beziehungsweise diskursiv-logischen und literarisch-künstlerischen Texten (Rademacher 1999: 261) postkoloniale Literatur allzu schnell als ›fi ktionale Thematisierung von hybriden Identitäten und Kulturen‹ abtun. Eine solche Diskursivierung kann – laut KritikerInnen –, sosehr diese auch einen Modus der Interpretation der sozialen Welt darstellt, eine soziologische Analyse nicht ersetzen. Auch McLennon formuliert den Vorwurf einer zu starken Literarizität postkolonialer Arbeiten – insbesondere der von Bhabha verfassten Schriften: »The work of Homi Bhabha, generally neglected by sociologists, has been central to recent debates within and about postcolonial theory. One problem is the rather opaque and elliptical quality of his keynote collection.« (McLennon 2003: 73) Doch ist auch zu fragen, und wir tun dies, wem die vor allem im deutschsprachigen Raum gebräuchliche strikte Trennung der Genres und (Schreib-) Stile nützt, wen sie ausschließt, welches Wissen damit (un-)sichtbar wird usw. Weshalb ist es beispielsweise nach wie vor undenkbar, einen ›mainstreamigen‹ Text in einer der zentralen Fachzeitschriften der Soziologie mit zum Beispiel türkischen Passagen zu veröffentlichen? Wieso und mit welchen Effekten bedeutet ›international ausgewiesen‹ in der Soziologie vor allem Präsenz im US-amerikanischen, allenfalls britischen und eventuell noch französischen Raum – aber nicht in Indien, Namibia, Chile oder Rumänien? Solche Fragen deuten an, dass die Kritik am ›Stil‹ der Texte im postkolonialen Spektrum immer auch eine Kritik an der Subversion tradierter Grenzziehungen zwischen den Hierarchiestufen des »legitimen Wissens« (Bourdieu) impliziert. Stilfragen sind auch politische Fragen – auch in der Wissenschaft, wo sie unseres Erachtens zweifelsohne auch formuliert gehören. Eine postko-

32 | Julia Reuter & Paula-Irene Villa loniale Reorientierung der Soziologie bedeutet dann strenggenommen nicht nur, dass wir als LeserInnen soziologischer Texte die AutorInnen der Texte auch als SchriftstellerInnen ernst nehmen,21 sondern darüber hinaus auch, dass wir als AutorInnen »anderen Wegen der Diskussion und anderen Wegen der Theoriebildung nach[]gehen« – jenseits der europäischen und nordamerikanischen Erfahrungen (vgl. Randeria 2004: 10). Dies kann in eine Betrachtung neuer Phänomene oder in eine Miteinbeziehung vernachlässigter Stimmen führen, wie die Beiträge in unserem Band illustrieren. Es kann aber auch, wie insbesondere der Beitrag von Spivak zeigt, durch den Einsatz ungewohnter narrativer Mittel und Genres – etwa Gedichte – verdeutlicht werden, um die konventionelle Vorstellung wissenschaftlicher Texte und ihre rhetorische Konstitution in Frage zu stellen. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die (auto-)biographische Verortung postkolonialer AutorInnen. So gibt etwa Van der Veer (1997) zu bedenken, dass die meist in Oxford ausgebildeten AutorInnen in englischer Sprache für eine englisch lesende kulturelle Elite schreiben, die zudem westlicher Herkunft ist.22 Dieser ›Eurozentrismus‹ der Lebensläufe und Ausbildungswege vieler postkolonialer AutorInnen spiegele sich zudem in ihrer Rezeptions- und Zitationspraxis wider: »Die zuweilen explizite Präsenz eurozentrischer Traditionen in den postkolonialen Studien, wie z.B. des Dekonstruktivismus oder des Poststrukturalismus, trägt meines Erachtens zu einer gewissen politischen Entwaffnung dieser Studien bei.« (De Sousa Santos 2005: 209) Das heißt, auch postkoloniale AutorInnen können sich vom Vorwurf einer Reproduktion einer europäischen Zentralperspektive in den (Geistes-)Wissenschaften nicht freimachen, immerhin nutzen sie die Modelle von Freud, Derrida, Foucault usw. für ihre Analysen.23 21 | In der Ethnologie hatte Clifford Geertz 1988 seinerzeit die eigene

Zunft als »Schriftsteller« bezeichnet und damit die Diskussion um die »Krise der Repräsentation« angeheizt. 22 | Stuart Hall spricht in diesem Zusammenhang auch von einem »schicken Postkolonialismus« einer relativ kleinen elitären Gruppe »Dritte-Welt-Intellektueller« (Spivak oder Said zählt er jedoch nicht dazu), der von der tatsächlich stattfindenden, langen historischen Entwicklung zu unterscheiden ist (vgl. Hall 1999b: 108f.). 23 | Spivak hat dies selbst immer wieder für ihr eigenes Schreiben und Denken als Wissenschaftlerin problematisiert, da das Feld der Philosophie und Literaturwissenschaft von europäischen – zumeist deutschen – Begriffen von »Wahrheit«, »Subjekt« oder »Freiheit« durchsetzt ist, die jedoch den Status »universaler« Narrative besitzen (vgl. Spivak 1999: 8f.).

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Nicht zuletzt die Positionierung wie professionelle Performance einiger postkolonialer Intellektueller im westlichen, vor allem amerikanischen Wissenschaftsfeld (z.B. Spivak oder Bhabha) als »Superstars« an renommierten Hochschulen mit Spitzengehältern und unvorstellbaren Freiräumen in der Forschung, schmälern nicht selten (auch im Vergleich zur postkolonialen Intelligenz im indischen, lateinamerikanischen oder afrikanischen Kontext) die Glaubwürdigkeit ihrer Kritik an wissenschaftspolitischen Etablierten-Außenseiter-Figurationen (vgl. hierzu auch Nandi in diesem Band).

Postkoloniale Theorie als Herausforderung der Soziologie Trotz oder gerade wegen der zahlreichen – wechselseitigen – Kritikpunkte lassen sich innerhalb des Spannungsfeldes von Soziologie und Postkolonialer Theorie interessante Argumente für eine Verknüpfung ausmachen – die bislang in Forschung und Praxis außer Acht gelassen wurden:

Postkoloniale Wissen(schaft)ssoziologie Spätestens seit der weltweiten Verflechtung von Nationalstaaten in politischer, ökonomischer und auch kultureller Hinsicht ist auch für die deutsche Soziologie ein national verengter Blick auf Gesellschaft unplausibel. Hieran ändert auch die seit Jahrzehnten zu verzeichnende Rezeption vieler nicht-deutscher AutorInnen im Mainstream des Faches nichts: Parsons, Bourdieu, Giddens usw. wurden beziehungsweise werden ausgiebig rezipiert. Was jedoch fehlt, ist eine kritische Auseinandersetzung mit den Entstehungs- und Rezeptionskontexten solcher AutorInnen (vgl. hierzu etwa Nirmal Puwars Beitrag in diesem Band zur postkolonialen Rezeption Pierre Bourdieus). Eine zentrale postkoloniale Erkenntnis lautet: Wissen beziehungsweise Wissenschaft ist nie unschuldig oder gar unpolitisch – trotz (oder gerade weil) sie sich der Objektivität verpflichtet sieht. Edward W. Said spricht von einer problematischen, weil falschen Trennung von sogenanntem »reinen« und »politischen Wissen«, die davon ausgeht, dass wissenschaftlich produziertes Wissen automatisch ›rein‹, das heißt akademisch, unparteiisch oder überparteilich sei (vgl. Said 1978: 17). Durch die Entkopplung von wissenschaftlicher Kommunikation und Interaktion erscheinen wissenschaftliche Texte häufi g als ›letzte‹ objektive Aussagen, die letztlich aber nur die Ergebnisse und nicht die Genese, geschweige denn die Position des Autors/der Autorin

34 | Julia Reuter & Paula-Irene Villa thematisieren. Doch wie Said zu bedenken gibt: »Niemand hat jemals eine Methode erfunden, um den Wissenschaftler von seinen Lebensbedingungen zu trennen, von seiner (bewussten wie unbewussten) Zugehörigkeit zu einer Klasse, einer Glaubensrichtung, einer sozialen Position oder der reinen Tatsache, Mitglied einer Gesellschaft zu sein. Dies alles fährt fort auf ihn Einfluss zu nehmen, auf das, was er beruflich tut.« (Ebd.: 18) Hier lassen sich durchaus Parallelen zur Analyse wie Kritik an der »Fabrikation von Erkenntnis« ziehen, wie sie vor allem im Rahmen der wissenschaftssoziologischen Laborstudien entwickelt wurden (KnorrCetina 1984), die die ›künstliche‹ Trennung von Alltagswelt und Wissenschaft in wissenschaftlichen Texten hinterfragen.24 Auch die feministische beziehungsweise geschlechtertheoretische Reflexion hat diesen Punkt gründlich herausgearbeitet und intensiv diskutiert. Aber auch die von Michel Foucault (2000) postulierte Anonymisierung und Verflüchtigung des Urhebers/der Urheberin von wissenschaftlichen Texten spielt eine Rolle – nicht dass der Name des Autors/der Autorin gar nicht mehr auftaucht; aber die Texte werden nicht unbedingt auf deren Absicht oder andere Bedeutungsinstanzen hin analysiert, sondern daraufhin, welche Themen in welcher Weise behandelt werden und welche Behandlungsweisen und welche Themen ausgeschlossen sind. Dennoch besitzt der Autor/die Autorin trotz seiner/ihrer vermeintlichen Unsichtbarkeit eine klassifi katorische Funktion, da sich mit Hilfe von Namen Texte gruppieren, abgrenzen, ausschließen oder anderen gegenüberstellen lassen (Foucault 2000: 210). Dies erscheint in einer postkolonialen Perspektive umso bedeutsamer, da das ›autoritäre‹ als ›autorisiertes‹ Wissen über die ›Fremden‹ nach wie vor in der Hand ›westlicher AutorInnen‹ liegt. Diese bestimmen Said zufolge nicht nur den Gegenstand und Themen der Expertise, sondern etablieren auch einen Geschmacks- und Wertekanon, der Traditionen, Formulierungen, Formen der Rezeption und Beurteilung, Texttypen sowie Sprache der Texte festlegt (vgl. Said 1978: 29). Daher rührt das Interesse der postkolonialen Perspektive für diese »Geopolitik des Wissens« (vgl. De Sousa Santos 2005: 201), das heißt für die Problematisierung der Frage, wer das Wissen produziert, in welchem Kontext und für wen. Aus Sicht des Soziologen/der Soziologin wäre hier sicherlich interessant zu erforschen, wie sich im globalen Kontext das soziologische Wissen zu unterschiedlichen Themen 24 | Interessant ist in diesem Zusammenhang sicherlich auch die feldspezifische Fabrikation wie Kontextualisierung soziologischer Erkenntnis, wie sie Bourdieu formuliert hat (vgl. Bourdieu 2002).

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– repräsentiert in Fachzeitschriften, Fachbüchern und Datenbanken, Lehrstühlen, Abteilungen und Instituten, Fachtagungen und Vereinigungen – verteilt beziehungsweise welche Sprache, Richtung und Zugangsvoraussetzungen der Informationsfluss besitzt.25 Aber auch im nationalen Kontext finden sich zahlreiche Beispiele für eine ›ethnozentrische Politik der soziologischen Erkenntnis‹. Die soziologische Migrations- und Minoritätenforschung in Deutschland ist ein gutes Beispiel hierfür (vgl. hierzu auch Ha in diesem Band). Unter den Begriffen ›Fremdenfeindlichkeit‹, ›Rassismus‹ und ›Ethnozentrismus‹ werden nach wie vor Studien versammelt, die den ›Ausländer‹ als typischen Fremden einer nationalstaatlich verfassten Gesellschaft behandeln und ihn als konflikthaften, weil vor allem kulturell nicht-integrierten beziehungsweise assimilierten Außenseiter untersuchen – auch nach 50 Jahren Einwanderungsgeschichte. Diese »Banalität des Rassismus« (Terkessidis 2004) zeigt sich dann nicht nur in der naiven Vorstellung einer unparteiischen Repräsentation kultureller Differenz, sondern ist auch zum Teil auf die ›ethnozentrische‹ Institutionalisierung des Forschungsbereichs selbst zurückzuführen, dessen LehrstuhlinhaberInnen in der Regel ›deutsch‹ und daher ›nicht-fremd‹ sind beziehungsweise dessen Theorien und Modelle vor allem aus angelsächsischen Einwanderungsländern stammen.

Postkoloniale Kultursoziologie Eine große Herausforderung stellt die Postkoloniale Theorie für das soziologische Verständnis, die Analyse und Repräsentation von Kultur und kultureller Differenz dar – nicht nur weil die Postkoloniale Theorie um die Verobjektivierung des Kulturellen in Nationen, Traditionen, Wertvorstellungen und Territorien und ebensolcher Theoretisierungsversuche nur allzu gut weiß. Vor allem auch weil sie – wie einige mikrosoziologische Arbeiten zur kulturellen Wirklichkeit – auf die Frage abzielt, wie diese tatsächlich gelebt und erfahren werden, wie kulturelle Deutungen praktiziert und verkörpert werden (vgl. Hall 1999a: 25). Sie setzen sich damit von einem anthropologischen, homogenisierenden Kulturmodell ab, das einem Kollektiv als Ganzem zugeordnet ist und auch in der klassischen Kultursoziologie lange dominierte beziehungsweise bis heute dominiert (vgl. hierzu auch Reckwitz 2008b). 25 | Vgl. hierzu auch Arunchalam (2000), der auf das Problem der weltweit ungleichen Produktion und Verwendung wissenschaftlichen Wissens anhand der Konzentration von Forschungsförderung und Fachzeitschriften in Europa und Nordamerika aufmerksam macht.

36 | Julia Reuter & Paula-Irene Villa Statt Kultur in ›einzigartigen‹, durch mentale, ethnische, territoriale oder nationale Faktoren klar voneinander abgrenzbaren Sinn- und Bedeutungsstrukturen zu verorten, richtet sich der Blick auf die vielfältigen Praktiken inmitten und zwischen Akteuren, Territorien und Orten, in denen kulturelle Ordnungen gelebt, repräsentiert und in Beziehung gesetzt werden. Entgegen solcher Kulturtheorien, die Kultur als geistiges, ideelles Phänomen – etwa in Form kognitiv-geistiger Schemata (Schütz) oder aber als ein System von Ideen und Weltbildern (Weber), als ein mentales knowing that betrachten, lenken postkoloniale Ansätze den Blick auf ein praktisches kulturelles Wissen und Können, ein knowing how. In dieser Hinsicht überschneiden sie sich – empirisch – mit jüngeren praxistheoretischen Perspektiven innerhalb der Kultursoziologie, die sich ebenfalls für Kultur als soziale Praxis interessieren und diese in einem Konglomerat an Alltagstechniken identifizieren, einem praktischen Verstehen im Sinne eines »Sich auf etwas [V]erstehen« (Reckwitz 2003: 289; vgl. hierzu auch Reuter/Hörning 2004). Neben einer eher grundsätzlichen Revision wissenssoziologischer Kulturmodelle geht ein Großteil postkolonialer Arbeiten auf die Neukonzeption kultureller Identität ein (vgl. hierzu auch Jungwirth 2007). Gemeinsamer Ausgangspunkt ist dabei die Infragestellung beziehungsweise Dekonstruktion klassischer, das heißt cartesianisch zentrierter Subjekt- und Identitätstheorien (vgl. hierzu Hall 1999a: 401ff.). Im Gegensatz zur Descartes’schen in der Parole »Cogito ergo sum« zum Ausdruck kommenden Konzeption des rationalen, reflektierenden und bewussten Subjekts wird Identität in postkolonialen Arbeiten als unendliche Produktion und Positionierung zwischen Kulturen verstanden. So stellen sie der cartesianischen Identität unstabile, flüssige, werdende Identitäten gegenüber, ohne sie jedoch gleichzeitig ›individualistisch‹ zu fassen. Denn obwohl sie die kulturelle Identität als produziertes und generiertes Phänomen ansehen, sind es nicht rationale, reflexive AkteurInnen, die diese Identitäten konstruieren oder gar basteln. Identität bleibt Verhandlungssache, ein »Kampf um Bedeutungen« innerhalb von machtvollen Diskursen (vgl. Reuter/Wieser 2006). Dies kann etwa im Rahmen der empirischen Erforschung von Migrationsbiographien dazu führen, dass in einer Migrationsbiographie nicht die ›eigentliche‹ Fremdheit, das heißt die (ethnisierte) Identität als isoliertes Einzelphänomen, zu rekonstruieren ist, sondern die Prozesse der Enteignung und Fremddefinition vorhandener Identitätsressourcen in den jeweiligen gesellschaftspolitischen und damit auch narrativen Machtgefügen (vgl. Lutz in diesem Band).

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Postkoloniale Modernitätensoziologie Der größte postkoloniale Kritikpunkt ist zugleich die größte Herausforderung für die Soziologie: die Reformulierung der Modernisierungstheorie. Ausgehend von der These, dass »die westliche Moderne vom Ursprung her kolonialistisch ist […]« (De Sousa Santos 2005: 207; vgl. hierzu auch Randeria 2002: 222), kann die Postkoloniale Theorie die Einbeziehung divergenter Entwicklungslinien der (post-)kolonialen Moderne leisten – dies kann und soll die Moderne pluralisieren und kontextualisieren. Das Ergebnis ist dann nicht »another modernity«, sondern »other modernities« (Randeria 1999a: 379). Nicht die Moderne, sondern viele verwobene Modernitäten mit multiplen Entwicklungslinien und Formen sowie unterschiedliche – keineswegs lineare – Entwicklungs- und Differenzierungspfade prägen das Bild. Empirisch ließe sich dies, wie Boike Rehbein (in diesem Band) verdeutlicht, besonders gut anhand der asiatischen Gesellschaften aufzeigen, die vor der europäischen Vorherrschaft viele Jahrhunderte lang das wirtschaftliche Handelszentrum bildeten und gegenwärtig auf dem besten Wege sind, diese Stellung wieder zu erlangen. Seiner Ansicht nach spricht dies nicht nur gegen die modernistische Annahme einer Evolution der Welt, die auf eine Gesellschaftsform hinausläuft, sondern auch für eine multizentrische Welt, deren unterschiedliche Zentren sich miteinander vernetzen, dennoch ihre eigenen ›Ethnozentrismen‹ ausgebildet haben.

Postkoloniale Soziologie der Globalisierung Die aktuell wohl größte (soziologische) Aufmerksamkeit erhält die Postkoloniale Theorie in der Debatte um kulturelle Globalisierung. Nachdem in der frühen Soziologie der Globalisierung zu Beginn der 1990er Jahre eine ökonomistische Perspektive überwog, hat sich durch die zahlreichen ethnographischen Globalisierungsstudien der letzten Jahre auch hier ein cultural turn vollzogen. In diesem Zusammenhang konnten sich auch postkoloniale Perspektiven kultureller Globalisierung, insbesondere solche, die Themen wie Ethnizität und kulturelle Identität in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellten, durchsetzen. Zentrales Merkmal ist die Ablehnung eines (imperialistischen) Szenarios einer kulturellen Konvergenz in Zeiten der Globalisierung, das heißt sie desavouieren die Vorstellung einer wachsenden globalen Interdependenz, die zu einer zunehmenden kulturellen Angleichung führt und bislang unter Schlagworten wie ›McDonaldisierung‹, ›Coca-Kolonisierung‹, ›Amerikanisierung‹ beziehungsweise ›Verwestlichung‹

38 | Julia Reuter & Paula-Irene Villa verhandelt wurde. Stattdessen sehen sie Prozesse der kulturellen Hybridisierung als kennzeichnend für die globalisierte soziale Welt (vgl. Rademacher 1999; Reuter 2008). Damit verbunden ist ein erkenntnistheoretischer ›revisionistischer Impuls‹ im Hinblick auf die europäischen und amerikanischen Tendenzen innerhalb der Globalisierungsdiskussion, ihre partikularen Positionen als globales Interpretationsschema zu universalisieren. Eine postkoloniale Soziologie der Globalisierung lehnt es ab, in, wie Ludger Pries (2007) es ausdrückt, einfachen ›Entweder-Oder-Logiken‹ oder ›Einbahnstraßenmodellen‹ zu denken, sondern sollte die ›Dialektik‹, die ›Ambivalenz‹ und ›Ungleichzeitigkeit‹ der Globalisierung nachvollziehen können. Vielleicht liegt gerade hierin die nachhaltigste Wirkung postkolonial informierter Globalisierungsperspektiven, da sie auf die Frage ›Was ist Globalisierung?‹ immer mit Gegenfragen antworten: ›Was ist Globalisierung aus Frauensicht?‹, ›Was ist Globalisierung aus indischer Sicht?‹, ›Was ist Globalisierung aus soziologischer Sicht?!‹.26

Postkoloniale Ungleichheits-/Geschlechtersoziologie In der feministischen Theoriedebatte stand (und steht) die Frage des Zusammenhangs zwischen Kontext und Text – beides im weitesten Sinne – immer im Mittelpunkt. »[T]he concern with location and space, with rooms of one’s own [represents] one of the hallmarks of Western feminist practice« (Kaplan 1994: 137). Für Wissenschaftlerinnen und Akademikerinnen, aber auch für weibliche Intellektuelle, Künstlerinnen, Schriftstellerinnen usw. ist die Frage nach ihrem ›Ort‹ eine alltägliche, evidente und unter Umständen dramatisch entscheidende Frage – zu der die Literatur nunmehr Legion ist. Die bereits erwähnte aktuelle Intersektionalitätsdebatte schließt wiederum auch an die Postcolonial Studies an, da bei Ersterer die Dezentrierung der Kategorie Geschlecht durch die Analyse ihrer Verwobenheit mit anderen sozial wirksamen (Ungleichheits-)Kategorien im Mittelpunkt steht. Zugleich ist seit einigen Jahren innerhalb des postkolonialen Theoriespektrums die Kritik an den »Leerstellen: Geschlecht und Sexualität« (Castro Varela/Dhawan 2005: 122ff.) formuliert worden. Es gibt also wichtige, noch nicht hinreichend gefüllte Schnittmengen zwischen Geschlechtersoziologie, feministischer Theorie und postkolonialen 26 | Auch hier sei aus der Fülle an Arbeiten auf wenige exemplarische verwiesen: Klingenbiehl/Randeria (1998); Randeria/Fuchs/Linkenbach (2004); Costa et al. (2006).

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Positionen, die miteinander verschmolzen ausgesprochen anregende ›Hybride‹ des Denkens und Schreibens hervorbringen.

Zu diesem Band Die Grundidee des Bandes besteht darin, einerseits postkoloniale Theorie(n) empirisch und damit nachhaltig zu fundieren, andererseits die deutschsprachige Soziologie, auch in ihrer theoretischen Dimension, für postkoloniale Phänomene zu sensibilisieren. Schließlich erheben sowohl Postkoloniale Theorie und Soziologie den Anspruch, gegenwärtige Entwicklungen und Trends als Artikulation der »Logik des Sozialen« abzubilden (vgl. McLennon 2003: 83). Die Ausgangsfragen des Bandes lauten daher: Welchen Sinn macht es, die (ursprünglich sprach- und kulturwissenschaftliche) Postkolonialismusdebatte als SoziologIn zur Kenntnis zu nehmen? Welche postkolonialen Konzepte lassen sich etwa für eine Sozialtheorie und ihre Leitbegriffe ›Gesellschaft‹, ›Subjekt‹, ›Handlung‹ oder Theorien sozialen Wandels (Modernisierungs-, Globalisierungstheorie) nutzbar machen? Wo gibt es (alte) Parallelen, wo (neue) Anschlüsse an kanonisierte soziologische Analysen und Begriffe? Wie kann man die theorielastige Postkolonialismusdiskussion empirisch fundieren? Was sind ergiebige Untersuchungsobjekte/Phänomene innerhalb spezieller Soziologien, wie etwa Migrations-, Entwicklungs-, Religions-, Geschlechtersoziologie usw., und wie verändert sich die Perspektive, wenn Forschung als interdisziplinäres und Theorie als politisches Projekt gefasst werden? Das heißt es geht uns explizit um den konkreten soziologischen Erkenntnisgewinn einer Rezeption postkolonialer Theorie(n), weniger um ein Portrait einzelner AutorInnen oder die Rekonstruktion einzelner Begriffe. Neben der Soziologisierung des Postkolonialismus können (und sollen) auch programmatische ›re-framings‹ der – vor allem deutschsprachigen – Soziologie Ergebnis dieses Zugangs sein. Die von den postkolonialen Studien aufgeworfenen Probleme müssen nicht notwendigerweise die Soziologie als Disziplin destabilisieren. Im Gegenteil: Wir gehen davon aus, dass diese das Fach bereichern beziehungsweise emanzipieren können. Die Chance liegt ja gerade in der politischen Dimension postkolonialer Debatten, die uns (WissenschaftlerInnen) mit der Idee konfrontieren, dass man heute das Programm sozialer Kritik nicht verwerfen, auch nicht neu (er-)finden, sondern differenzieren und entlang der sozialen Wirklichkeit plausibilisieren sollte. Spivak warnt uns regelrecht davor, umfassende Ansprüche zu erheben – eine verantwortungsbewusste akademische Kritik sollte

40 | Julia Reuter & Paula-Irene Villa ihrer Ansicht nach immer wachsam sein und eine Distanz bewahren, die ein totales Engagement vermeidet (vgl. Spivak in diesem Band). Das Projekt einer ›provinzialisierten Soziologie‹ muss also zwangsläufig ohne die eine große (allgemeine) Theorie sozialer Emanzipation auskommen. Dennoch können auch die vielen fragmentarischen Emanzipations- und Kritikprojekte, welche sich im Rahmen laufender ›contrahegemonialer‹ Positionen verdichten, dazu beitragen, Konturen einer postkolonialen Soziologie zu entwickeln, ohne in den kosmopolitisch-universalistischen Duktus einer »one-world-sociology« abzurutschen (vgl. hierzu auch Randeria 2004). So versteht sich unser Band nicht (nur) als Sammelband zum Status quo einer soziologischen Rezeption Postkolonialer Theorie, sondern vor allem auch als programmatischer Aufruf zur postkolonialen Soziologie.

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Kultur 1 Gayatri Chakravorty Spivak Die Epoche des kapitalistisch-territorialen Kolonialismus und Imperialismus, die Ende des 18. Jahrhunderts begonnen hatte, wurde ungefähr Mitte der 1940er Jahre durch die Phase des Neokolonialismus abgelöst. In dieser früheren Epoche war eine Klasse der einheimischen Funktionärs-Intelligenzija entstanden, die nicht ganz nichtweiß war (not-quite-not-white) und als Puffer zwischen den ausländischen Herrschern und den einheimischen Beherrschten fungierte. So lautet die geläufigste und abstrakteste Zusammenfassung jener Entwicklung, die das sogenannte koloniale Subjekt hervorbrachte.2 Es handelt sich um eine Nebenerzählung zur Haupterzählung vom herrschenden europäischen Subjekt. Wenn das Postkoloniale in so groben Zügen skizziert wird, ist in der Tat zu fragen: Was geschah kulturell und politisch mit dieser indigenen Elite, als die großen territorialen Imperialismen zu Ende gingen und die Epoche der Entkolonialisierung begann? In den neuen Nationen hatten sie starken Einfluss auf die Schaff ung einer neuen kulturellen Identität. Allerdings herrschte nicht immer nahtlose Übereinstimmung mit der kulturell-politischen Situation in der Metropole (des ehemaligen Kolonialreiches). Denn die indigene Elite der Kolonien besaß in der Metropole keine etablierte neue Stellung als sach1 | Aus Gayatri C. Spivak (1999): A Critique of Postcolonial Reason: Toward a History of the Vanishing Present, Cambridge/London: Harvard University Press, S. 359-371, 379-383. 2 | Der englische Begriff subject bedeutet sowohl »Untertan« als auch »Subjekt« im philosophischen Sinne. Im vorliegenden Text sind immer beide Bedeutungen impliziert (A.d.Ü.).

48 | Gayatri Chakravorty Spivak kundige Sprecherin und Informantin.3 In der Anfangsphase der »nationalen« Cultural-Studies-Bewegung im Großbritannien der 1960er Jahre bekam die indigene Kolonialelite keinen Fuß in die Tür, weil die Cultural Studies dort ihre Basis fast von Beginn an in der Arbeiterklasse hatten und sich an der migrantischen Kultur orientierten. Die interdisziplinären Regionalstudien, die in den Jahren des Kalten Krieges entstanden und der Selbstdarstellung Amerikas als Wächter über die Entkolonialisierung Unterstützung gaben, absorbierten auch einige Mitglieder dieser Klasse. Doch erst in den 1970er Jahren, als die Computerisierung der großen Börsen und die »Befreiung« des national gebundenen Kapitals einsetzten, begann ein wohlwollender, an der Dritten Welt orientierter Denkanstoß, die Cultural Studies an den US-Universitäten zu beeinflussen (vgl. Pletsch 1981). Dieser Impuls mit seinem immensen Krisenbewältigungspotential mittels Wissensproduktion verortete koloniale Subjekte als postkoloniale InformantInnen. Jedoch ist diese Position aufgrund der grundsätzlichen Feindseligkeit traditionell-humanistischer Autoritäten gegen jede Störung des europäisch-amerikanischen Kanons generell so umstritten, dass ihre eigene kulturell-politische Herkunft kaum je ohne ein ungutes Gefühl gespaltener Loyalitäten diskutiert werden kann. Echten Missverständnissen ist hier so sehr Tür und Tor geöffnet, dass ich umgehend hinzufügen muss, dass es mir an dieser Stelle nicht um den langsamen Wandel vom Kolonialen zum Postkolonialen in der »neuen« Nation geht. 4 Ich versuche lediglich, Gründe dafür zu finden, warum der/die postkoloniale InformantIn auf der Bühne der US-Anglistik so plötzlich in den Vordergrund trat. Über die unterdrückten Minderheiten in der entkolonisierten Nation als solche hat der/die postkoloniale InformantIn kaum etwas zu sagen. Er/sie kann höchstens als besonders gut gerüstete/r ForscherIn auftreten. Doch die Aura der Identifizierung mit jenen entfernten Objekten der Unterdrückung haftet diesen InformantInnen gleichwohl an, wenn sie sich – wiederum bestenfalls – mit den anderen rassischen und ethnischen Minderheiten im Raum der Metropole identifizieren.5 3 | Aufgrund des fehlenden grammatikalischen Genus im englischen Original haben wir – trotz der damit nicht unbedingt besseren Lesbarkeit, aber bestimmt im Sinne Spivaks – die explizite Differenzierung zwischen weiblicher und männlicher Schreibweise für die Übersetzung eingefügt (A.d.H.). 4 | Kapur (1993) stellt diesen Wandel im Kontext der Periodisierung der indischen Kunst tabellarisch dar. 5 | Das englische Adjektiv racial kann, wenn es in Verbindung mit

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Schlimmstenfalls nutzen sie diese Aura zu ihrem Vorteil aus und spielen den/die eingeborene/n (native) InformantIn, der/die mit einer etwaigen Verwicklung in die Maschinerie der Wissensproduktion überhaupt nichts zu tun hat. Auf diese Weise unterminiert die letztgenannte Gruppe entweder den Kampf, indem sie eine Wirkung der neuen Dritten Welt nur simuliert und sich große legitimierende Erzählungen von kultureller und ethnischer Spezifität und Kontinuität sowie von nationaler Identität zusammenbastelt – ein Verfahren, das man als »retrospektive Halluzination« bezeichnen könnte (vgl. Baudrillard 1983: 22). Oder die Leitfiguren unter den postkolonialen InformantInnen nennen das Streben nach Aufstieg über Klassengrenzen hinweg einfach Widerstand – wobei die Destabilisierung der Metropole allein auf Veränderungen in der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung beschränkt wird. Das immer gleiche, leicht variierte Ergebnis dieser Dissimulation fi rmiert dann als »andere« beziehungsweise »Basis-Aktivität« (ground level activity) oder als »sich herausbildende Diskurse« der Postmoderne und als eine Art eingebautes kritisches Moment. Die rassische Unterschicht und der subalterne Süden treten dabei in den Halbschatten zurück. Diese Aktivität führt zu einer gewissen Formelhaftigkeit nach folgendem Muster: Der Kolonialismus war die Moderne oder die Modernisierung; Postkolonialismus ist Widerstand gegen die Postmoderne oder gar selbst die »wahre« Postmoderne; dann ist nur noch der postmoderne Postkolonialist der triumphierende selbst ernannte Hybride. Die realen postkolonialen Gebiete indes besitzen nur einen klassenspezifischen, international kontrollierten begrenzten Zugang zu einer auf Telekommunikation und Informatik basierenden (»telematischen«) Informationsgesellschaft, die oft zugleich indigener Anknüpfungspunkt oder Diskursquelle für kulturelle Spezifität und Differenz ist. Meine These lautet nun, dass akademische Behauptungen dieser Differenz oft, indem sie die simulierte Spezifität einer radikalen Position unterstützen, die implizite Kollaboration des Postkolonialen im Dienste des Neokolonialismus aus dem Blick geraten lassen. (Heutzutage ist jenes postnationale Gerede über Hybridität in den Vordergrund getreten, bei dem die Globalisierung als Amerikanisierung gefeiert wird.) Dieser Wechselschritt von Simulation und Dissimulation kann

ethnic auftritt, im Deutschen nur mit »rassisch« wiedergegeben werden, auch wenn dieses Wort durch die Nationalsozialisten mit einer Bedeutung im Sinne von »rassisch minderwertig« befrachtet wurde, die hier keinesfalls mitschwingen sollte. (A.d.Ü.).

50 | Gayatri Chakravorty Spivak sich überdies noch mit dem Feminismus-Diskurs verbinden. Kalpana Bardhan (1986: 3, 5) stellt fest, dass in der Postkolonialität »[…] Frauen kaum je eine Kollektivgemeinschaft mit gemeinsamen Interessen und Bedürfnissen bilden. Sie sind genau wie die Männer in Schichten aufgeteilt. […] In einem solchen Kontext kann Geschlechterpolitik kaum als Surrogat für Klassenpolitik dienen. […] Wenn die Lohn- und Zugangsgefälle entlang den traditionellen Privilegiengrenzen verlaufen, dann wird die Aufmerksamkeit bequemerweise von der geschickten Anpassungsfähigkeit des kapitalistischen Ausbeutungsprozesses auf die Hartnäckigkeit feudaler Werte [nationale, kulturelle und ethnische Spezifität?] abgelenkt, während es sich in Wahrheit um ein symbiotisches Verhältnis zwischen beiden handelt.«

(Heutzutage simuliert ein im Stil der UNO universalistischer Feminismus – hoffentlich unabsichtlich – eine Kollektivität der Frauen, um die Bedürfnisse der Ärmsten sozusagen im Dienste der Gierigen zu instrumentalisieren. Dabei spielt das geschlechtsspezifisch definierte »Postkoloniale« eine ziemlich wichtige Rolle.) Ich möchte diese Beziehung lieber komplizenhaft als symbiotisch bezeichnen, denn im ersten Fall handelt es sich um eine Verwicklung, im zweiten um eine Lebensgemeinschaft, in der der eine wechselseitig vom anderen lebt und profitiert. In einer Verwicklung lebt man von dem, was auf der anderen Seite liegt – in den mikroskopischen Details des biologischen Lebens wie in den breitesten Strukturen der Politik. Mein eigener Text hätte ohne diese Verwicklungen weder geschrieben noch gelesen werden können. Es ist eine absurde Verdrängung der Geschichte, einfach zu fordern, dass solche Verwicklungen zu verbieten seien. Alles, was eine verantwortungsbewusste akademische Kritik überhaupt leisten kann, sind Vorsicht, Wachsamkeit, ständige Wahrung einer Distanz, die ein totales Engagement stets vermeidet. Wer im akademischen Bereich umfassendere Ansprüche erhebt, spielt mit gezinkten Karten.6 6 | Sowohl postkolonialistische akademische KritikerInnen aus der Metropole als auch akademische KritikerInnen aus dem Süden haben Einspruch gegen diesen meinen Aufruf zur Wachsamkeit [vgl. Outside the Teaching Machine] erhoben (vgl. Young 1996; Trivedi 1996). Ich zitiere Farhad Mazhar, der sich sowohl in der Textualität der Literatur als auch in der Textualität des »Aktivismus« gut auskennt, im Allgemeinen anders. Er schreibt ironisch über jene Art von »Literatur aus der Dritten Welt«, die international mit Preisen belohnt wird. Und er ist über die Komplizenschaft zwischen Kapitalismus und Religion erbost:

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Der Ausbruch des Hindu-Nationalismus in Indien im Dezember 1992, der zur Zerstörung der Moschee von Ayodhya führte, verdeutlichte das Scheitern der Entkolonialisierung in Indien und wurde zur entfernten Triebkraft für den Exodus all jener, die wie ich zu postkolonialen Globetrottern wurden – bereit, sich in neue globale Komplizenschaften verwickeln zu lassen. »Okay, Notebook, wirst du diesmal den Philipps Prize bekommen? Versuch’s, versuch’s, Allah ist deine Hoff nung. Achtung. Vorsicht. Sei wachsam. Pass auf. Ich schreibe, wie das Gras dahinkriecht. Ich notiere die Pfote des Jaguars. Ich rutsche aus. Mein Fuß verliert den Halt. Ich notiere mit meiner Ferse die Probleme meiner Standfestigkeit. Pass auf. Pass auf. Achtung. Früher musstest du auf der anderen Seite des Stacheldrahts kämp-

fen«. Dies ist, meine ich, ein Hinweis auf den nationalen Befreiungskampf, auf Grenzen und Gefängnisse. Doch im Zeitalter des Postkolonialismus, angesichts des Scheiterns der Entkolonisierung – »Jetzt auf beiden Seiten: rechts und links, oben und unten, im Wasser und auf trockenem Land. Geh zum Krokodil und lass dir deine Zähne richten. Von der Schlange, einem Gummirückgrat, Geh zur Fledermaus und säug dich selbst, Mein Kumpel, mein unzeitgemäßes Notebook, dies sind wirklich schlechte Zeiten. Pass auf in alle Richtungen, mein Freund«, und dann folgen die letzten Worte, auf Englisch, aber in bengalischer Schrift: »nimm dich in Acht!!« (»Ashomoyer Noteboi«. In: Ashomoyer Noteboi [Dhaka: Protipokkho, 1994], S. 42; nach der englischen Übersetzung der Verfasserin aus dem Bengalischen). Natürlich darf man ein Gedicht nicht wie ein Manifest lesen. Doch das Gedicht ruft zur Wachsamkeit auf, weil man im Zeitalter des Postkolonialismus seine Freunde nicht mehr erkennen kann. (Und es ist natürlich »wahr«, dass es nervenaufreibend ist, seine Freunde als irgendein Kollektiv zu sehen. »Wie viele sind wir?«, fragt Derrida, an Montaigne anknüpfend, der seinerseits Aristoteles wiederholt: »O meine Freunde, es gibt keinen Freund.« (Vgl. Derrida 1997) Und doch muss man sich an den Freund wenden, und selbst das scheint heute gefährlich zu sein, wenn wir den Schutzraum von Nichtregierungsorganisationen oder Klassenzimmern verlassen. Dieses Gedicht wurde nach Wahlen geschrieben, nach

52 | Gayatri Chakravorty Spivak Denn es waren in der Nation nicht nur die politisch Mächtigen auf der Rechten, die die Kräfte des Fundamentalismus im Namen der historisch gebotenen nationalen Identität mobilisierten. Auch unter den Ideologen der linken Parteien gibt es einen isolationistischen Gegennationalismus. Einige bekennende AntinationalistInnen aus der Diaspora-Linken bezogen leidenschaftlich Position gegen den religiösen Nationalismus in ihrem Herkunftsland, aber sie verrieten die Macht des rückwirkenden Nationalismus heimatlos gewordener ExilantInnen. Wie die Kultur ist auch der Nationalismus eine schwankende Grundlage – mit Foucault gesprochen, ein »socle mouvant«. Er beruht auf Differenzen, so gefährlich wie mächtig, durch Definitionen, pro und kontra, stets vorausliegend oder verschoben. Dagegen ist Globalität – oder das postnationalistische Gerede – eine Repräsentation – das heißt, eine »Darstellung« im Sinne von Theater wie auch eine »Vertretung« im Sinne von Delegation – eine Repräsentation der Globalisierung im Sinne einer immer stärkeren Finanzbestimmtheit der Welt (Finanzialisierung). Was ich oben als die List der in der Metropole nach Klassenaufstieg Strebenden bezeichnet habe, Mimikry einfach als Widerstand auszugeben, kommt in dieser Konstellation voll zur Geltung (vgl. Appadurai 1993). Der fundamentalistische Nationalismus erhebt sich immer dann, wenn die Verbindung zwischen Nation und Staat gelockert wird, wobei Letzterer durch die globalen Finanzkräfte mit immer größeren Hypotheken belastet wird, auch wenn niemals richtig klar wird, wer oder was hier wen bestimmt. Die ersten Bestandteile der folgenden Begriffspaare sind stets unscharf, die zweidiversen Gipfeltreffen und verschiedenen UN-Konferenzen. Der Autor leitet ein großes ökologisches Agrarkollektiv und führt deshalb unabhängige praktische Forschungen zur Ausbeutung der Artenvielfalt durch. Die Frage der Globalisierung, der sich kulturelle AutorInnen vorrangig unter der Fragestellung grundlegender inländischer Gerechtigkeit für die eurozentrische Unterschichtmigration widmen – wobei sie oft nicht einmal zum Narzissmus der wohlsituierten sogenannten postkolonialen Intellektuellen vordringen, die sich dann mit ebenjener Unterschicht identifizieren und meinen, sie wären genauestens mit ihr verbunden –, vernachlässigt die Tatsache, dass der lokale Bewohner des Südens sich direkt an der globalen Gier beteiligt. Auch hier eröff net sich ein Einblick in die Quellen meines Gefühls, wachsam sein zu müssen. Die unpopuläre Position, die ich vertrete, ist also nicht einfach die Position einer Einzelnen, die gegen den Konsens auf begehrt, sondern sie reflektiert, was die Autorin bei ihren Kontakten mit jenen gelernt hat, die im Widerstand gegen die Globalisierung arbeiten.

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ten abstrakt: Nation und Staat, Subjekt und Handlungsfähigkeit (bei institutionell bestätigten Handlungen), Identität und Staatsbürgerschaft. Zugunsten der jeweils zweiten Glieder ist ein weites Spektrum von Manipulationen, Manövern und Mobilisierungen im Namen der unscharfen ersten Begriffe möglich.7 Die in der Zwischenzeit gewonnenen Erfahrungen verweisen auf eine andere Art, mit dem Nationalismus herumzuzaubern – nicht im Namen der Welt, sondern einer globalen Angelegenheit. Die Globalität wird vor allem im Interesse der Finanzialisierung des Globus beschworen. Global zu denken heißt, die Politik des globalen Denkens zu denken. Und wie werden die unscharfen Umrisse populärer Politik verankert (inscribed)? Obwohl Marshall McLuhan nicht gerade der Paradefall eines »Wasserscheiden-Intellektuellen« (watershed intellectual) ist, bietet sein Buch The Global Village (1989) so etwas wie einen fundierten Hintergrund für die Geschichte unserer Gegenwart, für die Gegenreaktion des Unterschicht-Multikulturalismus. Ich verbinde McLuhans Buch mit Jean-François Lyotards The Postmodern Condition (1984; dt. Das postmoderne Wissen), einem Buch, das Fredric Jamesons Thema der Postmoderne neue, wenngleich verwandte Seiten abgewinnt und das gerade in der akademischen »Theorie«-Szene so etwas wie den Effekt einer Wasserscheide hatte. Obgleich McLuhan in die 1960er Jahre und damit in die Zeit der »verrückten« Wissenschaftler gehört, Lyotard dagegen sich auf die Kritik an den Paradigmen der modernen Wissenschaft stützt, wie sie Wissenschaftsphilosophen und -historiker wie Thomas Kuhn (1970), Paul Feyerabend (1978), Roy Bhaskar (1978), Nancy Cartwright (1983) und andere vorgetragen haben, so teilen beide eine gemeinsame und ausdrücklich formulierte Grundannahme: dass die Fortschritte der elektronischen Technologie es dem »Westen« (McLuhan) beziehungsweise der »telematischen Ge7 | Informationen über die fortschreitende Inanspruchnahme und Verschuldung des Südens durch die weltweite Vorherrschaft der Finanzwirtschaft strömen von allen Seiten unablässig auf uns ein. Eine knappe Einführung in die Grundlagen dieser Vorgänge findet sich bei Payer (1991). Eine interessante Entwicklung beschreibt Altman (1998); der Autor ist, wie das New York Times Sunday Magazine schreibt, »ein Investmentbanker, der unter den Präsidenten Carter und Clinton im US-Finanzministerium tätig war«. Und was die Handlungsmacht (agency) betriff t, wenn die Armen völlig entrechtet sind, so setzen uralte »Institutionen« wie die Religion oder Geschlechtsrollenzuweisungen, die sich scheinbar auf formelhafte Abstraktionen reduzieren lassen, ihre Bestätigungsmechanismen in Gang.

54 | Gayatri Chakravorty Spivak sellschaft« (Lyotard) ermöglicht haben, auf die potentiellen spirituellen Reichtümer der vorkapitalistischen Zeit zurückzugreifen, ohne die früher dazugehörigen Unbequemlichkeiten auf sich nehmen zu müssen. Es wird sich allerdings zeigen, dass dies eine Legitimierung der einzigen anscheinend dezentralisierten Form des postfordischen, postmodernen Kapitalismus und der globalen Telekommunikation ist. McLuhan argumentiert auf der Grundlage der – rationalen und visuellen – Aktivitäten der linken Hirnhälfte, auf die sich der Westen bislang vor allem gestützt habe, zugunsten der Aktivitäten der rechten Hirnhälfte (ganzheitlich und akustisch), auf die sich der Westen dank der elektronischen Technologie zubewege. Um dies zu beweisen, schlägt McLuhan vor, die Geschichte der wissenschaftlichen Entdeckungen mithilfe des rationalistischen Modells der Tetrade8 neu zu schreiben, das er jedoch nur als Metapher betrachtet.9 Laut McLuhan wendet sich die Dritte Welt, die bislang eher mittels der ganzheitlichen rechten Hirnhälfte operierte, nunmehr immer stärker den Aktivitäten der linken Hirnhälfte zu. Wie es McLuhan schaff t, aus den hegemonialen maurischen, arabischen, persischen, indischen, koreanischen, chinesischen und japanischen Traditionen diese absurde Schlussfolgerung zu ziehen, lässt sich leider nur allzu leicht erklären. Aber dazu wäre eine analytische Polemik nötig, die hier keinen Platz hat. Das Ganze läuft laut McLuhan (1989: 110, 93) darauf hinaus, dass

8 | Es handelt sich um einen Komplex von vier miteinander vernetzten Fragen: 1) Was wird potenziert, verstärkt, vermehrt und ausgedehnt?; 2) Was ist veraltet, wird überwunden, abgelegt, überholt?; 3) Was wird aktualisiert, zu neuem Leben erweckt?; Was aus der Vergangenheit wird wieder aktuell?; 4) In welche neue Entwicklung schlägt die vorherige Entwicklung auf ihrem Höhepunkt um? (A.d.Ü.). 9 | Hier werden wir unweigerlich in die interessengeleitete Unterscheidung zwischen Begriff und Metapher hineingezogen, für die an dieser Stelle jedoch keine Zeit ist. Ich verweise auf Derridas Aufsätze »Die weiße Mythologie« (Derrida 1982) – hier bezieht sich »weiß« auch auf die Weißen, die »weiße Mythologie« ist die Ratio – und »Der Entzug der Metapher« (Derrida 1978). McLuhans Initiative ist auch eine profunde Misstrauenserklärung gegen die Sprache, die (falls das Modell der beiden Hirnhälften zutreffend ist, was durchaus auch auf kritischen Widerspruch stößt) auf verschiedenartige Weise hilft, die Trennung zwischen beiden Hirnhälften zu überbrücken – Aktivitäten, die man ohne weiteres als »kulturell« bezeichnen könnte.

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»die Dritte Welt um die Wende zum [21.] Jahrhundert aus verschiedenen Gründen mit großer Wahrscheinlichkeit implodieren wird: zu viele Menschen und zu wenig Nahrung. […] Die Tetrade der Krebszelle enthüllt im Kleinen die unmittelbare Zukunft der ganzen Welt: Krebs verstärkt die Zellproduktion, greift zurück auf die primitive Zellevolution und schaltet um auf Selbstverzehr. […] Der Mensch der neuen Technologie […] muss sich selbst zum Trotz zum Wächter seines Bruders werden. […] Die Ökologie verlagert die ›Bürde des weißen Mannes‹ auf die Schultern des ›Mannes auf der Straße‹.« 10

Soweit zu Tradition und Moderne, Auf klärung und Kommunitarismus. Wir haben es dabei mit einer allgemeinen Rechtfertigung der »Entwicklung« zu tun, der zivilisierenden (modernisierenden/demokratisierenden) Mission des neuen Imperialismus. Der »Westen« ist jetzt die Neue Welt und wir müssen die alte Neue Welt auf unseren Schultern tragen. Und was soll dabei als Vorbild dienen? »Das elektronische Überweisungssystem EFTS (Electronic Funds Transfer System) […] kann als funktionstüchtiger Prototyp aller […] planetarischen Datenbanken gelten. […] Wenn eine Organisation zur größten wirtschaftlichen Gruppierung in einer Nation wird, dann ist dies die Sozialstruktur.« (McLuhan 1989: 108, 124)

Im Übrigen ist, so könnte man hinzufügen, eine solche Finanzialisierung der Wirtschaft und des gesamten Lebens das Geheimnis der in der nachsowjetischen Ära ungehindert voranschreitenden Globalisierung. Der Rest von McLuhans Buch beschränkt sich auf einen leiden-

10 | Diese Art von westlichem kulturellen Überlegenheitsgefühl

bringt zur Unterstützung der Globalisierung heutzutage auch das genau entgegengesetzte Argument hervor: »Dank der vernetzten Welt, die der Westen geschaffen hat, wird […] das Verzögern der Verbreitung von Technologie an andere Kulturen zunehmend schwieriger werden. […] Die Verbreitung von Technologie und die wirtschaftliche Entwicklung von nichtwestlichen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewirken heute eine Rückkehr zu diesem historischen Muster [China als größte Volkswirtschaft der Welt]. […] Spätestens Mitte des 21. Jahrhunderts werden die Verteilung des Sozialprodukts und der Industrieerzeugung unter den führenden Kulturen wahrscheinlich wieder dem Stand von 1800 ähneln. Das Jahrhundert westlichen Überstrahlens in der Weltwirtschaft wird vorbei sein.« (Huntington 1996: 87f., dt. 1998: 128-130)

56 | Gayatri Chakravorty Spivak schaftlichen Lobgesang auf das Bell Telephone System und AT&T.11 Da überrascht es dann auch nicht mehr, dass The Gobal Village mit speziellen nationalistisch-imperialistischen Obertönen endet: »Kanadier und Amerikaner haben etwas sehr Kostbares gemein: ein Gespür für die letzte Grenze. Der kanadische Norden ist an die Stelle des amerikanischen Westens getreten.« (McLuhan 1989: 147) Lyotard gibt sich natürlich nicht mit fragwürdigen Theorien zum Gebrauch der rechten Hirnhälfte ab. Dieses ganze Argument wird in 11 | Wie schon in der letzten Anmerkung festgestellt, haben die Propheten der westlichen technologischen Überlegenheit innerhalb von dreißig Jahren genau entgegengesetzte Vorhersagen geliefert, implizit zugunsten einer nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch politischen (»kulturellen«) Globalisierung: »Diese [nichtwestlichen] Gesellschaften sollten neuzeitliche westliche Lebensweisen übernehmen, indem sie zum Beispiel die Sklaverei abschaffen, religiöse Toleranz praktizieren, Frauen eine Schulbildung ermöglichen, Mischehen gestatten, Homosexualität und die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen tolerieren usw. Als loyaler Bürger des Westens meine ich, sie sollten wirklich all diese Dinge tun. Auch stimme ich mit Rawls in der Vorstellung überein, was einen vernünftigen Menschen ausmacht, und welche Art von Gesellschaften wir Bürger des Westens als Mitglieder einer globalen moralischen Gemeinschaft akzeptieren sollten. Aber ich meine, dass die Rhetorik, die wir im Westen bei dem Versuch verwenden, alle Menschen dazu zu bringen, so zu werden wie wir, noch gewinnen würde, wenn wir ausdrücklicher ethnozentrisch wären.« (Rorty 1998: 56, Herv. des Autors) Da ist man ja geradezu verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass diese Passage zweifellos eine noch bequemere Entschuldigung für Militäreinsätze und Ausbeutung bietet als die aus einer universalistischen Rationalität abgeleiteten Argumente. Wir sollten auch McLuhan mildernde Umstände gewähren, aber nicht auf den Hinweis verzichten, dass seine Prophezeiungen zur globalen Benevolenz von AT&T sich als Schuss in den Ofen erwiesen haben. Zum uralten Dualismus, dass die Wahrheit seltsamere Blüten treiben kann als die Fiktion, möchte ich hier ein Ereignis in Gedächtnis rufen, das sonst in den Annalen des Zufalls verloren ginge. Bei den Olympischen Sommerspielen in Atlanta 1996, die im Fernsehen mit einem nationalistischen Triumphalismus gefeiert wurden, der in Bildern und Rhetorik stark an den monumentalen Triumphalismus der Nationalsozialisten erinnerte, wurde unmittelbar nach den rabiaten Massenentlassungen bei AT&T ausgerechnet das AT&T-Fabrikgelände für Hightech-Kommunikation, natürlich »The Global Village« genannt, Ziel eines Bombenanschlags.

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seinem Buch stillschweigend übergangen. Er trägt vielmehr den Gedanken vor, dass jeder »Zustand« (meint er einen gesellschaftlichen, historischen oder libidinösen Zustand, vielleicht sogar alle drei Aspekte auf einmal?) zur Legitimation benutzte Sprachspiele mit sich bringe oder gar von diesen Sprachspielen erst hervorgebracht werde (man kann da nicht so sicher sein). Seine These lautet, dass in der »telematischen« oder elektronischen Welt weder die Erzählung von sozialer Gerechtigkeit (Marx) noch die Erzählung von der Entwicklung der Welt (Kapital) eine Legitimation biete.12 Heutzutage werde Legitimität nach einem Modell geschaffen, das Formen ohne Ziel und Zweck generiere, die an anderer Stelle als kurze Erzählungen identifiziert werden: morphogenetisch, innovativ, aber nichtteleologisch. Obwohl hier kein naiver Glaube an eine Bewusstseinsbildung erkennbar ist, verrät der Erwerb eines neuen Sprachspiels, welches dem telematischen oder elektronischen Zustand entspricht, einen (von vielen geteilten) naiven Glauben, demzufolge sich das Bewusstsein als Struktur der Welt kollektiv im gleichen Tempo verändert. Sein Vorbild für die Legitimation durch kurze Erzählungen bezieht Lyotard aus der mündlichen Tradition formelhaften epischen Erzählens. Dabei ist das Argument selbst eine verborgene große Erzählung, die ungefähr so umrissen werden kann: Erst unter dem Druck der langsamen historischen Bewegung, die letztlich zur Moderne führte, erhielten die großen mündlichen Epen wie Ilias und Odyssee, Mahābhārata, Rāmāyana und natürlich die Epen der nordischen Tradition einen erzählerischen Abschluss, wurden sie zu langen Geschichten mit Anfang, Mitte und Ende. Wenn dagegen der vormoderne epiDemgegenüber würde der neue Schachzug von Rorty und Huntington im »heißen Frieden« (Gegensatz: Kalten Krieg) das alte Alibi von der Zivilisierungsmission des Westens und der Gründung eines »Weltdorfes« total verwerfen und die globale Sezessionsgemeinschaft der Hightech-Manager kurzschließen, womit sich der Kreis zu Macaulays kolonialen Subjekten geschlossen hätte. Wenn ich an dieser Stelle auf solche Zusammenhänge hinweise, wird damit die Quintessenz dieses Buchkapitels nicht mehr vorweggenommen. Auf diese Weise werden Bücher wie das vorliegende mit all ihren erzählenden Fußnoten zu Memorabilien einer vergangenen Konstellation – zum Versuch, die flüchtige Gegenwart zu fi xieren. 12 | Die Erzählung von Lyotards eigener schmerzhafter, aber typisch westeuropäischer Desillusionierung vom Marxismus steht in Peregrinations (1988). Übrigens findet sich in diesem Buch auf S. 27 auch eine ziemlich scharfsichtige Bemerkung über bürgerliche nationale Befreiungsbewegungen und das damit verbundene Scheitern der Entkolonialisierung.

58 | Gayatri Chakravorty Spivak sche Sänger diese Epen auff ührte, beruhte seine Legitimation darauf, wie viele neue Episoden oder Geschichten er mithilfe der von ihm memorierten mündlichen Erzählformeln zustande bringen konnte. Wir, die wir in vollständig telematisierten Gesellschaften leben und über riesige unpersönliche »virtuelle« Gedächtnisse verfügen, sollen nun auf den vormodernen, vorkapitalistischen Zustand ohne all seine Probleme Zugriff haben und darum auch wie die alten epischen Sänger vorgehen können. Lyotards Vorbild ist der epische Sänger aus der ethnischen Gruppe der Kashinahua-Indianer im Amazonasgebiet. Die alte episodische epische Tradition ist übrigens durch einen langen historischen Umwandlungsprozess weiterhin lebendig, nicht nur unter den eingeborenen Subalternen, sondern – angeeignet und neu ausgerichtet – auch im gegen die Globalisierung kämpfenden revolutionären Theater (es ist in der Tat das am stärksten stilisierte Ziel der gesamten Politik des Gegendiskurses: Theater zum Zwecke der politischen Mobilisierung) und nicht unbedingt in der Hegemonialsprache. Sie schuldet überdies der europäischen Romantradition, über die sich Benedict Anderson und andere so endlos auslassen, so gut wie gar nichts.13 Dieses Phänomen fällt völlig aus dem Rahmen gut gemeinter 13 | Vgl. Anderson (1983: 28-40). Der konservative und liberale, literarische und politische Einfluss dieser allgemein akzeptierten Idee (von der zentralen Stellung des europäischen Romans seit dem 18. Jahrhundert) ist in Reichweite und Umfang immens und reicht überdies weit vor Anderson zurück. Margaret Doodys (vgl. 1996) gründlicher Versuch, mit diesem modernen Kirchturmdenken zu brechen, gibt mir indes die Hoffnung, dass auch für andere große antike Traditionen ähnliche Forschungen möglich sind. Im Wesentlichen sind historisch-disziplinäre oder gar historiographisch-disziplinäre Gründe dafür verantwortlich, dass solche Forschungen bisher unterblieben sind. Wenn Gegenbeispiele nicht hinreichend bedacht und einbezogen werden, ist eine gewisse Fragwürdigkeit nicht von der Hand zu weisen, wird hier doch, was sonst als Klischee zu bezeichnen wäre, zu wissenschaftlichen Erkenntnissen umstilisiert, oder? Es ist jedoch hinzuzufügen, dass derartig begrenzte gelehrte Untersuchungen vielleicht schon bald als »nationalistisch« oder »provinziell« gelten könnten. Was das Beispiel Indien betriff t, so hat eine Indien-Sondernummer des New Yorker (vom 23. und 30. Juni 1997) massiv bestätigt, was ich als »sanktionierte Ignoranz« bezeichnet habe, wurden doch sämtliche indische Regionalliteraturen, von denen einige über eine Jahrtausende alte Geschichte und aktive zeitgenössische Szenen verfügen, beiseite gewischt. Ein weiteres Beispiel gefällig? Jacques Derrida eröffnete 1997 die Buchmesse in Kalkutta, wo die meisten ausgestellten Bücher in Bengali

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Definitionen von Weltliteratur, wie sie im Norden hervorgebracht werden. Auch das ist Kulturpolitik. Es überrascht nicht, dass Lyotard und McLuhan mit dem frommen Wunsch schließen, dass »alles vorhandene Wissen allen verfügbar gemacht wird [McLuhan] oder werden soll [Lyotard]«. Gelobet seiest du, pax electronica! Auf dem Weg zur »Schaff ung gleicher Voraussetzungen« bei der Welthandelsorganisation WTO also die Verteilung »kostenloser und freier Telekommunikation« an alle. Das Logo der US-Entwicklungshilfebehörde USAID für die Konferenz zum Thema und anderen indischen Sprachen waren – als reine Kuriosität. Überdies beschränkt sich die Anthologie The Vintage Book of Indian Writing [1997 zum Anlass des 50. Jahrestages der indischen Unabhängigkeit erschienen, A.d.Ü.], herausgegeben von Salman Rushdie, vollständig auf die indische Literatur in englischer Sprache. Es ist leider nur allzu offensichtlich, dass im globalen Dorf auch sprachlich dasselbe System des Austauschs am Werk ist. Auf diese Weise muss das Werk des Imperialismus vollendet werden. Es schadet sicher nicht, wenn Thomas B. Macaulays bestens bekannte Worte aus dem Jahre 1835 an dieser Stelle noch einmal in Erinnerung gerufen werden: »Ich kenne weder Sanskrit noch Arabisch. […] Doch bin ich unter [den Orientalisten] noch keinem begegnet, der bestreiten konnte, dass ein einziges Bücherregal in einer guten europäischen Bibliothek mehr wert ist als die gesamte einheimische Literatur Indiens und Arabiens. […] In Indien ist Englisch die Sprache der herrschenden Klasse. Es wird auch von der Oberschicht der Einheimischen in den Regierungssitzen gesprochen. Wahrscheinlich wird es auch die Handelssprache im gesamten Bereich der Meere des Ostens werden. Es ist die Sprache von zwei großen europäischen Gemeinschaften, die im Aufstieg begriffen sind – die eine im Süden Afrikas, die andere in Australasien. […] Wir müssen gegenwärtig alles tun, um eine Klasse herauszubilden, die Dolmetscher zwischen uns und den Millionen sein können, die wir beherrschen; eine Klasse von Menschen, die nach Blut und Hautfarbe indisch, nach Geschmack, Ansichten, Moral und Intellekt jedoch englisch ist.« (Macaulay 1972 [1835]: 241, 242, 249) Zu dieser bedauerlichen Politik der Produktion von »Herrschaftsgeschichte« und »Herrschaftswissen« passt leider nur allzu gut jene Passage aus der von der UNO unterstützten Encyclopedia of Life Support Systems (1997), die ich im Vorwort meines Buches zitiert habe. Dort ist zu lesen, dass die Eingeborenen-Periode der menschlichen Geschichte die Zeit der »fernen Vergangenheit« umfasse, die mit »inaktiven« Lebensansätzen verbunden sei, »bei denen es keine Sorge um Umweltschäden und Nachhaltigkeit« gegeben habe (Encyclopedia 1997: 13). Ich halte es

60 | Gayatri Chakravorty Spivak »Global Knowledge« im Jahre 1997 war eine Afrikanerin, mit einem Tuch bekleidet und einem Mobiltelefon am Ohr.14 Ebenso wenig überraschend ist, dass es im »heißen« Frieden, der auf den Kalten Krieg folgte, ausgerechnet die großen UN-Konferenzen sind, die sich meistens im Namen der Frauen innovativ und morphogenetisch selbst legitimieren, dann aber nur bürokratische Formen verbreiten, die jenen Frauen, die wohl auf immer davor gefeit bleiben werden, als Subalterne auch Wissen und Macht (pouvoir/savoir) zu besitzen, nur als internationaler Aktivismus erscheinen können. Lyotard könnte allerdings mit seiner Einschätzung, dass sich der antike epische Sänger schon allein dadurch legitimiert habe, dass seinen Vorträgen erklärtermaßen die Zielgerichtetheit fehlte, ebenfalls falsch liegen. Denn dieses dualistische Denken mit dem Gegensatz zwischen linearer und vielschichtiger oder zyklischer Zeit ist auf spezifische Weise »modern«. Eine andere Spielart derselben unkritischen Prämisse lautet, das kollektive Subjekt sei isomorph mit den Sozialstrukturen, wie sie sich in kulturellen Erklärungsversuchen darstellen.15 Diese sich für sinnvoll, meine Argumentation aus der Einleitung an dieser Stelle zu wiederholen, weil der Text ihr Substanz verleiht: Für Eingeborene war es natürlich genauso unmöglich, über Nachhaltigkeit nachzudenken, wie es für Aristoteles wegen »der historischen Schranke der Gesellschaft, worin er lebte« unmöglich war, »das Geheimnis des Wertausdrucks« zu »entziffern« (Karl Marx [1968]: Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie, 1. Buch, 1. Abschnitt, 1. Kapitel, Punkt 3.3: »Die Äquivalentform«, MarxEngels-Werke, Band 23, Berlin/DDR: Dietz Verlag, S. 74). Doch darf die praktische Philosophie des Lebens im Rhythmus des Ökosystems keinesfalls als »sorglos« abgetan werden! Im Zeitalter der Informatik wird der eingeborene Informant, vom postkolonialen Subjekt im Stich gelassen, für die (epistemische) Ausbeutung noch einmal neu geschaffen. 14 | Eine fesselnde Darstellung der Funktionsweisen dieses Schwindels findet sich bei Sadeque (1996: 28-30). Mein einziger Einwand gegen dieses brillante Pamphlet lautet, dass es die Hervorbringung des kolonialen Subjekts im Imperialismus nicht ausreichend betont und darum auch unsere eigene Komplizenschaft nicht hervorheben kann. Genau diese aber müssen wir zunächst eingestehen, damit wir dann entsprechend handeln können. 15 | »Was wäre, wenn es keinen anderen Zeitbegriff gäbe als den, den Heidegger ›vulgär‹ nennt?«, fragt Derrida, dessen Schülerin ich war. Wie auch immer die Völker über die Zeit theoretisch nachgedacht haben, der Gedanke, diese Theorie könnte eine der Natur entsprechende Denkweise sein, ist wohl ein Fehler der Moderne. Wie bei uns könnte auch bei

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selbst legitimierenden modernen Modernisierungskonferenzen sind nichtteleologisch eigentlich nur im Sinne jenes Zieles, das sie so unablässig proklamieren: die Ziele der Frau zu den Zielen des Mannes zu machen. 16 […] Im gegenwärtigen Kontext, da die Welt im Großen und Ganzen einfach zwischen Nord und Süd geteilt ist, können die Weltbank und andere internationale Agenturen die Welt in Landkarten aufteilen, in denen die unausweichlich abstrakte Qualität der Erd-Beschreibung (Geo-Graphie) sichtbar wird. Eines der Leitprinzipien der Geographie, die »Nation« – unentwirrbar mit den geheimnisvollen Phänomenen der Sprache (Synthese mit dem absoluten Anderen) und der Geburt verschlungen (empfänglich für das Biologische der Spezies [Schwangerschaft] wie auch für das Sein der Spezies [Recht und Gesetz]) – lässt diesen abstrakten Charakter sichtbar werden, doch zugleich macht es ihn auch unkenntlich (vgl. Spivak 1993: 69). Die Grenzen, die mit ihren Schraff uren diese neuen Landkarten oder »Informationssysteme« durchziehen, sind fast niemals national oder gar »natürlich«. Es handelt sich vielmehr um Investitionsgrenzen, die sich ständig verändern, weil sich die Dynamik des internationalen Kapitalmarkts rasant fortentwickelt. Und bei der Erstellung dieser Landkarten besteht das durchaus nicht unwesentlichste Motiv in der Aneignung der Ökosysteme der Vierten Welt im Namen der Entwicklung. Man umkreist jetzt den »einheimischen Informanten« als solchen, der im Zuge der Globalisierung immer mehr vereinnahmt wird. Nach einem uneinheitlichen Zwischenstadium in der nationalen Erscheinungsform wird das Vornationale jetzt also globalisiert. Verwandte Ausbeutungsformen lassen und ließen sich mobiliihnen eine Theorie der Zeit der Ort eines Konfl iktes mit der »vulgären« Zeiterfahrung gewesen sein. »Was wäre, wenn die nach außen gewandte Aporie deshalb gewissermaßen unauflösbar bliebe, so dass einem nichts anderes übrig bliebe, als diesen Zustand auszuhalten, oder sollte man lieber sagen: zu erleben, wobei dieses Erlebnis etwas ganz Anderes wäre, als von beiden Seiten einer untrennbaren Linie aus zwei Konzepten einander gegenüberzustellen: ein nichtvulgäres und ein sogenanntes vulgäres Konzept?« (Derrida 1993: 14) 16 | Im Englischen heißt es »the End of Woman as the End of Man«; end hat dabei eine im Deutschen nicht mehr übliche Doppelbedeutung: »Endpunkt« und »Ziel« (A.d.Ü.).

62 | Gayatri Chakravorty Spivak sieren in der gegen die (indianischen) Ersten Nationen in Nord- und Südamerika gerichtete Landnahme und Wiederaufforstung; in der Zerstörung der Rentierwälder der Lappen in Skandinavien, Finnland und Russland; in der Urwaldrodung und Neupflanzung von Eukalyptuswäldern im großen Stil gegen die Interessen der ursprünglichen Nationen in Indien; sowie im sogenannten Flut-Aktionsplan gegen Fischer und landlose Bauern in Bangladesh (die in der Vierten Welt schon eine Art Ehrenmitgliedschaft besitzen). Eine solche Verwandtschaft besteht in der Tat potentiell zwischen allen frühen Zivilisationen, die beiseite und zurückgedrängt wurden, um Platz für traditionellere geographische Elemente der Landkarten wie auch der heutigen Welt zu schaffen. Auf dem Körper dieser Nord-Süd-Welt wird, um die phantastische Kartographie der Weltbank-Landkarten aufrechtzuerhalten, noch eine weitere Form der Vereinheitlichung praktiziert. […] Die Grenzen zwischen fragilen Nationalökonomien und dem internationalen Kapital werden beseitigt, und damit verschwinden die Chancen einer sozialen Umverteilung in den sogenannten Entwicklungsländern, die ohnehin bestenfalls ungewiss waren, in eine immer fernere Zukunft. Was wir hier zur Kenntnis nehmen müssen, ist die Tatsache, dass die sich entwickelnden Nationalstaaten nicht nur durch ein gemeinsames Band profunder ökologischer Verluste verbunden sind, also durch den Verlust von Wald und Fluss als Lebensgrundlage, sondern auch durch eine Komplizenschaft, so unscheinbar sie auch erscheinen mag, zwischen denen, die in der Entwicklungshilfe vor Ort das Sagen haben, und den Kräften des globalen Kapitals. Dass diese Komplizenschaft den aalglatten TheoretikerInnen der Globalisierung und jenen, die nicht aufhören, über den alten Imperialismus zu jammern, bestenfalls unbekannt ist, ist der Initiative für eine globale Bewegung zur Schaff ung einer nichteurozentrischen ökologischen Gerechtigkeit durchaus nicht verborgen geblieben. Warum nichteurozentrisch? Die TheoretikerInnen, die die Neuen Sozialen Bewegungen als antisystemisch definiert haben, sagen inzwischen, dass die Zukunft diesen Bewegungen gehöre.17 Doch sind 17 | Wenn man den früheren US-Außenminister Lawrence Eagleburger als repräsentatives Beispiel nehmen kann, dann ist denen, die die Richtlinien der US-Politik bestimmen, dieser Begriff nicht einmal bekannt. Am 21. März 1992 bezeichnete Eagleburger zutreffend Massenvernichtungswaffen, Umwelt und das globale Finanzwesen als die großen Politikfelder des 21. Jahrhunderts. Wenn die Vereinigten Staaten auf diesen Feldern keine tragfähige eigene Politik entwickelten, würden sie

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sie skeptisch, weil sie sehen, dass diese Bewegungen, anders als die EU, die sie sich zum Vorbild nehmen, keine staatliche Macht haben. Wendet man den Blick von der EU ab und lenkt ihn auf die Lage des Staates in den Entwicklungsländern, so zeigt sich, dass der Staat dort, auch wenn er mit dem Nationalismus paktiert und weiterhin der Ort von Recht und Gerechtigkeit ist, nicht länger der Hauptschauplatz für solche Bewegungen ist. Denn diese müssen auf eine globale Reichweite aus sein. Die weltumspannenden Bewegungen müssen hinter dem Staat stehen, der von innen her durch die Kräfte der inneren Kolonisierung und durch das lokale Bürgertum geplagt wird, von außen durch die zunehmend orthodoxen wirtschaftlichen Zwänge im Zeichen einer globalen ökonomischen Restrukturierung. Daher hat die nichteurozentrische globale Bewegung für ökologische Gerechtigkeit gar kein Interesse daran, in erster Linie staatliche Macht zu erobern. Die linken Parteien, die sich in den Staaten zur Wahl stellen, beklagen denn auch, dass diese Bewegungen zu unpolitisch seien. Jedenfalls kann man diese Instrumentalität des Nationalismus oder gar des nationalistischen Lokalismus im Inneren einer eher durch Strategien als durch Krisen vorangetriebenen Globalisierung zweifellos nicht mehr nur als ein im Norden betriebenes wohlwollendes Studium »anderer Kulturen« bezeichnen. Auf dieser Grundlage fällt es leicht, im Interesse der globalen Finanzialisierung mit Hilfe einer »internationalen Zivilgesellschaft« des Privatunternehmertums unter Umgehung der einzelnen Staaten einen »Postnationalismus« zu kultivieren, in dem mächtige Nichtregierungsorganisationen (NGOs) unter Vermittlung der neuen Vereinten Nationen mit den Organisationen von Bretton Woods zusammenarbeiten. In diesem Zusammenhang lässt sich eine starke Verbindung, wenn nicht gar Komplizenschaft zwischen der Bourgeoisie in der Dritten Welt und den Migranten in der Ersten Welt einfach nicht ignorieren. So wichtig es auch sein mag, den affektiven Teilraum anzuerkennen, in dem die Einwanderer, besonders die der Unterschicht, rassistische Angriffe ertragen müssen, so ist es doch, wenn wir schon über Globalität sprechen, einer der schmerzlichen Imperative des Unmöglichen in dieser ethischen Situation, zuzugeben, dass die Interessen der MigrantInnen, so schwach und entlegen sie auch sein mögen, auf Seiten des herrschenden globalen Kapitals liegen. MigrantInnen gehören in sich schon bald in der Rolle des zögernden, widerwilligen Weltpolizisten wiederfinden. Ist es nun ein ermutigendes Zeichen, dass Eagleburger vom detailorientierten hartnäckigen Widerstand der nichteurozentrischen Neuen Sozialen Bewegungen nichts wusste?

64 | Gayatri Chakravorty Spivak den Raum der Ersten Welt. Natürlich gilt meine volle Unterstützung dem Aktivismus in der Metropole gegen Rassen-, Geschlechter- und Klassenausbeutung der Einwandererunterschicht, aber darum geht es hier nicht. Unser Thema ist die Globalität. Und in dieser Hinsicht sind einige ernste Lektionen zu lernen, zumal wir diesen Punkt besonders im Auge behalten müssen, weil hier auch die Grenzlinie von Export und Import zwischen den religiösen Nationalparteien im Süden und den Cultural-Studies-Leuten im Norden liegt. (Verschärft wird diese Trennung noch, wenn die Gewerkschaftsbewegung im Norden gebeten wird, unter Berufung auf »Menschenrechtsverletzungen« sogar das GATT-Abkommen (General Agreement on Tariffs and Trade) zu umgehen, während gleichzeitig als Teil der ökonomischen Restrukturierung die Weltbank die Privatisierung der Wirtschaft und die Dezimierung der Gewerkschaften im Süden fordert – Gewerkschaften, die sich sonst für ein humaneres Arbeitsrecht einsetzen könnten.) Nachdem wir die mächtige, wenngleich riskante Rolle der christlichen Befreiungstheologie mitbekommen hatten, haben manche von uns wohl von animistischen Befreiungstheologien geträumt, die in der Lage sein könnten, die vielleicht unmögliche Vision einer ökologisch gerechten Welt zu umfassen.18 Doch schon der Name Theologie passt nicht zu diesem Denken. Und bei diesem Denken und Wissen ist auch »Natur« stets als Übernatur (super-nature) zu verstehen. (Nur zur Sicherheit sei angemerkt, dass ich hier nicht irgendein generalisiertes Stammesbewusstsein vertrete.) Selbst das »Über« im Übernatürlichen liegt hier fern. Denn die Natur, das geheiligte Andere der menschlichen Gemeinschaft, ist in diesem Denken auch in eine Struktur ethischer Verantwortung eingebunden. Und dahin kann uns keine Theologie individueller Transzendenz bringen, bei der man einfach in dieser Welt ist, aber die nächste im Blick hat, wie sehr die nächste Welt auch heruntergespielt sein mag. Ich bin in der Tat überzeugt, dass die Internationalität der ökologischen Gerechtigkeit sich in dieser unmöglichen, ungeteilten Welt, von der man träumen und angesichts deren Unmöglichkeit man obsessiv arbeiten muss, nicht dadurch erreichen lässt, dass man irgendeine der sogenannten großen Weltreligionen anruft, weil die Geschichte von deren Größe viel zu tief in die Erzählung von Ebbe und Flut der Macht verwickelt ist. Im Falle des hinduistischen Indiens – eine Phrase, die für uns genauso erschreckend klingt wie die vom »christlichen Europa« – kann keine noch so intensive Nacherfindung der Naturdichtung 18 | Eine Kritik der Risiken der lateinamerikanischen Befreiungstheologien findet sich bei Schutte (1993: 175-205).

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der Rigveda in dieser Hinsicht ausreichen, um diese Geschichte der Machtverwicklung ungeschehen zu machen. Ich habe keinen Zweifel, dass wir lernen müssen, von den ursprünglichen praktisch-ökologischen Philosophien der Welt zu lernen. Es sei nochmals gesagt: Ich romantisiere nicht, und auch die Befreiungstheologie romantisiert nicht jeden Christen. Wir sprechen darüber, wie man den am stärksten mobilisierenden Diskurs der Welt auf eine bestimmte Weise einsetzen kann – zum Wohle des ganzen Globus, nicht nur der Vierten Welt. Ich wiederhole mich in diesem Punkt, weil es so leicht ist, das Ganze als moralistischen Kampf gegen Windmühlen abzutun. Dieser Lernprozess kann nur versucht werden, wenn ergänzend zur kollektiven Bemühung Liebe hinzukommt. Und was den Namen Liebe wirklich verdient, ist eine Bemühung (über die man keine Kontrolle hat, zu der man sich aber auch nicht zwingen muss), die langsam und in beide Richtungen aufmerksam ist – wie gewinnt man die Aufmerksamkeit des Subalternen ohne Zwang oder Krise? – und die auf beiden Seiten bewusstseinsverändernd wirkt – auf die Möglichkeit einer unerreichbaren ethischen Singularität hin, die niemals auf Dauer aufrechtzuerhalten ist. Die notwendigen kollektiven Bemühungen bestehen darin, Gesetze, Produktionsverhältnisse, Bildungssysteme und das Gesundheitswesen zu ändern. Doch ohne jenen verantwortlichen Kontakt, den ich Liebe nenne, bei dem sich Einzelne gleichberechtigt gegenüberstehen und der das Bewusstsein wirklich verändert, wird nichts davon hängen bleiben. Aus dem Amerikanischen von Henning Thies

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Postkoloniale Soziologie: ein Programm Manuela Boatcă & Sérgio Costa 1. Twists & Turns – Von der Brauchbarkeit der Paradigmenwechsel In ihrem Selbstverständnis als akademisches Fach sowie in ihrer Abgrenzung gegenüber anderen Sozialwissenschaften ist die Soziologie untrennbar mit ihrem Untersuchungsgegenstand, der Moderne, verknüpft. Disziplinen, in denen die westliche Welt als Sprechsubjekt und Studienobjekt zugleich diente, waren ein Ergebnis der intellektuellen Arbeitsteilung, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Westeuropa herausbildete. Den vermeintlich autonomen Sphären menschlichen Handelns, – Markt, Staat und (Zivil-)Gesellschaft – die als charakteristisch für die moderne Welt galten, wurde mit Wirtschaftwissenschaft, Politikwissenschaft beziehungsweise Soziologie je ein Fach zugewiesen (vgl. Wallerstein 1999: 2). Demgegenüber standen die Ethnologie und die Orientalistik, deren Aufgabe es war, zu erklären, warum der Rest – im Grunde, die außereuropäische Peripherie – nicht modern war oder es nicht werden konnte.1 Dieser arbeitsteilige Konsens ist bis heute richtungweisend. Während die Ethnologie seit ihren Anfängen die außereuropäische Welt – als ›vormodern‹ – zum Thema hatte und deshalb vergleichsweise früh koloniale Beziehungen sowie postkoloniale Entwicklungen berücksichtigte, bleibt eine globale Soziologie, die über den Analyserahmen moderner Nationalgesellschaften westeuropäischer Prägung hinaus-

1 | Vgl. hierzu, insbesondere zum ›Orientalismus‹, den Beitrag von Rehbein in diesem Band (A.d.H.).

70 | Postkoloniale Soziologie: ein Programm geht, nach wie vor stark legitimierungsbedürftig.2 Weil kolonialisierte oder totalitäre Länder sich nicht auf dem Weg in ›die Moderne‹ befanden, galten sie lange Zeit nicht als Gegenstand der Soziologie; zwar durften sie nach der Erlangung der Unabhängigkeit zu Rezeptionsorten europäischer und nordamerikanischer Sozialtheorie werden, nicht aber zu deren Produktionsstätten. Die Globalisierung des Fachs wird daher häufig als erfolgreiche Durchsetzung des westlichen Modells in aufnahmebereiten Nationalkontexten gelesen beziehungsweise darauf reduziert: »Taking off from its principal strongholds in Germany, France, and the United States, classical sociology spread throughout the world, everywhere that the idea of society as the creation of a nation-state came to the fore. […] At the same time, because it is tied to the nation-state and to the existence of a civil society possessing autonomy within the framework of the nationstate, sociology remained absent from colonized countries as well as from those where traditional leaders continued to hold power.« (Touraine 2007: 185f.)

Trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen der jeweiligen nationalen Wissenschaftskulturen und sukzessiver epistemologischer und methodologischer Paradigmenwechsel, wie der cultural oder der spatial turn, hat sich an dieser – selbst auferlegten – analytischen Engführung des soziologischen Blickes wenig geändert. Die Rede von einer postkolonialen Soziologie scheint vor diesem Hintergrund also eher einen Widerspruch in sich zu bergen. Es wäre auch aus unserer Sicht verfehlt, einen ›postcolonial turn‹ 2 | Symptomatisch dafür ist eine kürzlich erschienene Ausgabe des European Journal of Social Theory (2007) zur »Identität und Bedingungen der Möglichkeit« der Soziologie im Zeitalter der Globalisierung. Die unter die Frage »is global sociology still sociology?« subsumierten Beiträge von (unter anderen) Alain Touraine, Laurent Thévenot, Stephen Kalberg, Alain Caillé und Raymond Boudon betrachten die Entwicklung hin zu einer Soziologie globaler Reichweite als ein neues Phänomen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts, für dessen Analyse das European Journal of Social Theory der »natürliche Ort« sei (Caillé 2007: 182). Demgegenüber stehen zwar verstärkt solche Beiträge, die einer (subalternen, peripheren) Soziologie »des Südens« eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung globaler Sozialtheorie einräumen (vgl. Connell 2007; Burawoy 2008) – diese bleiben jedoch innerhalb der Mainstream-Soziologie und in hegemonialen Wissenschaftssprachen die Ausnahme.

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als neue Trendwende vorzuschlagen. Mehr als um einen Paradigmenwechsel geht es uns darum, den colonial turn zurückzuverfolgen, der der Institutionalisierung der Soziologie vorausgegangen ist und eine globale Soziologie kolonialer, neokolonialer und postkolonialer Kontexte bisher verhindert hat. Anschließend gilt es, anhand von Beispielen aus jedem der drei Bereiche der Gesellschaftsanalyse – der makro-, meso- beziehungsweise mikrostrukturellen Ebene – aufzuzeigen, welche notwendigen Korrekturen eine postkolonial sensibilisierte Soziologie an den aktuellen sozialtheoretischen Diagnosen vornehmen kann. Damit ist bereits die These verbunden, dass postkoloniale Soziologie keinen in sich widersprüchlichen, sondern einen längst überfälligen Ansatz darstellt, der einer programmatischen Systematisierung bedarf. Dafür ist zunächst eine doppelte Begriffsbestimmung notwendig: Zum einen stellt sich die Frage, was gerade postkoloniale Theorien zum Erkenntnisgewinn der Soziologie beizutragen haben, zum anderen diejenige, weshalb der Postkolonialismus als explizit soziologische Perspektive sinnvoll ist.

1.1 Wozu postkoloniale Soziologie? Die poststrukturalistische und die postmodernistische Wende haben bekanntlich bereits in den 1970ern beziehungsweise Anfang der 1980er Jahre die Standortgebundenheit kultureller und historischer Erkenntnis, die diskursive Konstruktion des Sozialen sowie das Ende der modernen Metaerzählungen ins Zentrum sozialwissenschaftlicher Diskussionen gerückt. Postkoloniale Theorien, deren Kritik am Universalitätsanspruch der europäischen Moderne zum Teil daran anknüpft und deren Selbstbezeichnung zwangsläufig an die ihnen vorangegangenen ›Post-Ismen‹ erinnert, standen von Anfang an unter dem Verdacht, ähnliche Inhalte unter einem leicht veränderten Etikett zu führen. Die Spannung zwischen der Notwendigkeit der Bezeichnung »postkolonial« einerseits und ihrer politischen Ambivalenz andererseits war deshalb Gegenstand anhaltender Debatten zwischen Vertretern des Postkolonialismus selbst (vgl. Shohat 1992; Dirlik 1994; Hall 2002). Entgegen der Annahme, bloß der zeitlichen Verortung von Gesellschaften innerhalb der Kolonialgeschichte zu dienen, verweist der Begriff »postkolonial« ebenfalls auf die Rekonfiguration von ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnissen, die der Kolonialismus in ehemaligen Kolonien sowie in den Metropolen ausgelöst hat, sowie auf die Spannung zwischen Macht und Wissensproduktion

72 | Postkoloniale Soziologie: ein Programm im Kontext imperialer Verhältnisse (vgl. Gutiérrez-Rodríguez 1999; Coronil 2004; Costa 2005). Damit wird bereits deutlich, dass der Postkolonialismus als Begriff und Perspektive trotz bedeutender interner Differenzierungen3 weitaus stärker als der Poststrukturalismus und der Postmodernismus auf den historischen Kontext von (Kolonial-)Macht abhebt und daraus ein politisches Programm ableitet, das sich vom postmodernistischen wie vom poststrukturalistischen stark unterscheidet. Während für den Postmodernismus die Verabschiedung der Metaerzählungen der abendländischen Moderne mittels Dekonstruktion ein Nebeneinander von autonomen Sphären zur Folge hatte (vgl. Lyotard 1986), setzt der Postkolonialismus mit Dekolonisation auf die Aufdeckung der Zusammenhänge zwischen den globalen Machtverhältnissen, die im Kontext der europäischen Kolonialexpansion etabliert wurden, und den historischen und aktuellen Ungleichheitsrelationen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Dem kulturellen Relativismus, der mit der postmodernen Zelebrierung von – geschlechtlicher, kultureller, rassischer, ethnischer und religiöser – Differenz auf eine ›politics of image‹ hinausläuft, setzen postkoloniale Ansätze zunehmend eine interkulturelle »politics of action« (Klein 2000; Walsh 2007) entgegen. Diese ist in der Problematisierung von »kolonialer Differenz« (Chatterjee 1993; Mignolo 1995) begründet, einem Konzept, mit dessen Hilfe die sozioökonomischen und epistemischen Hierarchien, aus denen in kolonisierten Gebieten subalterne Differenzen entstanden sind, historisch kontextualisiert werden, bevor auf die Möglichkeiten ihrer Transformation eingegangen wird. Zur notwendigen Kontextualisierung von Hierarchisierungsprozessen gehört auch die Verortung der institutionalisierten Soziologie in der westlichen Welt und die ihrer Anfänge in der Hochphase des westlichen Imperialismus (vgl. Seidman 1996; Bhambra 2007a). Obwohl die Etablierung der Soziologie als Disziplin in Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien zeitlich parallel zum Wettkampf ihrer Staaten um afrikanische Territorien und zur Errichtung ihrer Kolonialreiche in Asien und Afrika verlief, reflektierten soziologische Kategorien, Grundbegriffe und zentrale Erklärungsmodelle nur innerwesteuropäische Entwicklungen und Erfahrungen. Als Schlüssel3 | Zur Genealogie postkolonialer Studien, ihrer gegenseitigen NichtBeachtung sowie ihrer unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen vgl. Coronil 2004; für einen Überblick in deutscher Sprache vgl. Castro Varela/ Dhawan 2005.

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momente der abendländischen Moderne, für die die Soziologie einen Erklärungsansatz bieten sollte, galten die französische Revolution und die von England ausgehende Industrialisierung, nicht jedoch die Kolonialpolitik Westeuropas oder die Kapitalakkumulation durch den atlantischen Sklavenhandel und die Plantagenwirtschaft in Übersee. Die Ausblendung der kolonialen und imperialen Dynamik aus dem Begriffsinstrumentarium der klassischen Soziologie gilt für die jeweiligen Nationalsoziologien fast unabhängig vom Erfolg ihrer Staaten als Kolonialmächte (vgl. Bhambra 2007b: 872). Für die Zeit nach der Dekolonisation Asiens und Afrikas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bietet sich ein etwas differenzierteres Bild. Anders als im britischen Kontext, in dem die koloniale Vergangenheit eine prominente Rolle einnimmt, werden in der deutschen Diskussion sowohl die nachrangige koloniale Geschichte als auch die Relevanz der Entwicklungen im nachkolonialen Zeitraum bestenfalls als vernachlässigbare Größen behandelt (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005). Innerhalb der deutschen Soziologie haben postkoloniale Perspektiven somit den Ruf, Importe dritten Grades zu sein: erstens aus der kultur- oder literaturwissenschaftlichen Diskussion, zweitens aus dem anglophonen Raum, und drittens aus einem unterschiedlichen, das heißt genuin nachkolonialen Kontext. Als solche kommt ihnen in der deutschsprachigen Theoriedebatte höchstens ein eingeschränktes soziologisches Gewicht zu, jedoch keine eigenständige soziologische Leistung (vgl. Gutiérrez-Rodriguez 1999: 21). Dabei zielen postkoloniale Theorien gerade ins Zentrum der für die Soziologie zentralen Begrifflichkeiten. Dadurch, dass sie binäre Oppositionen wie West-Rest, Erste-Dritte Welt oder Moderne-Tradition als essentialistisch kritisieren und stattdessen auf die gegenseitige Bedingtheit ihrer jeweiligen Termini aufmerksam machen, enthüllen sie die positiv konnotierten – den Westen, die Erste Welt, die Moderne – als präskriptive und ahistorische Universalien (vgl. Trouillot 2002: 848), denen keine autarke, objektive soziale Wirklichkeit entspricht, und die deshalb Exklusionsstrategien beinhalten. Historische Kontextualisierung als postkoloniale Methode erlaubt es hingegen, Tradition als »keine objektive Gegebenheit, wie allzu leicht in modernen Sozialtheorien unterstellt wird [zu betrachten], sondern [als] eine Ansammlung von Projektionen aus der Warte der Modernitätstheorie auf alles, von dem man sich abgrenzt. Zugleich ist Tradition notwendiger Bestandteil des Moderne-Diskurses, ohne den Moderne nicht bestehen oder entworfen werden kann, und bildet das Feld, in das die Moderne vordringt und das sie zu

74 | Postkoloniale Soziologie: ein Programm unterwerfen sucht. Ein Ende […] der Idee der Tradition wäre das Ende des Modernitätsdiskurses.« (Randeria et al. 2004: 18)

2. Postkoloniale Makrosoziologie Die soziologische Globalisierungsdiskussion der 1990er Jahre und die daran anknüpfende Debatte um multiple Modernen zogen zum einen die Nationalzentriertheit, zum anderen die Westzentriertheit herkömmlicher makrosoziologischer Ansätze ernsthaft in Zweifel (vgl. Wittrock 2000; Eisenstadt 2003; für eine Diskussion vgl. Boatcă 2007). Die globalisierte Welt verdrängte den Nationalstaat als Analyserahmen; die westliche Moderne war plötzlich nur noch eine unter vielen – wenngleich ihr (unterschwellig oder explizit) die Qualität des historischen Ausgangspunktes oder der Referenzgröße für außerwesteuropäische Nachfolgemodelle – die indische, die islamische oder die lateinamerikanische Moderne – anhaftete. Der damit erhobene Anspruch der neuen Makrosoziologie, eine globale Perspektive einzunehmen, ließ jedoch den kolonialen Blick, der Großtheorien innewohnte, weiterhin unberührt. Gemeinsamer Nenner und zugleich Zankapfel der Globalisierungs- wie der Multiple-Modernen-Theorien war die Frage nach der Konvergenz von Gesellschaftsmodellen. GlobalisierungstheoretikerInnen sahen die Herausbildung einer globalen Zivilgesellschaft, einer Weltkultur und globaler Kommunikationstechnologien als Anzeichen für die weltweite Durchsetzung westlicher Entwicklungsmuster an (vgl. Robinson 2001; Giddens 2002) und stimmten somit meist der Konvergenzthese zu. Multiple-Modernen-VertreterInnen hingegen betonten die Vielfalt von institutionellen Mustern, kollektiven Identitäten und soziopolitischen Projekten, die aus der Konfrontation zwischen dem Kulturprogramm der westeuropäischen Moderne und den sozialen Realitäten in den von Europa militärisch und/oder ökonomisch besetzten Gebieten weltweit entstanden waren (vgl. Eisenstadt 2000) und plädierten demnach für Divergenz. Beide Diagnosen sowie die ihnen zugrunde liegenden Perspektiven nahmen indessen das westliche Modell als Anhaltspunkt (vgl. Spohn 2006). Wie Raewyn Connell (2007: 60) anhand zentraler Konzepte wie »globale Postmoderne« und »Weltrisikogesellschaft« aufzeigt, handelt es sich bei der Mehrheit der Globalisierungstheorien um kein neues, auf die Analyse der Weltgesellschaft abgestimmtes Forschungsprogramm, sondern um eine theoretische Strategie, die wir als »Fahrstuhleffekt« makrosoziologischer Erklärung beschreiben können: Tendenzen, die ursprünglich im

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Zusammenhang mit metropolitanen Gesellschaften beobachtet und konzeptuell erfasst wurden, werden eine Ebene höher gefahren und für die Beschreibung von Prozessen im Weltmaßstab herangezogen. Dadurch erscheint Globalisierung buchstäblich als Prozess des GlobalWerdens von Risiken, Kapitalakkumulation oder Hybridisierung, der ohne ein erkennbares Machtzentrum oder Herrschaftsprinzip erklärt wird (vgl. Escobar 2007: 181ff.; Costa 2007: Kap. 4). In einer solchen Position drückt sich implizit das Bestreben vieler MakrosoziologInnen aus, sich infolge der Delegitimierung des Marxismus als politischer und theoretischer Alternative nach 1989, von politischer Ökonomie als Erklärungsansatz – und damit von Imperialismus-, Neokolonialismus- und Weltsystemtheorien – abzugrenzen (vgl. Boatcă 2008a). Auch die Multiple-Modernen-Perspektive ging deshalb mit einem neo-weberianischen Ansatz an die Analyse von Divergenz heran und betonte die Vielfalt von Kulturprogrammen, die mit der Expansion der westlichen Moderne in die Amerikas entstanden war, nicht jedoch die strukturellen Abhängigkeiten und Hierarchisierungsprozesse, die mit der Kolonialisierung einhergingen. Durch die Reduktion der Vielfalt von Zugängen zur Modernität auf die kulturelle Ebene und durch die richtungsweisende Rolle, die dem westeuropäischen Modell bei der Genese dieser Vielfalt beigemessen wurde – das heißt, »by not allowing ›difference‹ to make a difference to the original categories of modernity« (Bhambra 2007b: 878) – verfestigten Multiple-Modernen-AutorInnen paradoxerweise die von ihnen kritisierte, modernisierungstheoretische Auffassung von der selbstgenügsamen, ursprünglichen westlichen Moderne. (Exemplarisch dazu Eisenstadt [2000: 24]: »While the common starting point was once the cultural program of modernity as it developed in the West, more recent developments have seen a multiplicity of cultural and social formations going far beyond the very homogenizing aspects of the original version.«) Demgegenüber steht keine einheitliche postkoloniale Makrosoziologie – zumindest nicht dem Namen nach –, jedoch zunehmend mehr Ansätze, die der historischen Erfahrung des Kolonialismus eine zentrale Bedeutung bei der Erklärung globaler Prozesse zuordnen. Zum einen haben neo-marxistische Globalisierungstheorien auf die Kontinuitäten zwischen dem liberalen Imperativ der Entwicklung, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Wirtschaftspolitik ex-kolonialer Länder bestimmt hat, und dem neoliberalen Postulat der Globalisierung der 1990er Jahre aufmerksam gemacht, indem sie auf die neokolonialen Asymmetrien hinwiesen, die beide (re-)produzieren (vgl. McMichael 2004; Wallerstein 2005). Zum anderen finden Theoriemodelle, die an der Schnittstelle zwischen Ethnologie, Geschichtswissenschaft und

76 | Postkoloniale Soziologie: ein Programm Soziologie geprägt wurden, und in denen die Herausbildung »verwobener Modernen« und »connected histories« (Randeria 1999; Subrahmanyan 1997) auf die konstitutive Verknüpfung zwischen westeuropäischen Modernitätsmustern und (post-)kolonialen Modernisierungsprozessen zurückgeführt wird, zunehmend Gehör innerhalb der Soziologie. Darin wird Tradition nicht als starrer Gegensatz zur Moderne gedacht, sondern als integraler Bestandteil einer verwobenen Kolonialgeschichte, infolge derer das strukturelle Ungleichgewicht zwischen »Zentren« und »Peripherien« auch die ungleiche Verteilung der Definitionsmacht zwischen dem Westen und dem »Rest« im Hinblick auf den eigenen Modernitätsgrad nach sich zog (vgl. Therborn 2003; Knöbl 2007). Lateinamerikanische postkoloniale Theorien erklären die Entstehung der Kategorie »Tradition« im Kontext der unter kolonialer Herrschaft konstruierten Gegensätze zur Modernität westeuropäischer Kolonialmächte mit Hilfe eines auf Verwobenheit zielenden Begriffs: »Kolonialität«. Verstanden als eine den administrativen und politischen Kolonialismus überdauernde sowie wirtschaftliche, soziale, kulturelle und ideologische Aspekte umfassende Machtbeziehung zwischen (kolonialen) Zentren und (kolonisierten) Peripherien, stellt Kolonialität die Kehrseite und gleichzeitig die notwendige Voraussetzung der westlichen Modernität seit der »Entdeckung« der Neuen Welt dar: Mit Hilfe binärer Oppositionen – zivilisiert-barbarisch, rational-irrational, entwickelt-unterentwickelt oder modern-traditionell konnte einerseits die eigene, moderne Identität ein- und von der kolonialen Alterität abgegrenzt, und andererseits die politische Intervention, die ökonomische Ausbeutung und der epistemologische Paternalismus gegenüber den Kolonien legitimiert werden (vgl. Quijano 2000; Dussel 2002; Grosfoguel 2002). Die soziale Imagination der modernen Welt konfigurierte sich somit um ein globales Klassifi kationssystem herum, das die ökonomischen und politischen Machtasymmetrien zwischen Zentren und Peripherien auf kultureller Ebene widerspiegelte und in dessen Mittelpunkt der Universalstandard der westeuropäischen Zivilisation stand (vgl. Mignolo 2000: 13). Die damit assoziierte okzidentalistische Rhetorik durchlief mehrere Phasen, in denen die Konstruktion von kolonialer Differenz vom westeuropäischen Selbst abwechselnd um Konzepte von Rasse, ethnischer Herkunft oder beides herum organisiert war und je nach der in Westeuropa herrschenden Weltanschauung entlang einer räumlichen, einer zeitlichen Dimension oder einer Mischung aus beiden verlief (vgl. Mignolo 2000; Boatcă 2009). Die Kolonialität der daraus resultierenden, heterogenen – das heißt, nicht rein ökonomischen, sondern

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politischen, kulturellen und epistemologischen – Machtstruktur ist an der Dauerhaftigkeit der globalen Ungleichheitsdimensionen kolonialen Ursprungs abzulesen: »[…] if we observe the main lines of exploitation and social domination on a global scale, the main lines of power today, and the distribution of resources and work among the world population, it is very clear that the large majority of the exploited, the dominated, the discriminated against, are precisely the members of the ›races‹, ›ethnies‹, or ›nations‹ into which the colonized populations were categorized in the formative process of that world power, from the conquest of America and onward.« (Quijano 2007: 169)

Während der Ansatz der ›globalen Postmoderne‹ dem Eurozentrismus verhaftet bleibt, indem er lediglich auf die Anerkennung dieser Unterschiede abhebt, das universelle Ziel ihrer aller Globalisierung jedoch beibehält, setzt das Projekt der »Transmoderne« (Dussel 2002) die potentielle Universalität aller kulturellen Elemente voraus, die das »ausgeschlossene Außen« der westlichen Moderne darstellten, und diese nun aus ihrer Exteriorität heraus transformieren können. Durch die Kritik der Moderne aus der subalternen Position der Kolonialität wird demnach, ähnlich wie im Indian Subaltern Studies-Ansatz (vgl. Chakrabarty 2000), die vom Westen postulierte Universalgeschichte als lokale Geschichte mit partikularem Charakter enthüllt. Ihre globalen Projekte (Zivilisation, Entwicklung, Globalisierung) erscheinen in diesem Licht als Verallgemeinerungen der lokalen historischen Erfahrung Westeuropas, die der Untermauerung des eigenen Machtanspruchs dienen, und machen die (post-)kolonialen Kontinuitäten in der Hierarchisierung von Differenz deutlich, anstatt Differenzen als solche zu zelebrieren. Begriffe wie »Transmoderne« und »Kolonialität« sind deshalb keine bloßen Ersatzkategorien, gegen die derjenige der »Tradition« ausgetauscht werden kann, sondern bieten die Möglichkeit, die Moderne in historischer Perspektive um ihre koloniale Kehrseite zu ergänzen, das heißt, die wechselseitigen Abhängigkeiten von Entwicklung und Unterentwicklung, Exklusion und Inklusion, zu thematisieren, anstatt sie in konvergierenden oder divergierenden Kontexten von Moderne einerseits und Tradition andererseits zu verorten.

78 | Postkoloniale Soziologie: ein Programm

3. Die Mesoebene: politische Soziologie postkolonialer Machtbeziehungen Eine bedeutende Fülle jüngerer Beiträge, die sich mit Machtasymmetrien in der Weltpolitik beschäftigen, weist Gemeinsamkeiten auf, welche sich zum Kern einer postkolonialen politischen Soziologie zusammenfügen lassen. Anders allerdings als in der konventionellen politischen Soziologie bestimmen weder die nationalstaatlichen Grenzen die analytische Einheit, noch bilden die nationalstaatlichen Institutionen den primären Untersuchungsgegenstand postkolonialer Forschung. Im Vordergrund stehen dagegen Machtverhältnisse, die einerseits Akteure unterschiedlichen Charakters (Staaten, multilaterale Organisationen, soziale Bewegungen usw.) auf verschiedenen Ebenen (lokal, regional, national, global) andererseits verbinden. Der Fokus auf die Machtbeziehungen bedingt auch die Begriffl ichkeit, die im Rahmen dieser Studien angewendet wird. Begriffe, die die politischen Asymmetrien zwischen den Weltregionen nicht zum Ausdruck bringen, werden kritisch dekonstruiert. Die ersten dekonstrutivistischen Bemühungen galten der von der Modernisierungstheorie abgeleiteten Entwicklungsidee, die von einer evolutionistischen Ausbreitung von Lebensformen und sozialen Strukturen aus einem fortschrittlichen Europa in den Rest der Welt ausging. Mehrere postkoloniale Abhandlungen haben indessen gezeigt, dass Entwicklung nicht einen Irradiationsprozess, sondern eine interdependente Transformation darstellt, die gleichzeitig Wohlstand in den reicheren Gesellschaften und mehr soziale Ungleichheiten für die ärmeren Regionen mit sich bringt (vgl. Pieterse/Parekh 1995; Dussel 2000; Escobar 2004; für einen Überblick Manzo 1999). Auch der Ansatz der Governance4 erfährt immer heftigere Kritiken 4 | Darunter werden Beiträge erfasst, die den herkömmlichen Steuerungsbegriff der Politikwissenschaft insofern erweitern, als sie neben Staaten und internationalen zwischenstaatlichen Organisationen auch nichtstaatliche Akteure sowie Entscheidungsstrukturen auf unterschiedlichen Ebenen (Multilevel-Perspektive) als Bestandteile eines komplexen Regierens über die nationalen Grenzen hinaus auffassen. Nach seiner Einführung durch die »Commission on Global Governance« 1995 ging der Begriff governance nicht nur in die wissenschaftliche Diskussion ein, sondern er nahm im Rahmen der Arbeiten unterschiedlichster Organisationen (von der UNDP – United Nations Development Program – bis hin zur Europäischen Kommission) eine allgegenwärtige Praxisrelevanz ein (vgl. u.v.a. Brand et al. 2000).

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im Rahmen der postkolonialen Forschung (vgl. Ziai 2006; Randeria 2003; Eckert/Randeria 2006). Demzufolge vermittelt der Ansatz die Illusion einer ökumenischen Politik, in der gesamtgesellschaftliche Belange ausgewogen und konfliktfrei zur Geltung kommen. Genau das Gegenteil soll eine machtorientierte Analyse neuer weltpolitischer Konfigurationen leisten, sie soll nämlich für die Reproduktion von Asymmetrien und die Produktion neuer Ungleichheiten empfindlich bleiben: »In der neuen Archiktetur globaler Governance erscheint Macht als diffus und flüchtig, und das jeweilige Ausmaß an Souveränität ist eng mit spezifischen Politikfeldern, Territorien und Bevölkerungsgruppen verknüpft […]. Es ist daher notwendig, die Erforschung der Globalisierung auf differenzierte Ethnographien und historische Fallstudien zu gründen, welche die Mikro- mit der Makroebene verknüpfen, und die Spezifität diverser Formen der Transnationalisierung in unterschiedlichen Regionen zu unterschiedlichen Zeiten herauszuarbeiten.« (Eckert/Randeria 2006: 16f.)

Die hier geforderte Konkretisierung postkolonialer Forschungsansprüche scheint zumindest ansatzweise vorzuliegen. Etwa die akkurate Dekonstruktion der Rolle des Begriffs Souveränität in der Geschichte des Völkerrechts durch Chimni (2004) oder die kritische Auseinandersetzung von Anghie (2004) mit den neuen Instrumenten des internationalen administrativen Rechts stellen exemplarische Versuche dar, über die universalistischen Rechtsdiskurse hinauszuschauen, um zu belegen, dass mehrere globale Rechtsinstitutionen koloniale Züge tragen und die ohnehin schon privilegierten Bevölkerungsgruppen in den reicheren Gesellschaften begünstigen. Ein weiterer relevanter Ertrag der postkolonialen politischen Soziologie bezieht sich auf die Demokratisierungsforschung und vor allem auf die Untersuchung der Demokratisierungsprozesse der 1970er, 1980er und 1990er Jahre in außereuropäischen Gesellschaften sowie in Süd- und Osteuropa. Das seit den 1980er Jahren dominierende Transitionsparadigma (O’Donnell/Schmitter/Whitehead 1986) übertrug die methodischen Grundzüge der Modernisierungstheorie auf die Politik, wobei die Demokratisierungsforschung zu einer impliziten, vergleichenden Disziplin avancierte: Demnach wurden die politischen Entwicklungsmuster aus den »hyperrealen« (Chakrabarty 2000), konsolidierten Demokratien Westeuropas und Nordamerikas zum einzigen validen Demokratiemodell erklärt, während die in an-

80 | Postkoloniale Soziologie: ein Programm deren Gesellschaften beobachteten Akteure und Strukturen lediglich als Mängel und Demokratisierungshindernisse zählten. Mit der Entwicklung der Demokratisierung in diesen Gesellschaften wurde dennoch offensichtlich, dass weder die demokratietheoretischen Prämissen noch die Methoden der Transitionsforschung in der Lage waren, ebenso wenig die entstandenen Engpässe wie die feststellbaren demokratischen Fortschritte zu erfassen. Lokale Zivilgesellschaften und Öffentlichkeiten zeigten eine eigene Dynamik: Dabei werden Akteure und Strukturen wie ethnische Gruppierungen und Nachbarschaftsvereine, die nach dem Politikkonzept der Transitionsforschung keine Träger demokratischer Werte waren, zum zentralen Katalysator einer Vertiefung demokratischer Strukturen (vgl. Avritzer/ Costa 2004). Andererseits erfüllten einige nach dem Vorbild aus Westeuropa oder Nordamerika errichteten Rechts- oder Entscheidungsstrukturen nicht die erwarteten Funktionen: Die neuen Parlamente scheinen chronisch korruptionsanfällig zu sein und die Kluft zwischen rechtstaatlicher Verfasstheit und gesellschaftlicher Wirklichkeit wird immer wieder bemängelt (vgl. Mendez/O’Donnell/Pinheiro 1999). Die Antworten auf die eigene Unschärfe blieben im Rahmen der Transitionsforschung meistens in der Begrifflichkeit des impliziten Vergleichs mit einer idealisierten westlichen Demokratie verhaftet: Nun handelt es sich darum, »defekte Demokratien« zu untersuchen, in denen »failed states« und »low intensity citizenship« herrschen (O’Donnell 2007). Mehrere Beiträge im Rahmen der postkolonialen Forschung in verschiedenen Kontinenten zeichneten indessen die Konturen einer Soziologie der Demokratisierung, die das Transitionsparadigma teilweise ergänzen, teilweise korrigieren. Dabei werden die lokalen Strukturen nicht mehr als zeitlich verzögerte Kopien ihrer Pendants in Westeuropa und Nordamerika dargestellt, sondern anhand ihrer eigenen historischen und sinngebenden Kontexte interpretiert.5 Ferner wird versucht, den Endogenismus der Transitionsforschung zu überwinden, indem die demokratischen Entwicklungen vor Ort im Kontext ihrer Interdependenzen mit den Interventionen multilateraler Organisationen (vgl. Macamo 2006; Walsh 2005), transnationalen Konflikten um lokale Ressourcennutzung (vgl. Escobar 2004; Randeria 2003) und 5 | Die überzeugende Ausführung von Randeria (2005) über die politischen Leistungen der Kasten in Indien als Teil lokaler Zivilgesellschaft gilt hier als eine theoretische und methodische Herangehensweise, die lokale Entwicklungen ausgehend von ihrer eigenen sozialen Semantik erforscht.

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weltweiter Vernetzung regionaler Akteure der Demokratisierung (vgl. Costa 2007; Randeria 2005) untersucht werden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Ergebnisse, die die postkoloniale Forschung zur Politik bereits vorgelegt hat, wichtige Impulse zu einer kritischen Reflexion über neue Machtkonstellationen auf verschiedenen Ebenen liefern. Während die klassische politische Soziologie aufgrund ihrer Einschränkung auf die nationalen Grenzen und ihrer Fixierung in der institutionalisierten Form der Politik immer mehr an Bedeutung verliert, bringt die postkoloniale Forschung neue Gründe für eine soziologische Beschäftigung mit der Politik. Und hier leistet die postkoloniale Forschung, indem sie die Frage der Macht wieder ins Zentrum der Untersuchung stellt, einen Beitrag, den auch die zunehmend problemlösungsorientierte Politikwissenschaft nicht leisten kann.

4. Zu einer Mikrosoziologie der kulturellen Aushandlungen Spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konsolidierte sich der Kulturbegriff konstruktivistischer Prägung, der zum einzig validen soziologischen Kulturbegriff avancierte. Damit wird früheren primordialistischen Versuchen, Kultur über naturgegebene oder metaphysische Bindungen (›Rasse‹, klimatische Bedingungen, Prädestination usw.) zu definieren, jede Berechtigung entzogen. Derartige Begründungen werden zwar als Selbstdarstellung untersuchter Akteure ausgewertet, als soziologische Erklärung gelten sie jedoch nicht (mehr). Demzufolge lässt sich der konstruierte Charakter von Kulturen sowohl anhand von individueller Identitätskonstituierung als auch durch die Ausdifferenzierung kultureller Einheiten beobachten. Erstere wird in Gestalt einer Formierung individueller Identitäten als ein intersubjektiver Prozess erfasst, in dem gesellschaftliche Dispositionen internalisiert und zur Herausbildung eines stabilen individuellen Identitätskerns verarbeitet werden (vgl. Mead 1969: 86ff.). Bei Letzterem, der Konstituierung von Kulturen als breitere Einheiten (Ethnien, Nationen, kulturelle Minderheiten usw.), handelt es sich wiederum um langfristige historische Entwicklungen, im Rahmen derer sich eine kommunikative Infrastruktur zur Bearbeitung und Überlieferung gemeinsamer Erfahrungen bereits herauskristallisiert hat. Daraus gehen sowohl kulturelle Gruppen, denen eine konkrete (soziologische) Existenz – die Deutschen, die Türken, die Europäer – attestiert wird, als auch Kulturen hervor. Kultur wird, wie hier exemplarisch bei

82 | Postkoloniale Soziologie: ein Programm Habermas (2005: 313), als ein »Ensemble von Ermöglichungsbedingungen für problemlösende Aktivitäten [defi niert]. Sie stattet die Subjekte, die in sie hineinwachsen, nicht nur mit elementaren Sprach-, Handlungs- und Erkenntnisfähigkeiten, sondern auch mit grammatisch vorstrukturierten Weltbildern und semantisch akkumulierten Wissensbeständen aus.« An diesem Verständnis von Kulturen als eingegrenzte Einheiten, innerhalb derer Gemeinsamkeiten produziert und reproduziert werden, kritisieren postkoloniale Studien empirische, theoretische und methodische Unzulänglichkeiten. Demnach entspricht der soziologische Kulturbegriff der Vorstellung homogenisierender Identitätskonstruktionen, die oft einen impliziten territorialen Bezug aufweisen und vom Geburts- oder Wohnort, dem sozialen und kulturellen Umfeld usw. abgeleitet werden. Dieser Kulturbegriff verkenne die Entkopplung des Sozialen vom Territorium und sei damit für die immer deutlichere Entgrenzung kultureller Zirkulationsprozesse in der heutigen Welt blind (vgl. Hall 2000: 99ff., 1994: 44ff.). Theoretisch, so die postkoloniale Kritik, sei der dominierende soziologische Kulturbegriff ferner außer Stande, die in den kulturellen Beziehungen inskribierten Machtverhältnisse zu erfassen. Indem die Soziologie die von den sozialen Akteuren dargestellten kulturellen Einheiten als deskriptive und politisch neutrale Kategorien erfasst, zeigt sie sich also für die Tatsache unempfindlich, dass kulturelle Identitätszuschreibungen asymmetrische Machtpositionen voraussetzen und diese gleichzeitig reproduzieren. Das zeigt Pieterse in seiner Untersuchung der Dynamik von Ethnizitäts- und Nationalstaatskonstruktionen prägnant: »To understand how cultural difference is constructed is to understand the formation and politics of national identity […]. National identity is a historical process; ethnicity, identity politics, and multiculturalism are phases in this ongoing process. From a historical point of view, nation formation is a dominant form of ethnicity. In short, nationhood is dominant ethnicity and minorities or ethnic groups represent subaltern ethnicity.« (Pieterse 2007: 16)

Aus methodischer Sicht sei der soziologische Umgang mit Kultur(en) ebenfalls problematisch, da Selbstdarstellungen der Akteure nicht kritisch dekonstruiert, sondern als Ausdruck der Existenz von kulturellen Identitäten aufgefasst werden. Dabei wird nicht beachtet, dass selbst der Verweis auf eine ursprüngliche und authentische Tradition als Bestandteil einer Performierung – sowohl im linguistischen Sinne

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als Handlung als auch im dramaturgischen Sinne als Inszenierung – von Differenzen behandelt werden muss, welche ausgehend von dem diskursiven Kontext verstanden werden müssen, der sie umgibt: »Terms of cultural engagement, whether antagonistic or affi liative, are produced performatively. The representation of difference must not be hastily read as the reflection of pre-given ethnic or cultural traits set in the fi xed tablet of tradition.« (Bhabha 1994: 2)

Mit ihrer Kritik am soziologischen Kulturbegriff und an den herkömmlichen Ansätzen der Kultursoziologie stellen postkoloniale Studien eine Fülle von Kategorien und methodischen Herangehensweisen bereit, die als innovative Mikrosoziologie der Aushandlung kultureller Differenzen begriffen werden können. Besonders relevant sind hier die Forschungsarbeiten, die im Rahmen der sogenannten British Black Cultural Studies in Anlehnung an Stuart Hall und Paul Gilroy entstanden sind: Während sich Hall (1994) hauptsächlich mit den Spannungen innerhalb der britischen antirassistischen Bewegungen beschäftigt, fügt Gilroy (1995, 2000) eine komparative Dimension hinzu, indem er nach den politischen und kulturellen Verknüpfungen sucht, die den imaginierten Raum des »Black Atlantic«6 ausmachen. Begrifflicher Ausgangspunkt beider Autoren bildet das Konzept der Differenz, das sie vom Poststrukturalismus, genauer von Derridas Begriff der différance, ableiten. Différance wird eingesetzt, um antinomische Diskurse zu dekonstruieren, die ein »Ich« und einen »Anderen«, ein »wir« und ein »sie« gegenüberstellen (Hall 1994: 137ff.). Hier wird die Konstruktion von kulturellen Identitäten zu einem dynamischen politischen Prozess, in dem die konkreten und variierbaren Identifizierungen nicht Ausdrücke vorpolitischer geschlossener Einheiten sind: Sie wer-

6 | In der von Gilroy geprägten Variante enthält der Begriff Black Atlantic eine doppelte Bestimmung: Empirisch bezieht sich Black Atlantic auf den Verbreitungs- und Rekonstruktionsprozess einer »black culture«, die mit der Bewegung der afrikanischen Diaspora einhergeht. Politisch verweist das Konzept Black Atlantic auf eine verdrängte Dimension der Moderne, indem es den Zusammenhang zwischen Sklaverei und Moderne beleuchtet und darüber hinaus die modernen politischen Institutionen als privilegierten Raum zur Reproduktion von Ansichten und Interessen des weißen Mannes entlarvt (vgl. Gilroy 1993).

84 | Postkoloniale Soziologie: ein Programm den erst ad hoc je nach wahrgenommenen Missachtungsrisiken und Anerkennungsmöglichkeiten konstituiert.7 Damit wird nicht behauptet, dass die Evokation kultureller Einheiten wie die Deutschen oder die Türken für konkrete Identitätskonstruktionen irrelevant seien. Sie fungieren aber nicht wie ein Computerprogramm, das eindeutige Verhaltensmuster vorgibt, sondern als diskursive Hinterfragungen, zu denen die Interagierenden sich immer wieder positionieren müssen. Die Identifizierung entsteht aber erst interaktiv im Rahmen von Verhandlungen mit Zuschreibungen, Diskriminierungen und eigenen Interessen.

5. Schlussfolgerung: für eine postkoloniale Soziologie In dem Bestreben, ein Programm für eine postkoloniale Soziologie zu entwickeln, ist unsere epistemologische Positionierung bereits deutlich. Anders etwa als McLennan (2003) sehen wir in der postkolonialen Begrifflichkeit nicht das Ende der Soziologie als Disziplin eingeschrieben, sondern die Ergänzung und Erweiterung der Soziologie genau dort, wo sie an ihre Erkenntnisgrenzen zu stoßen scheint. Wenn hier von Komplementarität die Rede ist, so ist auch gemeint, dass sowohl die Begrifflichkeit als auch die Methoden der postkolonialen Studien mit den Herangehensweisen der Soziologie kompatibel sind. Vor allem scheint uns, dass sich die Erkenntnisinteressen der Soziologie und der postkolonialen Forschung in einem entscheidenden Aspekt überschneiden: bei dem Anspruch, soziale Beziehungen und gesellschaftliche Strukturen in komplexe Zusammenhänge einordnen zu können. Die Mängel der Soziologie, wie sie von der postkolonialen Kritik erfasst werden, verweisen nicht auf irreparable Unzulänglichkeiten einer wissenschaftlichen Disziplin, sie stellen vielmehr Folgen eines bestimmten institutionellen Konstituierungsprozesses dar. Aus dieser 7 | Der von Hall benutzte Schlüsselbegriff, um diesen Prozess der Positionierung des Subjekts im Kontext einer bestimmten diskursiven Formation zu beschreiben, ist »Artikulation«, was Zweierlei meint: sowohl die Vorstellung des Sprechens und des Sich-Äußerns als auch die Verbindung zweier Elemente, die eventuell eine Einheit eingehen können. Das Prinzip der kontingenten Artikulation kann anhand des Konstituierungsprozesses des individuellen Subjekts beobachtet werden, das sich permanent gegenüber der diskursiven Formation neu positioniert, aber auch anhand der Erzeugung kollektiver Subjekte (vgl. Hall 1996).

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Institutionalisierungsgeschichte gehen sowohl die nationalstaatliche Zentriertheit, als auch der koloniale Blick auf nicht-westliche Gesellschaften hervor. Doch Reflexivität, Offenheit, Selbstkritik und Perspektivenwechsel gehören ebenfalls zum Selbstverständnis der Soziologie. Genau hier setzen die postkolonialen Studien an. Auf der makrosoziologischen Ebene führen die Ergebnisse der postkolonialen Forschung zur Überwindung einer linearen Evolutionsgeschichte moderner Gesellschaften, ohne in den Partikularismus endloser multipler Modernitäten zu verfallen. In der postkolonialen Begrifflichkeit von verwobener Moderne und geteilter Geschichten sind nämlich die Kontinuitäten und entanglements, aber auch die Brüche und Asymmetrien in der Konstituierung der modernen, (post-) kolonialen Welt enthalten. Auf der Mesoebene beleuchten postkoloniale Studien Verflechtungen zwischen Akteuren und Machtstrukturen, die in unterschiedlichen Handlungszusammenhängen zu verorten sind, und bergen damit neues Erkenntnispotential. Diese heuristischen Möglichkeiten sind weder einer politischen Soziologie, die sich auf etablierte Akteure und nationalstaatliche Grenzen beschränkt, noch dem machtblind gewordenen Forschungsfeld der internationalen Beziehungen zugänglich. Mikrosoziologisch liegt der Beitrag postkolonialer Forschung insbesondere in der Öffnung des soziologischen Kulturbegriffs. Nicht Repertoires, die aus geschlossenen ortsgebundenen Kulturen hervorgehen, bestimmen die sozialen Interaktionen, sondern ad hoc artikulierte Differenzen. Anders allerdings als in der postmodernen Auffassung des Poststrukturalismus ist die Artikulierung von Differenzen in der postkolonialen Forschung nicht mit der Ausübung einer hyperliberalen Identitätsfreiheit gleichzusetzen: Die Untersuchungen verfolgen hier Differenzen im Kontext von gesellschaftlichen Machtstrukturen und enthalten damit einen klaren soziologischen Anspruch. Postkoloniale Soziologie wäre in diesem Zusammenhang nichts anderes als kontextspezifische, geschichtssensibilisierte Soziologie der Macht, deren Gegenstand nicht die westliche Welt oder eine postmodern ad infinitum pluralisierte Vielzahl von Modernen ist, sondern die an der Schnittstelle von Militärmacht, Kapitalexpansion und Transkulturalität entstandene »verwobene Moderne« (Randeria 1999); nicht die nordatlantische Zivilisation, sondern die durch die Wechselwirkungen mit dem Black Atlantic und anderen diasporischen Minderheitserfahrungen der »majority world« (Connell 2007) hervorgebrachte transmoderne Zivilisation des 21. Jahrhunderts (vgl. Dussel 2002).

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Am I that Other? Postkoloniale Intellektuelle und die Grenzen des Postkolonialismus Miriam Nandi Es gehört zu den größten Errungenschaften der postkolonialen Theoriebildung, dass das Denken über nicht-westliche Kulturen heute durchdrungen ist von dem Wissen um die Relativität jeder Aussage, die (aus westlicher Sicht) über andere Kulturen und deren Praktiken gemacht wird. Wie Edward W. Saids bahnbrechende Studie Orientalism (1995 [1978]) gezeigt hat, ist auch die Wissenschaft vom kulturell Anderen, die Orientalistik, nicht objektiv oder neutral, sondern eingebunden in eine ganz spezifische, politische Konstellation: den Kolonialismus. Saids Pointe, dass eine so unschuldig erscheinende philologische Disziplin daran beteiligt war, das imperiale Projekt ideologisch zu legitimieren und ›orientalische‹ Kulturen nach westlichen Wertvorstellungen zu klassifizieren, beziehungsweise abzuwerten, ist bis zum heutigen Tag eine aufrüttelnde Erkenntnis. Durch die Postkoloniale Theorie hat sich ein vorsichtiger und selbstkritischer Ton in Deskription und Beurteilung nicht-westlicher Kulturen weitgehend durchgesetzt, nur noch äußerst skeptisch werden westliche Wertvorstellungen auf andere Kulturen angewendet und es besteht immer häufiger ein ernsthaftes Bemühen, diese sich aus sich selbst heraus zeigen zu lassen.1 Immer häufiger wird historisch Verantwortung für 1 | Als Beispiele dienen die interkulturelle Philosophie (vgl. Mall 1995; Yousefi/Mall 2005), Charles Taylors Beiträge zur »Anerkennung« (»recognition«, 1992), Theorien des Kosmopolitismus (vgl. u.a. Appiah 2007) und der kulturellen »Übersetzung« (»cultural translation«, vgl. Venuti 1998; Trivedi 1996; Young 2003). So verschieden diese Ansätze in

92 | Miriam Nandi die Fehler übernommen, die der Westen im Umgang mit seinem Anderen begangen hat, was sich nicht zuletzt auch in den Curricula der Universitäten zeigt.2 Obwohl mich die Postkoloniale Theorie in tiefer Weise beeindruckt und überzeugt hat und mir darüber hinaus eine Sprache für Dinge gegeben hat, die vorher als ›dumpfes Gefühl‹ stumm bleiben mussten, bereitet sie mir in der Deduktion auf das Konkrete doch einige Schwierigkeiten. Das folgende Beispiel soll zur Illustration dienen: Von der Großmutter meines Vaters,3 einer tief-gläubigen Hinduistin, wird erzählt, sie habe einmal einen hysterischen Anfall bekommen, als ein Bettler, dem sie anlässlich eines Feiertages etwas Geld gab, sie versehentlich berührte. Sie zeterte, er habe sie »verschmutzt«. Sie soll ihn wüst beschimpft haben und dann mit einer Mischung aus Panik, Ekel und Wut zu einem Brahmanen geeilt sein, um sich einer Reinigungszeremonie zu unterziehen. Der Bettler, ein kleiner Junge, der offensichtlich einer als ›unberührbar‹ stigmatisierten Kaste angehörte, habe verstört geschaut, das Geld vom Boden aufgelesen und sich vorsichtig davon gemacht. Ihr Verhalten ist aus westlicher Sicht nicht nur befremdlich, sondern auch zutiefst unethisch. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, einen ihren Schwerpunkten auch sein mögen, sie verbindet doch ein selbst-reflexiver Umgang mit westlichem Theoriematerial und ein grundsätzliches Insistieren auf der Gleichwertigkeit unterschiedlicher kultureller Praxen. 2 | In der Anglistik sind beispielsweise postkoloniale Autoren wie Salman Rushdie fester Bestandteil der Lehre. Gleichzeitig ist es inzwischen fast unmöglich geworden, Werke wie Conrads Herz der Finsternis zu unterrichten, ohne die von Chinua Achebe angestoßene Debatte über rassistische Untertöne in Conrads Imperialismuskritik aufzunehmen und zu diskutieren. Auch in der Amerikanistik ist ethnic literature, also etwa Chicano/a Literatur oder Afroamerikanische Literatur, nicht mehr aus den Curricula wegzudenken. In Baden-Württemberg hat die postkoloniale Kurzgeschichte sogar Eingang in die Lehrpläne für die gymnasiale Oberstufe gefunden. 3 | Mein Vater stammt aus Indien. Er kam bereits Anfang der 1960er Jahre nach Deutschland, wo er meine Mutter, eine Deutsche, kennenlernte. Da er sich sehr bemüht hat, in Deutschland neue Wurzeln zu schlagen, bin ich nicht mit dem Gefühl groß geworden, Inderin oder ›halbe Inderin‹ zu sein. Meine Verbindung zu Indien ist letztlich eine fiktionale. Ich kenne Indien aus den Erzählungen meines Vaters, aus Briefen meines Onkels, dem jüngeren Bruder meines Vaters, aus Reisen und der indischen Literatur.

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anderen Menschen, dazu noch ein Kind, das ohne fremde Hilfe kaum überleben kann, in dieser Weise zu demütigen. Das Beispiel steht natürlich nicht für sich: Im Human Development Report (2007/2008) kann man nachlesen, dass in Indien nach wie vor rund 350 Millionen Menschen von umgerechnet einem Dollar am Tag oder sogar weniger leben müssen und weder lesen noch schreiben können. Zu wirtschaftlicher und kultureller Deprivation treten meist noch ein erschwerter Zugang zur Gesundheitsversorgung und ein Leben in hygienisch katastrophalen Verhältnissen hinzu. Es ist uns wahrscheinlich unmöglich, sich die Härte des Alltags dieser Menschen vorzustellen, die Perspektivlosigkeit und den täglichen Kampf um Dinge, die in Deutschland selbstverständlich sind, wie sauberes Wasser, elektrischer Strom und Schulbildung für die Kinder. Wenn wir die Postkoloniale Theorie ernst nehmen, steht es uns nicht zu, über diese Verhältnisse, die wir in ihrer Tiefe und Bedeutung ja tatsächlich nicht verstehen und erfassen können, zu urteilen. Aus postkolonialer Sicht ist es äußerst schwierig, wenn nicht vielleicht sogar unmöglich, Ausgrenzung und Unterdrückung innerhalb der postkolonialen Nation zu kritisieren, ohne dabei auf koloniale Stereotype zurückzufallen. Gerade ›Kaste‹ und Armut scheinen im Licht der Postkolonialen Theorie orientalistische Zuschreibungen zu sein, die dazu dienen, den indischen Homo hierarchicus (Dumont 1980) von den egalitär ausgerichteten westlichen Demokratien abzugrenzen, um auf diese Weise (neo-)koloniale (moralische) Überlegenheitsansprüche zu rechtfertigen. Wenn man auf der Gewinnerseite des Globus lebt, wenn man dazu in Deutschland aufgewachsen und verwurzelt ist – einem Land, das in Sachen Rassismus traurige Rekorde aufgestellt hat –, dann sollte man wohl nicht mit dem Finger auf eben jene Gesellschaften zeigen, die unter westlicher Dominanz zu leiden hatten. Bedeutet dies umgekehrt, dass man zu Phänomenen, die (aus westlicher Sicht) als Unrecht erscheinen und sich auf der anderen Seite des Globus ereignen, aus historischen, moralischen und erkenntnistheoretischen Gründen zu schweigen habe? Die Frage, wie man damit umgeht, dass auch der (aus westlicher Sicht) ›Andere‹ seinen ›Anderen‹ hat, der unter Umständen unterdrückt, diskriminiert und ausgebeutet wird, wird in der Postkolonialen Theorie selten als solche gestellt und dementsprechend auch nicht bearbeitet. Es gibt hier keine einfachen Antworten. Auch in diesem Beitrag wird der grundsätzliche Widerspruch zwischen dem letztlich nicht hintergehbarem Imperativ, Andersheit zu respektieren und der Notwendigkeit, Entrechtung und Ausbeutung zu kritisieren, nicht ge-

94 | Miriam Nandi löst. Vielmehr bildet er das Spannungsfeld, das meine Arbeit motiviert und angetrieben hat. 4 Konkret befasst sich dieser Beitrag mit der Figur des postkolonialen Intellektuellen – nicht den biographischen ›Menschen‹ Edward W. Said, Homi K. Bhabha und Gayatri C. Spivak, auch nicht den TheoretikerInnen mit diesen Namen – sondern der sozial, kulturell und politisch ›verorteten‹ Figur des Postcolonial Critic. Exemplarisch hierfür werde ich mich mit der Genese und der kulturellen und sozialen Verortung des indischen Intellektuellenmilieus befassen. Dabei möchte ich die ambivalente Lage der (indischen) postkolonialen Intellektuellen herausstellen: Die postkolonialen TheoretikerInnen sind mit Hinblick auf ihre ›Herkunftskultur‹ keineswegs randständig; vielmehr gehören sie zu einer sehr privilegierten Minderheit. Im westlichen Kontext jedoch ist ihre Situation in der Tat eine widerständige und in manchen Kontexten wohl nach wie vor eine eindeutig ›marginalisierte‹. Im Folgenden werde ich zunächst kurz Standpunkte in der postkolonialen (Selbst-)Kritik zusammenfassen, die sich mit den inneren Widersprüchen und Problemen der Postkolonialen Theorie auseinandersetzen. Im nächsten Schritt möchte ich die Entstehung der ambigen Lage der postkolonialen Intellektuellen historisch nachzeichnen. Im letzten Abschnitt dieses Beitrages möchte ich einen kurzen Ausblick darauf geben, welche Folgen und Chancen sich daraus für eine postkoloniale Soziologie ergeben. Es handelt sich hierbei lediglich um eine ›Probebohrung‹, eine systematische, empirische Soziologie der postkolonialen Intelligenz steht freilich noch aus.

2. »Who claims Subalternity?« Schlaglichter einer Debatte In den Diskursen des Postkolonialismus hat sich nach dem Boom in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren ein apokalyptischer Ton eingeschlichen. Der Postkolonialismus wird »in Frage gestellt« (Trivedi 1996), »neu verortet« (Goldberg 2002), oder gar für »abgeschlossen« (Agnani et al. 2007) erklärt. Arun Mukherjee fasst die wesentlichsten Kritikpunkte zusammen: »The theory claims that the major theme of literatures from post-colonial societies is discursive resistance to the now-absent colonizer. […] It unproblematically assumes that the writers who write back to the centre 4 | Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Thema fi ndet sich in Nandi (2007).

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are representing the people of their society authentically. […] The theory downplays the difference between settler colonies and those colonized in their home territories. In its use of terminology like ›the oppressed,‹ ›the colonized peoples,‹ and ›the indigenous,‹ to describe postcolonial societies, the theory suppresses internal hierarchies and divisions in these societies. It does a great disservice to the minorities in these societies by deflecting attention away from their oppression by using a unitary vocabulary which, as Rey Chow suggests, confers ›subaltern‹ status on the entire postcolonial world (13) disregarding the fact that it is ridden with hierarchies.« (Mukherjee 1998: 18-9)

Ich teile Mukherjees Bedenken. Eine Definition des Postkolonialen, die so unterschiedliche Staaten wie Bangladesh und Singapur, die USA und Kuba in ein und derselben Kategorie zusammenfasst, täuscht über weltpolitische und wirtschaftliche Machtdifferenzen hinweg.5 Dementsprechend ist es inakzeptabel, die Unterschiede zwischen den Nachfahren der ehemaligen Kolonialherren und den Opfern kolonialer Unterdrückung zu ignorieren (vgl. ebd.: 18). Auch die Annahme, dass postkoloniale Literatur per se widerständig sei und sich primär am kolonialen Diskurs abarbeite, bleibt fragwürdig. Nicht zuletzt der gefeierte Nobelpreisträger Naipaul tritt in seinen essayistischeren Schriften selbst als Polemiker gegen angeblich ›rückständige‹ indigene kulturelle Praktiken auf.6 Am wesentlichsten für den vorliegenden Beitrag ist jedoch Mukherjees Beobachtung, dass in der Postkolonialen Theorie kaum auf interne Ausbeutungsmechanismen und Hierarchien in postkolonialen Nationen eingegangen wird. Die Postcolonial Studies können so der Heterogenität postkolonialer Gesellschaften nicht Rechnung tragen und laufen Gefahr, Elitendiskurse wie die postkoloniale Literatur mit der entsprechenden Gesellschaft 5 | Ashcrofts, Griffiths und Tiffins Definition des Postkolonialen zufolge wäre ein weißer, männlicher Wall-Street-Broker ein marginalisiertes postkoloniales Subjekt, da er einer postkolonialen Nation angehört; eine portugiesische Putzfrau müsste hingegen als eine spätgeborene Erbin einer Kolonialmacht angesehen werden. Desgleichen wären Indira Gandhi und eine Textilarbeiterin aus Bangladesh gleichermaßen als Third World subaltern women und Samuel Clemens ebenso wie Toni Morrison als postkoloniale AutorInnen zu sehen. 6 | Man denke nur an seinen frühen Indien-Reisebericht An Area of Darkness (1961) und an seine hoch problematischen Angriffe auf den Islam in Among the Believers (1981), um nur die prägnantesten Beispiele zu nennen.

96 | Miriam Nandi als Ganzes gleichzusetzen. Auf diese Weise werden jedoch diejenigen Teile der Gesellschaft, die sich aus politischen, ökonomischen oder kulturellen Gründen nur wenig Gehör verschaffen können, ignoriert. Marginalisiert oder ›subaltern‹ sind die postkolonialen Eliten allenfalls innerhalb eines westlichen, konservativen Universitätsmilieus, nicht jedoch innerhalb ihrer eigenen postkolonialen Nationen. Auch Aijaz Ahmad sprach sich in seiner 1992 erschienenen Polemik In Theory deutlich gegen eine naive Idealisierung der Third World Literature in der Postkolonialen Theorie aus: »›Third World Literature‹ was to be the narrative of authenticity, the counter-canon of truth, good faith, liberation itself. […] a Senegalese novel, a Chinese short story, a song from medieval India, could all be read into the same archive: it was all ›Third World‹. Marx was an Orientalist because he was European, but a Tagore novel, patently canonical and hegemonizing inside the Indian cultural context, could be taught […] as a marginal, noncanonical text, counterposed against ›Europe‹.« (Ahmad 1992: 197)

Wie in Ahmads und Mukherjees Texten deutlich wird, ist eine stärkere Kontextualisierung der Postkolonialen Theorie notwendig, damit Verallgemeinerungen vermieden werden können. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die postkoloniale Literatur und Theorie ihren subversiven Status als Ganzes einbüßen muss, beziehungsweise dass auf eine Analyse und Kritik des kolonialen Erbes verzichtet werden kann. Die indisch-englische Literatur und das bildungsbürgerliche Milieu, aus dem diese Literatur hervorgegangen ist, können nicht völlig unabhängig von der englischen Kolonialherrschaft betrachtet werden. Gleichzeitig muss man die hegemoniale Wirkung, die diese Literatur im binnenindischen Kontext hat, im Auge behalten. Daraus ergibt sich, dass stets zwei unterschiedliche Perspektiven möglich und notwendig sind: Zum einen müssen die Folgen des kolonialen Erbes für die Identität der postkolonialen Intellektuellen analysiert werden. Zum anderen muss der Heterogenität und der internen Hierarchisierung der postkolonialen Gesellschaft Rechnung getragen werden. Diese zwei Perspektiven sind zwar voneinander verschieden, verweisen jedoch jeweils aufeinander. Der Kolonialismus produziert, so soll der folgende Abschnitt zeigen, einen Bruch innerhalb der indischen Gesellschaft, der eine tiefe Identitätskrise zur Folge hat. Diese Identitätskrise wird jedoch nicht nur in Auseinandersetzung mit dem westlichen Anderen zu bewältigen versucht, sondern auch durch eine konfliktreiche, ambivalente Mischung aus Mythologisierung und Abwertung des subalternen Anderen.

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3. Koloniale Hegemonie und die Entstehung der postkolonialen Intellektuellen Die Kolonialherrschaft der Engländer in Indien stand auf einem weniger sicheren Fundament, als der Ton mancher Verfechter des Imperialismus vermuten ließe. Wie Homi K. Bhabha (2004) überzeugend dargelegt hat, bestand selbst während der Hochphase des Empire eine tiefe Verunsicherung in der Psyche der Kolonialmacht. Dies lässt sich nicht nur auf die gespaltene, ambivalente Struktur des kolonialen Diskurses zurückführen, auf die Bhabha zu Recht aufmerksam gemacht hat, sondern auch auf konkrete politische Spannungen, mit denen sich die Kolonialverwaltung auseinandersetzen musste. Gauri Viswanathan legt in ihrer Studie Masks of Conquest (1990) überzeugend dar, dass die englische Kolonialverwaltung in der Mitte des 19. Jahrhunderts an drei Fronten gleichzeitig zu kämpfen hatte: Es bestanden eine Reihe von Reibungen zwischen der East India Company und dem englischen Parlament; dazu kamen Konflikte zwischen Verwaltung und den christlichen Missionaren (vgl. Viswanathan 1990: 10). Desgleichen registrierten alle drei Gruppen Widerstände von Seiten der indischen Eliten und von Seiten der tribalen Landbevölkerung (vgl. u.a. Chatterjee 2000). Viswanathan erläutert, dass diesen Problemen mit einem politischen Kunstgriff begegnet wurde, der weitreichende Folgen für die indische und auch die englische Gesellschaft haben sollte. Die englische Kolonialverwaltung etablierte nach und nach englische Bildungsinstitutionen, in denen die Einheimischen nicht etwa platt auf die koloniale Ideologie oder auf das Christentum eingeschworen wurden, sondern in denen auf recht hohem Niveau englische Literatur vermittelt wurde (vgl. Viswanathan 1990: 2). Viswanathan erklärt überzeugend, weshalb die Hegemonie der Kolonialmacht ausgerechnet durch die Institutionalisierung der English Studies erreicht wurde. Religionsunterricht schied aus rein pragmatischen Gründen aus: Zu sehr fürchteten die Engländer, dass sich gläubige Hindus oder Moslems in ihren religiösen Gefühlen verletzt sehen könnten (vgl. ebd.: 26). Die Literatur hingegen hatte den Anstrich des ideologisch ›Neutralen‹, zugleich schrieb man ihr einen hohen intellektuellen und moralischen Wert zu. Durch die Etablierung der Auslandsanglistik konnte also dem Konflikt zwischen dem säkularen Anspruch, den die Kolonialverwaltung für sich reklamierte und dem christlichen Auftrag der Missionare auf effiziente Weise begegnet werden. Zwar bestand, so Viswanathan, nach wie vor ein Widerspruch zwischen den staatlichen und den christlichen Bildungsinstitutionen, die jeweils unterschiedliche Curricula entwarfen; dieser wurde jedoch

98 | Miriam Nandi durch die gemeinsame Annahme, dass die Vorherrschaft der Briten in Indien auf intellektuellem Wege gesichert werden müsse, weniger eklatant (vgl. ebd.: 46-61). Denn von der Überlegenheit der westlichen Kultur gegenüber der indischen waren beide Seiten zutiefst überzeugt. Viswanathan schreibt: »A vital if subtle connection exists between a discourse in which those who are to be educated are represented as morally and intellectually deficient and the attribution of moral and intellectual values to the literary works they are assigned to read.« (Ebd.: 4)

Das Neue, das Viswanathans Studie in die Postcolonial Studies hineinträgt, ist die Entdeckung, dass der orientalistische Diskurs, in dem das Wissen über den Anderen im Vordergrund steht, nur die eine Seite des Kolonialismus ist. Die andere Seite besteht in dem Versuch, den Anderen zu reformieren und zu zivilisieren, ihm seine Andersheit zu nehmen, um ihn gefügig und regierbar zu machen. Orientalismus geht also mit »Anglisierung« (»Anglicism« oder »Anglicization«, ebd.: 31) Hand in Hand. Die Alterisierung des Anderen im Diskurs des Orientalismus muss durch eine Gleichmachung im Diskurs der Anglisierung wieder aufgehoben werden. Diese dialektische Bewegung bleibt – hier würde ich Viswanathan widersprechen – nicht ohne Folgen für die indigene Bevölkerung. Wie Homi K. Bhabha gezeigt hat, bedeutet die Ambivalenz des kolonialen Diskurses für das Subjekt dieses Diskurses, dass es sich einem double bind ausgesetzt sieht: Es muss radikal anders bleiben, um das Überlegenheitsgefühl der Kolonialmacht nicht zu gefährden und sich doch als reformierbar und ›besserungswillig‹ erweisen. Das Subjekt des Kolonialismus muss, wie Homi K. Bhabha treffend schreibt, »fast, aber nicht ganz dasselbe« sein wie der Kolonialherr (»almost the same, but not quite«, 2004: 122). In diesem Zusammenhang ist wichtig zu erwähnen, dass die Kolonialverwaltung nie intendierte, die gesamte indische Bevölkerung nach westlichem Vorbild zu ›reformieren‹. In den zweifelhaften ›Genuss‹ der englischen Bildung sollte nur eine kleine Schicht kommen, die dann als Mittler zwischen Kolonialverwaltung und dem Gros der indischen Bevölkerung fungieren sollte. So schreibt der englische Historiker und Politiker Thomas Babington Macaulay in seiner berühmten Minute on Indian Education (1835): »It is impossible for us, with our limited means, to attempt to educate the body of the people. We must at present do our best to form a class of people who may be interpreters between us and the millions we govern, a class of

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persons, Indian in blood and colour and English in taste, in opinions, in morals, and in intellect.« (Macaulay 1972 [1835]: 249)

Dementsprechend sieht der indische Politologe Pavan Varma einen klaren Zusammenhang zwischen der Entstehung einer indischen intellektuellen Elite und der imperialen Präsenz der Engländer auf dem Subkontinent (vgl. Varma 1998: 2). Der Diskurs der Anglisierung, den Gauri Visnawathan so prägnant beschrieben hat, betraf, so Varma, in erster Linie die gebildete Oberschicht des Landes. Die Etablierung englischer Bildungsinstitutionen verlief nicht folgenlos für die indische Gesellschaft – im Gegenteil: Die von den Engländern angestrebte Anglisierung der Oberschichten verlief in weiten Teilen erfolgreich: »The creation of a native elite in its own image was the most spectacular and enduring achievement of British colonialism in India. […] the policy [of Anglicization] succeeded beyond the wildest hopes of Macaulay.« (Ebd.)

Varma führt diese Entwicklung auf den großen pragmatischen Vorteil, den eine englische Ausbildung für das aufstiegsbereite Bürgertum bot, zurück (vgl. ebd.: 2-4; im Folgenden: 4ff.). Englisch war die Eintrittskarte für eine Karriere in der Verwaltung und an den Gerichten sowie eine Möglichkeit, sich Anerkennung von den Kolonialherren zu verschaffen. Diese neue Schicht von mimic men, stellte eine Minderheit innerhalb der indischen Bevölkerung dar. Sie rekrutierte sich hauptsächlich aus der Oberschicht, die bereits über eine gute Bildung verfügte und sich durch das Durchlaufen einer englischen Bildungsinstitution zusätzlich qualifizierte. Der Rest der indischen Gesellschaft blieb, so Varma, von der Anglisierung weitgehend unberührt, was zu einer gewissen Entfremdung, beziehungsweise zu einer kulturellen Kluft zwischen den gebildeten Eliten und den unterprivilegierten Bevölkerungsschichten führte.7 Dabei entwickelte diese neue Elite ein ambivalentes Verhältnis zu ihrer Herkunftskultur. Einerseits übernahmen die gebildeten Inder das negative Fremdbild, das ihnen von den kolonialen Autoritäten zugeschrieben wurde und werteten somit 7 | Varmas Einschätzung, dass außer den ›Babus‹ kaum eine Bevölkerungsschicht von dem Diskurs der Anglisierung betroffen war, muss man nicht unbedingt teilen. Es ist jedoch plausibel, dass diejenigen Bevölkerungsgruppen, die eine englische Bildungsinstitution besuchten, einem wesentlich stärkeren Anpassungsdruck ausgesetzt waren, als jene Bevölkerungsschichten, die über keinerlei Schulbildung verfügten.

100 | Miriam Nandi alles, was als ›indisch‹ galt, mit Emphase ab. Andererseits bestand jedoch, so Varma, eine tiefe Abneigung gegen die englischen Unterdrücker, was wiederum eine Aufwertung bestimmter hinduistischer Traditionen mit sich brachte. Diese Ambivalenz manifestierte sich am deutlichsten in den hinduistischen Reformbewegungen wie der Brahmo Samaj und der Arya Samaj. Die Vertreter der sogenannten Hindu Renaissance8 werteten die ›indische Spiritualität‹ nicht nur gegenüber dem westlichen Rationalismus auf, sie betrachteten eine hinduistisch-spirituell orientierte Lebenshaltung letztlich auch als die moralisch und politisch wertvollere. Spiritualität wurde – wie Sandra Hestermann pointiert formuliert – als »Allheilmittel« für alle erdenklichen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme angesehen, mit denen sich die Menschheit auseinandersetzen muss (vgl. Hestermann 2003: 68). In diesem Sinne verstanden die Vertreter der Hindu Renaissance den Hinduismus als Mutter aller Religionen, als »umbrella religion«, die alle anderen Glaubensrichtungen unter sich vereinen könne (vgl. Nandy 1983; King 1999). Doch dieser »affirmative Orientalismus« (Nandy 1983) täuscht nicht darüber hinweg, dass die Hindu Renaissance wesentlich tiefer vom westlich-christlichen Denken beeinflusst war, als der Name vermuten ließe. Schon allein die Tatsache, dass der Hinduismus in diesem Diskurs als zentral organisierte und normativ weitgehend homogene Religion erscheint, beruht auf einem christlichen Verständnis von religiöser Praxis. Auch die fast schon »militante« Aufwertung der Veden, die die Protagonisten der Arya Samaj betrieben, lässt auf den Einfluss einer christlichen Erziehung schließen (Varma 1998: 3): Während der Hinduismus traditionell eher pluralistisch ausgelegt wird und eine Vielzahl an heiligen Schriften zulässt, versuchte die Arya Samaj eine einzige »Quelle der Weisheit« zu etablieren, eine Art hinduistische Bibel (vgl. ebd.). Zudem läuft der missionarische Eifer der Reformer, der in der Ausrufung eines »Weltparlaments der Religionen« unter der Schirmherrschaft der Hindus gipfelte, der Selbstgenügsamkeit zuwider, mit der der Hinduismus traditionell assoziiert wird, und scheint vielmehr eine Mimikry der englischen Missionstätigkeit zu sein als eine Renaissance der hinduistischen Religion. Aus diesen Gründen liegt es nahe, die Hindu Renaissance als einen Identitätsdiskurs zu betrachten, in dem eine Ambivalenz aus

8 | Die bekanntesten hinduistischen Reformer sind Raj Rammohan Roy (1772-1833), Swami Vivekananda (1863-1902) und Swami Dayanand Saraswati (1824-83).

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»appropriation« und »abgrogation«,9 aus der Aneignung und Übernahme von westlichen Philosophien und deren Ablehnung bestand. Wesentlich ist hierbei, dass die hinduistischen Reformbewegungen an eine kulturell hybride Oberschicht gebunden waren, die englische Bildungsinstitutionen durchlaufen hatte und so westliche Normen und Praktiken gut genug kannte, um sie übernehmen, beziehungsweise sich von ihnen abgrenzen zu können. Obgleich politisch unterdrückt, gehörten diese Intellektuellen aufgrund ihrer Bildung und Herkunft zu den privilegiertesten Schichten des Subkontinents. Auch die Bildung des Indian National Congress, der zum wesentlichen Movens der indischen Unabhängigkeitsbewegung wurde, lässt sich in diesem Kontext verorten. So schreibt Jawaharlal Nehru in seiner Autobiographie: »My politics had been those of my class, the bourgeoisie.« (Nehru 1955: 48) Damit sieht er sich keinesfalls als Ausnahmeerscheinung: »It [a session of the Congress in 1912] was very much an English-knowing upper-class affair where morning coats and well-pressed trousers were greatly in evidence.« (Ebd.: 27) Erst durch Gandhis Engagement und seiner »Identifi kation« mit den Unterprivilegierten sei die nationalistische Bewegung zu einem Massenphänomen geworden, erklärt Varma (vgl. 1998: 9). Ob eine solche Identifi kation von den »Massen« gewünscht war, bleibt allerdings fraglich. Vielmehr wird gerade in der Figur des Mahatma deutlich, dass die Unabhängigkeitsbewegung in erster Linie ein Elitendiskurs war, beziehungsweise unter der Hegemonie der oberen Schichten stattfand (vgl. hierzu auch Kumar 1993). Wie Shahid Amin, Mitbegründer des Subaltern Studies Collective, überzeugend dargelegt hat, kann man Augenzeugenberichten zu verschiedenen Auftritten des Mahatma entnehmen, dass Gandhi zwar durchaus von den »Massen« verehrt wurde; seine Zuhörer betrachteten Gandhi jedoch innerhalb eines spirituell-mythologischen und nicht eines politisch-nationalistischen Bezugsrahmens, wie Amin anhand einer Versammlung in Gorakpur, im Zuge derer Gandhi sich besonders an ein unterprivilegiertes Publikum richtete, zeigt (vgl. Amin 1985: 4). Die politische Rhetorik erreichte die unteren Schichten nicht; im Gegenteil, sie kodierten den Diskurs des bürgerlichen Nationalismus auf ihre eigene Weise um: Gandhi wurde so als eine der Inkarnationen Vishnus gesehen, nicht jedoch als politischer Umstürzler, der das Land von den Engländern befreien würde. Trotz ihrer offensichtlichen ideologischen Eigenständigkeit gegenüber dem bürgerlichen Intellektuellenmilieu wurden die unteren Schichten nicht als eigenständige Stimmen innerhalb des na9 | Vgl. hierzu Ashcroft/Griffith/Tiffi n (1989: 38-41).

102 | Miriam Nandi tionalistischen Diskurses wahrgenommen, sondern eben als Anhänger Gandhis, als »devotees«, deren Funktion darin bestand, Gandhis Projekt zu affirmieren und zu legitimieren: »To behold the Mahatma in person and become his devotees were the only roles assigned to them [the peasants], while it was for the urban intelligentsia and full-time party activists to convert the groundswell of popular feeling into an organized movement.« (Amin 1985: 4)10

In diesem Zusammenhang fällt ins Auge, dass die Autonomisierung des indischen postkolonialen Intellektuellenmilieus nicht nur als ein Abgrenzungsprozess gegenüber der englischen Kolonialmacht gedeutet werden kann, sondern auch als eine Entfremdung gegenüber dem Rest der indischen Gesellschaft. Die Rückbesinnung auf ›indische‹ Traditionen ist daher nicht im Sinne einer Rückkehr zu einer tatsächlichen Vergangenheit oder einer Wiederherstellung etwas tatsächlich Gewesenen zu verstehen, sondern als Konstruktion. Die Verbindung der intellektuellen Eliten zu den ›einfachen Menschen‹, zum ›wirklichen Indien‹, dem weniger anglisierten, dem dörflichen und traditionellen Indien wurde, wenn es denn je vorhanden war, im Zuge der Anglisierungspolitik unwiderruflich gekappt. Damit bringt die Widerständigkeit gegenüber dem englischen Kolonialherren unmerklich auch eine tiefe Entfremdung gegenüber der großen Mehrheit der indischen Bevölkerung mit sich (vgl. Khair 2001). Die Hegemonie des urbanen Intellektuellenmilieus setzte sich auch nach der Unabhängigkeit fort, obgleich sich die Nehru-Regierung für eine egalitäre Gesellschaft einsetzte. Gandhis Forderung nach einer Schule in jedem Dorf konnte bis heute nicht umgesetzt werden – nach wie vor hat Indien um die 350 Millionen Analphabeten – und Nehrus quasi-sozialistische Wirtschaftspolitik, in der teilweise sogar Enteignungen nach dem chinesischen Modell vorgesehen waren, lief ins Leere. Den besitzlosen Landarbeitern wurden felsige Parzellen zugewiesen, die sich nicht bewirtschaften ließen (vgl. Varma 1998: 50-3).11 Desgleichen erwies sich das koloniale Erbe der Briten als hartnäckiger Bestandteil des Geisteslebens. Die englische Sprache blieb die Sprache der gebildeten Eliten; Rationalität, Wissenschaft und technischer Fortschritt wurden in den Intellektuellenmilieus als we10 | Zu den Subaltern Studies vgl. auch den Beitrag von Türkmen in diesem Band (A.d.H.). 11 | Eine gut lesbare Darstellung der wirtschaftlichen Verhältnisse des modernen Indiens findet sich bei Sen/Drèze (1996).

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sentliche Elemente eines »modernen Indiens« gefeiert, religiöse Traditionen und eine enge Anbindung an die Großfamilie wurden als vormodern abgelehnt (vgl. Varma 1998: 56). Zu dieser Internalisierung westlicher Bildungs- und Fortschrittsideale, die teilweise mit einer deutlichen Ablehnung ›indischer‹ Traditionen einherging, trat jedoch in der Nehru-Ära ein erstarkendes Interesse an der prä-kolonialen Vergangenheit, die wiederum nostalgisch herbeigesehnt beziehungsweise triumphal gefeiert wurde. Die Ambivalenz, von der die Hindu Renaissance-Bewegung geprägt war, schreibt sich also auch im postkolonialen Indien fort. Einerseits besteht ein Unterlegenheitsgefühl gegenüber dem Westen, das man durch Nachahmung des westlichen Lebensstils zu bewältigen versucht, andererseits werden jedoch als ›typisch indisch‹ geltende Traditionen beschworen und gefeiert. Varma beobachtet in diesem Zusammenhang zwei unterschiedliche Perspektiven, die sich in der Ideologie der gebildeten Schichten manifestieren (vgl. ebd.: 34f.). Der Versuch, die indische Gesellschaft zu einer ›modernen‹, industrialisierten Gesellschaft umzustrukturieren, richtet sich auf die Zukunft, während sich das neue Geschichtsbewusstsein auf die Vergangenheit richtet. Die Geschichte wird dabei gleichsam zu einem Modell für die Zukunft – ›wir sind schon immer modern gewesen‹, so scheint das Motto des postkolonialen Indiens zu lauten: »A belief in a once great India enabled the educated middle-class Indian to overreach his immediate past and seek confidence and reassurance in an idealized remote. This quantum jump reinforced his desire to take India forward so that it could resurrect its past greatness. In this endeavor he perceived the primacy of his role as self-evident: for he was educated, culturally literate if not accomplished, and, above all, conscious of the heritage which needed to be re-invoked. His claim, therefore, of being the chief spokesman of India’s past was valid, and little more needed to be done to reevaluate or question this interpretational monopoly.« (Varma 1998: 34f.)

In Varmas Analyse des indischen Nationalismus fällt ein Aspekt ins Auge, den Varma selbst nicht weiter thematisiert: Er verwendet durchgehend das männliche Personalpronomen, wenn er über »gebildete Inder aus der Mittelschicht« (»educated middle class Indian«) spricht. Damit wiederholt er eine Geste, die den nationalistischen Diskurs des postkolonialen Indiens prägt (vgl. hierzu auch Radhakrishnan 1992; Chatterjee 1993; Sunder-Rajan 1993). Die Architekten des modernen Indiens gehören einerseits, wie Varma überzeugend darlegt, einem gebildeten, bürgerlichen Milieu an, andererseits sind sie jedoch auch

104 | Miriam Nandi in erster Linie männlichen Geschlechts. Frauen und ›Dalits‹12 bleiben aus dem Diskurs des modernen Indiens ausgeschlossen. Die indische Nation hingegen wird mit einer Muttermetapher gefasst. In der Imagination männlicher Intellektueller wird Indien zu Bharat Mata (»Mutter Indien«), während die tatsächlichen indischen Frauen auch im postkolonialen Indien massiven Diskriminierungen ausgesetzt sind.13 Auch Nehru verwendet diese Metapher in seiner Autobiographie. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass Weiblichkeit beziehungsweise Mutter-Sein mit Armut, Degradierung und Tapferkeit auf eigentümliche Weise verknüpft zu sein scheinen: »And yet India with all her poverty and degradation had enough of nobility and greatness about her. Behind and within her battered body one could still glimpse the majesty of her soul. Through long ages she had travelled and gathered much wisdom on the way, and trafficked with strangers and added them to her own big family and witnessed days of glory and decay […] but throughout her long journey she had clung to her immemorial culture, drawn strength and vitality from it, and shared it with other lands.« (Nehru 1955: 429)

Die indische Nation wird hier als eine von Armut und Unterdrückung heimgesuchte Frau dargestellt, deren geschundener Körper jedoch nicht über die Größe ihrer Seele hinwegtäuschen sollte. Die arme, von Elend heimgesuchte Frau, die die Personifizierung Indiens ist, zerbricht nicht an ihrem schweren Schicksal, sondern entwickelt daraus eine besondere Stärke, Weisheit und Vitalität. Nehru idealisiert hier nicht nur die indische Nation, das primum comparadum der Metapher, 12 | Der Begriff ›Dalit‹ stammt aus dem Marathi und bedeutet etwa »die Unterdrückten«. Es ist eine Selbstbezeichnung der »scheduled castes and tribes«, also jener Menschen, die am untersten Ende der Kastenhierarchie stehen und früher als ›Unberührbare‹, beziehungsweise von Gandhi als ›harijan‹ (Kinder Gottes) bezeichnet wurden. Beide Bezeichnungen lehnen die Dalit als entwertend beziehungsweise herablassend ab (vgl. Fuchs 1999: 174). 13 | Die Alphabetisierungsquote bei Männern und Frauen klaff t nach wie vor auseinander; von 5000 Föten, die in Indien abgetrieben werden, sind 4999 weiblich; Mitgift wird bei weiten Teilen der Bevölkerung mit Vehemenz praktiziert; die Wiederverheiratung von Witwen ist zwar schon lange legal, von diesem Recht machen jedoch nur wenige Frauen Gebrauch – aus Angst vor sozialer Ächtung (vgl. Kumar 1993; Bumiller 1991).

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sondern auch Weiblichkeit und Elend, das secundum comparatum, aus der sich seine Assoziationen speisen. Der Diskurs des männlichen, bürgerlichen Nationalismus romantisiert gerade jene Menschen, die aus diesem Diskurs ausgeschlossen sind – die Frauen und die zahlreichen unterprivilegierten Schichten des postkolonialen Indiens. Frauen und Dalit dienen als Interpretationsreservoir, als mythischer Stoff, aus dem die Zukunftsträume und die in die Vergangenheit gerichteten nostalgischen Sehnsüchte des bürgerlichen Nationalismus gewebt sind; über das Interpretationsmonopol hingegen verfügten unter Nehrus Regentschaft in erster Linie männliche Intellektuelle (vgl. hierzu auch Ray 2001).14 14 | Selbst Spivak, die immer wieder davor gewarnt hat, das kultu-

rell hybride MigrantInnenmilieu mit dem subalternen Anderen gleichzusetzen, und die auf die Heterogenität der postkolonialen Gesellschaften hingewiesen hat, reproduziert in manchen Texten eine romantisierende, nostalgische, man möchte fast sagen melancholische Rhetorik, die die tiefe Entfremdung zwischen dem gebildeten Intellektuellenmilieu und dem ›anderen Indien‹ zum Ausdruck bringt, wie die folgenden Passage aus »French Feminism in an International Frame« verdeutlicht: »I am walking alone in my grandfather’s estate on the Bihar-Bengal border one winter afternoon in 1949. Two ancient washerwomen are washing their clothes in the river, beating the clothes on the stones. […] I should not […] romanticize these women, nor yet entertain a nostalgia for their being as they are. The academic feminist must learn to speak to them, to suspect that their access to the political and sexual scene is not merely to be corrected by our superior theory and enlightened compassion.« (Spivak 1981: 155f.) Obgleich Spivak darauf besteht, dass sie subalterne Frau nicht »romantisieren« möchte, ist doch der sehnsüchtige, fast andächtige Ton in ihrem Text nicht zu überhören: Wir, privilegierte Akademikerinnen, müssen lernen, auf die Stimme dieser Frauen zu hören. Überlegenheitsdenken steht uns nicht zu, im Gegenteil, Spivak legt nahe, dass wir diesen Frauen mit Respekt, wenn nicht sogar mit ausgesprochener Demut begegnen sollten. Spivak hat auch in späteren Texten vielfach darauf insistiert, dass die Stimme der Anderen Frau für ›uns‹ nicht mehr vernehmbar ist (vgl. Spivak 1988, 1999: 198). Das folgende Zitat verdeutlicht, dass dieser Verlust nicht nur als strukturelles Phänomen gekennzeichnet, sondern auch mit einer gewissen Wehmut und Trauer in Verbindung gebracht wird: »Among Indian Aboriginals, I know a very small percentage of a small percentage that was ›denotified‹ in 1952. These forest-dwelling tribals, defi ned by the British as ›criminal tribes‹, had been left alone not just by the British, but also by the Hindu and Muslim civilizations of India. They are not ›radicals‹. But

106 | Miriam Nandi Dies änderte sich nur wenig, als nach Nehrus Tod im Jahre 1964, dessen Tochter Indira Gandhi Premierministerin wurde. Vielmehr machte sich Indira Gandhi mit bemerkenswerter Skrupellosigkeit die Muttermetapher des indischen Nationalismus zu Nutze (vgl. Sunder-Rajan 1993). Mit dem Slogan »Indira is India – India is Indira« brachte sie auch bei wachsender Unzufriedenheit über ihre repressive Politik zahlreiche WählerInnen auf ihre Seite und zementierte dadurch gleichzeitig die assoziative Verbindung zwischen der indischen Nation und dem weiblichen Geschlecht. Ihre Notstandsgesetze (»Emergency«), die 1975 in Kraft traten und zahlreiche Bürger- und Menschenrechte verletzten, sowie der Krieg mit Pakistan, der 1971 zur schmerzhaften Teilung des Nachbarstaates führte, hatten eine drastische Desillusionierung der Intellektuellen zur Folge (vgl. Varma 1998: 70-87). Dadurch intensivierte sich die Verherrlichung der indischen Vergangenheit in indischen Elitediskursen, denn eine Flucht in die Fiktion einer glorreichen Geschichte bot, so Varma, eine gewisse ideologische Sicherheit, die im tagespolitischen Geschehen nicht mehr verankert werden konnte (vgl. ebd.: 77f.). Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich eine wachsende Indifferenz gegenüber den unteren Schichten verbreitete. Zwar startete Indira Gandhi offiziell ein breit angelegtes Programm zur Bekämpfung der Armut; dieses muss jedoch im historischen Rückblick als zynischer Populismus bezeichnet werden.15 Mit dem Slogan »Garibi Hatao« – »Bekämpft die Armut« gewann Gandhi 1971 erneut die Wahlen (vgl. ebd: 81). Doch statt ökonomische Umverteilung oder Alphabetisierungsprogramme durchzusetzen, ließ sie unter Militäreinsatz die Slums der Großstädte because they (unlike the larger ethnic groups) were left alone, they conform to certain cultural norms, thinking like us, that culture is nature, and instantiate certain attitudes that can be extremely useful for us, who have lost them in our global predicament. « (Ebd.: 385; Herv. der Autorin). Nicht zuletzt spricht Spivak auch immer wieder von der Notwendigkeit, unsere Privilegien als unseren Verlust zu verlernen (»unlearning our privileges as our loss«, 1990: 42). Die Trauer um diesen Verlust prägt das Bild der subalternen Anderen, das in indischen Elitediskursen entworfen wird, auf ganz entscheidende Weise (vgl. hierzu Nandi 2007). 15 | Fanon beobachtet in den französischen Kolonien ein ähnliches Phänomen. So greift er in The Wretched of the Earth die einheimischen Eliten scharf an: »[…] [T]he unpreparedness of the elite, the lack of practical ties between them and the masses, their apathy and, yes, their cowardice at the crucial moments in the struggle are the cause of tragic trials and tribulations.« (Fanon 2004 [1963]: 97)

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räumen und Zwangssterilisationen durchführen. Die Gandhi-Regierung bekämpfte die Armen, nicht jedoch die Armut. Dies geschah ohne wesentlichen Protest von Seiten der kritischen Intellektuellen. Abgesehen von der Jayaprakash Narayan-Bewegung, die der sozial sensibilisierten Politik des Mohandas Gandhi sowie dem Nehru-Sozialismus zu einer Renaissance verhelfen wollte, gab es von Seiten der Intellektuellen keine Opposition gegen Indira Gandhi.16 Nach der brutalen Niederschlagung des von Jayaprakash Narayan gemeinsam mit den Gewerkschaften initiierten Bahnarbeiterstreiks und dem Inkraftreten der Notstandsgesetze verschwand auch diese Bewegung spurlos von der öffentlichen Bühne. Eine gesellschaftliche Großgruppe profitierte allerdings von Indira Gandhis Politik: die Mittelschicht. Lockerungen im Kreditwesen ermöglichten die Gründung von zahlreichen Kleinunternehmen, deren Betreiber nun auch an dem Wohlstand teilhaben konnten, der noch vor 20 Jahren für die bildungsbürgerliche Elite, für Staatsbedienstete und Agrarfürsten vorbehalten gewesen war. Im privaten Sektor entstanden zudem weitere Arbeitsplätze für Menschen, die eine gewisse Bildung sowie Aufstiegswillen besaßen. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre bildete sich eine breitere Mittelschicht heraus, die – gemessen an indischen Standards – über einen akzeptablen Reallohn und eine gewisse Kaufkraft verfügte (vgl. ebd.: 90-94). Die Preissteigerungen, die aus der Erhöhung der Kauf kraft resultierten, schadeten jedoch den unteren Schichten erheblich. Es kam zu Überfällen auf Lebensmitteltransporte, den sogenannten »food riots«, wodurch sich die Kluft und die Feindseligkeit zwischen den privilegierteren Schichten und den unteren Schichten verstärkten. Inzwischen ist die Stimmung in der stetig anwachsenden Mittelschicht wesentlich optimistischer geworden. Die Liberalisierung der Wirtschaftspolitik, die zu Beginn der 1990er Jahre unter Narasimha Raos Finanzminister Manmohan Singh durchgesetzt wurde, trägt ihre Früchte: Je nach Art der Zählung wird die Mittelschicht auf 200 16 | Auch von Seiten der unteren Schichten gab es keinen landesweit organisierten Widerstand. In West-Bengalen formierte sich jedoch in den späten 1960er Jahren die sogenannte »Naxaliten-Bewegung«, benannt nach dem Dorf Naxalbari, in der die Bewegung ihren Ausgang nahm. Es handelte sich hier um eine Koalition aus Landarbeitern und der indischen Stammesbevölkerung, die sich selbst »Adivasi« (»erste Bewohner«) nennen. Die Naxaliten forderten eine radikale Bodenreform nach chinesischem Vorbild. Ihr Aufstand wurde 1971 von der Regierungsarmee auf brutale Weise niedergeschlagen (vgl. Singh 1995).

108 | Miriam Nandi bis 500 Millionen Personen geschätzt (vgl. ebd.: 170). Die konservative, aber wirtschaftsliberale BJP (Bharatya Janata Party) Regierung, die 1996 die Wahlen gewann und bis vor wenigen Jahren an der Macht war, hielt den Liberalisierungskurs, wovon erneut die Mittelschicht erheblich profitierte. Gleichzeitig verschwand, so Varma, das Indien der unterprivilegierten Schichten fast völlig aus dem Bewusstsein der stets wachsenden, konsumfreudigen Mittelschicht. Als symptomatisch hierfür erachtet Varma, dass Armutsbekämpfung nicht mehr auf der Prioritätenliste der Regierenden stünde. In den späten 1990er Jahren gab die indische Regierung jährlich neun Dollar pro Kopf für Grundschulbildung aus – das von der Asienkrise erschütterte Malaysia hingegen investierte in dem gleichen Zeitraum jährlich 128 Dollar pro Kopf für eine basale Bildung (vgl. ebd.: 188ff.). Die Indifferenz gegenüber den sozial schwächeren Schichten ging Hand in Hand mit einem Erstarken des hinduistisch kodierten Nationalismus. Zu Beginn der 1990er Jahre häuften sich Gewaltaktionen gegen Muslime, die von der ultra-rechten Gruppierung Shiv Sena ideologisch vorbereitet und teilweise sogar organisiert wurden. Die BJP spielt ebenfalls bis zum heutigen Tag mit anti-muslimischen Parolen. Zudem nahm sie verstärkt Einfluss auf die Curricula in den sozialwissenschaftlichen Schulfächern, wodurch nationalistisches Denken Eingang in den Unterricht fand. Im Zuge dessen verschwand die muslimisch dominierte Epoche der indischen Geschichte fast vollständig aus den Schulbüchern. Zur Ideologie der BJP gehörte auch ein überaus konservatives Frauenbild, das sich durch Reinheit, Mütterlichkeit und Unterwürfigkeit auszeichnet. Die Errungenschaften der indischen Frauenbewegung wurden dadurch zwar nicht rückgängig gemacht, jedoch wurden weitere Entwicklungen erheblich verzögert. Das bis zum heutigen Zeitpunkt anhaltende Erstarken der hindunationalistischen Bewegung zeigt sich nicht zuletzt auch in der Zelebrierung einer idealisierten Vergangenheit in den Medien. So strahlt das staatliche Fernsehen seit Mitte der 1990er Jahre häufiger als zuvor Verfi lmungen von klassischen hinduistischen Epen oder Mythen aus, in denen der Glanz und die Größe der ›hinduistischen Nation‹ gefeiert werden. Diese Hinwendung zu einer idealisierten Vergangenheit geht mit Optimismus und einem erstarkten Selbstbewusstsein der neuen Mittelschicht einher. Auch diese beiden Aspekte werden in den Medien beinahe täglich bestätigt. Ich zitiere nur ein Beispiel von vielen: »We have the brains to work the world’s computers, the NASA thingies, do the deals for everyone from Cairo to Canada through our call centres, and we are the only people who can put together a road roller from bits and pie-

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ces, literally from scratch. […] We have great tolerance, even for intolerance. […] We are the world’s largest democracy, and despite everything else, we are doing a better job than the US of A. Our middle class is taking us into the developed country bracket. If only it can stay classy, and add on to human values, we have it made. JAI HIND [»Es lebe Indien«].« (Saran 2004: 162; Übers. der Autorin; Herv. im Originaltext)

Das Zitat, das einer Kolumne der indischen Frauenzeitschrift Femina entnommen ist, zeugt von einem triumphalen Patriotismus, der an die Mittelschicht gebunden zu sein scheint. Wie schon zu Nehrus Zeiten wird der Mittelschicht die Rolle zugeschrieben, Indien in die kapitalistische Moderne zu führen. Gleichzeitig werden ›typisch indische‹ Fähigkeiten oder Werte beschworen, wie beispielsweise Toleranz oder Improvisationsfähigkeit, in der sich – so legt die Autorin nahe – eine Überlegenheit gegenüber dem Westen manifestiert. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch in dem rhetorischen Seitenhieb auf die USA. Das Spiel zwischen »appropriation« und »abrogation«, das heißt die Aneignung von westlichen Werten wie Demokratie und wissenschaftlicher Forschergeist bei gleichzeitiger Ablehnung von westlichem Überlegenheitsdenken, das postkoloniale Diskurse kennzeichnet, kommt hier besonders deutlich zum Ausdruck. Gleichzeitig wird jedoch das ›andere Indien‹ in Sathya Sarans Kolumne an den Rand gedrängt. Es erscheint als unwesentlicher Schönheitsfehler in einem sonst makellosen modernen, postkolonialen Indien. Zwar fordert sie, dass sich die Mittelschicht auch auf »menschliche Werte« konzentrieren solle, und kritisiert an anderer Stelle, dass es nach wie vor Hungertote in Indien gebe. Sie ist jedoch voller Hoffnung, dass eine aufgeklärte, progressiv orientierte Mittelschicht Indien ins Jahr 2004 (die Kolumne erschien in der Neujahrsausgabe der Zeitschrift) führen könne. Worin diese »menschlichen Werte« bestehen könnten und wieso diese »Entwicklung« einzig von den privilegierteren Schichten ausgehen sollte, bleibt offen. In Sarans Kolumne zeigt sich eine Reihe von Phänomenen, die für die neue Mittelschicht charakteristisch sind. Als erstes ist der Patriotismus zu nennen, der zusammen mit der wirtschaftsliberalen Politik und den neuen Konsummöglichkeiten das ideologische Vakuum zu füllen scheint, das durch den Verlust moralischer Autoritäten wie Gandhi und den Wegfall traditioneller Bindungen entstanden ist. Dass durch die liberale Wirtschaftspolitik jedoch nicht die allgemeinen Lebensbedingungen verbessert wurden, sondern lediglich ein Teil der Bevölkerung davon profitierte, bleibt eine offene Wunde im sozialen Gewissen dieser neuen Schicht, über die nur in Andeutungen gespro-

110 | Miriam Nandi chen werden kann. Das ›andere Indien‹ bleibt auch aus dem Diskurs der neuen Mittelschicht weitgehend ausgeschlossen. Darüber hinaus ist das ambivalente Verhältnis der indischen Mittelschicht zum Westen zu nennen. Die Aneignung westlicher Lebensstile und Konsumfreude geht einher mit einer dezidierten Ablehnung der vermeintlichen Überlegenheit westlicher Normen und Praktiken. »Abrogation« und »appropriation« stehen definitiv auf der ideologischen Tagesordnung der stets anwachsenden indischen Mittelschicht; ebenso jedoch auch eine gefährliche Marginalisierung des Anderen innerhalb der indischen Nation – der Muslime sowie anderer religiöser Minderheiten, der Dalit und der Frauen.

4. Die Sozialdeterminiertheit postkolonialer Intellektueller – theoretische und empirische Anschlussmöglichkeiten Wie in den vorangegangenen Abschnitten gezeigt wurde, entsteht im Zuge der Anglisierungspolitik der englischen Kolonialherrschaft ein tiefer Bruch in der indischen Gesellschaft zwischen dem anglisierten (inzwischen wohl auch globalisierten), gebildeten, ökonomisch abgesicherten Intellektuellenmilieu und dem ›anderen‹ Indien, in dem Kastenhierarchien noch wirksam und Ausbeutung, Armut und Analphabetismus noch weit verbreitet sind. Die Entstehung einer neuen Mittelschicht, die inzwischen etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmacht, hat diesen Bruch nicht etwa rückgängig gemacht, sondern fast noch verschärft – während unter Gandhi und Nehru Armut zumindest wahrgenommen und thematisiert wurde, wird der öffentliche Diskurs inzwischen von der nicht unverständlichen, aber doch einseitigen triumphalen Selbstinszenierung der aufstiegsorientierten Mittelschicht dominiert. Es wäre sicherlich vereinfacht von einer vollständigen Homologie zwischen der Verortung der postkolonialen Intellektuellen im sozialen Raum einerseits und deren Schaffen andererseits auszugehen. Ebenso falsch wäre jedoch der Umkehrschluss, dass die postkoloniale Intelligenz »freischwebend« (Mannheim) und von ihrer sozialen Herkunft unbeeinflusst ist. Es könnte sich für die postkoloniale Soziologie als fruchtbar erweisen, sich eingehend mit der sozialen Verortung der postkolonialen Intellektuellen auseinanderzusetzen. Hier könnte empirisch analysiert werden, was mir als Literaturwissenschaftlerin nur durch Textlektüre, beziehungsweise theoretisch-heuristisch möglich ist. So wäre zu überlegen, ob sich Pierre Bourdieus Beiträge zur Intellektuellenso-

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ziologie gegebenenfalls für eine Soziologie der postkolonialen Intelligenz eignet, ob sich beispielsweise das Konzept des »intellektuellen Feldes« auch auf den indischen, beziehungsweise andere, wie dem lateinamerikanischen Kontext anwenden lässt (vgl. hierzu Bourdieu 1988). Interessant wäre auch eine Analyse der Art und Weise, wie sich postkoloniale Intellektuelle in den intellektuellen Feldern der westlichen, insbesondere der amerikanischen Universitäten positionieren, beziehungsweise diese mit ihrem ›Habitus‹ auch verändern. Da das amerikanische Universitätssystem weitaus wirtschaftsnäher funktioniert als das deutsche, gibt es eine große Spannbreite an Möglichkeiten, wie postkoloniale Intellektuelle im sozialen Raum situiert sein können – vom ›assistant professor‹ an einer Provinzuniversität, der für ein nicht eben üppiges Salär quasi ausschließlich in der Lehre eingesetzt wird und bei jeder mäßigen Evaluation um seinen Job fürchten muss, bis zu den akademischen Superstars Bhabha und Spivak, die neben Spitzengehältern und hierzulande fast unvorstellbaren Freiräumen für ihre Forschung auch über ein außerordentlich hohes »symbolisches Kapital« verfügen. Bourdieus Theorie wäre auch insofern für eine Soziologie postkolonialer Intelligenz interessant, als Bourdieu den Universalitätsanspruch gängiger Sozialtheorien bereits sehr früh in Frage gestellt hat (vgl. Bourdieu 1970: 7-41) und nur »partielle Theorien des Sozialen« (ebd.: 9) zu entwerfen versucht.17 Umgekehrt ist freilich auch Bourdieus eigene Auseinandersetzung mit dem kulturell Anderen (vornehmlich seine Studien zu den Kabylen) vor dem Hintergrund des französischen Kolonialismus kritisch zu rekapitulieren (vgl. hierzu auch Puwar in diesem Band). Eine solche dialektische Hermeneutik zwischen reflexiver und postkolonialer Soziologie wür17 | In diesem Zusammenhang kann nicht unerwähnt bleiben, dass Bourdieu hier widersprüchlich bleibt. Einerseits macht er deutlich, dass ›Wahrheit‹ für ihn stets etwas historisch Gewordenes, mehr noch, ein Ergebnis von Kämpfen ist. Anderseits argumentiert er, dass es gesellschaftliche Kommunikationsformen gebe, die bei der Herstellung des Universellen förderlich seien (vgl. Bourdieu/Dölling 1991: 51): »Indem sie [die reflexive Soziologie] die sozialen Determinierungen zutage fördert, die vermittels der Logik der Produktionsfelder auf allen kulturellen Produktionen lasten, zerstört die Soziologie keineswegs ihre Fundamente, sondern erhebt vielmehr Anspruch auf ein epistemologisches Privileg: dasjenige, was ihr aus der Tatsache erwächst, dass sie ihre eigenen Einsichten und Errungenschaften in Form einer soziologisch verstärkten Wachsamkeit wieder in die wissenschaftliche Praxis einbringen kann.« (Bourdieu 1988: 11)

112 | Miriam Nandi de das Problem der Sozialdeterminiertheit des intellektuellen Tuns zwar nicht aus der Welt schaffen, oder gar neue Universalitäts- oder Absolutheitsansprüche legitimieren (das ist letztlich auch nicht nötig); sie kann jedoch den Blick für das Andere innerhalb der postkolonialen Nation schärfen, für mehr politische Sensibilität und nicht zuletzt für mehr Vielfalt und Vielstimmigkeit im postkolonialen Diskurs sorgen.

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Biographieforschung im Lichte postkolonialer Theorien Helma Lutz

»Je mehr das gesellschaftliche Leben durch die globale Vermarktung von Stilen, Räumen und Vorstellungen, durch internationale Reisen, global vernetzte Medienbilder und Kommunikationssysteme vermittelt wird, desto mehr lösen sich Identitäten von besonderen Zeiten, Orten, Vergangenheiten und Traditionen – sie werden entbunden und erscheinen frei flottierend.« (Hall 1994a: 212)

Der britische Sozialwissenschaftler Stuart Hall, der zu den Hauptakteuren der Cultural Studies gehört, hat in zahlreichen Texten die These vertreten, dass sich spätmoderne Subjektivität durch die Fragmentierung und Dezentrierung der Identität auszeichne (Hall 1994a, b, c, 2000). Die Verflüssigung traditioneller Identitätstheorie ermöglicht es, laut Hall, Identitäten als »dezentrierte Positionierungen« zu betrachten (vgl. auch Supik 2005). In einem solchen Kontext können Migrationsprozesse und migrantische Identitätsentwicklungen nicht mehr als Anormalität aufgefasst werden, sondern als Prototypen von Heterogenität, die dem polyphonen Charakter der sich durch Globalisierung und Migration verändernden Gesellschaften Rechnung tragen (vgl. auch Apitzsch 2004). Eine vergleichbare Argumentationsweise findet sich bei der feministischen Philosophin Rosi Braidotti, die in ihrem Buch Nomadic Subjects (1994), die Nomadin zur Leitfigur feministischer Denk- und Lebensweise erklärt hat und damit eine »heterotope Figuration« (Villa 2006) entwarf, die nicht mehr sesshaft und an keinen bestimmten Ort gebunden ist. Obgleich aus unterschiedlichen Disziplinen kom-

116 | Helma Lutz mend (Hall ursprünglich aus der marxistischen Gesellschaftstheorie und der Rassismusforschung, Braidotti aus der feministischen Philosophie französischer Prägung) verbindet beide ein Bezug auf poststrukturalistisches Denken: Beide verwerfen auf jeweils sehr unterschiedliche Weise kollektive ›Containerkategorien‹ (Beck 1997) und dekonstruieren ihren Kern. Man könnte meinen, dass dieser Blick auf Identität mittlerweile auch in der soziologischen Modernisierungstheorie, in der zunehmend geographische, soziale und kulturelle Mobilität und Grenzüberschreitungen zelebriert werden, Eingang gefunden hat. So betrachtet etwa Ulrich Beck (1997) die Transnationalisierung der eigenen Biographie, deren Entstehung seiner Ansicht nach eine Folge des weltweiten Bedeutungsverlusts staatlicher Grenzen sowie der Verdichtung von Zeit und Raum sind, als Bedingung für einen gelungenen Zutritt zur »Zweiten Moderne« (ebd.). Auf der Ebene der Individuen entstehe ein Phänomen, von Beck als »transnationale Ortspolygamie« bezeichnet, »des Verheiratetseins mit mehreren Orten, die verschiedenen Welten zugehören: das Einfallstor der Globalität im eigenen Leben, führt zur Globalisierung der eigenen Biographie.« (Ebd.: 129)1 Hier muss zwar kritisch eingewendet werden, dass Beck mit seiner Definition die von unterschiedlichen Strukturkategorien geprägten Biographien sehr unterschiedlicher Menschengruppen (RentnerInnen, ManagerInnen, ArbeitsmigrantInnen, AsylbewerberInnen usw.) harmonisiert und dadurch den Einfluss (struktureller) sozialer Ungleichheiten auf Lebensgeschichten ausblendet – dennoch lässt sich heute die These, dass eine ›Globalisierung der Lebenswelten‹ stattfindet, vielfach belegen. Kulturell und sozial geprägte Lebensentwürfe sind nicht länger an einen bestimmten sozialen Raum oder Ort gebunden, werden nicht als räumlich fi xierte imaginiert, sondern sind enträumlicht und werden durch die Mobilität von Menschen, Waren, Gütern, Medien als Imaginationen in die ganze Welt transportiert (Appadurai 1991). Ob sich allerdings Entwürfe auch materialisieren lassen, hängt weiterhin von (gruppen-)spezifischen Differenzen in Bezug auf Ressourcenzugänge, wie etwa Staatsbürgerschaft, kulturelles oder soziales Kapital ab. Damit ist auch gesagt, dass die Feststellung der umfassenden Unterschiedlichkeit keineswegs mit umfassender Gleichheit gleich1 | Beck illustriert die ›transnationale Ortspolygamie‹ beispielhaft mit der Lebensweise einer 84-jährigen deutschen Rentnerin, die jährlich mehrere Monate in einer deutschen Kolonie in Kenia verbringt. Damit nimmt er in der Form der Reiselust die Mobilität einer nicht unbedeutenden Gruppe der deutschen Mehrheitsbevölkerung in den Blick.

Biographieforschung im Lichte postkolonialer Theorien | 117

zusetzen ist; Identitäten, die sich aus enträumlichten Lebensentwürfen entwickeln, sind, wie Hall in dem eingangs zitierten Fragment schreibt, eben nur scheinbar frei flottierend. Für die Debatte über spätmoderne Subjektivität sind diese Überlegungen nützlich, weil es den AutorInnen nicht um die Suche nach einem authentischen und identischen Selbst geht, zu dem die viel beschworene Sicherheit der Wurzeln (roots) gehören. Sie betonen vielmehr die Kontingenz der Reiseroute, womit sich der Fokus, in den Worten Paul Gilroys, einer der wichtigsten Theoretiker der Postcolonial Studies, verschiebt: »from roots to routes« (Gilroy: 1995). Die hier erwähnten Figurationen der Verflüssigung und Enträumlichung zeigen deutliche Anlehnungen an die Figur des Exilanten bei Edward W. Said (1994), des Flaneurs bei Zygmunt Bauman (1990, 1995) oder des Fremden bei Georg Simmel (1908): Diaspora und Außenseiterpositionen werden nicht als defizitär identifiziert, sondern ihnen wird eine mentale Freiheit bescheinigt, mit deren Hilfe Menschen in der Lage sind, über Ortsveränderung und Mobilität Perspektivwechsel zu generieren; diese Fähigkeit zum Perspektivwechsel wird als Ressource des modernen Individuums betrachtet. Simmel beschreibt letztere als ›Einheit von Nähe und Entferntheit‹ und Said preist die ›Doppelperspektive des Exilanten‹, der die Gewordenheit der Dinge in ihrer Kontingenz erkennt. Bei aller Begeisterung für diese Figurationen stellt sich nun für SozialforscherInnen immer wieder die Frage, wie solche Metaphern empirisch einzuholen sind, wie also die empirische Rückkoppelung an postkoloniale Theorien aussehen kann. Sowohl in der internationalen als auch in der deutschen Debatte scheint mir diese Frage weitgehend vernachlässigt. So kritisiert Gayatri C. Spivak (1987) in ihrem berühmten Text »Can the subaltern speak?« zwar die hierarchische westliche Wissensproduktion, die über das Ausblenden des Sprechens und der Sprache der ›Subalternen‹ oder ›Anderen‹ operiert und in diesem Prozess die ›Anderen‹ als ›konstitutives Außen‹ gleichsam konstruiert, doch findet sich weder bei ihr noch in dem von Spivak inspirierten und von Steyerl und Gutiérrez Rodriguez herausgegebenen Sammelband Spricht die Subalterne deutsch? (2003) eine Auseinandersetzung mit dem Topos der Sprachfähigkeit oder dem Sprechen im hegemonialen Feld. Bei Spivak ist dies vermutlich eine Folge ihrer Disziplin, da sie sich als Philosophin auf bereits in Schriftform vorliegende (akademische) beziehungsweise visuelle Texte bezieht. Im Gegensatz dazu stellt sich für empirisch arbeitende SozialwissenschaftlerInnen, insbesondere für diejenigen, die mit qualitativen Methoden der verstehenden Sozio-

118 | Helma Lutz logie arbeiten, die Frage, wie der Produktionsvorgang des Sprechens aus der Sicht der postkolonialen Kritik zu analysieren und schließlich erneut sprachlich zu fassen ist. Eine elaborierte Methode zur Erhebung von sprachlichen Daten ist von den VertreterInnen der pokolonialen Studien bislang nicht vorgelegt worden. Als Soziologin, die empirisch mit Biographien von MigrantInnen arbeitet, beabsichtige ich, die Anstöße der postkolonialen Kritik für die sozialwissenschaftliche Biographieforschung zu untersuchen und damit eine Lücke zu schließen. Als vorläufige Paraphrase der postkolonialen Theorieintervention geht es in diesem Artikel um folgende Frage: Wenn, wie Said, Hall, Spivak und andere dies formulieren, die Konstruktion des/der Anderen, das sogenannte ›Othering‹, als abweichend, different, abnormal, als ›konstitutives Außen‹, von zentraler Bedeutung ist für die Produktion des ›imperialen Projekts‹,2 wie lässt sich Kommunikation mit den als ›Anderen‹ konstituierten überhaupt herstellen, ohne die hegemoniale Konstellation aufrecht zu erhalten und fortzuschreiben? Im Anschluss an Gilroy wird also untersucht, ob über die Rekonstruktion individueller und kollektiver Biographien als Reiserouten3 ein nicht essentialisierender Zugang zu migrantischen Lebensgeschichten möglich erscheint. Nach einer kurzen Einleitung zur Biographieforschung werde ich die Probleme beschreiben, die sich bei der Erhebung und Analyse von migrantischen biographischen Narrationen ergeben und aus dem Blickwinkel einer differenzsensiblen und postkolonialen Kritik die Herausforderungen darstellen. Danach werden die bislang gefundenen Lösungen dargestellt und schließlich gefragt, in welcher Weise das Konzept der ›Artikulation‹ (Stuart Hall s.u.) für die Weiterentwicklung der methodologischen und Methodendiskussion genutzt werden kann.

2 | Zu diesem Projekt gehört auch die Selbstdefinition beziehungsweise Selbstnorm(alis)ierung als tolerant, zivilisiert, emanzipiert, egalitär usw. 3 | Wobei es in diesem Zusammenhang nicht allein und auch nicht vorrangig um das Reisen als Selbstzweck geht, sondern um Erfahrungen, die dabei gesammelt werden; hier bietet der deutsche Begriff Er-f(F) ahrung, der etymologisch auf Bildungskarrieren im Mittelalter verweist, eine bessere Anknüpfung als das englische ›experience‹.

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Biographieforschung Biographieforschung ist in gewisser Weise eine Antwort auf die durch Modernisierungs- und Differenzierungsprozesse entstandenen komplexen Herausforderungen der Vergesellschaftung. Biographie ist eine Institution der Moderne, die zwar in der Vormoderne ihre Wurzeln hat – etwa in der katholischen Beichte – aber in dieser (individualisierten) Form nicht beziehungsweise nur als Privileg der Herrschenden existierte (vgl. Fischer-Rosenthal & Rosenthal 1997). Man kann die Biographie der Moderne auch mit Michel Foucault (1993, 1996) als ein Konzept der Selbstsorge beschreiben, das über die Techniken der Selbstpräsentation aber auch der Selbstüberprüfung, -hinterfragung und vor allem -disziplinierung entstanden ist und sich konsolidiert hat. In der Biographieforschung ist mittlerweile unbestritten, dass die Herstellung einer Biographie als narrative Identität spätestens heute als eine ausgesprochenen Konstruktionsleistung betrachtet werden muss und umgekehrt die Aufgabe der Forschung darin besteht, die Generierung dieses sozialen Konstrukts nachzuvollziehen (Völter et al. 2005). Das Ergebnis dieses Hervorbringungsprozesses bezeichnen Alheit und Dausien (2000) als ›Biographizität‹: »Biographische Konstruktionen vermitteln uns Sozialität in einer dem Individuum zuhandenen Gestaltbarkeit; sie belegen die Biographizität des Sozialen. Das bedeutet, dass wir das Soziale nur selbstreferentiell ›haben‹ können – dadurch, dass wir uns auf uns selbst und unsere Lebensgeschichte beziehen.« (Ebd.: 277) Menschen müssen demnach lernen, über das Generieren einer Biographie (›doing biography‹) biographische Arbeit zu leisten und damit ihre Lebensgeschichte zu strukturieren und zu ordnen – nicht nur in einem Forschungsinterview, bei dem es um ein hermeneutisches Bündnis von ForscherInnen und BiographInnen geht, sondern auch in vielen Alltagssituationen wie bei Arztbesuchen, in Bewerbungsmappen und -gesprächen, Therapiesitzungen, im Arbeitsleben oder im Bildungsbereich. Der biographische Wissensvorrat ist nicht gegeben und unveränderbar, sondern er wird ständig überarbeitet und neu sortiert (Alheit 1993). Erfahrungsaufschichtungen, die mit dem Ausbruch einer Krankheit, mit Arbeitslosigkeit, Kriegserlebnissen oder dem plötzliche Verlust einer Bezugsperson beginnen, können zu einer Revision beziehungsweise Erweiterung des Wissens ebenso beitragen wie die Geburt eines Kindes, das Erreichen eines Passageritus im Bildungsverlauf oder der Gewinn eines Wettbewerbs. Immer geht es um Ereignisse, die Selbstreflexion auslösen und Menschen dazu veranlassen,

120 | Helma Lutz retrospektiv Veränderungen in der Interpretation der eigenen Biographie anzubringen. Die Analyse biographischer Arbeit kann damit sowohl die Prozesse von Aneignung als auch die Konstruktion derselben zutage fördern. Ein solches Verständnis von Biographie macht, so Wolfram Fischer-Rosenthal (1995), den Begriff der Identität obsolet: »Identity represents temporality in the once and for all sense of ›belonging‹. For example sexual, ethnic or national identities appear unalterable.« (Ebd.: 258) Stattdessen schlägt er vor, Identität durch Biographie zu ersetzen, da letztere den Prozess des Werdens abbilde, dialogisch, interaktiv, dynamisch und offen sei und so die Nachteile des Identitätskonzepts vermeide. Die Fruchtbarkeit dieser Sichtweise ist in den vergangenen Jahren sowohl von der Geschlechterforschung aufgezeigt worden, die sich damit beschäftigt hat, wie über die Analyse der Biographie die soziale Konstruktion von Geschlecht als interaktiv hergestellte Praxis sichtbar gemacht werden kann; sie hat sich zudem in der biographischen Migrationsforschung bestätigt (Apitzsch 2004; Lutz 1991, 2001a, b, 2007; Gutiérrez Rodriguez 1999; Spindler 2007; Tunc 2008). In beiden, teilweise auch miteinander verschränkten Forschungsfeldern, wird dabei betont, dass die alltäglichen Praktiken des biographischen ›doing gender‹ beziehungsweise des ›doing difference‹ keineswegs beliebig oder bewusst steuerbar, sondern in historisch veränderliche Formationen gesellschaftlich-kultureller Strukturen eingebunden sind, das heißt sie können sich den im sozialen Raum habitualisierten Einschränkungen nicht entziehen, sondern verhalten sich dazu ohne davon vollständig determiniert zu sein. In gewisser Weise sind also in dieser Entwicklung der Biographieforschung bereits eine Reihe von Voraussetzungen gegeben, die den oben geforderten Anforderungen an ein dynamisches Konzept von einer Verflüssigung der Subjektkonstituierung über die Zeit (weg von einer Linearität hin zur Kontingenz der Entwicklung) gerecht werden. Die Auseinandersetzung in Bezug auf die Kernfrage des Artikels, wie das ›Othering‹ zu adressieren, beziehungsweise zu vermeiden ist, lässt sich damit allerdings noch nicht so schnell beantworten.

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Fallstricke bei der Erforschung migrantischer und transnationaler Narrative Die Anfänge der Analyse der Lebenswege von MigrantInnen geht auf die vor fast 100 Jahren (1918-1920) in Chicago entstandene fünf bändige Studie der Soziologen Thomas und Znaniecki, The Polish Peasant in Europe and America (1984) zurück, in der sie die ›Wandlungsprozesse‹ der ersten Generation polnischer MigrantInnen untersuchten. Ihr Verdienst ist vor allem die Erhebung und Auswertung von personenbezogenem, empirischem Material, so zum Beispiel von Briefen, die nach Polen verschickt und aus Polen empfangen wurden, sowie der Autobiographie eines polnischen Arbeiters. 4 Aus ihrer Interpretation geht hervor, dass das Individuum als Person im Mittelpunkt von zahlreichen (ökonomischen, politischen, historischen, gruppenspezifischen) Faktoren steht und die Veränderungsprozesse über diesen Zugang erschlossen werden müssen. »Die Person wird als diejenige Instanz gesehen, in der sich sozialer Wandel vollzieht, die Veränderungen und Umbrüche zu bewerkstelligen hat.« (Breckner 2005: 28) Einschränkend gibt Roswitha Breckner zu Recht zu bedenken, dass dem Subjektbegriff von Thomas und Znaniecki keine Vorstellung von Eigenstrukturiertheit der Lebensgeschichte zugrunde lag, sondern die Person »als Abbild sozialer Organisation im Sinne von objektivierten Institutionen und deren Veränderungen« (ebd.: 29) gesehen wurde. Als besonderes Verdienst dieser Studie ist jedoch festzuhalten, dass erstmals Migration als ein ›Erfahrungsphänomen‹ konstituiert wurde. Bei Thomas und Znaniecki taucht allerdings bereits ein Topos auf, der in den Sozialwissenschaften bis heute eine prominente Rolle innehat und heute gar als ein kulturelles und kulturalisiertes Skript bezeichnet werden kann, nämlich die Definition der Migrationserfahrung als Fremdheits- beziehungsweise Krisenerfahrung. So hat beispielsweise Alfred Schütz in seiner Abhandlung über ›den Fremden‹ (1972 [1944]) jede Migrationserfahrung als eine Erfahrung der Krise gekennzeichnet, die sich mit dem Wechsel von Zivilisations- und Kulturmustern und dem Eintreten in eine neue Lebenswelt angeblich automatisch einstellt: Die MigrantInnen kommen als ›Fremde‹ in der Gesellschaft des Ziellandes der Migration an und erleiden dort eine Krise, weil sie mit neuem, unbekannten Alltagswissen konfrontiert sind, das sie nicht teilen. Ihr ›Denken-wie-üb4 | Zur Kritik des männlichen bias dieser Studie siehe Huth-Hildebrandt (2001), Lutz (2008).

122 | Helma Lutz lich‹, so Schütz (ebd.) und die dazu gehörigen Ressourcen werden in Frage gestellt, denn da es kein gemeinsames Wissensreservoir gibt, bleibt das vorhandene Alltagswissen ungenutzt. Das Verhalten der Aufnahmegesellschaft ist bei Schütz entsprechend spiegelbildlich: die Neuankömmlinge werden als ›Fremde‹ klassifiziert und ausgegrenzt, denn Fremde werden von der unmakierten Gruppe, die die klassifizierende Macht hat, als Vertreter einer anderen »Zivilisation« markiert. Diese Fremden können unter solchen Bedingungen ihre ›Krise‹ nicht produktiv überwinden, da die Herausbildung einer neuen Routine die (An-)Erkennung von anschlussfähigen Elementen des Alltagswissens erfordert, die unter den veränderten Bedingungen ergänzt oder angepasst werden müssen. Das ›mitgebrachte‹ Alltagswissen wird schließlich entwertet, es muss durch ein neues ersetzt werden, soll die Migration noch einigermaßen erfolgreich verlaufen (vgl. dazu kritisch Villa 2009; Reuter 2002: 104ff.). Dieser Vorannahme entsprechend werden auch heute noch Fremdheitserfahrungen in den Mittelpunkt der Analyse von Migrationsbiographien gestellt. Krisen und Misserfolge werden als Resultate von Entwurzelung, als Verlust habituell verankerter Alltagshandlungen beschrieben, aus denen Verunsicherungen und Handlungsunfähigkeit abgeleitet und als direkte Folge von Migration betrachtet werden. Analytisch wird diese Krisenerfahrung verknüpft mit dem Vergleich der Erzählfragmente, die auf die Zeit vor und nach der Migration Bezug nehmen. Abgesehen davon, dass die von Schütz beschriebene fundamentale Diskontinuitätserfahrung in seinen historischen Kontext eingebettet werden muss sowie in die Biographie des Autors, der von den Nationalsozialisten zur Emigration gezwungen war, führt die Reflexion dieser Setzung zu einem zentralen methodologischen Problem: Da die Biographieforschung mit der Erzählung als primärem Instrument der Datengenerierung arbeitet, sind Sprache und die Fähigkeit zur sprachlichen Selbstvermittlung eine Voraussetzung, auf die nicht verzichten werden kann. Erzähltraditionen, Deutungsmuster und Bilder, auf die sich biographisches Erzählen stützt, sind jedoch nicht im ›luftleeren Raum‹ entstanden, sondern haben sich in einem spezifischen kulturellen Kontext herausgebildet.5 Daraus lässt sich ableiten, dass die Selbst-Beschreibung und Beurteilung als ›erfolgreiche‹, ›gelungene‹ oder ›gescheiterte‹ Biographie einer als Normalitätskonstruktion präsenten kulturellen Matrix folgt. Solche Konstruktionen 5 | Vgl. dazu etwa die kulturhistorischen Studien von Alois Hahn

(1988).

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existieren auf der Ebene der wissenschaftlichen Abstraktion und Analyse ebenso wie auf der Ebene der Alltagskommunikation. Ein Beispiel für Erstere ist die von Martin Kohli (1988) entworfene ›Normalbiographie‹, ein dreistufiges Modell institutionalisierter biographischer Abläufe (Schul- und Berufsausbildung, Erwerbs- und Familienphase und Ruhestand), das mittlerweile als Ausdruck eines institutionalisierten männlichen Lebenslaufs gekennzeichnet und auch vom Autor selbst als ein im bundesrepublikanischen Wohlfahrtsstaat rheinischer Prägung angesiedeltes Sondermodell definiert und damit revidiert wurde (vgl. Kohli 2003). Auf der Ebene der Alltagskommunikation in der deutschen Gesellschaft, die bis vor kurzem behauptete, keine Einwanderungsgesellschaft zu sein, äußern sich mit normativen Zuschreibungen verbundene alltagsweltliche Normalitätskonzepte wohl vor allem in der Frage nach dem Zugehörigkeitsmodus. Ein kurzes Beispiel, das als Exempel für eine sich ständig wiederholende Nachfragestruktur betrachtet werden kann: »›Woher kommst du?‹ ›Aus Essen.‹ ›Nein – ich meine ursprünglich?‹ ›Ich bin in Essen geboren.‹ ›Aber deine Eltern?‹ ›Meine Mutter kommt aus Essen.‹ ›Aber dein Vater?‹ ›Mein Vater ist Italiener.‹ ›Aha….‹.« (Battaglia 2000: 188)

Solches Insistieren darauf, dem Symbol einer Markierung – in diesem Falle einem als nicht-deutsch identifizierten Namen – auf den Grund zu gehen, bezeichnet Paul Mecheril (2003) als eine imaginative Disziplinierung, die auf der Suche nach der »eigentlichen Herkunft« implizit Zugehörigkeitsregeln produziert, der die »Imagination eines prototypischen Mitglieds« zugrunde liegt. Normalitätsarbeit zu verrichten, so Mecheril (ebd.) spiegelt sich dann in der Anrufung des Irritierenden im Anderen. Hier sind bereits direkte Anschlüsse an den oben eingeführten Begriff des ›Othering‹ zu erkennen und damit ist ein Prozess benannt, der primär der Re-Affirmation des Selbst dient und nicht der Beschreibung des Anderen.6 6 | Wolf-Dietrich Bukow und Roberto Llaryora (1988) haben bereits vor über zwanzig Jahren den Prozess einer ›schleichenden Ethnisierung‹ beschrieben, der zu einer scheinbar unüberwindbaren ethno-nationalen

124 | Helma Lutz Um solche Fallen zu vermeiden, müssen sich MigrationsforscherInnen deshalb einer kritischen Selbstbefragung unterziehen, die erforderlich wird, weil für die Rekonstruktion einer Biographie immer ein Vorverständnis notwendig ist, »ein Wissen über das Spektrum dessen, was als biographisches Handeln, Erleben und Erzählen in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext und lebensweltlichen Horizont im Allgemeinen möglich und vorstellbar ist.« (Dausien/Mecheril 2006: 160) Nun wird in vielen migrationsbiographischen Forschungen nach wie vor die Abweichung von der Normalbiographie fokussiert und als eine Folge von Migration, Flucht usw. spezifisch begründet. Ein solches Vorgehen lässt sich damit legitimieren, dass die standardisierten Normallebensläufe der Herkunftsgesellschaften der MigrantInnen in der Tat nicht selten abweichen von denen des Ziellandes der Migration. Aber mit welcher Normalbiographie welchen Landes soll hier verglichen werden und vor allem: Was bedeutet dies für die individuell Migrierenden? Oder deren Kinder? Ein großer Teil der Migrationsforschung hat das sogenannte Abweichende als ›ethnisch Spezifisches‹ identifiziert und damit vermutlich unbeabsichtigt einen dominanten Begründungszusammenhang für Probleme des Zusammenlebens von Menschen mit unterschiedlichen Lebensstilen und -geschichten geliefert. Migrationsnarrative werden, wie bereits gesagt, zumindest tendenziell als krisenanfällig betrachtet und MigrantInnen gelten als Problem- und Risikogruppen einer Gesellschaft.7 Zu dem Problemaufriss, der mit der Erforschung von Migrationsbiographien verbunden ist, gehören noch andere Aspekte: So stellt etwa Roswitha Breckner (2005) zu Recht fest, dass das Spezifische für eine Migration die Tatsache sei, dass sie quer zu anderen Erfahrungszusammenhängen liege. Migration nimmt im Lebenslauf keinen sozial definierten Ort ein, und da sie in jedem Lebensalter stattfinden

Zweiteilung der Gesellschaft führt und der autochthonen Mehrheit politisch-symbolische Verfügungspotentiale zur gesellschaftlichen Diskriminierung von Minderheiten bereitstellt (ebd.: 20ff.); ethnische Semantiken, die dazu dienen, über die Besonderung von Anderen als ›ethnisch‹ die eigene Unmarkiertheit (nicht-ethnisch) zu versichern, spielen dabei eine zentrale Rolle. 7 | Die Tatsache, dass die Eckpunkte migrantischer Biographien oft außerhalb des Erfahrungsraumes derjenigen, die sie erforschen, liegen, kann hier als Verstärker wirken.

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kann, ist sie nicht an eine bestimmte Sozialisations- oder Bildungsphase gebunden. Dazu kommen andere Aspekte: In der Identitätsentwicklung ist Migration weder mit Passageriten verknüpft, noch werden zu irgendeinem Zeitpunkt Erfolge zelebriert. Mit anderen Worten, es gibt keine gesellschaftlich abgestützten Maßstäbe, keine Anerkennungsverfahren, keine biographischen Regelwerke, die den Umgang mit Migrationserfahrung erleichtern. Als Folge davon müssen MigrantInnen individuell an der Integration ihrer Erfahrungen in die eigene Biographie arbeiten, also biographische Arbeit leisten. Gleiches gilt sicher auch für andere Menschen, die einschneidende Veränderungen, etwa den Verlust eines ›gut situierten Sozialstatus‹ verarbeiten müssen. Allerdings gibt es dafür tendenziell eher soziale Skripte, an denen sie sich orientieren können. In einem dominanten gesellschaftlichen Diskurs, der Migration als biographischen Risikofaktor, vergleichbar mit einer chronischen Erkrankung oder anderen körperlichen Gebrechen negativ konnotiert, droht jede Form von Bilanzierung sich in polarisierten Extremen zu verstricken: Entweder wird der Erfolg oder der Verlust der Migration herausgestellt, entweder ist man Verlierer oder Gewinner. Solange sie in der Normalbiographie nicht vorgesehen, kein erwartbares Lebensereignis ist, bleibt Migration potentiell immer ein Sonderposten, eine Unordentlichkeit, die erklärt beziehungsweise auf die Bezug genommen werden muss. Damit soll keineswegs suggeriert werden, dass negative Folgen von Migration tabuisiert werden sollten. Das Problem für die BiographInnen und für diejenigen, die diese beforschen, besteht aber eher darin, dass es keine biographischen Präskripte für die Einbettung von Migration gibt, die die Erschließung von individuellen und kollektiven Sinnhorizonten vereinfachen – womit gleichzeitig ein Rahmen für die Darstellung von Abweichungen gegeben wäre. Gegen das Fremdheitsparadigma in der Migrationsforschung hat Ursula Apitzsch (1999) sehr überzeugend argumentiert, dass »die faktische Enteignung des Fremden in Bezug auf seine eigenen kulturellen Ressourcen des Alltagswissens nicht durch die räumliche Erfahrung selbst sich vollzieht, sondern erst durch die Rekonstruktion einer doch bei allen Differenzen geteilten sinnhaften sozialen Welt in der Interaktion zwischen Neuankömmlingen und der Mehrheitsgesellschaft« (ebd.: 9). Daraus kann abgeleitet werden, dass in einer Migrationsbiographie nicht die Fremdheit zu rekonstruieren ist, sondern stattdessen Prozesse der Enteignung und der Fremddefinition vorhandener Ressourcen freizulegen sind. Biographieforschung muss sich demzufolge mit dem Problem der gesellschaftlich verankerten Anerkennungs- und Zugehörigkeitsfrage auseinandersetzen, will

126 | Helma Lutz sie nicht der alltagsweltlichen Matrix folgend ›ethnisierte Biographien‹ als ›Konstruktionen zweiten Grades‹ wissenschaftlich reifizieren. Mit einer solchen Haltung sind allerdings andere methodische Probleme noch nicht unbedingt gelöst. Fraglich bleibt etwa, wie damit umgegangen wird, dass eine transnationale Biographie immer in doppelter Weise normative Bezüge aufweist, sowohl auf den Wanderungskontext beziehungsweise den der aktuellen Lebenswelt als auch auf den Kontext der Herkunftsgesellschaft. Abhängig davon, wo und wem sie erzählt wird, müssen die ErzählerInnen in der Lage sein, Sinnhorizonte in jede Richtung zu übersetzen (vgl. dazu auch Palenga-Möllenbeck 2009; Tuider 2009). Damit hängt auch die Ressource ›Doppelperspektivität‹ zusammen, die Neval Gültekin (2003) als Fähigkeit beschreibt, ein und dasselbe Leben mit Hilfe verschiedener Sinnhorizonte zu evaluieren. Tatsächlich anerkannt wird jedoch von der jeweiligen Seite lediglich die Fähigkeit, sich in eine Richtung verständlich zu machen und verstanden zu werden. Was für alle Beteiligten fehlt, ist ein Tertium Comparationis, das den jeweiligen nationalen und lokalen Kontext übersteigen und auf das sich eine transnationale Erzählung in positiver Weise beziehen kann. Nun ist die An- oder Abwesenheit von Anerkennungsverfahren, die sich auf Identitätsbildung und Zugehörigkeitsfragen auswirkt, nicht nur als biographieanalytisches Verfahren relevant, sondern auch eine genuin politische Frage. Sie ist zwangsläufig eingebunden in Diskurse und Debatten, die in den temporäreren europäischen Einwanderungsgesellschaften über legale und soziale Integration, über ›Heimat‹, ›Leitkultur‹, Kultur des christlichen Abendlandes und ähnliche Reizbegriffe geführt werden, die immer wieder deutlich machen, dass es nach wie vor keinen Konsens über Fragen der Entgrenzung von Nationalstaatlichkeit gibt. Ganz im Gegenteil zeigt sich in der Verstärkung dieser Diskurse die Kehrseite der Debatten über Transnationalität. Auf diesen Zusammenhang ist zwar in jüngster Zeit hingewiesen worden (vgl. Bukow/Spindler 2006; Lutz/Schwalgin 2006), allerdings sind daraus bislang keine biographieforschungsrelevanten Schlüsse gezogen worden. Auf der Suche nach Theoriekonzepten, über die hier Instrumente gefunden werden können, scheint Stuart Hall mit dem Begriff der Artikulation ein interessantes Angebot zu machen.

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Artikulation als Verbindung von Subjekt und Diskurs Hall beschäftigt sich in seinem Werk der vergangenen zwei Jahrzehnte mit der Relation zwischen Subjekt und Diskurs. Diese Beziehung fasst er als Artikulation; Artikulation ist ihm zufolge nicht nur in der Doppelbedeutung von Ausdruck einerseits und Verbindung oder Verknüpfung andererseits zu verstehen, sondern umfasst darüber hinaus – im Anschluss an die machttheoretischen Überlegungen von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (2000) – die Trennung und Neu-Verbindung von Elementen, ›dis-articulation‹ und ›re-articulation‹ (vgl. Hall 1994, 1996, 1997). Artikulation ist doppelt dimensioniert und stellt hybride Perspektiven her. In ihr kommen auch die Antagonismen von Diskursen, Praxen und Positionen zum Ausdruck, und werden gleichzeitig in diesem Vorgang generiert. Kurz: Artikulation ist nicht nur Abbild beziehungsweise Ausdruck eines Inneren, sondern auch Generator der Trennung und Neu-Verbindung von Elementen. Somit ist sie das Produkt von Subjektivität und gleichzeitig produziert sie diese. Hall hat diese Überlegungen als Kritik an klassischen Kommunikationstheorien entwickelt, in denen behauptet wird, dass klar voneinander zu unterscheiden sei, wer was, über welchen Weg, mit welchem Effekt zu wem sagt und dass jedes Element in diesem Prozess eine eigene, intrinsische, isolierbare Identität habe (Laswell 1971). Dieses Modell ist deshalb problematisch, weil es Kommunikation auf eine lineare Analyse von Input und Output reduziert. Weder die Komponenten noch der Prozess werden als Artikulation verstanden. Hall geht dagegen davon aus, dass alle Elemente, die beteiligt sind, Sender, Empfänger, die Botschaft, die Bedeutung usw. jeweils nicht in sich selbst identisch sind, sondern als Artikulation verstanden werden müssen, das heißt, dass sie eine relative Autonomie zueinander besitzen und jeweils einzeln als Artikulation betrachtet werden müssen: Kein Moment, beziehungsweise Element in diesem Prozess, so Hall (1980: 129), garantiert das nächste Moment, in dem es artikuliert wird. Diese Autonomie der Elemente ist allerdings bei Hall relativ: Er unterstreicht immer wieder die Existenz von machtvollen und privilegierten Bedeutungen (etwa in den Medien der Massenkommunikation), die Hürden bilden und gewaltförmige Erscheinungsformen annehmen können. Die dominanten und die nicht-dominanten Artikulationen gilt es nach Hall in der sozialen Praxis der Alltagskommunikation zu untersuchen. Eine Betrachtung von migrantischen und transnationalen Biographien als Artikulationen, so meine These, kann helfen, die in biographischen Erzählungen zum Ausdruck kommenden Fremd- und Selbstpositionierungen als Handlungs- und Leidensprozesse von ein-

128 | Helma Lutz zelnen Personen und Personengruppen zu verstehen und sie ebenfalls als narrative Produkte von Dis- und Reartikulationsprozessen zu begreifen. Bei der Analyse von Biographien als Artikulationen müssen dementsprechend nicht nur Fragen danach gestellt werden, warum zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer biographischen Erzählung die Sprache versagt oder keine Erzählkoda mehr hergestellt werden kann, da der zu beschreibende Leidensprozess sprachlich nicht zu fassen ist. Sprachlosigkeit kann auch ein Hinweis auf Disartikulation sein, auf die Abtrennung oder das Abgetrennt-Sein von sprachlicher Einbindung in die allgemeingültige Sprache. Es kann ein Hinweis auf Leiden, aber auch auf Widerstand sein – oder Beides zugleich. Biographien sind ebenfalls Artikulationen in dem Sinn erzählter Verhandlungen biographischer Erfahrungen, mit den Worten von Liz Stanley (1992: 7): »The past, like the present, is the result of competing negotiated versions of what happened, why it happened and with what consequences.« Auch hier wird postuliert, dass die Versionen narrativer Biographien sich verändern und immer in einem gesellschaftspolitischen Machtgefüge stehen; dabei sind diese Veränderungen nicht beliebig – sie folgen einer bestimmten Logik. Die Erfassung genau dieser Logik kann als Aufgabe von BiographieforscherInnen verstanden werden. In aller Kürze dazu zwei Beispiele: In ihrer Studie über Iranerinnen, die in den 1980er Jahren im Iran als Linke politisch aktiv waren und schließlich aus dem Iran fliehen mussten, hat Halleh Ghorashi (2003) die Lebenswege von Frauen untersucht, die in die Niederlande und in die USA geflohen sind. In beiden Fällen unterschied sich das kulturelle und soziale Kapital kaum voneinander und beide Gruppen konnten sich, anknüpfend an ihren hohen Bildungsstand, ein neues Leben auf bauen. Gorashi stellte allerdings große Unterschiede in Bezug auf ihre Erfahrungen und ihr heutiges Selbstbild fest: Während sich die kalifornischen Iranerinnen als iranische Amerikanerinnen betrachten, die im Einwanderungsland USA und in einer großen iranischen Community mit umfangreicher Infrastruktur ihren Platz gefunden haben, überwiegt bei den Iranerinnen in den Niederlanden das Gefühl, ein Fremdkörper zu sein und in einem Land zu leben, das ihren Aufenthalt als temporären betrachtet beziehungsweise sie täglich wieder zu Fremden (continuous strangers) macht, selbst wenn sie mittlerweile die niederländische Staatsbürgerschaft besitzen (ebd.: 169ff.). Gorashi erklärt diese Differenzen einerseits mit dem Fehlen einer iranischen Community in den Niederlanden, und damit dem Fehlen eines Mindestmaßes an Sicherheit und Geborgenheit; andererseits scheint die starke Re-

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glementierung des hoch organisierten niederländischen Wohlfahrtsstaates wenig dazu beizutragen, dass sich Flüchtlinge darin verorten können. Die Organisation des Staates und die jeweiligen dominanten Diskurse sind also dermaßen unterschiedlich, dass im Fall der USA (einem klassischen Einwanderungsland) die Bedingungen für die Anschlussfähigkeit oder Passfähigkeit der MigrantInnen gegeben sind, während diese in den Niederlanden fehlen. So gesehen, sind es vor allem die jeweiligen dominanten Diskurse, die in der Artikulation zum Ausdruck kommen und die die Evaluation eines Migrationsprojektes maßgeblich beeinflussen. Ein zweites Beispiel stammt aus meiner Forschung über surinamische Migrantinnen, Mütter und Töchtern, die ich in den frühen 1990er Jahren in verschiedenen niederländischen Städten interviewt habe (vgl. Lutz 2001b, 2000, 1995). Dabei zeigte sich, dass vor allem die Frauen der kreolischen Müttergeneration, die nach der De-Kolonisation Surinams im Jahre 1973 in die Niederlande kamen und für die es eine Selbstverständlichkeit war, sich den eigenen Lebensunterhalt mit Hilfe einer Ganztagsstelle zu finanzieren, im Arbeitsleben oft ihre Mutterschaft verschwiegen hatten, da der dominante Diskurs sie als ›Rabenmütter‹ gebrandmarkt hätte. Ihr Mutterschaftsmodell galt im Kontext der Einwanderungsgesellschaft als ein deviantes: In den 1970er Jahren betrug die Berufstätigkeit der autochthonen Niederländerinnen kaum 28 Prozent, und es gab einen gesellschaftlichen Konsens darüber, dass eine gute Mutter ihre Kinder nach der Schule zu Hause empfängt. Weibliche Berufstätigkeit, die über Halbtagsarbeit hinaus ging, wurde tendenziell als Vernachlässigung des Kindeswohls betrachtet. Erst im Laufe der 1990er Jahre wurde als Folge der Emanzipationsdiskurse der Europäischen Gemeinschaft in offensiven politischen Kampagnen die Berufstätigkeit von Frauen als Emanzipationsziel definiert und zum weiblichen Modernitätsideal erklärt. Plötzlich wurden kreolische Surinamerinnen, die, anknüpfend an ihr sozial-kulturelles, matri-fokales Erbe, diesen Lebensstil bereits 20 Jahre früher praktiziert hatten, zu Pionierinnen erklärt: nicht, weil sie die Regeln des Landes nachhaltig übernommen hätten, sondern weil der herrschende Diskurs sich in Richtung ihres Lebensstils bewegt hat. Mit anderen Worten: Erst die Diskontinuität der Geschlechterverhältnisse in den Niederlanden in Kombination mit fortschreitenden Individualisierungs- und Differenzialisierungsprozessen ermöglichte die Anerkennung des Lebensstils dieser Einwanderinnen. Die Erfahrung, die daraus abgeleitet werden kann, ist, dass Wissensbestände, die in einem völlig differenten Kontext erworben wurden, durchaus in der Lage sind, Handlungsfähigkeit zu erweitern und zwar dann, wenn

130 | Helma Lutz der Diskurs sich in einen anschlussfähigen verwandelt hat. Wichtig ist allerdings, dass die Artikulation dieser Brüchigkeit/Diskontinuität eine Sprache braucht, die zu einem bestimmten Zeitpunkt – in diesem Fall geht es um die 1970er Jahre – keineswegs zur Verfügung stand; es ist daher fraglich, ob die Biographinnen in jener Zeit ihre Geschichte auf diese Weise hätten erzählen können.

Kann die Subalterne sprechen? Es sollte deutlich geworden sein, dass unter Sprachfähigkeit in diesem Artikel keineswegs nur die Kenntnis und der aktive Umgang mit einer (fremden) Sprache gemeint ist, ein Aspekt der mittlerweile in allen Integrationsdebatten in Europa zum zentralen Indikator der Integrationswilligkeit der migrantischen Bevölkerung erhoben worden ist, sondern um das Sprechen im hegemonialen Feld. Gayatri C. Spivaks Auseinandersetzung mit der Frage, was denn genau zu verstehen sei unter einer Gruppe, die als ›subaltern‹ bezeichnet wird, hat darauf hingewiesen, dass jede Bezeichnungspraxis die Gefahr in sich birgt, (erneut) Essentialisierungen Vorschub zu leisten. Jeder Dissens oder Widerstandsakt der ›Subalternen‹ bewegt sich im Sprachraum des dominanten Diskurses und kann sich nicht von ihm trennen. Wenn Spivak zu dem Fazit kommt, dass die ›Subalternen‹ nicht sprechen können (vgl. Spivak, 1988), dann ist damit wohl gemeint, dass sie sich durch den Akt des Sprechens bereits einen Platz im Mehrheitsdiskurs ›erwerben‹, sich darin verorten und in diesem Akt/Prozess bereits den Ausschlussdiskurs verlassen, das heißt nicht in der Marginalität verbleiben. Das bedeutet keineswegs, dass sie sich den Prozessen des ›Othering‹ entziehen können; ganz im Gegenteil, sie sind darin eingebunden und diese Einbindung kann entweder zur Affirmation, das heißt Selbstunterwerfung unter diesen Diskurs führen, einen Prozess den Bukow und Llaryora (1988) mit Selbstethnisierung beschrieben haben, kann aber auch schrittweise zur Verschiebung der diskursiven Formationen – oder aber zur offensiven Wendung des Stigmas (wie etwa im Fall von kanakattac) benutzt werden. Damit ist auch die Aufgabe der Forschung, in diesem Falle der Biographieforschung beschrieben, die darin besteht, der Normalisierungsversuchung zu widerstehen, Dissens und Widerstand ebenso wahrzunehmen wie Einverständnis und Unterwerfung und damit einen Beitrag zu leisten zur Erforschung der (unterschiedlichen) Wahrnehmung einer geteilten, sinnhaften, sozialen Welt.

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Postkoloniale Dimensionen von Islamismus und islamischem Fundamentalismus. Beispiele aus Indonesien Susanne Schröter Einleitung Die Erfahrungen des Kolonialismus, der Imperialismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert und die bis heute andauernde asymmetrische Entwicklung evozierten nicht nur die Herausbildung von postkolonialen sozialwissenschaftlichen Theorien, sondern auch Entwürfe von Staat und Gesellschaft, die sich als Alternativen zu denen des hegemonialen Westens verstehen. In der islamischen Welt und in den muslimischen Diaspora-Gemeinschaften Europas stellen Islamismus und islamischer Fundamentalismus die dezidiertesten und erfolgreichsten dieser Gegenentwürfe dar. Islamische Organisationen und ein islamischer Lebensstil werden zunehmend populär, islamistische Parteien verbuchen Wahlerfolge und viele vormals ethno-nationalistische Befreiungsbewegungen wandelten sich in islamistische Bewegungen.1 Diese Entwicklungen bergen erheblichen sozialen und politischen Sprengstoff, da sie das fragile Gleichgewicht multikultureller Staaten bedrohen und dazu betragen, Gewalt im Namen des Islam zu 1 | Diese Entwicklung lässt sich zum Beispiel in Südthailand, in den südlichen Philippinen oder in Zentralasien beobachten. Auch der palästinensische Widerstand gegen Israel hat sich von einer säkular-nationalistischen zu einer vornehmlich religiös begründeten Befreiungsideologie entwickelt.

138 | Susanne Schröter legitimieren, islamophobische Vorurteile zu verfestigen und lokale Konflikte diskursiv aufzuheizen.2 Die postkolonialen Dimensionen des Islamismus sollen im Rahmen dieses Aufsatzes aus drei Perspektiven erörtert werden: 1. aus der Problematik der postkolonialen Staats- und Nationenbildung, 2. aus ihrer Entstehungsgeschichte als antikoloniale, aber gleichwohl von westlicher Philosophie inspirierter Widerstandsideologie und 3. aus der Perspektive junger AkteurInnen, die den Islam als Lösung der Dilemmata einer als westlich diskreditierten Moderne verstehen. Die Fokussierung auf Indonesien bietet sich zur Illustration der angesprochenen Themen vor allem deshalb an, weil der Archipel seit Beginn des anti-kolonialen Kampfes Schauplatz eines erbitterten Streites zwischen PluralistInnen und IslamistInnen um die politische und kulturelle Macht im Staat ist, der bis heute nicht entschieden ist. Als multireligiöse Nation mit der zahlenstärksten muslimischen Bevölkerung der Welt3 sind die Aushandlungsprozesse um die Zukunft des Landes auch für andere muslimische Nationen von Bedeutung.

2 | In einigen Regionen Indonesiens, wie zum Beispiel auf den Molukken oder in Zentralsulawesi, ist es durch solche rhetorischen Aufladungen um die Jahrtausendwende zu regelrechten Massakern zwischen ChristInnen und MuslimInnen gekommen (vgl. Aragon 2001; Bartels 2008). 3 | Der indonesische Archipel gehört zu den Regionen, die eine ungewöhnlich große Vielzahl ethnischer und religiöser Gruppen in einer »imaginierten Gemeinschaft« integrieren musste (vgl. Anderson 1985). Auf etwa 7.000 bewohnten Inseln werden mehr als 300 verschiedene Sprachen gesprochen, und neben autochthonen Religionen bekennen sich die BürgerInnen zum Katholizismus, zu verschiedenen protestantischen Denominationen, zu einer indigenisierten Variation des Hinduismus, zum Buddhismus und zum Islam. Fast 90 Prozent der 240 Millionen IndonesierInnen sind MuslimInnen, die allerdings in unterschiedlicher Weise mit den jeweiligen lokalen Kulturen verschmolzen sind.

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Islamstaat versus Multikulturalismus: Indonesische Konzepte für einen postkolonialen Staat Der Islam breitete sich im indonesischen Archipel seit dem 8. Jahrhundert weitgehend gewaltlos und in synkretistischer Verbindung mit autochthonen Lokalreligionen aus. Im frühen 19. Jahrhundert änderte sich dies. Indonesische Muslime kamen mit der Reformbewegung des Mohammad ibn Abd al-Wahhab in Berührung, der unter dem Eindruck der fortschreitenden europäischen Expansion im Orient eine puristische Erneuerungsbewegung in Arabien anführte. Al-Wahhab wandte sich gegen alle Formen des von ihm als heidnisch diskreditierten Volksislam und forderte eine Rückkehr zu den Prinzipien, die von Mohammed überliefert sind. 1803 eroberte er Mekka und seine Ideen verbreiteten sich durch Pilger in alle Welt. Auch Wallfahrer aus Sumatra versuchten al-Wahhabs Modell zu kopieren. Nach ihrer Rückkehr von der Hadsch verkündeten sie die neue Lehre und begannen einen Jihad gegen die traditionelle Elite ihrer Herkunftsgesellschaft. 4 Der Aufstand wurde durch das Eingreifen der niederländischen Armee, die die einheimischen Herrscher in höchster Not zur Hilfe gerufen hatten, im Jahr 1830 beendet. Die niederländische Intervention änderte den Charakter des Krieges von einem indigenen Bürgerkrieg zu einer protonationalistischen Erhebung und verschaff te dem Islam auf indonesischem Boden erstmals den Status einer antikolonialen Befreiungsideologie. Die Rhetorik des Jihad sollte sich auch in späteren antikolonialen Aufständen als wirkungsvolle Mobilisierungsstrategie erweisen, so zum Beispiel im 19. und 20. Jahrhundert, als sich die von islamischen Geistlichen angeführte Bevölkerung des Sultanats Aceh 40 Jahre lang gegen ihre Kolonisierung zur Wehr setzte und im Jahr 1888, als sufistische Bruderschaften auf Java eine Revolte gegen die Niederländer anführten. Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, während des letzten siegreichen Befreiungskampfes riefen muslimische Führer zum Heiligen Krieg gegen die Kolonisatoren auf, definierten den 4 | Zu den ökonomischen Hintergründen des Aufstandes vgl. Dobbin (1983). In der islamischen Theologie unterscheidet man zwischen einem großen Jihad ( jihad al-akbar) und einem kleinen Jihad ( jihad al-asghar). Der große Jihad bezeichnet das Ringen des Individuums gegen die eigene Schwäche und die vielfältigen Versuchungen des Teufels. Der kleine Jihad ist der Kampf gegen die Ungläubigen, der oft als Abwehrmaßnahme eines Angriffs auf den Islam gerechtfertigt wird, aber auch eine wohlfeile Legitimation von Expansionen und gewaltförmigen Umbrüchen darstellt.

140 | Susanne Schröter bewaff neten Kampf als »Gottesdienst« und versprachen himmlische Belohnung im Falle eines Todes auf dem Schlachtfeld gegen die Ungläubigen. Aufgrund ihres herausragenden Beitrags für die Unabhängigkeit Indonesiens, aber auch um den demographischen Mehrheitsverhältnissen Rechnung zu tragen, sahen sich die organisierten islamischen Eliten in besonderer Weise berufen und ermächtigt, die postkoloniale Ordnung zu definieren. Für sie konnte Indonesien nur als »Negara Islam«, als islamischer Staat, konstituiert werden. Diese Position stieß allerdings nicht auf ungeteilte Zustimmung. Weniger religiös motivierte politische Führer hatten erhebliche Zweifel, ob es gelingen könne, die nationale Einheit auf der Basis einer islamischen Ordnung herzustellen. Sie befürchteten Abspaltungen des hinduistischen Bali und der christlichen Außeninseln im Osten des Archipels und favorisierten eine pluralistische Staatsform, die die Gleichheit aller anerkannten Religionen garantieren sollte. Die Entscheidung für eine multikulturelle Nation auf Basis gleicher Rechte für alle Bürger wurde 1945 schließlich vom ersten Präsidenten der Republik, dem charismatischen Ahmed Sukarno, eher handstreichartig als demokratisch, durchgesetzt. Etliche muslimische Führer fühlten sich verraten und distanzierten sich von der neuen Nation, noch ehe sie etabliert wurde. Sie verweigerten der säkularen Regierung die Gefolgschaft und versuchten, dem indonesischen Islamstaat jetzt mit militärischen Mitteln zum Erfolg zu verhelfen. Von 1947 bis zur Mitte der 1960er Jahre beherrschten Islamisten größere Teile des Archipels, konnte doch die »Islamische Armee Indonesiens« die »Nationale Armee Indonesiens« in Schach halten.5 Danach siegten die Regierungstruppen und alle Organisationen des politischen Islam wurden zerschlagen. Fortan dominierten Laizisten und moderate Synkretisten die politische Bühne. Mit Hilfe der Armee, die in Indonesien vor allem innenpolitische Aufgaben übernahm, und einer repressiven Justiz, verhinderten Sukarno und sein Nachfolger Suharto eine politische Partizipation der Muslime. Diese organisierten sich darauf hin einerseits in klandestinen Gruppen, die ab und zu für lokale Unruhen sorgten, vor allem aber in kulturellen und sozialen Zirkeln und Vereinigungen. Die Idee einer islamischen Alternative zum pluralistischen Staat blieb so in weiten Teilen der Bevölkerung lebendig. In den 1980er Jahren erhielt dieser marginalisierte Islamismus plötzlich einen ungeahnten Auftrieb. Inspiriert durch die Revolution 5 | Zur Dynamik der sogenannten »Darul Islam«-Bewegung vgl. Dengel (1986); Van Dijk (1981).

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im Iran erschien der Islam als ernsthafte Alternative zu Nationalismus und Sozialismus, als erfolgreiches und nachahmungswürdiges Modell für postkoloniale Staaten und moderne nicht-westliche Gesellschaften. StudentInnen und junge AkademikerInnen griffen die neuen Ideen weltweit auf und machten die Universitäten zu Zentren islamischer Erneuerungsbewegungen. So auch in Indonesien. An den Universitäten etablierten sich Gebetskreise, die oft von Hochschulabsolventen geleitet wurden, die ihre Ausbildung in Kairo und Mekka absolviert hatten und dort mit der Ideologie der Muslim-Brüder in Kontakt gekommen waren. Ihr Ziel war die innere Mission, die Rückführung der Bevölkerung zum wahren Glauben und die Eroberung der politischen Macht. Zunächst wirkten diese islamistischen Zirkel noch im Verborgenen, doch mit abnehmender Repression in den 1990er Jahren wagten sie sich mehr und mehr in die Öffentlichkeit. Seit dem Ende der Diktatur im Jahr 1998 haben sich islamistische Parteien und Organisationen mit wahrhaft atemberaubender Geschwindigkeit vervielfältigt (vgl. Schröter 2003, 2007a). Es scheint ganz so, als sei eine islamische Kulturrevolution in Gang gesetzt worden, die den postkolonialen Staat in einer radikalen Weise als nicht-westlich definiert und dabei einen neuen Schulterschluss mit den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens sucht.

Islamismus als Jugendkultur Bei allen Versuchen, die islamische Moderne als das »Andere« der westlichen Hegemonialkultur zu konstituieren, sind allerdings Ähnlichkeiten zu einem vornehmlich westlichen Phänomen der Moderne nicht zu übersehen. Es handelt sich um die vielfältigen Erscheinungen einer islamistischen Jugendkultur, die gegen die ältere Generation revoltiert und dabei gleichzeitig Front gegen das traditionelle Senioritätsprinzip macht. Eine Reihe von Gesprächen, die ich im Jahr 2005 mit Aktivistinnen der international tätigen Gruppe Hizbut Tahrir6 in Indonesien führte, zeigte, wie junge Frauen die Mitgliedschaft in dieser islamistischen Organisation zum eigenen Empowerment nutzen und dabei tradierte Hierarchien außer Kraft setzen. Meine Gesprächspartnerinnen, allesamt Studentinnen, genossen im Vergleich zu ihren Kommilitoninnen ungewöhnlich große Freiheiten. Sie konnten im 6 | Hizbut Tahrir tritt für die Etablierung eines weltweiten Kalifats ein und wird mit den Terroranschlägen in London im Jahr 2005 in Verbindung gebracht.

142 | Susanne Schröter Dienste ihrer Organisation weite Reisen ohne Begleitung eines männlichen Familienmitglieds unternehmen. Eine von ihnen prahlte gar damit, sie habe, als sie Anfang des Jahres 2005 zu einem Hilfseinsatz ins vom Tsunami verwüsteten Aceh auf brach, ihren Vater lediglich per SMS informiert. Auch seien sie in ihren Familien als religiöse und moralische Autoritäten anerkannt, sagten sie selbstbewusst. Um ihre Autorität zu untermauern, erzählte die Wortführerin, wie sie ihren Vater, einen Angehörigen der Armee, zu einem gottgefälligen Lebenswandel bekehrt, ihm die Neigung zur Korruption ausgetrieben und ihn insgesamt zu einem netten und verträglichen Menschen gemacht habe. Eine solche Art von Reden führen junge indonesische Frauen eigentlich nicht. In Indonesien gilt das Senioritätsprinzip und insbesondere ranghohe männliche Verwandte wie der Vater werden nicht offen kritisiert, geschweige denn erzogen. Die junge Frau verhielt sich ganz und gar anmaßend und glich in ihrer Attitüde einer Rebellin, die sich aufmacht, die Welt auf den Kopf zu stellen. Dabei halfen ihr die Unbedingtheit, mit der sie einen islamischen Lebensstil durchexerzierte und die Kenntnisse, die sie sich über den Islam angeeignet hatte. Sie konnte ihre Vorstellungen und Handlungen mit Verweisen auf die Sunna oder koranischen Textpassagen begründen und machte sich so für all diejenigen, die weniger in den Grundlagen islamischer Theologie bewandert waren, unangreif bar. In einer sehr modernen Weise hatte sie Wissen gegen Tradition ins Feld geführt, und damit offenbar Erfolg gehabt. Allah stand über ihrem Vater, wer wollte das ernsthaft bezweifeln? Was konnte dringlicher sein, als den Islam zu verbreiten, Gott zu dienen und die dakwah zu betreiben? Die junge Islamistin war auf theologisch sicherem Terrain und sie nutzte diese Situation, um sich einen gesellschaftlichen Freiraum nach dem anderen zu erobern, die Beschränkungen aufzubrechen, die junge Javanerinnen hemmen und einengen, und dabei auch noch in jungen Jahren zu einer echten Autorität zu werden. Der Islamismus ist ein junges Phänomen, jung vor allem in Bezug auf seine AkteurInnen. Sie entstammen aus kulturellen Kontexten, die der Jugend wenige Spielräume lassen und sie wenden sich häufig gegen die ältere Generation, die es mit der Religion nicht so genau nimmt. Untersuchungen von Ethnologinnen, wie diejenige von Suzanne Brenner (1996), Zainah Anwar (1987) oder Karin Werner (1997) belegen, dass den AkteurInnen das Moment der Revolte durchaus bewusst ist, dass sie sich tatsächlich gegen die ältere Generation auflehnen und einen Platz in der Gesellschaft beanspruchen, der ihnen nicht freiwillig zugestanden wird. Um den Bruch der lokalen Konventionen und den Hochmut zu rechtfertigen, mit dem man den Alten

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gegenübertritt, erzählt man die Geschichte einer von Gott berufenen Generation, die angetreten sei, den Lauf der Geschichte in seinem Namen zurecht zu rücken. Die Alten werden bezichtigt, den Weg Gottes verlassen zu haben, korrupt und materialistisch, im schlimmsten Fall sogar verwestlicht geworden zu sein. Die Jugend dagegen habe sich wieder ihrer Wurzeln besonnen, sich dem Willen Allahs unterworfen und werde seiner Ordnung zum Durchbruch verhelfen.

Islamische Modernisierungsbewegungen Die jungen IslamistInnen stehen mit dieser Rede ganz in einer älteren Tradition, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts neue Denkschulen und ein neues Verständnis von Politik und Gesellschaft begründeten.7 Es handelt sich um den islamischen Modernismus, der mit Gelehrten wie Sayyid Jamal al-Din (1838-1897), der sich selbst alAfghani nannte, und Mohammed Abduh (1849-1905) verbunden ist. Abduh und al-Afghani suchten eine Antwort auf den Niedergang der islamischen Welt, der durch das unaufhaltsame Vordringen von Europäern in den arabischen Raum und den Zusammenbruch des osmanischen Reiches evident wurde. Ihrer Meinung nach war die innere Dekadenz der islamischen Eliten für die Katastrophe verantwortlich und eine Lösung des Problems konnte nur in einer Rückkehr zu den Wurzeln des Islam bestehen. Aber sie waren alles andere als rückschrittlich. Beide waren Kosmopoliten, im Orient und im Okzident gleichermaßen zu Hause, Mitglieder der Freimaurerloge »Stern des Ostens« und führten intensive intellektuelle Auseinandersetzungen mit europäischen Philosophen und Politikern. Sie lehnten tradierte Deutungen der heiligen Schriften, des Koran und der Sunna, ab, re-interpretierten zentrale Textstellen in modernem Kontext und bemühten sich um eine Synthese zwischen islamischer und okzidentaler Philosophie und Wissenschaft. Die indonesischen Anhänger von al-Afghani und Abduh schlossen sich 1912 in der Organisation Muhammadiyah, den »Anhängern Mohammeds«, zusammen.8 Sie wandten sich strikt gegen den javanischen Synkretismus, der in Indonesien unter der Bezeichnung abangan bekannt ist. Die religiösen Praktiken der abangan: Heiligenverehrung, Integration lokaler Geister, Opferrituale und Ähnliches, wurden von der Muhammadiyah ebenso als unislamisch abgelehnt wie die 7 | Vgl. Kedourie (1966); Murtaza (2005). 8 | Zur Geschichte der Muhammadiyah vgl. Alfian (1989).

144 | Susanne Schröter slametan genannten nachbarschaftlich oder verwandtschaftlich organisierten Rituale oder das der hinduistischen Tradition entstammende Schattenspieltheater. Die Muhammadiyah war anti-traditionalistisch und modern. Wie Muhammad Abduh, der in seiner Heimat Ägypten explizit dafür votiert hatte, den Bildungsstand der Bevölkerung zu heben und sich für Mädchenschulen und die Berufstätigkeit von Frauen einsetzte, engagierten sich auch die indonesischen AktivistInnen im Bildungssektor und führten Alphabetisierungskurse durch. Anders als die orthodoxen Imame sprachen sich die Führer der Muhammadiyah für eine Übersetzung des Islam in lokale Sprachen aus. Jeder Muslim und jede Muslima sollte in der Lage sein, den Koran zu verstehen. Statt eines blinden Nacheiferns der Prediger sollte jedes Individuum angehalten werden, die eigene Vernunft zu entwickeln und durch eigenständiges Nachdenken zu Schlussfolgerungen zu kommen. Die Mitglieder der Organisation trafen sich zu Gebeten und um Predigten zuzuhören, aber auch in Studiengruppen, in denen anhand des Vorbildes des Propheten Mohammed Lösungen für alltägliche Probleme erörtert wurden. Doch nicht nur religiöses Wissen sollte erarbeitet und vermittelt werde. Die Führer der Organisation entwickelten auch weltliche Curricula und übernahmen, trotz dezidierter antiwestlicher Kritik, in Europa entstandene Wissensbestände, vor allem aus den Natur- und Technikwissenschaften. Anders als traditionelle Muslime, die dorfzentriert lebten und deren geistliche Führer ein autoritäres Regime führten, gaben sich die Modernisten weltoffen und betonten die Gleichheit aller Gläubigen. Das Individuum sollte sich aus erstarrten Machtverhältnissen befreien und Unterordnung nur im Verhältnis zu Gott akzeptieren.9

Islamismus als postkolonialer Diskurs im 20. und 21. Jahrhundert Der islamische Modernismus entwickelte sich im 20. Jahrhundert in zwei polare Richtungen: in den pluralistischen Reformislam, dessen Vertreter sich zu Demokratie und einer Trennung von Religion und Politik bekennen, und in den Islamismus, dessen Anhänger für die Errichtung eines Kalifats oder zumindest für die Einführung einer islamischen Rechtsordnung votieren. 9 | Heute ist die »Muhammadiyah« die zweitgrößte islamische Massenorganisation Indonesiens, der etwa 30 Millionen Anhänger zugerechnet werden.

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Einer der wichtigsten Denker des Islamismus, Sayyid Qutb (190666), entwickelte seine Theorien aus einer Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse in Ägypten und aus offensichtlich traumatischen Erfahrungen während seiner Studienzeit in den USA, wo ihn die Freizügigkeit der Frauen zutiefst verunsichert hatte. Für ihn stand die Welt am Abgrund, einen Zustand, den er als moderne jahiliyya charakterisierte. Der Begriff jahiliyya bezeichnet in der islamischen Theologie die vorislamische Zeit, eine Zeit, in der Anarchie und Gesetzlosigkeit vorgeherrscht haben sollen, in der es keine Moral und keinen Glauben gab. Der Prophet habe seinerzeit, so die Nacherzählung arabischer Geschichte, erstmals Recht und Gesetz etabliert und die Menschen zu einer gottgefälligen Lebensführung bewegen können. Jetzt, im 20. Jahrhundert, sei von den Prinzipien dieser idealen Gemeinschaft nicht mehr viel übrig geblieben. Die jahiliyya, so Qutb, sei zurückgekehrt, doch sie sei schlimmer und verderbter als die alte je gewesen sei. Sie basiere nicht auf Unkenntnis, sondern auf Apostasie, auf Dekadenz und sowohl geistiger wie sittlicher Entartung. Es bedürfe einer im Glauben gefestigten, den Verlockungen der materiellen Welt widerstehenden religiösen Elite, um eine Umkehr einzuleiten.10 Qutb entwickelt in seinen Schriften sowohl einen eigenen Wahrheitsbegriff als auch eine dezidierte Vorstellung von Gerechtigkeit. Seine erste einflussreiche Schrift trug den Titel »Soziale Gerechtigkeit im Islam« (1999; Übers. der Autorin). Die weltlichen Ordnungen, so schreibt er, seien illegitim wie auch deren politische Führer. Um die göttliche Ordnung wieder herzustellen, müssten diese modernen Regime von den wahrhaft Gläubigen in einem heiligen Krieg hinweggefegt werden, weshalb der Jihad nicht nur gerechtfertigt sei, sondern geradezu eine Pflicht darstelle. Sayyid Qutbs Schriften stellen einen radikalen postkolonialen Diskurs dar, der geeignet war, sowohl die westlichen Regime als auch die korrupten Herrscher der arabischen Welt zu kritisieren. Nicht eingelöste Versprechen wirtschaftlicher Entwicklung und politische Repression definierte er als Folgen von »Verwestlichung«, und die Lösung dieser Probleme konnte seiner Theorie nach nur in einer neuen Hinwendung zum Islam und in einer Unterwerfung unter die in den Schriften niedergelegten Gebote bestehen. Qutbs Gegenentwurf zur säkularisierten Moderne bestand in der Aufhebung der Trennung von Religion und Politik und forderte die Durchsetzung der Dominanz des Religiösen gegenüber allen anderen Bereichen. Diese Dominanz beinhaltete auch die lückenlose Kontrol10 | Zur Theorie Qutbs vgl. Soffar (2004).

146 | Susanne Schröter le des Einzelnen, dessen moralischer Lebenswandel und praktizierte Frömmigkeit zu einem Politikum wurden. Qutb verurteilte Individualisierung und die Freiheit des Einzelnen als Indikatoren von Verwestlichung und legte auch für die zwischenmenschlichen Beziehungen ein islamisches Modell von nicht-westlicher Moderne vor. Qutbs Theorie war und ist in der islamischen Welt wirkmächtig und seine Thesen haben sich längst in Parteiprogrammen, Lifestylekonzepten islamischer Gemeinschaften und Handlungsanweisungen für militante Organisationen vervielfältigt. Seine gewaltbejahende Rhetorik hat Eingang in die mediale Massenkultur gefunden, dient als Referenzrahmen militanter islamistischer Führer und wird auf Internetportalen oder in Videoproduktionen verbreitet. In islamistischen Filmen werden Geschichten von Leiden und Widerstand derzeit zum Mythos eines globalen Jihad verdichtet, eines eschatologischen Kampfes um eine gerechte neue Weltordnung. Die Dramaturgie ist eingängig und bestechend. Was auch immer zum Anlass genommen wird, die Kriege im Irak oder in Afghanistan, die Verfolgung von Muslimen in Tschetschenien oder Bosnien: Immer wird zuerst das unendliche Leid der Muslime dargestellt. Man sieht Menschen mit grässlichen Wunden, Leichenberge, verstümmelte Kinder, Mütter, die weinend die Hände zum Himmel heben. Dazu werden Verse aus dem Koran zitiert, Klagegesänge angestimmt, Osama bin Laden oder ein anderer Imam erklärt die Weltlage. Dann marschieren Kämpfer auf, verschleierte Reiter stürmen Säbel schwingend auf Streitrossen gegen einen unsichtbaren Feind an, die Rufe »Allahu akbar!« erklingen. Beliebt sind Sequenzen des Anschlags auf das Welthandelszentrum in New York oder Szenen, in denen lächelnde Mujaheddin ihre Autos mit Sprengstoff beladen, dem Betrachter ein letztes Mal freundlich zuwinken und dann in eine amerikanische Militärkolonne rasen. Der Mujaheddin ist der muslimische Held des 21. Jahrhunderts, der verwegene Kämpfer gegen das übermächtige Böse. Durch seinen Glauben und seine charakterliche Stärke, so wird suggeriert, rette er die Ehre der muslimischen Welt und werde den übermächtigen Feind besiegen.11 Solche Ideologien befördern andere dichotome Epistemologien. 11 | Auch im christlichen Kontext existieren ähnliche Videoproduktionen, die eine unüberwindbare Dichotomie zwischen den Religionen betonen und einen Endzeitkampf zwischen christlichem Okzident und islamischem Orient beschwören (vgl. Schröter 2007b). Welche Effekte diese medialen Erzählungen in einem lokalen Problemfeld haben könnten, hat Birgit Bräuchler (2005) anhand eines Konfliktes auf den indonesischen Molukken geschildert.

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Für den Passauer Politikwissenschaftler Hendrik Hansen ist der Terror dem Islam inhärent. Er verurteilt ihn als kriegerische intolerante Ideologie und setzt ihn mit anderen totalitären Geisteshaltungen wie dem deutschen Faschismus gleich (vgl. Hansen 2002, 2007). Eines seiner Argumente ist, dass trotz der Unterscheidung in den großen und den kleinen jihad Letzterer sowohl im Koran als auch in der Praxis zur Zeit des Propheten wohl der bedeutendere war. Darin ist ihm ohne Zweifel Recht zu geben. Mohammed war ein Kriegsherr, der, von Eroberungswillen getrieben, über seine Nachbarn herfiel, angefangen bei seiner Heimatstadt Mekka, deren Klanchefs ihm einst angeboten hatten, seinen neuen Glauben unbehelligt neben ihrem tradierten Göttinnenkult zu praktizieren. Mohammed hatte das Angebot abgelehnt.12 Für die damalige Zeit, das 7. Jahrhundert, war diese Form der Intoleranz nicht sonderlich ungewöhnlich, doch da alles, was der Prophet jemals getan und gesagt hatte, für die Mehrheit der heutigen Muslime noch immer ein absolutes Vorbild darstellt, existiert hier ein gewisses Problem. Jihadisten jeglicher Couleur können sich nämlich auf Mohammed berufen und sie finden ohne Mühe auch die entsprechenden Suren aus dem Koran für ihre Legitimierung.13 Welche Relevanz dieser Blick auf die islamische Frühgeschichte noch heute besitzt, zeigen unter anderem die Schriften des islamistischen Theoretikers Abdullah Jussuf Mustafa Azzam, der sich in Afghanistan einen Namen als Mujaheddin gemacht hatte und im Jahr 1989 einem Anschlag zum Opfer fiel. Alle zwei Monate, so resümiert Azzam in seiner Schrift »Schließ dich der Karawane an«, habe der Prophet einen Kriegszug angeführt. Der jihad sei eine Pflicht jedes einzelnen Gläubigen, der durch nichts ersetzt werden könne. Das Wort jihad bedeute »bewaffneter Kampf«, das ahadith, das eine Unterscheidung in einen großen und einen kleinen jihad vornimmt, sei gefälscht (vgl. Kepel 2005: 207). Sein Ziel formuliert er mit einem Zitat von Ibn Rushds »Prolegomena«: »Wer sich im Streben nach Erkenntnis Gottes abmüht, führt den jihad auf seinem 12 | Von Medina aus hatte Mohammed in den Jahren nach seiner Migration aus Mekka die mekkanischen Karawanen überfallen und so manche Schlacht provoziert. Wenn er gewann, teilte er die Kriegsbeute, zu der auch die Frauen der Geschlagenen gehörten, unter seinen Männern auf. Als er schließlich über Mekka siegte, wurde die alte Religion verboten, die heiligen Plätze zerstört, die Göttinnenstatuen gestürzt. Bis zu seinem Tod führte Mohammed weitere Eroberungskriege und die nach ihm folgenden Kalifen setzten diese Politik fort. 13 | Nach Lewis (2003: 52) hat die überwältigende Mehrheit der frühen Gelehrten den Jihad im militärischen Sinne interpretiert.

148 | Susanne Schröter Weg, aber der Weg auf dem jihad Gottes bedeutet einzig und allein, dass man die Ungläubigen so lange mit dem Schwert bekämpft, bis sie Muslime werden oder sich unterwerfen und die Kopfsteuer errichten.« (Ebd.: 234)

Islamismus und Gemeinschaftsbildung Diese martialische orientalische Erzählung ist in unseren Medien omnipräsent. Gleichwohl stellt sie nur eine Facette des Phänomens Islamismus dar. Beileibe nicht jeder junge Islamist möchte Mujaheddin werden und im Alltag der IslamistInnen ist der kleine jihad, der Krieg, allenfalls von virtueller Relevanz. Hier gilt es den großen jihad zu kämpfen, die neue islamische Ordnung theoretisch zu entwerfen und in den Gemeinschaften in die Tat umzusetzen. Islamisten antworten nicht nur auf eine imperial empfundene Bedrohung, sondern auch auf die Zerstörung tradierter Lebenszusammenhänge und die Multiplizierung der möglichen Identitäten. Zwar kann man heute »widerspruchsfrei amerikanische Bürgerin, von karibischer Herkunft, mit afrikanischen Vorfahren, Christin, Liberale, Frau, Vegetarierin, Langstreckenläuferin, Historikerin, Lehrerin, Romanautorin, Feministin, Heterosexuelle, Verfechterin der Rechte von Schwulen und Lesben, Theaterliebhaberin, Umweltschützerin, Tennisfan, Jazzmusikerin und der tiefen Überzeugung sein, dass es im All intelligente Wesen gibt«, wie Amartya Sen (2007: 8) betont, doch nicht jeder oder jede fühlt sich in der fragmentierten Postmoderne zu Hause. Der Sozialanthropologe Jonathan Friedman schreibt: »While hybridity flourishes in academic texts, there is little evidence that it works on the ground« (Friedman 2002: 47), und der amerikanische Sozialwissenschaftler Mohammed Bamyeh argumentiert ähnlich: »Global modernity does not create global citizens, and the failure of everything ›local‹ does not weaken the search for locally-rooted legitimacies and systems of meaning in social life.« (Bamyeh 2002: 83) Zygmunt Bauman verweist auf die als schmerzlich erlebten Verluste von Sicherheit und Gewissheit und die Zerrissenheit postmoderner Existenzen, Saskia Sassen auf die nicht eingelösten Versprechen einer Partizipation an den Reichtümern dieser Welt und das Auseinanderfallen der Weltgesellschaft in Modernisierungsgewinner und Modernisierungsverlierer (vgl. Bauman 1997; Sassen 2002). Um angesichts des erlebten Dilemmas, einerseits an der Moderne partizipieren, sich andererseits aber nicht in ihr auflösen zu wollen, Handlungsfähigkeit zu bewahren, schließen sich Islamisten, oft unter

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Führung charismatischer Persönlichkeiten, in engen Gemeinschaften zusammen und erzeugen so Lokalität in neuem Kontext. Eine dieser Gruppen in Indonesien nennt sich Daarut Tauhid und wurde bis vor kurzem von einem charismatischen Prediger geleitet. Eine andere ist die Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei (Partai Keadilan Sejahtera, PKS), eine durchsetzungsfähige neue Kraft in indonesischen Parlamenten. Beide Organisationen streben die Entwicklung des idealen Menschen und der idealen Gemeinschaft an. In einer unendlichen Folge von Seminaren, Gebetskreisen, Unterweisungen, Meditationen und öffentlichen Bekenntnissen, aber auch durch paramilitärisches Training und körperliche Übungen, soll dieser Mensch geschaffen werden, soll sich das unvollkommene Individuum wandeln und zu einem gottgefälligen Geschöpf werden. Die PKS schmiedet ihren Nachwuchs in einem mehrstufigen Einweihungsweg, auf dem die Initianden sich in Zellen unter Leitung eines älteren Kaders organisieren. Daarut Tauhid belässt es bei einem zentralen Initiationsritus, einer sechsmonatigen schulischen Ausbildung und einem auch für die Gemeinde offenen Repertoire an Bildungs- und Selbstfindungsveranstaltungen. Da die Transformation zu einem guten Muslim oder einer guten Muslima, der Ideologie von Daarut Tauhid zufolge, nicht in einem halbjährigen Kurs vollendet werden kann, sondern ein stetiger Prozess lebenslangen Lernens und Betens ist, macht man entsprechende Angebote für die Gemeindemitglieder und andere Interessierte. Dies geschieht einerseits in den Andachten in der Moschee, in denen die Gemeinschaft jedes Mal aufs Neue vom Imam in eine liminale Situation geleitet wird, weinend ihre Sünden bekennt und ein kathartisches Erlebnis erfährt, andererseits aber in Seminaren, in denen es um die Vermittlung von Wahrheit und die Vermehrung des Wissens geht. In Veranstaltungen mit klingenden Titeln wie »Positiv denken, handeln und fühlen« lernen die Gläubigen, was ilmu benar, wirkliche Wissenschaft, ist. Anders als die westliche Wissenschaft, die zwar in technologischer Hinsicht zu guten Ergebnissen geführt habe, den Menschen in seiner umfassenden Bedürftigkeit aber nicht befriedige, so die LehrerInnen, sei islamische Wissenschaft ganzheitlich. Sie vereinige die Potenzen der rechten und der linken Gehirnhälfte, versöhne die ratio mit der emotio und führe zu einer neuen Zufriedenheit mit dem eigenen Leben. Die göttliche Ordnung erlaube dem Menschen, seine intellektuellen, emotionalen und sozialen Potentiale vollständig zu entfalten und dieser Mensch sei dann in der Lage, eine Gesellschaft zu erschaffen, in der die Krankheiten der postkolonialen

150 | Susanne Schröter Staaten – Korruption und Armut, mangelnde Bildung und Werteverfall – aufgehoben seien. Mit diesem Programm haben Islamisten in Indonesien, aber auch weltweit Erfolg. Die Wohlfahrtspartei besticht ihre Anhänger nicht nur mit ihren vorbildlichen Sozialeinrichtungen, sondern auch mit ihrem Feldzug gegen Korruption. Abgeordnete spenden Teile ihres Einkommens, pflegen einen bescheidenen Lebensstil und tauschen die teuren Dienstwagen gegen preiswerte Fahrzeuge (vgl. Heilmann 2008). Sie demonstrieren, dass eine wahrhaft andere Ordnung möglich ist, wenn man dem Weg Allahs folgt. Auch Daarut Tauhid versucht eine Verbindung von Frömmigkeit und Gerechtigkeit. Ihr Führer, Abdullah Gymnastiar, entwickelte die Philosophie des »Manajemen Qolbu«, des »Management des Herzens«, in der Aufrichtigkeit, Mitgefühl und Gottgefälligkeit zur Maxime wirtschaftlichen Handelns erklärt werden. Die Prozesse islamistischer Gemeinschaftsbildung folgen einem Modell, das der Ethnologe Victor Witter Turner in seiner Theorie des sozialen Dramas entwickelt hat (vgl. Turner 1989a, b). In Anlehnung an Arnold van Genneps »Übergangsrituale« (1986) hat er einen idealtypischen Verlauf skizziert, in denen Menschen mittels eines rituellen Prozesses Transformationen durchleben. Sie werden aus ihrem bisherigen Umfeld getrennt, in eine liminale Phase geleitet, in der sich die bisherigen Strukturen auflösen und anschließend wieder reintegriert. Der liminalen Phase widmet er besondere Aufmerksamkeit, denn in ihr ereignet sich das, was er »Anti-Struktur« nennt. Die Novizen erfahren Chaos und Unordnung, ihre bisherigen Lebensmuster sind ungültig, sie werden einem starken Druck ausgesetzt und konstituieren sich als Gruppe, so dass »Communitas« hergestellt wird. Nach bestandener Prüfung kehrt die Gruppe entweder mit neuem Status in die Gesellschaft zurück oder sie wird in eine bestimmte Gemeinschaft aufgenommen. Genau dies geschieht durch die beschriebenen Riten im Wald und während der ersten Phasen des Lernens, aber auch im Rahmen der dramatischen Ereignisse in der Moschee. Turners Modell besticht nicht nur durch die Brauchbarkeit seines Analyseinstruments für die Einweihungsphasen, sondern auch durch die Übertragung seiner Theorie auf sozialrevolutionäre Bewegungen. Unter dem Einfluss der Jugendbewegungen in den 1960er Jahren beschrieb er die Herstellung von Communitas nicht nur für dezidiert rituelle Situationen, sondern für Subkulturen, die sich von den Verkrustungen der Mehrheitsgesellschaft abwendeten und ihre Visionen von Gleichheit, moralischer Integrität und Authentizität gemeinschaftlich zu leben versuchten. Die liminale Phase, so Turner, sei in diesen Gruppierun-

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gen und Bewegungen zum Dauerzustand geworden. Das triff t auch auf islamistische Gemeinschaften zu. Sie konzipieren sich als Alternative zur bestehenden Gesellschaft und sind deshalb attraktiv, weil sie glaubhaft machen, dass sie Wahrhaftigkeit, Solidarität und Gottesfürchtigkeit praktizieren. Der und die Einzelne sind keine anonymen Rädchen in einem undurchschaubaren Gefüge, sondern sie sind Gleiche unter Gleichen und besitzen einen eigenen Wert. Bei Daarut Tauhid wird die Gleichheit dadurch betont, dass alle Mitglieder, vom einfachen Schüler bis zum erfahrenen Imam, einmal in der Woche zusammen zum Müllsammeln gehen. Die Wertschätzung kommt in der immer wiederholten Betonung, sie seien außergewöhnliche Menschen (orang luar biasa) zum Ausdruck. Islamismus ist historisch als Antwort auf den europäischen Kolonialismus entstanden und hat seine Bedeutung in seinen Beiträgen zur Konstituierung postkolonialer Ordnung erlangt. Islamisten betonen die Bedeutung enger und verbindlicher sozialer Strukturen und deren Einbettung in eine verbindliche islamische Ordnung. Freiheit gilt ihnen als Bedrohung, Gemeinschaft und Gottesfürchtigkeit ist ihnen alles. Das triff t für Kollektive in islamischen Ländern genauso zu wie für Diasporagemeinschaften. Mit solchen Bekenntnissen artikulieren sie ihr Programm dezidiert als antagonistische Alternative zur postmodernen Fragmentierung. Andererseits ist die translokale Dimension des Phänomens unübersehbar. Islamistische Netzwerke organisieren nicht nur den weltweiten Terror, sondern auch seine fi nanzielle Unterstützung über nationale Grenzen hinweg. Islamistische Organisationen wie Tablighi Jaamat oder Hizbut Tahrir sind in mehreren Ländern präsent und ihre Prediger fühlen sich nicht an nationale Kontexte gebunden (vgl. Reetz 2008). Islamistische Propaganda kursiert global und sorgt für die Homogenisierung von Ikonographie und Rhetorik. Internationale islamistische Studentenvereinigungen fördern eine Vereinheitlichung des Wissens innerhalb der gesamten ummah. So ist der Islamismus von zwei scheinbar gegensätzlichen Bewegungen gekennzeichnet: entterritorialisiert, als Teil des »global cultural flow« (vgl. Appadurai 2005), bleibt er auf der Ebene des translokalisierten Subjekts um Territorialität und kulturelle Homogenität bemüht.

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Anti-Säkularismus und Moderne Während die gemeinschaftsbildenden Faktoren des Islamismus in den Sozialwissenschaften anerkannt und verstanden werden, tut man sich mit der Religiosität der AkteurInnen schwerer. Die Moderne und mehr noch die Postmoderne galten bis in die 1990er Jahre hinein als Zeitalter einer unauf haltsamen Säkularisierung. Die »Rückkehr der Religionen« (Riesebrodt 2000) stellte eine unerwartete Wendung der bis dahin als gesichert angenommenen kulturellen Evolution dar. Technisches Wissen und die rasante Entwicklung der Naturwissenschaften verursachten nicht überall eine Erosion transzendenter Systeme. Das Bedürfnis zu glauben war und ist in weiten Teilen der Welt offenbar ungebrochen. Westliche WissenschaftlerInnen stehen dem Phänomen der religiösen Renaissance und insbesondere seiner literalistischen Variante ambivalent gegenüber. Die Religionswissenschaftlerin und ehemalige Ordensschwester Karen Armstrong spricht von einer »fundamentalistischen Auflehnung gegen die Vormachtstellung des Säkularen« und dem »Versuch, Gott ins politische Leben zurückzuholen, aus dem er vertrieben worden war« (Armstrong 2000: 513). »Dieser Kampf für Gott«, schreibt sie, »war ein Versuch, die Leere im Herzen einer auf wissenschaftlichen Rationalismus gegründeten Gesellschaft zu füllen« (ebd.: 514). Für Armstrong stellt Religiosität nicht nur ein zutiefst menschliches Bedürfnis, sondern auch einen Schlüssel zu Humanität und Mitmenschlichkeit dar.14 Eher säkular orientierte Wissenschaftler sind skeptischer. Wolfgang Schluchter verweist auf den Absolutheitsanspruch und die Gewaltbereitschaft der Erlösungsreligionen, »den sie nicht allein mit dem Wert, sondern vor allem mit dem Schwert durchzusetzen suchten. Durch die Religionsgeschichte«, resümiert er, ziehe »sich mehr als eine blutige Spur« (Schluchter 2003: 38), die erst durch die Säkularisierung und die Trennung von Religion und 14 | Sie bezichtigt den Säkularismus implizit, an der Radikalisierung der Fundamentalisten mitschuldig zu sein und fordert eine Hinwendung zu christlich-humanistischem Verhalten, um die Krise abzuwenden. »Wenn die Fundamentalisten zu einer stärker vom Mitgefühl geprägten Einschätzung ihrer Feinde gelangen wollen«, schreibt sie, »so müssen sich die Säkularisten ihrerseits mehr um das Wohlwollen, die Toleranz und den Respekt vor dem Menschen bemühen […] und sich mit mehr Empathie den Ängsten, Sorgen und Bedürfnissen zuwenden, die so viele ihrer fundamentalistischen Mitmenschen empfinden und die zu missachten sich keine Gesellschaft mehr leisten kann.« (Armstrong 2000: 515)

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Politik befriedet und in einen religiösen Pluralismus verwandelt worden sei. Auch der Münchner Soziologe Ulrich Beck ist jüngst mit einigen Thesen zur Gefährlichkeit von Religionen an die Öffentlichkeit getreten. Im Wochenmagazin »Die Zeit« warnt er vor einem »neuen Zeitalter der Verfinsterung«, in dem Hass und Intoleranz herrschen. »Religion«, so seine These, »könnte eine Erfindung des Teufels sein« (Beck 2007: 12), denn ihr sei der Hang zum Totalitären, zur Dämonisierung des Anderen inhärent. Trotz dieser neuen Mobilisierung von wissenschaftlicher Religionskritik sind nur wenige WissenschaftlerInnen der Auffassung, bei Islamisten handele es sich um eine Rückkehr zur Vormoderne oder eine Reaktion von Bevölkerungsgruppen, die den Anschluss an die Moderne nicht bewältigt haben. Vielmehr hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass sie ein Produkt der Moderne oder besser der Postmoderne sind. Shmul Eisenstadt (2000) formuliert es so: »Obwohl also diese Bewegungen scheinbar traditional sind, sind sie auf paradoxe Weise antitraditional. Sie sind es in dem Sinne, dass sie die – komplexen und heterogenen – lebendigen Traditionen ihrer Gesellschaft oder Religion ablehnen und stattdessen in hoch ideologischer und essentialistischer Weise Tradition als ein überspannendes Prinzip der kognitiven und sozialen Organisation begreifen.«

Fazit Die Existenz des Islamismus führt nicht nur eine prognostizierte kulturelle Evolution ad absurdum, sie evoziert auch eine Debatte um menschliche Bedürfnisse, die im postmodernen Diskurs bislang ausgeblendet wurden. Wenn Spiritualität und Gemeinschaft für einen gewichtigen Teil der Weltbevölkerung wertvoller sind als Demokratie und Freiheit, dann stellt dies für den hegemonialen Diskurs um Entwicklung, wie er zurzeit unter westlicher Führung von der UN auf nationalstaatlicher Ebene implementiert wird, ein Problem dar. Islamisten müssen nicht mit Schulungsmaßnahmen von westlichen Werten überzeugt werden, da sie diese kennen, kritisieren und zurückweisen.15 Sie spielen virtuos auf der Klaviatur der postkolonialen Erzählungen und entwerfen eigene Utopien von Staat und Gesellschaft, die sich in 15 | US-amerikanische Anthropologinnen wie Saba Mahmood oder Lily Abu-Lughod schließen sich der Kritik an westlichen Werten und westlicher politischer Praxis an und haben ein Feld fruchtbarer akademischer Auseinandersetzung eröff net (vgl. Abu-Lughod 2002; Mahmood 2003).

154 | Susanne Schröter vielfältiger Weise von westlichen Diskursen um Demokratie und Menschenrechte unterscheiden. Sie argumentieren für eine neue politische Ordnung und ein neues soziales Gefüge, in denen die Missstände der gegenwärtigen Welt behoben und die verloren gegangene Einheit zwischen Gott und seiner Schöpfung wieder hergestellt werden sollen. Sie erschaffen ihre Vision einer nicht-westlichen Moderne in Abgrenzung zum Westen, aber auch durch selektive Übernahmen seiner diskursiven Fragmente. Die amerikanische Islamwissenschaftlerin Roxanne Euben hat Islamisten einmal als »enemy in the mirror« – als Feinde im Spiegel – bezeichnet. Wann immer wir in diesen Spiegel schauen, sehen wir auch einen Teil von uns. Eine Orientalisierung der Islamisten, wie sie in der öffentlichen Meinung vielfach vorherrscht, ist deshalb so unsinnig wie unklug. Unsere und ihre Erklärungen der Welt sind intrinsisch miteinander verflochten, bedingen und kommentieren sich gegenseitig und sind nichts anderes als unterschiedliche Facetten einer gemeinsam geteilten globalen Moderne.

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Das Eigene und das Fremde im »globalen Dorf« – Perspektiven einer kritischen Soziologie der Globalisierung Wolfgang Gabbert Einführung »Globalisierung« ist heute in aller Munde und innerhalb und außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses ein viel diskutierter Gegenstand. Allerdings wird die Debatte weitgehend unhistorisch und vornehmlich aus der Perspektive der OECD-Länder geführt. Darüber hinaus werden die Lebenswelten immer noch relativ kleiner, oft elitärer Gruppen (wie z.B. ManagerInnen oder Intellektuelle) in unzulässiger Weise als umfassende Entwicklungstendenzen verallgemeinert. Die alte Spaltung in entwickelte und unterentwickelte Welt, in Zentrum und Peripherie, wird hier in neuem Gewand als Gegensatz des Globalen (die Welt der OECD-Eliten und ihrer Spiegelbilder in anderen Kontinenten) und des Lokalen (die Welt der ländlichen Dorfgemeinschaften in Asien, Afrika und Lateinamerika usw.) wiederholt. Damit teilen wesentliche Strömungen der Globalisierungsdebatte Probleme, die bereits überkommene Modernisierungs- und Weltsystemtheorien aufwiesen: die Dynamik der Entwicklung wird nahezu ausschließlich dem Zentrum zugewiesen, während der Rest der Welt im Wesentlichen als passiver Rezipient der dominanten Trends erscheint. Ich möchte im Folgenden nach einer kurzen Diskussion des Globalisierungsbegriffs ausführlicher auf einen Aspekt eingehen, der neben der Debatte über die wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen von Globalisierungsprozessen zu den zentralen Themen der gegen-

160 | Wolfgang Gabbert wärtigen Diskussion zählt, nämlich der Frage nach ihren kulturellen Folgen.

Zur Soziologie der Globalisierung Es gibt mittlerweile zahlreiche Definitionen von Globalisierung. Die meisten von ihnen thematisieren eine Eigenschaft der Weltgesellschaft, die John Tomlinson als »komplexe Verbundenheit« (complex connectivity) bezeichnet. Globalisierung meint demnach einen Prozess der schnellen Entwicklung und zunehmenden Verdichtung von Netzwerken der Verbindung und Abhängigkeit im sozialen Leben (vgl. Tomlinson 1999: 2).1 Globalisierung beinhaltet nach der Auffassung vieler Autoren zudem eine zunehmende räumliche Nähe, ein Zusammenschrumpfen von Distanzen, das Marshall McLuhan in seinem mittlerweile klassisch gewordenen Begriff des »globalen Dorfes« anschaulich gemacht hat. Dieses »Näherrücken« ist zum einen darauf zurückzuführen, dass sich die zur Überwindung von Distanzen notwendige Zeit dramatisch reduziert hat. Dies kann unmittelbar physisch geschehen – zum Beispiel durch schnelle Verkehrsmittel wie das Flugzeug – oder ideell durch die neuen Möglichkeiten der elektronischen Weitergabe von Informationen und Bildern in nahezu jeden Winkel dieser Erde. So hat zum Beispiel die Vereinigung der Zugbetreiber in Großbritannien Call-Center in Indien mit der Erteilung von Auskünften über Fahrpläne, Fahrkarten und Betriebsstörungen beauftragt (vgl. Claassen 2004). Globalisierung wird in der Öffentlichkeit gemeinhin als etwas historisch Neues begriffen und auch zahlreiche SozialwissenschaftlerInnen betrachten sie als ein Spezifi kum der modernen kapitalistischen (u.a. Wallerstein 1990; Giddens 1991) oder postmodernen Gesellschaft (vgl. Harvey 1989; Lash/Urry 1994; Castells 1996, 1997, 1998; Beck 1998). Globalisierung wird meist als eine Art Epochenbruch verstanden – »eine grundlegende Reorganisierung von Zeit und Raum« (Inda/Rosaldo 2002: 5). So versteht auch Nederveen Pieterse (1995) die Globalisierung als eine historische Epoche, die mit den 1960er Jahren begonnen hat und die vorhergehende Epoche der Moderne (ca. 18401960), die unter anderem durch die Hegemonie des Nationalstaates charakterisiert war, ablöst. Ich halte es wie Jonathan Friedman (1994) 1 | Diesen Aspekt betonen unter anderem auch Giddens (1991); Hall (1992); McGrew (1992); Friedman (1995); Castells (1996, 1997, 1998); Held/ McGrew (2000); Inda/Rosaldo (2002: 2).

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und André Gunder Frank (1993) hingegen für weiterführender, den Blick auf ähnliche Entwicklungen in früherer Zeit und in anderen geographischen Kontexten zu richten, ohne wichtige Unterschiede im Charakter und den Ausdehnungen der wechselseitigen Beziehungen und der zur Verfügung stehenden technischen Mittel zu vernachlässigen (s.a. Frank/Gills 1993; Nederveen Pieterse 1995: 4649). Die Neuheit vieler Aspekte der jüngeren Entwicklung wird von zahlreichen Autoren überbetont, da sie die realen oder vermeintlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte mit einem (idealisierten) Bild voneinander stark abgegrenzter Gesellschaften und voll entwickelter Nationalstaaten kontrastieren. Hiergegen möchte ich zwei Einwände vorbringen: 1. entspricht das verwendete Bild des Nationalstaates in vielerlei Hinsicht nicht der Realität und die Abgegrenztheit früherer Gesellschaften wird stark übertrieben. 2. ist die Dominanz des Nationalstaates als wichtigste Form soziopolitischer Organisation nur eine sehr kurze Phase der Geschichte. Deshalb wäre ein vergleichender Blick auf andere historische Phasen erhellender. Hier würden sich zahlreiche Parallelen zu vermeintlich neuen Entwicklungen zeigen. Dies gilt zum Beispiel für die Pendel-Migration oder das Vorhandensein enger transnationaler Beziehungen zwischen MigrantInnen und Ursprungsregion. So war saisonale Migration zwischen Staaten in Europa schon seit der früheren Neuzeit ein verbreitetes Phänomen. Über das Hochland der französischen Auvergne wird berichtet, dass das Überleben der einen Hälfte der Bevölkerung von der Migration der anderen Hälfte abhing. NorditalienerInnen zogen im Frühjahr zur Arbeit in die Schweiz, nach Österreich oder Frankreich, um im Herbst in ihre Heimat zurückzukehren (vgl. Sowell 1996: 20). Als eine Folge der Globalisierung wird häufig ein Trend zur weltweiten kulturellen Angleichung, zur Herausbildung einer homogenen Weltkultur postuliert, welche die bestehende Vielfalt kultureller Systeme mehr und mehr ersetze. So behauptet beispielsweise auch der liberale japanische Ökonom Kenichi Ohmae knapp 150 Jahre nach vergleichbaren Aussagen von Marx und Engels (1970 [1847/48]), dass der globale Markt eine »grenzüberschreitende Zivilisation« schaffe. Dabei glichen sich die Geschmäcker und Präferenzen der Konsumenten einander an und »globale Marken« von Blue Jeans, Cola und Turnschuhen stünden im Mittelpunkt. Zugleich postuliert er durch die Verbreitung der neuen Informationstechnologien eine Veränderung der Wertestruktur hin zu größerer Offenheit, Kritikfähigkeit und Kreativität (vgl. Ohmae 1995: 29, 36f.; s.a. Robins/Webster 1999; Inkeles 2001). Andere Autoren charakterisieren dagegen die kulturelle Hegemonie des Westens aus einer kritischen Perspektive als »Kul-

162 | Wolfgang Gabbert turimperialismus«, »Amerikanisierung«, »Coca-Kolonisierung« (vgl. Schiller 1986; Howes 1996), »McDonaldinisierung« (Ritzer 1993) oder »Verwestlichung« (Latouche 1994), teilen aber die These einer weltweiten kulturellen Angleichung. In der Soziologie hat die Globalisierungsdebatte zu einer Infragestellung der Zentralkategorie »Gesellschaft« geführt, die immer weniger als abgegrenztes System begriffen werden könne (u.a. Featherstone 1990: 2f.; Giddens 1991: 64; Featherstone/Lash 1995: 2; Nederveen Pieterse 1995: 63). In der Ethnologie ist »Kultur« die Leitkategorie. Kultur wurde in der älteren ethnologischen Diskussion, beispielsweise im Funktionalismus, meist als ein System geteilter Bedeutungen gefasst, das für eine Gemeinschaft – Nation, Ethnie oder ethnische Gruppe – charakteristisch sei. Dabei wurde in der Regel ein enger Zusammenhang mit bestimmten Territorien unterstellt. Die Unterscheidung von Gesellschaften, Nationen und Kulturen deckte sich mit Unterteilungen des Raumes. Jedem Land entsprach demnach eine eigene Kultur und Gesellschaft. So wurde oft umstandslos von »der« deutschen oder chinesischen Kultur und Gesellschaft gesprochen. Die Ethnologie sah die Welt lange Zeit überwiegend als ein »Mosaik von Kulturen«, in dem jede Kultur als System geteilter Bedeutungen und Institutionen deutlich von jeder anderen abgesetzt war (vgl. Malinowski 1985: 79). In diesen Vorstellungen von Gesellschaft und Kultur spiegeln sich die Prinzipien der Nationalstaatlichkeit wider, die sich zunächst in Europa seit dem Ende des Ancien Régime als allgemeines Prinzip soziopolitischer Organisation durchzusetzen begannen. Bis zur Französischen Revolution wurde in Europa die Bevölkerung eines Landes von den herrschenden Eliten lediglich als eine Ansammlung von unzivilisierten und kulturlosen Untertanen begriffen. Herrschaft und soziale Ungleichheit wurden gleichermaßen als »gottgewollt« und unveränderbar interpretiert. Mit der Durchsetzung des Nationen-Denkens als zentraler Ideologie zur Legitimierung politischer Herrschaft seit dem späten 18. Jahrhundert begann das Volk hingegen als souveräne politische Gemeinschaft gedacht zu werden, deren Mitglieder durch eine gemeinsame Geschichte und Kultur miteinander verbunden seien. Die Staaten wurden nun zunehmend als Nationalstaaten verstanden, das heißt ihr sozialer Träger sollte eine ethnisch und kulturell weitgehend homogene Bevölkerung sein (vgl. Greenfeld 1992; Hannaford 1996). Dabei verlief die Herausbildung von Nationalstaaten in Europa keineswegs zufällig parallel zur europäischen Expansion nach Übersee. Die Bestrebungen zur inneren kulturellen Homogenisierung (u.a. Durchsetzung von Nationalsprachen) und der nach außen gewendeten kolonialen Expansion waren dabei

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auf vielfältige Weise miteinander verknüpft (vgl. u.a. Weber 1980; Dirks 1992; Gabbert 2007). Die Vorstellungen der Übereinstimmung von Nation/Ethnie, Kultur und Raum waren nie unumstritten. So verwies bereits Ruth Benedict darauf, dass sich in stratifizierten Gesellschaften die Kulturmuster von Bevölkerungsgruppen, die an einem Ort leben, signifi kant voneinander unterscheiden können: »[D]ifferent ways of living are today not primarily a matter of spatial distribution.« (Benedict 1935: 166) Die allgemeine Unzulänglichkeit der Annahme einer Entsprechung von Ethnie, Kultur und Raum trat dann spätestens seit dem Beginn der Debatte um Ethnizität Ende der 1960er Jahre deutlich zutage (vgl. Barth 1969; Gabbert 1992: 16-37, 2006). Die Diskussion über die Problematik dieser Vorstellung wird jedoch insbesondere seit den 1990er Jahren verstärkt geführt. Die Globalisierung – so scheint es – hat die enge Bindung von Gesellschaft, Kultur und Raum radikal aufgelöst. Kulturelle Objekte wie Kleidung, Nahrung oder Musik zirkulieren schnell durch immer weiter expandierende Netzwerke. So existieren heute nahezu überall auf der Welt Orte, die sich durch ein hohes Maß an Uniformität und Standardisierung auszeichnen. Zu denken ist hier zum Beispiel an Flughafengebäude, Einkaufszentren oder Multiplexkinos. Zudem sind mittlerweile bestimmte Stile, Moden und Marken – etwa Coca Cola, McDonalds, Microsoft, Levis oder Nike – nahezu überall auf der Welt präsent. Beispielsweise spielen indische Filmproduktionen in den Kinos Nordnigerias eine wichtige Rolle.2 So ist nach der Auffassung vieler SozialwissenschaftlerInnen eine Welt entstanden, in der kulturelle Subjekte und Objekte – das heißt Menschen, Kapital, Waren, Bilder und Ideen – von der Bindung an bestimmte Orte losgelöst sind (vgl. Gupta/Ferguson 1992; Tomlinson 1999: 27-29, 106149; Inda/Rosaldo 2002: 2, 11). Kultur wird hier als deterritorialisiert begriffen, was die Homogenisierungsthese zu stützen scheint. In der Tat hat das Bild einer deterritorialisierten Kultur und einer 2 | Die indischen Filme sind zum einen relativ preiswert. Zum anderen sprechen sie die mehrheitlich muslimische Bevölkerung in Nordnigeria unter anderem deshalb stark an, weil sie für beide Kontexte – Indien wie Nigeria – relevante Probleme thematisieren, etwa das Spannungsverhältnis zwischen überkommenen moralischen Werten und raschem gesellschaftlichen Wandel. Auch spielt das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und seiner Familie und Verwandtschaftsgruppe häufig eine zentrale Rolle. Schließlich zeigen sie die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Entwicklung, die sich erheblich von dem Bild der säkularisierten US-Produktionen unterscheidet (vgl. Larkin 1997).

164 | Wolfgang Gabbert globalen kulturellen Homogenisierung auf einer gewissen Abstraktionsebene eine große Plausibilität. Zu fragen ist jedoch, ob es nicht unterhalb dieser meines Erachtens kaum zu bestreitenden Prozesse nicht gegenläufige oder widersprüchliche Entwicklungen gibt. Kann die bloße nahezu weltweite Präsenz von Gütern wie Coca Cola, Marlboro-Zigaretten oder McDonalds-Hamburgern wirklich als Beleg für die Herausbildung einer einheitlichen, kapitalistischen Weltkultur betrachtet werden? Ist die heutige Welt in der Tat ein »einziger Platz«, wie es die Metapher vom »globalen Dorf« und der Begriff der Globalisierung nahelegen?

Befunde einer kritischen Soziologie der Globalisierung Man kann die These der globalen Homogenisierung der Kultur mit dem Besuch in einem fremden Land vergleichen, bei dem der Besucher mit dem Flugzeug ankommt, jedoch nie das Flughafengebäude verlässt und seine Zeit damit verbringt, durch die mit internationalen Marken bestückten Duty-free-Shops zu stöbern. Obwohl der internationale Luftverkehr rasch zunimmt, ist er immer noch auf eine relativ kleine Zahl von Menschen beschränkt – so sind selbst viele Bürger in den reichsten Staaten dieser Erde noch nie geflogen – und eine noch geringere Zahl gehört zu den Dauerfliegern. Der Luftverkehr kann folglich ebenso wie das Internet als »eine Globalisierung für die Wohlhabenden« bezeichnet werden (Tomlinson 1999: 8). Um entscheiden zu können, wie plausibel die Homogenisierungsthese wirklich ist, müssen wir jedoch die Sicherheit der Flughafenhalle verlassen und tiefer in das kulturelle Hinterland vordringen. Auch wenn Tendenzen zu einer Deterritorialisierung von Kulturelementen offensichtlich sind und »westliche« Waren, Bilder und Konzepte mittlerweile in nahezu der ganzen Welt auftauchen, bilden diese Entwicklungen nur eine Seite des gegenwärtigen Globalisierungsprozesses. Denn Globalisierung ist, wie unter anderem Arjun Appadurai (1990) und James Ferguson (1999) hervorheben, ein inhärent ungleicher und ungleichmäßiger Prozess.3 So existiert jenseits der standardisierten Welt der internationalen Geschäftsleute eine Vielzahl kulturell unterschiedlicher Lebenswelten. Diese beschränken sich auch 3 | So bezeichnet etwa Smith (1997: 182) die Globalisierung als »die jüngste Stufe ungleicher Entwicklung«. Beispielsweise gehen Schätzungen davon aus, dass zwei Drittel der gegenwärtig lebenden Menschen noch nie ein Telefongespräch geführt haben (vgl. Ferguson 2002: 143).

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keineswegs auf vermeintlich von der kapitalistischen Globalisierung noch nicht erfasste Randgebiete. Insbesondere VertreterInnen postkolonialer Ansätze, wie etwa Stuart Hall, haben unter anderem mit ihren Arbeiten zu Migrationsprozessen und der zunehmenden Entwicklung von Diasporasituationen und transnationalen Gemeinschaften in den Ländern des Zentrums, insbesondere den ehemaligen Kolonialmächten, für eine wachsende kulturelle Differenzierung auch in diesen Regionen argumentiert (vgl. Appadurai 1990; Hall 1992; Clifford 1994). Die Verbreitung gleicher Güter in zahlreichen Ländern der Erde ist lediglich ein Beleg für den Einfluss einiger transnationaler Unternehmen, die einen großen Teil der weltweiten Märkte kontrollieren. Sie sagt zunächst jedoch noch wenig über die kulturellen Folgen aus. Die Homogenisierungsthese beruht folglich auf einem sehr begrenzten Verständnis von Kultur, die sie im Wesentlichen auf ihre materiellen Güter reduziert. Kultur kann jedoch nicht losgelöst von den Bedeutungen verstanden werden, welche die Menschen ihrem Leben und den Dingen, mit denen sie umgehen, geben. Die Übernahme bestimmter Güter beinhaltet keineswegs automatisch auch die Annahme der damit verbundenen kulturspezifischen Bedeutungen (vgl. Appadurai 1990: 295; Featherstone 1990: 10; Friedman 1990: 314-319, 1994: 28, 32, 100; Tomlinson 1999: 83f.; Gurnah 1997; Street 1997; Inda/Rosaldo 2002: 15-17). So hat bereits Lowie (1929) argumentiert, dass fremde kulturelle Einflüsse und Objekte immer in die spezifischen kulturellen Umwelten bestimmter Räume eingepasst, lokalisiert werden müssen. Dieser Prozess wird in neuerer Zeit von Inda und Rosaldo (2002: 2, 11) als »Reterritorialisierung« bezeichnet (s.a. Robertson 1995: 38; Nederveen Pieterse 1995: 53f.; Howes 1996: 5f.). Die folgenden Beispiele sollen einige Aspekte dieses Lokalisierungsprozesses illustrieren: 1. Coca-Cola gilt geradezu als Synonym für die weltweite Verbreitung »westlicher« Güter und Konsumgewohnheiten. 4 Zweifellos hat dieses Produkt in vielen Regionen andere Getränke lokaler Provenienz in erheblichem Umfang verdrängt. Aber die Arten des Konsums von Coca-Cola und die damit verknüpften Bedeutungen sind keineswegs überall auf der Welt gleich. So werden diesem Erfrischungsgetränk in vielen Ländern Eigenschaften zugeschrieben, die sich von den Vorstellungen der Erzeuger erheblich unterscheiden. In Russland ist beispielsweise die Auffassung verbreitet, die süße Flüssigkeit könne Falten glätten, in Haiti meinen manche, sie könne Tote zum Leben erwecken, und auf Barbados schreibt man 4 | Siehe zum Beispiel Hannerz (1992: 217) Begriff der »cocacoloni-

zation«.

166 | Wolfgang Gabbert ihr die Fähigkeit zu, Kupfer in Silber zu verwandeln (vgl. Howes 1996: 3-6; Watson 2006: 36). 2. Das guelaguetza ist eine etablierte Institution in den ZapotekenGemeinden der Sierra von Oaxaca in Mexiko. Es handelt sich dabei um ein System des gegenseitigen (reziproken) Austausches von Gütern und Arbeitsleistungen über einen längeren Zeitraum, bei denen der Geber den Anspruch erwirbt, seine Leistungen zu einem späteren Zeitpunkt zurückzuerhalten. Dieses System wird unter anderem bei Familienfesten, religiösen Zeremonien und der Landarbeit benutzt. Der Charakter des guelaguetza hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht unwesentlich verändert. Noch bis zur Mitte des Jahrhunderts wurden beispielsweise bei Hochzeitsfesten von den Gästen vor allem Nahrungsmittel und Speisen übergeben. Es ging also unter anderem darum, den Familien die Ausrichtung der mit erheblichen Aufwendungen verbundenen Hochzeiten zu erleichtern und sich für die Zukunft die Unterstützung der »Beschenkten« bei ähnlichen Gelegenheiten zu sichern. Seit Mitte der 1980er Jahre sind in vielen zapotekischen Gemeinden große Teile insbesondere der jüngeren männlichen Bevölkerung zur Arbeit in die USA migriert. In der Regel erhalten sie die Bindungen an ihre Herkunftsgemeinde aufrecht. Mit den Dollareinkünften hat sich der Charakter der im guelaguetza weitergegebenen Güter stark gewandelt. Heute erhalten die Bräute zur Hochzeit moderne und sehr teure Einrichtungsgegenstände und Haushaltsgeräte (vgl. Dürr 1995). Bis zu diesem Punkt könnte man den Veränderungsprozess schlicht als Anpassung an »westliche« Konsummuster verstehen. Viele Paare erhalten jedoch bestimmte Güter mehrfach, zum Beispiel fünf Kleiderschränke, drei Gasherde, zwei Nähmaschinen, zwei Betten, mehrere Tische. Die meisten dieser Güter werden nicht genutzt oder verkauft, sondern als Zeichen des sozialen Status stolz im Haus aufgestellt und Besuchern präsentiert. Sie sind jedoch nicht einfach Statussymbole und damit direkt mit der Bedeutung von Autos in den USA oder Europa vergleichbar, sondern bleiben in das System des reziproken Gütertausches eingebunden. Gleichwertige Güter müssen später zu den Gebern zurückfl ießen. 3. Viele afrikanische Kirchen, die seit der Kolonialisierung Ende des 19. Jahrhunderts entstanden sind, verstehen sich zwar als christlich und haben die Bibel und viele Symbole des Christentums übernommen. Der Gebrauch dieser Symbole und Objekte entspricht jedoch häufig kaum den mitteleuropäischen Vorstellungen. So wird zuweilen der eigene Hochgott mit dem christlichen identifiziert und der Kosmos mit Ahnengeistern und Naturkräften bevölkert.

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Die Bibel wird zu einem Objekt, dem selbst übernatürliche Kräfte zugeschrieben werden (vgl. Friedman 1994; Meyer 1998). 4. New York City ist einer der bevorzugten Zielorte für mixtekische MigrantInnen aus dem Süden Mexikos. Viele von ihnen haben sich den Konsumgewohnheiten der USA – soweit ihre Mittel es zulassen – angepasst und Videorecorder sind ein begehrtes Gut. Videorecorder werden jedoch nicht nur zum Abspielen von Unterhaltungsfi lmen nordamerikanischer Provenienz benutzt, sondern dienen daneben zur Aufrechterhaltung der Bindungen an die Herkunftsgemeinde in der Mixteca. Denn es werden häufig nicht nur Aufnahmen von Familienfesten gezeigt, sondern auch Filme über die alljährlich im Dorf stattfindenden großen Feste zu Ehren der Dorf heiligen, die eine zentrale Rolle für die interne politische Organisation der Mixteken-Gemeinden in Mexiko haben (vgl. Pries 1996). Die modernen Medien wirken hier folglich weniger homogenisierend, sondern dienen der Aufrechterhaltung der kulturellen und ethnischen Unterschiedlichkeit zur Mehrheitsgesellschaft. Diese Beispiele zeigen, dass aus fremden Kontexten stammende kulturelle Objekte und Symbole bestehende Praktiken zwar maßgeblich verändern, ihre Aneignung jedoch durch das bestehende Bedeutungssystem entscheidend beeinflusst wird. »Westliche« Waren, Bilder oder Konzepte tauchen zwar mittlerweile in nahezu der ganzen Welt auf, sie werden jedoch »kreolisiert« (einheimisch gemacht), so dass ihr Gebrauch, ihre Bedeutung und ihre Interpretation häufig nicht jenen der Ursprungsorte entsprechen. Das letzte Beispiel zeigt darüber hinaus, dass die Aneignung »westlicher« Güter selbst bei übereinstimmendem Gebrauch (die Video-Kameras werden zum Aufnehmen von Filmen benutzt) der Erhaltung kultureller Differenz dienen kann.5 Auf einen weiteren Aspekt der komplexen kulturellen Einbettung der Aneignung von Gütern weist das Beispiel der melanesischen Cargo-Kulte hin. Dabei handelte es sich um Heilserwartungsbewegungen, die sich häufig gegen die europäische Kolonialherrschaft und die 5 | Michaels (2002) zeigt nicht nur, dass die Warlpiri Aborigines in Australien TV- und Videofi lme »westlicher« Herkunft ihrem eigenen kulturellen Hintergrund (Verwandtschaftsstrukturen, Erzählformen usw.) entsprechend neu interpretieren. Darüber hinaus wird deutlich, dass von Gruppenangehörigen selbst produzierte Video-Filme einer eigenen Logik folgen. Was für europäische BeobachterInnen als ermüdend lange Landschaftseinstellungen erscheint, ist für die Warlpiri ein Nachverfolgen der Wege, auf denen Ahnen oder Geister gereist sind.

168 | Wolfgang Gabbert christliche Missionierung richteten. Meist forderten einheimische Propheten ihre Anhänger zur Beilegung von Streitigkeiten und zur Einstellung anti-sozialer Handlungen (wie Hexerei) auf. Darüber hinaus verlangten sie entweder die Revitalisierung traditioneller Praktiken (u.a. Tänze, überkommene Siedlungsmuster usw. – so etwa die John Frum-Bewegung auf der Insel Tanna) oder, wie im Falle der Paliau-Bewegung auf den Munus Inseln, die Aufgabe der Traditionen und die Übernahme europäischer Verhaltensweisen und Güter. Bei Erfüllung der genannten Bedingungen würden die Ahnen die Einheimischen mit Schiffs- oder Flugzeugladungen »westlicher« Produkte versorgen. In Erwartung dieser Güter wurden zum Teil Landebahnen für Flugzeuge, Anlegestellen für Schiffe und Lagerhäuser errichtet. Man glaubte in Übereinstimmung mit überlieferten Vorstellungen, dass: »die Weißen irgendein esoterisches Geheimnis besitzen, wodurch sie des Cargo [der fremden Güter] teilhaftig werden. Anders als traditionelle Güter, in deren Besitz man nicht bloß durch magische Verfahren, sondern nur durch eine Kombination von Magie und harter Arbeit gelangte, wurden die europäischen Güter ganz offensichtlich auf rein magischem Wege erworben.« (Worsley 1973: 332; s.a. Lindstrom 1993)

Da die Europäer in Melanesien diese Güter besaßen, ohne sie hergestellt zu haben, entsprach diese Interpretation durchaus der wahrgenommenen Wirklichkeit. Das Beispiel der Cargo-Kulte zeigt, dass die kulturell homogenisierende Wirkung der Verbreitung »westlicher« Güter nur dann richtig eingeschätzt werden kann, wenn nicht nur deren Gebrauch an Orten jenseits des Herstellungsortes, sondern auch die mit Produktion und Verteilung verbundenen Kontexte und Vorstellungswelten berücksichtigt werden. Neben der skizzierten »Kreolisierungsdynamik« spricht auch eine Reihe anderer Entwicklungen der letzten Jahrzehnte gegen die Annahme, dass sich im Rahmen der gegenwärtigen Globalisierungsprozesse eine homogene Weltkultur herausbilden könnte. Ich denke hier an die Zunahme von Fragmentierung unter anderem durch ethnische Konflikte oder religiösen Fundamentalismus. Es handelt sich bei den ethnischen oder religiösen Bewegungen keineswegs schlicht um rückwärtsgewandte Überbleibsel vermeintlich traditionaler Verhältnisse. Sie sind vielmehr durch Globalisierungsprozesse mitbedingt und ihr Handeln ist auf die Welt als »Resonanzraum« bezogen (vgl. Robertson 1992: 26, 1995: 33-37; Nederveen Pieterse 1995: 49f.; Tomlinson 1999: 11f.; Barber 2001). So war etwa der Anschlag auf das World Trade Cen-

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ter in New York am 11. September 2001 keineswegs die irrationale Tat unverbesserlicher islamistischer Traditionalisten, sondern das kühl kalkulierte Werk religiöser Extremisten, welche die Wirkungsweise der modernen globalen Mediengesellschaft treffend analysiert hatten und für ihre Zwecke einzusetzen suchten (vgl. Elwert 2001). Das Zapatistische Heer der Nationalen Befreiung (EZLN), das am 1. Januar 1994 im Bundesstaat Chiapas einen bewaffneten Aufstand gegen die mexikanische Regierung aufnahm, ist in seinen Zielsetzungen und in seinem Charakter mit al-Quaida nicht zu vergleichen. Ähnlichkeiten bestehen jedoch hinsichtlich des Umgangs mit den Massenmedien. So haben die Zapatisten nur deshalb bis heute überlebt, weil sie es verstanden, vor allem über das Internet innerhalb der internationalen Öffentlichkeit Unterstützung zu mobilisieren. Obwohl sie die modernen Medien nutzt, betont die Bewegung gerade die kulturelle Besonderheit der indianischen Bevölkerung und fordert eine regionale politische Autonomie. Sie hat ihre Selbstdarstellung und ihre Programmatik jedoch nicht nur an nationalen, sondern auch an internationalen politischen Diskursen über Demokratie, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung der Geschlechter orientiert. Diese werden jedoch nicht einfach übernommen, sondern es wird versucht, diese Ideen an den lokalen Kontext anzupassen (vgl. Nash 2001; Gabbert 2004). Diese Beispiele zeigen, dass Menschen in ihren lokalen Kontexten bestimmte Aspekte der gegenwärtigen Globalisierungsprozesse – seien es die technischen Möglichkeiten von Internet und Mobiltelefon, die Herausbildung einer medial vermittelten Weltöffentlichkeit oder die Verallgemeinerung bestimmter Ideen und Diskurse – für sich nutzen, allerdings nicht unbedingt im Sinne einer Homogenisierung, sondern im Gegenteil, zur Betonung ihrer Differenz. So erleichtern oder ermöglichen neue Technologien zum Teil die Schaff ung imaginierter ethnischer oder nationaler Gemeinschaften sowie die Erhaltung und Verbreitung eigener Symbol- und Bedeutungssysteme. Niezen (2004: 78) betont zu Recht: »Commercial censorship no longer restricts the availability of print and visual media to large popular audiences communicating in homogenized languages of mass communication. Among its many functions, the Internet is a bulletin board for small-scale collective self-perceptions and aspirations.« So hat beispielsweise eine Organisation der Cree-Indianer in Kanada ein Computerprogramm entwickelt, das Texte aus dem römischen Alphabet in das Silben-Alphabet der Cree übersetzt und somit den Nutzern ermöglicht, Email-Korrespondenz und Internetrecherchen in diesem System durchzuführen (vgl. Niezen 2004: 75f.).

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Perspektiven einer kritischen Soziologie der Globalisierung Globalisierung wird heute oft zu einer alles bestimmenden Kraft stilisiert, die ihre Wirkungen quasi naturhaft entfaltet. Dabei postulieren zahlreiche Autoren eine allgemeine Tendenz der Schwächung der Nationalstaatlichkeit (z.B. Featherstone/Lash 1995: 1f.; Kellner 2002: 290). So stellt zum Beispiel Giddens (2001: 24) fest: »Die Nationalstaaten verlieren einen Teil ihrer gewohnten wirtschaftlichen Macht.« Auch im politischen Bereich wird etwa in Theorien der internationalen Beziehungen eine Machtverlagerung auf die internationale Ebene in Organisationen wie der UNO oder der Welthandelsorganisation WTO postuliert.6 Und Kenichi Ohmae prognostiziert bereits Das Ende des Nationalstaates (1995). Diese Auffassungen sind zwar nicht völlig von der Hand zu weisen, müssen jedoch zumindest in zweifacher Hinsicht modifiziert werden. Zunächst verschwindet in vielen Diskussionen über Globalisierung die reale Unterschiedlichkeit der bestehenden Staaten gänzlich aus dem Blick. Wer nur einen Augenblick darüber nachdenkt, dem wird sofort einleuchten, wie absurd es ist, etwa die USA, China und Belize miteinander vergleichen zu wollen. So hatten die USA 2006 über 299 Millionen Einwohner, ein Bruttosozialprodukt von 13,2 Billionen USDollar, und ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen von 44.970 Dollar. China verfügte mit 1,3 Milliarden zwar über mehr als vier Mal so viele Einwohner, das Bruttosozialprodukt betrug jedoch mit 2,7 Billionen Dollar nur etwa ein Fünftel des Wertes der USA und das Pro-Kopf-Einkommen lag mit 2.010 US-Dollar bei weniger als fünf Prozent des USWertes. Belize schließlich verfügte 2006 über nicht mehr als 297.000 Einwohner und das Bruttosozialprodukt betrug mit 1,2 Milliarden US-Dollar weniger als ein Zehntausendstel des Wertes der USA. Das Jahres-Pro-Kopf-Einkommen des kleinen Landes lag jedoch mit 3.650 Dollar bei weit weniger als einem Zehntel des Wertes der USA, aber um mehr als zwei Drittel über dem von China. Es ist offensichtlich, dass die Verhandlungsposition dieser drei Staaten gegenüber internationalen Organisationen oder multinationalen Konzernen höchst ungleich ist. Selbst das Bruttosozialprodukt eines Schwellenlandes wie Chile betrug 2006 mit 145,8 Milliarden US-Dollar nur etwas mehr als 70 Prozent des Umsatzes von General Motors (207,4 Milliarden US-Dollar).7 Zudem wird vernachlässigt, dass es sich bei den als Globalisie6 | Vgl. kritisch Giddens (1991: 66-67). 7 | Alle Angaben nach http://devdata.worldbank.org/external/CPPro-

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rung bezeichneten Prozessen keineswegs um das blinde Wirken unkontrollierbarer Naturkräfte handelt. Vielmehr sind zentrale Aspekte, wie zum Beispiel die Durchsetzung des Freihandels als hegemoniale Wirtschaftsideologie im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO, Ergebnis gezielter Politik der Regierungen bestimmter Staaten, die häufig spezifische nationale oder gruppenspezifische Interessen verfolgen (vgl. Scott 1997: 9-11). Auch das Aufkommen von ethnischen und regionalen Bewegungen und der Zerfall von Staaten, wie beispielsweise des ehemaligen Jugoslawien, wird häufig als Zeichen der Krise von Nationalstaatlichkeit betrachtet. So sagte der US-amerikanische Soziologe Daniel Bell, dass die Nationen heute zu klein seien, um die großen Probleme zu lösen und andererseits zu groß, um den kleinen beikommen zu können (zit. in Giddens 1991: 65; s.a. Giddens 2001: 24). Ich halte die genannten Prozesse jedoch nicht für ein Zeichen der Krise des Nationalstaatsprinzips, sondern eher für ein Moment seiner Durchsetzung im Weltmaßstab. Denn was nationale oder ethnische Bewegungen fordern, stellt ja in der Regel keine Absage an die Idee einer auf vorgeblich gemeinsamen kulturellen Grundlagen beruhenden Staatlichkeit dar, sondern die Schaff ung einer solchen Institution auf einer anderen, meist kleineren Ebene (vgl. Gabbert 2006). Die im Gefolge der Französischen Revolution entstandene Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker ist heute unter anderem durch die Tätigkeit der Vereinten Nationen und zahlloser Nicht-Regierungsorganisationen weltweit verbreitet und bietet die ideelle Grundlage für national oder ethnisch begründete Autonomiebewegungen. Die medial vermittelte Weltöffentlichkeit ist ein wichtiger Adressat für die Forderungen solcher Bewegungen und stellt heute eine bedeutende Machtressource dar. So fördern die im Rahmen der Globalisierung entstandenen technischen Mittel und Rahmenbedingungen für Politik vielfach nicht die globale Homogenisierung und das Verschwinden der Nationalstaaten, sondern stärken Tendenzen sozialer, politischer und kultureller Fragmentierung und die Vervielfältigung von politischen Einheiten, die in ihrer Grundstruktur dem Nationalstaatsmodell folgen. Es scheint mir unbestreitbar, dass wir in den letzten Jahrzehnten eine erhebliche Ausweitung sozialer, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Verflechtungen über große Entfernungen und eine dramatische Reduzierung der zur Überwindung von Distanzen notwendifi le.asp und www.gm.com/corporate/in vestor_information/stockholder_ info/ Letzter Aufruf am 4.1.2008.

172 | Wolfgang Gabbert gen Zeit erlebt haben. Insofern hat der Modebegriff »Globalisierung« durchaus eine reale empirische Basis. Es handelt sich dabei jedoch keineswegs um einen einheitlichen, in eine Richtung verlaufenden und unumkehrbaren Evolutionsprozess, sondern um eine komplexe Reihe von Prozessen, deren Auswirkungen durchaus widersprüchlich und gegensätzlich sind (s.a. Giddens 1991: 64, 2001: 24; Robertson 1995; Nederveen Pieterse 1995). So macht etwa Ferguson (2002) am Beispiel der Entwicklung sambischer Minenstädte deutlich, dass Globalisierungsprozesse zwar einerseits viele neue Verbindungen zwischen den Regionen herstellen, aber zugleich andere abkoppeln. So waren die zentralafrikanischen Minengebiete in den 1960er und 1970er Jahren in vielfältiger Weise an internationale Entwicklungen angebunden. Flughäfen wurden von internationalen Fluggesellschaften angeflogen, internationale Show-Stars bezogen die Region in ihre Welttourneen usw. Mit dem Niedergang der Minenindustrie seit den 1980er Jahren wurden zahlreiche dieser externen Verbindungen gekappt. Das Bild des »globalen Dorfes« spricht wichtige Aspekte der jüngeren Entwicklungen an. So können soziale Beziehungen durch die neuen Transport- und Kommunikationstechnologien heute in der Tat über große Distanzen hergestellt und aufrecht erhalten werden. Allerdings sind die bis heute wirkenden Globalisierungsprozesse wesentlich mit der Ausbreitung des kapitalistischen Weltsystems verbunden und so wundert es nicht, dass die Entwicklungen sehr ungleich verlaufen. Während sich die Handlungsspielräume einer relativ kleinen Zahl von Wohlhabenden durch neue Transport- und Kommunikationstechniken immens erweitert haben, ist auch der größte Teil der Weltbevölkerung von den Begleiterscheinungen der Globalisierungsprozesse in der einen oder anderen Weise betroffen – er hat jedoch so gut wie keine Kontrolle über sie (vgl. Tomlinson 1999: 9, 133f.; Ferguson 2002). Postkoloniale Ansätze stellen in diesem Zusammenhang ein wichtiges Korrektiv dar. Während die Sichtweise vieler GlobalisierungsforscherInnen vornehmlich die Perspektive »des Westens«, das heißt im Wesentlichen der OECD-Länder sowie der Eliten in anderen Weltregionen im Blick haben, fokussieren postkoloniale Zugänge die Aufmerksamkeit auf die Subalternen. Die weltweite Ausbreitung des Kapitalismus als einer Lebensform wird auch in der Zukunft nicht zur Entstehung einer homogenen globalen Kultur – im Sinne eines weltweit geteilten Bedeutungssystems – führen. Allerdings lassen sich bestimmte Konvergenzen feststellen, so etwa die zunehmende Strukturierung kultureller Praktiken durch die Warenform (vgl. Tomlinson 1999: 85-88) oder die partielle Übernahme »westlicher« Organisations- und Politikformen durch indigene

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Bewegungen in ihrem Kampf zur Erhaltung kultureller Differenz (vgl. Niezen 2004). In diesem Zusammenhang sind Ansätze, die den weltweiten kulturellen Veränderungsprozess im Wesentlichen als Kulturimperialismus und Verwestlichung oder Amerikanisierung begreifen, vor allem aus zwei Gründen problematisch: 1. Sie sehen die Subjekte außerhalb Europas und der USA als passive Konsumenten der westlichen Güter und Ideen. Sie vernachlässigen damit die Notwendigkeit und die Fähigkeit der Interpretation, Übersetzung, Aneignung und Einordnung in den lokalen Kontext, die unter anderem von postkolonialen Ansätzen hervorgehoben wird. 2. Sie analysieren die Globalisierung fast ausschließlich als Fluss von Kapital, Gütern und Ideen in eine Richtung, nämlich vom Westen in den Rest der Welt. Damit geraten die Flüsse in die entgegengesetzte Richtung aus dem Blick – zum Beispiel die Änderung der Ernährungsgewohnheiten der Menschen in den Metropolen infolge des Einflusses der Länder des Südens oder die »Rückeroberung« von Teilen der USA durch zehntausende mexikanischer MigrantInnen. Aber auch die nicht unbedeutenden kulturellen Austauschprozesse innerhalb der Peripherie, etwa die Bedeutung der indischen Filmindustrie für Indonesien, Malaysia und für Teile von Afrika, werden ausgeblendet (vgl. Robertson 1995: 38; Nederveen Pieterse 1995: 53; Larkin 1997; Inda/Rosaldo 2002: 18-23). Die genannten Ansätze sind jedoch insofern wichtig, als sie auf die immensen Asymmetrien der Macht innerhalb des kapitalistischen Weltsystems hinweisen und damit einen Aspekt in den Mittelpunkt ihrer Argumentation stellen, der in zahlreichen Diskussionen über Globalisierung und kulturelle Hybridisierung aus dem Blick zu geraten droht. Der Begriff der Globalisierung ist zu unbestimmt und vage geblieben. Er wird – in der Regel ohne das jeweils deutlich zu machen – auf unterschiedliche Prozesse und Ebenen bezogen (die Folgen ökonomischer Verflechtungen, technologischer Entwicklungen, politischer Integrationsprozesse, kultureller Kontakte, Migrationsbewegungen usw.). Der Begriff wird vergegenständlicht, und es wird der Anschein erweckt, als handele es sich dabei um ein Phänomen, als liefen all diese Prozesse in dieselbe Richtung. »Globalisierung« ist somit »ein für jede wirklich exakte Untersuchung ganz unbrauchbarer Sammelname« geblieben (Weber 1921: 242), wie es Max Weber in einem anderen

174 | Wolfgang Gabbert Kontext formulierte.8 Notwendig wäre es hingegen, die verschiedenen Ebenen (Technologie, Ökonomie, Politik usw.) zunächst analytisch zu trennen und empirisch zu untersuchen, ob sich tatsächlich zwischen den Veränderungen in einzelnen Bereichen (z.B. marktförmiges Wirtschaften und politische Demokratie) regelhafte Zusammenhänge feststellen lassen und welche angleichenden oder differenzierenden Konsequenzen die jeweiligen Verflechtungsprozesse haben. Volkswirtschaftlich und politikwissenschaftlich orientierte Studien sind häufig zu eindimensional, stärker kulturwissenschaftlich ausgerichtete Arbeiten greifen auf empirische Befunde häufi g eher anekdotisch denn systematisch zurück, was zu vorschnellen Verallgemeinerungen führt. Schließlich überbetont ein erheblicher Teil der gegenwärtigen Globalisierungsdebatte die Neuheit der heutigen Prozesse. Autoren wie Gupta und Ferguson (1992) oder Inda und Rosaldo (2002) sitzen damit zumindest teilweise dem Mythos des Nationalstaats auf. Denn kulturelle Homogenität war auch hier keineswegs der Ausgangspunkt der Entwicklung sondern ein immer wieder beschworenes und letztlich nur – häufig unter erheblicher Anwendung von Zwang – mit beträchtlichen Einschränkungen erreichtes Ziel (so etwa die Durchsetzung der Nationalsprachen, vgl. E. Weber 1980). Dinge, Menschen und Objekte waren auch vor Einsetzen der jüngeren Globalisierungsprozesse im 19. Jahrhundert und trotz weitaus weniger leistungsfähiger Transportmittel nie so ortsgebunden wie viele TheoretikerInnen suggerieren. Gefragt ist also eine empirisch fundierte, historisch orientierte und kulturvergleichende Sozialwissenschaft, welche die gegenwärtige Globalisierung als Bündel ungleichzeitiger, widersprüchlicher und keineswegs unumkehrbarer Verflechtungsprozesse analysiert.

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8 | Max Weber bezog sich mit dieser Aussage natürlich nicht auf den Begriff der »Globalisierung«, sondern auf das ähnlich schillernde Konzept der Ethnizität.

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Bourdieu, postkolonial. Anmerkungen zu einem Oxymoron1 Nirmal Puwar Die Vorstellung von Bourdieu als postkolonialem Denker konfrontiert uns mit einem Oxymoron – einer contradictio in adiecto. Dies verweist auf eine Reihe von Umständen, die für die internationale Übersetzung von Bourdieu ebenso maßgeblich waren wie für bestimmte Spannungen, die innerhalb und hinsichtlich des Feldes der Postcolonial Studies bestehen. Koloniale Kontexte ebenso wie konkurrierende antikoloniale Positionen waren Teil der sozialen Umwelt, die viel von jener Sozialtheorie hervorgebracht hat, die auch heute noch Gegenstand soziologischer Lehre ist. Diese Zusammenhänge haben jedoch selten die ihnen zustehende Beachtung erfahren. Außerdem fehlt den manichäischen Theoriedarstellungen und -rezeptionen, die verschiedene intellektuelle Felder auf eine Serie von »Ismen« verkürzt haben, die Subtilität, die

1 | Der Text entstand im Rahmen des Projekts »translate. Beyond Culture: The Politics of Translation« (http://translate.eipcp.net/) für das Symposium »Representation of the ›Other‹. The Visual Anthropology of Pierre Bourdieu«, das am 6., 7. und 15. Juli 2007 in Leipzig, Berlin und Lüneburg stattfand. Er erschien in einer früheren Fassung in dem Band Nach Bourdieu: Visualität, Kunst, Politik (2008), herausgegeben von Beatrice von Bismarck, Therese Kaufmann und Ulf Wuggenig (Wien: Turia + Kant) und wurde für den vorliegenden Sammelband durch die Herausgeber-innen geringfügig überarbeitet.

182 | Nirmal Puwar zum Verständnis des komplexen, verflochtenen und veränderlichen Charakters sozialen Denkens erforderlich ist.2

Internationale Rezeption Sociology is a Martial Art (2002), Pierre Carles’ biographischer Film über Bourdieu, beginnt mit Bourdieu in Frankreich, der in einem mit Satellitenverbindung ausgestatteten Raum sitzt. Er ist am Beginn seiner programmatischen, an die Modern Language Association (MLA) in Chicago gerichteten Rede, zu der ihn Edward W. Said, der Präsident der Vereinigung, eingeladen hatte. Thema des Vortrags war das Konzept einer transnational engagierten wissenschaftlichen Tätigkeit. In diesem Vortrag, der später als kleines Buch mit dem Titel Firing Back. Against the Tyranny of the Market (2001) erschienen ist, argumentiert Bourdieu gegen eine rein scholastische Perspektive. Seine deutlichen politischen Interventionen, ebenso wie seine Verbundenheit mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, machten das Leben unbequem für Gelehrte, die zwar die Radikalität seiner analytischen Werkzeuge anwenden wollten, ohne sich jedoch gleichermaßen mit den dezidierten Positionen zu identifizieren, die er in politischen Kampagnen einzunehmen begann. Für sie schmälerten solche Positionen seine theoretische Eleganz. Dennoch stützt sich Edward W. Said in seinem letzten Buch Humanism and Democratic Criticism (2004) direkt auf Bourdieus Arbeit anhand des Begriffs des »kollektiven Intellektuellen«, der an der »kollektiven Erfindung« in einer Art beteiligt ist, die »intellektuelles Verhalten an vielen Fronten, Orten und in vielen Stilen ermöglicht und ein Gefühl für Opposition und engagierte Partizipation lebendig erhält« (Said 2004: 140). Said (ebd.) fährt fort: »Ein Teil dessen, was wir als Intellektuelle tun, besteht nicht nur darin, die Lage zu bestimmen, sondern auch die Möglichkeiten aktiver Intervention zu erkennen, sei es, dass wir sie dann selbst ausführen oder sie bei anderen vorausschauenden Intellektuellen anerkennen, die vorangegangen oder bereits an der Arbeit sind. Provinzialismus des alten Stils – etwa ein/ eine SpezialistIn für die Literatur des frühen 17. Jahrhunderts in England – schließt sich selbst aus und scheint, offen gesagt, unnötig neutralisiert 2 | Vgl. Nirmal Puwar/Sanjay Sharma, »Short Circuiting Knowledge Production«, EduFactory. Confl icts and Transformations of the University, Online: www.eduactory.org/index.php?option=com_content&task= view&id= 55&Itemid=39 (abgerufen am 25.03.2008).

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und uninteressant. Die Annahme sollte darin bestehen, dass, wenn man auch nicht alles tun oder wissen kann, es immer möglich sein muss, nicht nur die Elemente eines Kampfes, einer Spannung oder eines naheliegenden Problems, das dialektisch erhellt werden kann, zu erkennen, sondern auch wahrzunehmen, dass andere Leute eine ähnliche Beteiligung und Arbeit an einem gemeinsamen Projekt haben.«

Was bedeutet es demnach, mit der Vorstellung von Bourdieu als postkolonialem Denker zu arbeiten? Bourdieu einfach als eurozentrischen Denker zu geißeln ist kontraproduktiv – nicht zuletzt deshalb, weil solch eine Methode, nämlich mit rezipierter Theorie zu arbeiten, darin enden würde, dass der Großteil der europäischen Theorie nicht zur Kenntnis genommen würde. Es ist vermutlich wesentlich fruchtbarer, die verschiedenen Kontexte, Allianzen und Bindungen – und auch die Lektüren und Ideen – zu betrachten, die die Entwicklung von Bourdieus Denken beeinflusst haben. Das erfordert, dass wir aufmerksam gegenüber Bourdieus Bezügen und Zitaten (etwa in seinen Schriften über Algerien) sind, von denen etliche ›orientalistisch‹ sind. Demnach gilt es, herauszuarbeiten, wie viel von seinem historischen Denken in seine analytischen Werkzeuge Eingang gefunden hat; man muss aber auch eine größere Anstrengung unternehmen, als einfach nur den Einfluss anderer AutorInnen und TheoretikerInnen auf einen besonderen Denker zu vermessen. Beispielsweise gab es in letzter Zeit ein wachsendes Interesse daran, den Einfluss Husserls und der Phänomenologie auf Bourdieu auszuleuchten. Aber auch diese Übung, die vielfach als eine ausschließlich auf Texten basierende Aufgabe wahrgenommen wird, schließt die Betrachtung von Bourdieus politischem Engagement und seinen persönlichen Verbindungen nicht aus. Bourdieus Position zum kolonialen Frankreich ebenso wie zur FlN beeinflusste unbestreitbar seinen Zugang zu den AlgerierInnen, die er in seinen Forschungen fotografierte und thematisierte. Die Freundschaften, die er in Algerien schloss – insbesondere jene mit Abdelmalek Sayad – und seine Aufmerksamkeit gegenüber den Konsequenzen von Rassismus, dem Verlust von persönlicher Wertschätzung und von Möglichkeiten in Frankreich, wirkten sich auf seine in Algerien durchgeführten Analysen aus. Die Folgen von Migration, Mobilität, Vertreibung und erzwungenem Exil haben Bourdieus Arbeit nachhaltig gekennzeichnet. Daher überrascht es nicht, dass Bourdieu in seinen letzten Lebensjahren im Zuge der Vorbereitung der Ausstellung Pierre Bourdieu. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung auf die Arbeit an den Fotografien zurückkam, die er in Algerien vor der Unabhängigkeit aufgenommen hatte. Bourdieu saß an Sayads Krankenbett und

184 | Nirmal Puwar notierte, wie Sayad seine Essays und Forschungen im Buch The Suffering of the Immigrant (2004) angeordnet wissen wollte. Diese Art von lebenslanger persönlicher und intellektueller Bindung wird von Soziologie-Lehrenden – wie Studierenden – leicht übersehen, vor allem deshalb, weil Lehrbücher ihnen Bourdieus Arbeit so nicht vorstellen. Um es vereinfacht zu sagen: Bourdieu wird hauptsächlich und vor allem als Klassentheoretiker dargestellt. Er wird in ein besonderes Lager der Soziologie gestellt, das, wie solide es an sich auch sein mag, generell nicht geneigt ist, Klasse, Kolonialismus/Postkolonialismus und Rassismus zusammen zu betrachten. Eine strukturierte Lektüre der Texte, der intellektuellen Beziehungen und der komplexen Formen, durch die diese Themen beziehungsweise Phänomene zeitlich und thematisch miteinander verbunden sind, kann größeren Aufschluss über die sozialen Produktionsbedingungen dessen geben, was wir als Wissen gelten lassen – einschließlich des postkolonialen Wissens. In Großbritannien, wo ich Soziologie lehre (Anm. der Hg.), wird Bourdieu hauptsächlich als Klassentheoretiker begriffen, der sich des Rassismus und der postkolonialen Zustände in Frankreich kaum bewusst ist. Während Anthropologiestudierende üblicherweise mit Bourdieus Arbeit in Algerien in Verbindung mit Auseinandersetzungen über Verwandtschaftsverhältnisse und -strukturen vertraut gemacht werden, wird der koloniale Kontext seiner Arbeit selten erforscht. Selbstverständlich gibt es einen größeren Kontext der Rezeption und Übersetzung europäischer Sozialtheorie, doch trotz des Nachdrucks auf die Lektüre grundlegender Texte als Übermittler einer Ideengeschichte, wird der aktuelle Kontext dieser Ideen viel zu häufig übersehen. Darum werden Studierende beispielsweise nicht ermutigt, die Bedeutung des kolonialen Kontexts für Durkheims Arbeit über den Selbstmord und die Praktiken von sati (Witwenverbrennung) bei der Lektüre und Decodierung seiner Werke zu berücksichtigen. Diese – zumeist eher unbewusste als vorsätzliche – Nachlässigkeit ist in der gesamten europäischen Sozialtheorie sichtbar: bei der Lektüre von Locke, Derrida oder Bourdieu gleichermaßen. Deshalb ist es kaum überraschend, dass im besonderen Fall Algeriens der Zugang zu französischer Theorie als einer sich in hohem Maß in kolonialen Situationen und Konflikten entfaltenden Entität kein Thema von Seminaren ist (vgl. Le Sueur 2001). Doch Cixous, Althusser, Derrida und LéviStrauss waren alle stark von Algerien beeinflusst (vgl. Young 2001). In Soziologie und Cultural Studies – den vorrangigen Disziplinen mit den meisten SchülerInnen oder ›Fans‹ von Bourdieu – werden die Studierenden wahrscheinlich eher mit den Konzepten des kulturellen und sozialen Kapitals vertraut gemacht als mit Rassismus, Algerien

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oder gar Postkolonialismus. Einige dieser verkürzten Rezeptionen haben zweifellos damit zu tun, dass eine beträchtliche Anzahl der von Bourdieu und seinen KollegInnen geschriebenen Arbeiten über Rassismus in Frankreich nicht ins Englische übersetzt wurden. Der Hauptgrund besteht aber wohl in der Vorherrschaft des Klassenbegriffs in der (britischen) Soziologie, die den Rassismus – trotz der im Buch The Empire Strikes Back (CCCS 1982) thematisierten Bezüge – selbst heute noch als ein Epiphänomen behandelt. Der Klassenbegriff hat einen derartigen Metastatus erlangt, dass einige KlassentheoretikerInnen immer noch Schwierigkeiten haben, den Rassismus innerhalb und außerhalb des Klassenzusammenhangs zu berücksichtigen. Dass neben Klasse auch Postkolonialität in Betracht gezogen wird, ist noch viel unwahrscheinlicher. Postkolonialen Überlegungen wird häufig vorgeworfen, Trennungen zu erzeugen und mehr mit Einzelheiten beschäftigt zu sein als mit dem wirklich Entscheidenden im Leben. Doch wissen wir, dass sich sogar führende TheoretikerInnen der Postcolonial Studies – Spivak und Said – jeweils auf ihre Weise von der doxa dieser Disziplin, der Postcolonial Studies, distanziert haben. Sie haben sich selbst oft nicht in den zirkulären und selbstbezüglichen intellektuellen Bewegungen von Gelehrten wiedererkannt, die etwa ohne jedes Gefühl für Ungleichheiten und der ungleichen Verteilung von Ressourcen in jeder menschlichen Geste lediglich Ambivalenz und Hybridität suchen. Es besteht kein Zweifel daran, dass das Ausbleiben von Überlegungen zu Fragen der Klasse und ökonomischen Ungleichheiten innerhalb der doxa der Postcolonial Studies zu einer bequemen Position geworden ist. Darum sind die ›Hardcore‹-KlassentheoretikerInnen, die sich üblicherweise in einigem Abstand zu diesem Feld befinden, selbst weitgehend dazu übergegangen, Bourdieu vom postkolonialen Denken zu distanzieren. Im Allgemeinen ist dies jedoch ein Blick aus der Distanz. Ebenso machen es sich postkoloniale TheoretikerInnen gemeinhin leicht, seinem Werk – ohne, wie betont werden muss, viel davon zu lesen – vorzuwerfen, dass ihm die erforderliche Aufmerksamkeit auf die postkolonialen Verhältnisse in Frankreich oder anderswo fehle. Daher das Oxymoron. Ein bestimmter Aufsatz, den Bourdieu gemeinsam mit Wacquant verfasste (Bourdieu/Waquant 1999), wurde vielfach als Hinweis darauf gewertet, dass sich Bourdieu gegen den Multikulturalismus ausspricht. Dabei handelt es sich jedoch um eine Fehldeutung. Das zentrale Anliegen dieses Artikels ist es, die Vorherrschaft nordamerikanischer Publikationsnetzwerke und AkademikerInnen in der Wissensproduktion aufzudecken, um deutlich zu machen, dass äußerst

186 | Nirmal Puwar spezielle und situierte Vorstellungen von Multikulturalismus und ›Rasse‹ unkritisch auf andere, völlig unterschiedliche internationale Zusammenhänge übertragen werden. Ebenso wird Klasse als Beispiel für dieses besondere Monopol und diesen Informationsfluss genommen, wodurch eine genaue vergleichende Analyse des Gebrauchs der Konzepte verhindert und das wiederholt wird, was man rhetorisch als ›imperiales Denken‹ bezeichnet. Der dabei zugrunde liegende analytische Punkt wird indessen zugunsten einer Lesart übersehen, die Bourdieu dem Multikulturalismus und den Überlegungen zu ›Rasse‹ und Differenz entgegenstellt.

Post-/koloniale Texturen Wenn wir Migration zum kolonialen/postkolonialen Thema machen, fällt es nicht schwer festzustellen, in welchem Maß Migration eine Angelegenheit war, die Bourdieus persönlichen Interessen seit dem Augenblick nahelag, als er das Béarn verließ, um in Paris eine Ausbildung zu erhalten. Seine eigene Migrationserfahrung war durch seine Klassenzugehörigkeit geprägt, und die kulturell gekennzeichnete Verschiebung war so tief greifend, dass sie ihn für das Thema sensibilisierte und ihn möglicherweise zu einer Überarbeitung des philosophischen Habitusbegriffs brachte. Bourdieus Forschungen in Algerien konzentrierten sich auf Zwangsmigration als Ergebnis der französischen Kolonialpolitik. Umsiedlung, Ansehensverlust und Desintegration von Gemeinschaften sind in seinem Verständnis lauter Aspekte davon, wie Menschen unter harten Bedingungen eine »Heimat« konstruieren. Die Koppelung neuer Arbeitsformen mit dem erfinderischen Einsatz von händlerischen Praktiken als Antwort auf das Schwinden von Facharbeiten ist mit neuen Städten und Zusammensetzungen, in denen sich die Leute wiederfanden, verbunden. Die Idee sowohl der unter Zwang als auch der freiwillig erfolgenden Abwanderung, insbesondere mit dem Ziel einer ökonomischen Verbesserung, hat zweifellos Anteil an Bourdieus intellektueller Sensibilität (vgl. Bourdieu/ Darbel/Rivet/Seibel 1963). All diese Beobachtungen zeigen sich auch in der Fotoaustellung Pierre Bourdieu. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung. Alle Figuren – HändlerInnen, BettlerInnen, Kinder – und die Landschaften – Lager, Gehöfte, Bars, zerstörte Hütten, Reisen – vermitteln, was es bedeutet, entwurzelt zu sein (vgl. die Publikation zur Ausstellung: Schultheis/Frisinghelli 2003). Eine der Ausstellungsfotografien zeigt Abdelmalek Sayad, den Bourdieu an der Universität von Algier traf. Sayad begleitete und unter-

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richtete Bourdieu während dessen erster Feldforschung und setzte seine Mitarbeit mit Bourdieu bis zu seinem Tod fort. Bourdieu, der die Bedeutung der kulturelle Grenzen überschreitenden Beziehungen für seine eigene intellektuelle Entwicklung reflektiert, schreibt: »Ich denke unter vielen anderen an Leila Belhacène, Mouloud Feraoun, Roland Garèse, Hénine Moula, Mimi Bensmaïne, Ahmed Misraoui, Mahfoud Nechem und Abdelmalek Sayad. Diese algerischen Freundschaften, die ohne Zweifel aus Ähnlichkeiten im Habitus entstanden, halfen mir, eine Darstellung der algerischen Realität zu erarbeiten, die gleichzeitig innig und distanziert war, aufmerksam und, wenn ich so sagen darf, teilnehmend und warmherzig, ohne deswegen naiv oder einfältig zu sein.« (2004a: 433)

Bourdieu und Sayad setzten ihr enges Arbeitsverhältnis in Paris fort. Es ist sicher wichtig, anzumerken, dass Sayads Beteiligung an Bourdieus (Algerien-)Forschungen sehr umfangreich war – am Ende seines Lebens hatte er immerhin selbst beinahe 100 Texte veröffentlicht, darunter acht Bücher. Er arbeitete über das Alltagsleben in algerischen Slums im Paris der Nachkriegszeit ebenso wie über die Zerstörung der traditionellen algerischen Landbevölkerung durch die französischen KolonialistInnen. Mit minutiöser Genauigkeit untersuchte er die Dynamik der Migrationsverkettungen von der Kabylei nach Frankreich, den Einfluss der Entkolonialisierung auf die Aufnahme algerischer ArbeiterInnen in Marseille sowie die wahrhaftige Odyssee dieser ArbeiterInnen und ihrer Kinder durch die Schichten und Institutionen der französischen Gesellschaft. So veröffentlichte Sayad kurz nach seiner Ankunft in Paris gemeinsam mit Bourdieu Le déracinement. La crise de l’agriculture traditionelle en Algérie (1964). Wir wissen, dass die durch die Feldforschung in Algerien während einer Konfliktperiode aufgeworfenen Fragen Bourdieu nicht nur dazu bewegten, mit seinem Versuch fortzufahren, die algerische Emigration nach Frankreich zu verstehen, sondern seine Aufmerksamkeit auch auf seinen eigenen Geburtsort und auf sein Aufwachsen in der Region des Béarn während der 1950er und 1960er Jahre lenkten. Bald nach der Zeit in Algerien formulierte er auch die Konzepte des Habitus und der Prädispositionen sowie der Ehre im Béarn. Bourdieu erläutert in einem Interview mit Franz Schultheis die wechselseitige Verbindung – den Zwei-Wege-Austausch – zwischen seiner Forschung im Béarn und in Algerien und seiner eigenen persönlichen Entwicklung:

188 | Nirmal Puwar »[…] dass Algerien das ist, was es mir ermöglicht hat, mich selbst zu akzeptieren. Den verstehenden Blick des Ethnologen, mit dem ich Algerien betrachtet habe, konnte ich auch auf mich selbst anwenden, auf die Menschen aus meiner Heimat, auf meine Eltern, die Aussprache meines Vaters und meiner Mutter, und mir das alles so auf eine völlig undramatische Weise wiederaneignen, denn hier liegt eines der großen Probleme entwurzelter Intellektueller, wenn ihnen nur die Alternative zwischen Populismus oder im Gegenteil einer durch Klassenrassismus bedingten Scham für sich selbst bleibt.« (Schultheis/Frisinghelli 2003: 48)

Es gab jüngst eine kritische Debatte darüber, dass Bourdieus Forschungen von einem nostalgischen Gefühl durchzogen seien (vgl. Reed-Danahay 2004; Silverstein 2004). Es ist aber ebenso entscheidend anzumerken, dass Bourdieu selbst Überlegungen hinsichtlich der Produktionsbedingungen seiner intellektuellen Nostalgie im Béarn angestellt hat. Dieses recht produktive Durcharbeiten der Nostalgie als Aspekt von Forschungssituationen ermöglicht eine Auseinandersetzung mit solchen Gefühlen anstatt einer pauschalen Ablehnung eines »schlechten« Gefühls. In seinem letzten Buch The Bachelor’s Ball (2007) kehrt Bourdieu in sein Heimatdorf im Béarn zurück, um – anhand eines dörflichen Tanzes um die Aufmerksamkeit junger Frauen – die schwierige ökonomische und soziale Lage jener Männer zu reflektieren, die dem Land verbunden geblieben sind – im Gegensatz zu jenen, die diese Verbindung durch ihre Abwanderung zugunsten eines Lebens in der Stadt gekappt oder gelockert haben. In diesem Buch, das teilweise auf in Frankreich in den 1960er Jahren veröffentlichten Essays beruht, ist Bourdieu sowohl gegenüber dem objektivierenden Blick der BeobachterInnen als auch seiner eigenen affektiven Anteilnahme mit den Teilnehmern an seiner Studie äußerst aufmerksam. Die Männer, die er dabei beobachtet, wie sie beim Freitagnachmittagstanz herumstehen und nicht tanzen, da sie ›nicht heiratsfähig‹ sind, waren schließlich seine Nachbarn und Bekannten, mit denen er aufgewachsen ist. Bourdieu war mit vielen postkolonialen Intellektuellen befreundet und teilte deren Anliegen. Sie waren Teil seines intellektuellen Werdegangs, ein Schlüssel zum Verständnis für das, was in seine Gedankenwelt vordrang und wie er sich als Intellektueller positionierte (vgl. Yacine 2004: 487). 1985 unterstützte Bourdieu Mouloud Mammeri bei der Gründung von Awal, einer Zeitschrift für Berberstudien am Zentrum für Studien der Amazigh-Kultur (CerAM) in Paris. Aus gutem Grund schrieb daher Bourdieu in Le Monde den Nachruf auf Mammeri, der bei einem Autounfall am 25. Februar 1989 ums

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Leben gekommen war. In einer Hommage an Mammeri betrachtet Bourdieu (2004b: 618) die postkoloniale Odyssee seines befreundeten intellektuellen Reisenden genau und stellt fest: »[…] die Geschichte der Beziehung von Mouloud Mammeri zu seiner ursprünglichen Gesellschaft und Kultur kann als Odyssee beschrieben werden, mit einer anfänglichen Distanzierungsbewegung zu unbekannten Ufern voller Verführungen, gefolgt von einer umständlichen und langsamen Rückkehr voller Fallen in sein Geburtsland. Diese Odyssee ist in meinen Augen der Pfad, den all jene, die aus einer beherrschten Gesellschaft, Klasse oder Region innerhalb dominanter Gesellschaften hinausgedrängt werden, betreten müssen, um sich selbst zu begegnen und wiederzufinden. In diesem Sinn ist der Werdegang von Mouloud Mammeri exemplarisch für mich.«

Bourdieu bezieht sich auf Mammeris Schriften und Forschungen – man könnte sogar sagen, er identifiziert sich damit – auf einer Grundlage, die sie als eine Arbeit anerkennt, »die durch den Sieg über die kulturelle Scham zu einer Wiederaneignung seiner eigenen Herkunftskultur [als] wahrhafte Sozioanalyse führt« (ebd.: 619). Distanz und Nähe waren für Bourdieu konstante Forschungsstrategien. Wie er Nähe zum Ausdruck brachte, war ohne Zweifel von seinen intellektuellen Umwelten und Einflüssen bestimmt. In seinem letzten Lebensabschnitt stellte Bourdieu sogar fest, dass seine Verbindung mit und die Unterstützung durch Raymond Aron ihn am Beginn seiner akademischen Karriere von den ›nicht wissenschaftlichen‹ Ausdrucksformen abgelenkt hatten. Literarische und romanartige Kommunikationsformen, die den affektiven Qualitäten seiner Forschung mehr Platz eingeräumt hätten, wurden zugunsten eines akademischen Stils zurückgedrängt, dem Autorität und Legitimität seitens der damals in Nordamerika dominanten Soziologie eingeräumt wurde. Aber dennoch hat er angefangen, sich von diesen Darstellungszwängen zu befreien. The Bachelor’s Ball ist in dieser Hinsicht völlig verschieden von einer solchen doxa. Bourdieu kann als jemand verstanden werden, der Nähe und Distanz gegenüber der Welt praktizierte, in die er eingeführt worden war und in der er sein Leben bestritt – der Akademie. Nach der Veröffentlichung von Homo academicus (1998) hatte er keine Befürchtungen mehr, dass Politik seine intellektuelle Reputation beschädigen könnte, ganz im Gegenteil. Gegen Ende des Films Sociology Is a Martial Art, mit dem dieser Artikel begann, gibt es eine Szene, in der Bourdieu seine Arbeit in einem von VertreterInnen verschiedener Ethnien betrie-

190 | Nirmal Puwar benen Radiosender diskutiert und er von Jugendlichen befragt wird, sowie eine weitere, sehr aufgeheizte Szene, die ein Diskussionsforum in einem großen Saal auf dem Land zeigt. In beiden Situationen versucht Bourdieu, seine Ideen mit Worten zu vermitteln, die nicht auf eine akademische Ausdrucksweise oder einen Stil beschränkt sind, der ausschließlich der Kommunikation mit anderen AkademikerInnen dient. Er hielt es für gleichermaßen wichtig und für die akademische Forschung produktiv, sich innerhalb und außerhalb des Elfenbeinturms ohne jene moralische Attitüde zu bewegen, die er »Antiintellektualismus« (vgl. Bourdieu 2003) nannte. Übersetzt aus dem Englischen von Tom Waibel, Birgit Mennel & Bianca Drebber

Literatur Bourdieu, Pierre (1998): Homo academicus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (2003): Firing Back. Against the Tyranny of the Market 2, London/New York: Verso. Bourdieu, Pierre (2004a): »Algerian landing«. In: Ethnography 5, S. 415-443. Bourdieu, Pierre (2004b): »The Odyssey of Reappropriation«. In: Ethnography 5, S. 617-621. Bourdieu, Pierre (2007): The Bachelor’s Ball. The Crisis of Peasant Society in Béarn, Cambridge: Cambridge University Press. Bourdieu, Pierre/Darbel, Alain/Rivet, Jean-Pierre/Seibel, Claude (1963): Travail et travailleurs en Algérie, Paris/Den Haag: Mouton. Bourdieu, Pierre/Sayad, Abdelmalek (1964): Le déracinement. La crise de l’agriculture traditionelle en Algérie, Paris: Minuit. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J.D. (1999): »On the Cunning of Imperialist Reason«. In: Theory, Culture & Society 16, S. 41-58. Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) (1982): The Empire Strikes Back. Race and Racism in 70s Britain, London/New York: Routledge. Le Sueur, James D. (2001): Uncivil War. Intellectuals and Identity Politics during the Decolonization of Algeria, Philadelphia: Pennsylvania University Press. Reed-Danahay, Deborah (2004): »Tristes Paysans: Bourdieu’s early ethnography in Béarn and Kabylia«. In: Anthropological Quarterly 77, S. 87-106.

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Said, Edward W. (2004): Humanism and Democratic Criticism, Houndmills/Basingstoke/Hamphire: Palgrave MacMillan. Sayad, Abdelmalek (2004): The Suffering of the Immigrant, Cambridge: Polity Press. Schultheis, Franz (2003): »Ein Gespräch mit Pierre Bourdieu von Franz Schultheis. Collège de France, Paris, 26. Juni 2001«. In: Franz Schultheis/Christine Frisinghelli (Hg.), Pierre Bourdieu. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, Graz: Edition Camera Astria, S. 23-50. Schultheis, Franz/Frisinghelli, Christine (Hg.) (2003): Pierre Bourdieu. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, Graz: Edition Camera Austria. Silverstein, Paul A. (2004): »Of Rooting and Uprooting: Kabyle Habitus, Domesticity, and Structural Nostalgia«. In: Ethnography 5, S. 553-578. Yacine, Tassadit (2004): »Pierre Bourdieu in Algeria at War: Notes on the Birth of an Engaged Ethnosociology«. In: Ethnography 5, S. 487-509. Young, Robert (2001): Postcolonialism. An Historical Introduction, Oxford/Malden: Blackwell.

Edward W. Saids postkolonialer Kosmopolitismus Benedikt Köhler In den 1990er und 2000er Jahren entwickelte sich in dem interdisziplinären Feld zwischen Postcolonial Studies, Cultural Studies, Kolonialgeschichte, Ethnologie und den Sozialwissenschaften ein lebhafter Diskurs um das Konzept des »Kosmopolitismus«. Kosmopolitische Lebensformen (Appadurai 1991), Biographien (Brennan 1989), Orte (Binnie et al. 2006), Vergangenheiten (Levy/Sznaider 2001) und Politiken (Beck/Grande 2004; Brennan 2003) wurden als Gegenentwurf zu den bisherigen methodologisch nationalstaatlichen oder globalen Konzepten beobachtet. Sehr programmatisch formulieren die HerausgeberInnen des Journals Public Culture ihr kosmopolitisches Desiderat wie folgt: »Cosmopolitanism comprises some of today’s most challenging problems of academic analysis and political practice, especially when analysis and practice are seen […] as a conjoint activity.« (Pollock et al. 2000: 577) Postkolonialismus und Kosmopolitismus stehen in einem ambivalenten Verhältnis zueinander. Auf der einen Seite gibt es zahlreiche AutorInnen, die in beiden Diskussionszusammenhängen eine wichtige Rolle spielen – etwa Timothy Brennan, Dipesh Chakrabarty und Gayatri C. Spivak – und das Konzept des Kosmopolitismus als wichtigen Beitrag zur Diskussion der postkolonialen Konstellation akzeptieren. Auf der anderen Seite kritisieren einige, zum Teil dieselben AutorInnen, aus einer dezidiert postkolonialistischen Perspektive das kosmopolitische Denken als verbrämten westlichen Universalismus und lehnen es folglich auch ab, sich selbst als kosmopolitische TheoretikerInnen bezeichnen zu lassen (vgl. Brennan 1997). Diese Ambivalenz zeigt sich auch darin, dass Edward W. Said, einer der wichtigsten Ideengeber des Postkolonialismus und einer der drei Gründungsfi gu-

194 | Benedikt Köhler ren des Diskurses (neben Homi K. Bhabha und Gayatri C. Spivak), immer wieder als Kosmopolit par excellence bezeichnet wird (vgl. dazu Cocks 2000; Hitchens 2003; Judt 2004; Parry 1992; Rowe 2004), er selbst sich jedoch gegen dieses Label gewehrt hat und seine praktische Aufklärung als humanistisches Projekt verstanden wissen wollte, nicht jedoch als universalistischen Vereinnahmungsversuch. Hierzu schreibt Said (2001c: 390): »I’m not in favor of an abstract universalism, because it’s usually the universalism of whoever happens to be most powerful.« Seine Kritik des Universalismus gründet also in der Verortung des Universalismus in einem geopolitischen Kontext. Said führt zwar seinen Begriff des Kosmopolitismus nicht genauer aus, aber aus verschiedenen Textstellen lässt sich herauslesen, dass er sein negatives Verständnis des Kosmopolitismus entweder aus den klassischen ethischen Kosmopolitismen und der populären Darstellung des Kosmopoliten als desinteressierten, entbetteten und elitären Reisenden bezieht, der sich, nirgendwo zu Hause, völlig frei von lokalen Bezügen bewegt – ein Kosmopolitismusbegriff, wie er häufig von den Feinden des Kosmopolitismus verwendet wurde – oder aber den Kosmopolitismus als imperiale Ideologie und Herrschaftstechnik betrachtet (vgl. Said 1997: 37). Als Alternative dazu fordert Said mit seinem Konzept des »Irdischen«, das hier noch näher dargestellt wird, Innerweltlichkeit und politisches Engagement: »When I talk about worldliness, I don’t just mean a kind of cosmopolitanism or intellectual tourism. I’m talking about the kind of omnipotent interest which a lot of us have that is anchored in a real struggle and a real social movement.« (Said 2001b: 140f.) An die Stelle eines auf eine ästhetische Pose reduzierten Kosmopolitismus setzt Said einen engagierten politischen Humanismus, wie er idealtypisch von Julien Bendas’ (1978) Figur des Intellektuellen als jemanden, der auch im Angesicht der Macht an der Wahrheit festhalten kann, verkörpert wird. »Speaking truth to power« lautet dann auch die von Said (1994) immer wieder zitierte Formel. Im Folgenden sollen die Berührungspunkte zwischen den um die Jahrtausendwende verstärkt diskutierten neokosmopolitischen Theorien und dem Diskurs des Postkolonialismus herausgearbeitet werden. Im Mittelpunkt steht dabei das Problem des Anderen, die Frage nach den Bedingungen der Konstruktion und Anerkennung der Andersheit der Anderen. Das Problem der kolonialen Andersheit als literarische oder administrative Konstruktion, wie es vor allem in Saids Orientalismuswerk formuliert wurde, ist ein wichtiger Beitrag der Postkolonialen Theorie zum Diskurs des Neuen Kosmopolitismus, da die meisten bisherigen kosmopolitischen Entwürfe immer wieder den Fehler gemacht haben, Andersheit oder Alterität als vorgegebenen Sachverhalt

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beziehungsweise als essentielle Wesenheit zu behandeln und nicht als kontingentes Ergebnis menschlichen Handelns.

Ein Neuer Kosmopolitismus Um die gemeinsamen Wurzeln des Neuen Kosmopolitismus und des Postkolonialismus zu ergründen, ist es zunächst erforderlich, den Begriff des Neuen Kosmopolitismus etwas zu präzisieren (vgl. dazu auch Köhler 2007). Das kosmopolitische Denken selbst hat eine lange Geschichte und lässt sich bis in die klassische Antike zurückverfolgen. Kosmopolitismus in der Antike bezeichnet eine ethisch-moralische Haltung, in der die Solidarität nicht nur dem Nächsten oder der unmittelbaren Umgebung gilt, sondern der ganzen Welt oder der ganzen Menschheit. Das vorherrschende Bild ist das von konzentrischen Kreisen – Selbst, Familie, Nachbarn, Stadt, Menschheit –, und die Aufgabe des Kosmopoliten ist die Ausdehnung dieser Kreise, so dass ihm die Menschheit ebenso nah erscheint wie seine Nachbarn. Begründet wird dieses Denken damit, dass die engeren Kreise allesamt willkürlich und zufällig sind. Dass eine Person in dieser Stadt geboren ist und nicht in einer anderen, ist ebenso kontingent wie ihre geschlechtliche Identität oder ihre materiellen Lebensbedingungen. Für den antiken Kosmopoliten ist Bindung zur Menschheit die einzige natürliche Zugehörigkeit. Der klassische Kosmopolitismus ist damit als universalistisches Antidot zu Engstirnigkeit und Parochialismus zu sehen (vgl. Brown 2000; Nussbaum 1994). Ein zweiter Entwicklungsstrang des Kosmopolitismus konzentriert sich dagegen auf das (staats-)politische Feld und skizziert eine politische Weltordnung, in der die als natürlich verstandene blutige Konkurrenz zwischen den Staaten durch eine universalistische Rechtsordnung befriedet wird. Wichtigster Orientierungspunkt dieser Diskussion ist Kants Schrift zum Ewigen Frieden. Aber auch in der jüngsten Gegenwart gibt es Ansätze, die etwa die Europäische Union als Beispiel für einen kosmopolitischen Staatenverbund beziehungsweise ein »kosmopolitisches Empire« deuten (vgl. Beck/Grande 2004). Diese klassischen kosmopolitischen Entwürfe wurden jedoch immer wieder dafür kritisiert, dass sie zu abstrakt seien, um tatsächlich in die politische oder ethische Praxis umgesetzt zu werden und zudem (dies gilt vor allem für den ethischen Kosmopolitismus) nur für einen kleinen elitären, gebildeten und wohlhabenden Personenkreis westlicher »Vielflieger-Kosmopoliten« in Frage kämen, die darüber hinaus in ihren »frequent flyer lounges« und »international standard

196 | Benedikt Köhler hotels« ihre gewohnten Lebensräume auch unterwegs gar nicht verlassen müssen (Calhoun 2002: 104). Als Reaktion auf diese Kritikpunkte bildete sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts allmählich ein Neuer Kosmopolitismus heraus. Ein wichtiger Auslöser waren vor allem die ›humanitären Interventionen‹ in Jugoslawien, die mit einem Mal deutlich machten, dass kosmopolitische Ideen auch zur Legitimierung von militärischen Aktionen verwendet werden konnten. Gress (1998) fasst diese Entwicklung pointiert in der Formel »from Plato to NATO« zusammen. Ein anderer zentraler Anknüpfungspunkt für die Neokosmopoliten ist Martha Nussbaums Programm einer kosmopolitischen Pädagogik, das eine stärkere Ausrichtung des Bildungssystems auf universalistische und humanistische Werte fordert. Für Nussbaum ist die Anerziehung eines weltbürgerlichen Blicks ein prominentes Bildungsziel: »[The student in the USA, BK] must also, and centrally learn to recognize humanity wherever she encounters it, undeterred by traits that are strange to her, and be eager to understand humanity in its ›strange‹ guises.« (Nussbaum/Cohen 1996) Die Reaktionen auf diese Forderung – vor allem konservative und kommunitaristische Kritiker tadelten die Weltfremdheit und »Blutleere« des Entwurfs (vgl. Rorty 1994, 1998) – lassen sich als letzte große Debatte des alten Kosmopolitismus deuten. Aber zugleich ist in Nussbaums Ideen schon die spätere Schwerpunktverlagerung des kosmopolitischen Denkens zu erkennen: Obwohl es ihr nach wie vor um das Ausdehnen der Solidaritätskreise geht, stellt sie die Begegnung (»encounters«) mit Anderen in den Mittelpunkt. Die Aufgabe besteht darin, die Menschheit in ihren jeweils konkreten Ausprägungen zu erkennen – im Antlitz des Anderen (vgl. dazu Lévinas 1999) – und nicht mehr als abstrakte universalistische Bezugsgröße. Der Neue Kosmopolitismus versteht sich im Unterschied zu den vorangegangenen Entwürfen explizit als »Kosmopolitismus von unten« (Dharwadker 2001: 11) sowie als realistischer, »real existierender« (Malcomson 1998: 238) oder gar »schmutziger Kosmopolitismus« (Robbins 1999). Die abstrakte und idealistische kosmopolitische Ethik wird als nicht mehr zeitgemäß abgelehnt. Außerdem wird der einseitige Fokus auf den universalistischen Pol der Menschheit oder des Kosmos nun durch die Dialektik zwischen globalen und lokalen, universellen und partikularen Bezügen ersetzt oder wenigstens ergänzt. Darüber hinaus geht es um Kosmopolitismus als gelebte Erfahrung (vgl. Skrbis et al. 2004: 123) und weniger als reine Idee oder abstrakte Norm. Immer wieder wird dabei das Spannungsfeld zwischen Universalismus und Partikularismus ausgelotet. Zum Markenzeichen des Neu-

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en Kosmopolitismus werden zahlreiche zunächst paradox klingenden Formulierungen, wie zum Beispiel »patriotischer Kosmopolitismus« (Appiah 1998) oder »verwurzelter Kosmopolitismus« (Cohen 1992). Man könnte diese Verschiebung auch so auffassen, dass nun zum ersten Mal die gesamte Bedeutung des Begriffs »Kosmopolitismus« ernst genommen wird: Der Bezug auf umfassende Einheiten in dem Bestandteil »Kosmos« genauso wie die lokale Verwurzelung in »Polis«. Das neue kosmopolitische Projekt ist demnach gleichermaßen verwurzelt wie freischwebend (vgl. Robbins 1999). Dieses ›Denken des Sowohl-als-auch‹ will eine Alternative zu der Entweder-Oder-Logik zwischen lokalen und globalen Bezügen darstellen. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die grundsätzliche natürliche Gleichheit aller Menschen wie im klassischen Kosmopolitismus, sondern gerade ihre vielfältigen Unterschiede (vgl. Vertovec/Cohen 2002). Mit diesem Programm einer dialektischen Beziehung von Universalismus und Partikularismus und vor allem der kulturalistischen Interpretation von Differenzen rücken schließlich auch neue Phänomene in den Blick: In den Fokus geraten Ambiguität, Hybridität, Mélange von Identitäten und Kulturen, die dadurch nicht mehr eindeutig abgrenzbar sind. Zudem wird der Nationalstaat nicht mehr unbedingt als rückständige, künstliche Einschränkung abgelehnt, sondern gerade im postkolonialen Kontext zu einem wesentlichen Ausgangspunkt kosmopolitischer Haltungen und Praktiken erklärt. Dies wird insbesondere in den rechtlich-institutionellen Kosmopolitismen deutlich, die nur durch ihre nationalstaatliche Verankerung funktionsfähig sind. In diese Richtung argumentiert Beck (2004a: 119), wenn er schreibt: »Das kosmopolitische Projekt enthält das nationale Projekt und erweitert es zugleich.« Dabei ist zu unterscheiden zwischen einer empirisch beobachtbaren »Kosmopolitisierung« auf der Akteursebene, die sich zum Beispiel in Gestalt kosmopolitischer Institutionen der »Anerkennung der Andersheit Anderer« wie der Minderheitengesetzgebung manifestiert, sowie einem »methodologischen Kosmopolitismus«, der versucht, Alternativen zum methodologischen Nationalismus der Sozialwissenschaften zu formulieren (vgl. Beck/Grande 2004: 33).

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Postkolonialer Kosmopolitismus Doch wie genau sieht die Verbindung zwischen Postkolonialismus und Kosmopolitismus aus? Wie wird die postkoloniale Andersheit in kosmopolitischen Theorien beschrieben und reformuliert? Zum einen ist das Ende der Kolonien nach einer mehr als zweihundertjährigen Hegemonie der europäischen Mächte (vgl. During 1992: 88) insofern von Bedeutung, als es durch die Unabhängigkeit der ehemaligen zumeist von Europa beherrschten Kolonien ab den 1950er und 1960er Jahren zu einem großen Zustrom ehemals kolonialer Staatsbürger in den Westen kam. Durch diese postkoloniale Entgrenzung wurde deutlich, dass die Idee einer essentiellen Trennung zwischen ›Zivilisierten‹ und ›Wilden‹ nicht mehr zu halten ist: »The erstwhile barbarians are within the gates and may not live in a formally segregated ghetto or enclave. The frontiers of cultural difference can no longer be made congruent with national borders.« (Gilroy 2000: 249) Auf ganz ähnliche Weise formulieren neokosmopolitische TheoretikerInnen ihre Kritik am methodologischen Nationalismus, also an den zahlreichen stillschweigend vorausgesetzten Hintergrundannahmen der empirischen Sozialwissenschaften (vgl. Beck 2006: 2-4; Glick Schiller/Wimmer 2002). Hierzu zählen: Nationalstaaten lassen sich in jeder Hinsicht klar voneinander abgrenzen; jeder Mensch fühlt sich einem einzigen Nationalstaat zugehörig; die Grenzen der Gesellschaft sind die Grenzen des sie umgebenen Staats. Kurz: »[N]ationally bounded societies are taken to be the naturally given entities to study.« (Glick Schiller/Wimmer 2002: 304) Die postkoloniale Durchdringung von kulturellen und gesellschaftlichen Räumen (»Scapes«; vgl. hierzu auch Appadurais 1991), zum Teil von globaler Reichweite, lässt sich als Negation des methodologischen Nationalismus verstehen. Dabei ist – und auch dieser Punkt verweist auf die Grenzen des methodologischen Nationalismus – die koloniale Situation nicht nur für die ehemaligen Kolonien in Asien, Afrika und Südamerika charakteristisch, sondern führt auch in europäischen Ländern zu gesellschaftlichen und vor allem kulturellen Veränderungen – zu denken ist beispielsweise an ethnische Unterschichtungsphänomene. Im Feld der Postcolonial Studies hat sich dafür inzwischen das Bild des »zurückschlagenden Imperiums« etabliert. Unter diesem Titel veröffentlichte das Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) im Jahr 1982 einen Sammelband über die Rückwirkungen der ehemaligen imperialen Herrschaftsstrukturen in England. Phänomene wie Hybridisierung und multiple Identitäten, die immer wieder mit der postkolonialen Konstellation in Verbindung ge-

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bracht werden, sind also gleichzeitig auch Erscheinungen des modernen Alltags im Westen: »Transcultural mixture alerts us not only to the syncretic complexities of language, culture, and everyday modern life in the torrid areas where racial slavery was practiced, but also to the purity-defying metamorphoses of individual identity in the ›contact-zones‹ of an imperial metropolis.« (Gilroy 2000: 117)

Eine zentrale Folge der postkolonialen Verflechtung ist, dass die Konfrontation mit der Andersheit kultureller Anderer zu einer existentiellen Frage avanciert, die zu ignorieren immer schwieriger wird: »Today, not only have ›Other‹ cultures ceased to be confined to other parts of the world with the overcoming of spatial and temporal distances inherent in technological globalisation, but human diversity and cultural differences have taken on new significance.« (Assayag/Bénéï 2003b: 13) In diesem Sinne ist das kosmopolitische Problem der Anerkennung von kulturellen Differenzen zugleich auch ein wesentliches Merkmal der postkolonialen Konstellation, und das postkoloniale Denken besitzt für sich bereits in den meisten Fällen Parallelen zu neokosmopolitischen Theorien.

Die Konstruktion der postkolonialen Anderen Ein zentraler Beitrag Edward W. Saids zum Diskurs des Neuen Kosmopolitismus ist die Korrektur der bisher für kosmopolitische Theorien üblichen Vorstellung von kultureller Andersheit (wobei sich die Andersheit auch auf andere Dimensionen wie Klasse oder Geschlecht ausweiten lässt) als gegebener Größe. Obwohl viele kosmopolitische TheoretikerInnen den Umgang mit der Andersheit in den Mittelpunkt ihres Denkens rücken und damit von der abstrakten Größe der Menschheit Abstand nehmen, wird diese Gestalt des Anderen in der Regel nicht weiter hinterfragt – sie bleibt eine verallgemeinerte (Denk-) Figur. Darin liegt ein blinder Fleck des Kosmopolitismus, der dann als eurozentrische Fehlsicht kritisiert werden kann: die Anderen sind nämlich in der Regel die Nicht-Europäer (vgl. Said 2003). Eigentlich wäre anzunehmen, dass sich das Programm eines methodologischen Kosmopolitismus als Gegenentwurf zum unreflektierten methodologischen Nationalismus auch mit der Konstruiertheit (post-)kolonialer Andersheit auseinandersetzt. Aber diese Auseinandersetzung hat bislang kaum stattgefunden.

200 | Benedikt Köhler Die von Edward W. Said im Jahr 1979 veröffentlichte Orientalismusstudie wird immer wieder als einer der wichtigsten Ausgangspunkte für die Postkolonialismustheorie beschrieben. Im Kern behauptet Said, dass der »Orient« keine wirkliche kulturelle, soziale oder religiöse Weltgegend kennzeichnet, sondern eine im Westen und durch die Arbeit von westlichen Wissenschaftlern, Schriftstellern oder Politikern entstandene Vorstellung darstellt, die untrennbar mit dem Projekt imperialer Herrschaft und Kontrolle verbunden ist. Saids Theorie, und dies ist häufig Anlass für Missverständnisse geworden, hat also nicht den realen Orient und die dort zu beobachtenden Lebensformen oder Geisteshaltungen zum Thema, wie es der Begriff »Orientalismus« durch seine Endung eigentlich suggeriert, sondern den Orient als Objekt europäischer Vorstellung und Begierde: »The Orient was almost a European invention, and had been since antiquity a place of romance, exotic beings, haunting memories and landscapes, remarkable experiences.« (Said 2003 [1979]: 1) Aus dieser Perspektive meint Orientalismus also die Konstitution einer geographischen Einheit namens »Orient« und eines dazugehörigen Forschungsgebietes namens »Orientalistik«, durch die eine wichtige Komponente des europäischen »Willens zur Herrschaft« über die nichteuropäische Welt verwirklicht werden konnte. So wurde nicht nur eine ordentliche wissenschaftliche Disziplin geschaffen, sondern auch eine Vielzahl von Institutionen, ein Vokabular, ein Gegenstandsbereich für die Forschung und schließlich auch: »Untertanenrassen« (Said 1997: 258259). Da diese Vorstellungen über den Orient im Westen von westlichen DenkerInnen mit westlichen Vorannahmen, Konzepten, Analogien und Erklärungsmustern formuliert werden, verliert der Orient im Verlauf seiner Orientalisierung den Anschein seiner absoluten Fremdheit und Andersheit. Er wird zu einem Objekt, das – wenigstens prinzipiell – auch von Außenstehenden erkennbar, erforschbar und dadurch auch kontrollierbar ist: »Familiarity, accessibility, representability: these were what Orientalists demonstrated about the Orient. The Orient could be seen, it could be studied, it could be managed. It need not remain a distant, marvelous, incomprehensible, and yet very rich place. It could be brought home – or more simply, Europe could make itself at home there, as it subsequently did.« (Said 1997: 27f.)

Man bemerkt an dieser Stelle schnell, dass sich zwischen den westlich-kolonialen Wissenschaften und der orientalischen Andersheit

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ein dialektisches Verhältnis entfaltet: Auf der einen Seite ist die Andersheit ein wichtiges ideologisches Herrschaftsinstrument, das es erlaubt, diese fremden Völker paternalistisch zu behandeln und wirtschaftlich auszubeuten. Auf der anderen Seite wird jedoch keine prinzipielle Andersheit angenommen, die nämlich verhindert hätte, über diese Anderen zum Beispiel wissenschaftlich-statistische Ergebnisse gewinnen zu können. Wenigstens in Grundzügen muss eine kulturelle Kommensurabilität erhalten werden. Dennoch kann man in diesem Fall keineswegs von einer Anerkennung der Alterität sprechen, da die orientalisierten Anderen nicht als eigenständige Andere, sondern allein als passive Wissens- und Herrschaftsobjekte in Erscheinung treten. Diese Denkart, durch die die westliche Wissenschaft als Zugang zu universellen Wahrheiten konstruiert wird, ist der Kern des orientalistischen Umgangs mit der Andersheit der Anderen. Andererseits hatte das orientalistische Denken, so Said, erst dann eine wichtige diskursive Position einnehmen können, als in der Realität die Vermischung von Orient und Okzident kaum mehr zu ignorieren war. Said nennt in diesem Zusammenhang die Fertigstellung des Suez-Kanals als wichtigen Orientierungspunkt (vgl. Said 2003 [1979]: 92). Durch dieses symbolisch aufgeladene Bauwerk verlor auf der einen Seite der Orient seine Bedeutung als fi xe geographische Kategorie und erschien nun nicht mehr als isolierte, fremde und für westliche Beobachter im Wesentlichen unzugängliche Welt: »There was only ›our‹ world, ›one‹ world bound together because the Suez Canal had frustrated those last provincials who still believed in the difference between worlds.« Man könnte auch sagen, dass die orientalistische Fremdrepräsentation eine Nebenfolge der Annäherung zwischen den beiden »Welten« des Orients und Okzidents darstellt. Erst mit dem Ende des Orients konnte die eigentliche Karriere des Orientalismus beginnen. Die auf politisch-technischer Ebene erfolgte Annäherung zwischen Orient und Europa lässt sich jedoch nicht auf die Ausprägung eines entsprechenden Bewusstseins übertragen. Gerade die sich als universalistisch verstehende Zivilisierungsmission und die durch den Suez-Kanal symbolisierte Annäherung ist der Ausgangspunkt für die Konstruktion partikularer und prinzipiell ungleicher Kulturen. In dem Maße, in dem der Orient an den Westen herangeführt wird, steigt die Intensität der Konstruktion und Generalisierung von Differenzen, so dass das orientalistische Fremdbild der westlichen Beobachter mit der Zeit wichtiger und wirklicher werden konnte als die hybride und vermischte Realität des Orients. Kurz: »Orientalism overrode the Orient.« (Said 2003 [1979]: 96)

202 | Benedikt Köhler An dieser Stelle lassen sich Parallelen zur neokosmopolitischen Idee der Anerkennung der Andersheit der Anderen erkennen. Auch diese Vorstellung wurde als Alternative zur universalistischen Fixierung auf Menschheit und Globus in dem Augenblick relevant, als gar nicht mehr deutlich war, wer denn eigentlich diese Anderen seien. Zumal mit den Postcolonial Studies ein wissenschaftlicher Diskurs entstanden ist, der immer wieder für eine symmetrische Perspektive eintrat und den Begriff der Andersheit durch eine Spiegelung auch für die Wahrnehmung des Westens in den ehemaligen Kolonien fruchtbar machte. Auch der Westen kann als ›colonial other‹ begriffen werden. Besonders deutlich zeigt sich dies in dem historischen Feld der ›histoire croisée‹ (»verschränkte Geschichtsschreibung«), die sich gerade diesen Umkehrungen und Verflechtungen zwischen ehemaligen Kolonialländern und den Kolonien widmet (vgl. Werner/Zimmermann 2002). In eine ähnliche Richtung zielt Homi K. Bhabhas (1984) Konzeption von Postkolonialismus als »Zwischenraum« (interstitial space) zwischen den westlichen Ländern und den ehemaligen Kolonien, der zu ambigen Identitäten und Positionen führt. Dieser »Verflechtungszusammenhang« unterscheidet Theorien des Postkolonialismus von der sozialwissenschaftlichen Weltsystemtheorie (vgl. Wallerstein 1986) oder der Dependenztheorie (vgl. Frank 1980), denn in der heterogenen Assemblage postkolonialer Kultur können Zentrum und Peripherie, Abhängigkeit und Unabhängigkeit nicht mehr eindeutig voneinander unterschieden werden: Elemente der Peripherie gibt es immer auch in den westlichen Metropolen. Zugleich lässt sich auch die Peripherie nicht mehr nur als marginalisierte und vom Zentrum abhängige Region definieren. Damit weist die postkoloniale Theoriebildung einen möglichen Ausweg aus den methodologisch nationalistischen oder territorialistischen Grundannahmen in den Sozialwissenschaften und eignet sich dafür, paradoxe Konstellationen aus Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Herrschaft und Freiheit, Nähe und Distanz oder Differenz und Gleichheit zu beschreiben. Die orientalistische Denkweise, wie sie von Edward W. Said untersucht wurde, kann aus dieser Perspektive als spezifische Art des Umgangs mit der Andersheit der kolonialen Anderen gesehen werden, die zunächst die eigene Beobachterposition universalisiert und als überlegene Perspektive beschreibt. Eine wichtige Grundbedingung dieses Denkens ist zudem die Entwicklung eines distanziert-administrativen Blicks. Erst das Sehen mit »imperial eyes« (Pratt 1992) ermöglicht die Überlagerung eines universellen Systems – aus der amtlichen Statistik stammt der hierfür passende Begriff des ›Gesamtbildes‹ – über die fragmentierten, heterogenen und partikularen Lebenswelten

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des Orients. Genau diese Fähigkeit zur Abstraktion wird jedoch den Orientalen selbst nicht zugestanden. Diese spielen daher nicht als reale Andere eine Rolle, sondern allein als westlich konstruierte Andere. Der partikulare Kontext des Orients wird nicht als solcher anerkannt wie in gegenwärtigen neokosmopolitischen Theorien, sondern die europäischen Wissens- und Herrschaftsinstrumente werden im Diskurs des Orientalismus als allgemeingültige, überhistorische Techniken betrachtet. Die Andersheit der Anderen wird hier also negiert, aber nicht in Gestalt einer universalistischen Auflösung in eine allgemeine Gleichheit, wie Beck sie beschreibt – »Universalism sacrifices the specificity of others to a global equality that denies the historical context of its own emergence and interests« (Beck 2004b: 431) –, sondern auf der Grundlage der eindeutigen Überlegenheit des westlichen Beobachters und der Reduktion orientalischer Subjekte auf ihre Repräsentation durch westliche Wissenschaft, Verwaltung und Statistik (vgl. Appadurai 1993). Wie in anderen kolonialen Kontexten wird der Rahmen dieser ›Begegnung‹ allein von den westlichen Beobachtern festgelegt und zum Beispiel in Gestalt von universalistischen Begriffen wie ›Zivilisation‹ oder ›Geschichte‹ als diskursives Machtinstrument verwendet: »There might be stages of social evolution and many seemingly bizarre customs and ›superstitions‹ in the world, but there was only one ›civilization‹, one path of ›progress‹, one ›true religion‹.« (Brantlinger 1986: 185) Dieser Universalismus wird als Instrument des westlichen Hegemoniestrebens entlarvt. In den dabei verwendeten Begriffen lassen sich nach Paul Gilroy (2000: 68) die Grundpfeiler der europäischen Zivilisierungsmission erkennen: »Universality, reason, and progress, modernity and enlightenment: these glorious ideas were once the sturdy cornerstones of an all-conquering Occidental mentality.« Obwohl Saids Analysen des Orientalismus ihren Schwerpunkt auf die Verwandlung des Orients in einen Text legen – in erster Linie geht es um den Orient als diskursives Phänomen, als »mode of discourse with supporting institutions, vocabulary, scholarship, imagery, doctrines, even colonial bureaucracies and colonial styles« (Said 2003 [1979]: 2) –, weist er dennoch immer wieder auf die dazugehörigen administrativ-politischen, aber auch militärischen Kontexte dieser diskursiven Machtstrategien hin. Ähnlich wie es Foucault (1970) in seinen Ausführungen über das Archiv und den Diskurs beschreibt, lassen sich auch in der Orientalismusthese ideelle und materielle Grundstrukturen nicht eindeutig voneinander unterscheiden. Text, Sprache und Wissen sind so eng mit Machtpotentialen und -ausübung verbunden, dass »knowledge of subject races or Orientals is what makes their ma-

204 | Benedikt Köhler nagement easy and profitable; knowledge gives power, more power requires more knowledge« (Said 2003 [1979]: 36). Auch die Wissenschaft kann sich nicht mit ihrer distanzierten oder objektivierten Position entschuldigen, denn sie ist selbst in die orientalistische Verwaltung und Kontrolle eingebunden: »No one has ever devised a method for detaching the scholar from the circumstances of life, from the fact of his involvement (conscious or unconscious) with a class, a set of beliefs, a social position, or from the mere activity of being a member of a society.« (Ebd.: 10)

Daher geraten in der Untersuchung des europäischen Orientbildes auch die (politischen, militärischen, historischen usw.) Bedingungen der Möglichkeit der Aufrechterhaltung eines solchen Bildes ohne jegliche Beteiligung der darin Abgebildeten in den Blick. Der bis in die Gegenwart anhaltende ›Erfolg‹ des orientalistischen Denkens lässt Folgendes vermuten: »[The] Orient was Orientalized not only because it was discovered to be ›Oriental‹ in all those ways considered commonplace by an average nineteenth-century European, but also because it could be – that is, submitted to being – made Oriental« (ebd.: 5f., Herv. im Orig.). Auch hier fi ndet man also einen deutlichen Verweis auf Herrschaftsverhältnisse, die eine wichtige Grundlage für die Orientalisierung des Anderen darstellen. Der Anspruch der Postkolonialismusforschung ist daher nichts weniger, als das Entwirren und die Analyse der »sheer knitted-together strength of Orientalist discourse, its very close ties to the enabling socio-economic and political institutions, and its redoubtable durability« (ebd.: 6). Der Blick richtet sich also nicht nur auf den ›Text‹ des Orientalismus, sondern auch auf die Entstehungsbedingungen dieses Textes, auf seinen ›Kon-Text‹. Die Frage ist damit auch, wie der Diskurs des Orientalismus seinen eigenen (imperialistischen) Kontext ins Leben ruft oder zumindest intellektuell stützt (Prakash 1990: 10). Text und Kontext erscheinen in dieser Perspektive nicht als eindeutig hierarchisierbar, sondern konstituieren einander gegenseitig: Diskurse und Praktiken des Orientalismus sind eng aufeinander bezogen.

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Kritik des Kosmopolitismus Während gerade in Einführungswerken zu Postkolonialismus Kosmopolitismus häufig unkritisch als Synonym für international oder global verwendet wird (vgl. McLeod 2000: 222; Young 2001: 85), gibt es einen weiteren Diskussionsstrang, der das Konzept in seinem diskursiven Kontext betrachtet und infolgedessen danach fragt, wer diesen Begriff verwendet und welche Motive dahinter stecken. In diesem Subdiskurs erscheint Kosmopolitismus als westlich-hegemoniales Konzept, als ›flache‹ Ideologie, die sich dafür eignet, ein heterogenes Imperium wie das britische kulturell zu integrieren. Das kosmopolitische Denken liefert also eine Art universalistisches Minimum, das die Kolonien an das Imperium binden kann und die ›Zivilisierung‹ der ›Untertanenrassen‹ erleichtern soll. Said zitiert zum Beispiel den britischen Generalkonsul von Ägypten, Lord Cromer, dessen Kosmopolitismus sich wie folgt darstellt: »If the British nation as a whole persistently bears this principle in mind, and insists sternly on its application, though we can never create a patriotism akin to that based on affinity of race or community of language, we may perhaps foster some sort of cosmopolitan allegiance grounded on the respect always accorded to superior talents and unselfish conduct, and on the gratitude derived both from favours conferred and from those to come.« (Lord Cromer, zitiert nach Said 2003 [1978]: 37)

Deutlich zeigt sich in diesem Zitat der komplizenhafte Charakter des alten Kosmopolitismus, der als dehnungsfähiger Ersatz für einen echten Patriotismus vorgeschlagen wird. Kosmopolitismus wird also zu einem wichtigen Bindeglied zwischen orientalistischem Denken und kolonialer Fremdherrschaft – aber Ähnliches lässt sich bereits in früheren Imperien beobachten: Plutarch etwa lobt Alexander den Großen als wahren kosmopolitischen Herrscher, der in seinem Weltreich die Menschheit eint, ohne dass sie dabei ihre Eigenarten verlieren müssten (Schofield 2000: 452). Wobei sich der Verweis auf eine »kosmopolitische Loyalität« bei Cromer freilich als Aufforderung an die »Untertanenrassen« verstehen lässt, die intellektuelle Überlegenheit ihrer Kolonialmächte ohne Widerstand zu akzeptieren und die rationalen Prinzipien, auf denen ihre Herrschaft ruht, höher zu bewerten als die erdrückende materielle Realität der Besatzung. Als Grundlage für die erzwungene ›kosmopolitische‹ Loyalität der kolonialen Subjekte wird die scheinbar überlegene wissenschaftliche Einsicht der Europäer in alle Bedürfnisse und Entwicklungsprozesse im Orient angeführt –

206 | Benedikt Köhler insbesondere auch die universalistischen Denkstrukturen in wissenschaftlichen Disziplinen wie der Geographie und Statistik. Autoren wie Timothy Brennan (1997) sehen in diesem imperialen Kosmopolitismusbegriff eine lange Kontinuität, die bis in die Gegenwart reicht. Aus ihrer Perspektive erscheint die jüngste Renaissance des kosmopolitischen Denkens als Begleitideologie zur weltweiten Durchsetzung des neoimperialen Führungsanspruchs der USA. Kosmopolitismus ist für diese Kritiker nichts weiter als ein philosophisch aufgeladener Neoliberalismus: »The concept of a world beyond nationalisms that is both postcolonial and post-imperialist […] should more properly be seen as the US empire’s particular national mythodology.« (Brennan 2003: 202)

Irdischer Kosmopolitismus Welche Alternativen zum abstrakten ›Kosmopolitismus der Vielfliegerelite‹ oder der ›kolonialen Verwaltungsbeamten‹ sind vor dem Hintergrund dieser postkolonialistischen Kritik denkbar? Bei Said ist es vor allem der Begriff des »Irdischen« (im Original »worldliness«), der eine Möglichkeit verspricht, eine neokosmopolitische Beziehung zwischen Universalismus und Partikularismus zu skizzieren; eine Beziehung, die von der Dialektik des Kosmopolitismus gar nicht weit entfernt ist. Das Konzept des »Irdischen« hat Edward W. Said den Arbeiten des Philologen Erich Auerbachs (1969 [1929]; 1959 [1946]) entnommen, wo es als Instrument für die Analyse weltlicher Bezüge in der Dichtung verwendet wurde. Im ursprünglichen Sinn bedeutet dieser Begriff zunächst nur die Feststellung, dass sich Texte und ähnliche Repräsentationsformen stets in der Welt befinden und von ihrer Verortung in dem entsprechenden Kontext beeinflusst werden (vgl. Said 2004: 49). Mit diesem begrifflichen Werkzeug kann in den orientalistischen Diskursen danach gesucht werden, auf welche Weise dort der jeweilige partikulare kulturelle und ideologische Kontext unterdrückt, geleugnet oder verzerrt wird, um einen Eindruck von Universalität und Distanzierung zu suggerieren (vgl. Said 2003 [1994]: 345). Ein Beispiel ist die oben angesprochene koloniale Perspektive der ›imperial eyes‹. Auf dieser Grundlage erscheinen literarische Texte nicht mehr als isolierte ›Bedeutungsbehälter‹, sondern als Produkte menschlicher Positionierung; es handelt sich um Dokumente, die sich in einer bestimmten Welt ›zurechtfinden‹, in ihren Verbindungen und Bezügen selbst eine Welt darstellen und schließlich in dieser Welt Position beziehen, also engagiert sind. Bei Said erfährt dieser Begriff dann eine

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Wendung, die ihn zu einem wichtigen Erkenntnismittel für den postkolonialen sozialen Kontext macht. Said verbindet den Gedanken der Situierung und Kontextabhängigkeit von Texten mit dem Begriff der Seinsgebundenheit aus der Mannheimschen Wissenssoziologie (vgl. Mannheim 1965 [1952]). Im Unterschied dazu verschiebt sich jedoch der Fokus von der Ontologie, die im Verweis auf das ›Sein‹ anklingt, auf die handelnde Verortung in sozialen und politischen Kontexten einer »realen historischen Welt« (Said 2004: 48). Während die wissenssoziologische Seinsgebundenheit als unausweichlicher sozialer Grundsachverhalt formuliert wird, ist »Weltlichkeit« für Said stärker politisch ausgerichtet. Im Vordergrund steht die Analyse einer »Politik der Wahrheit« in die auch die postkolonialen Beobachter und Theoretiker eingebunden und zur Reflexivität aufgefordert sind – auch das übrigens eine Analogie zum Neuen Kosmopolitismus, der das Reflexiv-Werden des eigenen Standpunkts als wichtiges Element beinhaltet –, denn »[T]here is no vantage outside the actuality of relationships between cultures, between unequal imperial and non-imperial powers, between different Others, a vantage that might allow one the epistemological privilege of somehow judging, evaluating, and interpreting free of the encumbering interests, emotions, and engagements of the ongoing relationships themselves.« (Said 2001b: 306, Herv. im Orig.)

Der Begriff des »Irdischen« wird vor allem dadurch zu einem wichtigen Anknüpfungspunkt für den postkolonialen Kosmopolitismus, da er in einer charakteristischen Doppelbewegung zugleich auf lokale, partikulare Phänomene wie auf weltweite, universelle hinweist. Dies entspricht der Grundstruktur des Neuen Kosmopolitismus, Ansprüche auf universelle (planetarische) Minimal-Normen und Begriffe nicht aufzugeben, aber zugleich auf die (irdische) Verwurzelung hinzuweisen. Die Verortung von Diskursen wie dem Orientalismus muss nicht zwangsläufig auf partikulare Interessen hindeuten, denn häufig entpuppen sich, wie bereits weiter oben erwähnt, gerade diese lokalen Bezugspunkte als Kreuzung oder Verflechtungen transnationaler oder gar globaler Strukturen, an denen sich lokale und globale Kreise berühren: »Worldliness is therefore the restoration to such works and interpretations that can only be accomplished by an appreciation not of some tiny, defensively constituted corner of the world, but of the large, many-windowed house of human culture as a whole.« (Said 2001a: 382) Auch in diesem Verweis auf das heterogene »große Haus der menschlichen Kultur« kann man eine deutliche Parallele

208 | Benedikt Köhler zu kosmopolitischen Theorien erkennen. Zugleich wird das kosmopolitische Denken dadurch aber auch selbst verweltlicht und muss als kontingentes Ergebnis menschlichen Handelns gesehen werden, was genauso gut bedeuten kann, dass es sich um eine neokoloniale Vereinnahmungsstrategie handelt, wie, dass hiermit die Entweder-oderUnterscheidungen zwischen ehemaligen Kolonialländern und ihren Kolonien fragwürdig wird. Der Beitrag des impliziten Said’schen Kosmopolitismus für die Theoriebildung des Neuen Kosmopolitismus liegt vor allem in den beiden Begriffen des Orientalismus und des Irdischen. Die Analyse des orientalistischen Diskurses ist eine wichtige Korrektur oder Ergänzung für den Neuen Kosmopolitismus, der zwar der Wirklichkeit schaffenden Kraft des Nationalstaats und seiner Institutionen große Aufmerksamkeit zukommen lässt, zugleich aber die neuen Formen von hybriden oder kosmopolitischen Identitäten als gegeben voraussetzt. Die Orientalismusthese macht jedoch deutlich, dass die Andersheit der Anderen ebenfalls ein perspektivischer Begriff ist, der in einem ganz bestimmten – postkolonialen – Kontext gesehen und analysiert werden muss. Die Theorien und TheoretikerInnen des Neuen Kosmopolitismus sind selbst irdische, verwurzelte Theorien und TheoretikerInnen und damit ebenso wenig freischwebend wie ihre Beobachtungsgegenstände. Die Reflexivität des Neuen Kosmopolitismus scheint jedoch nur in Ausnahmefällen (vgl. Chakrabarty 2000) so weit entwickelt zu sein, diese Verwurzelung beobachten zu können.

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Eine kaleidoskopische Dialektik als Antwort auf eine postkoloniale Soziologie Boike Rehbein Vor einem halben Jahrhundert kritisierte der junge Philosophielehrer, Soldat und sozialwissenschaftliche Amateur Pierre Bourdieu die akademische Arbeitsteilung, in der die Soziologie für die Industrienationen, die Ethnologie für die »primitiven« Gesellschaften und der Orientalismus für die entwickelten nicht-europäischen Gesellschaften zuständig ist (vgl. Bourdieu 2003: 40). Als Amateur wagte er es, in Algerien alle drei Disziplinen miteinander zu verbinden. Das hatte zur Folge, dass er von den VertreterInnen der Zünfte – AfrikawissenschaftlerInnen, PhilosophInnen, SoziologInnen, EthnologInnen und RevolutionärInnen – als Dilettant betrachtet und von ihnen kaum gelesen wurde. Daran hat sich in Deutschland bis heute wenig geändert. Nahezu jede Zeile Bourdieus ist übersetzt, aber seine soziologischen Werke über »orientalische« und »primitive« Gesellschaften sind weiterhin nur auf Französisch erhältlich und in der deutschen Soziologie praktisch unbekannt. Die selektive Rezeption Bourdieus ist symptomatisch für unsere gegenwärtige Soziologie. Soziologie heißt weiterhin eurozentrische Theorie und Empirie.1 Das beginnt sich zu ändern, nicht zuletzt mit dem vorliegenden Band. Die Beschäftigung mit außereuropäischen Gesellschaften ist aller1 | Der sprachlichen Einfachheit halber beziehe ich auch angelsächsische Gebiete außerhalb Europas in den Begriff des Eurozentrismus ein. Für die Argumentation spielt der Unterschied zwischen Europa und den USA keine Rolle, auch wenn er selbstverständlich in den meisten Zusammenhängen von größter Bedeutung ist.

214 | Boike Rehbein dings ebenso wenig wie die Interdisziplinarität bereits eine Überwindung des Eurozentrismus. Bourdieu verband in Algerien die Disziplinen Ethnologie, Soziologie und Regionalwissenschaft, aber er bezog die Stimmen der AlgerierInnen in objektiver Hinsicht nicht als gleichwertig ein. Später übte er Selbstkritik und forderte, in jeder soziologischen Untersuchung die Perspektiven der Untersuchten stärker zu berücksichtigen, und zwar nicht nur als Material, sondern auch als mögliche alternative Sichtweisen der Wirklichkeit, unter denen seine eigene Soziologie nur eine sein sollte (vgl. Bourdieu 1997: 18, 780). Dieser Forderung konnte und wollte er selbst nicht gerecht werden, weil er alternative Sichtweisen als »Spontansoziologie« abkanzelte. In letzter Instanz konnte es doch nur eine Wahrheit geben, nämlich die eigene Soziologie (vgl. ebd.: 802, 1998: 75ff.). Der Widerspruch zwischen Wissenschaftlichkeit und Vielfalt (oder Universalismus und Perspektivismus) bezeichnet genau die Problemlage einer postkolonialen Soziologie. Verkürzt forumliert: Entweder man verzichtet auf einen übergreifenden Rahmen der wissenschaftlichen Erkenntnis, oder man nötigt anderen die eigene Wahrheit auf. Der Postkolonialismus hat von der Leugnung der kolonialen und kolonialistischen Wahrheit über die Postulierung einer eigenen Wahrheit zur Anerkennung von Vielfalt geführt. Ich unterscheide dementsprechend drei Phasen des Postkolonialismus, die gleichzeitig Paradigmen sind und weiter unten genauer erläutert werden. In der ersten Phase wirkte der Antikolonialismus als treibendes Motiv fort. Die zweite Phase war gekennzeichnet von alternativen Programmen der Modernisierung und Industrialisierung. Sie entsprachen der Suche nach eigenen Traditionen und Identitäten. Diese Phase kann als die historisch-postkoloniale gelten. Die dritte Phase erkennt die Verflechtung der Welt an und greift auf post-Motive aller Traditionen zurück, konzentriert sich dabei allerdings auf die westliche Postmoderne und den Poststrukturalismus. Der kritische Impuls von Postkolonialismus, Postmoderne und Poststrukturalismus scheint mir eine notwendige Bedingung für einen angemessenen Umgang mit der sozialen Welt zu sein. Dieser Impuls besteht darin, autoritäre Versuche der Vereinheitlichung, Unterdrückung und Universalisierung zu kritisieren. Er dürfte aber nicht hinreichen, da Lebens- und Erkenntnisformen unter den Bedingungen beschleunigter Globalisierung nicht mehr isoliert nebeneinander existieren können, sondern sich gegenseitig beeinflussen, begrenzen und bedrängen. Die postmoderne Kontingenz halte ich nicht für eine hinreichende Antwort darauf. Es ist nicht mehr möglich, alle Differenzen nebeneinander bestehen oder Prozesse der Hybridisie-

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rung sich ereignen zu lassen, da zu viele Differenzen faktisch bedroht sind und unter Bedingungen der Kontingenz verschwinden. Es müssen Modalitäten für ein aktives Zusammenleben gefunden werden, also für eine postkoloniale Welt, in der Differenzen von vornherein anerkannt sind. Im Folgenden möchte ich für eine post-postkoloniale, post-postmoderne und post-poststrukturalistische Soziologie argumentieren. Wenn das doppelte »post« an Hegels doppelte Negation erinnert, so ist diese Assoziation beabsichtigt. Im Ausgang von und gegen Hegel werde ich eine postkolonial geläuterte Dialektik zu skizzieren versuchen, die ich als kaleidoskopisch bezeichnen möchte. Im ersten Abschnitt nenne ich einige Eigenschaften der eurozentrischen Theorien, die ich im zweiten Abschnitt am Beispiel Asiens empirisch kritisiere. Der dritte Abschnitt referiert die drei Phasen der theoretischen Kritik des Postkolonialismus. Im vierten Abschnitt ziehe ich theoretische Konsequenzen aus der Kritik, um schließlich Beispiele der empirischen Anwendung anzuführen.

Europäische Theorien Übermäßig verallgemeinernd möchte ich die Sozialwissenschaften auf ein Paradigma reduzieren, das ich als eurozentrische Theorie bezeichne. Die eurozentrische Theorie zeichnet sich unter anderem durch folgende fünf Eigenschaften aus: eine ethnozentrische Geschichtsschreibung, einen unilinearen Evolutionismus, ein Container-Modell der Gesellschaft, eine deduktive Wissenschaftstheorie und die Konstruktion von Totalitäten. Die Eigenschaften sind mit der Entstehung der Sozialwissenschaften verknüpft, die sich gleichzeitig mit dem Aufstieg Europas vollzog und im 19. Jahrhundert ihre Entfaltung erfuhr. Seither ist die Vorherrschaft Europas beziehungsweise des »Westens« Gegenstand des Interesses. Voltaire begann seine Histoire générale (1756) noch mit China, nicht mit Europa. Seit Kant und Hegel beginnt die Geschichte mit den antiken Hochkulturen, die als Voraussetzung Europas gedeutet werden. Der eurozentrischen Geschichtsschreibung zufolge begann die Geschichte zwar im Osten, der sich aber nur unvollkommen über die primitiven Gesellschaften erheben konnte. Von Mesopotamien und Ägypten wurde die Flamme an Griechenland und Rom und dann an Nordwesteuropa weitergegeben. Im ›dunklen‹ Mittelalter dominierte kurzzeitig der Islam auf der Basis griechischer Wissenschaft, bevor sich Europa über die Welt ausbreitete. Die europäischen oder später

216 | Boike Rehbein westlichen Gesellschaften sollten für die Theorie von Hegel bis Fukuyama das Ziel der Menschheitsentwicklung sein. Dieses Bild erwuchs im Mittelalter und spiegelt sich in unserer geographischen Einteilung der Welt wider (vgl. Hodgson 1993: 3ff.). Wir teilen die Welt in fünf Kontinente auf, in deren Mitte der europäische Kontinent liegt. Allerdings ist Europa weder geologisch ein Kontinent noch besonders groß und schon gar nicht notwendigerweise das Zentrum. Der historische und geographische Ethnozentrismus wurde mit der Entstehung der Sozialwissenschaften bei Comte und Marx um einen Evolutionismus ergänzt. Demnach lag die Welt im Tiefschlaf, bis sie von der europäischen Modernisierung – Bürokratie, Kapitalismus, Demokratie, Rationalisierung, Kontrollstaat und instrumentelle Vernunft – heimgesucht wurde: Nach Marx (1974) herrschten in Asien orientalische Despotien über Gesellschaften mit asiatischer Produktionsweise und Subsistenzwirtschaft. Nach Weber (1972) waren die asiatischen Gesellschaften unterentwickelt und hätten von sich aus keine Dynamik erzeugt, weil ihnen die spezifischen Voraussetzungen Europas fehlten. Worin diese Voraussetzungen bestanden, war ein vorrangiger Gegenstand und Streitpunkt der klassischen Soziologie. Einig war man sich darüber, dass nicht-europäische Gesellschaften unterentwickelt waren und dem europäischen und später auch dem amerikanischen Vorbild nacheifern sollten (vgl. Rostow 1960; Hradil 2004: 16). Der Evolutionismus vertrug sich gut mit der deduktiven Wissenschaftstheorie, die in einigen Naturwissenschaften schon lange erfolgreich angewandt worden war. Carl Gustav Hempel (1972) arbeitete heraus, dass Wissenschaften das Auftreten eines Phänomens durch ein Gesetz und die Beschreibung der gegebenen Randbedingungen erklären. Der einzige Unterschied zwischen menschlicher und natürlicher Welt besteht Hempel zufolge darin, dass die humanwissenschaftliche Erklärung nicht notwendig, sondern nur wahrscheinlich ist. Nach dieser Konzeption sucht Wissenschaft einerseits nach Gesetzen, andererseits nach Rückführung empirisch feststellbarer Phänomene auf Gesetze. Im Idealfall wird die Welt durch wenige universale Gesetze erklärt und kann dann in ihrer Zukunft vorhergesagt und technisch verändert werden. Untersuchungseinheiten der eurozentrischen Theorie in den Sozialwissenschaften waren Gesellschaften. Alle Gesellschaften wurden der europäischen Gegenwart entsprechend untersucht, nach dem sogenannten »Container-Modell« (Beck 1997). Soziale Strukturen beschränken sich diesem Modell zufolge auf einen geschlossenen Raum, den Nationalstaat. Der Nationalstaat ist eine selbstgenügsa-

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me Einheit mit einer und nur einer Sozialstruktur, die auf ökonomischen Parametern beruht. Diese Analyseeinheit hat insbesondere die Sozialstrukturanalyse dominiert (vgl. Hradil 2004: 14). Sie war vorherrschend von Marx’ Klassenmodell bis zu den komplexen und theoretisch anspruchsvollen Modellen im Anschluss an Bourdieu (vgl. Vester et al. 2001). Die eurozentrische Theorie beruht auf Provinzialismus und Chauvinismus, indem sie die europäische Herrschaft voraussetzte und die Beherrschten nicht als gleichwertig betrachtete. Die provinzielle Perspektive, die sich in den Regionalwissenschaften nie ganz durchgesetzt hat, wurde von der Dependenztheorie und ihrer Weiterentwicklung durch die Weltsystemtheorie angegriffen. Wallerstein (1983) sucht die eurozentrische Theorie durch eine globale Perspektive zu überwinden, hält aber im Wesentlichen an ihren vier oben diskutierten Eigenschaften fest. Er kritisiert, dass die Vernetzung der ganzen Welt in der traditionellen Theorie vernachlässigt werde. Demgegenüber solle jedes gesellschaftliche Phänomen nach seiner Rolle im Weltsystem untersucht werden, das durch eine allumfassende Arbeitsteilung definiert wird. Eine die ganze Welt umfassende Weltökonomie habe allerdings erst der Kapitalismus geschaffen. Sie sei durch die Expansion des nordwestlichen Europas auf der Basis des Fernhandels entstanden, der bis ins 15. Jahrhundert fast ausschließlich Luxusgüter umfasste und keine Integration einzelner ökonomischer Systeme bewirkte. Damit ist der europäische Kapitalismus für Wallerstein von Anfang an ein globales Projekt. Die Geschichte des Kapitalismus selbst erklärt er allein durch die Ökonomie. Das führt zur fünften der genannten Eigenschaften eurozentrischer Theorie. Sie betrachtet ihren Gegenstand als Totalität. Mit Adornos Worten darf »nichts draußen bleiben« (Horkheimer/ Adorno 1984: 32). Auch Wallerstein grenzt seinen Gegenstand bündig ab und unterwirft ihn einer allumfassenden Logik, die – angeblich – alles Wesentliche des Gegenstands erfasst. Damit wird seine Theorie so abstrakt, dass sie kaum noch einen empirischen Gehalt hat. Das aber ist meines Erachtens ein theoretischer Mangel. Der europäische Kapitalismus wird die Welt nie vollständig durchdringen, wie sogar Marx (1969: 636) und Amin (1997: 17) angemerkt haben. Aus eurozentrischer Perspektive ist der verbleibende Rest der Welt für deren Verständnis allerdings nicht unbedingt erforderlich. Diese Auffassung konnte zu Zeiten des Kolonialismus überzeugen, aber der Aufstieg Asiens vergrößert den Rest so sehr, dass auch die theoretischen Schwächen des Totalitätsbegriffs in den Blick kommen.

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Asiatische Empirie Die genannten Eigenschaften der eurozentrischen Theorien sind meines Erachtens überholt. Erstens kann die westliche Moderne nicht mehr unstrittig als Ziel der Entwicklung gelten. Zweitens ist die unilineare Höherentwicklung ein zu grobes und möglicherweise falsches Raster für das Verständnis der Weltgeschichte. Drittens haben sich deduktive Erklärungen als trivial, in ihrer Geltung beschränkt und/ oder falsch erwiesen. Viertens hat das Container-Modell ausgedient, weil der mitteleuropäische Nationalstaat und die ökonomische Schichtung nur einen winzigen Teil der Menschheitsgeschichte beschreiben. Fünftens bildet kein Gegenstand der Sozialwissenschaften eine Totalität, nicht einmal die globalisierte Welt, weil auch sie auf Anderes (äußere Natur, Geschichte, Biologie usw.) verweist und das Allgemeine nicht allumfassend ist. Auf diese fünf Eigenschaften werde ich mich im Folgenden konzentrieren. Die Mängel der fünf Eigenschaften werden kaum sichtbar, wenn man die eurozentrische Theorie nur auf Europa anwendet, weil diese Anwendung tendenziell zirkulär ist. Aus eurozentrischer Perspektive ist die Zirkularität durchaus akzeptabel, weil nur vom Standpunkt der entwickeltsten Gesellschaft aus alle anderen Gesellschaftsformen verständlich werden (vgl. Marx 1969: 636). Die Untersuchung der anderen Formen dient dann, wie von Bourdieu kritisiert, nur der ethnologischen und regionalwissenschaftlichen Inventarisierung. Diese Blickrichtung wurde mit dem Ende der Kolonialreiche fragwürdig. Just als mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nun doch das eurozentrische »Ende der Geschichte« (Fukuyama 1992) erreicht schien, begann der Aufstieg Asiens die eurozentrische Theorie empirisch zu entwerten. Der Herrschaftsanspruch Europas – und sodann der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion – wurde in Frage gestellt. Seit dem Aufstieg der asiatischen ›Tigerstaaten‹ und nun auch Chinas, Indiens, Südafrikas und Brasiliens sieht es nicht nur so aus, als ließe sich die eurozentrische Theorie kaum auf die Geschichte und Gegenwart des globalen Südens übertragen, sondern es taucht am Horizont das Schreckgespenst einer Welt auf, die sich für Europa faktisch und theoretisch einfach nicht mehr interessiert (vgl. Rehbein/Schwengel 2008). Die Zweifel an der eurozentrischen Theorie beschleichen vor allem WissenschaftlerInnen, die sich mit Asien beschäftigen. André Gunder Frank hat als soziologisch orientierter Regionalwissenschaftler im Sinne Bourdieus in Lateinamerika geforscht. Die Ausbeutung des Kontinents durch europäische Kolonisten und Kolonialisten schien

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eine marxistische Version der eurozentrischen Theorie zu bestätigen (vgl. Frank 1969). Als sich der späte Frank Asien zuwandte, wurde er zu seinem schärfsten Kritiker. Das historische Zentrum der Welt lag, so stellte er fest, historisch fast immer in Asien (vgl. Frank 1998). Frank zufolge erlangt Asien nach dem Verlust seiner Vorherrschaft im 19. Jahrhundert diese Position jetzt wieder (vgl. ebd.: 7). Bisher schreibe man die Geschichte stets aus europäischer Perspektive, weil man daran glaubt, dass Europa sich unabhängig vom Rest habe entwickeln können und außerdem die Geschichtsschreibung erfunden habe (vgl. ebd.: 2). Im 16. Jahrhundert sei den Europäern die herrschende Stellung Asiens allerdings noch bewusst gewesen (vgl. ebd.: 11). Die Haltung habe sich erst mit Industrialisierung und Kolonialismus geändert. Man meinte nun, dass es die Merkmale der kapitalistischen Produktionsweise nur in Europa gäbe und dass sie in den anderen Erdteilen fehlten. Sie müssten von Europa aus exportiert werden. Auch heute noch analysiere man den Rest der Welt als historisch, ökonomisch, sozial, politisch, ideologisch oder kulturell defizitär (vgl. ebd.: 21). In Wahrheit habe dieser Rest historisch weit eher im Zentrum gestanden als Europa. Die neuere empirische Forschung zu Asien zeigt tatsächlich, dass während der letzten drei Jahrtausende eine multizentrische Welt vorherrschte, in der asiatische Gesellschaften ein leichtes Übergewicht besaßen. Die beiden Aufstiegsphasen Europas in der Antike und der Neuzeit bedienten sich des asiatischen Handels und wären unabhängig von ihm kaum möglich gewesen. Bis 1750 hatte China ein höheres Pro-Kopf-Einkommen als England, bis 1850 ein größeres Bruttosozialprodukt und bis 1860 einen größeren Anteil an der Weltproduktion (vgl. Pomeranz 2000; Hobson 2004). Indien, China und Südostasien bildeten einen Handelsraum, der in den meisten Phasen dichter und bedeutender war als der Mittelmeerraum (vgl. Reid 1993). Die Europäer konnten sich erst am asiatischen Handel beteiligen, als sie den Bedarf Asiens nach Silber auszunutzen vermochten, das sie aus Lateinamerika nach Asien brachten, um es dort gegen Waren einzutauschen (vgl. ebd.: 25). Der dann folgende Aufstieg des europäischen Handels, der in Südostasien eine Monopolstellung errang, korrespondierte mit einer relativen Schwäche Asiens. Europa rückte im Verlauf des 18. Jahrhunderts ins Zentrum der Welt. Der Aufstieg Japans und der Vereinigten Staaten hat die europäische Vorherrschaft im 20. Jahrhundert bereits relativiert, und im 21. Jahrhundert ist die multizentrische Welt zurückgekehrt (vgl. Nederveen Pieterse/Rehbein 2008). Eine multizentrische Welt macht die Annahme einer Evolution der Welt als Totalität, die auf eine gemeinsame Gesellschaftsform hinausläuft, prob-

220 | Boike Rehbein lematisch, wie auch die Vernetzung der Zentren Asiens über so viele Jahrhunderte hinweg den Rahmen des Container-Modells sprengt. Diese empirische Lage hat auch Folgen für das Modell wissenschaftlicher Erklärungen, wie ich weiter unter ausführen werde.

Postkoloniale Theorien Warum aber hat der Wiederaufstieg Asiens überhaupt Folgen für die eurozentrische Theorie? Sie bliebe nur von ihm unberührt, wenn Asien der europäischen Entwicklung folgte. Davon ist man bis vor wenigen Jahren ausgegangen. Seit Chinas Wirtschaftsdaten in immer mehr Kategorien den zweiten oder gar ersten Platz einnehmen, wird diese Voraussetzung aber zweifelhaft. Inzwischen wird deutlich: Eine stark von China dominierte Welt wird anders aussehen als die europäisch und amerikanisch beherrschte Welt. Man möchte in diesem Fall vielleicht argumentieren, dass alle Nationalstaaten dem chinesischen Vorbild folgen würden und müssten. Nach einer Wiederholung der kurzen eurozentrischen Phase vom späten 18. bis ins 20. Jahrhundert sieht es jedoch nicht aus. Es kehrt eher die multizentrische Welt zurück, in der sich Entwicklungen überlappen, durchdringen und ergänzen. Diese Welt, die Reid in Asien vor dem Eintreffen der Europäer analysiert hat, konnten Abu-Lughod (1989) und Hodgson (1993) für denselben Zeitraum auch im Nahen Osten vorfinden. Ja, es ist sogar wahrscheinlich, dass die Idee einer multizentrischen Welt die Jungsteinzeit und die frühen »Hochkulturen« besser charakterisiert als die eurozentrische Theorie (Stein 1999). Diese gilt letztlich vielleicht nur für genau die Zeitspanne und die Region ihrer Entstehung, also für das nordwestliche Europa und seine Kolonien der letzten zwei Jahrhunderte. Damit muss eine angemessene (Sozial-)Theorie wenigstens die fünf genannten Eigenschaften eurozentrischer Theorie überwinden. Der Vergleich Europas mit China, Indien, Südostasien und dem Nahen Osten hat weit größere Ähnlichkeiten in der Geschichte bis ins 16. oder gar 19. Jahrhundert ergeben, als es die eurozentrische Geschichtsschreibung hätte vermuten lassen. Gleichzeitig erwuchsen immer größere Schwierigkeiten, die Welt außerhalb der kurzen Herrschaft des Westens mit der eurozentrischen Theorie zu begreifen. Jede Region hat ihren eigenen Ethnozentrismus. Keine Region erfuhr eine unilineare Höherentwicklung. Das Container-Modell gilt nur für einen kleinen Ausschnitt der Geschichte. Universale historische

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Gesetze sind noch nicht entdeckt worden. Und kein Untersuchungsgegenstand kann als Totalität abgegrenzt werden. Die Kritik an den genannten Eigenschaften eurozentrischer Theorie ist nicht neu. Der Postkolonialismus hat sie in unterschiedlichen Facetten entwickelt. Mit dieser Kritik hat er sich selbst entwickelt. Ich möchte, wie einleitend angedeutet, drei Phasen des Postkolonialismus unterscheiden. Die erste Phase ist die des bewaffneten oder passiven Widerstands gegen die Kolonialherrscher. Mit dem antikolonialen Befreiungskampf verband sich ein antikoloniales Denken, das stark von Marx und der Herr-Knecht-Dialektik Hegels inspiriert war. Es ist klar, dass sich diese Inspiration mit der erfolgreichen sowjetischen Revolution und dem Denken ihres marxistischen Führers Lenin verband. Das zeigt sich deutlich in den Schriften der Führer von Befreiungsbewegungen in den Kolonien. Beispielsweise schrieb Ho Chi Minh 1926: »Lenin verurteilte als erster energisch alle Vorurteile gegenüber den Kolonialvölkern, die vielen europäischen und amerikanischen Arbeitern in Fleisch und Blut übergegangen waren. […] Lenin bedeutet für alle unterdrückten und versklavten Völker den Wendepunkt in der qualvollen Geschichte ihrer rechtlosen Existenz, das Symbol einer neuen hellen Zukunft.« (Ho 1980: 51f.) Nach den Differenzen zwischen chinesischen und sowjetischen Kommunisten in den 1950er Jahren, deren Gegenstand nicht zuletzt die Frage nach dem Vorrang von Weltrevolution oder nationaler Befreiung war, bildete Lenin nicht mehr den alleinigen Bezugspunkt, wohl aber das dialektische Denken von Marx weiterhin die Grundlage. Die Herr-Knecht-Dialektik ist nicht nur für den Asiaten Ho Chi Minh zentral, sondern auch für den Wahlafrikaner Frantz Fanon und den Lateinamerikaner Paulo Freire. Fanon drückt das antikoloniale Denken in einer klassischen Formel aus: »Der Weiße erschaff t den Neger. Aber der Neger erschaff t die Négritude.« (Fanon 1969: 31) Er erläutert die dialektisch befreiende Wirkung des Kolonialismus am Beispiel des weiblichen Schleiers. Die Franzosen untersagten in Algerien das Tragen des Schleiers zum Zweck der besseren Kontrolle und der Zivilisierung (vgl. ebd.: 22). Das Ablegen des Schleiers habe eine Art Vergewaltigung der sichtbaren Frau durch die Kolonialherren bedeutet (vgl. ebd.: 27). Durch die äußere Gleichstellung sei jedoch erst die Solidarität zwischen algerischen Männern und Frauen möglich geworden – und damit der gemeinsame Befreiungskampf (vgl. ebd.: 82). »Die Freiheit des algerischen Volkes wird gleichbedeutend mit der Befreiung der Frau, mit ihrem Eintritt in die Geschichte.« (Ebd.: 75) Freire führt die Dialektik in Hegels Sinne noch einen Schritt weiter. Die Unterdrückten erkennen nicht nur mehr als die Unterdrücker und

222 | Boike Rehbein sie müssten nicht nur sich von der Unterdrückung befreien, sondern sie dürften nicht an die Stelle der Unterdrücker treten und nicht versäumen, auch diese zu befreien (vgl. Freire 1973: 32). Damit sie dies täten, müsse man nach Marx den Druck ins Unterträgliche steigern, aber gleichzeitig die Unterdrückten auf ihre humantistische Aufgabe nach dem Sieg vorbereiten (vgl. ebd.: 38). Die Gesellschaft lässt sich dementsprechend in dialektischen Gegensätze analysieren. Der Antikolonialismus hat seine Aktualität noch nicht verloren. Zwar sind die meisten Kolonien von der Landkarte verschwunden, aber alte Abhängigkeiten und Missstände dauern fort. Daher hat der Antikolonialismus in vielen ehemaligen Kolonialgebieten seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. In vielen Gebieten wird er noch als nationaler Befreiungskampf geführt, in anderen bereits als globale Bewegung. In beiden Fällen macht der Süden Front gegen den Norden und den Eurozentrismus. In Südafrika wurde der (innere) Kolonialismus erst 1994 beendet, und obwohl Mandelas Programm dem von Freire sehr ähnlich war und die südafrikanischen Intellektuellen längst in die dritte Phase des Postkolonialismus eingetreten sind, dominieren in der Politik immer noch Motive aus der ersten Phase. Die zweite Phase des Postkolonialismus ist mit der erfolgreichen Befreiung verknüpft. Sie beginnt also beispielsweise in Indien viel früher als in Vietnam, muss aber nicht zwangsläufig den Antikolonialismus ersetzen. Nach dem bloßen Antikolonialismus geht es nun um die Bestimmung des Eigenen. Der Nationalismus ist hierzu häufig das Mittel gewesen. Nicht selten wurde auch einfach die Perspektive umgekehrt. Nicht der »weiße« Kolonialherrscher war jetzt Inbegriff des Guten, Ursprung der Zivilisation und Endpunkt der Entwicklung, sondern das »schwarze«, »gelbe« oder »braune« befreite Volk. In Indien beginnt dieses Denken schon mit Tagore und Nehru, entfaltet sich aber erst nach der Befreiung von der britischen Kolonialherrschaft. Panikkar (1955) zeichnet das Bild eines peripheren, schwachen Europas, das nur durch List und Gewalt in das ahnungslose, gutmütige Asien vordringen konnte. Den Höfen in China und Indien seien die militärische Schwäche und die kulturelle Unterentwicklung Europas bewusst gewesen, als die Portugiesen zu Beginn des 16. Jahrhunderts nach Asien vordrangen (ebd.: 21ff., 51ff.). Ungünstige Zufälle seien den betrügerischen und gewalttätigen ›Barbaren‹ zu Hilfe gekommen, das überlegene Asien zu erobern, welches sich nun auf seine eigenen Wurzeln besinnen solle. Panikkar setzte an die Stelle des Orientalismus einen Okzidentalismus und an die Stelle des Vorrangs von Europa den Vorrang Asiens. Diese undialektische Kontrastierung gehörte eigentlich nicht in den

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Zusammenhang des Postkolonialismus, wenn sie keine Weiterentwicklung des Antikolonialismus wäre. Die einfache Entgegensetzung von gut und schlecht hat Edward W. Said (1978) als bedeutendste Auswirkung der Kolonialherrschaft analysiert, die von den Beherrschten zunächst als ein negatives Selbstbild übernommen wurde.2 Said analysiert schriftliche Quellen über den »Orient« als Projektionen, die Teil eines umfassenden und im Westen allgegenwärtigen »Diskurses« sind (vgl. ebd.: 1ff.). Orientalismus definiert Said als eine Denkweise, die auf der Unterscheidung zwischen Orient und Okzident beruht und dem Orient von außen bestimmte negative Konnotationen zuschreibt, beispielsweise Sinnlichkeit, Despotismus, schweifende Mentalität, Ungenauigkeit und Zurückgebliebenheit (vgl. ebd.: 203f.). Dieser Orient war nicht nur eine Idee, sondern auch eine Praxis. Ein Orientalismus hätte nicht allein als Gedanke entstehen können. Er musste mit faktischer Herrschaft verbunden sein, der Orient als Idee musste auch faktisch zum Orient gemacht werden. Diesen Prozess versuchte Said auf der Basis einer Verbindung von Foucaults Herrschaftsbegriff und Gramscis Hegemoniebegriff zu fassen (vgl. ebd.: 4f.). Wenn nun der Orient den Spieß einfach umdrehe, verfalle er selbst in einen Orientalismus – oder Ethnozentrismus. Das ist die zentrale Kritik der dritten Phase des Postkolonialismus. Sie kreist um Begriffe wie Vielfalt, multiple Modernen und Hybridisierung. Ein anspruchsvolles Konzept der Hybridisierung hat Homi K. Bhabha entwickelt. Bhabha geht nicht vom deskriptiven Sachverhalt der Vermischung von Kulturen aus, sondern von einer kritischen und normativen Perspektive, die auf eine Überwindung von kolonialen und antikolonialen Denkmustern abzielt. Edward W. Saids »Orientalismus« bildet für ihn die Folie des zu überwindenden Gegensatzes. Bhabha zufolge betrachtet Said den Diskurs des Orientalismus zu monolithisch (vgl. ebd. 2000: 106). Damit müsse Said ihn auch als entweder unbewusst überdeterminiert oder strategisch angelegt interpretieren. Jeder Diskurs setze jedoch mittlere Kategorien und Zwischenräume voraus. Ein Antikolonialismus sei nur der Spiegel des Kolonialismus und durch ihn determiniert. Daher könne ein fruchtbarer Postkolonialismus auch nicht einfach ein Antikolonialismus oder eine Ablehnung des Orientalismus sein, sondern müsse sich mit den Zwischenformen und Zwischenräumen beschäftigen. Die Postkoloniale Theorie verweise auf Kulturen der Gegen-Moderne, die in einem diskontinuierlichen Verhältnis zur kolonialen Moderne stehen und sich 2 | Vgl. für eine Darstellung und Diskussion von Said auch den Beitrag von Köhler in diesem Band.

224 | Boike Rehbein assimilierenden Techniken widersetzen können (vgl. ebd.: 9). Aber sie könnten auch ihre kulturelle Hybridität, die aus ihrer Grenzposition erwächst, dazu einsetzen, die koloniale Moderne anders zu interpretieren. Vor dem Hintergrund dieser Variante des Postkolonialismus konstruiert man in wissenschaftlichen Untersuchungen Teiltheorien, die wie die eurozentrische Theorie nur für einen Ausschnitt der Wirklichkeit gelten. Die allgemeine Theorie beschränkt sich dann auf die Feststellung von Vielfalt und multiplen Modernen.

Kaleidoskopische Theorie Die Diskussionen um die Postkoloniale Theorie haben sich an Marx abgearbeitet und schließlich zu einem »Postmarxismus« (Laclau/ Mouffe 1991) geführt, der viele Aspekte des Postkolonialismus zusammenfasst und Folgerungen aus ihnen zieht. Nun möchte ich kurz zur Dialektik von Marx zurückkehren, um die kritisierten Elemente im Original nachzuverfolgen. Sodann werde ich eine Alternative zur dichotomen Höherentwicklung skizzieren, die Hegels und Marx’ Dialektik charakterisiert. Dabei stütze ich mich auf Adorno und Wittgenstein. Hegel (1970) fasste die Wirklichkeit als eine reale und sodann erkennende Entfaltung vom Einfachen zum Komplexen. Die Erkenntnis der gesamten Geschichte und des Erkennens dieser Geschichte sollte den Abschluss der Geistesgeschichte im »absoluten Wissen« erreichen (vgl. ebd.: 434ff.). Als treibendes Moment der Wirklichkeit und der Erkenntnis machte Hegel den Widerspruch aus: Allem hafte sein Gegenteil real und begrifflich an (vgl. ebd.: 31). Die vollständige Durcharbeitung des Widerspruchs führe zu seiner Auf hebung, indem beide Seiten des Widerspruchs als im Grunde identisch erkannt, zu einer neuen Problemstellung geführt und als vergangene Erkenntnis im Gedächtnis behalten werden. Marx (1969) schloss sich dieser Konzeption fast vollständig an, machte aber gegen Hegel den Unterschied zwischen Erkenntnis und Wirklichkeit geltend. Das Denken müsse die komplexe Welt erklären, indem es von einer abstrakten und grundlegenden Kategorie über die Entfaltung von Widersprüchen zur zusammengesetzten Totalität fortschreitet (vgl. ebd.: 632f.). Diese Gedankenentwicklung kann nach Marx mit der wirklichen Geschichte übereinstimmen, meist sei das aber nicht der Fall. Entscheidend sei die Auffindung der Kategorie, die für die soziale Gegenwart bestimmend ist, und ihre anschließende systematische Entfaltung durch den ihr anhaftenden Widerspruch bis

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zur Erklärung der gesamten Gegenwart. Das sei nur vom Standpunkt der entwickeltsten Gesellschaft aus möglich. »Die bürgerliche Gesellschaft ist die entwickeltste und mannigfaltigste historische Organisation der Produktion. Die Kategorien, die ihre Verhältnisse ausdrücken, das Verständnis ihrer Gliederung, gewährt daher zugleich Einsicht in die Gliederung und die Produktionsverhältnisse aller der untergegangenen Gesellschaftsformen. […] Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf Höheres in den untergeordneten Tierarten können dagegen nur verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist.« (Marx 1969: 636)

Im Unterschied zu Hegel lässt Marx die Geschichte nicht in der Gegenwart enden, sondern verlegt eine Überwindung aller Widersprüche in die Zukunft. Daher kann die Gegenwart nur durch ihre Kritik vollständig erkannt werden (vgl. ebd.: 637). Sodann erzählt Marx noch einmal die eurozentrische Geschichte. Er schließt die Argumentation mit dem Auf bau eines Werkes – des in den 1850er Jahren schon projektierten Kapital – über die sozio-ökonomische Entwicklung: 1. allgemeine abstrakte Kategorien, 2. die bürgerliche Gesellschaft bestimmende Kategorien, 3. Staat und Gesellschaft, 4. internationale Arbeitsteilung, 5. Weltmarkt (vgl. ebd.: 639). Die Gliederung spiegelt gut das ContainerModell der Gesellschaft, den Evolutionismus und die Orientierung am Begriff der Totalität wider. Nicht so deutlich ist die deduktive Wissenschaftstheorie, weil sich Marx wie Hegel einer Entwicklung der Begriffe und keiner naturwissenschaftlichen Erklärung bediente. Genau das ist der Grund für mich, am Konzept einer Dialektik festzuhalten. Böte die Dialektik nur diesen Vorzug, könnte man sie getrost aufgeben – wie es etwa postmoderne TheoretikerInnen gefordert haben. Im Totalitätsdenken der Dialektik kann man einen wichtigen Gegner, wenn nicht gar den Hauptgegner von Postkolonialismus, Postmoderne und Poststrukturalismus erblicken. Deutlich ist diese Frontstellung im jüngsten Manifest des Postkolonialismus von Spivak (1999) zu erkennen. Das Buch beginnt mit einer Kritik der eurozentrischen Theorie, als deren Vertreter Kant, Hegel und Marx gewählt werden. Spivak rechtfertigt ihre Auswahl sowohl durch die Bedeutung dieser Philosophen für den Eurozentrismus als auch durch ihre Fortwirkung im Postkolonialismus (vgl. ebd.: 9).3 3 | Es ist interessant, dass Spivaks Analyse nicht die Phänomenologie des Geistes umfasst. Zu Spivak vgl. ihren eigenen Beitrag in diesem Band sowie Dhawan/do Mar ebenfalls in diesem Band.

226 | Boike Rehbein Die Kritik an der Dialektik wurde von einem Dialektiker selbst vorweggenommen. In den Minima Moralia (1951) fordert Adorno, zugleich dialektisch und undialektisch zu denken (vgl. Adorno 1979: 201). Dialektisch sind demnach das Element der Kritik, das Wiedererkennen des Ganzen im Einzelnen und der Nachweis alles scheinbar Selbständigen als über sich hinausweisend. Undialektisch sind die Weigerung, das Negative ins Affirmative aufzuheben, und das Festhalten am Einzelnen. Adorno sucht wie Bhabha nach den Figuren in Geschichte und Gesellschaft, an denen die historische Entwicklung der gegenwärtigen Totalität von Hegel und Marx vorbeigegangen ist, »gewissermaßen den Abfallstoffen und blinden Stellen, die der Dialektik entronnen sind. […] Was die herrschende Gesellschaft transzendiert, ist nicht nur die von dieser entwickelte Potentialität, sondern ebensowohl das, was nicht recht in die historischen Bewegungsgesetze hineinpasste.« (Ebd.: 200) Bekanntlich ist Adorno in eine Aporie geraten, weil er gleichzeitig totale Kritik forderte und an zahlreichen positiven Sätzen festhielt. Aus Angst vor Hegels Allgemeinem unterscheidet er nicht zwischen Einzelnem und Besonderem und führt immer nur einen Schritt der dialektischen Vermittlung aus. Das Ganze wird unmittelbar im Einzelnen gesehen und dann keine weitere Vermittlung gesucht. Man könnte auch sagen, es kommt kein wirklich hermeneutischer Prozess in Gang. Ferner wird keine Konfrontation mit der Empirie gesucht. Selbstverständlich war sich Adorno dessen bewusst. Daher suchte er nach einer Methode, die weder bloß beschreibend noch allgemein-deduktiv wäre. In vielen Analysen bedient sich Adorno dieser Methode tatsächlich. Er bezeichnet sie als »Konstellation« oder »Konfiguration«: Die Analyse eines Phänomens als Konstellation setzt Adorno zufolge voraus, dass die Kausalketten und Relationen des Gegenstands prinzipiell nicht zu überblicken sind (vgl. Adorno 1975: 263). Die Kausalanalyse impliziere die Identität des Gegenstands und lineare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Das Denken in Konstellationen leugne diese beiden Voraussetzungen und suche daher nach (vielen) Relationen des Gegenstands zu anderen Gegenständen und zu seiner eigenen Geschichte. Auf diese Weise werde die scheinbare Selbständigkeit oder Identität des Gegenstands als Schein und gleichzeitig die Bestimmung des Gegenstands durch die Totalität aufgezeigt (vgl. ebd.: 164). Adornos Konstruktion von Konstellationen ist eine Alternative zu seiner unvermittelten Verknüpfung von »Ganzem« und »Einzelnem«. Allerdings gibt er die Orientierung am Ganzen (oder an der Totalität) nicht auf. Das beruht vermutlich auf seiner Konzeption von Ge-

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sellschaft nach dem Container-Modell. Gleichzeitig jedoch will er das Einzelne als Einzelnes zu fassen bekommen, um dem Totalitarismus von Hegel und Marx Widerstand zu leisten. Diese Verbindung leuchtet mir nicht ein. Meines Erachtens bekommen wir weder das Ganze noch das Einzelne zu fassen, sondern immer nur Zwischenstufen, die Hegel und Marx als das »Besondere« bezeichnet haben. Dafür eignet sich Adornos Konstellation, wenn wir drei ihrer Kernelemente bewahren: erstens die Suche nach Relationen des Gegenstands, zweitens die Suche nach Relationen zu seiner Geschichte und drittens die Auf hebung seiner scheinbaren Selbständigkeit. Mit einer kaleidoskopischen Dialektik möchte ich unmittelbar an diese drei Kernelemente von Adornos Idee der Konstellation anknüpfen. Ich spreche von »kaleidoskopisch«, weil die Begriffe der Konstellation und der Konfiguration bereits von anderen Traditionen belegt sind. 4 Das zentrale Element einer kaleidoskopischen Dialektik besteht darin, den Begriff eines Gegenstands mit der Geschichte des Gegenstands und anderen Gegenständen in Relation zu setzen. Jede Relation enthält etwas Allgemeineres und historisch Früheres, aber vermutlich nie den Begriff einer ganzen ›Gesellschaft‹ oder gar einer ›Totalität‹. Ferner können die Relationen nicht auf einen Typus, den Widerspruch, reduziert werden, wie es Hegel, Marx und Adorno versucht haben. Auch wenn man annimmt, die Entwicklung des Begriffs stufenförmig nachzeichnen zu können – was vielleicht im Grenzfall möglich ist –, so kann jede einzelne Stufe nicht allein durch den – einen – Widerspruch bestimmt werden. Vielmehr verändert sich das Netz der Relationen auf jeder Stufe, woraus sich mehrere neue Relationen ergeben. Der Widerspruch trägt nicht viel zur Bestimmung eines Begriffs bei. Daher möchte ich Adornos »undialektischen« Momenten des Denkens nicht folgen (vgl. Adorno 1979: 201; s.o.). Letztlich ist eine kaleidoskopische Dialektik mit der marxschen Methode ebenso eng verwandt wie mit Adornos Konstellation, auch wenn sie Marx in jeder Einzelheit widerspricht. Marx entwickelt eine Methode, die vom Eurozentrismus geprägt ist. Er verfolgt eine ethnozentrische Geschichtsschreibung, einen Evolutionismus, ein Container-Modell der Gesellschaft und eine Konzeption von Totalität. Ferner stellt er den Widerspruch ins Zentrum seiner Methode. Aber er verfolgt auch eine Entfaltung des Begriffs. Die deduktive Wissenschaftstheorie steht quer zu den Unterschieden zwischen kaleidoskopischer und Widerspruchsdialektik. Die 4 | Darüber hinaus ist ein griechischer Begriff ästhetisch angenehmer mit einem anderen griechischen Begriff zu verbinden.

228 | Boike Rehbein Schwäche von Erklärungen in den Sozialwissenschaften beruht darauf, dass es unzählige Möglichkeiten gibt, die Randbedingungen zu beschreiben – oder, in Adornos Worten, die Relationen und Kausalketten sind prinzipiell nicht zu überblicken (1975: 263). Daher gibt es sehr viele Möglichkeiten, ein Phänomen durch allgemeine Gesetze zu erklären. Jede Ebene der Erklärung, jedes Erkenntnisinteresse, jede Disziplin, jede Methode und geradezu jeder Blick hat eine unterschiedliche Beschreibung des Phänomens zur Folge, selbst wenn dieses identisch bleibt. Daraus ergibt sich die Vielheit, die für den Postkolonialismus charakteristisch ist. Nun sieht man sich der Alternative gegenüber, entweder die Vielheit recht willkürlich auf allgemeine Gesetze zu reduzieren oder die Vielheit einfach bestehen zu lassen. Die kaleidoskopische Dialektik soll eine dritte Möglichkeit eröffnen, indem Gesetz und Randbedingung als Einheit aufgefasst werden. Hempel und der Wissenschaftstheorie des 19. Jahrhunderts zufolge gilt ein Gesetz unabhängig von den Phänomenen. Genau diese Voraussetzung möchte ich bestreiten. Gesetze entstehen historisch gemeinsam mit den Phänomenen. Die Abstraktion von Geschichte und Phänomenen vermittelt den Eindruck einer allgemeinen Gültigkeit, tatsächlich aber gilt jedes Gesetz, wenn man es präzise fasst, nur für den Gegenstandsbereich, mit dem es entstanden ist. Das ist das ›Besondere‹. Manche Gesetze gelten für viele Phänomene, andere für wenige, aber keines gilt für alle oder eines. Daher haben Hempels Gesetze in den Sozialwissenschaften einen statistischen Charakter – den sie übrigens für die Naturwissenschaften des 20. Jahrhunderts auch haben. Eine kaleidoskopische Dialektik will Geschichte(n) und Relationen eines Phänomens konstruieren, um mehr oder weniger allgemeine Aussagen zu machen und das Phänomen gleichsam als eine Gestalt, ein Kaleidoskop, mehr oder weniger angemessen zu fassen. Das Ziel ist weder die Auffindung allgemeiner Gesetze noch die Beschreibung einer Singularität noch der Blick auf die ganze Geschichte, sondern es ist die Erkenntnis von Beziehungen, Verbindungen und Ähnlichkeiten. Bei den Ähnlichkeiten handelt es sich um Familienähnlichkeiten (vgl. Wittgenstein 1984a). Es ist nicht möglich, die Gegenstände der Sozialwissenschaften unter allgemeine und abstrakte Begriffe zu subsumieren, weil die Gegenstände – im Gegensatz zu Marx’ und Hegels Konturierungen – nicht durch allgemeine Begriffe bestimmt werden. Wittgenstein illustriert diesen Punkt am Beispiel einer Familie: Die Mitglieder einer Familie haben Gemeinsamkeiten, aber keine zwei haben genau die gleichen Eigenschaften gemeinsam. Es »übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe,

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Gang, Temperament« (ebd.: Aphorismus 67). »Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.« (Ebd.: 66). Die Ähnlichkeiten kann man durch ihre historische Entstehung ›erklären‹, aber man kann sie nicht auf allgemeine Gesetze zurückführen. Bei einem Familienmitglied wurde der Gang durch die Berufstätigkeit verändert, bei einem anderen die Nase durch einen Schlag, bei einem dritten das Temperament durch Einflüsse der Hormone. Die Erklärung aller Einzelheiten ergibt nicht nur eine unüberblickbare Kausalkette, sondern eine Erklärung der Welt – mitsamt allen Einzelheiten. Die Erklärung der Welt ist Hegels Programm und vielleicht auch Hempels Ziel. Beide meinen aber, die Einzelheiten spielten keine Rolle für diese Erklärung, sondern die Konzentration auf wenige allgemeine Aussagen (Begriffe oder Gesetze) sei hinreichend. Damit würde der Großteil dessen, was wir über die soziale Welt wissen und was in der sozialen Welt existiert, aus den Sozialwissenschaften ausgeschlossen. Prinzipiell wissen wir in den Sozialwissenschaften nicht zu wenig, sondern zu viel. Meines Erachtens sollte nicht willkürlich von diesem Wissen abstrahiert werden. Der Einbezug des Wissens führt nicht zu einer unüberschaubaren Vielfalt, weil die soziale Welt erstens recht enge und oft grausame Grenzen hat und zweitens andere Menschen umfasst, die auch etwas wissen. Hegel und Dilthey haben die Grenzen der sozialen Welt als »Widerstand« bezeichnet. Sie korrespondieren in etwa mit Wittgensteins Begriff der »Lebensform« (ebd.: 241). Das Leben »steht da«, es kann nicht nach Belieben interpretiert oder verändert werden (vgl. Wittgenstein 1984b: 559). Im Gegensatz zu Wittgenstein meine ich jedoch, dass genau die Lebensform Gegenstand der Sozialwissenschaften ist – und nicht jenseits der Grenze der Erkenntnis liegt. Weder Wittgenstein noch Adorno haben der Tatsache Rechnung getragen, dass andere Menschen auch erkennende Subjekte sind. Diese Tatsache hat nun zur Folge, dass der Gegenstand der Sozialwissenschaften einer wissenschaftlichen Aussage widersprechen kann – im Gegensatz zu den Naturwissenschaften. Wenn WissenschaftlerInnen einem Menschen bestimmte Eigenschaften zuschreiben, kann dieser Mensch der Zuschreibung widersprechen. Er kann sogar auf reflexiver Ebene dem wissenschaftlichen Ansatz widersprechen und eine andere Perspektive oder gar ein eigenes Paradigma vorschlagen. Auf diese Tatsache haben Postkolonialismus und Postmoderne hingewiesen. Hieraus folgt jedoch nicht, dass alle Interpretationen und Perspektiven gleichwertig sind. Es folgt vielmehr, dass in den Sozialwissenschaften Verstehen erforderlich ist, und zwar in doppelter Hinsicht.

230 | Boike Rehbein Erstens muss der Gegenstand (oder der mit ihm verknüpfte Mensch) verstanden werden, zweitens muss mit dem Gegenstand (dem Menschen) eine Verständigung gesucht werden. Beides erfordert keinen Konsens, sondern Verstehen erfordert eine empirische Überprüfung und Verständigung eine Akzeptanz. In letzter Instanz muss man in den Sozialwissenschaften nachvollziehen, wie alle Menschen, die am Gegenstandsbereich teilhaben, die Welt sehen. Erst dann kann man ihr Handeln und dessen Folgen angemessen deuten und erklären. Man lernt dabei etwas über die Welt, vielleicht sogar etwas für und über das eigene Leben. Wer die Perspektiven der beteiligten Menschen nicht in Betracht zieht, läuft Gefahr zu fantasieren und ein Schachspiel für eine Geisterbeschwörung oder eine Geistheilung für ein freundschaftliches Spiel zu halten. Das Verstehen ist möglich, weil alle Sprachspiele und Lebensformen Familienähnlichkeiten aufweisen. Aber sie sind weder auf eine gemeinsame Grundform reduzierbar noch durch eine einzige, wahre Sichtweise der Welt zu ersetzen. Ohne Verstehen ist jede Verständigung ein »zwangloser Zwang«, wie Habermas (1984: 357, 365, 382) die ideale Sprechsituation bezeichnet hat. Die postkoloniale Situation beinhaltet die Sprachlosigkeit der Kolonialisierten und die Pflicht, sich der Logik des Herrschers oder der herrschenden Logik zu beugen (vgl. Spivak 1999). Daher muss man wissen, warum jemand im Verständigungsprozess zustimmt. Das gelingt nur über Verstehen, also über das Kennenlernen anderer Perspektiven. Das Verstehen muss aktiv gesucht werden, um über provinzielle Formen hinauszukommen und sich in einer globalisierten Welt zu verständigen. Da sich die Lebensformen auf dem Planeten stark unterscheiden, weichen auch Perspektiven, Standards und Handlungen sehr voneinander ab. Die Familienähnlichkeiten beruhen auf einer geteilten Menschheit, können aber nicht auf eine Lebensform, ein Arsenal an Standards oder gar eine (wahre) Perspektive zurückgeführt werden. Auch die Sichtweisen bilden ein Kaleidoskop mit unterschiedlichen Relationen zwischen den Elementen. Verstehen eröffnet andere Sichtweisen und damit Aspekte der Wirklichkeit, die in ihrer Gesamtheit nur ein beschränktes Kaleidoskop und nicht die gesamte soziale Welt ergeben – aber gleichsam den Stand des Weltgeistes bezeichnen würden, wenn es einen gäbe. Selbst wenn die gesamte soziale Welt erfasst wäre, müsste sie noch zur natürlichen Welt und zur unbekannten Zukunft in Relation gesetzt werden. Daher wird es wohl immer bei einem kaleidoskopischen Wissen bleiben.

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Kaleidoskopische Praxis Tatsächlich bedienen sich sehr viele WissenschaftlerInnen einer kaleidoskopischen Methode. Es ist interessant, dass man sie häufig in Untersuchungen antriff t, die aus einem anti-eurozentrischen Impuls heraus geschrieben wurden. Der Islamwissenschaftler Marshall Hodgson legte in den 1940er Jahren die vielleicht erste wissenschaftliche Kritik des eurozentrischen Bildes der Geschichte vor (vgl. Hodgson 1993). Hodgson wählte für seine Forschung eine Analyseeinheit, die er als Afro-Eurasien bezeichnete. Afrika, Asien und Europa könnten nur im Zusammenhang untersucht werden. Hodgson betrachtete die jeweilige Analyseeinheit als Konstrukt, das vom Zweck der jeweiligen Untersuchung abhing. Dabei konnte Afro-Eurasien, eine Region, ein Kulturraum, eine Tradition oder eine Zivilisation sein (vgl. ebd.: 273). Die Einheiten sind selbst relational zu bestimmende Konstrukte. Durch jede neue Relation ändert sich die Einheit, wodurch sich neue Relationen ergeben. Ebenso ergibt jede neue Perspektive neue Gesichtspunkte und Relationen, die das Gesamtbild des Untersuchungsgegenstands ändern (vgl. ebd.: 19). Das Gesamtbild charakterisierte er als eine ständig mutierende »Konfiguration« (vgl. ebd.: 17). In neueren historischen und soziologischen Untersuchungen scheint sich wie bei Hodgson ein reflektierter Gebrauch einer kaleidoskopischen Methode durchgesetzt zu haben. Zum Beleg möchte ich einige Beispiele aus Südostasien, Japan und Brasilien anführen. Oben war der Südostasienwissenschaftler Anthony Reid erwähnt worden. Er erforscht Asien als eigenes Weltsystem und bei seiner Integration ins europäische Weltsystem. Reid zufolge gab es ein relativ klar strukturiertes Austauschsystem, das im 16. Jahrhundert global wurde. Südostasien produzierte Rohstoffe und benötigte Textilien (vgl. Reid 1993: 32). Indien produzierte Rohstoffe und Tuch, China Seide und Fertigprodukte. Alle drei Regionen benötigten Edelmetalle. In diese Situation stieg Europa im 16. Jahrhundert ein. Hauptgegenstand von Reids Buch The Age of Commerce ist die Frage, warum dieses System im 17. Jahrhundert zusammenbrach. Victor Liebermans Buch mit dem Titel Strange Parallels (2003) erhebt den Anspruch, ein neues Paradigma der Forschung zu entwickeln. Zunächst unterscheidet er zwischen einer »externalistischen« (eurozentrischen) und einer auf sie reagierenden »autonomen« (antikolonialen) Geschichtsschreibung. Diese unfruchtbare Dichotomie habe Reid überwunden (vgl. Lieberman 2003: 15ff.). Lieberman kritisiert aber, dass sich Reid auf die Ökonomie der südostasiatischen Inselwelt konzentriere und Politik, Kultur und lokale Dynamiken des Festlands

232 | Boike Rehbein vernachlässige. Reid ordne die Geschichte Südostasiens einem maritimen Weltsystem unter (vgl. ebd.: 21). Lieberman will in fünf Punkten über Reid hinausgehen: Ausdehnung des Gegenstands, Einbezug des Überlandhandels, Eingliederung des langen 16. Jahrhunderts in die Geschichte vom 9. bis zum 19. Jahrhundert, Ersetzung der OstWest-Dichotomie durch Parallelen und stärkere Differenzierung. Er ermittelt Parallelen der territorialen Integration und Desintegration zwischen Europa und Südostasien. Würde Lieberman Reids Weltsystem durch Parallelen ersetzen, wäre sein Buch nur von regionalwissenschaftlichem Interesse. Er verknüpft jedoch die Parallelen mit einer Vielzahl von »externen« und »internen« Faktoren, die eine Konstellation ergeben (vgl. ebd.: 45). Externe und interne Faktoren waren immer bedeutsam, änderten aber ihr relatives Gewicht. »I therefore argue less for a single lock-step pattern than for a loose constellation of influences whose local contours must be determined empirically and without prejudice.« (Ebd.) Auch in der Soziologie wird die eurozentrische Theorie als Problem erkannt. Die Kritik an eurozentrischen Modellen hat Yoshio Sugimoto mit einer eigenen Analyse der japanischen Sozialstruktur verbunden. Zunächst kritisiert er, dass man die Sozialstruktur Japans auf die wenigen Gruppen reduziert, die einer formalen Berufstätigkeit nachgehen. Die Mehrheit der Bevölkerung werde dadurch ausgeschlossen (vgl. Sugimoto 2003: 1). Ferner reduziere man die japanische Kultur auf die Mehrheitskultur, die durch die Macht der im Zentrum agierenden Gruppen als herrschende definiert wird (vgl. ebd.: 12). Um Japans Sozialstruktur zu verstehen, müsse man jedoch auch die zahlreichen Subkulturen erkennen und untersuchen. Nun reicht es Sugimoto zufolge nicht aus, die Subkulturen mit westlichen Begriffen zu untersuchen. Die meisten soziologischen Begriffe seien europäische Selbstbeschreibungen, die nur deshalb zu objektiven und allgemein akzeptierten Begriffen wurden, weil der Westen die kulturelle Vorherrschaft über die Welt errang (vgl. ebd.: 22). Man könne ihnen nicht einfach anti- oder postkoloniale Begriffe entgegensetzen, sondern müsse einen multikulturellen Rahmen erarbeiten, der dem Zusammenhang der Welt wie auch den kulturellen Unterschieden gerecht werde (vgl. ähnliches für Brasilien bei Burity 2008).

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Schluss Bei einer kaleidoskopischen Dialektik geht es weniger darum, gegen alle disziplinären und kulturellen Grenzen zu rebellieren, sondern eher darum, die eurozentrische Theorie zu überwinden. An ihre Stelle soll eine Theorie treten, die den Postkolonialismus aufhebt – also seine Kritik am Eurozentrismus berücksichtigt, aber die Vielfalt der Perspektiven nicht stehen lässt, sondern in die Theorie einbezieht. So schien es der junge Bourdieu zu fordern, aber die eurozentrische Theorie hatte in den 1960er Jahren noch eine zu starke Sogkraft. Vielleicht ändert sich das in der Generation, die jetzt jung ist. Die postkoloniale Kritik und die kaleidoskopische Empirie habe ich im Zusammenhang mit AutorInnen referiert, die größtenteils keine Euro-Angelsachsen sind. In meiner Skizze einer kaleidoskopischen Dialektik hingegen habe ich mich auf eurozentrische Klassiker ersten Grades gestützt. Diesen Mangel betrachte ich nicht als einen Rückfall, sondern er stellt ein explizites Gesprächsangebot dar. Tatsächlich gibt es TheoretikerInnen im globalen Süden, die ein ähnliches Programm auf der Basis völlig anderer Klassiker verfolgen. So fordert beispielsweise Giri (2002) eine »Soziologie als Konversation«, stützt sich dabei aber auf Madan, Nandy, Uberoi und die alten indischen Klassiker. Im Ergebnis fordert er eine Verbindung von eurozentrischer Wissenschaft und indischer Spiritualität. Damit eröff net er ein Gespräch zwischen zwei Traditionen, also möglicherweise eine traditionelle Dialektik. Es gibt jedoch zahllose Traditionen, die alle gleichermaßen zu Wort kommen sollten und nicht a priori zu überblicken sind. Auch aus diesem Grund spreche ich von einer kaleidoskopischen Dialektik.

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Verhält sich intersektional zu lokal wie postkolonial zu global? Zur Relation von postkolonialen Studien und Intersektionalitätsforschung Ina Kerner Folgt man Ania Loomba, ist der Begriff ›Postkolonialismus‹ mittlerweile »derart heterogen und diff us geworden, dass es unmöglich ist, auf zufriedenstellende Weise zu beschreiben, worauf Studien unter diesem Titel hinauslaufen« (Loomba 1998: xii; Übers. der Autorin). Das Forschungsfeld sei interdisziplinär angelegt und umfasse Literaturanalysen ebenso wie Recherchen in Kolonialarchiven, die Kritik medizinischer Texte ebenso wie ökonomische Theorie. Und selbst Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin, die sich bereits mit diversen gemeinsamen Werken um die Kanonisierung der postkolonialen Studien bemüht haben (vgl. Ashcroft et al. 1989; Ashcroft et al. 1995; Ashcroft et al. 1998), tun sich schwer mit einer definitorischen Bestimmung. So schreiben sie in der Einleitung zu ihrem umfangreichen Post-Colonial Studies Reader (1995): »Postkoloniale Theorie hat mit der Diskussionen vielfältiger Erfahrungen zu tun: Migration, Sklaverei, Unterdrückung, Widerstand, Repräsentation, Differenz, ›Rasse‹, Geschlecht, Ort, sowie mit Reaktionen auf die einflussreichen Meisterdiskurse des imperialen Europas wie Geschichte, Philosophie und Linguistik; ferner mit den fundamentalen Erfahrungen des Sprechens und Schreibens, durch die all dies entsteht. Nichts davon ist ›essentiell‹ postkolonial, doch zusammengenommen ergeben diese

238 | Ina Kerner Aspekte das komplexe Gewebe des Arbeitsgebietes.« (Ebd.: 2; Übers. der Autorin)

Ähnliche Definitionsschwierigkeiten lassen sich im Kontext der Intersektionalitätsforschung beobachten, im Kontext von Ansätzen und Projekten, die verschiedene Formen von Ungleichheit nicht in Isolation voneinander verhandeln, sondern vielmehr mit Blick auf ihre Zusammenhänge thematisieren. Auch die Bedeutungsgehalte des Begriffs ›Intersektionalität‹ sind eher diff us als klar. Folgt man der Diagnose von Ladelle McWhorter (2004), so werden Intersektionen nicht nur mit Blick auf soziale Strukturen, auf historische Bedeutungen sowie auf Machtbeziehungen und Identitäten proklamiert. Ferner würden sie als diskursiv angesehen, als institutionell bestimmt sowie in lokalen Praktiken identifiziert. Der Begriff ›Intersektionalität‹ dient in der aktuellen Diskussion als Chiff re für alle möglichen Weisen des machtdurchwirkten Zusammenspiels unterschiedlicher Differenz- beziehungsweise Diversitätskategorien, vor allem jener von ›Rasse‹, Ethnizität, Geschlecht, Sexualität, Klasse beziehungsweise Schicht sowie eventuell noch Religion, Alter und Befähigung/Behinderung. ›Postkolonialismus‹ hingegen steht für Vorhaben, die, grob gesagt, nicht nur die Komplexitäten nachkolonialer Situationen zu ergründen suchen, sondern darüber hinausgehend globale Konstellationen als grundsätzlich interdependent denken. Dabei richten sie besonderes Augenmerk auf Machtverhältnisse, und zwar nicht zuletzt auf diskursiv vermittelte Machtverhältnisse zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden, beziehungsweise – um eine Metapher von Stuart Hall zu entleihen – dem Westen und dem Rest der Welt (Hall 1994: 137ff.). Setzt man nun beide Arbeitsgebiete ins Verhältnis, so wird spätestens auf den zweiten, informierten Blick deutlich, dass intersektionale Verhältnisse nicht nur zu den Spätfolgen des europäischen Kolonialismus zählen, sondern auch zu den Kernbereichen postkolonialer Theorien und Kritik. Daraus folgt jedoch nicht, dass Intersektionalitätsforschung und postkoloniale Studien ineinander aufgehen würden. Wie also ließe sich ihre Relation angemessen beschreiben? Unternimmt man den Versuch, dynamische, schwer zu umschreibende Themen- und Beschäftigungsfelder zu vergleichen, so ist man gezwungen, sie zunächst einmal zu umreißen, zu konturieren. Im Falle von postkolonialen Studien und Intersektionalitätsforschung ließe sich nun gegen den Versuch solcher Konturierungen einwenden, dass diese die Porosität und Offenheit der in Frage stehenden Arbeitsgebiete, die man durchaus zu deren Stärken zählen kann (vgl. z.B. Loomba et al. 2005: 33ff.; Davis 2008), allzu leicht aus dem Blick ge-

Postkoloniale Studien und Intersektionalitätsforschung | 239

raten lassen. Doch auch wenn derartige Bedenken begründet sein mögen, wäre es voreilig, Überlegungen zum Verhältnis von postkolonialen Studien und Intersektionalitätsforschung deswegen gar nicht erst anzustrengen. Zwar sind die dazu nötigen Konturierungen immer Komplexitätsreduktionen, deren Problematisierung im Zusammenhang von theoriepolitischen Projekten wie postkolonialen Studien und Intersektionalitätsforschung, deren eigenes Ziel nicht die Reduktion, sondern just die Produktion von Komplexität ist, tatsächlich einigermaßen naheliegt. Allerdings folgt daraus nicht, dass die gegebenenfalls zu erwartenden Probleme des hier vorgeschlagenen Theoriefeldvergleichs dessen antizipierbare Gewinne, nämlich Orientierungswissen anbieten zu können, zur Unkenntlichkeit schmälern oder gar zunichte machen müssen. Die genannten Einwände sollten dann allerdings nicht einfach zurückgestellt werden, sondern vielmehr stets im Blickfeld sein, um die beschränkenden Implikationen der Konturierungen nicht aus den Augen zu verlieren. Zu diesen zählt der Umstand, dass das Umreißen oder Konturieren eines diff usen Forschungsfeldes nie mehr als dessen Interpretation sein kann und selbst bei ausgeprägtem Bemühen um Akkuratesse niemals ein Abbild dieses Forschungsfeldes wird erzeugen können. Eine Konturierung kann daher weder beanspruchen, gegenüber alternativen Interpretationen grundsätzlich überlegen zu sein, noch, dass es sinnvoll wäre, dass sie nicht durch alternative Interpretationen teils gestützt, teils ergänzt und teils herausgefordert würde – ebenso wie sie selbst diese alternativen Interpretationen teils stützen, teils ergänzen und teils herausfordern wird. Im Folgenden werde ich also versuchen, postkoloniale Studien und Intersektionalitätsforschung ins Verhältnis zu setzen. Zu diesem Zweck konzentriere ich mich auf zwei Aspekte: erstens ihre politischtheoretischen Wurzeln und Affinitäten und zweitens die Rolle, die Geschlechterfragen in beiden Arbeitsgebieten spielen. Diesen Aspekten werde ich jeweils einen Abschnitt widmen. Als verbindende Ausgangshypothese – inwieweit sie haltbar ist, soll sich im Verlauf der Argumentation zeigen – dient die Vermutung, dass die Intersektionalitätsforschung zumindest der Tendenz nach von einem lokalen Fokus geprägt ist, während postkoloniale Studien eher global ausgerichtet sind. Hierauf werde ich dann im Fazit noch einmal resümierend eingehen.

240 | Ina Kerner

Zum Begriff und Konzept der Intersektionalität Der Begriff »Intersektionalität« wurde von der US-amerikanischen Rechtstheoretikerin Kimberlé Crenshaw in die differenztheoretische Diskussion eingeführt, um zu verdeutlichen, dass in den Diskriminierungserfahrungen schwarzer Frauen in den USA Faktoren sexistischer Diskriminierung und Faktoren rassistischer Diskriminierung oftmals nicht zu unterscheiden sind.1 Crenshaw hatte 1989 in ihrem Aufsatz Demarginalizing the Intersection of Race and Sex erklärt: »Ähnlich wie der Verkehr an einer Straßenkreuzung kann Diskriminierung in die eine oder die andere Richtung fl ießen. Wenn auf der Kreuzung ein Unfall passiert, dann kann er durch Autos verursacht worden sein, die aus verschiedenen und manchmal aus allen Richtungen kommen. Ähnlich sieht es aus, wenn eine Schwarze Frau verletzt wird, weil sie sich auf der Kreuzung befindet: ihre Verletzung kann das Resultat geschlechtlicher oder ›rassischer‹ Diskriminierung sein.« (Ebd.: 149; Übers. der Autorin)

Unter Rückgriff auf die Metapher der Straßenkreuzung (intersection) warb Crenshaw für eine Reform des US-amerikanischen Antidiskriminierungsrechts, dafür, dass es über seine eindimensionale Logik des ›Entweder-Oder‹ hinauswachse: Anhand verschiedener Gerichtsfälle, in denen Klagen von Afroamerikanerinnen über Diskriminierung am Arbeitsplatz nicht weiterverfolgt wurden, zeigte Crenshaw auf, inwiefern das US-amerikanische Recht entweder auf geschlechtsbezogene Diskriminierung reagiert – dann sei es allerdings implizit an weißen Frauen orientiert –, oder aber Formen rassistischer Diskriminierung ahndet: dann jedoch seien Männer die Norm.2 Obwohl das 1 | Für entsprechende Hinweise zum Konzept des Postkololialismus sei auf die Einleitung zu diesem Band sowie auf den Beitrag von Boatcă und Costa verwiesen (A.d.H.). 2 | Eines der von Crenshaw bemühten Beispiele ist das Verfahren DeGaffenreid vs. General Motors (GM) von 1976, in dem es um betriebsbedingte Kündigungen ging. Damals hatten fünf schwarze Frauen geklagt, dass das Senioritätssystem der Firma in der Konsequenz die vormalige Diskriminierung schwarzer Frauen reproduziere. Vor 1964, als der Civil Rights Act in Kraft trat, hatte GM gar keine schwarzen Frauen eingestellt. All jene, die ab 1964 eingestellt wurden, verloren in einer nach dem Senioritätsprinzip organisierten Entlassungswelle nach 1970 ihre Jobs wieder. Das Gericht urteilte nun, dass hier kein Fall von geschlecht-

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Antidiskriminierungsrecht also der Intention geschuldet ist, sowohl Frauen als auch Schwarze zu schützen, versage es just dann, wenn es um Diskriminierungserfahrungen schwarzer Frauen gehe – denn diese Erfahrungen seien eben nicht schlicht als die Summe rassistischer und sexistischer Diskriminierung zu verstehen, sondern folgten zumindest zum Teil eigenen Logiken, die entsprechend berücksichtigt werden müssten. Der Begriff der Intersektionalität wurde inzwischen stark ausgeweitet und dabei nicht nur vom vergleichsweise engen Bezugsbereich des Rechts gelöst, sondern auch um weitere Achsen von Diskriminierung und Ungleichheit ergänzt: In Anlehnung an die nicht zuletzt auch im bundesrepublikanischen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)3 genannten Diversitätskategorien werden hier bislang vor allem Schicht/Klasse und Sexualität, jedoch auch Befähigung/ Behinderung und Alter thematisiert. 4 Umstritten ist bis dato allerdings, nach welchen Kriterien die Auswahl der hinsichtlich ihrer Intersektionalität zu analysierenden Differenzierungen erfolgen soll. licher Diskriminierung nachgewiesen werden könne, da GM auch schon vor 1964 Frauen eingestellt habe; die Klage gegen rassistische Diskriminierung wurde abgelehnt mit der Empfehlung, sie mit einer anderen Rassismusklage gegen GM zu vereinen – in der ging es allerdings nicht um das Senioritätsproblem. Den Klägerinnen war nicht gestattet worden, gegen Diskriminierung als schwarze Frauen zu klagen – und die Klagen gegen Diskriminierung aufgrund von Geschlecht beziehungsweise aufgrund von ›Rasse‹ wurden abschlägig beurteilt. In zwei weiteren Fällen, die Crenshaw thematisiert, bestand das Problem darin, dass schwarzen Frauen von den Gerichten abgesprochen wurde, als Repräsentantinnen der Gruppe sexistisch Diskriminierter beziehungsweise als Repräsentantinnen der Gruppe rassistisch Diskriminierter zu fungieren – hier also war es den Betroffenen nicht möglich, erfolgreich als Frau – und nicht als schwarze Frau – beziehungsweise erfolgreich als Schwarze zu klagen (vgl. Crenshaw 1989: 141ff.). 3 | Vgl. www.gesetze-im-internet.de/agg/Letzter Aufruf 23.9.2009. 4 | Für aktuelle Publikationen vgl. für die Thematisierung des Verhältnisses von zumindest zwei der drei Kategorien Klasse, Geschlecht und Ethnizität die Aufsätze in Klinger/Knapp/Sauer (2007) und in Klinger/ Knapp (2008), zu ›Rasse‹ und Sexualität Somerville (2000) und Dietze/ Haschemi Yekani/Michaelis (2007); zu Geschlecht und Befähigung/Behinderung Waldschmidt (2003) und Raab (2007) und zum Thema Alter Kondratowitz (2007) sowie die laufenden Forschungsarbeiten von Jeff Hearn.

242 | Ina Kerner Cornelia Klinger und Gudrun-Axeli Knapp beispielsweise verfolgen den Anspruch, durch historische Reflexion die tatsächlich maßgeblichen »Strukturgeber gesellschaftlicher Ungleichheit« (Knapp/Klinger 2008: 7) zu ermitteln; vor diesem Hintergrund identifizieren sie »Klasse, Rasse und Geschlecht« beziehungsweise »die Strukturkategorien Kapitalismus, Patriarchat und Nationalismus (mit den Facetten Ethnozentrismus und Kolonialismus/Imperialismus)« als jene Formen der Ungleichheit, die zumindest im Rahmen der Gesellschaftstheorie im Zentrum einer Auseinandersetzung mit Intersektionalität stehen sollten (Klinger 2008: 42, 54; vgl. auch Knapp 2008b). Katrin Meyer und Patricia Purtschert hingegen erheben grundsätzliche Einwände gegen den Versuch, eine solche intersektionale Großtheorie der europäischen Moderne zu schreiben und auf diesem Wege die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz unterschiedlicher Differenzierungen akademisch zu klären anstatt der fortwährenden politischen Auseinandersetzung zu überlassen. Ihrer Einschätzung nach sind Differenzkategorien Machteffekte, die im Wechselspiel von Herrschaft und Kritik entstehen, weshalb sie in dem Vermögen, immer neue Kategorien ins Spiel der politischen Auseinandersetzungen zu bringen, einen politischen Eigenwert sehen. Der gegenwärtigen Offenheit der Frage nach den relevanten Intersektionalitätskategorien schreiben sie vor diesem Hintergrund ein strategisches Potential zu: Da sie die Herausbildung stets neuer politischer Solidaritäten ermögliche, könne man ihr unterstellen, dass sie dem Kampf gegen Ungerechtigkeit eher dienlich als hinderlich ist (vgl. Meyer/Purtschert 2008; Purtschert/Meyer 2009). Aber auch ohne einen derart aktivistischen Zugriff steht in Zweifel, ob sich die Frage nach den relevanten Kategorien tatsächlich »empirisch« klären lässt. Legt man beispielsweise einen an Michel Foucault orientierten normalisierungstheoretischen Erklärungsrahmen an (vgl. hierzu z.B. Waldschmidt 2004), so erscheinen insbesondere die Kategorien Geschlecht, Sexualität, Gesundheit und Befähigung/Behinderung relevant – diese sind allerdings zum Teil andere Formen von Differenz und Ungleichheit als jene, die Knapp und Klinger als relevant identifizieren. Warum sie in historischer Hinsicht weniger relevant sein sollen als »Klasse, Rasse und Geschlecht«, müsste dabei erst einmal gezeigt werden. So lange dies nicht geschehen ist, scheint daher bei der Frage nach den relevanten Intersektionalitätskategorien ein gewisses Maß an Unentschiedenheit tatsächlich auch empirisch geboten. Wie erwähnt, wurde der Intersektionalitätsbegriff im Zuge der Weiterentwicklung der Thesen Crenshaws nicht nur um zusätzliche Intersektionalitätskategorien erweitert, sondern auch von seinem

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engen Bezug zum Recht gelöst: Vor allem in den Sozialwissenschaften wird Intersektionalität immer häufi ger als Phänomen mit einer Mikro-, einer Meso- und einer Makrodimension diskutiert.5 Evelyn Nakano Glenn beispielsweise hat einen mehrdimensionalen Ansatz der sozialen Konstruktion und Institutionalisierung von Geschlecht und ›Rasse‹ entwickelt und unterscheidet dabei die Ebenen der Repräsentation, der Mikro-Interaktion sowie der Sozialstruktur (vgl. Glenn 1999). Nina Degele und Gabriele Winker haben im Anschluss an Pierre Bourdieu vorgeschlagen, die Intersektionalität von »Klassismus, Heteronormativismus, Rassismus und Bodyismus als Strukturprinzipien innerhalb der kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft« praxeologisch zu differenzieren und auf den Ebenen von Identitätskonstruktionen, Gesellschaftsstrukturen und symbolischen Repräsentationen zu analysieren (vgl. Degele/Winker 2008: 195). Ich selbst schließlich habe an anderer Stelle (vgl. Kerner 2009) in Anlehnung an die Machtanalytik Michel Foucaults für ein Verständnis der Intersektionen von Rassismus und Sexismus plädiert, das auf der heuristischen Unterscheidung einer epistemischen, einer institutionellen und einer personalen Machtdimension beruht. Dabei ist die epistemische Dimension auf Wissen und Diskurse sowie auf Symbole und Bilder bezogen, die institutionelle Dimension betriff t Institutionengefüge, die strukturelle Formen der Hierarchisierung und Diskriminierung bewirken, und die personale Dimension verweist auf Einstellungen, vor allem aber auch auf Identitäten und Subjektivitäten von Personen, ferner auf individuelle Handlungen und Interaktionen. Was folgt aus dieser heuristischen Unterscheidung verschiedener Dimensionen von Rassismus und Sexismus intersektionalitätstheoretisch? Bezogen auf die epistemische Dimension lässt sich sagen, dass wir »rassifizierte« Geschlechtsnormen und vergeschlechtlichte ›Rasse‹- und Ethnizitätsvorstellungen und -zuschreibungen identifizieren können – hier impliziert Intersektionalität also eine Pluralisierung beziehungsweise interne Ausdifferenzierung gängiger Diversitätskategorien. Beispielsweise unterscheiden sich Stereotype und Zuschreibungen schwarzer Weiblichkeit von Geschlechtsnormen, die weiße Frauen betreffen; Stereotype und Zuschreibungen schwarzer, weißer oder anderweitig ›rassisch‹ oder auch ethnisch kodierter Männlichkeit und Weiblichkeit unterscheiden sich ebenso. Hinsichtlich der institutionellen Dimen5 | Zu Crenshaws eigener Ausdifferenzierung des Intersektionalitätsbegriffs hin zu struktureller, politischer und sozialwissenschaftlicher Intersektionalität vgl. Crenshaw (1995); hier steht jedoch weiterhin jeweils das Recht im Mittelpunkt.

244 | Ina Kerner sion läuft die Intersektionalität von Rassismus und Sexismus auf ein komplexes Ineinandergreifen unterschiedlicher Institutionengefüge hinaus, ein Ineinandergreifen beispielsweise von Familienstrukturen, Bedingungen am Arbeitsmarkt und Migrationsregimen. Zu seinen Effekten zählt der Umstand, dass Haushaltsarbeit trotz zunehmender Berufstätigkeit von Frauen bis dato feminisiert geblieben ist, da zumindest in wohlsituierten Familien, die sich vom Ernährer-/Hausfrauen-Modell verabschiedet haben, Pflege, Erziehung und Hausarbeit oftmals nicht intern umverteilt, sondern externalisiert werden – und zwar an Migrantinnen. Bezogen auf die personale Dimension schließlich verweist Intersektionalität nicht zuletzt auf Prozesse der Subjektivierung beziehungsweise der Identitätsformation mit mehrfachen Referenzpunkten, Prozesse, für die Encarnación Gutiérrez Rodriguéz den Begriff der »Geschlechtsethnisierung« (Gutiérrez Rodríguez 1999: 205) geprägt hat. Resümierend lässt sich also sagen, dass sich die Bedeutung von Intersektionalität je nachdem, welche der Dimensionen im Blick ist, unterscheidet: Statt auf einen einheitlichen Sachverhalt verweist der Begriff erstens auf pluralisierte Normen von Geschlecht, ›Rasse‹ und Ethnizität, zweitens auf institutionelle Verschränkungen mit gruppendifferenzierenden Effekten sowie drittens auf multifaktorielle Identitätsbildungsprozesse.

Politisch-theoretische Wurzeln und Affinitäten Leslie McCall hat in ihrem breit rezipierten Aufsatz »The Complexity of Intersectionality« (2005) den Vorschlag gemacht, drei verschiedene Ansätze beziehungsweise methodologische Zugänge zu Fragen der Intersektionalität zu unterscheiden. Im Zentrum der Unterscheidung stehen dabei verschiedene Umgangsweisen mit Komplexität: im ersten Ansatz steht antikategoriale Komplexität im Mittelpunkt, im zweiten intrakategoriale, im dritten interkategoriale (vgl. ebd.: 1773f.). Bei antikategorialer Komplexität handelt es sich McCall zufolge um eine grundsätzliche, aus poststrukturalistischen Einsichten gespeiste Kategorienkritik. Intrakategoriale Komplexität verweist auf die interne Pluralisierung zentraler Analysekategorien wie ›Rasse‹, Ethnizität und Geschlecht als Effekt der Einsicht, dass sich die Subjektpositionen beziehungsweise Identitäten einzelner Personen unter Rückgriff auf eine einzelne dieser Kategorien in der Regel nicht beschreiben lassen, was zu einer Vielzahl von Unterkategorien führt. Um interkategoriale Komplexität schließlich gehe es beim Vergleich der sozialen Lage unterschiedlicher, jedoch jeweils einheitlich konzipierter Gruppen

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– Gruppen wie Männer, Frauen, Weiße, Schwarze, Mittelschichten oder Arbeiterklassen sowie deren Untergruppen wie weiße Frauen oder Schwarze der Mittelschicht. Diese drei verschiedenen Zugriffe auf Komplexität begreift McCall als Alternativen – die methodologischen Zugänge, die sie unterscheidet, interessieren sie in ihrer jeweiligen Reinform und nicht hinsichtlich der Erkenntnismöglichkeiten, die sich aus ihrer Kombination ergeben könnten. In den sozialwissenschaftlichen Varianten der Intersektionalitätsforschung im deutschen Sprachraum wird diese von McCall suggerierte Ausschließlichkeit mittlerweile vermehrt zurückgewiesen (vgl. Knapp 2008a: 45f.; Sauer/ Wöhl 2008: 255f.). Anstatt den alten Streit zwischen Affi rmation und Kritik von Identitätskategorien zu reproduzieren, der im Zuge der Postmoderne-Debatte für Aufregung gesorgt hatte und der auch bei McCall noch leicht aufscheint (vgl. McCall 2005: 1777), wird vielmehr nach Wegen gesucht, unterschiedliche Zugangsweisen zu kombinieren. Dabei unterstreichen auch erklärte Anhängerinnen der ›großen‹ intersektionalen Gesellschaftstheorie wie Knapp und Klinger die entnaturalisierenden und de-essentialisierenden Verdienste des dekonstruktivistischen Ansatzes und betonen, dass es hinter diese kein Zurück gebe (vgl. Knapp/Klinger 2008: 12). Im Kontext der postkolonialen Studien sieht das Szenario etwas anders aus, wenngleich sich hier letztlich ähnliche Fragen stellen. Grundsätzlich weisen Positionen in diesem Feld Affinitäten zu antikolonialen Kämpfen einerseits und zu poststrukturalistischen Theorien andererseits auf – und da antikoloniale Kämpfe meist nationalistische Kämpfe (gewesen) sind und poststrukturalistische Theorien binäre Grenzziehungen in der Regel in Frage stellen, birgt diese Konstellation nicht nur ein ausgeprägtes Spannungs- und Diskussionspotential (vgl. Loomba et al. 2005: 2), sondern führt auch zu Schwierigkeiten, das Feld der postkolonialen Studien klar einzugrenzen. Denn der Stellenwert poststrukturalistischer Einsichten ist hier, wie gesagt, umstritten.6 Zu betonen ist allerdings, dass nationalismus- und essentialismuskritische Positionen eine lange Tradition im Feld der postkolonialen Studien haben. Bereits Frantz Fanon hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass eine glückende Dekolonisation die vollständige Zerstörung des kolonialen Manichäismus erfordere, dass hierzu ein »totaler und vollständiger Austausch« ebenso nötig sei wie die »Schöpfung neuer 6 | Für überblicksartige Diskussionen dieser Aspekte vgl. auch Appiah (1991), Kerner (1999: 35ff.), Gikandi (2004) und Loomba (2005: 204ff.); beispielhaft für eine Position, die poststrukturalistische Einsichten nicht als zentral verhandelt, vgl. Young (2003).

246 | Ina Kerner Menschen« (Fanon 1981: 29f.). In diesem Zusammenhang kritisierte er auf der politischen Ebene nationale Bourgeoisien, die nach der Unabhängigkeit lediglich die Positionen der ehemaligen Kolonialherren zu besetzen trachteten (vgl. ebd. 127ff.). Auf der konzeptionellen Ebene wies er auf die Ambivalenzen und Probleme der Négritude hin, einer politisch-literarischen Bewegung, die das afrikanische kulturelle Erbe affirmiert und um die Konstruktion eines schwarzen Bewusstseins bemüht ist. Ferner thematisierte er die Fragwürdigkeit der politischen Potentiale jener nationalkulturellen Ambitionen, die sich positiv vor allem auf vorkoloniale Traditionen berufen und damit auf die Affirmation von Folklore hinauslaufen, anstatt dass sie zukunftsgerichtet die Wiederherstellung nationaler Souveränität mit der Suche nach einem neuen Humanismus verbinden (vgl. ebd. 177ff.). Neben Fanons politikstrategisch motivierter Kritik dichotomer Grenzziehungen finden sich im Feld der postkolonialen Studien ferner zahlreiche Positionen, die derartige Grenzziehungen in empirischer Hinsicht hinterfragen – und zwar insbesondere mit Blick auf Dichotomisierungen zwischen dem modernen Europa und dem Rest der Welt. Dass Europa im Zuge von Imperialismus und Kolonialismus auch außerhalb seiner geographischen Grenzen beträchtliche kulturelle, ökonomische, politische und soziale Spuren hinterlassen hat, sollte unmittelbar einleuchtend sein. Gleichzeitig beeinflussten diese Prozesse jedoch auch Europa. Paul Gilroy beispielsweise hat herausgearbeitet, inwiefern ›rassische‹ Differenzierungen zentral waren für die Herausbildung der englischen nationalen Identität – einer Identität, die gleichwohl darauf basierte, die eigenen Ursprünge als autonom und rein von ›externen‹ Einflüssen zu repräsentieren und die damit ihre koloniale Prägung negierte (vgl. Gilroy 1993). Ähnlich argumentiert Iain Chambers mit Blick auf den Mittelmeerraum und dort insbesondere auf die vielfältigen Interaktionen zwischen dessen Norden und Süden sowie zwischen Orient und Okzident. Das Mittelmeer ist für ihn zugleich Transitzone und Ort eines über Jahrtausende gewachsenen Netzwerks; ein »postkoloniales Meer«, gesäumt von kulturell porösen Städten (vgl. Chambers 2008). Shalini Randeria (1999) hat für diese Sachverhalte die Bezeichnung der »verwobenen Moderne« geprägt. Damit wendet sie sich zum einen gegen das Modell der ethnisch verwurzelten Nationalkultur als in sich geschlossener Einheit, zum anderen gegen die modernisierungstheoretisch geprägte Auffassung, nicht-westliche Gesellschaften repräsentierten die Vergangenheit der westlichen Moderne und der Westen bilde den Entwicklungshorizont ›traditionaler‹ Gesellschaften. Stattdessen schlägt sie eine Sichtweise vor, die sowohl von einer geteilten Geschichte als auch von

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einer gemeinsamen Gegenwart unterschiedlicher Gesellschaften ausgeht – und dabei Offenheit, Relationalität und verflochtene Entwicklungsmuster unterstellt. Dass Merkmale, die landläufig »modern« genannt werden, nicht allein in Europa erfunden, sondern auch in anderen Teilen der Welt entwickelt worden sind, hat schließlich Dipesh Chakrabarty (2000) gezeigt. Dabei hat er kritisiert, dass Konzepte der Moderne im Mainstream des soziologischen Denkens gemeinhin als genuin westlich verstanden und dass ihre Wurzeln allein in der europäischen Geschichte gesucht würden. Diese Sicht sollte jedoch nicht mit Konzeptionen von multiple modernities, multipler Modernen, verwechselt werden, die, statt interdependente Entwicklungen und globale Verflechtungen vorauszusetzen, eher von alternativen, damit aber auch getrennten Entwicklungen ausgehen und die Existenz kulturell mehr oder weniger abgeschlossener Räume suggerieren (vgl. z.B. Eisenstadt 2000). Im Rahmen soziologischer postkolonialer Studien werden solche Konzeptionen multipler Modernen in der Regel zurückgewiesen. So plädiert Gurminder Bhambra (2007), ähnlich wie Randeria, für eine Soziologie und Sozialtheorie, die von connected histories, von miteinander verbundenen Geschichten ausgeht. Dies impliziert, dass unterschiedliche Gesellschaften nicht nur mit Blick auf die Austauschbeziehungen und Wechselwirkungen untersucht werden, die sich zwischen ihnen feststellen lassen, sondern dass auch die Parameter gängiger westlicher Selbstbeschreibungen – nicht ausschließlich, aber auch in den Sozialwissenschaften – einer kritischen Revision unterzogen werden. Während im Feld der postkolonialen Studien in historisch-soziologischer Hinsicht der Blick auf Interdependenzen als Alternative zu dichotomisierenden Grenzziehungen etabliert worden ist, ist in politischer Hinsicht wiederholt ›strategischer Essentialismus‹ als probate Umgangsweise mit den Problemen nationalistischer Identitätspolitik vorgeschlagen worden. Die Idee des ›strategischen Essentialismus‹ hat Gayatri C. Spivak popularisiert, und zwar im Bewusstsein des Umstandes, dass identitätspolitische Kämpfe wichtig sein können, um kulturelle Anerkennung, aber auch rechtliche und politische Gleichstellung zu erstreiten, dass sie jedoch immer die Gefahr des Essentialismus und der mit ihm einhergehenden Homogenisierungen und Ausschließungen bergen. Wenn diese negativen Effekte identitätspolitischer Einsätze nicht zu vermeiden sind, dann sollten sie, so Spivaks Argumentation, wenigstens als Probleme präsent sein und als solche durchlaufend kritisch reflektiert werden (vgl. Spivak 1988b: 205ff.; Spivak 1990: 11; dazu auch Kerner 1999: 47ff.). Ein strategischer Einsatz von Identitätskonzeptionen wäre dann von der Einsicht geleitet,

248 | Ina Kerner dass dabei nicht lediglich eine bereits konstituierte Gruppe ins politische Spiel gebracht wird, sondern dass hier die Existenz einer solchen Gruppe überhaupt erst unterstellt, dass eine solche Gruppe hier erst konstruiert wird – mit allen essentialisierenden Effekten, die das mit sich bringen kann. Paul Gilroy hat in diesem Sinne eine Unterscheidung zwischen ontologischem und strategischem Essentialismus vorgeschlagen. Als Beispiel für ontologischen Essentialismus, den er wie Spivak ablehnt, nennt er die Reklamierung einer einheitlichen schwarzen Community. Strategischer Essentialismus hingegen bedeute für schwarze Politik, Schwarzsein als offenen Signifi kanten zu begreifen, als intern pluralisiert durch Klasse, Sexualität, Geschlecht, Alter, Ethnizität, Ökonomie und politisches Bewusstsein zu denken (vgl. Gilroy 1993: 31f.). Gilroy schwebt also, wenn er von strategischem Essentialismus spricht, ein intersektional konzipiertes Modell von Schwarzsein vor. Auch wenn er den Begriff der Intersektionalität nicht verwendet, so lässt sich doch argumentieren, dass an diesem Punkt postkoloniale Studien und zentrale Einsichten aus dem Spektrum der Intersektionalitätsforschung zusammenlaufen.

Die Bedeutung von Geschlecht und Feminismus Die Grundidee, die zur Entstehung des Intersektionalitätskonzepts geführt hat, besteht darin, dass Erfahrungen von Geschlecht in der Regel vor allem dann als entkoppelt und entkoppelbar von Aspekten wie Sexualität, ›Rasse‹, Ethnizität, Religion und Klasse wahrgenommen werden, wenn Personen über ihre Lage reflektieren, denen bezogen auf diese Aspekte gesellschaftliche Dominanz zugeschrieben werden kann. Diese Idee hat ihren Ursprung im Feminismus, genauer gesagt in binnenfeministischer Kritik daran, dass die impliziten Referenzfiguren im Zusammenhang der Thematisierung von Sexismus meist inländische, weiße, christlich oder säkular sozialisierte heterosexuelle Frauen der Mittelschicht ohne Behinderung seien. So haben beispielsweise in den USA die Aktivistinnen des schwarzen, lesbischen ›Combahee River Collective‹ schon 1977 erklärt, dass ihr Kampf zugleich gegen »›rassische‹, sexuelle, heterosexuelle und Klassen-Unterdrückung« gerichtet sei; entsprechend haben sie für eine »integrierte Analyse und Praxis« plädiert, die auf dem »Faktum, dass die bedeutendsten Unterdrückungssysteme miteinander verschränkt sind« gründet (Combahee River Collective 2000: 272; Übers. der Autorin). In der Bundesrepublik sind vergleichbare Anliegen zum Beispiel von der Anfang der 1990er Jahre gegründeten Gruppe FeMigra (Feministische

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Migrantinnen, Frankfurt) vorgebracht worden, die gefordert hat, dass die deutsche Einwanderungsgeschichte und -politik zu einem zentralen Gesichtspunkt linker feministischer Politik werden müsse (vgl. FeMigra 1994). Und auch die weiteren Differenzkategorien wurden im Kontext der Frauenbewegung schon früh als feministisch relevant reklamiert.7 Zusammengenommen lässt sich also sagen, dass die Intersektionalitätsforschung feministischen Agenden und Diskussionen ihre entscheidenden Impulse verdankt. Geschlecht ist daher in diesem Feld auch weit mehr als eine Differenz- und Ungleichheitskategorie unter vielen: Geschlecht ist hier nicht nur integrale Analysekategorie, sondern auch zentral für den normativen Horizont des Arbeitsgebiets; man wird kaum einen Text im Umfeld der Intersektionalitätsforschung finden, für den nicht auch explizit geschlechterpolitische Anliegen konstitutiv sind. Im Bereich der postkolonialen Studien sieht das etwas anders aus, wenngleich Geschlechterfragen auch hier häufig thematisiert werden, was nicht zuletzt daran liegt, dass sie empirisch gesehen schon für die Durchsetzung der Kolonialherrschaft und den antikolonialen Widerstand von großer Bedeutung waren. Dies wiederum legt nahe, dass sie auch in nachkolonialen Konstellationen und in postkolonialen Analysen derartiger Konstellationen relevant sind. Geschlecht wurde und wird als Differenzmarker zwischen Peripherie und Zentrum, Okzident und Orient, zwischen der eigenen Kultur und anderen Kulturen eingesetzt. Die koloniale Logik bestand dabei oftmals darin, den vorkolonialen Gesellschaften Sexismus und der kolonialen Ordnung den Willen zur Durchsetzung von Geschlechtergerechtigkeit zuzuschreiben – eine Strategie des Othering von Sexismus, die auch heute noch verbreitet ist, man denke nur an die nicht zuletzt in weiten Teilen Europas geläufigen Assoziationen von Islam und Patriarchat.8 Gayatri C. Spivak hat für diese Konstellation die griffige Wendung »White men saving brown women from brown men« (Spivak 1988a: 297) geprägt – weiße Männer retten dunkelhäutige Frauen vor dunkelhäutigen Männern. Angesichts dieser Umstände ist wenig verwunderlich, dass die Geschlechterordnung auch für antikoloniale Befreiungsbewegungen von Bedeutung war. Frantz Fanon hat beschrieben, inwiefern dabei einzelne Merkmale wie beispielsweise der Schleier zu politischen 7 | Zur Bedeutung von Klasse schon in der ersten Frauenbewegung vgl. Walgenbach (2007: 25f.); zur Kritik an der Heteronormativität des feministischen Mainstreams vgl. u.a. Hark (1987) und Butler (1990). 8 | Zum Othering des Sexismus im Zusammenhang intersektionaler Analysen vgl. Kerner (2009: 361ff.).

250 | Ina Kerner Symbolen überhöht worden sind. Zu dessen Bedeutung im kolonialen Algerien hat Fanon erklärt: »Der kolonialistischen Offensive gegen den Schleier setzt der Kolonisierte den Kult des Schleiers entgegen. Was ein Element unter vielen in einem homogenen Ganzen war, gewinnt jetzt einen Tabucharakter; die Einstellung einer Algerierin zum Schleier wird fortan in Verbindung gebracht mit ihrer allgemeinen Einstellung zur Besatzungsmacht. […] Gegen den Okkupanten gerade in dieser Sache standzuhalten bedeutet, ihm eine spektakuläre Niederlage beizubringen, heißt vor allem, der ›Koexistenz‹ ihre Dimension als Konflikt zu bewahren.« (Fanon 1986: 109f.)

Der Versuch der Kolonisatoren, die kolonisierte Frau zu befreien, führt in dieser Interpretation also zu einer Verhärtung der Situation. Der Schleier, ein »Bestandteil der traditionellen Kleidung« (ebd.: 100), erlangt eine klare politische Bedeutung. Die Geschlechterverhältnisse werden zum integralen Element, zum Spielball der Konfrontation zwischen kolonialer Ordnung und antikolonialen Kräften. Dass dies wiederum noch in seinen Spätfolgen zu erheblichen Problemen für feministische Akteurinnen führt, kann fast nur als Ironie der Geschichte bezeichnet werden. Folgt man Uma Narayan, die bei ihren Überlegungen den indischen Kontext im Blick hat, dann gehört zu diesen Spätfolgen nämlich nicht zuletzt der Umstand, dass weibliche Emanzipationsbestrebungen von antifeministischen Kräften zuweilen noch heute mit westlichen Ideen kurzgeschlossen und als kulturimperialistisch zurückgewiesen werden (vgl. Narayan 2001). Allerdings ist der Vorwurf der Verwestlichung, mit dem sich Feministinnen im globalen Süden konfrontiert sehen, nicht der einzige Gegenstand postkolonialer Geschlechterstudien. Chandra Talpade Mohanty (1991) beispielsweise hat die binnenfeministische Kritik am einheitlich konstruierten weiblichen Subjekt, die schon am Anfang der Intersektionalitätsforschung stand, auf die globale Ebene geholt und in diesem Zusammenhang nicht nur die Idee globaler Schwesternschaft kritisiert, sondern auch homogenisierende und viktimisierende Konstruktionen von »Dritte-Welt-Frauen«. Ausgerechnet in Texten westlicher Feministinnen, die mit globalem oder doch zumindest internationalem Fokus arbeiten, hat sie solche Projektionen nachgewiesen. Mohanty wirft diversen Arbeiten aus diesem Kontext vor, einerseits so etwas wie eine organische weibliche Solidarität zu reklamieren und andererseits eine scheinbar eindeutige Nord-Süd-Differenz zu konstruierten. Während also Fanon aufgezeigt hat, wie im Zuge des Kolonialismus Geschlecht zum Spielball kolonialer und antikolonialer Politik wur-

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de und Narayan beschrieben hat, wie sich antifeministische Kräfte in einer postkolonialen Situation antiimperialistischer Rhetoriken bedienen, demonstriert Mohanty, wie westliche feministische Akteurinnen im Zuge ihres globalen Engagements koloniale Denklogiken reproduzieren. Die Bedeutung von Geschlecht und vor allem von Feminismus in postkolonialen Auseinandersetzungen und Studien ist damit alles andere als einheitlich. Geschlecht wird zum umkämpften Symbol der Differenz zwischen Peripherie und Zentrum, zwischen dem Westen und dem Rest der Welt. Die feministische Rhetorik der Kolonisatoren wird von antikolonialen Kräften als imperialistisch zurückgewiesen und in diesem Zuge zum einen als strategisch entlarvt, zum anderen mit antifeministischer Rhetorik beantwortet. In den Spätfolgen bedeutet das für transnational denkende und agierende Feministinnen aus dem globalen Norden, dass sie sich fragen lassen müssen, inwiefern ihr Engagement von ehrlichen geschlechterpolitischen Motiven getragen ist und inwieweit es – vielleicht auch ungeachtet der zugrunde liegenden Intentionen – koloniale Logiken reproduziert. Für Feministinnen im globalen Süden gehört zu den Spätfolgen, dass sie sich ihrerseits mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, westliches Gedankengut zu reproduzieren – hier schlägt das Vermächtnis des strategischen Feminismus der Kolonisatoren also zuweilen in einen strategischen Antiimperialismus der Antifeministen um. Dass diese Konstellation die Ausgangslage für Projekte eines globalen Feminismus deutlich kompliziert, ist wohl auf den ersten Blick erkennbar. Sie zeigt aber auch, wie gefährlich die Effekte des strategischen Einsatzes emanzipativer Ideen wie jener der ›Frauenbefreiung‹ sein können.9

Fazit Verhält sich intersektional zu lokal wie postkolonial zu global? Ist die Intersektionalitätsforschung tatsächlich von einem lokalen Fokus geprägt, während postkoloniale Studien seit jeher eher global ausgerichtet sind? Hält man sich an das hier präsentierte Material, so lässt sich diese These vorsichtig bejahen – jedoch weniger aus systematischen denn aus forschungs- beziehungsweise theoriegeschichtlichen 9 | Für neuere Darstellungen der Zusammenhänge von Postkolonialismus, Geschlecht und Feminismus vgl. auch Bahri (2004), Loomba (2005: 128ff., 180ff.) und mit Blick auf methodologische Implikationen für die Sozialwissenschaften Kerner (2005).

252 | Ina Kerner Gründen. Intersektionale Analysen sind aus der Reflexion lokaler Verschränkungen verschiedener Formen von Ungleichheit entstanden und kritisieren eindimensionale Problemlösungsstrategien, die diesen Verschränkungen analytisch nicht gerecht werden und im Effekt jene Personen privilegieren, denen innerhalb einer unterprivilegierten Bevölkerungsgruppe ein privilegierter Status zukommt. Das heißt allerdings nicht, dass intersektionale Analysen notwendig von methodologischem Lokalismus geprägt sind. So hat beispielsweise Gudrun-Axeli Knapp schon vor einigen Jahren dafür plädiert, die intersektionale Inspektion der europäischen Moderne, die sie wiederum als zentrale Aufgabe der gesellschaftstheoretischen Varianten der Intersektionalitätsforschung ausweist, »nicht in eurozentrischer Manier« zu betreiben, sondern vielmehr »als ›Verflechtungsgeschichte‹ (Randeria) in ihrem Zusammenhang mit der außereuropäischen Welt« (Knapp 2005: 77) anzulegen. Sie bezieht sich mit ihrem Rekurs auf Randeria also sogar explizit auf ein Theorem aus dem Umfeld postkolonialer Studien. Diese wiederum waren zwar von Anbeginn von einem globalen Fokus geprägt, haben dabei allerdings immer auch lokale Konstellationen ins Blickfeld genommen – und diese lassen sich eben oftmals als intersektional verfasst beschreiben. Deutlich wird das nicht zuletzt an Paul Gilroys offenem und intern pluralisiertem Konzept von Schwarzsein. Wenn nun also die Intersektionalitätsforschung tatsächlich der Tendenz nach von einem lokalen Fokus geprägt ist, postkoloniale Studien hingegen eher global ausgerichtet sind und dabei aus beiden Forschungsfeldern heraus Brücken zum jeweils anderen Gebiet geschlagen werden – sollte man dann, die Argumentation der vorangegangenen Seiten vor Augen, ein komplementäres Verhältnis zwischen beiden Arbeitsgebieten unterstellen? Auch diese Frage ist nicht ohne weitere Qualifizierung zu beantworten. Komplementär sind die beiden Forschungsfelder nämlich höchstens in ihren geographischen Bezügen. Betrachtet man jedoch die konzeptuellen Parameter, die ihnen jeweils zugrunde liegen, so ergeben sich entscheidende Unterschiede. Hinsichtlich der sozialwissenschaftlichen oder zumindest sozialwissenschaftlich anschlussfähigen Arbeiten aus den Bereichen von Intersektionalitätsforschung und postkolonialen Studien zeigen sich diese Unterschiede besonders bei einem Blick auf den jeweiligen Umgang mit Differenzkategorien. Gut verdeutlichen lässt sich dies an den unterschiedlichen Zugriffen auf die soziale Kategorie Geschlecht, wobei auf Aspekte aus beiden obigen Teilkapiteln zurückgegriffen werden kann, also auf Aspekte aus den präsentierten Überlegungen zu den politisch-theoretischen Wurzeln und Affinitäten von Intersektionalitätsforschung und postkolonialen Studien, ebenso wie zu jenem

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Stellenwert von Geschlechterfragen in beiden Arbeitsfeldern. Zunächst zur Intersektionalitätsforschung: Auch wenn McCall neben intra- und interkategorialen Intersektionalitätsansätzen explizit auch antikategoriale Ansätze erwähnt und diverse AutorInnen betonen, dass es produktiv sei, diese verschiedenen Zugänge zu vereinen, so ist doch zu beobachten, dass im Feld der Auseinandersetzung um Intersektionalität mit ihrem engen Bezug zur Macht- und Herrschaftskritik klarere kategoriale Bezüge möglich oder sogar geboten sind als im Feld der postkolonialen Studien, bei denen die verschiedenen Formen von Diskriminierung und Ungleichheit zwar ebenfalls Thema, jedoch nicht das einzige Anliegen sind. Wenn man Sexismus oder auch Rassismus kritisiert, dann verweist man auf den gesellschaftlichen Einsatz von Differenzkategorien zur Legitimation und Organisation von Ungleichheit und Ausgrenzung – ein spezifischer, in der Regel dichotomisierender Einsatz solcher Kategorien ist also der negative Ausgangspunkt der Analyse. Bei den postkolonialen Studien hingegen geht es eher darum, die vielfältigen Geschlechtereffekte nachkolonialer Konstellationen erst einmal zu ergründen, wenngleich auch hier Aspekte von Machtkritik eine entscheidende Rolle spielen und zuweilen – man denke beispielsweise an Chandra Talpade Mohantys Einwände gegen den westlichen Feminismus – zu deutlichen Polarisierungen führen. Doch selbst bei diesem Beispiel ist die Sorge um komplexe Repräsentationen von Frauen und Geschlechterverhältnissen im globalen Süden angesichts homogenisierender Darstellungen Movens der Analyse (vgl. Mohanty 1991: 51). Folgt daraus, dass im Rahmen postkolonialer Studien ein differenzierterer Umgang mit Differenzkategorien gepflegt wird als im Feld der Intersektionalitätsforschung? Ich denke nein. In beiden Arbeitsgebieten geht es um je eigene Anliegen und diese erfordern unterschiedliche kategoriale Zugriffe. Die Angemessenheit von Analyseinstrumenten lässt sich nicht pauschal beurteilen; und auch die Frage, in welchen Fällen Abstraktionen und in welchen Fällen Ausdifferenzierungen weiterführen, lässt sich nur am Gegenstand beantworten.

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Postkoloniale Kritik als politisches Projekt* Kien Nghi Ha Die global vernetzte, wenn auch keineswegs einheitliche Matrix der Moderne macht eine historische Kontextualisierung und ein intersektionales ›Querdenken‹ zwingend notwendig – so lautet eine der Grundannahmen des postkolonialen Projekts. Damit ist ein transnationaler Forschungs- und Theorieansatz gemeint, der die grenzüberschreitende Intersektionalität des Subjekts und der Gesellschaft in ihren unterschiedlichen Makro- und Mikrodimensionen als Ausgangspunkt begreift, um die vielfältigen Interdependenzen, prozeßhaften Überlagerungen und ambivalenten Auswirkungen sozialer Verhältnisse mit ihren sich aufeinander beziehenden Kategorien wie Gender, Ethnizität, Klasse, Sexualität, religiöse Zugehörigkeit und Nationalität im globalen und lokalen Rahmen zusammenzudenken.1 Davon ausgehend setze ich mich in diesem Beitrag mit den politischen und methodologischen Implikationen postkolonialer Kritik auseinander. Vor dem Hintergrund ihrer theoretischen Grundannahmen und intellektuellen Tradierungen, die sich zentral auf die lange Zeit vernachlässigte Aufarbeitung der Ambivalenz ›(post-)kolonialer‹ Macht- und Ausbeutungsverhältnisse beziehen, ist es wichtig die Frage aufzuwerfen, welche Bedeutungen und Perspektiven postkoloniale Kritik als intersektionaler Forschungsansatz für soziologische Fragestellungen im deutschen Kontext anbietet. Am Beispiel der deutschen Migrations- und Integrationspolitik werde ich daher eine postkoloniale

*

Ich danke Julia Reuter und Paula-Irene Villa sehr herzlich für zahlreiche Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge.

1 | Vgl. hierzu den Beitrag von Kerner in diesem Band (A.d.H.).

260 | Kien Nghi Ha Forschungsperspektive zur Diskussion stellen, die die Auseinandersetzung mit kolonialen Präsenzen in den Fokus nimmt.

Zur politischen Situierung postkolonialer Kritik Die Facetten der disharmonischen Globalisierung, die als ambivalenter Raum sozio-ökonomischer Ungleichheiten und kultureller Überlagerungen erfahrbar ist, spiegelt sich auch in der Situierung postkolonialer Kritik in den Metropolen wider. Postkoloniale Kritik kann als diskursiver Ausdruck eines globalen Widerspruchs gelesen werden, der die Bedingungen seiner eigenen Ausgangslage als Möglichkeit der Reflexion begreift. Ebenso wichtig wie den Blick für weltweite Gesamtzusammenhänge nicht zu verlieren, ist es auch, mikropolitische Prozesse wie die Frage nach der Subjektkonstituierung als Voraussetzung kritischen Denkens zu beachten. Postkoloniale Analysen gehen daher von einem relationalen, dynamischen und kontextuellen Verständnis von Ungleichheit, Macht und Dominanz aus, die permanent neu ›ausgehandelt‹ werden müssen. Die Unabgeschlossenheit von gesellschaftlichen Machtverhältnissen sowie die unvermeidliche Involvierung der Subjekte darin fordern dazu auf, die eigene Position im Diskurs wie in der Gesellschaft zu lokalisieren und zu hinterfragen (vgl. Gandhi 1998: 81-101). Statt (nur) auf den Mainstream fokussieren sich postkoloniale KritikerInnen auf die unterrepräsentierten und kodierten Äußerungen marginalisierter Subjekte. Sie sind bestrebt, gerade jene Perspektiven und Themen aufzuwerten, die innerhalb der bestehenden Ordnung keinen Platz beanspruchen dürfen. Dadurch unterstützen sie das Deplatzierte und Verdrängte bei seinem Kampf, der Vielfalt seiner uneinheitlichen Stimmen und unsichtbar gemachten Geschichten Geltung zu verschaffen. So ist es kein Zufall, dass Gayatri C. Spivaks grundlegende Frage »Can the subaltern speak?« (1988) zu einem der am stärksten diskutierten Themen des postkolonialen Diskurses zählt. Postkoloniale Kritik lässt sich von ihrem Selbstverständnis her als ein politisches Projekt charakterisieren, das sich unterdrückten Subjektivitäten verpflichtet fühlt. Sie nimmt die wechselseitige Durchdringung und historische Verstrickung von unterschiedlichen Machtverhältnissen zum Ausgangspunkt von politischen Interventionen. »Postcolonial critique is therefore a form of activist writing that looks back to the political commitment of the anti-colonial liberation movements and draws its inspiration from them whilst recognizing that they often opera-

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ted under conditions very different from those that exist in the present. Its orientation will change according to the political priorities of the moment, but its source in the revolutionary activism of the past gives it a constant basis and inspiration: it too is dedicated to changing those who were formerly the object of history into history’s new subjects. Postcolonial critique focuses on forces of oppression and coercive domination that operate in the contemporary world: the politics of anti-colonialism and neo-colonialism, race, gender, nationalisms, class and ethnicities define its terrain.« (Young 2000: 241)

Obwohl keine allgemeingültige Definition postkolonialer Kritik existiert und dieser heterogene Diskurs sich jeder Vereinheitlichung widersetzt, lassen sich doch gemeinsame Ausgangspunkte herauskristallisieren: • kritische Herausarbeitung von Konstruktionen des rassifizierten und vergeschlechtlichten hegemonialen Eigenen (Whiteness) und abgewerteten Anderen (Blackness, People of Color, Juden und Jüdinnen, MuslimInnen, postkoloniale MigrantInnen usw.) als binäre Oppositionen in einem historischen Prozess, der durch wechselseitige Konstitution und strukturelle Ungleichheit geprägt ist; • Fokus auf Machtrelationen, Ausbeutung, Hierarchien, In- und Exklusionen, die mittels kultureller Repräsentation und politischer Kontrolle stabilisiert werden; • Kolonialisierung als gewaltsamer Prozess der Subjektkonstitution, die den domestizierten und verobjektivierten Anderen durch pädagogische und performative Praktiken erschaff t; • Strategien und Methoden der Kontrolle durch Wissensproduktion und kulturelle Missrepräsentationen, die mittels Definitionsmacht und Etablierung eurozentristischer Wahrheitsregime durchgesetzt werden; • Untersuchung akademischer Disziplinen und kultureller Produktionen (z.B. Literatur, Images, Sprache), die nicht zuletzt als Ausdruck und Effekt von Machtartikulationen und Fremdkonstruktionen verstanden werden, aber auch widerständige Praktiken ermöglichen; • Ambivalenz zwischen humanistischen Idealen der Aufklärung und der kolonialen Moderne; • Aufdeckung des ›westlichen‹ Überlegenheitsanspruches als koloniales Ordnungsmodell, welches eine gesellschaftliche Entwicklungspyramide impliziert und den Prozess der Kolonialisierung legitimiert (vgl. Loomba 1998: 1-133).

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Die Unabgeschlossenheit postkolonialer Diskurse Der Versuch, den postkolonialen Diskurs vollständig zu überblicken, geschweige denn trennscharf zu definieren, wirft eine Reihe grundsätzlicher Probleme auf. So ist es nicht leicht zu bestimmen, wer diesem Diskurs angehört, da die Distanzierung von fi xierten Zugehörigkeiten und fortwährende Grenzüberschreitungen zum guten Ton gehören. Ebenso taucht hier die ambivalente Dialektik von Selbst- und Fremdzuschreibungen auf. Zu den produktiven und außergewöhnlichen Eigenheiten dieses Diskurses gehört ferner der Umstand, dass die schärfsten KritikerInnen postkolonialer Kritik, wie Aijaz Ahmad (1994) und Arif Dirlik (1997), oftmals selbst postkoloniale Intellektuelle sind. Eine allgemeine Beschreibung dieses Diskurses ist auch deshalb so schwierig, weil er zu jedem Zeitpunkt seiner Entwicklung eine offene wie umstrittene Arena unterschiedlicher Positionierungen und oft gegensätzlicher Stimmen darstellt. Daher ist es wichtig, immer die Grenzen des Sagbaren zu hinterfragen und differenzierende Relativierungen sowie weniger beachtete Strömungen auch innerhalb des postkolonialen Diskurses selbst mitzudenken. So kritisiert Anne McClintock in ihrer Begriffsdiskussion, dass die koloniale Unterscheidung die damit einhergehende Zeitlichkeit so stark privilegiert, dass die großen europäischen Meistererzählungen wieder Eingang finden könnten. Zudem differenziert der Begriff nur sehr unzureichend zwischen unterschiedlichen Kolonialgeschichten und Folgewirkungen, so dass Länder wie die USA und Australien gemeinsam mit Brasilien, Mozambique und Vietnam in einem Atemzug als postkolonial bezeichnet werden, obwohl sie von Fall zu Fall unterschiedlich viele Gemeinsamkeiten und Unterschiede zueinander aufweisen (vgl. McClintock 1994: 255-260). Wie grundsätzlich die von ihr beschriebene postkoloniale Uneinheitlichkeit und Diversität ist, kann beispielhaft an den Diskussionen zum Begriff »postkolonial« nachvollzogen werden. Diese Debatte betriff t unzweifelhaft auch das eigene Selbstverständnis. Wie bei anderen Postismen, löst das vermeintlich eindeutige Präfi x »post-« eine Reihe von Spannungen und Verwirrungen aus (Shohat 1996; McLeod 2000: 238-258). Der Begriff »postkolonial« wurde nach Ende des Zweiten Weltkrieges in die tagespolitische und zeitgeschichtliche Diskussion eingeführt. In diesen Bedeutungszusammenhängen bezeichnet postkolonial als Epochenbegriff die formale politische Unabhängigkeit ehemals kolonialisierter Gesellschaften nach Erlangung der völkerrechtlichen Souveränität (vgl. Hall 1997: 224-244). Gerade deshalb lädt das Präfi x »post-« zu Konfusionen und Kontroversen ein,

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weil dadurch eine Lesart provoziert wird, die eine ›nachkoloniale‹ oder ›nicht-koloniale‹ Zeitepoche ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt (vgl. McLeod 2000: 4-7). An diesem formalen politischen Verständnis beziehungsweise Missverständnis postkolonialer Kritik hat sich viel Kritik entzündet: »The term ›post-colonial‹ carries with it the implication that colonialism is now a matter of the past, undermining colonialism’s economic, political, and cultural deformative-traces in the present. The ›post-colonial‹ inadvertently glosses over the fact that global hegemony, even in the post-cold war era, persists in forms other than overt colonial rule.« (Shohat 1996: 326)

Inwieweit diese Gesellschaften durch diesen Prozess tatsächlich dekolonialisiert wurden, ist eines der zentralen Arbeitsfelder postkolonialer Forschung. Um die Ambivalenz und Überlagerung unterschiedlicher Machtkonfigurationen und Zeitdimensionen auszudrücken, wird auch die Schreibweise »post-kolonial« verwandt. Um die mitschwingende chronologische Bedeutungsdimension zu brechen, die eine klare Abgrenzung von linear verlaufenden und aufeinander nachfolgenden Zeitepochen suggeriert, wird im deutschsprachigen Raum auch mit Schreibformen wie »post-/kolonial« oder »post/-kolonial« gearbeitet. Die kontrapunktische Schreibweise mit Binde- und Trennstrich betont stattdessen nicht-lineare und ineinander verlaufende Zeitlichkeiten. Damit soll eine Perspektive und Konstellation benannt werden, die von der Auseinandersetzung mit historischen Verstrickungen sowie der Gleichzeitigkeit kolonialer Dominanz und nachkolonialer Abhängigkeit geprägt ist. Diese Betrachtungsweise ermöglicht eine Perspektive, die koloniale Verhältnisse nicht ausschließlich als abgeschlossene Historie versteht, sondern ihren dynamischen und transformativen Charakter unterstreicht (vgl. Ha 2004a: 95f.). Auch ist zu beachten, dass der Begriff des Postkolonialismus durchaus umstritten und missverständlich ist, weil das Suffi x »-ismus« eine einheitliche ideologische Perspektive beziehungsweise einen festgelegten theoretischen Ansatz suggeriert. Diese Annahmen sind jedoch nicht zutreffend.

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Zur Popularisierung des postkolonialen Projekts Seit Ende der 1970er Jahre wurde der Postkolonialismus-Begriff verstärkt in einer von der 68er-Kulturrevolte politisch beeinflussten akademischen Strömung der (vergleichenden) angloamerikanischen Literaturwissenschaft und -kritik aufgegriffen, um kulturelle Phänomene und Beziehungen zu analysieren, die mit kolonialen Diskursen und Praktiken sowie ihrer Fortwirkung im Zusammenhang stehen. Obwohl viele heute führende postkoloniale TheoretikerInnen, wie zum Beispiel Gayatri C. Spivak und Homi K. Bhabha mit ihren frühen Arbeiten zur Colonial Discourse Theory (oft auch Analysis) in den Anfängen der 1980er Jahre die Grundsteine der postkolonialen Kritik legten, habe beide AutorInnen den Begriff »postkolonial« erst mit der Popularisierung in den 1990er Jahren prononciert in ihr theoretisches Vokabular aufgenommen (vgl. Ashcroft, Griffiths & Tiffin 2000: 186188). Gegenwärtig entsteht im Rahmen der Globalisierung eine neue Bedeutungsdimension, in der der Begriff »postkolonial« eine Form der kulturellen Glokalisierung ausdrückt. Solche globalisierten Lokalitäten der sozio-ökonomischen und medial-informationstechnologischen Durchdringung kennzeichnen zunehmend die transkulturellen Lebensbedingungen im Alltag urbaner Zentren (vgl. Schwarz/ Ray 2000). In ihnen werden durch transkontinentale Migrationsbewegungen und kulturelle Zirkulationen transnationale Räume und hybride Kulturen erschaffen, die die ethnisierten und nationalkulturellen Grenzen überschreiten. Neben deskriptiven Verwendungsweisen wird das Adjektiv »postkolonial« auch normativ beziehungsweise politisch benutzt. Je nach politischem Standpunkt entstehen dabei gegensätzliche Wahrnehmungen. Während viele KritikerInnen postkoloniale, das heißt dekolonialisierte Gesellschaften als unerreichtes politisches Projekt einfordern, sehen zumeist konservative KritikerInnen diese Utopie bereits im Ist-Zustand verwirklicht. Innerhalb des kritischen Diskurses wird »postkolonial« meist im Sinne von spät- oder neokolonial als kritisch-analytische Kategorie verwendet. Hinzu kommen lokale Bedeutungstransformationen, die bei der Rezeption und weiteren Verzweigung postkolonialer Kritik entstehen. Falls postkoloniale Kritik hauptsächlich als Modeerscheinung und intellektuelles Konsumgut entdeckt und rezipiert wird, dann wird ihre kritisch-analytische Bedeutung durch die dominante Perspektive neutralisiert (Ha 2004b). Ebenso wie der postkoloniale Diskurs ist die postkoloniale Literatur mit dem Vorwurf der kulturellen Warenwerdung und kommerziellen Konsumvermarktung konfrontiert, deren herausragende Ver-

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treterInnen dem Verdacht ausgesetzt sind, als MitspielerInnen im kulturindustriellen ›Starsystem‹ zu fungieren. Graham Huggan hat für diese Problematik neben dem doppeldeutigen Begriff des »postcolonial exotic« auch die Formel »marketing the margins« geprägt. In seiner gleichnamigen Studie versucht der in England arbeitende postkoloniale Literaturwissenschaftler herauszuarbeiten, wie durch Prozesse der anthropologischen Exotisierung afrikanischer Literatur (vgl. Huggan 2001: 34-57), imaginäre Phänomene des »consuming India« (ebd.: 58-82) und kulturindustrielle Mechanismen wie dem kommerziellen Interessen verpflichteten Booker Literaturpreis, die postkoloniale ›Weltliteratur‹ zu einer global verfüg- und übersetzbaren Ware mit materiell quantifizierbarem Wert geworden ist. Daneben kritisiert der Autor aber auch performative Selbstinszenierungen der »staged marginalities« (ebd.: 83-104) in den Werken von Starautoren wie Salman Rushdie, V.S. Naipaul oder Hanif Kureishi und Genres wie Autobiographien und ethnographischen Reisebeschreibungen, die die Bedürfnisse und Interessen westlicher Leserschaften bedienen würden. Die große Spannbreite postkolonialer Diskurse zeigt sich augenfällig in dem Nachschlagewerk Post-Colonial Studies – The Key Concepts (2000) von Ashcroft, Griffiths und Tiffin, wo auf der Basis von 100 Grundbegrifflichkeiten dieses komplexe Feld präsentiert wird. Solch schnelle und einfache Zugriffe rufen bei KritikerInnen den Verdacht des »instant postcolonialism« (Graham Huggan) hervor. Trotzdem haben diese Glossare ihre Berechtigung, da sie als Wörterbücher Interessierten den Weg in einen unübersichtlichen und hoch komplexen Diskurs erleichtern, und gleichzeitig nützlich sind, um Wissen zu demokratisieren. Auf diese Weise wird deutlich, dass postkoloniale Kritik sich immer mehr zu einem Sammelbegriff oder einer übergeordneten Kategorie entwickelt, die nahezu alle kritischen Ansätze und Themenfelder miteinander verbindet und sich dabei gleichzeitig ausdifferenziert. Die postkoloniale Kritik ist ein hochgradig ausdifferenzierter akademischer Diskurs. Sie setzt sich unter anderem mit folgenden Themenkomplexen beziehungsweise den Zusammenhängen zwischen diesen Thematiken auseinander: Kolonialismus, Rassismus, Nationalismus, Ethnizität, Migration, kulturelle Identitäten, Körper und Performativität, Feminismus, Sexualität und Geschlechterverhältnisse, Selbst- und Fremdrepräsentationen, Diskursanalyse, Stereotypisierung und sozio-kulturelle Konstruktionen, Widerstand, Universalität und Differenz, postmoderne Kultur, Globalisierung, Sprache, Pädagogik, Geschichte, Räumlichkeit, Produktion, Konsum usw.2 2 | Der 1995 erstmals publizierte Post-Colonial Studies Reader von

266 | Kien Nghi Ha Aus dieser Heterogenität, die zugleich einengenden diskursiven Strukturen und akademischen Hierarchien entgegenarbeitet, lässt sich eine grundlegende Stärke der postkolonialen Kritik ableiten: Sie ermöglicht eine Vielzahl dissonanter Stimmen und Positionen und widersetzt sich damit dem modernen Zwang zur Einheitlichkeit und Normierung, die jede Abweichung sanktioniert und ausgrenzt. Je nach Sprachraum, der jeweils dort bis dato vorherrschenden eurozentrierten Orientierung sowie regionaler und nationaler Kolonialgeschichte haben etwa anglo-, franko- und iberophone Diskurse, die wiederum in sich stark differenziert sind, andere Formen, Schwerpunkte und Merkmale der postkolonialen Kritik entwickelt. Die unabschließbare Offenheit ist als eine transdisziplinäre Zugangsweise zu verstehen, die sich bewusst den üblichen akademischen Grenzziehungen und klaren Definitionsversuchen widersetzt.

Intellektuelle Referenzen Obwohl die postkoloniale Kritik sowohl auf der theoretischen wie auf der politischen Ebene das Ursprungsdenken als Form der Metanarration dekonstruiert hat, wird in nahezu allen Einführungen zur Entstehung der Postcolonial Studies eine Genealogie angeboten, die sich der Gefahr aussetzt, Gründungs- und Abstammungsmythen mit vermeintlich linearen Entwicklungswegen zu konstruieren. Allerdings ist es genauso notwendig anzuerkennen, dass der heutige postkoloniale Diskurs sich direkt wie indirekt auf eine lange Geschichte anti-kolonialer Kultur bezieht. Schließlich ist die Kultur des anti-kolonialen Widerstandes und der kritischen Gegendiskurse durch die kolonialisierten Subjekte so alt wie die historische Materialität ihrer Verobjektivierung durch koloniale Praktiken selbst: »That the colonised were never successfully pacified is well known to the postcolonial study of colonialism and the long and discontinuous process of decolonisation.« (Parry 1994: 72) Neben der politischen Öffentlichkeit interessierter Menschen, die in den Geschichtsbüchern keine namentliche Erwähnung finden, spielen SchriftstellerInnen, KünstlerInnen, aber natürlich auch TheoAshcroft/Griffiths/Tiffin ist 2006 in revidierter Form neu erschienen und bietet in 19 thematischen Sektionen 121 Aufsätze zu fast jedem denkbaren Arbeitsfeld postkolonialer Kritik an. Fast ebenso umfangreich ist auch der Sammelband Postcolonial Discourse von Castle (2001), der jedoch regional angeordnet ist.

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retikerInnen des Wortes und AktivistInnen der Tat eine entscheidende Rolle. Viele waren wie Amilcar Cabral, C.L.R. James und George Padmore Zeit ihres Lebens RevolutionärInnen, während andere wie Mahatma Gandhi, Ho Chi Minh, Mao Zedong, Fidel Castro, Che Guevara und Kwame Nkrumah politische Staatsmänner wurden.3 Obwohl sie meist in nationalen und sozialistisch orientierten Befreiungsbewegungen engagiert waren, hatten fast alle eine ausgeprägte internationalistische Perspektive. Oft waren diese anti-kolonialen Ikonen in den weitverzweigten politisch-ideologischen Netzwerken der zersplitterten Internationalen und später mehr oder weniger in der 1966 in Havanna gegründeten Trikontinentalen Bewegung eingebunden, die die Peripherie mit den kolonialen Metropolen ebenso wie die Dritte Welt untereinander verband (Young 2001). Maßgebliche Impulse zur Kritik von rassistischen, sexistischen und kapitalistischen Herrschafts- und Ausbeutungsformen stammten nicht nur aus den kolonialisierten Gebieten selbst. Auch in den westlichen Metropolen bildete sich über Jahrzehnte – und besonders in Amerika durch die Jahrhunderte hindurch – ein reiches politisches Reservoir aus jenen marginalisierten sozio-kulturellen und historischen Erfahrungshintergründen, die seit den radikalen 1960er Jahren zur hart erkämpften Formierung der African American Studies, der Asian American Studies, der Chicano/a Studies, Native American Studies und Critical Race Theory in den Bildungs- und Kulturinstitutionen im angloamerikanischen Raum führten. Diese politischen und wissenschaftlichen Neuorientierungen wurden in den letzten vier Jahrzehnten immer wieder von den keineswegs einheitlichen Positionen des Black Feminism/Womanism und Third World Feminism konstruktiv hinterfragt und in kritischer Solidarität weiterentwickelt. Da sich die postkoloniale Kritik als parteiliche und eingreifende Wissenschaftspraxis versteht, wird die Suche nach Ansätzen zur umfassenden Befreiung von jeder Form von Hegemonie als Aufgabe herrschaftskritischer Wissensproduktion herausgestellt. Dabei ist der theoretische Hintergrund dieser Studien nicht einheitlich, sondern divergiert nach individueller AutorInnenschaft, zeitlichen Entwicklungsphasen, lokalen Besonderheiten und gesellschaftlichen Subjektpositionen. Meist bewegen sich postkoloniale Ansätze undogmatisch in einem Theorierahmen, der in verschiedenen Akzentuierungen auf anti-imperialistische, feministi3 | Bereits diese Repräsentation zeigt, dass der postkoloniale Diskurs sowohl in seiner Geschichte als auch in seinen Narrationen genderspezifische Einschränkungen kennt und Geschlechter- ebenso wie Klassenverhältnisse sich in den postkolonialen Diskurs einschreiben.

268 | Kien Nghi Ha sche, neo- und post-marxistische, poststrukturalistische und psychoanalytische Positionen sowie literatur- und kulturwissenschaftliche Methoden zurückgreift. Trotz argwöhnischer Absetzung vom und Kritik am Eurozentrismus sind insbesondere die Diskurs- und Machtanalysen von Michel Foucault, die Lacansche Lesart von Freud, die Differenzphilosophie von Jacques Derrida und das nomadische Denken bei Gilles Deleuze unverkennbare Ausgangspunkte postkolonialer Kritik. Auf der anderen Seite gelten die TheoretikerInnen der Négritude als intellektuelle und politische Vorläufer des heutigen postkolonialen Diskurses. Bereits in den Arbeiten von Aimé Césaire und Léopold Senghor werden Kolonialismus und Rassismus aus einer Schwarzen Perspektive analysiert. »Schwarz« und »Weiß« wurden in diesem Rahmen jedoch zu wenig als politische Kategorien und wirkungsmächtige Konstrukte herausgestellt, die keine biologischen oder physiologischen Eigenschaften beschreiben. Im Gegensatz zur eurozentrierten Historiographie, die die koloniale Verdinglichung des Anderen nicht in Frage stellt, sondern oftmals fortsetzt, räumen antikoloniale TheoretikerInnen den Kolonisierten Subjektstatus und eine eigenständige Geschichte unabhängig vom ›Weißen Blick‹ ein. Besonders nachhaltige Impulse gehen bis heute von Frantz Fanons Werken wie Schwarze Haut, Weiße Masken (1952) und Die Verdammten dieser Erde (1961) aus. Er inspirierte als Theoretiker und politischer Aktivist nicht nur antikoloniale Befreiungsbewegungen im Trikont, sondern auch die Black Panther Party in den USA. In seinem originellen Denken flossen genaue Beobachtungen der kolonialen Kondition mit marxistischen und psychologischen Analysen zusammen. Fanon erkannte, dass die Kolonialisierung ein wechselseitiger Prozess war, auch wenn ihre Vor- und Nachteile sehr ungleich verteilt blieben. In dem Maße, in dem Weiße Mächte andere unterwarfen und ausbeuteten, wurden auch europäische Gesellschaften zu Kolonialgesellschaften, die eine koloniale Kultur und Denkweise ausbildeten (Broeck 2006). Dieser besondere Fokus auf die wechselseitige wie nachhaltige Durchdringung kolonialrassistischer Beziehungen und ihre Einschreibungen in die politische Kultur bis in die Gegenwart kennzeichnet den postkolonialen Blick. Obwohl die Betonung eines singulären Ereignisses eher zu Gründungsmythen beiträgt, wird der eigentliche Ausgangspunkt der heutigen postkolonialen Kritik oft mit dem Erscheinen von Edward W. Saids grundlegender Arbeit Orientalism (1978) gleichgesetzt. Orientalism kann aber auch als eine kreative Zusammenführung und Weiterentwicklung von unterschiedlichen intellektuellen Bewegungen gelesen werden, die das kulturelle und politische Leben der letzten Jahrzehn-

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te entscheidend stimulierten. Said wendet literaturwissenschaftliche, poststrukturalistische und diskursanalytische Arbeitsweisen an, um den imaginären ›Orient‹ als europäische Chiffre des ›absolut Anderen‹ sichtbar zu machen. 4 Trotz der grundsätzlichen Ablehnung durch westliche OrientalistInnen auf der einen Seite und konstruktiven Detailkritiken auf der anderen Seite liegt der unbestreitbare Verdienst von Saids Orientalismus-Studie darin, dass sie die Colonial Discourse Analysis als akademische Disziplin begründete und etablierte. In der weiteren Entwicklung postkolonialer Kritik nahm die Anzahl der daran beteiligten Stimmen weiter zu. Auch das Arbeitsfeld breitete sich weiter aus und wurde immer umfangreicher. Wie Said nahm auch der postkoloniale Diskurs in individuell unterschiedlichen Dosierungen und Ausformulierungen Einflüsse des ›linguistic turn‹ in den Kulturwissenschaften sowie des ›postmodern turn‹ in der Philosophie und den Geisteswissenschaften auf und lieferte grundlegende Impulse für den gegenwärtigen ›cultural turn‹ in den Sozialwissenschaften. Dieser ›cultural turn‹ hängt sicherlich mit der zunehmenden theoretisch-diskursiven Rezeption und der gegenwärtigen Überzeugungskraft der Cultural Studies zusammen. Sie hat besonders im angloamerikanischen Raum in den letzten Jahrzehnten in den global ausstrahlenden Universitäten und Forschungsanstalten eine beachtliche Institutionalisierung erfahren und dadurch strukturell wie intellektuell an Deutungsmacht gewonnen (vgl. Horak 2002: 884-895).

Aufarbeitung kolonialer Präsenzen im deutschen Kontext Verglichen mit der institutionellen und wissenschaftlichen Empfangsbereitschaft für die Cultural Studies, die auch in Deutschland als Erfolgsmodell bezeichnet werden kann, ist die postkoloniale Kritik im akademischen Bereich nach wie vor unterrepräsentiert und verfügt kaum über institutionalisierte Räume. In Deutschland sind postkoloniale Perspektiven erst relativ spät im Verlauf der 1990er Jahre auf der akademischen Ebene sowie im Kulturbetrieb angekommen. Es verwundert daher nicht, dass praktische Umsetzungsversuche außerhalb der Seminarräume und Kunstbühnen sehr rar sind. Aufgrund der nachzuholenden Entwicklung werden gegenwärtig meist theoretische und methodologische Ansätze postkolonialer Kritik aus dem anglo4 | Siehe als Einführung in das intellektuelle, politische und akademische Werk Saids die detaillierte Studie von Markus Schmitz (2008), die sowohl westliche als auch arabische Lesarten vorstellt.

270 | Kien Nghi Ha amerikanischen Raum importiert. Um die Grundlagen der Rezeption zu klären, werden vor allem Einführungen in den Kanon postkolonialer Kritik nachgefragt, die sich neben Saids Orientalismustheorie vor allem Homi K. Bhabhas Hybriditätsbegriff und Gayatri C. Spivaks Vorstellung von Subalternität widmen (Castro Varela & Dhawan 2005). Postkoloniale Ansätze sind in Deutschland besonders von jüngeren WissenschaftlerInnen of Color aufgegriffen worden, die aus Schwarzdeutschen, feministischen und migrantischen Perspektiven nach lokalen Übertragungsmöglichkeiten suchen.5 Die Fortführungen und Adaptionen postkolonialer Kritik in den deutschen Kontext werden sicherlich weitergehen. Die spannende Frage ist, welche Formen der Rezeption und Übertragung sich unter dem Banner postkolonialer Kritik diskursiv und institutionell durchsetzen werden. Mit diesem Prozess ist auch die Frage verbunden, welche Fragestellungen und Perspektiven gefördert werden und welche unberücksichtigt bleiben. Ob die radikale, das heißt über eine Historisierung hinausgehende Aufarbeitung der eigenen Kolonialgeschichte zugelassen und gefördert wird, ist eine Kernfrage, die für alle sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächer als transdisziplinäre Querschnittsaufgabe entscheidend ist. Unstrittig ist jedenfalls, dass auch die akademische Auseinandersetzung mit der kolonialen Grundlage der modernen deutschen Kultur und Geschichte über lange Zeit in der BRD systematisch vernachlässigt wurde.6 Obwohl westdeutsche HistorikerInnen erst Ende der 1960er Jahre begannen, sich mit dieser Geschichtsdimension auseinanderzusetzen, erlahmte bereits Mitte der 1970er Jahre wieder das Forschungsinteresse (vgl. Smith 1996: 431f.). Die neueren Anstöße für eine wissenschaftliche Aufarbeitung des deutschen Imperialismus kamen daher zunächst auch nicht aus den hiesigen Universitäten, sondern von den Schwarzen (deutschen) Gelehrten und AktivistInnen der transatlantischen Black Diaspora Studies, der angloamerikanischen 5 | Siehe Gutiérrez Rodríguez (1999), Ha (2004a [1999]), El-Tayeb (2001), Gutiérrez Rodríguez/Steyerl (2003), Eggers/Kilomba/Piesche/ Arndt (2005) sowie Ha/Laure al-Samarai/Mysorekar (2007). 6 | Obwohl die Sozialwissenschaften der DDR in westlichen Institutionen allgemein als ideologisch verblendet galten, griffen ostdeutsche HistorikerInnen diese verdrängten Themenbereiche zwei Jahrzehnte früher auf. Die DDR-Geschichtswissenschaft produzierte trotz politischer Instrumentalisierung »eine Vielzahl origineller Untersuchungen« (Schmidt 1985: 132), die wie einige Aufsätze in Helmuth Stoeckers Drang nach Afrika (1977) auch bei US-KollegenInnen als »exzellent« gelten (Smith 1996: 453; vgl. auch Chickering 1996: 501).

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German Studies und der transnational ausgerichteten postkolonialen Kritik.7 Zwar hat auch in der BRD die Zahl der wissenschaftlichen und publizistischen Arbeiten zu diesem Themenbereich in der letzten Dekade spürbar zugenommen. Allerdings erfolgt diese diskursive Konjunktur als nachholende Bewegung vor einem Hintergrund, der die lang anhaltende akademische Marginalisierung und gesellschaftliche Unerwünschtheit kritischer Interventionen dokumentiert. Aufgrund dieser Konstellation hat sich ein erheblicher Bedarf an inhaltlicher Defizitkompensation in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft angestaut sowie eine enorme zeitliche Verspätung der Grundlagenforschung ergeben. Innerhalb der neueren historiographischen Wissensproduktion haben sich weitere Beschränkungen als strukturbildend und trendsetzend herausgestellt. So beschäftigt sich das Gros der kolonialhistorischen Forschung mit der Kolonialisierung außereuropäischer Gebiete, wodurch der wechselseitige und dialektische Prozess von äußerer Fremd- und innerer Selbst-Kolonialisierung aufgespalten wird und die Produktion entgrenzter Räume im Prozess der Kolonialisierung unterbelichtet bleibt. Zwar existiert eine zunehmende Anzahl von Publikationen, die neben den Kolonien auch die vielfältigen Auswirkungen der imperialistischen Expansion auf das deutsche Kernland im Wilhelminischen Zeitalter untersuchen.8 Aber diese Ansätze verbleiben innerhalb eines historischen Untersuchungs- und Deutungsrahmens, der meist von 1884 bis 1918 und in selteneren Fällen bis 1945 reicht. Studien, die die Kontinuität und Transformation kolonialer Denkweisen, Bilder und Strukturen bis in die gegenwärtige Bundesrepublik hinein analysieren, sind immer noch recht selten und fi nden sich am ehesten im Bereich der Kultur- und Medienanalyse (vgl. etwa Melber 2001; Ha 2005b). Ein offensichtlicheres Problemfeld stellt der weitverbreitete Glauben dar: »Eine koloniale Vergangenheit im großen Stil hatte Deutschland nicht gehabt.« (Bronfen/Marius 1997: 8) Als dominante Narration, die bis heute im gesamten politischen Spektrum bis hin zum postkolonialen deutschen Diskurs zu finden ist, verweigert diese gesellschaftlich vermittelte Geschichtsverklärung sich auf die überfällige Revisionen kolonialer Geschichtsbilder einzulassen. Stattdessen werden 7 | Vgl. etwa Oguntoye/Opitz/Schultz (1992 [1986]); Berman (1996); Zantop (1997); Friedrichsmeyer/Lennox/Zantop (1998); El-Tayeb (2001); Conrad/Randeria (2002). 8 | Siehe etwa Kundrus (2003); Bechhaus-Gerst/Klein-Arendt (2003); Conrad/Osterhammel (2004).

272 | Kien Nghi Ha die Mittel der Verharmlosung und Relativierung eingesetzt, um die Bedeutung kolonialer Dominanz wie üblich anhand von scheinbar objektiven ökonomischen, demographischen und geopolitischen Kennziffern zu messen.9 Solche Vorgehensweisen lassen die Wirkungsmächtigkeit und die Nachhaltigkeit kolonialer Denkweisen im ideologischen und kulturellen Bereich außer Acht.10 Zudem reproduziert diese Sichtweise eine Machtstruktur, die das deutsche Geschichtsverständnis privilegiert, die Kriterien der historischen Interpretation einseitig definiert und die außereuropäischen Perspektiven der ehemals Kolonialisierten erneut aus der Wissensproduktion ausschließt. Dass der deutsche Kolonialismus in der BRD als unbedeutende Randfrage behandelt wird, während er etwa für die Herero und Nama eine Genoziderfahrung war, liegt keineswegs in der Ereignisgeschichte begründet. Gesine Krüger hat sich mit ihrer Doktorarbeit Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein (1999) besondere Verdienste erworben, da sie darin die Kolonialerfahrungen aus der Perspektive der ehemals Kolonialisierten erstmals als zentrales Thema anerkennt. Sie leitet damit methodisch den Wandel von der eurozentristischen Objekt- zur postkolonialen Subjektperspektive ein und nimmt Subalterne als geschichtlich Handelnde wahr 11. Ein weiterführendes Konzept für die Forschung im Rahmen der Postcolonial German Studies legten auch Sara Friedrichsmeyer, Sara Lennox und Susanne Zantop mit The Imperialist Imagination. German Colonialism and Its Legacy (1998) vor und ebneten somit den Weg für andere Arbeiten.12 Im Unterschied zur üblichen Historiographie oder zu ausschließlich sozial- und kulturgeschichtlich operierenden An9 | Vgl. exemplarisch für eine eurozentristische und bagatellisierende Histographie deutscher Kolonialgeschichte den Historiker Görtemaker (1989: 345-358). Vgl. auch die Kritik in Ha (2005b: 111-114). 10 | Wenn wir etwa der Auffassung von Wehler (1985) folgen, der die Idee der Kolonialisierung als »ideologischen Konsensus« (112-155) in der deutschen Gesellschaft beschreibt und den »Kolonialrausch« (464-485) als massenwirksame Sozialpathologie klassifiziert, dann ergeben sich ganz andere Geschichtszugänge. 11 | Durch ihre Mitarbeit, die sich den autochthonen Gesellschaften der Herero und Nama in der vorkolonialen Zeit widmete, trug sie dazu bei, dass der Sammelband anlässlich des 100. Jahrestages des Genozids an den Herero und Nama in Zeller/Zimmerer (2003) auch aus einer afrikanischen Perspektive erzählt wird. 12 | Vgl. etwa Heyden/Zeller 2002; Laak 2005; Heyden/Zeller 2008.

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sätzen wird die Kolonialgeschichte hier als Ausgangspunkt für eine weitreichendere Entwicklung gesehen, die weder zeitlich abgeschlossen ist noch den Kolonialismus als vom ›Mutterland‹ ausgehende Einbahnstraße denkt. Solange die Überlagerung ineinanderlaufender Zeit- und Gesellschaftssedimente nicht selbstverständlich berücksichtigt wird und die wissenschaftliche Aufarbeitung rein historisch verbleibt, können die nachwirkenden Einflüsse kolonialer Effekte und ihre Transformationsprozesse auf die rassistischen Konditionen der deutschen Gegenwartsgesellschaft nicht wirklich in den Blick genommen werden.

Postkoloniale Kritik deutscher Migrationspolitik Welche Konsequenzen aus einer ernsthaften Auseinandersetzung mit postkolonialen Kritikansätzen für eine soziologische Analyse der deutschen Gesellschaft gezogen werden können, möchte ich abschließend im Bereich der Migrations- und Integrationspolitik exemplarisch verdeutlichen. Dieser Bereich stellt aufgrund seiner gesellschaftlichen Bedeutung eines der zentralen Forschungsfelder der Soziologie in der Gegenwart wie in der absehbaren Zukunft dar und besitzt daher eine besondere Relevanz. Gerade postkoloniale Migrationskontexte müssen sich unweigerlich mit Ein- und Ausschlussprozessen im Zusammenhang mit Rassismus, Gender, Nation und der westlichen Dominanz in der politischen Weltökonomie wie der Geopolitik auseinandersetzen. Hinzu kommen Fragen der politischen und kulturellen Grenzüberschreitung in einer globalisierten Weltgesellschaft, die durch neue Grenz- und Kontrollregime reguliert wird. Meines Erachtens nach lassen die sich darauf beziehenden Konflikt- und Problemstrukturen im Migrationsbereich sich nur dann konstruktiv bearbeiten, wenn dabei der methodologische Schritt von der historischen Aufarbeitung des Kolonialismus hin zur Analyse kolonialer Präsenzen vollzogen wird. Einen Vorschlag für eine exemplarische Analyse kolonialer Strukturen und Affinitäten, die vom Wilhelminischen Kolonialreich bis in aktuelle Debatten reicht, habe ich mit meinen Beitrag Die kolonialen Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik (2003) vorgelegt. Darin versuche ich die deutsche Arbeitsmigrationspolitik im Kontext ihrer historischen, politischen, kulturellen und sozio-ökonomischen Strukturen als eine gesellschaftliche Praxis zu verstehen, die bis heute mit kolonialen Logiken und Annahmen operiert und entsprechende kolonial aufgeladene Effekte produziert. Postkoloniale Kritikansätze betten Migrationsfragen strukturell

274 | Kien Nghi Ha in einen Rahmen ein, der mit komplexen historischen, globalen, sozio-ökonomischen, ethnisch-nationalen, kulturell-religiösen und geschlechtsspezifischen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen verknüpft ist. Diese Verhältnisse bringen widersprüchliche Formen der Ausschließung und Überlagerung hervor. Die heutigen postkolonialen Migrationen von People of Color sind deshalb nur dann in ihrer vollen Tragweite zu erfassen, wenn wir sie in einen geschichtlichen Prozess einordnen. Weltumspannende Massenmigrationen sind – als spezifische Erscheinungen der Moderne – vielfältig mit kolonialen Erfahrungen verbunden. In ihnen nehmen die machtbesetzten Kontroll-, Verteilungs- und Verwertungsinteressen durch Vertreibung, Eroberung, Besiedlung und Versklavung eine kolonialisierende Form an. Erst in der Moderne wird der ökonomisch und machtpolitisch motivierte Transfer von Soldaten, Versklavten, Siedler, Kolonialbeamten, Missionaren, Händlern und so weiter rassifiziert und zur Macht-/Wissensgrundlage einer globalen Ökonomie und Herrschaftsordnung systematisiert. Die wechselseitige Konstitution von Migrations- und Biopolitik wird so zur instrumentellen Voraussetzung wie zur Folge der weltweiten Ausbreitung europäischer Macht und ihrer kapitalistischen Produktionsweise. Während die Expansion sich zunächst durch Formen der äußeren Kolonisierung ausdrückte, traten seit dem 19. Jahrhundert vermehrt Prozesse der Internalisierung und Einverleibung des kolonialisierten Anderen hinzu. So wird seither in Deutschland Arbeitsmigrationspolitik im inneren Ausland nationalstaatlich organisiert und als Mittel der Wert(ab)schöpfung konzipiert, um im Wettkampf global konkurrierender Nationalökonomien Standortvorteile zu gewinnen (Ha 2003). Kolonialisierung ist ein wechselseitiger Prozess, der sowohl auf die kolonialisierten als auch auf die kolonialisierenden Länder mit unterschiedlichen Konsequenzen einwirkt. Inwieweit die Selbst-Kolonialisierung der westlichen Gesellschaften in ihren gemeinschaftlich getragenen und geteilten Institutionen nachwirkt und welche Effekte dieses historische Erbe etwa in der deutschen Kulturlandschaft und ihren Denkmustern hinterlässt, ist aufgrund fehlender Problemwahrnehmung kaum erforscht.13 Vor diesem Hintergrund erleben wir gegenwärtig eine zwiespältige, sich funktionell überaus ergänzende Diskussion über Zuwanderung, die die aktuellen Auswahlkriterien widerspiegelt: Einerseits 13 | Einen Anfang machen Forschungsarbeiten, die die im anglophonen Raum entstandenen Critical Whiteness Studies auf Deutschland anwenden. Vgl. etwa Eggers/Kilomba/Piesche/Arndt (2005) und Wollrad (2005).

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werden Grenzregime durch den Ausbau staatlicher und transnationaler Überwachungstechniken zur Verhinderung unerwünschter Einreisen nicht zuletzt militärisch perfektioniert. Das Spektrum der unwillkommenen Zielgruppen reicht dabei von herauf beschworenen Terrorsympathisanten bis hin zu minderjährigen Kriegs- und Armutsflüchtlingen. Andererseits sind alle westlichen Industrieländer durch postimperiale MigrantInnen und ›Gastarbeiter‹ bereits seit Jahrzehnten interkulturelle Einwanderungsgesellschaften. Im migrationspolitischen Entwicklungsland BRD wird dieses Faktum offiziell erst seit 1998 nicht mehr durch die Bundesregierung geleugnet. Allerdings sind Dominanzforderungen nach einer deutschen ›Leitkultur‹ und völkische ›Überfremdungsängste‹ weiterhin mehrheitsfähig. Rassistische Überzeugungen sind daher nicht nur als Alltagshandlungen, sondern auch als politisches Konzept in der Mitte der Gesellschaft zu verorten. So ist die staatlich forcierte Integrationspolitik in Deutschland – etwa in Form der verpflichtenden und sanktionsbewährten Integrationskurse – mit ihren repressiven Auswirkungen besonders problematisch. Diese Kurse beinhalten eine eurozentristische Machtkonfiguration, deren vielfältige Voraussetzungen und Settings auf einer Logik beruhen, die auf fatale Weise der Kolonialpädagogik ähnelt. Als politische und kulturelle Umerziehungsmaßnahmen zielen die Integrationskurse mit ihren Defizitannahmen in spezifischer Weise auf postkoloniale MigrantInnen ab. Sowohl außereuropäische People of Color als auch muslimische EinwanderInnen stehen mit ehemals kolonialisierten geographischen Regionen oder peripheren Räumen in Verbindung und sind mit tradierten kolonialrassistischen beziehungsweise orientalistisch-islamophoben Zuschreibungen konfrontiert. Daher sind (post-)koloniale Kontexte, Analogien und Konfigurationen im Konzept der Integrationskursverordnung bei der Analyse zu berücksichtigen. Integration als Akt politischer Kontrolle, kultureller Überprüfung und juristischer Zertifizierung wirft vor diesem Hintergrund besonders in seiner hoheitsamtlichen Form und massenwirksamen Funktion weitreichende Fragen auf. Sie betreffen sowohl die identitätspolitischen Selbstvergewisserungsstrategien der deutschen Dominanzgesellschaft als auch jenes (post-)koloniale Machtverhältnis, das sich in der selektiven Migrations- und Integrationspolitik artikuliert. Diese strukturellen Asymmetrien legen eine Untersuchung ihrer kolonialisierenden Effekte nahe. Von hier wäre es dann auch möglich, nach dem Zusammenhang von Migration, Integration und Nationalstaat im Kontext seiner historischen Genese und (post-)kolonialen Einbettung zu fragen (vgl. ausführlicher Ha/Schmitz 2006). In dieser politischen Gemengelage gehen Abschottungsstrategien

276 | Kien Nghi Ha mit Fragen nach einer gleichberechtigten Vergesellschaftung im politischen und sozialen Bereich sowie einer Anerkennung kultureller Differenzen einher. Ebenso unzweifelhaft ist, dass durch den weiteren Zuzug staatlich geförderter VIP-MigrantInnen wie auch illegalisierter Menschen Fragen gesellschaftlicher Marginalisierung beim Umbau zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft immer dringlicher werden. Obwohl Verobjektivierungen von People of Color etwa als ›nützliches Humankapital‹ oder als abzuwehrende Bedrohung ein wichtiger Aspekt postkolonialer Migrationen sind, wirken diese Einwanderungen auch als kulturelles Rewriting auf die Zielgesellschaft ein. Sie kehren die koloniale Einbahnstraße um und schreiben sich in den sozialen und kulturellen Alltag der Metropolen ein. Dieses Zurückschreiben sowie die Verbreitung postkolonialer Diskurse haben dazu beigetragen, dass der Stellenwert migrantischer Kulturen sich verschoben hat. Früher wurden migrantische Kulturpraktiken fast ausschließlich auf die folkloristische Repräsentation ihrer nationalen Herkunftskultur festgelegt oder als pädagogisches Mittel der Sozialarbeit zur Bewältigung angeblicher Kulturkonflikte und Sozialisationsdefizite angesehen. In den letzten Jahren haben im anerkannten Kulturbetrieb wie in der Massenpopulärkultur Inszenierungen kultureller Vermischungen an Konjunktur und Überzeugungskraft gewonnen. Statt ethnisch-nationaler und kultureller Grenzen gewannen Prozesse der Grenzüberschreitung und die Hinterfragung festgelegter Identitäten an Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist die postkoloniale Kritik wie das neu entflammte Interesse an kolonialen Machtverhältnissen als kulturelles Rewriting im keineswegs neuen Zeitalter globaler Migrationen zu verstehen. Daraus ergibt sich auch die Auseinandersetzung um ein anderes Geschichtsverständnis: Geschichte nicht als offenes und dynamisches Feld zu begreifen, bedeutet die Aktualität kolonialer Präsenzen als Fragestellung nicht anzuerkennen oder zuzulassen. Bisher werden auch in der kritisch intendierten deutschen Rassismusforschung die kolonialen Ursprünge und Elemente rassistischer Herrschafts- und Gewaltformen nur unzureichend beachtet und in den Analyserahmen einbezogen. Die historische Materialität und Verschränktheit kolonial-rassistischer Macht- und Ausbeutungspraktiken zu übersehen, trägt dazu bei, die Chancen für ein vertiefendes Verständnis heutiger Konfliktlagen nicht zu nutzen. Gerade aus der Verschränkung unterschiedlicher Zeitlichkeiten und der Überlappung räumlicher Interaktionsprozesse ergeben sich jedoch neue Einsichten und politische Ansatzpunkte der gesellschaftlichen Intervention.

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Subalternität, Differenz und Ethnisierung – Problematiken Postkolonialer Theorie im Kontext politischer Transformation Ceren Türkmen In der Debatte um Formation und Kritik gegenwärtiger Gesellschaftsverhältnisse werden seit den 1980er Jahren immer stärker Kategorien wie Differenz, Fragmentierung und Diversität eingesetzt. Kollektiver Ausgangspunkt der Diskussionen sind einerseits Transformationen und Fragmentierungen gesellschaftlicher Verhältnisse seit dem Ende des »fordistischen Klassenkompromisses« und andererseits die Kritik an Konzepten, die sich auf die Klassenanalyse und die Politik der Klassenbildung im Namen einer Arbeiterklasse fi xierten. Für die Postkoloniale Theorie bezeichnet Differenz ein zentrales analytisches wie auch programmatisches Fundament. Aus der Perspektive der kulturellen Differenz versuchen postkoloniale TheoretikerInnen nicht nur sozialen Zeitdiagnosen näher zu rücken, sondern lehnen ausdrücklich auch vermeintlich allgemeingültige Kategorien der Sozial- und Erkenntniskritik wie auch der Ungleichheitsforschung ab. Um den sozialwissenschaftlichen Blick auf die Erfahrbarkeit sozialer Realität und auch die Handlungen sozialer Akteure zu verschärfen, knüpfen postkoloniale Analysen an Formen des kulturellen Partikularismus an. Es ist der Anspruch einer kritischen Kulturanalyse, das postkoloniale Motiv als Epistemologiekritik an dominanten westlichen Wissenschaftstheorien in den 1970er und 1980er Jahren zu verdeutlichen, die sich stark auf staatliche, politische und sozio-ökonomische Instanzen bezogen. Hierin liegt die Besonderheit des postkolonialen Projekts für eine soziologische Rezeption und gleichzeitig auch die Gefahr für

282 | Ceren Türkmen Leerstellen in der Erfassung von einerseits komplexen strukturalen Ungleichheitsproduktionen und widerständigen Praktiken gegen diese und von andererseits Transformationen gesellschaftlicher Machtverhältnisse im Kontext sozio-politischer Transformationen. Nicht von der Hand zu weisen sind Tendenzen im Umfeld Postkolonialer Theorie, soziale und strukturale Ungleichheiten in der Analyse von Subjektivierungsprozessen und Identitäten durch eine Kulturanalyse zu ersetzen, die verstärkt entlang von Kategorien von Ethnizität verläuft. Es mangelt an einer zusammenhängenden soziostrukturellen Zugangsweise auf das Soziale. Gleichfalls fordert dies Postkoloniale Theorie dazu heraus, ihre eigene theoretische Analysereichweite zu überprüfen. So bedarf es auch eines historisch-kritischen Bedenkens ihrer eigenen – wenn auch äußert heterogenen – Entwicklung im Rahmen globaler und akademischer Umbruchprozesse. Insbesondere in den seit Ende der 1990er Jahre dominierenden neoliberal geprägten Debatten um Diversity wird soziale Ungleichheit verstärkt de-thematisiert oder aber ›kulturalisiert‹ beziehungsweise ›ethnisiert‹. Im folgenden Beitrag wird versucht, die Grenzen und Chancen einer postkolonial informierten kulturkritischen Ungleichheitsforschung im Kontext politischer und gesellschaftlicher Transformationen auszuloten, die vor allem ihre historischen Wurzeln – die Subaltern Studies – einbezieht wie auch einen reflexiven Bezug zu hegemonialen Verhältnissen heute erarbeitet. Damit steht die Problematisierung der Frage im Vordergrund, warum gerade für eine kritische Analyse und Theorie von Subalternität angesichts einer neoliberalen Dominanz, die einen unvollständigen und flüchtigen Begriff von Diversität durchzusetzen versucht, eine Revision postkolonialer Kategorien notwenig ist. Zur Diskussion steht im Folgenden eine kritische, wenn nicht sogar eine nicht aufzuhebende, umkämpfte Dialektik von Differenz und Einheit als hegemonialer Prozess. Ferner soll diskutiert werden, weshalb die Antagonismen, für welche die postkoloniale Kritik zu sprechen deklariert, ohne eine Referenz zu sozialen Ungleichheiten und zu Verschiebungen gesellschaftlicher Konflikte, wie sie sich uns heute zeigen, eventuell verloren und auch verstärkt werden.

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Vom Sozialen hin zum Kulturellen? Anfang der 1960er Jahre etablierte sich gegenüber der struktural-ökonomischen Dominanz in den europäischen Geistes- und Sozialwissenschaften eine kritische, sich selbst als Korrektiv zu simplifizierenden ökonomistischen Gesellschaftsanalysen begreifende Position als sozialhistorischer Forschungszusammenhang um die Cultural Studies in Großbritannien. Von VertreterInnen der New Left initiiert vollzog sich in jenen Jahren allmählich der sogenannte cultural turn. Die konzeptuelle Wende ging mit einer analytischen Schwerpunktverschiebung von subjektlosen ›Strukturen‹ und theoretisch reduktionistischen ökonomischen Determinationen hin zur ›Gesellschaft‹, zum ›Sozialen‹ und zur ›Kultur‹ einher. Perspektivisch nahmen ForscherInnen den Blick subalterner Gruppen »von unten« ein und betonten hierauf auf bauend, dass Alltagsgeschichte und -kultur, sozial-historische Erfahrungen und kollektive Handlungen subalterner Gruppen als nachdrückliche Dimensionen einer Gesellschaftsformation zu analysieren sind. Sozialhistorische Ereignisse wie auch die Konstruktion von Sinn innerhalb von Handlungsprozessen rückten als Gegenstände für die Gesellschaftsforschung ins Zentrum (vgl. Hobsbawm 1965; E.P. Thompson 1987). Realhistorische Entwicklungen gaben Anlass zur Kritik und beeinflussten maßgeblich die Forschungen in den Cultural Studies, wie etwa das Auf kommen der Neuen Sozialen Bewegungen in den Umbruchzeiten vom »Golden Age of Capitalism« hin zum »Postfordismus«. Besonders E.P. Thompsons Analysen und Kritiken, die er durchaus auch als essayistisches Pamphlet gegen strukturalistische Ansätze verfasste (vgl. Thompson 1980), sorgten für großes Aufsehen. Im Rahmen seiner sozialhistorischen Analysen entwickelte er einen kritischen (Alltags-)Kulturbegriff, der zwischen materiell strukturalen Hierarchien und der symbolischen Tiefendimension gesellschaftlicher Machtverhältnisse aus der Akteursperspektive vermittelt. Zentral und besonders umstritten ist in diesem Zusammenhang sein Verständnis von sozialen Klassen. Entgegen einer ökonomisch-strukturalen und theoretisch-reduzierten Lesart vertritt er einen subjektorientierten und historischen Klassenbegriff, den er als einen aktiven, gruppenförmigen, politischen Handlungsprozess interpretierter Bedingungen in einer historisch spezifischen Phase versteht (vgl. Thompson 1980: 264ff.; vgl. hierzu als diskurstheoretische Ergänzung Stedman Jones 1983: 90ff.). Entgegen einer strukturalistischen Lesart gesellschaftlicher Entwicklungen, deren immanentes Szenario einem »äußerlichen Sachzwang« gleichkommt, analysiert er mit Blick auf objektive Rahmenbedingungen die subjektive Auseinandersetzung und Aneignung

284 | Ceren Türkmen von sozialen Gruppen mit diesen. Konstruktivistisch-poststrukturalistische Ansätze finden hier später einen zentralen Ansatzpunkt, auch wenn sie in der Fortsetzung tendenziell weniger einen historisch-materialistischen, sondern eher diskursiven und formal semiotischen Impetus verfolgen. Ende der 1980er Jahre hat sich die Akzentverschiebung in der Kulturanalyse in spezifischen Bereichen, wie in den Gender und Queer Studies und in der Migrations- und Ungleichheitsforschung methodisch in Richtung Diskursanalyse konzentriert und ist auch heute noch in unterschiedlichen Fächern wirksam.1 Sewell beschreibt diese Verschiebung folgendermaßen: »They all abstracted a realm of pure signification out from the complex messiness of social life and specified its internal coherence and deep logic. Their practice of cultural analysis consequently tended to be more or less synchronic and formalist.« (Sewell 1999: 51) Eley stellt diesen intellektuellen Prozess als Bewegung vom Sozialen hin zum Kulturellen dar und macht kritisch auf einen ideengeschichtlichen Wendepunkt von der Sozialgeschichtsschreibung hin zur diskursiven Kulturtheorie aufmerksam, in Folge dessen gesamtgesellschaftliche Prozesse in ihrer theoretischen wie auch empirischen Reichweite verstärkt unbestimmt bleiben (vgl. Eley 2005: 117). In Verbindung mit dekonstruktivistischen Ansätzen bildet eine diskursanalytisch informierte Erkenntniskritik ein zentrales Fundament innerhalb der Postkolonialen Theorie. Neben diesen Wendepunkten im akademischen Spektrum sind es auch gesellschaftliche Transformationen, die postkoloniale Kritik ihren eigenen Werdegang und ihre aktuell dominierende Ausrichtung – überprüfend soziale, politische und kulturelle Verdichtungen zu analysieren – herausfordern, gleichermaßen also Zentralität wie Grenzen postkolonialer Kritik verdeutlichen. Aktuell wird soziale Ungleichheit in weiten Teilen wissenschaftlicher Arbeitsprogramme, in Medien und in verschiedenen Bereichen von Politik (besonders in der Bildungspolitik) verstärkt im Zusammenhang mit kulturellen Differenzen thematisiert (vgl. Klinger/Knapp/Sauer 2007: 8ff.). Nicht selten erfährt dabei der Begriff des Kulturellen im Zusammenhang mit Migration eine Überdeterminierung in Gestalt des Begriffs der Ethnizität. Gerade in diesem Zusammenhang ist Postkoloniale Theorie gefragt.

1 | Vgl. zur diskurstheoretischen Kultur- und Sozialanalyse: Laclau/ Mouffe 1985; vgl. für den deutschsprachigen Kontext zur Einführung: Bachmann-Medick 2006; vgl. kritisch zur diskurstheoretischen Kulturanalyse Eley 2005; Nelson/Grossberg 1988.

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Kultur, Differenz und Hegemonie Postkoloniale KritikerInnen analysieren mit Verweis auf (post-)koloniale Strukturen in »peripheren« wie auch in metropolitanen Gesellschaften weiterhin hegemoniale, allerdings transformierte eurozentristische, imperialistische und rassistische Strukturen. In der deutschsprachigen Debatte Postkolonialer Theorie ist die geschichtswissenschaftliche2 Rezeption im Gegensatz zur kulturtheoretischen noch durchaus zögerlich (vgl. Bhabha 1994; Said 1978; McClintock/ Mufti/Shohat 1997; Rodríguez/Steyerl 2003; Castro Varela/Dhawan 2005). Mehr noch: Postkoloniale Theorie ist aus der Perspektive der sogenannten kulturellen Globalisierung im Hinblick auf mikrosoziologisch-empirische Analysen, das heißt die kulturellen Austauschformen und interaktiven Handlungen von sozialen AkteurInnen betreffend, zu einem viel beachteten Ansatz geworden. Semiotische und kulturwissenschaftliche Ausrichtungen Postkolonialer Theorie erfahren international eine breite akademische Rezeption und werden im europäischen Kontext unter anderem deshalb als theoretische Strömung innerhalb der Cultural Studies rezipiert. Die spezifische Ausrichtung ist der Durchsetzung einer speziellen Strömung innerhalb der als Vorläufer der Postcolonial Studies geltenden Subaltern Studies geschuldet, die unter anderem mit der Migration postkolonialer TheoretikerInnen aus den sogenannten ›Peripherien‹ in die Wissenschaftsakademien im ›Westen‹ und dem gestärkten Interesse an diasporischen Immigrantenkulturen – Stichwort Multikulturalismus und Arbeitsmigration – einhergegangen ist (vgl. Chatterjee 2006).3 Im Besonderen werden da2 | HistorikerInnen in diesem Feld diskutieren dominante westliche Geschichtsschreibungen aus transnationaler Perspektive als eurozentristisch und machen auf interdependente historiographische Verflechtungen aufmerksam. Sie wollen verdeutlichen, dass universalistische Ansätze sich nicht nur für die Gegenwart, sondern auch rückblickend für die Vergangenheit als wenig überzeugend erweisen (vgl. Chakrabarty 2000: 17; Conrad/Randeria 2002). 3 | Während die Subaltern Studies bis Ende der 1980er Jahre hauptsächlich in Indien rezipiert wurden, entwickelte sich deren globale Rezeption allmählich nach 1988. Einen maßgeblichen Diskussionsanstoß bot dabei der erste von Guha und Spivak herausgegebene Band der Selected Subaltern Studies (1988), in dem Said das Vorwort schrieb. Chaturvedi (2006) erkennt hier eine Verschiebung innerhalb der Subaltern Studies in Richtung semiotisch-dekonstruktive Epistemologiekritik. Betrachtet man die zahlreichen Projekte aktuell um diverse Subaltern Studies Forschungs-

286 | Ceren Türkmen bei Rassismus und Ethnisierung als Marker sozialer Ungleichheit und Subjektivierung in den Vordergrund der Analysen gerückt. 4 Im Rahmen geopolitischer Machtgefälle rücken Studien zu transkulturellen Austauschprozessen, zur Dekonstruktion kultureller Ideologien und zu Produktionen lokaler kultureller Identitäten in den Vordergrund. Der Begriff der Differenz in der Postkolonialen Theorie hat in der konkreten Betonung realhistorische Gründe. Aus dieser Perspektive sollen einseitige und vermeintlich allgemeingültige Analysekategorien für gesellschaftliche Transformationen in Bezug auf geschlechtsspezifische wie auch ethnische Differenzen innerhalb eines Nationalstaats wie auch angesichts internationaler Arbeitsteilung reflektiert und kritisiert werden. Darüber hinaus gilt es reduktionistische Sozialtheorien wie auch Ungleichheitsanalysen zu kritisieren, die einen ökonomischen Klassismus in Theorie wie auch dann in der politischen Praxis verfolgen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, worin Vorteile einer soziologischen Rezeption postkolonialer Ansätze liegen: Die Perspektive konzentriert sich stärker auf die agency sozialer Akteure: die soziokulturelle Lebensweise, multiple Unterdrückungserfahrungen wie auch widerständiges Handeln und gruppenübergreifende Austauschformen. Angesichts eines kulturalistischen Rassismus einerseits und Distinktionskämpfen andererseits sollen Bewusstseins- und Subjektivierungsformen subalterner Gruppen erforscht werden. Angemessene Berücksichtigung finden hierbei gesellschaftliche Praktiken und kulturelle Austauschprozesse. Allerdings wird auch immer deutlicher, dass gerade auf dieser methodologischen Ebene kulturalistische Tendenzen in weiten Teizusammenhänge, sollte ergänzt werden, dass sich die Untersuchungsgegenstände auch wieder in Richtung akteursorientierter Kulturanalyse bewegen (vgl. www. subalternstudies.com; letzter Aufruf: 7.02.2009). Die Meinungen zum sogenannten Paradigmenbruch in der Literatur variieren. Einige machen keine genaueren wissenschaftstheoretischen Unterschiede, andere hingegen sprechen von einem Paradigmenbruch (vgl. Prakash 1994). 4 | Der Intersektionsansatz liefert ausgehend von der Trias Rasse/ Ethnizität, Klasse, Gender als zeitdiagnostisch integrale Methode und Kritik besonders in der gesellschaftstheoretisch informierten Geschlechterforschung auf internationaler Ebene eine weiterführende Antwort auf Problematiken einer kohärenten Analyse sozialer Ungleichheit. Kategorien wie »Rasse« beziehungsweise Ethnizität sind programmatisch seit Ende der 1980er Jahre integriert. Nicht zuletzt aufgrund der antirassistischen Kritik an der Marginalisierung nicht-weißer und interessanterweise gleichzeitig auch nicht-bürgerlicher Frauen (vgl. hooks 2000).

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len postkolonialer Analysen zunehmen (vgl. kritisch hierzu: Spivak 1999: 260f; Ahmad 1992; Conrad/Eckert 2007: 22f.). Analysen, die soziale gesamtgesellschaftliche Faktoren und strukturelle Ungleichheiten im Rahmen einer Einbezugnahme kapitalistischer Produktionsverhältnisse berücksichtigen, in denen stets widersprüchliche kulturelle Aneignungs- und Distinktionskämpfe stattfinden, werden eher marginal. Gleichermaßen ist in der aktuellen Analyse und Kritik sozialer Ungleichheit besonders der postkoloniale Ansatz im Hinblick auf internationale Machtverhältnisse und innergesellschaftliche Hierarchien gefragt. Gerade die Kritik eines ökonomischen Reduktionismus und das differenzsensible Interesse an kulturellen Handlungen als widersprüchliche Felder versprechen wichtige Erträge. Besonders spannungsreich wäre eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Konjunktur einer Kulturalisierung und Ethnisierung sozialer Ungleichheit parallel zur Reproduktion strukturaler Machtverhältnisse angesichts der Diskussionen über Armut, Arbeitslosigkeit, soziale Unsicherheit und der Kriminalisierung besonders migrantischer Armut. Eine sozialkritische und gesellschaftstheoretische (metatheoretische) Rückbindung bleibt bei monokausalen, sich auf die kulturelle Ebene beziehenden Analysen hingegen problematisch (vgl. Adorno 1975). Dieser Zusammenhang stellt für postkoloniale Analysen, die ihren Geltungsanspruch für eine Gesellschaftskritik einzulösen streben, weiterhin eine Herausforderung dar. Insbesondere wenn die aktuelle Zusammensetzung sozialer Kräfteverhältnisse und die multikulturelle Politik der kulturellen Anerkennung und Differenz nicht mit einer sozialen Anerkennung und Umverteilung einhergeht, sondern teilweise stärker neoliberale Deregulierungspolitik zu stärken scheint. Demnach ist auch staatliche Politik, die Interessen selektiv und regulierend aufnehmen kann, indirekt im Fokus postkolonialer Kritik, um postkoloniale Kritik im Rahmen einer Theorie der gesellschaftlichen Regulation einordnen zu können (vgl. Demirović/Pühl 1998: 233). Hierbei wäre eine empirische Aufschlüsselung des Begriffs der Hegemonie bedeutsam. Obwohl in postkolonialen Ansätzen an vielen Stellen auf den Begriff der Hegemonie bei Gramsci zurückgegriffen wird, bleibt dessen Berücksichtigung als historisch spezifische wie auch instabile Kompromissbildung zwischen sozialen Klassen und Gruppen in der Zivilgesellschaft, die zwischen gesellschaftlichem Produktionsapparat und staatlich-politischem Apparat angesiedelt ist, intransparent (vgl. Gramsci 1991: 410f.; Hall 1989: 71f.; Adolphs/Karakayalı 2007: 131). Im Zuge der diskurstheoretischen und kulturalistischen Wende erlebt der Begriff der Hegemonie in spezifischen Lesarten eine Modifikation, die

288 | Ceren Türkmen meines Erachtens auch für den Mangel soziostruktureller wie auch politischer Momente in postkolonialen Ansätzen bezeichnend ist. Hier wird Hegemonie tendenziell mit ideologischer beziehungsweise nicht gewaltförmiger Dominanz von diskursiv-symbolischer Macht gleichgesetzt (vgl. kritisch zum Wandel des Hegemoniebegriffs: Hall 2000: 52). Bei Gramsci sind Diskurs und Sprache Mittel, um politische und ideologische Vorherrschaft herrschender Klassen als Allianz von Klassenfraktionen über subalterne Gruppen zu sichern. Der Begriff umfasst eine komplexe Einheit politischer, ökonomischer, sozialer und auch kultureller Kräfte. Als Komplex von Vorgängen und Tätigkeiten bezeichnet er kulturelle Prozesse und Praktiken, die jeweils mit konkreten Kräfteverhältnissen zusammenhängen (vgl. Gramsci 1996: 1556ff.). In diesem Sinne argumentiert zum Beispiel Hauck (2006a: 188), dass Macht-, Herrschafts- und Klassenverhältnisse nicht einfach Faktoren sind, die man neben – im Sinne von additiv – dem kulturellen Feld noch berücksichtigen müsste, um eine adäquate Gesellschaftstheorie zu erhalten. In einem hegemoniekritischen Kontext würden kulturelle Austauschformen innerhalb von sozialen Kräfteverhältnissen als soziale Distinktionskämpfe analysiert werden. So betont zum Beispiel Bourdieu (2001) die Bedeutung des kulturellen Feldes als 1) soziales Distinktionsfeld zwischen sozialen Gruppen, als 2) Austragungsort gesellschaftlich-politischer Kämpfe und als 3) Reproduktionsort sozialer Hierarchien. Die Entkopplung des Zusammenhangs zwischen sozialer Ungleichheit und strukturalen Herrschaftsverhältnissen auf der einen Seite und Kultur auf der anderen Seite ging historisch mit einer Konzentration von Konzepten um Differenz, Ethnizität und Hybridität einher. Ausgangspunkt für diesen thematischen Zugriff ist das Bemühen, das Verhältnis zwischen kultureller Homogenisierung und Herausbildungen von Differenzen im Zuge der Globalisierung auf verschiedenen raum-zeitlichen Ebenen zu erfassen. Wie jedoch das Verhältnis zwischen Produktionen von Identitäten, Aneignungskonflikten um diese und Transformationen kapitalistischer Verhältnisse konkret aussieht, bleibt zu fragen. Einen Hinweis hierzu liefert zum Beispiel Dirlik, der auf einen historisch grundlegenden Wechsel im dominierenden Verständnis von Differenz aufmerksam macht. Kulturelle Differenz als Konzept erlebt demnach erst seit dem späten 20. Jahrhundert eine Bedeutungsverschiebung. Im 19. Jahrhundert wurden kulturelle Differenzen im Zuge des Kolonialismus mit einer globalen Streuung westlicher Normen und kultureller Verständnisse eher negiert beziehungsweise degradiert. Die Perspektive der Globalisierung geht derzeit mit einem politisch inszenierten Projekt einer

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sogenannten kulturellen Globalisierung einher, welches kulturelle Differenzen im Rahmen von »Diversity Management Programs« zu regulieren versucht. Dieses vordergründig als Versöhnungsprozess von und für Bildungsbürger – ob mehrheitsdeutsch oder mit »Migrationshintergrund« – arrangierte Projekt im Westen zeigt sich auf den zweiten Blick als Fortsetzung einer neoimperialistischen Weltaufteilung. Dirlik betont, dass auf dieser Ebene weiterhin in als längst überwunden beziehungsweise dekonstruiert geglaubten primordialen Kategorien gedacht wird; wie etwa in Begriffen der »Nation«, »Kultur« und »Ethnizität«. Darüber hinaus kritisiert er, dass transformierte Ungleichheitsstrukturen zwischen dem ›Westen‹ und dem ›NichtWesten‹ zugunsten der kulturellen Differenzperspektive in den Hintergrund getreten sind (vgl. Dirlik 2007: 184).

Differenz und neoliberale Transformation – neue Verdichtungen? Gesellschaftliche Reproduktion und Hegemonie werden in sozialen Auseinandersetzungen immer wieder neu hergestellt (vgl. Thien 1998: 68). So ist auch die In-Wert-Setzung von Differenz5 und Ethnizität parallel zu sozialen Konstruktionen jeweils an soziale Kräfteverhältnisse und politische Strategien gebunden. Hiervon ausgehend markieren Diversitätspolitiken derzeit eine neue Konjunktur im Rahmen neoliberaler Transformationen. Dabei steigt die Anzahl neuer kulturpolitischer Förderprojekte wie auch Kulturproduktionen, in denen Migration im Zusammenhang mit Differenz und kultureller Transkulturalität behandelt wird. Immer deutlicher wird auch, dass im Rahmen von neoliberalen Regulierungsstrategien am Beispiel von unkritischen Diversity-Mainstreamingspolitiken soziale Ungleichheiten, staatsbürgerschaftliche Entrechtung und soziale Marginalisierung immer stärker de-thematisiert, entpolitisiert und auf kultureller Ebene individualisiert werden. Zudem versuchen spezifische Politisierungsweisen, zivilgesellschaftliche Netze wie auch Intellektuelle aus Kunst und Kultur, Diversity als Konzept und Idee verstärkt als zeitgeistliche Herausforderung zu begreifen, was es ohne Zweifel auch ist. Die mit dem Ansatz der Differenz unmittelbar vernetzte Frage nach sozialer Gleichheit, Gleichbehandlung und Gleichstellung bleibt 5 | Ich werde nicht näher auf die Debatte um Gleichheit und/oder Differenz in ihrer historischen Entwicklung eingehen. Vgl. hierzu ausführlich Maihofer 1998.

290 | Ceren Türkmen auf dieser Ebene allerdings noch ungeklärt. »Diversity als Chance«, so lautete der Titel des ersten Fachkongresses zum Thema »Diversity Management« am 5. Dezember 2007 unter der Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin. Die Universität Wien richtet ein Webportal zum Diversity-Management ein und an verschiedenen deutschsprachigen Universitäten werden neue Fort- und Weiterbildungsstudiengänge zu »Diversität« institutionalisiert.6 2000 beschließt der Europarat auf europäischer Ebene die Erklärung des Ministerkomitees zur kulturellen Vielfalt. 2001 veröffentlicht die UNSECO eine allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt. Demnach soll auf institutioneller Ebene eine globale Politik für eine gesetzlich bindende, weltweite Übereinkunft zur kulturellen Vielfalt verfolgt werden (vgl. Prets 2003). In der Folge erklären unzählige politische Organisationen und Netzwerke Maßnahmen zur kulturellen Vielfalt und Gleichbehandlungsgrundsätze (vgl. Richtlinie 2000/43/EG). Auch auf wirtschaftlicher Ebene setzt sich der Trend einer Kulturpolitik der Differenz fort. Mit dem Motto der »Entmaterialisierung von Ökonomie« werden tendenzielle Verschiebungen im Wirtschaftssystem vom materiellen Industriesektor hin zum informationstechnologischen Kommunikations- und Kreativitätsbereich bezeichnet. Auch wenn die Thesen in diesem Zusammenhang empirisch genauer überprüft werden müssen, schneiden sie eine Thematik an, die unmittelbar im Zusammenhang zu Diversitätspolitiken steht. Das Europäische Parlament hält zur Kulturwirtschaft in der EU fest, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union im Rahmen der heutigen sogenannten »postindustriellen Wirtschaft« besonders durch den Kultur- und Kreativsektor gestärkt werden soll. Der Kultur- und Kreativsektor sei mit 654 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2003 in der Europäischen Union eine neue Wachstumsbranche und bilde die Grundlage einer dynamischen, wissensbasierten Wirtschaft.7 Kultur, Ethnizität und Migration werden vor diesem Hintergrund im Zuge neuer rassistischer und ethnisierter Ordnungszusammenhänge in kulturalistischer Lesart verstärkt als sogenannte kulturelle Herausforderung für Einwanderergesellschaften deklariert. Beson6 | Vgl. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2007); (vgl. www. univie.ac.at/diversity/php/; letzter Aufruf: 7.02.2009). 7 | Vgl. die Erklärung des europäischen Parlaments zur Kulturwirtschaft: http://europa.eu/bulletin/de/200804/p12 2005.htm sowie aktuelle Daten zur Kreativ-Industrie in der EU: www.european-creative-industries. eu).

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ders in der Populärkultur ist der weitläufige Mythos der »pleasures of hybridity« (vgl. Malik 1996) spätestens seit Anfang der 1990er Jahre angekommen. Die Problematisierung und Assimilation von MigrantInnen steht hier schon längst nicht mehr allein im Vordergrund der Bemühungen. Stattdessen wird nun neben den Viktimisierungs- und Kriminalisierungstendenzen auf eine selbstbewusste und multikulturelle Einsetzung ethnischer und kultureller Differenz gesetzt. So herrscht in der deutschsprachigen Kulturproduktion eine große Nachfrage nach »multikulturellen« Alltagspraxen und insgesamt nach kultureller Differenz, wobei auch immer stärker auf intellektuelle MigrantInnen als ManagerInnen von Diversität zurückgegriffen wird. Dazu zählen etwa multikulturelle Radiosender oder regelmäßige TV-Programme. Mit speziellen Rekrutierungs- und Ausbildungsprogrammen werben öffentlich-rechtliche Sender gezielt um ModeratorInnen und JournalistInnen mit migrantischen Hintergründen. Die kulturindustrielle Vermarktung und In-Wert-Setzung kulturell-ethnischer Differenz zwischen Fordismus und Postfordismus hat sich in Deutschland maßgeblich verändert. Die Transformationen hängen im spezifisch deutschen Raum mit sozialpolitischen Entwicklungen zusammen, die durchaus auch mit Vereinnahmungen subkultureller Praktiken einhergegangen sind und antirassistischen Kämpfen Zugeständnisse machen mussten. Auf gesellschaftstheoretischer Ebene weisen die Umbrüche auf Veränderungen im hegemonialen Vergesellschaftungsmodus hin. Shohat/Stam stellen auf internationaler Ebene einen grundlegenden Wandel in der kinematographischen Repräsentation von MigrantInnen fest. Im Rückgriff auf ihre Analyse Multiculturalism and the Media (1994) rekonstruieren sie, wie sich eurozentrische und rassistische Ideologien im Zusammenhang mit Multikulturalismus in den Populärmedien durchsetzen und dort auf modifizierte Art perpetuiert werden.

Soziale Widersprüche Im nordamerikanischen Raum haben Diversitätspolitiken dieser Art schon eine längere Tradition. Dabei verlaufen die Diskussionen im sozialphilosophischen Kontext um die Anerkennungsansätze. Fraser etwa kritisiert in diesem Zusammenhang die subtile Verschiebung der Problematisierung und Bekämpfung sozialer Ungleichheit hin zu einer identitätslogischen Perspektive, der eine monokausale differenztheoretische Anerkennungslogik unterliegt. Nach Fraser wird eher dem demokratischen Prinzip nach formaler Chancengleichheit und

292 | Ceren Türkmen dem liberalen Leistungsprinzip Recht gebührt, als soziale Ungleichheit und die spezifische Betroffenheit sozial schwacher, illegalisierter wie auch rechtlich nicht integrierter Gruppen zu problematisieren – geschweige denn zu bekämpfen. Stattdessen könnte eine Verdrängung einer Politik der Verdrängung sogar zu »einer Verschärfung ökonomischer Ungleichheit beitragen« (Fraser 2003: 126). Sie schlägt eine konsequente Integration der Sphären von Anerkennung und Umverteilung im Rahmen eines perspektivischen Dualismus vor (vgl. ebd.: 72ff.). Eine spezifische Einsetzung kultureller Differenz und eine flüchtige Integration von Vielfalt werden in heutigen postfordistischen Gesellschaften unter dem Diktat neoliberaler Politik konstitutiv. Nicht selten verstecken sich hinter identitätspolitischen Thematisierungen auch soziale Klassenprobleme, wie etwa am Beispiel der Diskussionen über soziale Brennpunkte, »Parallelgesellschaften«8 und bildungsferne wie auch kriminalisierte migrantische Jugendliche immer deutlicher wird (vgl. Beaud/Pialoux 2003; Wildcat 2005). Andererseits bleiben im Zuge radikaler Prekarisierungsprozesse und der Diskussionen um diese weiterhin die partikulare Betroffenheit von MigrantInnen, rassistische Diskriminierungen, asymmetrische Integrationsformen und Entrechtungsprozesse von MigrantInnen unberücksichtigt. Gerade wenn Prekarisierung und Verarmungstendenzen neben bildungsfernen Milieus und Arbeiterfamilien am stärksten MigrantInnen betreffen, wird eine einseitige Reflexion über kulturelle Diversität zu einem defizitären Programm. Dass es in einer Klassengesellschaft keine sogenannten ›reinen‹ und ›einfachen‹ Klassenfragen gibt, ist wohl bekannt. In einem weiteren Gedankengang ist jedoch festzuhalten, dass insbesondere mit Blick auf die rassistische Hierarchisierung der Gesellschaft im Anschluss an die Gastarbeitsmigration in Europa und die formale Dekolonialisierung nicht-klassenbasierte Machtverhältnisse und Unterdrückungsverhältnisse immer in einem spezifischen Verhältnis zur kapitalistischen Produktionsweise stehen (vgl. ausführlich hierzu Demirović 2007: 127ff.). 8 | Ohne an dieser Stelle näher auf die gravierende Problematik im Begriff »Parallelgesellschaft« eingehen zu können, soll kurz betont werden, dass der begrifflich-politische Verweis auf eine anscheinend neben einem dominierenden und allgemeingültigen Gesellschaftskörper als Maßeinheit existierende Gemeinschaft verdrängt wird, dass die räumliche wie auch sozio-kulturell isolierte migrantische Gruppendynamik ein die ganze »deutsche« Gesellschaft, Politik und Ökonomie betreffendes soziales Produkt ist; folglich Begriffe wie »Parallelität« daran scheitern, die Problematik im Kern zu bezeichnen.

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Postfordistische, flexible Akkumulationsweisen zeichnen sich dadurch aus, so bekräftigt Hall, dass hegemoniale Klassen oppositionelle Kräfte durchaus in Machtprozesse integrieren können und ein unter neoliberaler Ideologie verbreiteter Differenzkonsum im globalen Markt als »kultureller Warenrassismus« fungiert (Hall 2004: 123; vgl. für den deutschsprachigen Raum Türkmen 2008). Das Verharren auf kulturellen Identitäten als lokale Partikularismen wird auf diese Weise in einem bestimmten Ausmaß in (trans-)nationale Machtverhältnisse integriert. Während auf wissenschaftlicher Ebene, besonders in der postkolonialen Kritik, mit dem konstruktivistischen Ansatz darauf aufmerksam gemacht wird, dass kulturelle Identitäten sozial konstruiert und somit auch immer Produkte und Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Definitionskämpfe sind, werden im Rahmen der multikulturellen Ideologie weiterhin essentialistische Kulturverständnisse reproduziert. Nicht zuletzt führt die Verschiebung zu einer Ethnisierung sozialer Phänomene, was zur Desartikulation sozialer Widersprüche beiträgt und die Beziehung zwischen Universalismus und Partikularismus monokausal auf hebt. So machen Balibar/Wallerstein (1988) schon früh auf eine Verbreitung eines kulturalistisch argumentierenden differenzialistischen Rassismus und auf Verschiebungen und Fragmentierungen gesellschaftlicher Klassenkonflikte in Frankreich im Zuge der Arbeitsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg aufmerksam. Gerade diese spezifische Form des Rassismus konnte sich besonders in den Mittelschichten vor dem Hintergrund der kollektiven Erfahrung von Faschismus, Antisemitismus und Rassismus als anschlussfähig erweisen. Die Autoren betonen die Entstehung und den Zusammenhang zwischen ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen und Fragmentierungsprozessen, hierarchisierten nationalstaatlichen Integrationsformen und kulturellen Überdeterminierungen, die sich angesichts sozialer Transformationen heute gewiss mit neuen Formen zeigen.

Postkoloniale Herausforderungen der Analyse sozialer Ungleichheit – Artikulationen Das Projekt postkolonialer Kritik befindet sich angesichts aktueller Transformationen und gesellschaftlicher Umbruchprozesse, in denen etwa der emanzipatorisch und kritisch intervenierte Begriff der Differenz nicht an sich mit politisch-emanzipativer Subalternität, Gegenhegemonie und Subversion gleichzusetzen ist, in einer prekären Phase: als kritisches Projekt herrschender Rationalitätsparadigmen gilt

294 | Ceren Türkmen es nun zu überprüfen, in welche Richtung Postkoloniale Theorie im Rückgriff auf präzise Analysen gesellschaftlicher Transformationsprozesse und in der Neuordnung von Kräfteverhältnissen heute erweitert werden kann, um weiterhin am kritisch-emanzipativen Gehalt einer engagierten Wissenschaft festzuhalten. Anzeichen für eine kritische Diskussion postkolonialer Kritik finden sich schon früh bei Spivak. Sie kritisiert verstärkt Kulturalisierungstendenzen im Postfordismus auf wissenschaftlicher und politischer Ebene, die zugunsten multikultureller Elite-MigrantInnen im Westen verlaufen wie auch die Stabilisierung hegemonialer Politik sichern (vgl. Spivak 1999: 309). Aktuelle soziale Entwicklungen zeigen, dass Kategorien wie Geschlecht und Ethnizität in sozialer, ökonomischer und politischer Hinsicht in Veränderung begriffen sind. Analysiert werden sollten aktuell nicht nur die Neuzusammensetzung subalterner Gruppen, sondern auch die Veränderungen in der sozio-kulturellen Lebensweise, in den Transformationen der Reproduktion wie auch der politischen Formen ökonomischer Herrschaft. Formale Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen sozialen Klassenlagen und Kategorien wie Ethnizität und Geschlecht müssten empirisch auf die konkrete Bestimmung hin analysiert werden. Die derzeit in der postkolonialen Kritik wie auch in anderen Ungleichheitsanalysen dominierende Tendenz, sich auf kulturell-ethnische Lebensweisen zu konzentrieren, blendet die soziale Klassenlage und die objektiven Lebensbedingungen von Individuen aus. Darüber hinaus verfällt diese Perspektive einer weiteren Problematik. Während der sozialkonstruktive Charakter von Ethnizität betont wird, tendiert eine rein auf ethnischen Kategorien basierende Zugangsweise zu einer Verdinglichung sozialer Akteure und einem Gruppismus, etwa einer Ethnisierung von sozialen Akteuren (vgl. kritisch Brubaker 2004). Das heißt, dass etwa eine ethnische Zuordnung, die immer in sich ethnisierend ist, als verdichteter Zusammenhang innerhalb von Subjektivierungsprozessen nicht unabhängig von staatlich-organisierten Raum-Zeit-Verhältnissen und sozialen Klassenlagen gedacht werden kann. Weiterhin ist aber in Bezug auf die kulturelle Lebensweise Ethnizität in ihrer sozialen Wirksamkeit als Erfahrung bedeutsam. Das bedeutet, dass das Verhältnis zwischen Differenz (Ethnizität/Geschlecht/Klassenlage) und Universalität (kapitalistische Akkumulation und Regulation) als soziales Verhältnis einer genaueren zeithistorischen Analyse unterzogen werden sollte. Für allgemeine zeitdiagnostische Gesellschaftsanalysen kapitalistischer Akkumulations- und Regulationsverhältnisse bedeutet dies umgekehrt, Geschlechterverhältnisse (Lohnarbeit – Reproduktionsarbeit)

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und Ethnizität/Rassismus (Internationale Arbeitsteilung – Nationalstaat) in die Analysen theoretisch und empirisch einzubeziehen (vgl. Aulenbacher 2007; Bojadžijev 2008). Das konkrete Verhältnis zwischen Differenz und Universalität bedarf demnach einer genaueren Klärung. Besonders dann, wenn – wie oben gezeigt wurde – Differenz auch aus politisch-regulierender Perspektive derzeit kulturalisiert und soziale Ungleichheit dadurch de-thematisiert beziehungsweise ethnisiert wird. Ethnizität ist als Ware und Ressource auf den Markt und in die Kulturpolitik geworfen, die fortan zu verwalten ist. Regulierunspolitiken setzen eine affirmative Identitätspolitik in Szene, die sogar zu einer neuen Regierungsrationalität wird (vgl. Sauer/Wöhl 2008). Dabei reartikulieren neue politische Maßnahmen auch selektiv Forderungen antirassistischer Kämpfe. Die soziale Frage, die sich angesichts massiver sozialer Verarmungs- und Segregierungsprozesse sozial schwacher MigrantInnen in Deutschland geradezu aufdrängt, wird de-thematisiert und »Integration« als individualistisch-kulturelles Eingliederungsvorhaben inszeniert. Das strategisch motivierte Festhalten an essentialistischen Kategorien in Form von Identitätspolitiken, die als »strategische Essentialismen« bezeichnet werden, steht vor der widersprüchlichen Situation zwischen Vereinnahmung und Emanzipation. Hall etwa sieht schwarze Kultur nicht nur per se als schwarze Kultur, sondern als schwarze populare Kultur. Unter diesen Vorzeichen können gleichermaßen rassistische wie auch sozialstrukturelle Elemente in der Kulturanalyse berücksichtigt werden. Erst in diesem Kontext kann erfahren werden, inwiefern Kultur eingebettet ist in gesellschaftliche sozio-strukturelle wie auch semiotische Macht- und Herrschaftsverhältnisse. »Und natürlich wurde die Tatsache verschwiegen und nicht anerkannt, dass die USamerikanische Popularkultur immer – ob totgeschwiegen oder nicht – Elemente schwarzer US-amerikanischer Alltagskultur enthielt.« (Hall 2000: 99) Demnach befindet sich angesichts der neuen Kulturpolitiken der Differenz das Projekt der Differenz und Identitätspolitik in einem Widerspruch: Jede Form der neuen Sichtbarkeit und politisch-kulturellen Artikulation ist selektiv, reguliert und geht mit einer Verschiebung des Machtgleichgewichts innerhalb einer gesamten Gesellschaft einher. Obwohl Diversity-Mainstreamingspolitiken im Rahmen neoliberaler Umstrukturierungen im Zenit nicht nur politischer, sondern auch kultureller Regulierungsmaßnahmen stehen, gilt es weiterhin am Konzept der Partikularität im Sinne postkolonialer Kritik festzuhalten; diese sollte allerdings, um die gesellschafstheoretischen Zugänge und die konkreten interkategorialen Ungleichheitsproduktionen und -erfahrungen zu verstehen, vor dem Hintergrund

296 | Ceren Türkmen einer Kritik hegemonialer Gesellschaftsformationen verlaufen, die Sozialstrukturen, kulturelle Vorherrschaft wie auch kapitalistische Produktions- und Organisationsweisen berücksichtigt; nicht zuletzt um Transformationen kohärent nachzuvollziehen. Kritische Gesellschaftsforschung sollte aktuell besonders an der antikategorialen De-Essentialisierung eines widerständigen Subjektbegriffs vor dem Hintergrund der Diskussion um Subalternität festhalten und hier weiterdenken. So zeigen sich erste Auswirkungen der strukturellen Produktion von Armut, der radikalen Prekarisierung auf dem Arbeitsmarkt und rassistischen Formen von Segregation in den urbanen sozialen Brennpunkten hinsichtlich Neuzusammensetzungsprozessen sozialer Bewegungen und Kämpfe. Prekarisierungsprozesse und der Abbau des fordistischen Wohlfahrtsstaates führen in den Sozialwissenschaften dazu, die soziale Frage wiederzuentdecken. Und gerade hierin liegt das besondere Potential Postkolonialer Theorie, die ihre Kritik nicht nur gegen makrostrukturelle Prozesse richtet, sondern auch stärker auf die Handlungsebene sozialer Akteure und auf gegenhegemoniale Kämpfe und subalterne Artikulationen eingeht, wie sie etwa bei den Subaltern Studies im Sinne einer Sozialgeschichte »von unten« im Zentrum standen. Heute, angesichts dominierender Prekarisierungsdiskurse, kann der Begriff der Subalternität Anschlusspunkte für eine kritische Gesellschaftsanalyse wie auch für soziale Bewegungen liefern. In diesem Zusammenhang bieten die Subaltern Studies einen zentralen Beitrag, indem sie auf die Kämpfe und distinkten partikularen Kulturen subalterner Gruppen aufmerksam machen. Sie kritisieren einen statischen Klassenbegriff, der nicht alle ausgebeuteten Stimmen zu inkorporieren fähig war. So wäre es auch weiterführend, fordistische und postfordistische Gesellschaftsformationen aus der Perspektive subalterner Gruppen zu interpretieren. Wie sieht die feministische Kritik des Prekarisierungsprozesses und die Sicht auf den »fordistischen Klassenkompromiss« aus? Welche Rolle spielte das »Gastarbeiterregime« als spezifische Form internationaler Arbeitsteilung zu Zeiten des fordistischen »sozialen Klassenkompromisses« (vgl. Karakayalı/Tsianos 2002: 247)? Welche subalternen Kämpfe waren die gewerkschaftlich organisierten Arbeiterkämpfe nicht in der »Lage« aufzunehmen? So stellt sich auch die Frage, ob Subalternität eine postkoloniale Entscheidung für den Klassenbegriff ist (Steyerl 2005). Die Frage nach Subalternität ist heute im Anschluss an Gramsci und die Subaltern Studies (wieder-)entdeckt und wahrlich nicht geklärt, weder auf wissenschaftlicher noch auf politischer Ebene. Sie gilt es heute empirisch zu entschlüsseln, denn: »[T]he tried and true

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iconography of the old skilled white male worker becomes not just the repetition of old exclusions but also a serious distortion of how the working class is currently being made.« (Eley/Nield 2007: 3) Differenzen sind, an die antirassistische und feministische Kritik im Sinne eines Lernprozesses anschließend, nicht unter universale Kategorien subsumierbar. Letztere zu verdrängen, wäre ebenso kurzsichtig. Die Frage nach dem Partikularen und Universellen ist weder unschuldig auf abstrakte Idealtypen reduzierbar noch auf hebbar. Form und Inhalt verdichten sich als soziale Verhältnisse in der materiellen Erfahrung und Existenz, weshalb parallel zu objektiven Momenten gerade der umkämpfte Bereich der subjektiven Aneignung und Lebensweise aufschlussreich ist. Das Spannungsverhältnis gilt es in seiner konkreten materiellen Verdichtung im Hinblick auf das hegemoniale politische Regulierungsprojekt hin zu analysieren, und in dieses aus jeder subalternen Fraktion heraus zu intervenieren. Wenn es um die Neuzusammensetzung politischer Subjekte geht, so ist die Frage danach auch immer eine Hegemoniefrage zwischen Universalismus und Partikularismus, somit auch schon längst über den theoretischen Kern im Bereich der Praxis angelangt, so wie es auch dem Kerngedanken postkolonialer Kritik entspricht.

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Mission Impossible: Postkoloniale Theorie im deutschsprachigen Raum? María do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan Insoweit Postkoloniale Theorie als ein Versuch betrachtet wird, eine interdisziplinär kritische Perspektive zu etablieren, ist es spannend danach zu fragen, inwieweit ihre Interventionen einzelne, konkrete Disziplinen herausgefordert haben. Dagegen lesen wir Postkoloniale Theorie als ein anti-disziplinäres Feld, insoweit sie nicht nur die Rolle, die spezifische Disziplinen im Rahmen kolonialer Herrschaftssysteme gespielt haben, aufdeckt, sondern auch zeigt, wie diese – zuweilen unwillentlich – neokoloniale epistemische und materielle Beziehungen reproduzieren. Anstatt also eine rein historische Analyse anzustreben, welche die Verflochtenheit der Soziologie mit kolonialen Diskursen aufzeigt, geht es uns hier darum, aus einer feministisch-postkolonialen Perspektive aufzuzeigen, wie aktuelle Debatten versuchen, aus der Verquickung mit neokolonialen Diskursen zu entkommen und wie diese dabei scheitern (müssen). Wir beginnen hierfür mit einer kurzen Skizzierung der Entwicklungslinien Postkolonialer Theorie, um dann eine kritische Evaluation der deutschsprachigen Rezeption zu präsentieren. Die aktuellen Diskurse um Intersektionalität, die aufgrund ihrer Beschäftigung mit der Trias »race/class/gender« immer wieder im Zusammenhang mit Postkolonialer Theorie genannt werden, soll dabei eine besondere Fokussierung erfahren. Wir argumentieren hier, dass Intersektionalitätsansätze und speziell der uniformierte Gebrauch des Konzepts »Interdependenz« risikoreich sind, insoweit sie einem »methodologischen Nationalismus« (vgl. Martins 1974: 276) verhaftet bleiben. Darüber hinaus problematisieren wir jedoch auch den Einsatz eines methodo-

304 | María do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan logischen Kosmopolitismus im Sinne Ulrich Becks, der mit dem Versprechen antritt, den methodologischen Nationalismus innerhalb kritischer Sozialwissenschaften zu überwinden. Es gilt aufzuzeigen, dass in Anbetracht globaler Ungleichheiten ein Ruf nach Kosmopolitismus ins Leere laufen muss. Unseres Erachtens sollte eine Auseinandersetzung mit transnationaler Solidarität in der Lage sein, die Widersprüche und Aporien, die diese produziert, aufzuzeigen. Darüber hinaus glauben wir, dass die Resultate globaler ökonomischer Restrukturierungen, die wir als Versuch einer Re-Kolonisierung lesen, dazu aufrufen, Dekolonisierung mit Hilfe feministischer Postkolonialer Theorie neu zu denken (vgl. Castro Varela/Dhawan 2009; Dhawan 2009).

Postkolonial banal? Oder die Gefahr der Institutionalisierung von Imperialismuskritik »We are complicitious in the same exploitative modes of production we are so privileged as to be able to academically criticize.« (Bahri 1995: 77)

Nach über fünf Jahrzehnten politischer Unabhängigkeit der meisten ehemaligen Kolonien in Afrika und Asien und drei Dekaden postkolonialer Theoriedebatten erscheint es durchaus gewinnbringend, die aktuellen Herausforderungen Postkolonialer Theorie zu erörtern. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie postkoloniale TheoretikerInnen sich heute den Dekolonisierungs- und den damit zusammenhängenden Demokratisierungsprozessen stellen. Schnell wird dabei transparent, dass es ironischerweise mit jedem Jahr schwieriger wird, zu beschreiben, was den Postkolonialismus als Theorierichtung wirklich ausmacht. Und das obschon postkoloniale KritikerInnen die Entwicklung der Theorie weitestgehend positiv beurteilen. Es scheint unmöglich, eine einfache, allgemeingültige Definition zu geben, die bestimmen könnte, was de facto unter Postkolonialer Theorie zu verstehen ist. Der Begriff »postkolonial« widersetzt sich gleichsam einer exakten Markierung: Weder bezeichnet er eine spezifisch-historische Periode noch einen konkreten Inhalt oder gar ein klar bestimmbares politisches Programm. Wollten wir eine konstruktive Beschreibung wagen, so könnte Postkoloniale Theorie als eine Perspektive beschrieben werden, die sich auf der einen Seite dem Verlauf der Rekonstruktion des europäischen Imperialismus und Kolonialismus verschrieben hat und auf der anderen Seite die Kämpfe gegen diese spezifische Herrschaftsformation dokumentiert und analysiert, ohne dabei eine kohärente theoretische Intervention vorzugeben. Dabei bildet die Subjektwer-

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dung »neuer« politischer AkteurInnen, die erstmals im Rahmen der Dekolonisierung die Weltbühne betraten, einen markanten Fokus. Vielfach zielt die Kritik an Postkolonialer Theorie konkret auf die kulturelle Position und materielle Situation, in denen sich dieselbe herausgebildet hat. Insbesondere die Popularität des Begriffs »postkolonial« innerhalb westlicher akademischer Kontexte hat ihr dabei – nicht ganz zu Unrecht – den Vorwurf des Eurozentrismus eingebracht (vgl. etwa Ahmad 1992, San Juan 1996). Hinterfragt werden hier sowohl die Orte der Wissensproduktion – die Metropolen des Westens nämlich – als auch die direkten materiellen Effekte dieser Privilegierung. Es ist nicht zufällig, dass sich Postkoloniale Theorie im Laufe der Zeit von einer scharfen kritischen Theorie scheinbar zu einer »Karrierebeförderungsmaschine« (Bahri 1995: 71) gewandelt hat, womit der Verlust ihrer ethisch-politischen Positionierung einherging. Letztlich ist es die Marktfähigkeit des Konzeptes, welches das Misstrauen Vieler begründet. Spivak (1991a) spricht im Zusammenhang mit dem »postkolonialen Boom« gar von der Banalisierung der Imperialismuskritik, womit sie einerseits den Verlust politischer Schlagkraft beanstandet und andererseits die Produktion leicht vermarktbarer Theoriefragmente angreift. Was früher unter dem Label antirassistischer Politik, Migrationsstudien, Multikulturalismus, Ungleichheitsforschung oder Diversity Studien analysiert wurde, wird jetzt vielfach als »postkolonial« etikettiert und erhält allein damit schon eine Aura der Innovation. Altbekannte Betrachtungen erscheinen damit im quasi-neuen, aber eben depolitisierten Gewande. Was also häufig als postkoloniale Strategie bezeichnet wird, stellt zumeist nichts anderes dar als »nichtperformative« Widerstandsstrategien (vgl. Ahmed 2006). Nicht-performativ bedeutet hier, dass das Sprechen eben keine transformierenden Effekte zeitigt – die Kritik verpuff t und hinterlässt lediglich einen Nebel wohlklingender Sätze. So ist zu beobachten, dass der Begriff »postkolonial« häufig als Euphemismus für bedrohlichere Konzepte wie »Imperialismus« oder »Neokolonialismus« zum Einsatz kommt. In den Hochschulen der ›Ersten Welt‹ wünschen sich viele, ein Stück vom Popularitätskuchen Postkolonialer Theorie abzubekommen, was postwendend die Frage nach den Konsequenzen dieses Nimbus auf die Wissensproduktion aufwirft. Die KritikerInnen Postkolonialer Theorie, insbesondere jene, die nicht im Westen verortet sind (etwa Ahmad 1992) haben in diesem Sinne unentwegt betont, dass Postkoloniale Theorie paradoxerweise dem Westen dabei behilflich ist, seine Vergangenheit und Zukunft ›in Ordnung‹ zu bringen und damit insbesondere den Intellektuellen in der ›Ersten Welt‹ zur Ehre gereicht. Dieser Lesart folgend, haben wir es hier mit einer opportunistischen

306 | María do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan Mobilisierung des Begriffs »Postkolonialismus« im Dienste der Deplatzierung oder gar Löschung brisanter politischer Themen wie zum Beispiel dem der »Rekolonisierung« zu tun. Damit geht bedeutsamerweise eine Stabilisierung der internationalen Arbeitsteilung einher (vgl. Shohat 1992; McClintock 1995; Parry 2004). Kurzum, die Kommodifizierung Postkolonialer Theorie und der damit einhergehende unhinterfragte Konsum derselben geraten zu einem Alibi für politisch verhinderte und nichtsdestotrotz notwendige soziale Veränderungen im Sinne einer globalen Dekolonisierung. Breite Bevölkerungsteile im globalen Süden sehen sich zu Recht als ›Opfer‹ einer fortschreitenden und systematischen Entrechtung, die nichts anderes als eine weitere Form des Neokolonialismus darstellt. In Anbetracht dessen könnte zugespitzt gesagt werden, dass der Postkolonialismus im ›Bauch des metropolitanen kapitalistischen Biestes‹ konstant neu hergestellt und vermarktet wird, während der Begriff »postkolonial« die Ränder des globalen Süden reifiziert. Die zunehmende Sichtbarkeit Postkolonialer Theorie und derer, die sich mit dieser assoziieren, stehen dabei im direkten Kontrast zu den Gruppen, die durch diese repräsentiert werden. Weswegen Simon During den Einwand erhebt: »It is important not to forget that the postcolonial paradigm appeals largely to whites and diasporic […] intellectuals working in the West. […] I do not think there is a Maori word for ›postcolonialism‹.« (During 1992: 348)

Einer der kontingenten Effekte kolonialer Aufteilung des globalen Raums war die Etablierung der ›Ersten Welt‹ als produktivster Ort postkolonialen Widerstands. Der Dekolonisierungswettbewerb ist damit von den Peripherien hin zu den Metropolen verschoben worden (vgl. Said 1990: 30), die nunmehr als privilegierte paradigmatische Positionen postkolonialer Politik in Erscheinung treten. Der nonchalante Gebrauch der Terminologie tendiert im Grunde dazu, die materiellen und historischen Kontexte der ›Dritten Welt‹ zu ignorieren. Was wiederum die Frage auf kommen lässt, wie es sich mit den Unterschieden zwischen den akademischen und revolutionären Praxen im Interesse sozialer Transformation verhält. Wäre es etwa möglich, Gruppenhierarchien anders wahrzunehmen, indem die Konstruktionen von race, sex und religion gleichzeitig anerkannt würden? Wie kann Postkoloniale Theorie der Tatsache ungleichzeitiger, multi-lokaler Ereignisse in den Falten der Weltökonomie gerecht werden? Und in welcher Weise beeinflusst die Institutionalisierung von Imperialismuskritik die Inhalte Postkolonialer Theorie?

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Die akademische Industrie verspricht, dass Postkoloniale Theorie die Darstellung einer radikal revidierten Geschichte und die Generierung dissidenter Lesarten gewährt. Die KritikerInnen argumentieren dagegen, dass diese weder eine revolutionäre Methode entwickelt, noch ein neues Untersuchungsfeld eröffnet hat. Postkoloniale Theorie konnte, gemäß dieser Stimmen, weder das Versprechen einhalten, Unterdrückung und Ausbeutung über Hybridisierung zu bezwingen noch die radikale Hinterfragung von Kategorien leisten. Wir haben es wohl eher mit der Produktion einer Ideologie zu tun – wie marxistische TheoretikerInnen herausstellen (vgl. Ahmad 1992; Parry 2004; San Juan 1996). Postkoloniale Theorie steht deswegen auch symptomatisch für das Versagen der demokratischen Reformen nach der politischen Unabhängigkeit ehemals kolonisierter Länder. In den Augen unterschiedlicher KritikerInnen hat sie es weder vermocht, globale ökonomische Gerechtigkeit noch eine umfassende politische Partizipation zu ermöglichen. Wie Gayatri C. Spivak bemerkt, ist es erforderlich, »die Differenzen und die Beziehung zwischen akademischen und ›revolutionären‹ Praxen im Interesse sozialer Veränderungen« ernst zu nehmen (Spivak 1990a: 219; Übers. der Autorinnen).

Kann Postkoloniale Theorie eurozentrisch sein? »There is interest, often unperceived by us, in not allowing transnational complicities to be perceived.« (Spivak 1993: 256)

Im deutschsprachigen Raum fand die Postkoloniale Theorie lange Zeit ein besonderes Interesse bei denen, die sich der Migration, den Antirassismus- und Multikulturalismusdebatten widmen. Der Fokus war dabei auf die politisch-partizipatorischen Möglichkeiten insbesondere postkolonialer MigrantInnen gerichtet. Die kolonialen Kontinuitäten von Migrationspolitik im europäischen Kontext, sowie die Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung, die das Alltagsleben postkolonialer MigrantInnen in Europa bestimmen, sind dabei zweifelsfrei wichtige politische Interventionsfelder, die der permanenten Adressierung bedürfen. Und es ist hier geradezu zwingend, eine Verbindung zu Postkolonialer Theorie herzustellen. Von W.E.B. DuBois (1996/1903: 13), einer Gallionsfigur des afroamerikanischen Anti-Kolonialismus ausgehend, der bemerkte, dass das Problem des 20. Jahrhunderts die »color line« sei, haben sich Theoretiker wie Edward W. Said, Homi K. Bhabha, Paul Gilroy und Stuart Hall insoweit folgerichtig den Fragen

308 | María do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan des postkolonialistischen Rassismus, der kulturellen Identität und Differenz angenommen. Sie alle fanden in einem spezifisch politisierten migrantischen Spektrum im deutschsprachigen Raum schnell Gehör. Spivak allerdings kompliziert die scheinbar selbst-evidente Beziehung zwischen Postkolonialismus und anti-rassistischer Politik und warnt davor, postkoloniale Kritik auf metropolitane Räume zu begrenzen und postkoloniale MigrantInnen zur Norm werden zu lassen (Spivak 1999: 256).1 Migrantischer Aktivismus ist auch für Spivak ein bedeutsames politisches Feld – so skandalisiert sie beispielsweise die Subalternisierung illegalisierter Migration im globalen Norden (1995: 189). Doch gleichzeitig kann es nicht sein, dass der aktuelle Neokolonialismus in erster Linie mit Fokus auf die interne Kolonisierung postkolonialer MigrantInnen im globalen Norden betrachtet wird und dabei gleichzeitig die Frage nach internationaler Arbeitsteilung erneut marginalisiert wird.2 Spannenderweise hat DuBois seine eigene Bemerkung einige Jahre später revidiert und betont, dass es eine größere Frage als die der »color line« gebe. Eine, die sie sowohl überschattet und ihr gleichzeitig inhärent sei: die »question of labor« (DuBois 1925: 385).3 Des Weiteren argumentiert er: »for if colonial serfdom is maintained in Africa, the

1 | Auch wenn eingeräumt werden muss, dass eine allzu schematische Aufteilung in ›Süden‹ und ›Norden‹, riskant ist, insoweit die Heterogenität und internen sozialen Ungleichheiten im nationalen Kontext ungenannt bleiben, scheint es strategisch sinnvoll, mit dem Einsatz der Begrifflichkeiten auf die gewaltigen strukturellen Disparitäten aufmerksam zu machen. 2 | Die internationale Arbeitsteilung zeigt die kapitalistische Beziehung zwischen den Ländern des globalen Südens und Nordens auf. Während der ›Norden‹ Kapital in Ländern des Südens investiert, stellen diese Standorte für Investitionen aus dem ›Norden‹ bereit. Sie bleiben nicht nur gekennzeichnet durch niedrige soziale und ökologische Standards, sondern stellen zudem auch genügend ausbeutbare Arbeitskraft bereit. Die Verlagerung von Produktionsstätten in sogenannte Billiglohnländer des globalen Südens stabilisiert dabei kontinuierlich die internationale Arbeitsteilung, die eine direkte Folge des Kolonialismus darstellt, von der alle im ›Norden‹ verorteten Menschen mehr oder weniger profitieren. 3 | Spivak zufolge ist dagegen die »gender line« die dominierende Frage des 21. Jahrhunderts. Sie führt damit eine erneute Perspektivverschiebung ein.

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color line will not disappear in Afro-America«4 und deutet mithin auf die transnationalen Verflechtungen. Wie bereits an anderer Stelle dargelegt,5 erscheint uns die Frage nach der Relevanz Postkolonialer Theorie für den deutschsprachigen Raum redundant, da sie im Grunde wohl die wichtigste Feststellung Postkolonialer Theorie selbst übersieht, dass es nämlich unmöglich ist, postkoloniale Analysen auf einzelne nationale Räume zu beschränken – erweisen sich Grenzen, die die Nation umreißen, doch selber als koloniale Produkte. Weswegen die Frage: »Spricht die Subalterne Deutsch?« (Steyerl/Gutiérrez Rodríguez 2003) bestenfalls risikoreich ist, gerade weil sie das Funktionieren einer globalen Interdependenz ignoriert, die auf kolonialen Verflechtungen beruht (vgl. Dhawan 2007). Stattdessen wird postkoloniale Kritik hier auf den globalen Norden reduziert, womit wieder einmal ein methodologischer Nationalismus bedient wird. Die Analyse wird erneut in Einheiten des Nationalen gepackt, die die Welt in fein segregierte Gesellschaften dividiert. Nicht selten wird dabei ein allzu enger und exklusiver Blick auf lokale Bewegungsaktivitäten gerichtet. In der Konsequenz wurde einer transnationalen Perspektive eher wenig Beachtung geschenkt. Und das, obschon der Prozess zunehmender Globalisierung die Untersuchung widersprüchlicher transnationaler Verflechtungen immer wichtiger werden lässt.

Intersektionalität, Interdependenz und methodologischer Nationalismus In diesem Zusammenhang ist es spannend, sich die feministischen Debatten um Intersektionalität und Interdependenz im deutschsprachigen Raum anzusehen. In den letzten Jahren ist eine wahre diskursive Explosion in den feministisch orientierten Sozialwissenschaften zu verzeichnen: Intersektionalität scheint in aller Munde. GudrunAxeli Knapp (2005) zufolge ist Intersektionalität zu einer der bekanntesten feministischen »travelling theories« aufgestiegen, während andere diese Perspektive als eine transatlantische Erfolgsgeschichte feiern. Manches Mal wird Intersektionalität auch durch den Begriff der 4 | W.E.B. DuBois »To the Nations of the World », Rede bei der 1. Panafrikanischen Konferenz 1900 in London. 5 | Siehe das Kapitel zu »Interessenskonflikte: Migrantischer Aktivismus versus Internationale Arbeitsteilung« in Castro Varela/Dhawan (2005).

310 | María do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan Interdependenz ausgetauscht (etwa Walgenbach et al. 2007) und dann direkt in einem Zusammenhang mit Postkolonialer Theorie gebracht. Intersektionalität- und Interdependenztheorien werden dabei als eine Art korrektive Methodologie beschrieben, die darauf zielt, das Zusammenwirken sozialer Ungleichheiten zu analysieren. Bereits seit den 1970er Jahren wird die westlich-feministische Theoriebildung eines inhärenten Ethnozentrismus angeklagt. Der alleinige Fokus auf gender, so wurde bemängelt, vernachlässige andere Kategorien wie etwa race, class, religion, sexuality usw., was den epistemologischen Rahmen und die theoretischen Kategorien als unpassend für die Analyse differenter Subjektpositionen erscheinen ließ.6 Die exklusive Befassung mit einem universalen patriarchalen System basiere, wie Feministinnen of color – etwa Audre Lorde, Gloria Anzaldúa und Chandra Talpade Mohanty – konstatierten, gerade auf der Vernachlässigung anderer Diskriminierungsformen wie etwa Rassismus, Homophobie und Klassismus. Die Berücksichtigung der unterschiedlichen Diskriminierungsgründe sollte dabei nicht in additiver Weise erfolgen, sondern die Wechselwirkungen diverser Diskriminierungsgründe beschreiben können. Als Lösung wurde unter anderem ein multi-issues Feminismus vorgeschlagen, der die Begrenzung einer Theorie und Praxis, die lediglich auf eine Kategorie beschränkt bleibt, überschreite. Damit würden mannigfaltige Erfahrungen und Perspektiven nicht mehr einer totalisierenden feministischen Agenda unterworfen. Die Kritik an einem hegemonialen Feminismus verlangt nach einer differenzierten historischen Analyse der Geschlechterverhältnisse und -produktionen. Hier scheint es in der Tat notwendig, herauszuarbeiten, wie gender mit anderen sozialen Kategorisierungen wie etwa race, class und sexuality miteinander verflochten erscheinen. Die postkoloniale Feministin Sara Suleri (1995: 273) stellt beispielsweise die trickreiche Frage, was zuerst kommt: ›gender oder race?‹ und markiert damit die radikale Untrennbarkeit der beiden sozial strukturierenden Kategorien, die sich schließlich in einer Vergeschlechtlichung von race und Rassifizierung von gender niederschlagen. Wir haben es mithin nicht nur mit der Frage nach Anerkennung sozialer Ungleich6 | Die Annahme, dass alle Frauen gleichermaßen Opfer eines globalen Patriarchats sind und dieses nur durch transnationale Solidarität bekämpft werden könne, stand im Zentrum der Kritik. Dies würde implizieren, dass alle weiteren Herrschaftsverhältnisse – etwa Rassismus und Klassismus – vom Patriarchat abgeleitet werden können und entsprechend mit dem Sieg über dasselbe verschwinden würden.

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heiten und unterschiedlicher Manifestationen von Unterdrückung zu tun, sondern mit der besonderen Art und Weise, wie race und gender historisch miteinander verwoben sind beziehungsweise auch im Widerspruch zueinander stehen. Kimberlé Crenshaw, die den Begriff der Intersektionalität prägte, merkt zur Begründung dieser spezifischen Perspektive an: »Because women of colour experience racism in ways not always the same as those experienced by men of colour and sexism in ways not always parallel to experiences of white women, antiracism and feminism are limited, even on their own terms.« (Crenshaw 1995: 337)

Als afroamerikanische Juristin machte Crenshaw sehr früh schon darauf aufmerksam, dass das US-amerikanische Rechtssystem aufgrund der gängigen Repräsentationen und Machtverhältnisse zwar sowohl die Rechte von Frauen als auch von Schwarzen schütze, allerdings nur ungenügend die Rechte schwarzer Frauen. Für viele poststrukturalistische Feministinnen wiederum bestand das vordergründige theoretische Problem darin, dass gender im feministischen Mainstream essentialisiert wurde. Intersektionalität fügt sich dagegen geschmeidig in das postmoderne Projekt ein, welches multiple und sich verändernde Identitäten transparent macht. Es bietet »race/class/gender-Feministinnen« eine theoretisch anspruchsvolle Methodologie an, die gleichzeitig die Fallen einer additiven Herangehensweise im Zusammenhang multipler Identitäten umgeht. Auch wenn solche Bemühungen wertgeschätzt werden müssen, da sie die komplizierte und komplexe Frage des universalen Opfersubjekts betreffen, so ist es doch ermüdend, in zeitgenössischen kritischen Theorien permanent dem monotonen Aufsagen des race-class-genderMantras folgen zu müssen. Deshalb fragen wir uns, ob die in feministischen Kreisen so zelebrierte intersektionelle Perspektive tatsächlich besser dazu in die Lage versetzt, Macht- und Herrschaftsstrukturen zu diagnostizieren und Widerstandstrategien zu entwickeln.7 Die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist der 7 | Im Vergleich zu den angloamerikanischen Debatten, wo die eigentliche Herkunft des Konzeptes im Kontext der Antidiskriminierung verankert ist und es primär um die Entwicklung von policy-Instrumenten der Antidiskriminierung geht, liegt im deutschsprachigen Raum der Hauptfokus auf der deskriptiven Ebene und ist folglich nicht wirklich transformativ angelegt (vgl. die Debatte Online: http://www.querelles-net. de/index.php/qn/issue/view/09-3. Letzter Aufruf 20.09.2009).

312 | María do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan Status, den die unterschiedlichen Kategorien innehaben. Innerhalb kolonialer Unterdrückungsformationen zeigt sich, dass race die prominente Kategorie ist. Entsprechend bedeutet Dekolonisierung vor allem die Deprivilegierung eines Status, der aufgrund rassistischer Ideen aufgebaut wurde, was nicht unbedingt die Veränderung von Klassen- und/oder Geschlechterprivilegien beinhaltet. Wie Mahmood Mamdani (1996: 288) darlegt: »the historical legitimacy of post-independence nationalist governments lay mainly in the program of deracialization they followed«. So ist Mamdani folgend die postkoloniale Situation eines Sub-Sahara-Afrikas heute als »Derassifizierung ohne Demokratisierung« zu beschreiben (ebd.). Formuliert als ein »Indigenisierungsprogramm« oder auch als »Nationalisierung« war es eines der Ziele, die durch Rassifizierung akkumulierten Privilegien der ehemaligen weißen Kolonialisten zu demontieren. Gleichzeitig warnt Spivak davor, den alleinigen Fokus auf race und (Anti-)Rassismus in der ›Ersten Welt‹ zu legen, würde dies doch nicht automatisch eine Kritik an internationaler Arbeitsteilung beinhalten: »To see the problem of race simply in terms of skin color does not recognize that the only arena for that problem is the so-called white world, because you are focusing the problem in terms of blacks who want to enter and live in the white world, under racial laws in the white world. That obliges us to ignore the fact that in countries which are recognized as Third World countries, there is a great deal of oppression, class oppression, sex oppression, going on in terms of the collusion between comprador capitalists and that very white world. The international division of labor does not operate in terms of good whites, bad whites and blacks. A simple chromatism obliges you to be blind to this particular issue because once again it’s present in excess.« (Spivak 1990b: 126)

Und weiter: »I was trying to show how our lives, even as we produce this chromatist discourse of anti-racism, are being constructed by that international division of labour, and its latest manifestations are in fact the responsibility of class-differentiated non-white people in the Third World, using the indigenous structures of patriarchy and the established structures of capitalism. To simply foreclose or ignore the international division of labour because that’s complicit with our own production, in the interests of the black-white division as representing the problem, is a foreclosure of neo-colonialism operated by chromatist race-analysis.« (Ebd.)

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Als korrektive Methodologie können wir von Intersektionalitätsforschungen in diesem Zusammenhang nun idealerweise erhoffen, dass diese die Überbetonung einer Kategorie bei Vernachlässigung anderer transparent werden lässt. Weiterhin ist es nach wie vor vonnöten, dass sich Analysen mit der Verschränktheit differenter Faktoren beziehungsweise Kategorien beschäftigen, aber eben auch race und class oder race und gender als konfligierende Analysekategorien sichtbar machen. Selbst wenn es zuweilen sinnvoll ist, herauszustellen, dass in spezifischen Kontexten einige Kategorien wirkmächtiger sind als andere. Gegen ein simplifizierendes Verständnis von Intersektionalität als die Untersuchung von gleichzeitigen Ungleichheiten wäre es wohl sinnvoller herauszufinden, warum spezifischen Ungleichheiten zu konkreten Zeiten an konkreten Orten mehr Bedeutung beigemessen wird als anderen. Beispielsweise macht die Fokussierung von caste innerhalb des indischen Kontextes mehr Sinn als die Betrachtung von race – und dies gilt auch für Analysen von Machtverhältnissen innerhalb der indischen Diaspora. Kastenbasierte Diskriminierungen innerhalb diasporischer Räume sind aber bisher kaum Thema soziologischer Untersuchungen. Während die deutsche Debatte um Intersektionalität, gerade weil sie ihre Analysen stark innerhalb nationaler Grenzen rahmt, in Gefahr steht, das race-class-gender-Mantra unendlich zu wiederholen, ohne zu beachten, welche Themen durch diese unreflektierte Wiederholung und eurozentrische Setzung unsichtbar gemacht und exkludiert werden.8 Wie Spivak verdeutlicht: »Es ist klar, dass arm, schwarz und weiblich sein heißt: es dreifach abbekommen. Wenn diese Formulierung jedoch aus dem Zusammenhang der Ersten Welt in einen postkolonialen Zusammenhang […] verschoben wird, dann verliert die Beschreibung ›schwarz‹ oder ›of color‹ ihre Überzeugungskraft und Signifikanz. Die notwendige Stratifizierung der kolonialen Subjektkonstitution in der ersten Phase des kapitalistischen Imperialismus macht ›Farbe‹ als emanzipatorischen Signifi kanten unbrauchbar.« (Spivak 2008: 74)

Die rituelle Zitierung der drei Begriffe erinnert nicht zufällig an die christliche Heilige Dreifaltigkeit. Und so ist zu fragen, ob der intersektionelle Fokus auf race, gender und class tatsächlich in die versprochene 8 | Es ist hier wichtig anzumerken, dass spannenderweise die brisante politische Situation – insbesondere die Frage nach einem immer manifester werdenden anti-muslimischen Rassismus – selten angegangen wird.

314 | María do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan anti-universalistische Theorie und Praxis führt? Auch weil die Liste der Kategorien, wenn immer sie aufgerufen wird, bestimmte Unterdrückungsmomente verschweigt beziehungsweise in ein Et cetera einfriert, merkt Bruce Robbins (2005) an, dass es nicht um die jeweils einzelnen Momente gehen könne, sondern um etwas Größeres – was nicht direkt benennbar, aber doch größer als die Summe der Einzelteile und von den Einzelteilen unabhängig bestehend ist (ebd.: 561). Des Weiteren zeigt er, dass Differenzen und Konflikte zwischen den einzelnen Phänomenen genau aus dem Grunde unterdrückt werden, damit das größere nebulöse Bild nicht herauf beschworen wird. Robbins resümiert schließlich, dass die race/class/gender-Liste im Grunde als Exkulpierung für das Comeback einer universalistischen Perspektive dient. Bereits Judith Butler spielt in Gender Trouble darauf an, wenn sie auf das geradezu peinliche »etc.« am Ende der der »Kategorienliste« zu sprechen kommt (vgl. Butler 1990: 143). Als Zeichen kann das Et cetera hier gleichzeitig als Erschöpfung und Exzess gedeutet werden und sollte entsprechend als neuer Startpunkt für feministisch-politische Theoretisierung gesehen werden. Im intersektionellen Ansatz, so wird schnell deutlich, verschaff t sich die Politik des Universalismus durch die Hintertür des dominant Partikularen wieder Einlass. Weswegen Butler in aller Klarheit vor einer Politik, die »Positionen« erschaff t, von denen aus exkludierte Gruppen sprechen können, warnt. Sie widerspricht damit einer Logik, nach der »Positionen« als makellose, kohärente »Kategorien« funktionieren (Butler 1993: 111ff.). In ihren Worten kann es nicht darum gehen, race, sexuality und gender in ihrer Beziehung zueinander zu denken als seien sie »fully separable axes of power« (ebd.:116). Viel eher solle die theoretische Trennung in wuchernde »Kategorien« beziehungsweise »Positionen« als solche hinterfragt werden. Eine weitere Kritik am intersektionellen Ansatz spricht davon, dass dieser lediglich eine Darstellung ›Erster-Welt-Feministinnen‹ veranschaulicht, ohne sich mit dem ›Rest‹ zu beschäftigen oder gar den Stimmen der ›Dritten Welt‹, die nicht von der Bühne der ›Ersten Welt‹ aus sprechen können, Gehör zu verschaffen.9 Kathy Davis diagnosti9 | Selbst ein nur kursorischer Blick auf die deutschsprachige Literatur zu Intersektionalität zeigt im Kontrast zu angloamerikanischen Diskursen, wo women of color die Diskussion initiierten, interessanterweise die Dominanz mehrheitsangehöriger Feministinnen in der Debatte auf. Auch wenn wir eine anti-essentialistische Politik verfolgen, so ist es doch immer wichtig darauf hinzuweisen, aus welcher Richtung die Theorie kommt. Weswegen wir uns fragen: Wie konnten Intersektionalitätsansät-

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ziert insoweit sehr richtig: »[I]ntersectionality promises feminist scholars of all identities, theoretical perspectives, and political persuasions, that they can ›have their cake and eat it, too‹.« (Davis 2008: 72) Allerdings markiert Davis dies als Stärke von Intersektionalitätsansätzen, wohingegen wir der negativen Konnotierung des Ausspruchs ›have their cake and eat it, too‹ folgen, die auf ein unmögliches Verlangen deutet. Intersektionalitätsforschungen versprechen nicht nur Differenzen und Diversität zu adressieren, sondern dies auch in solcher Weise zu tun, dass die alten feministischen Ideale einer Theorieproduktion, die sämtliche Erfahrungen von Frauen berücksichtigt, eingelöst werden können. Sie versprechen damit geradezu universelle Einsatzmöglichkeiten und Ergebnisse, die sinnvoll für das Verstehen und Analysieren diverser sozialer Praxen und unterschiedlichster Gruppenerfahrungen ist. Qua Definition kann diese in jeder feministischen Forschung zum Einsatz kommen, die willens ist, ihre eigene soziale Verortung als analytische Ressource und nicht nur als bloßen Identitätsmarker zu nutzen (ebd.). Als offenes Projekt wird Intersektionalität als ein produktives, zeitgenössisches feministisches Forschungssetting beschrieben. Es wird, so Davis, ein »Entdeckungsprozess« initiiert, welcher nicht nur potentiell unabschließbar ist, sondern auch neue kritische Einsichten verspricht (ebd). Doch bleibt Europa, so lässt sich kritisch anmerken, wieder einmal das Zentrum rund um das Kritik formuliert wird. Die Perspektive verbleibt mithin imperial (Robbins 2005: 563). Es werden nicht in erster Linie Faktoren wie sexuality und class beachtet, weil sie wichtige organisierende Prinzipien für eine Dekolonisierungsbewegung darstellen, sondern gerade weil sie dies nicht sind.10 Selbst wenn diese sozialen Interessen vom ze hegemonial werden und wer profitiert von denselben? Ermöglichen sie subalternisierten Frauen Chancen der Intervention in hegemoniale Strukturen oder ist es eher so, dass sie dominante Strukturen dergestalt stützen, dass sie Hegemonien stärken? Bleibt damit die ›Erste Welt‹ nicht im Namen der Differenz wieder einmal mit sich selbst beschäftigt? 10 | Robbins (2005: 560) hebt hervor, dass im Prozess der Dekolonisierung nicht selten die Kategorie »sexuelle Orientierung« als Diskriminierungsgrund unbeachtet blieb, was häufig damit begründet wurde, dass Schwule und Lesben in den nationalen Unabhängigkeitsbewegungen nicht massiv organisiert waren, während andere ergänzend bemerken, dass auch die Frauenfrage von den meisten Unabhängigkeitsbewegungen unangetastet blieb. Ebenso wurden Klassengegensätze von den meisten Führern der Unabhängigkeitsbewegung, die der nationalen Elite angehörten und über westliche Bildung verfügten, als Bedrohung gesehen.

316 | María do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan anti-kolonialen Kampf exkludiert wurden, deutet ihre Nicht-Assimilation auf eine verfehlte Dekolonisierung sowie auf die Symptome der Fehler im Unabhängigkeitsbestreben hin. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die mechanische Wiederholung der race/class/gender-Formel ein Problem der Universalisierung und damit der Depolitisierung des Politischen darstellt (vgl. Robbins 2005: 564). Insbesondere das In-eins-Setzen von Intersektionalität und Interdependenz kann in diesem Sinne als politisch risikoreich beschrieben werden, vernachlässigt diese Strategie doch die globale Perspektive, die eine ursprüngliche Interdependenztheorie gerade stark macht (vgl. etwa Keohane/Nye 2001). Der interdependenztheoretische Ansatz in seiner politikwissenschaftlichen Ausprägung beschreibt die wechselseitige Abhängigkeit von Nationalstaaten untereinander, vorzugsweise in ihrer ökonomischen Ausprägung, als auch die wechselseitige Dependenz diverser sozialer AkteurInnen innerhalb von Nationalstaaten. Es ließe sich hier fragen, ob die vordergründige Beschäftigung mit der Theoretisierung von Identitäten auf Kosten der Analyse der Strukturen gegangen ist (vgl. auch Soiland 2008). Selbstredend geht es hier nicht darum, den Streit um Anerkennung versus Umverteilen zu reaktivieren und der politischen Ökonomie vor der Analyse kultureller Ungleichheiten den Vorrang zu gewähren. Kein Kollektiv leidet ›nur‹ unter den ökonomischen Verhältnissen wie auch keines ›nur‹ Opfer kultureller Unterdrückung ist. Auch darf Anerkennung nicht als ein Ziel an sich verstanden werden, das keine Beziehung zur Umverteilung hätte (vgl. Fraser 1997; Young 1997). Unser Standpunkt ist insofern weder ein anti-intersektionalistischer noch ist uns Klassenpolitik wichtiger als race, gender oder sexuality. Eine Hierarchisierung von Politikfeldern wäre kontraproduktiv, allerdings ist es notwendig, die Konflikte zwischen den differenten Kategorien transparent zu machen und sie im Kontext aktueller globaler Interdependenzen zu verorten. Hier ist es wichtig, Crenshaws Einsicht ernst zu nehmen, wenn sie provokant fragt: »What difference does difference make? Intersectionality should not become a competition between those claiming oppression.« 11 Es brauchte seine Zeit, bis im deutschsprachigen Kontext von einer merklichen Rezeption intersektioneller Ansätze gesprochen werden konnte und so ist darüber nachzudenken, ob es nun, da sich diese etablieren, wirklich sinnvoll ist, eine kritische Auseinandersetzung 11 | Kimberlé Crenshaw auf der Tagung ›Celebrating Intersectionality?‹, Goethe-Universität Frankfurt (23.01.2009).

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vorzulegen (vgl. hierzu auch Grabham et al. 2009). Wir allerdings entgegnen auf solcherlei Einwände immer mit Spivak, dass die ernsthafteste Kritik immer diejenige ist, die etwas Nützliches kritisiert. Die kritischen Anstöße, die von intersektionellen Ansätzen kommen, sind politisch wichtig, weswegen es uns notwendig erscheint, Kritik an ihr zu üben und damit auch die Grenzen der Rezeption darzulegen. Es ist heutzutage unmöglich, sich eine politische Praxis vorzustellen, die nicht auch die globalen Dimensionen sozialer Ungleichheit in den Blick nimmt. Aufgrund unserer »verwobenen Geschichten« (Conrad/Randeria 2002: 17) ist es aussichtslos, unsere politische Verantwortung nur innerhalb nationaler Grenzen auszumachen. Shalini Randeria beschreibt deswegen eine relationale Perspektive, die die Unmöglichkeit aufzeigt, eine Geschichte des ›Westens‹ ohne die Geschichte der Kolonialländer zu schreiben und vice versa, ist doch die moderne Geschichte und die Geschichte der Moderne als ein Ensemble von Verflechtungen aufzufassen (ebd.). Trotz vielfältiger Bemühungen, den ökonomischen Determinismus zu überwinden und Macht und Herrschaft von einer multidimensionalen Perspektive aus zu erfassen, scheitert der intersektionelle Ansatz im deutschsprachigen Raum gerade weil er zumeist die transnationalen Dimensionen sozialer Ungleichheit als eine Konsequenz des Kolonialismus unbeachtet lässt. Die von Europa ausgehende gewaltsame Integration ehemaliger Kolonien in das kapitalistische System und die imperialistischen Kontinuitäten der gegenwärtigen internationalen Arbeitsteilung, die zudem mit einer geschlechtsspezifischen Aufteilung des internationalen Arbeitsmarktes einhergehen, sichert der ›Ersten Welt‹ nach wie vor Wohlstand auf Kosten der ›Dritten Welt‹, derer Arbeitskräfte und Ressourcen sie sich parasitär bedient (vgl. Mies 1996: 141f.). Die aktuelle internationale Arbeitsteilung ist damit nur eine Verschiebung des territorialen Imperialismus des 19. Jahrhunderts. Mit der sogenannten Dekolonisierung und dem Anwachsen des multinationalen Kapitals werden zwar nicht mehr nur Rohmaterialien in die Metropolen transferiert. Stattdessen werden jedoch billige Arbeitskräfte in den Peripherien benutzt, um die internationale Arbeitsteilung zu stabilisieren. Internationale Subkontrakte und minimale Subsistenzbedingungen der ArbeiterInnen des globalen Südens ermöglichen die Niedrighaltung der Arbeitslöhne in der ›Dritten Welt‹. Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank zwingen die ›Dritte Welt‹ zur Öffnung ihrer Wirtschaft für ausländische Firmen und Investoren, was in Konsequenz dazu führte, dass die lokalen Ökonomien zunehmend exportorientiert rekodiert wurden.

318 | María do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan Es entstanden dabei sogenannte Freihandelszonen. Der Einsatz weiblicher Arbeitskraft, die nicht gewerkschaftlich organisiert ist, bildet dabei die Hauptstütze für den gegenwärtigen Welthandel. Es entsteht eine Struktur der Überausbeutung, die letztlich über die Internalisierung patriarchaler Normen und Werte gesichert wird (Spivak 1999: 391). Die zwei Arenen, die unmittelbar auf Frauen des globalen Südens abzielen, sind dabei »Heimarbeit als internationales Phänomen« und »Biopolitiken im Namen von Bevölkerungskontrolle«.12 Darüber hinaus stehen ländliche und indigene Subalterne mehr und mehr im Fokus von Trade-related aspects of intellectual property rights (TRIPS), welche eine Basis für eine um sich greifende Biopiraterie bietet, die es wiederum transnationalen Konzernen des globalen Nordens ermöglicht, Eigentumsrechte über natürliche Ressourcen des globalen Südens anzumelden. Im Namen von ›Entwicklung‹ ist eines der Ziele, welches stringent verfolgt wird, die ökonomisch arme ländliche Bevölkerung des Südens unter die Kontrolle des Finanzkapitals zu bringen. Hierfür wird der Zugang zur Telekommunikation und das Recht auf Mikrokredite gleichgesetzt mit dem politischen Empowerment der ›Dritte-Welt-Frauen‹, ohne dass dabei der Versuch unternommen würde, die infrastrukturellen Bedingungen zu berücksichtigen und einen wirklich systematischen Wandel anzustreben, der die ökonomische Verarmung ländlicher Frauen des globalen Südens stoppen könnte. Im Angesicht aktueller globaler Ungleichheiten erscheinen solcherlei Entwicklungspolitiken bestenfalls zynisch.13 12 | »Galten die Kolonien damals als ›unterbevölkert‹, so werden sie nach der Entkolonisierung durchweg als ›überbevölkert‹ angesehen. Die deutsche Regierung etwa war ebenso besorgt über die zu niedrigen Geburtsraten in Tanganiyka, dem heutigen Tansania, wie die britischen Kolonialbeamten 1870 in Indien. Denn damals stellte für sie nicht die hohe Fertilitätsrate des indischen Subkontinents, sondern ein akuter Mangel an Arbeitskräften ein Problem dar. […] Bemühungen zur Steigerung des Bevölkerungswachstums in den Kolonien datieren aus einer Zeit, als die Kolonien […] durch ihre billigeren Arbeitsplätze [keine] wirtschaftliche Konkurrenz für die westlichen Industriestaaten darstellten.« (Randeria 2007: 254f.) 13 | Selbst die subalternisierten Räume innerhalb postkolonialer Länder werden von den Institutionen des Bretton-Woods-Systems erschlossen. Im Zentrum der weltweiten neoliberalen Umstrukturierungsprozesse steht damit die subalterne Frau, die von den Programmen der Entwicklungszusammenarbeit, Gentechnik und Biopiraterie, internationalen Nichtregierungsorganisationen und transnationalen Konzernen

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In dem Ausmaß, wie das Konzept der »Entwicklung« als Alibi für eine fortgeführte Ausbeutung funktioniert, hinterfragen kritische Development Theorien die Strukturen einer kapitalistischen und patriarchalen Ausbeutung, die der Kolonialismus zuvor im Namen von Modernisierung etabliert hat (vgl. Saunders 2003).14 Die Rolle transnationaler Körperschaften der EU in diesen ›neuen‹ Formen des Neokolonialismus ist kein Geheimnis und macht deutlich, warum postkoloniale Kritik im deutschsprachigen Raum eine politisch-theoretische Notwendigkeit darstellt. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der vorherrschende Fokus auf metropolitane Räume innerhalb der deutschsprachigen Intersektionalitäts- und Interdependenzdebatten symptomatisch für einen impliziten Eurozentrismus zu sein scheint. Themen wie die strukturellen Effekte der internationalen Arbeitsteilung und Überausbeutung werden in den Diskursen um race/class/gender in riskanter Weise vernachlässigt. Allzu deutlich spricht Spivak dagegen davon, dass das Ignorieren der ländlichen und indigenen Subalternen unwillentlich das imperialistische Projekt weiter fortführt. Gegen die Tendenzen, die akademischen globalisierungskritischen Auseinandersetzungen im globalen Norden zu verorten, insistiert sie darauf, dass es das Land ist, das die neue Front der Globalisierung – etwa über Samen-, Düngungsmittel-, Bevölkerungskontrolle und Mikrokredite an Frauen – darstellt. Diese Kritik macht die politische Herausforderung in Anbetracht der internationalen Arbeitsteilung und der Fragen globaler Gerechtigkeit deutlich. Wobei die Privilegierung metropolitaner Räume und Subjekte Gefahr läuft, die »Feminisierung des Überlebens« in der ›Dritten Welt‹ zu überschatten. Der starke Fokus auf die Metropolen ist insofern problematisch, als dass er die Frage vernachhervorgebracht wird. Als Zielgruppe von Mikrokrediten werden subalterne Frauen immer mehr in die Zwänge globaler kapitalistischer Kreisläufe gefangen genommen. 14 | Der kenianische Wirtschaftswissenschaftler James Shikwati argumentiert, dass Entwicklungshilfeprogramme den Menschen in Afrika mehr schaden denn helfen. Sein zentrales Argument ist hier, dass diese größtenteils von PolitikerInnen instrumentalisiert werden, um die Bevölkerung zu manipulieren: Etwa indem das demokratische Stimmverhalten gelenkt wird, zum Dumping von subventionierten ausländischen Agrarprodukten, mit denen lokale BäuerInnen nicht mehr konkurrieren können, da die Angebotspreise unter die heimischen Produktionskosten fallen (vgl. online: www.spiegel.de/international/spiegel/0,1518,363663,00. html Letzter Aufruf 20.9.2009).

320 | María do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan lässigt, wie neokoloniale Diskurse auf jene abzielen, die sich zuvor außerhalb der Reichweite des Finanzkapitalismus befanden.

Methodologischer Kosmopolitismus und die »Globalisierung des Mitgefühls« Auch angesichts dieser globalen Situation schlägt Beck einen Paradigmenwechsel der Ungleichheitssoziologie vor – und zwar vom methodologischen Nationalismus hin zu einem methodologischen Kosmopolitismus (Beck 2007: 296ff.). Dieser soll die Basisunterscheidung zwischen national und international, die der Ungleichheitssoziologie bislang unreflektiert als leitender Begriffs- und Forschungshorizont zugrunde lag, auf heben, wodurch sich ein neuer Horizont von Theorie- und Forschungsfragen eröff ne. Beck argumentiert, dass der enge nationalstaatliche Fokus Gefahr läuft, vom Blick auf das Elend der Welt zu befreien. Statt für einen methodologischen Europäismus plädiert Beck deswegen für einen methodologischen Kosmopolitismus – eine transnationale grenzüberschreitende Perspektive, die zur Überwindung »organisierter Unverantwortlichkeit« führen soll (ebd.: 60f.). Kosmopolitismus bezieht sich dabei auf eine besondere Form des gesellschaftlichen Umgangs mit kulturellem Anderssein. Er bedeutet die Anerkennung kultureller Andersheit, insofern Unterschiede weder hierarchisch geordnet noch aufgelöst, sondern als solche akzeptiert und positiv bewertet werden. Es wird hier das »Ende der Anderen« (ebd.: 77) postuliert. Das kosmopolitische Moment der Weltrisikogesellschaft meint zunächst: Die conditio humana der unwiderruflichen Unausgrenzbarkeit der kulturell anderen (ebd.: 110). Beck zufolge leben wir in einer globalisierten Welt und als Mitglieder einer »Weltgefahrengemeinschaft« teilen wir gemeinsame, grenzüberschreitende Risiken und Bedrohungen (ebd.: 27). Seine Theorie der Weltrisikogesellschaft spricht von einer traumatischen Erfahrung der erzwungenen Gemeinsamkeit globaler Risiken, die die Existenz aller bedrohen und massenmedial vermittelt werden. Die Weltrisikogesellschaft erzwingt den »kosmopolitischen Blick« auf die Pluralität der Welt, die der nationale Blick ignorieren konnte (ebd.: 111). Es sind insbesondere die globalen Risiken, die faktisch einen moralischen und politischen Raum eröffnen und schließlich eine Kultur der Verantwortung hervorbringen können. Das antizipierte globale Risiko bringt eine traumatische Erfahrung der Verwundbarkeit aller und eine sich daraus ergebende Verantwortung für andere mit sich. Darüber hinaus, so Beck, kann die massenmedial globalisierte Gefahr den margina-

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lisierten und minorisierten Kollektiven eine Stimme verleihen (ebd.: 112). Exemplarisch führt er die Erfahrung mit Hurrikan Katrina und den Tsunamis als kosmopolitische Momente an, die zu einer »erzwungenen Auf klärung« (ebd.: 109) und »Globalisierung des Mitgefühls« (ebd.: 114) geführt hätten. In Folge sei eine neue, zukunftsorientierte »planetarische Verantwortungsethik« gefordert (ebd.: 41). Wenn auch die Risiken ungleich verteilt sind, so resultiert daraus nicht die »Betonung der Klassengesellschaft«, wie Beck schreibt, da sie alle ohne Ausnahme betreffen. Wir sitzen alle in einem gemeinsamen »globalen Gefahrenraum« – ohne Ausgang (ebd.: 111). Beck argumentiert weiter, dass sich eben dadurch ein interdependentes Handlungsfeld zwischen Institutionen und Bürgern eröffnet, welches dichtere Verbindungen zwischen den getrennten Sphären des Lokalen und des Fernen, zwischen Verantwortlichen und Opfern bedingen, die eine transnationale Solidarität möglich mache. Die globale Abhängigkeit zwischen den unterschiedlichen geographischen Räumen und sozialen Prozessen verlangten nach einem Verantwortungsbewusstsein und berechtigten zu einer transnationalen Praxis von »kosmopolitischer Realpolitik« (ebd.: 368).

Alle im selben Boot? Dekolonisierung und transnationale Solidarität »[…] [T]here is something […] wrong in our most sophisticated research, our most benevolent impulses.« (Spivak 1988: 150)

Auf den ersten Blick könnte eine kosmopolitische Perspektivierung à la Beck durchaus einen gelungenen Wechsel darstellen, ermöglicht sie doch die Entwicklung von Theorien, die sowohl globale Staatsbürgerschaft als auch transnationale Identitäten und internationale Verflechtungen mitzudenken in der Lage sind. Allerdings argumentiert Beck etwas simplifizierend, dass unsere gemeinsame Verletzlichkeit gegenüber den immer größer werdenden Risiken uns zusammenbringen wird. Doch wissen wir lange schon, dass, obwohl wir alle demselben Sturm ausgesetzt sind, wir doch nicht alle im selben Boot sitzen. Gerade postkoloniale Theorieproduktionen haben deutlich machen können, dass die Konsequenzen heutiger Stürme auch aufgrund historischer Zusammenhänge entschieden different sind – je nachdem wo wir verortet sind. Weder ein methodologischer Nationalismus/Europäismus noch ein methodologischer Kosmopolitismus scheinen adäquat, um die

322 | María do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan Herausforderungen angehen zu können, die eine feministisch informierte Postkoloniale Theorie mit sich bringt. Es ist wahrlich naiv zu glauben, dass mit der Transnationalisierung von Theorie und Praxis gleichzeitig Globalität adressiert würde. Die Spannung zwischen nationalen und transnationalen Dynamiken muss genauer analysiert werden: Was nicht heißt, dass man die nationalen und globalen Ebenen als analog oder komplementär setzt. Im Übrigen existiert de facto nicht einmal eine gemeinsame Sprache, die die ›Erste Welt‹ mit der ›Dritten Welt‹ verbindet. Im Gegensatz zu Beck, der davon ausgeht, dass Hurrikan Katrina und die Tsunamis eine »Globalisierung des Mitgefühls« und »Zwangskommunikation über Gräben und Grenzen hinweg« (Beck 2007: 116) freigesetzt haben, berichtet Spivak in einem aktuellen Interview über folgende Begebenheit: »Als Beispiel erzähle ich Ihnen diese furchtbare Geschichte: Ärzte ohne Grenzen, eine großartige Organisation, sind gezwungen mit Übersetzer/ innen zu arbeiten, wenn sie Probleme behandeln wollen. 1991 gab es einen verheerenden Zyklon in Bangladesch, wo ich und andere mit Lebensmitteln für die Betroffenen im Boot unterwegs waren. Eine Frau kam zu unserem Boot und sagte, ›wir wollen nicht gerettet werden, wir wollen sterben, sie behandeln uns wie Tiere‹. Sie meinte Ärzte ohne Grenzen. Warum? Weil der Übersetzer die Aussagen der Ärzte und Ärztinnen in einer extrem beleidigenden Sprache wiedergegeben hatte. Natürlich konnten die betroffenen Menschen aufgrund der Sprache nicht direkt mit den Ärzten und Ärztinnen kommunizieren. Wie kann man also in solchen Situationen an Solidarität denken?« (Spivak 2008: 26f.)

Die Distanz zwischen denen, die geben, und denen, die erhalten, ist ein nachhaltiger Beweis für historische Gewalt. Spivak bemerkt, dass »die Klasse, mit der man sich solidarisieren kann, […] vielleicht führende SprecherInnen zu urbanen Themen, wie die Obdachlosen in Mumbai [sind]. Es gibt zahlreiche Beispiele, wie Solidarität durch Feudalität ohne Feudalismus produziert wird.« (Ebd. 27) In Konsequenz lehnt sie organisierte Bündnisse ab und erklärt, dass wenn tatsächliche Solidarität entsteht, dies unerwartet geschähe. Man könne nicht nach Solidarität suchen. Ein Dilemma, welches Robert Young wie folgt skizziert: »If you participate you are, as it were, an Orientalist, but of course if you don’t, then you are a eurocentrist ignoring the problem.« Eine Aussage, die Spivak mit folgender Bemerkung retourniert: »It’s not just that if you participate you are an Orientalist. If you participate in a certain kind of way you are an Orientalist and it doesn’t matter whether you are white or black.« (Spivak 1991b: 227) Im Weiteren legt sie dar,

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dass es sinnvoll sei, sich mit einer Sache intensiv zu beschäftigen und nicht nur ein oberflächliches Interesse an der ›Dritten Welt‹ an den Tag zu legen: »You can’t just be a revolutionary tourist and be the saviour of the world on your off days.« (Ebd.) Darüber hinaus zeigt sie auf, dass die subalternisierte Frau des globalen Südens außerhalb des organisierten Widerstandes steht, so dass diese Art von Solidarität letztlich doch der kapitalistischen Logik verhaftet bleibt. Die vergeschlechtlichte Subalterne ist damit gleichzeitig von dominanten und widerständigen Gegendiskursen ausgeschlossen. Subalternisierte Frauen sind weder Teil einer zusammengeschlossenen ›Dritte-Welt-Frauen-Widerstandsbewegung‹ noch Teil einer globalen Bündnispolitik. Denn für Spivak handelt es sich bei den BewohnerInnen subalterner Räume um »Menschen, die keine Kenntnis darüber haben dürfen, dass es einen öffentlichen Raum gibt und dieser ihnen als BürgerInnen etwas schuldig ist. Wenn Menschen für ihre Rechte eintreten, sind sie nicht subaltern.« (Spivak 2008: 26) Für eine radikale und globale Re-Theoretisierung transnationaler Bündnisse müssen westliche theoretische und politische Bewegungen und ihr Verhältnis zu Macht und Herrschaft untersucht werden. Zu Recht wurde immer wieder beklagt, dass die Handlungsmacht von Frauen aus der ›Dritten Welt‹ zu häufig übersehen wurde. Nur allzu oft werden diese ausschließlich als Opfer gesehen. Partizipation wird dagegen zumeist begrenzt auf die transnationale Elite, die ihre eigenen Erfahrungen zum Maßstab deklariert, um für andere zu sprechen. Diese Begrenzungen haben die Möglichkeiten der transnationalen Zusammenarbeit deutlich belastet. Spivak spricht in diesem Zusammenhang provokativ von der »transnationalen Analphabetin und gutmeinenden Feministin aus dem Norden […] mit ›ignorantem Wohlwollen‹« (Spivak 1999: 416; Übers. der Autorinnen). Das klingt unfair, bringt aber die Schwachstellen einer unreflektierten Solidaritätsarbeit, die nicht über ihre Rolle innerhalb der internationalen Arbeitsteilung reflektiert, auf den Punkt. Denn ein kolonialistisches Wohlwollen, eine gestattete Ignoranz nutzt den westlichen Machthabern und schadet der postkolonialen subalternisierten Frau im Süden. Transnationale Allianzpolitiken sollten nicht als leichtes Spiel grenzüberschreitender Solidarität verstanden werden. Kaum zufällig gehört Spivak zu den vehementesten Kritikerinnen eines naiven internationalen Feminismus. In Anbetracht der enormen unhinterfragten neuen Begeisterung für globale Allianzpolitiken stellt sie die Frage: »Wer ist eigentlich interessiert an transnationalen Bündnissen? Etwa nur die transnationalen Eliten?« (Vgl. Spivak 1999: 277) Wollen wir uns dieser Frage im Sinne einer Herausforderung stellen, so müssen wir uns

324 | María do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan Gedanken über koloniale Kontinuitäten und postkoloniale Macht- und Herrschaftsverhältnisse machen. Werden diese die Epistemologie und Vormachtstellung des Nordens privilegierenden Verhältnisse nicht in die Analyse sozialer Ungerechtigkeiten mit einbezogen, so kommt es unweigerlich zu theoretischen Schieflagen. Wir müssen wohl die Prozesse untersuchen, die die ›Erste Welt‹-Intellektuellen auf die Position derer gesetzt haben, die das Recht ›bringen‹, während die subalternisierten Anderen im globalen Süden auf die Position der ›Hilfsbedürftigen‹ festgelegt wurden – als nur Empfängerinnen von Gerechtigkeit (vgl. Spivak 2004). Und wie Spivak (ebd.: 527) sehr klar erörtert: Die »epistemische Diskontinuität« zwischen einem akademischen Feminismus und den vergeschlechtlichen Subalternen kann weder durch eine abgehobene Theorie noch durch die perfekte Genderpolitik von oben behoben werden. Feministinnen des globalen Nordens müssen stattdessen ihre Rolle als Avantgarde des internationalen Feminismus in Frage stellen. Es existieren keine selbstverständlichen, quasi natürlichen Bündnisse, weswegen die akuten postkolonial produzierten Interessenskonflikte im Mittelpunkt der Analyse stehen sollten. Wir plädieren deswegen dafür, feministische Postkoloniale Theorie nicht auf den race/class/ gender-Komplex zu reduzieren. Race umfasst eben nicht alle globalen Ungleichheitsdimensionen, wie auch »reproduktive Heteronormativität« (Spivak 2009) nicht gleichzusetzen ist mit gender, und class nicht dasselbe ist wie die »Monetarisierung des Globus« ( financialization of the globe) (Spivak 1999: 3). McClintock beispielsweise merkt richtig an, dass race und gender nicht primär eine Frage von Hautfarbe und Sexualität sind, sondern ebenso eine von unterworfener Arbeit und imperialer Ausplünderung (McClintock 2005: 6). Folgende Fragen aus Richtung eines postkolonialen Feminismus sollten insoweit unbedingt gestellt werden: In welcher Art und Weise werden gender oder race in den Gegendiskursen re-kodiert? Wie funktioniert die Theorie als Alibi globaler Herrschaftsverhältnisse? Und schließlich, wer ist eigentlich daran interessiert von diesen Diskursen repräsentiert zu werden? Eben weil Frauen des globalen Nordens und Frauen des globalen Südens in einem Kontext globaler ökonomischer Interdependenz miteinander verbunden sind, der durch eine Machtasymmetrie und eine Geschichte des Imperialismus gekennzeichnet ist, scheint es dringlich, die Verstrickung von Frauen des globalen Nordens innerhalb der bestehenden internationalen Arbeitsteilung transparent zu machen. Interdependenz sichtbar machen, bedeutet hier konkret die wechselseitige Eingebundenheit in transnationalen Ungleichheitsformationen

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anzuerkennen, die über plurale Macht- und Herrschaftsverhältnisse aufrechterhalten werden. Konsequenz dieser transnationalen Herrschaftssysteme ist letztlich die Privilegierung der Frauen des globalen Nordens, während die Alltagssituation von Frauen im globalen Süden sich durch Repression und Ausbeutung kennzeichnen lässt. Um Interdependenzdynamiken analysieren zu können ist es zudem notwendig, eine historische Perspektive anzulegen, die auch makroökonomische Strukturen in den Blick nimmt – ist doch die aktuelle internationale Arbeitsteilung unzweifelhaft das Erbe der kolonialen Herrschaft. Armut und Umweltzerstörung, aber auch die Benachteiligung großer Bevölkerungsgruppen weltweit können sinnvoll nur über die Analyse globaler Interdependenzen angegangen werden. »In diesem Geschäft der Solidarität mit den Ärmsten der Armen im globalen Süden macht persönliches Wohlwollen nichts wett. Es ist christlich zu denken, dass man Tausende Jahre von Unrecht wieder gut machen kann, indem man einfach freundlich ist.« (Spivak 2008: 27)

Postkoloniale Theorie stellt, wird sie ernst genommen, eine Herausforderung für jegliche Theorie und Politik sozialer Ungleichheiten dar. Weder genügt es differente Diskriminierungsgründe zu benennen, ohne die nationale Verengung zu überschreiten, noch reicht es aus, unkritisch transnationale Bündnisse zu beschwören. Wie zu Beginn dargelegt, verlangen es globale ökonomische und soziale Restrukturierungen, die wir als Re-Kolonisierung interpretieren, feministische Postkoloniale Theorie neu zu denken, und die Analyse sozialer Ungerechtigkeiten zu radikalisieren. Intersektionalitätsansätze, wie sie zurzeit die deutschsprachige feministische Debatte dominieren, nehmen die Herausforderungen Postkolonialer Theorie unseres Erachtens bisher nicht an, sondern fallen hinter den Analysemöglichkeiten zurück. Vielleicht macht dies gerade die Attraktivität des Ansatzes aus. Kosmopolitische Perspektiven dagegen überwinden den beengten nationalen Blick, aber auch hier ohne die postkoloniale Untersuchungen einzuschließen. Es wird sich zeigen müssen, ob Postkoloniale Theorie weiterhin im deutschsprachigen Diskurs eine mission impossible bleibt und mithin ins Leere läuft, oder ob es ihr in naher Zukunft gelingt eine kritische Wendung sozialwissenschaftlicher (feministischer) Theorie und Praxis zu provozieren.

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Autorinnen und Autoren

Manuela Boatcă (*1975), Dr. phil., ist wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Soziologie I der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Politische und Entwicklungssoziologie, Gewalt- und Genderforschung, Weltsystemanalyse und Postkolonialismus. Zentrale Publikationen: From Neoevolutionism to World-Systems Analysis. The Romanian Theory of ›Forms without Substance‹ in Light of Modern Debates on Social Change, Opladen 2003; Des Fremden Feind, des Fremden Freund. Fremdverstehen in interdisziplinärer Perspektive, Münster 2006 (Hg. mit Claudia Neudecker/Stefan Rinke); »The Eastern Margins of Empire. Coloniality in 19th Century Romania«. In: Cultural Studies 21 (2/3), 2007; »Define and Rule. The Role of Orientalism in (Re)Colonizing Eastern Europe«. In: Khaldoun Samman/Mazher al-Zo’by (Hg.), Islam and the Modern Orientalist World-System, Boulder 2007; Globale, multiple und periphere Modernen. Theoretische und vergleichende Perspektiven, München 2009 (Hg. mit Willfried Spohn). Email: [email protected] María do Mar Castro Varela (*1964), Dr. rer. soc., ist Professorin für Gender und Queer Studies an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Im Wintersemester 2006/2007 war sie Maria-Goeppert-Mayer Gastprofessorin am Institut für Politikwissenschaft der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Migrationsforschung, Gender, Queer und Postcolonial Studies. Zentrale Publikationen: Unzeitgemäße Utopien: Migrantinnen zwischen Selbsterfindung und gelehrter Hoff nung, Bielefeld 2007; Soziale (Un)Gerechtigkeit. Kritische Perspektiven auf Diversity, Intersektionalität und Antidiskriminierung, Münster (i.E.); Gastherausgeberschaft des Schwerpunktheftes: »Feministische Postkoloniale Theorie: Politikwissenschaftliche

332 | Postkoloniale Soziologie Perspektiven«. In: Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft 2, 2009 (gem. mit Nikita Dhawan). Email: castrovarela@ web.de Sérgio Costa (*1962), promovierter und habilitierter Soziologe, ist Professor am Lateinamerika-Institut und am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Rassismus und Antirassismus (allgemeintheoretisch und in den Amerikas), postkoloniale Theorien, Multikulturelle Koexistenz, Zivilgesellschaft und Rechtsstaat in Lateinamerika. Zentrale Publikationen: Vom Nordatlantik zum Black Atlantic. Sozialtheorie, Antirassismus, Kosmopolitismus, Bielefeld 2007 (Portugiesisch: Dois Atlânticos, Belo Horizonte 2006); As cores de Ercília: Esfera Pública, Democracia, configurações pós-nacionais, Belo Horizonte 2002; Brazil and the Americas: Convergences and Perspectives, Frankfurt a.M. 2008 (Hg. mit Peter Birle/Horst Nitschack); The Plurality of Modernity: Decentring Sociology, Mering 2006 (Hg. mit J. Maurício Domingues/Wolfgang Knöbl/Josué Silva); Jenseits von Zentrum und Peripherie: zur Konstituition der fragmentierten Weltgesellschaft, Mering (Hg. mit Hauke Brunkhorst). Email: sergio. [email protected] Nikita Dhawan (*1972), Dr. phil., ist Juniorprofessorin für Gender/ Postkoloniale Studien an der Goethe-Universität Frankfurt. Im Wintersemester 2006/2007 war sie Maria-Goeppert-Mayer Gastprofessorin am Institut für Politikwissenschaft der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie, Gender, Queer und Postcolonial Studies. Zentrale Publikationen: Postkoloniale Theorie: Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005 (gem. mit María do Mar Castro Varela); Impossible Speech: On the Politics of Silence and Violence, Sankt Augustin 2007. Email: dhawan@ soz.uni-frankfurt.de Wolfgang Gabbert (*1957), Dr. phil., Ethnologe und Soziologe; seit 2002 Professor für Soziologie der Entwicklungsländer an der Leibniz Universität Hannover; Feldforschungen in Costa Rica, Nicaragua und Mexiko. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Entwicklungssoziologie und Kulturanthropologie, sozialwissenschaftliche Theorien, soziale Ungleichheit, Ethnizität und Nationalismus, soziale Bewegungen, Migration, Konflikt/Gewalt, Rechtsanthropologie, sozialer Wandel und Religion, Lateinamerika und Ostafrika. Zentrale Publikationen: Latin American and Caribbean Ethnic Studies; Creoles – Afroamerikaner im karibischen Tiefland von Nicaragua, Münster 1992 (Mitherausg.);

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»Das demokratische Potential sozialer Bewegungen in Lateinamerika«. In: Mohssen Massarrat et al. (Hg.), Die Dritte Welt und Wir, Freiburg 1993; »Racism as Social Closure – Social Conflicts within the Working Class on Middle American Banana Plantations, 1880-1940«. In: Anales del Caribe, 1999-2000; »Social and Cultural Conditions of Religious Conversion in Colonial Southwest Tanzania, 1891-1939«. In: Ethnology 40, 2001; Becoming Maya? Ethnicity and Social Inequality in Yucatán since 1500, Tucson 2004; »Rechtsstaat und Rechtspluralismus in Lateinamerika«. In: Rolf Kappel et al. (Hg.), Probleme des Rechtsstaates, Freiburg 2005; »Transnationale Migration – Interpretationsansätze und das Beispiel der Wanderungsbewegungen zwischen Mexiko und den USA«. In: Lateinamerika Analysen 11, 2005. Email: w.gabbert@ish. uni-hannover.de Kien Nghi Ha (*1972), Politik- und Kulturwissenschaftler, hat 2009 seine Dissertationsschrift In the Mix. Postkoloniale Streifzüge durch die Kulturgeschichte der Hybridität an der Universität Bremen eingereicht und ist im Sommer 2009 als Visiting Scholar an der New York University tätig. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Postkoloniale Kritik, Migration, Rassismus und Cultural Studies. Zentrale Publikationen: Ethnizität und Migration Reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs, Berlin 2004; Hype um Hybridität, Bielefeld 2005; re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster 2007 (gem. mit Nicola Lauré al-Samarai/Sheila Mysorekar). Email: [email protected] Ina Kerner (*1969), Dr. phil., ist Juniorprofessorin für Diversity Politics am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie, Diversität und Intersektionalität, postkoloniale Studien, Geschlechterforschung. Zentrale Publikationen: Differenzen und Macht. Zur Anatomie von Rassismus und Sexismus, Frankfurt a.M./New York 2009; Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden 2004 (gem. mit Gerhard Göhler/Mattias Iser); Feminismus, Entwicklungszusammenarbeit und postkoloniale Kritik. Zur Analyse von Grundkonzepten des Gender-and-Development Ansatzes, Hamburg 1999. Email: [email protected] Benedikt Köhler (*1975), Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Allgemeine Soziologie der Universität der Bundeswehr München. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Medien-

334 | Postkoloniale Soziologie soziologie, Globalisierung, Soziologische Theorien. Zentrale Publikationen: Strukturen und Strategien transnationaler Konzerne. Empirische Soziologie der »Inneren Globalisierung«, Wiesbaden 2004; Soziologie des Neuen Kosmopolitismus, Wiesbaden 2006; »Amtliche Statistik, Sichtbarkeit und die Herstellung von Verfügbarkeit«. In: Berliner Journal für Soziologie 18, 2008. Email: [email protected] Helma Lutz (*1953), Dr. phil., ist Professorin für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Frauen- und Geschlechterforschung, Migrationsforschung, Intersektionalitätsforschung, Rassismus- und Ethnizitätsforschung, Qualitative Forschungsmethoden/Biographieforschung. Zentrale Publikationen: Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die ›neuen Dienstmädchen‹ im Zeitalter der Globalisierung, Opladen: 2007/2008; Migration and domestic work: A European Perspective on a Global Theme, Aldershot 2008; Gender Mobil? Geschlecht und Migration in transnationalen Räumen, Münster 2009. Email: [email protected] Miriam Nandi (*1974), PhD, is associate professor at the university of Freiburg. Her research focusses on psychoanalysis (Lacan, Klein), postcolonialism and life writing. She has published widely on sociocritical Indian fiction, postcolonial theory and multiculturalism, and is the author of M/Other India/s – zur literarischen Verarbeitung von Armuts- und Kastenproblematik in der indisch-englischen und muttersprachlichen indischen Literatur (Poverty and Caste in Indian-English and Vernacular Indian Fiction), Heidelberg 2007. She is currently completing her second monograph Gayatri Spivak – eine interkulturelle Einführung, Göttingen (i.E.). Email: [email protected] Nirmal Puwar (*1967) is a Senior Lecturer in Sociology at Goldsmiths. She is co-director of the Methods Lab, focused on creative critical methods which have been developed in collaborations and projects working at the interface of academia and the cultural and arts sector. Her most recent exchanges have been the projects ›Noise of the Past‹ (AHRC funded) and ›Post-colonial War Requiem‹ (www.goldsmiths. ac.uk/methods-lab/). She has led a number of funded initiatives, which have included exhibitions, fi lms and interventions in public space. She organised the installation of the exhibition ›Pierre Bourdieu in Algeria: testimonies of Uprooting‹ with a series of seminars and workshops at Goldsmiths, University of London in the academic year 2006/2007 (funded by the ESRC). She is currently co-editing a special issue of the journal Sociological Review on the theme of Postcolonial Bourdieu. Her

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other publications include the books Space Invaders: race, gender & bodies out of place, Oxford/New York 2004; South Asian Women in the Diaspora, Oxford/New York 2003 (gem. mit Parvati Raghuram); numerous articles translated into several languages. She is currently working on public sphere/space. Email: [email protected] Boike Rehbein (*1965), Prof. Dr. phil., ist Professor für Gesellschaften Asiens und Afrikas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsund Forschungsschwerpunkte: Sozialtheorie, Sozialstruktur, Globalisierung, Südostasien. Zentrale Publikationen: Globalization, Culture and Society in Laos, London/New York 2007; Theorien der Globalisierung, Konstanz 2008 (mit Hermann Schwengel); Emerging Societies and Global Inequality, Basingstoke 2009 (Hg. mit Jan Nederveen Pieterse). Email: [email protected] Julia Reuter (*1975), Dr. phil., ist Juniorprofessorin für Soziologie an der Universität Trier. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorien, Kultursoziologie, Geschlechterforschung. Zentrale Publikationen: Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden, Bielefeld 2002; Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004 (Hg. mit Karl H. Hörning); »Postcolonial, Gender und Science Studies als Herausforderung der Soziologie«. In: Soziale Welt 57, 2006 (gem. mit Matthias Wieser). Email: [email protected] Susanne Schröter (*1957), Dr. phil., ist Professorin für Ethnologie kolonialer und postkolonialer Ordnungen an der Goethe-Universität Frankfurt. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Gender Studies, Politische Anthropologie, Religionsethnologie. Zentrale Publikationen: Die Austreibung des Bösen. Ein Beitrag zur Religion und Sozialstruktur der Sara Langa in Ostindonesien, Stuttgart 2000; FeMale. Über Grenzverläufe zwischen den Geschlechtern, Frankfurt a.M. 2002; Aceh. Culture, history, politics, Singapur (i.E./Hg. mit Arndt Graf/Edwin Wieringa); »Female leadership in Islamic societies, past and present«. In: Dagmar Hellmann-Rajanayagam/Andrea Fleschenberg (Hg.), Goddesses, heroes, sacrifices. Female power in Asian politics, Berlin 2008; »Reislamisierungsprozesse in Südostasien«. In: Orient 4, 2008. Email: [email protected] Gayatri Chakravorty Spivak (*1942), Prof. Dr. Dr., ist Professorin an der Columbia University und Direktorin des Institute for Comparative Literature and Society. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Literatur

336 | Postkoloniale Soziologie des 19. und 20. Jahrhunderts, Marxismus, Feminismus, Dekonstruktivismus, Poststrukturalismus und Globalisierung. Zentrale Publikationen: Who Sings the Nation-State? Language, Politics, Belonging, London 2007 (gem. mit Judith Butler); Other Asias, Boston: 2005; Death of a Discipline, New York 2003; A Critique of Postcolonial Reason: Towards a History of the Vanishing Present, Cambridge/London 1999; The Spivak Reader, London 1995; Outside in the Teaching Machine, London 1993; The Post-Colonial Critic: Interviews, Strategies, Dialogues, London 1990 (Hg. Sarah Harasym); »Can the Subaltern Speak?«. In: Cary Nelson/ Larry Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana/Chicago 1988; Selected Subaltern Studies, Oxford 1988; In Other Worlds: Essays in Cultural Politics, London 1987. E-mail: [email protected] Ceren Türkmen (*1980) ist Soziologin. 2006-2008 Mitarbeiterin im Verlag Westfälisches Dampf boot. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: »Zur historischen Dynamik von Klassenzusammensetzung, Gastarbeitsmigration und Politik«, in: Thien, Hans G. (Hg.): Klassen im Postfordismus, Münster, i.E.; (2009) »Zur Materialität immaterieller Arbeit und Migration«, in: Bildpunkt, Nr.1, Wien; (2008) Migration und Regulierung, Münster; (2007) »Ethnizität und Distinktion in der ›hybriden‹ Kulturindustrie«, in: Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt, Nr. 108, Münster. Email: ctuerkmen@ gmail.com Paula-Irene Villa (*1968) ist Professorin für Soziologie/Gender Studies an der LMU München. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Geschlechtersoziologie, soziologische Theorien (insbes. Poststrukturalismus, Subjektivierung/Vergesellschaftung, Mikrosoziologien), Körper- und Kultursoziologie sowie Elternschaft. Zentrale Publikationen: schön normal. Manipulationen des Körpers als Technologien des Selbst, Bielefeld 2008; Judith Butler, Frankfurt a.M. 2003; Images von Gewicht. Queer Theory, Soziale Bewegungen und Kunst in den USA, Bielefeld 2007 (gem. mit Lutz Hieber); »Fremd sein – schlau sein? Soziologische Überlegungen zur Nomadin«. In: Hitzler, Ronald/Gebhardt, Winfried (Hg.), Nomaden, Vagabunden oder Flaneure? – Wissensformen und Denkstile der Gegenwart, Wiesbaden 2006. Email: [email protected]

Postcolonial Studies Sérgio Costa Vom Nordatlantik zum »Black Atlantic« Postkoloniale Konfigurationen und Paradoxien transnationaler Politik 2007, 292 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-702-8

Anette Dietrich Weiße Weiblichkeiten Konstruktionen von »Rasse« und Geschlecht im deutschen Kolonialismus 2007, 430 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-807-0

Wulf D. Hund (Hg.) Entfremdete Körper Rassismus als Leichenschändung Juli 2009, 252 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1151-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2009-10-29 12-04-47 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 031b224715105806|(S.

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) ANZ906.p 224715105814

2008-05-27 12-26-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a8179786122216|(S.

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) T00_02 seite 2 - 746.p 179786122240