Pop & Mystery: Spekulative Erkenntnisprozesse in Populärkulturen [1. Aufl.] 9783839426388

What if? Cinema and Television, Music and the internet have long been exercising transgressions of reality. A book about

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German Pages 204 Year 2015

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Pop & Mystery: Spekulative Erkenntnisprozesse in Populärkulturen [1. Aufl.]
 9783839426388

Table of contents :
Inhalt
SPEKULATIONEN
Popspekulationen. Unmögliches möglich denken oder auch schon einmal ausprobieren
STILSCHÖPFUNGEN
AAAFNRA. Grundzüge einer Ästhetik des Erratischen
Preacher Men. Mystizismus und Neo-Mythologie im britischen Gothic-Rock
GRENZ-/ÜBERSCHREITUNGEN
Frontierland!. Spekulative Grenzerfahrungen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen in der US-amerikanischen Mystery-Serie SUPERNATURAL
A Superhero Never Dies. Zur Transkulturalität einer plurimedialen Figur
ANEIGNUNGEN/TRANSFORMATIONEN
Die Natur, der Mensch und das Ende. Spekulative Weltentwürfe des Apokalyptischen im Film
Eine Theorie des Populär-Spekulativen in sozialen Medien
Bildmotive
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Marcus S. Kleiner, Thomas Wilke (Hg.) Pop & Mystery

Popkulturen | Band 1

Die Reihe Popkulturen wird herausgegeben von Marcus S. Kleiner und Ramón Reichert.

Marcus S. Kleiner, Thomas Wilke (Hg.)

Pop & Mystery Spekulative Erkenntnisprozesse in Populärkulturen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Kuno Seltmann, Lüdenscheid 2014 Lektorat/Korrektorat: Henriett Wilke, Meike Kneip, Anna Schorn Satz: Anna Schorn, Thomas Wilke Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2638-4 PDF-ISBN 978-3-8394-2638-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt S PEKULATIONEN Popspekulationen Unmögliches möglich denken oder auch schon einmal ausprobieren

Olaf Sanders | 11

STILSCHÖPFUNGEN AAAFNRA Grundzüge einer Ästhetik des Erratischen

Holger Schulze | 41 Preacher Men Mystizismus und Neo-Mythologie im britischen Gothic-Rock

Marcus Stiglegger | 63

G RENZ-/ÜBERSCHREITUNGEN Frontierland! Spekulative Grenzerfahrungen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen in der US-amerikanischen Mystery-Serie S UPERNATURAL

Marcus S. Kleiner | 85 A Superhero Never Dies Zur Transkulturalität einer plurimedialen Figur

Ivo Ritzer | 133

ANEIGNUNGEN/TRANSFORMATIONEN Die Natur, der Mensch und das Ende Spekulative Weltentwürfe des Apokalyptischen im Film

Thomas Wilke | 155 Eine Theorie des Populär-Spekulativen in sozialen Medien

Ramón Reichert | 185

Bildmotive | 199 Autorinnen und Autoren | 201

Spekulationen

Popspekulationen Unmögliches möglich denken oder auch schon einmal ausprobieren O LAF S ANDERS Für Michael Rappe und Rainer Winter, denen ich die Beispiele verdanke.

1. D REI ANFANGSGRÜNDE 1.1 Zombies Die leitende Fiktion der britischen Cultural Studies, dass populäre musikbasierte Jugendkulturen den struggle des Alltagslebens erleichtern, indem sie für empowerment sorgen, das sich nur recht holprig übersetzen ließe, als „Ermächtigung“ z.B., kreative Techniken und Taktiken des Ausweichens hervorbringen und bisweilen sogar den hegemonialen Mächten in die Quere kommen oder diese sogar zwingen, sich im langen Lauf neu zu konfigurieren, hat mit dem Glaubwürdigkeitsverlust der großen Erzählung – egal ob: „Spekulative Erzählung oder Erzählung der Emanzipation“1 – an Überzeugungskraft verloren. Die leitende Main-Sub-Unterscheidung wurde vom Mainstream der Minderheiten verwaschen und davongetragen,2 der Widerstand gegen den Widerstand, wie er sich auf Tanzfluren ausdrückte,3 festigte letztlich die Herrschaft der Diktatur der

1

Lyotard 1986 [frz. 1979], 112.

2

Vgl. Holert/Terkessidis 1996.

3

Vgl. Klein 1999.

12 | OLAF S ANDERS

Angepassten.4 Sie könnte einem also scheißegal sein, die populäre Kultur – und die meisten ihrer Teile sollten das wohl auch tatsächlich, obwohl man natürlich nie sicher sein kann, ob dort allen Vorurteilen zum Trotz nicht doch als Straßenweisheit oder Alltagsklugheit eine neue smartness wächst.5 Aufgrund dieser nicht auszuräumenden Unsicherheit überleben die Fiktionen der Cultural Studies wie Zombies. Als Zombies bezeichnet Adam (Tom Hiddleston), der nicht nur Detroit liebende Vampir aus Jim Jarmuschs entspannt-coolem Film Only Lovers Left Alive (UK/D 2013), die Menschen. Adams Zombiehass speist sich aus einem Nietzscheanismus, dem deutlich vor Augen steht, dass der Ausgang aus dem selbstverschuldeten Mittelmaß verpasst und die Selbstüberwindung zum Übermenschen verbockt wurde. Mensch und Menschheit erweisen sich im 21. Jahrhundert bisher zumeist und größtenteils als ebenso bildungsresistent wie schon im kurzen 20. Jahrhundert6. Was aber, wenn die Geschichte trotzdem nicht endet? Dass Geschichte auch nach ihrem Ende noch gemacht wird, könnte einen Grund in der Natur der Zombies haben, die leben, obwohl sie tot sind, was sie zu interessanten Figuren macht, und begründen, warum es klug sein könnte, die Zombie-Theorie nicht vorschnell zu verabschieden. Man muss nur an das Leben glauben. Greifen wir also zur Theorie-Gretsch Chat Atkins. Der vorliegende Text variiert drei Akkorde in ihrer einfachsten Form als Dreiklänge. Stuart Hall stellt am Ende seines Aufsatzes Notes on Deconstructing „the Popular“7 ganz zutreffend fest, dass wir – wer immer das sei –, manchmal zu einer Kraft (a force) gegen den Machtblock (the power bloc) gebildet sein könnten und genau dies dann eine historische Öffnung sei, in der es möglich werde, eine auf genuine Weise populäre Kultur zu schaffen. Genuin heißt hier eine vom Volk ausgehende Kultur, etymologisch verwurzelt in lateinischen Nomen populus für Volk und interessanterweise zuerst wohl für Kriegsvolk. Das Volk kommt auf einer Kriegsmaschine daher. Meistens aber, schreibt Hall weiter, seien wir gegenteilig konstituiert – und in diesem Fall sollte man das Verb to constitute wirklich nicht mit bilden übersetzen. Die Konstitution formt uns zu einer effektiven populären Kraft (an effective popular force), die die Macht bejaht. Hier scheint Hall das Adjektiv „popular“ eher in seiner auf Massenkultur bezogenen Bedeutung zu verwenden. Sinn gleitet, und Hall beschreibt populäre Kultur auf zweifach ambivalente Weise als Feld (site), auf dem der Kampf (struggle)

4

Vgl. Behrens 2003.

5

Vgl. u.a. Johnson 2006.

6

Vgl. Hobsbawm 1995.

7

Hall 1998 [1981], 453.

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für oder gegen die Macht oder die Mächtigen ausgetragen wird, und zugleich als den in diesem Kampf zu gewinnenden oder verlierenden Einsatz (stake). Er nennt populäre Kultur eine Arena von Konsens und Widerstand, in der auch Hegemonien entstehen oder gesichert werden. Sie sei, schließt er, nicht die Sphäre, wo Sozialismus oder eine bereits voll durchgebildete sozialistische Kultur einfach ausgedrückt werde, aber einer der Orte (places), wo Sozialismus womöglich begründet – eine weitere Übersetzung für constituted – werde. Immer wieder gern zitiert: „Otherwise, to tell you the truth, I don’t give a damn about it.“ Die Ankündigung, wahr sprechen zu wollen, und die rauer werdende Sprache, deuten auf eine kynische Haltung hin, wie sie noch der Punk wieder auflegt, so dass sie in die Zeit passt. Wie lassen sich also in der Geste von Theorie-Punk, die seltenen Bildungsbedingungen von Völkern beschreiben, die sich eine im emphatischen Sinn eine populäre Kultur geben, die nicht anders sein kann als sozialistisch? Sind Affirmation und Kritik wirklich Widersprüche und ein Problem, wie Hall unterstellt? Und welche Rolle spielt das durch die selbst schon wieder verabschiedete Postmoderne verabschiedete spekulative Denken dabei? Für Jean-François Lyotard „bedeutet der Postmodernismus nicht das Ende des Modernismus, sondern dessen Geburt, dessen permanente Geburt.“8 Aber was heißt permanente Geburt? Bleibt das Volk durch die Permanenz im Kommen? Die Kriegsmaschine verwandelt sich leicht in einen Hexenbesen, nicht immer leicht zu reiten. 1.2 Nigeria Klaus Leggewie behauptet – wie er selbst feststellt – gegen alle Evidenz: „Afrika wird in hundert Jahren die Vorzeigeregion der Welt sein!“9 Afrika, so Leggewies Prognose, wird sich vom „Nicht-Ort der Weltgesellschaft“10 emanzipieren und seinen „realen Ort“ offenlegen als „interdependente Weltgesellschaft“ mit den alten „utopischen Energien […] Autonomie und Weltbürgerschaft“11. Gegenwärtig sieht es so aus, als hätte das afrikanische Jahrhundert bereits begonnen – und zwar als nigerianisches. Iyeokas großartiges Album Say Yes Evolved (2014) – ist das womöglich eine andere Art von Bejahung als die von Hall gemeinte? – eignet sich als Tonspur zu den Büchern von Teju Cole, der uns in Open City (2012) darüber aufklärt, dass es gefährlich sei, in einer sicheren Welt zu leben12, oder

8

Lyotard 1987, 26.

9

Leggewie 2004, 47.

10 Ebd., 63. 11 Ebd., 64. 12 Vgl. Cole 2012, 258.

14 | OLAF S ANDERS

von Chimamanda Ngozi Adichie, die in Americanah (2014) beschreibt, wie die Nigerianerin Ifemelu sich erst in den USA als schwarz erfährt, oder oder oder. Zu den großen Stimmen mit nigerianischen Wurzeln gehört z.B. auch, was zuzugeben bleibt, obwohl wir sie natürlich anders als die meisten Anderen – wie die Chart-Platzierungen nahelegen – nie wirklich gehört haben, Sade Adu als Sängerin von Sade. Smooth Operator, das Eröffnungsstück der LP Diamond Life (1984), wurmt heute noch manche Ohren. Leichter fällt die Identifikation mit der Musik von Fela Kuti, der einigen als „King of Afrobeat“ gilt, oder seinem Sohn Femi. Der bläserlastige Afrobeat fusioniert Funk und Jazz und YorubaPecussion mit der Tradition des Ghanaer Highlife. Gesungen wird auf Yoruba oder nigerian pidgin. Yoruba-Gesang findet man noch im Detroit-Techno bei Carl Craig. Creol wirkt als mindere Sprache und Medium von Kritik.13 Die offensichtlich politische Farbe und Ethnobeiklänge fehlen William Onyeabor. Who is William Onyeabor? (2013) fragt man und als Plattentitel nach der Identität eines so gut wie unbekannten futuristischen nigerianischen Musikers, dessen seiner Zeit vorauseilenden Moog-Synthie-Tracks aus den späten 1970er und frühen 1980er Jahren sich durch die so betitelte Kompilation wiederentdecken lassen. Seine Geschichte erzählt der Kurzfilm Fantastic Man (USA 2014), den man auf Youtube sehen kann. In diesem Film schwärmt Damon Albarn von Onyeabor, und Niklas Maak erklärt ihn in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zum Helden der nigerianischen Moderne.14 Nigerianische Moderne? Hat die von Leggewie prognostizierte Zukunft womöglich längst stattgefunden oder kommt sie einem nur wieder aus der Vergangenheit zu? Der Ölboom beförderte in den 1970er Jahren die nigerianische Moderne, die sich auch in der Architektur von Lagos ausdrückt. Warum kennen wir William Onyeabor nicht? Onyeabor studierte Film in Moskau, und im Film wird über Nomenklatura-Sponsoren spekuliert. Zurück in Lagos legte er nicht das Nollywood-Kino Grund, sondern produzierte Musik und raste in S-Klasse-Mercedessen durch die Stadt, die heute vor seinem Haus verrotten. Onyeabor arbeitet inzwischen als Pastor, verweigert Interviews zu seiner Vergangenheit und empfiehlt die Bibellektüre. Sein Leben verbindet die unglaubliche Geschichte von Sixto Rodriguez mit David Milchs unterschätzter HBO-Serie John From Cincinnati (USA 2007). The end is near. Again. Der sich in der Gegenwartsliteratur und zeitgenössischen Popmusik aus nigerianischen Quellen speisende und nur schwer zu übersehende Strom wirbelt gegenwärtig vor allem in den USA, wo sich amerikanisches Rhizom und Pop-

13 Vgl. Sanders 2001. 14 Vgl. FAZ 20 vom 18. Mai 2014, 34.

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Philosophie leicht bilden.15 Im Rhizom ist überall Milieu oder Mitte, auch in Afrika. 1.3 Wahn Dass Buchbeiträge oft zu früh erscheinen, ist ein Gemeinplatz, der manchmal stimmt. Vor der Fertigstellung meines Beitrags zur Empirie des Schulhausmeisterkindes Mike Kelley sowie zu Risiken und Dringlichkeit minderer Wissenschaft16 hätte ich gern Niels Bolbrinkers Dokumentarfilm Die Wirklichkeit kommt (2013) gesehen. Bolbrinker folgt in diesem Film Menschen, die sich verfolgt fühlen, Menschen, die sich der linken Szene zurechnen lassen oder eine Biografie haben, in der Migration und Flucht nicht immer scharf zu unterscheiden sind. Die meisten dieser Menschen haben Erfahrung mit totalitären Regimen. Einer fühlt sich durch Mikrowellenkanonen gefoltert, was so wenig nachweisbar ist wie die Verwandlung in ein menschliches Radio, das Stimmen empfängt, die einen dann manchmal auch noch beleidigen. Vieles klingt wie in einem Romanen von Dietmar Dath, z.B. in Waffenwetter (2007).17 Wollte man den Wahn der Menschen in Bolbrekers Film diagnostizieren, würde man wohl psychotischen Spektrum fündig. Wer neues Wissen generieren will, muss sich über die Wirklichkeit hinaus wagen.18 Für psychotische Wissenschaftler liegt hinter der Realität das Reale, das ihnen direkt zugänglich ist und nicht über neurotische Umwege durch das Symbolische oder Imaginäre. Psychotiker sind im Realen, von dem wir seit Lacan annehmen, dass es auf die Grenzen der Darstellbarkeit keine Rücksicht nimmt und sich auch nicht darstellen lässt. Während Bolbrinker seinen Film machte, dämmerte durch die tapferen Taten Edward Snowdens, dass die tagtäglich stattfindende Überwachung durch die NSA und andere Geheimdienste demokratischer Gesellschaften viel feiner und umfassender stattfindet als es sich real existierende totalitäre Regime vor 30 Jahren auch nur hätten träumen lassen können. Das letzte Postskriptum ist über Kontrollgesellschaften noch ungeschrieben, und wir fürchten uns – nach wie vor und wie so oft – vor den falschen Dingen und Zusammenhängen. Es ist eben gefährlich, in einer sicheren Welt zu leben. Die Sorgen der Protagonisten in Bolbrekers Film hätten wir längst haben sollen. Während der Dreharbeiten – diese eigentümliche Erfahrung lässt der Regisseur im Film auch sprechen – verwandelten sich die Verrückten in

15 Vgl. Sanders 2014. 16 Sanders 2014b. 17 Vgl. Sanders 2009. 18 Vgl. Pazzini 2005.

16 | OLAF S ANDERS

feinsinnig wahrnehmende Visionäre. Schon Friedrich Kittler übernimmt den Begriff „Aufschreibsysteme“ aus Daniel Paul Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (zuerst 1900). Das zeigt: „Die mindere Wissenschaft bereichert die höhere unaufhörlich, indem sie ihr ihre Intuition kommuniziert, ihren Fortgang, ihr Umherwandern, ihren Sinn und Geschmack für die Materie, die Singularität, die Variation, die intuitionistische Geometrie und die zählende Zahl.“19 Mindere Wissenschaft bricht den Kontakt mit der Philosophie und den Künsten nicht ab und fürchtet auch den Wahn weniger als die stattliche staatlichstatistische. Poptheorie funktioniert angemessen nur im minoritären Modus, und dieser Modus ist in der Regel „hoch spekulativ“, fasst diese Zuschreibung aber nicht als Beleidigung auf. Wie funktionieren Popspekulationen? Es folgen drei Rückversicherungen.

2. D REI T HEORIEN 2.1 Hegel Nach der kritischen Prüfung der Fundamente durch Kant errichtet Hegel als Großmeister spekulativen Denkens darauf ein System, als dessen ersten Teil er die Phänomenologie des Geistes (1807) konzipiert und das selbst wiederum anders funktioniert, als Kant es sich vorgestellt haben mag. Das passiert, wenn Philosophen tun, was große Philosophen getan haben, also die Geste des Denkens wiederholen und nicht nur, was schon gesagt oder geschrieben wurde. Sie generieren durch den Gebrauch ihrer Einbildungskraft Abweichung, die sie in der Nachfolge vermieden wissen wollen. So warnt Kant in der Kritik der Urteilskraft ausdrücklich davor, „nach Grundsätzen träumen (mit Vernunft rasen) zu wollen“20. Ohne Träume, keine Kritiken; und Hegel schlägt diese Warnung, wohl auch aufgrund seiner Zeitgenossenschaft mit der Frühromantik, die sich im gemeinsam mit Hölderlin und Schelling entworfenen ältesten Systemprogramm ausdrückt, in den Wind. Die ästhetische Grundierung seines Denken bewahrt Baumgartens schon in der Vorbemerkung zur Ästhetik formulierte Einsicht, dass Verwirrung (confusio) zwar „die Mutter des Irrtums“21 sei, aber eben auch „die unerläßliche Bedingung zur Auffindung der Wahrheit, weil die Natur keinen

19 Deleuze/Guattari 1997, 672 [frz. 1980, 605.]. 20 Kant 1974, Bd. X, 202 (B 125). 21 Baumgartens 2007 [1750/1758], § 7, 15.

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Sprung macht von der Dunkelheit in die Deutlichkeit.“ Confusio heißt ursprünglich Zusammengießen, und populäre Kultur entsteht oft wie der Afrobeat durch produktive Konfusion. Hegels Phänomenologie des Geistes ist ein wahrhaft verrücktes Buch oder – so nennt Friedrich Kittler es im Gespräch mit Till Nikolaus von Heiseler– „ein unglaublich spannender esoterischer Roman“22. Was lehrt dieser Roman über das Spekulative? In der Phänomenologie finden sich mindestens zwei einschlägige Passagen zum spekulativen Wissen, eine in der Vorrede und die zweite am Ende des VII. Kapitels über die Offenbare Religion: „In der Natur dessen, was ist, in seinem Sein sein Begriff zu sein, ist es, daß überhaupt die logische Notwendigkeit besteht; sie allein ist das Vernünftige und der Rhythmus des organischen Ganzen, sie ist eben so sehr Wissen des Inhalts, als der Inhalt Begriff und Wesen ist, – oder sie allein ist das Spekulative. – Die konkrete Gestalt sich selbst bewegend macht sich zur einfachen Bestimmtheit, damit erhebt sie sich zur logischen Form und ist in ihrer Wesentlichkeit; ihr konkretes Dasein ist nur diese Bewegung und ist unmittelbar logisches Dasein.“23

Aha, auch überrascht der beinah Kleist‘sche Sound und Rhythmus – und: „Gott ist also hier offenbar, wie er ist; er ist so da, wie er an sich ist; er ist da, als Geist. Gott ist allein im reinen spekulativen Wissen erreichbar, und ist nur in ihm und ist nur es selbst, denn er ist der Geist; und dieses spekulative Wissen ist das Wissen der offenbaren Religion. Jenes weiß ihn als Denken oder reines Wesen, und dies Denken als Sein und als Dasein, und das Dasein als die Negativität seiner selbst, hiermit als Selbst, dieses und allgemeines Selbst; ebendies weiß die offenbare Religion.“24

Für das Verständnis des ersten Zitats erweisen sich die beiden voranstehenden, durch einen Absatz von ihm abgesetzten Sätze als hilfreich: „Die Bestimmtheit scheint zuerst und nur dadurch zu sein, daß sie sich auf ein Andres bezieht, und ihre Bewegung ihr durch eine fremde Gewalt angetan zu werden; aber daß sie ihr Anderssein selbst an ihr hat und Selbstbewegung ist, dies ist eben in jener Einfachheit des Denkens selbst enthalten; denn diese ist der sich selbst bewegende und unterscheidende

22 Heiseler 2013, 19. 23 Hegel 1988 [1807], 42. 24 Ebd., 496f.

18 | OLAF S ANDERS Gedanke, und die eigene Innerlichkeit, der reine Begriff. So ist also die Verständigkeit ein Werden, und als dieses Werden ist sie Vernünftigkeit.“25

Auch wenn die Phänomenologie kein Jugendwerk mehr ist – Hegel ist Mitte dreißig, als das Buch erscheint –, gilt für sie auch in ihrer Funktion als Erster Theil seines Systems der Wissenschaft, was er viel später in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie über den Spinozismus schreibt: „Wenn man anfängt zu philosophieren, so muß man zuerst Spinozist sein. Die Seele muß sich baden in diesem Äther der einen Substanz, in der alles, was man für wahr gehalten hat, untergegangen ist. Es ist diese Negation alles besonderen, zu der jeder Philosoph gekommen sein muss; es ist die Befreiung des Geistes und seine absolute Grundlage.“26

Anders als Kant, scheint Hegel keine Angst gehabt zu haben, Spinozist genannt zu werden; denn er selbst muss überzeugt gewesen sein, diesen Ausgangspunkt überwunden und damit auch außer Kraft gesetzt zu haben. Bekanntlich hat „aufheben“ in der Hegelschen Dialektik diese dritte Bedeutung neben bewahren und hoch- oder – im Sinn moderner Fortschrittslogik – eher höher heben, was in diesem Fall gleichermaßen zutrifft. Der „Nus“ – als seinerzeit üblich Schreibweise für nous als Vermögen geistiger Wahrnehmung – erkennt die eine Substanz und alles, woraus sie sich zusammensetzt, in der jeweils eigenen Einfachheit, was natürlich nicht bedeutet, dass es leicht wäre, richtig zu erkennen, sondern in einem Denkakt, den Spinoza als höchste Art zu denken auszeichnet und Intuition nennt, zu erkennen, dass die Andersheit kein Außen markiert. Das „Andre“, auf das sich das Bewusstsein bezieht, erweist sich als Effekt begrifflicher Differenzierung. Die Natur oder das Wesen allen Seins und Daseins liegt in seinem BegriffSein. Das eben gilt es zu verstehen. Außerdem gilt es zu begreifen, dass dieses Sein nicht nur Sein ist, sondern vor allem ein Werden und als Werden „Vernünftigkeit“. Die Vernunft geht als Einheit von Sein und Werden und als Ausdruck logischer Notwendigkeit, die Hegel „das Vernünftige“ nennt, noch über bloße Vernünftigkeit hinaus, indem sie sie umfasst. Dass er die „logische Notwendigkeit“ zudem als „Rhythmus des organischen Ganzen“ bestimmt, den Ernst Bloch als „Prozeß-Walzer a priori“27 bezeichnet, weil sich dieser Tanzstil wie Hegels

25 Ebd., 42. 26 Hegel 1986, Bd. 20, 165. 27 Bloch 1971, 135.

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Philosophie durch einen „schematisch durchgehaltene[n] Dreitakt“28 auszeichnet, wird dann auch wieder problematisch. Zwar erscheint der Walzer im Vergleich zum Menuett, das er zu Beginn des 18. Jahrhunderts verdrängte, tatsächlich als der freiere Tanz; allein die Rückschau in Konzertsäle und auf Tanzflächen der letzten Jahrzehnte zeigt aber wie leicht noch viel mehr Befreiung von der Form und von neuen Figuren – kurz: mehr Emanzipation – denkbar ist. Hier setzen Deleuze und Deleuze/Guattari ein, wenn sie das „organischen Ganze“ insgesamt in Bewegung setzen und durch die Schaffung von Körpern ohne Organe die unterstellte organische Organisation als Hegels blinden Fleck beleuchten und bekämpfen. Im Hinblick auf Freuds Entdeckung des Unbewussten als sehr bewegliche und vielfältige Mannigfaltigkeit schreiben Deleuze und Guattari von Angst, die Freud befallen und dann den Willen befördert habe, das Unbewusste immer wieder mit Hilfe der Triade Vater-Mutter-Kind zu bremsen und festzustellen. Ähnliches könnte man auch für Hegel behaupten. Die Angst vor der eigenen Entdeckung, die sich noch in Kants oben zitierter Warnung ausdrückt, scheint viele große Philosophen auszuzeichnen. Dass Freiheit und Bildung schwierige Prozesse implizieren, lässt sich ohnehin nicht leugnen. Für Hegel ist die logische Notwendigkeit das Wissen des Inhalts und der Inhalt zugleich Begriff und Wesen. Die zweite Setzung begründet die erste. Inhalt gibt es ohne Formgebung nicht; er kann auf den Begriff beschränken oder sich mit Hilfe von Begriffen in ihrem Wesen erfasste Natur ausdehnen. Aufgrund dieser Annahme kann Hegel die logische Notwendigkeit als das Spekulative ausgeben. Nun misslingt der Schritt ins absolute Wissen leider. „Das Ganze ist das Unwahre“29, schreibt Adorno in Zwergobst lapidar. Der Geist stolpert zurück in die Religion, die bei Hegel, „als Bewußtsein des absoluten Wissens“30 beginnt, sich aber nicht mehr zum Selbstbewusstsein als absolutem Wissen weiterentwickeln kann. Das Bewusstsein kann nur daran glauben und so tun, als ob es gelänge; und eben dieses Als-ob ist in vielen der vielfältigen populär-kulturellen Praxen auszumachen. Pop richtet sich ein in der sinnlichen Religion, von der Hegel, Schelling und Hölderlin schon im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus schreiben, dass „[n]icht nur der große Haufen“31, sondern „auch der Philosoph“32 sie haben müsse. In seinen großen Momenten lassen sich im Pop womöglich sogar Motive offenbarer Religion finden, bei Donny Hatha-

28 Ebd. 29 Adorno 1997, Bd. 4, 55. 30 Ebd., 443. 31 Hölderlin 1994 [1795/96], 577. 32 Ebd.

20 | OLAF S ANDERS

way oder Sixto Rodriguez beispielsweise. Die Aufgabe der sinnlichen Religion besteht zunächst bescheidener darin, Ideen zu ästhetisieren, damit der Philosoph zur Sinnlichkeit findet und das Volk zur Vernunft: „Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen.“33 Diese Formulierung erinnert an Wilhelm von Humboldts34 oft zitierte Formulierung des Bildungsbegriffs, die die höchste und proportionierlichste Bildung aller menschlichen Kräfte – also das Singulär-Werden – zum wahren Zweck des Menschen erklärt, und Schillers Konzept ästhetischer – und eben dadurch die Nebenwirkungen dieses Gewaltverhältnisses vermeidender – Erziehung, die beide in etwa zeitgleich, d.h. ein, zwei, drei Jahre vor dem ältesten Systemprogramm niedergeschrieben wurden. Pop bedeutet, weil er bildend wirken kann. Hier ließe sich mit Hall anschließen, allerdings nur im Umweg über Marx; und Marx beschreibt Hegels Auffassung von Logik im dritten seiner Ökonomischphilosophischen Manuskripte als „das Geld des Geistes“35, durch das sich „der spekulative, der Gedankenwert des Menschen und der Natur“ ausdrückt, und fasst das im ältesten Systemprogramm formulierte Vorhaben in der Formel „die aufgehobene Kunst = Religion“36 zusammen. Weil das Geld auch Unvergleichliches vergleichbar werden lässt, die Platte springt und die zweite Negation ausbleibt, folgt auf die offenbare Religion nicht das absolute Wissen. Stattdessen entsteht ein Loop, in dem sich auch die Entgeisterung einnisten kann. Mit „nothing comes“37 umschreibt der Schriftsteller und Essayist Robert Menasse ihren offensichtlichsten Effekt in der Phänomenologie der Entgeisterung klug. 2.2 Deleuze Mit Slavoj Žižek lässt sich behaupten, dass mit Hegel die Moderne beginnt, endet und wiederbeginnt.38 Schon deshalb ist Deleuze kein Anti-Hegelianer – und Deleuze/Guattari sind es auch nicht. Deleuze und Guattari schlagen zwar vor, die Widersprüche durch Stufen des Humors zu ersetzen39, was Hegel wahrscheinlich entsetzt hätte; einfache Negation halten sie aber alle für eine (gefährliche) Trivialisierung. Die einzigen Fehler, die Hegel aus Deleuzes Perspektive macht,

33 Ebd. 34 Humboldt 1980 [1792], Bd. 1, 64. 35 Marx 2005 [1844], 130. 36 Ebd., 143. 37 Menasse 1995, 8. 38 Vgl. Žižek 2013. 39 Vgl. Deleuze/Guattari 1977, 87.

P OPSPEKULATIONEN | 21

sind neben besagter Festlegung auf den Dreivierteltakt, der den Rhythmus als differenzierende Kraft lähmt, dass er Werdensprozessen Anfang und Ende gibt und dem Möbiusband, das im Bau der Phänomenologie angelegt ist, nicht konsequent folgt. Dadurch dass Hegel Werdensprozesse begrenzt, ordnet er das Werden dem Sein letztlich wieder unter. Für Deleuze sind Sein und Werden zwei Stränge einer doppelten Artikulation, wobei „Artikulation“ bei Deleuze wie „Aufheben“ bei Hegel drei Bedeutungen hat: Außer Ausdruck bedeutet es noch Verbindung und Gliederung, was immer auch Trennung impliziert. In der Terminologie von Deleuze heißt das Ganze das Virtuelle. Es handelt sich um die mächtigste denkbare Menge. Ein absolutes Außen fehlt. Deleuzes Philosophie setzt wie Spinozas auf radikale Weise auf Immanenz. Transzendenz erscheint in ihrem Zusammenhang nur als Machteffekt, der eine Vertikalität erzeugt, die es (immer wieder) einzuebnen gilt. Mannigfaltigkeiten, wie Deleuze und Deleuze/Guattari im Sinn haben – Menge und Mannigfaltigkeit sind wichtige Begriffe in Deleuzes Vokabular –, verfügen über keine überflüssige Dimension. Sie sind flach wie das amerikanische Rhizom, in dem Pop bis heute immer weiter wächst. Deleuze und Guattari führen das amerikanische Rhizom in dem schmalen Bändchen Rhizom (1977) ein, einem Text, den sie zur Einleitung in Tausend Plateaus (frz. 1980, dt. 1992) ausbauen. Dort heißt es: „Man müsste Amerika einen besonderen Platz schaffen. Sicher, es ist nicht ausgenommen von der Dominanz von Bäumen und einer Erforschung [recherche] von Wurzeln. Man sieht dies sogar in der Literatur, in der Suche [quête] nach einer nationalen Identität und selbst einer europäischen Abstammungslinie oder Genealogie (Karouac bricht wieder auf zur Suche [recherche] nach seinen Vorfahren). Dennoch vollzieht sich alles, was an Wichtigem geschah und geschieht, durch amerikanisches Rhizom: Beatnik, Underground, Keller, Bands und Gangs, aufeinanderfolgende laterale Triebe in unmittelbarer Verbindung mit einem Außen. Differenz zwischen einem amerikanischen Buch und einem europäischen, selbst wenn das amerikanische sich auf die Verfolgung von Bäumen begibt. Differenz in der Konzeption von Buch. Grasblätter. Und es sind nicht dieselben Richtungen in Amerika: im Osten finden die aboreszente Forschung [recherche] und die Rückkehr in die alte Welt statt. Aber der rhizomatische Westen mit seinen Indianern ohne Abstammungslinie, seiner immer flüchtigen Grenze [limite, und] seiner beweglichen und verschobenen Grenzen [frontières]. Eine ganz amerikanische ,Karte‘ im Westen, wo selbst die Bäume Rhizom bilden.“40

40 Deleuze/Guattari 1997, 33 [frz. 1980, 29]; Deleuze/Guattari 1977b, 31; Übersetzung verändert.

22 | OLAF S ANDERS

Das amerikanische Rhizom weitet den Pop-Begriff, so dass er auch Walt Whitmans Leaves of Grass, die Grasblätter, die selbst für ein Rhizom stehen, noch aufnimmt. Whitman erscheint als früher Beat-Poet. Gras begreifen Deleuze und Guattari wie das Gehirn als Kraut, das sie streng von Baum oder Pfahlwurzel unterscheiden. Ohne Stamm oder Pfahl fehlt das Zentrum, um das herum sich durch in der Regel dichotome Teilungen feinere Strukturelemente anordnen. Baumstrukturen neigen zudem zu Verhärtungen und zu Vertikalität. Beidem gilt es entgegenzuwirken, eben darin besteht der struggle. Rhizome können Teile von Bäumen sein und Bäume in Rhizomen wachsen. So bilden natürlich gewachsene oder verwilderte Wälder Rhizom. Das Entweder-oder wird zusehends suspendiert zugunsten von Und-und-und. Verhärtungen und Verflüssigungen erzeugen selbst wieder Rhythmen, die für weitere Abweichungen sorgen. Karte fungiert bei Deleuze und Guattari als Gegenbegriff zu Kopie, die durch Identität besticht, wohingegen eine Karte gerade nicht ist, was sie kartiert. Die gespiegelte Geographie bezieht sich auf Europa, wo Rhizome, die – wie eben bereits bemerkt – aus lauter Mitten bestehen, eher ostwärts zu finden sind. Neues entsteht bei Deleuze durch Aktualisierung. Auch beim Übergang vom Virtuellen ins Aktuelle verändert sich das Element, das aktualisiert wird, so dass es nach der Aktualisierung nicht mehr ist, was es vor ihr war. Auf diese Weise kann sogar etwas absolut Neues entstehen, das im Virtuellen, als der Menge alles Wirklichen, Möglichen und Unmöglichen noch nicht enthalten war, aber natürlich schon im Entstehen ein Element dieser Menge wird. Deleuze und Guattari stehen Hegel entgegen geläufiger Vorurteile manchmal überraschend nah. Rhizom ist nicht nur einer der bekanntesten und ansteckendsten Begriffe von Deleuze und Guattari, sondern bezeichnet auch die Aktualisierung von Mannigfaltigkeiten. Das amerikanische Rhizom aktualisiert die Pop-Mannigfaltigkeit. Andere in Tausend Plateaus beschriebene Aktualisierungen sind Meuten und Kristalle. Die Aktualisierungen, denen Werdensprozesse korrespondieren, lassen sich in einer Reihe anordnen, die sich aus der Radikalität ergibt, mit der sie von der Norm abweichen. Meute, Rhizom, Kristall; Tier-Werden, Pflanze-Werden, Anorganisch-Werden. Als Norm wirkt ein globalisierter WASP (= White AngloSaxon Protestant), also der weiße erwachsene Mann aus dem nordatlantischen Raum. Amerika steht wie Meer oder Wüste bei Deleuze/Guattari für einen glatten Raum, der in der Bewegung entsteht. Angetrieben wird die Bewegung maschinisch. Die abstrakte Maschine sorgt auf der Immanenzebene für Vibrationen, die ein anorganisches Leben in Gang halten. Deleuze setzt anders als Hegel bei Spinoza an. Giorgio Agamben findet bei Deleuze „eine scharfsinnige etymologische Wendung, die den Ursprung des Wortes Immanenz von manere (bleiben, verharren) in manare (strömen, fließen)

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verlegt“41, was Spinozas Substanz in einen Fluss verwandelt, der sich nach Bedarf als Materie- oder Bewegungsbilderstrom und – enger geführt auf Tonbilder – wiederum als Musik oder freier indirekter Diskurs beschreiben lässt. Wechselt man aus der handlungstheoretischen Subjekt-Objekt-Verhaftung in das maschinische Denken, dann ersetzt der Synthesizer das synthetische Urteil. Durch den Gedanken-Synthesizer wird aus Philosophie Pop-Philosophie. Sie reist neuen Populationen entgegen und greift dem Ereignis nicht vor. „Es ist nicht sicher, dass die Klangmoleküle der Popmusik nicht gegenwärtig hier oder da ein Volk neuen Typs ausstreuen, auf einzigartige Weise [singulairement] indifferent gegenüber Anordnungen aus dem Radio, Kontrollen der Computer, der Bedrohung durch die Atombombe.“42 Das klingt, als könnten die Klangmoleküle den Protagonisten aus Die Wirklichkeit kommt auch helfen. Die Bedrohung durch „die Atombombe“ hat nach 1989 erheblich abgenommen. Dass William Onyeabors zweite Platte Atomic Bomb (1978) heißt, kann Zufall sein. Wie auch immer, Onyeabors Synthie-Pop knallt. Zum Werden des „Black AtlantikFuturismus“ findet sich einiges bei Eshun.43 Statt dem Geist über die geebneten Bildungsstufen zu folgen, raten Deleuze und Guattari zum Experiment und zur Fluchtlinie, die man ziehen muss, wenn man sie ziehen kann, um Machtformationen umzuformen. Gegen Hegel raten sie mit Lyotard außerdem dazu, dem Geschieht-es nicht vorzugreifen. Vielleicht kommt es ja doch und nicht Nichts oder sogar noch weniger. Experimente und Fluchtlinienzüge können Pop-Spekulationen vervielfältigen und beschleunigen. 2.3 Meillassoux Quentin Meillassoux lehrt an der Sorbonne Philosophie und schlägt einen radikaleren Umgang mit dem Kant‘schen Erbe vor als Hegel. Er verweigert den Schritt ins System und gibt sich auch nicht mit der Befreiung der Vermögen zufrieden, die Deleuze vorschlägt44, um die Vernunft als oberste Richterin zu entmachten. Meillassoux zeigt in Nach der Endlichkeit (2008), dass Kants Verknüpfung von Dingen und erkennenden Subjekten, die auf Begriffe bringen, was ihnen als Ding oder Zusammenhang erscheint, eine unnötige und unzulässige Einschränkung unserer Erkenntnismöglichkeiten darstellt. Meillassoux begründet den spekulativen Realismus (mit) und plausibilisiert im Rückgriff auf Archi-

41 Agamben 1998, 94. 42 Deleuze/Guattari 1997, 472 [frz. 1980, 427.]. 43 Vgl. Eshun 1999. 44 Vgl. Deleuze 1990 [frz. 1963].

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fossilien und durch das Argument der Anzestralität, dass es Dinge auch ohne uns gibt. Archifossil nennt er Materie, die Spuren von Leben enthält, das vor Entstehung unseres Zeitbewusstseins lebte. Das Argument der Anzestralität funktioniert nach dem Modell von Bergsons Dauer. Jeder Augenblick ereignet sich in einer Zeit, die die kürzere Zeitspanne umfasst und ihr dadurch zugleich vor- und gleichzeitig ist. Kants in der Transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft entwickelter Zeitbegriff ist folglich wahr und falsch, weil Zeit auch ein empirischer Begriff und das Zeitbewusstsein selbst in der Zeit entstanden ist. Es lässt sich durch Archifossilien eine Vergangenheit nachweisen, die niemandem je gegenwärtig und folglich auch niemals Gegenwart war. Die Eingangsunterscheidung zwischen „Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen“45 führt nicht nur zu einer eindimensionalen linearen Zeitvorstellung, sondern zugleich auch zu einer Schichtung koexistierender Zeiten. Meillassoux schlägt – wie Deleuze – vor, mit dem Transzendentalen zu brechen und dabei am Absoluten festzuhalten, was wie eine vielversprechende neoromantische und somit pop-kompatible Haltung wirkt. Meillassoux verzichtet auf eine positive Bestimmung des Absoluten – wie das Virtuelle – und fasst den Ansatz des spekulativen Realismus folgendermaßen zusammen: „Wir glauben, dass der Verfall der Metaphysik keine Auswirkungen auf den spekulativen Anspruch hat, gemäß dem Absoluten zu denken, sondern auf den Willen, das Absolute mit Hilfe des Satzes vom zureichenden Grund zu denken. Es ist der Glaube, demzufolge die Dinge einen notwendigen Grund haben, das zu sein, was sie sind, und die Idee, dass eine solche Notwendigkeit uns zu einem Grund der Gründe führen muss, zu einem höchsten, göttlichen oder sonstigen Grund, der in den Köpfen der zeitgenössischen Philosophen durchweg gestorben ist. Und das gewiss – wir werden das auf unsere Weise zeigen – völlig zu Recht. Die Idee einer nicht-metaphysischen Spekulation würde im Gegenteil darin bestehen, das letztendliche Fehlen eines Grundes aller Dinge, deren radikale Kontingenz, zum prinzipiellen Absoluten zu machen.“46

Anders als Deleuze ist Meillassoux Anti-Hegelianer; und für das Thema des Bandes, in dem Sie gerade lesen, hat Meillassoux’ Denken auch weitreichende Folgen: „Es gibt keine Mysterien mehr und zwar nicht, weil es keine Probleme mehr gibt, sondern weil es keinen Grund mehr gibt.“47 Es fehlt nichts, nicht ein-

45 Kant 1974, Bd. III, 78 [B 46]. 46 Meillassoux 2013, 23. 47 Meillassoux 2008, 148.

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mal das Objekt a, und gibt auch keinen Mangel. Meillassoux schlägt vor, die Mathematik zu verabsolutieren, statt wie Hegel die Logik.48 Was wir im Kant‘schen Paradigma nicht denken können, können wir mathematisieren. Wie, das muss ich hier zum Glück nicht ausführen, ebenso wenig wie Meillassoux über Cantors Begriff des Transfiniten Kontingenz von Zufall trennt. Dessen ungeachtet hat Meillassoux’ Aufwertung der Kontingenz, die mit der Ersetzung des Satzes vom Grund durch den Satz von der Grundlosigkeit einhergeht, Konsequenzen: a) „Es gibt nichts diesseits und jenseits der offenbaren Willkürlichkeit des Gegebenen – nichts, außer die unbegrenzte und gesetzlose Macht seiner Zerstörung, seiner Hervorbringung und seiner Fortdauer.“49 Dies zu begreifen, nennt Meillassoux, der Deleuzes immanenzphilosohischen Ansatz wie sein akademischer Lehrer Alain Badiou mathematisch fundiert zu radikalisieren versucht, „Spekulation“. Und b) „wir bejahen ernsthaft die Annahme, dass die Dinge fähig sind, tatsächlich und ohne jeden Grund das launenhafteste Verhalten anzunehmen, ohne deswegen den gewöhnlichen und alltäglichen Bezug, den wir zu den Dingen haben können, zu verändern.“50 Diese Erwägung erlaubt eine noch sehr randständige Gattung Science Fiction zu beschreiben, die die „reale Kontingenz der physikalischen Gesetze“ wirklich ernst nimmt. Meillassoux nennt diese Gattung Extro-Science Fiction (XSF).51 Durch die Erschaffung außerordentlicher Wissenschaftswelten, nimmt ExtroScience Fiction die Kontingenz als einzige notwendige Bedingung allen Seins und Werdens ernst, und verlängert nicht einfach die Gültigkeit von Gesetzen in die Zukunft, was für Naturgesetze noch halbwegs plausibel sein mag, für sozialwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten hingegen unsinnig erscheint. Radikale Kontingenz macht z.B. Battlestar Galactica (USA 2004–2009) zu einer XSFSerie, die uns dazu einlädt, über die Unvorhersehbarkeit von Zukünften und das Fehlen von Gründen nachzudenken. Die Serie kommt Meillasoux’ Vision vom Übergang einer SF-Welt in eine XSF-Welt immer wieder nah, obwohl die folgenden Zeilen nicht im Hinblick auf sie geschrieben wurden: „man verfolgt dieses Unternehmen des Verfalls zu einer immer unbewohnbareren Welt hin weiter und lässt so die Erzählung selbst nach und nach unmöglich werden, bis ein be-

48 Vgl. ebd., 169. 49 Meillassoux 2008, 90. 50 Ebd., 116. 51 Vgl. Meillassoux 2013b, 126ff.

26 | OLAF S ANDERS stimmtes in seinem eigenen Strom verdichtetes Leben sich vom durchlöcherten Milieu absondert. Das Leben macht die Erfahrung seiner selbst ohne Wissenschaft und entdeckt in dieser immer stärker ausgeprägten Diskrepanz vielleicht etwas Neues […] Eine prekäre Intensität würde, nur noch von Trümmern umgeben, endlos in ihre eigene reine Einsamkeit eintauchen, um die Wahrheit einer Existenz ohne Welt zu erforschen.“ 52

Diese Beschreibung passt gut zu Deleuzes Vorstellung anorganischen Lebens. In John from Cincinatti wird die Willkürlichkeit des Gegebenen eher in ihrer Schöpferischen Qualität offenbar. Dazu unten mehr. Alle Fälle speisen sich aus Berichten von Zusammenhängen, in denen Kontingenz wahrnehmbar wird.

3. D REI F ÄLLE 3.1 Mingering Mike Der Privatdetektiv und Feierabend-DJ Dori Hadar entdeckte auf einem seiner Diggin’ in the crates-Züge auf einem Flohmarkt in Washington D.C. eine Kiste voller Platten von Mingering Mike, einem Soul-Musiker von dem er zuvor nichts gehört hatte. Beim genaueren Hinsehen entpuppten sich die Platten verschiedener Formate und unterschiedlicher Label – und auch nicht alle nur von Mingering Mike – als selbstgebastelt und aus Pappe (Abb. 1 und 2.).

Abb. 1: Plattencover von Mingering Mike

52 Meillassoux 2013b, 168.

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Abb. 2: Gebastelte Platten von Mingering Mike

Frank Beylotte, ein Digger-Kumpel Hadars, entdeckte weitere Platten. Manche Platten waren sogar in Zellophan verpackt und mit Preisschildern versehen. Hören kann man die Platten nicht, aber sie erzählen eine Geschichte großen Fantums, mit der Hadars Nacherzählung einsetzt.53 Mike wuchs auf, bevor schwarze Radiosender entstanden, sammelte weiße und schwarze Musik, war besonders angetan von Elvis und sah Ende der 1960er American Band Stand und Soul Train im Fernsehen. Wie Marvin Gaye in Divided Soul beschreibt, waren Musiker für Mike die wahre High School. Glücklicherweise arbeitete Mikes älterer Bruder im berühmten Howard Theater, was Mike ermöglichte, die dort auftretenden Black-Music-Größen zu studieren. Die sich in seinem Kopf bildende Musik musste auf Platte. Soweit das Klischee. Der Wirklichkeit Klischees abzuringen lässt sich mit Deleuze als eine Aufgabe von Pop-Philosophie beschreiben; und Mingering Mike begann mit der Produktion seiner fake records. Seinen Eigennamen, der nicht sein eigener Name ist, entwickelte er unter Mitwirkung des Zufalls. Aus Mingling Mike – etwa: sich unter die Leute mischender Mike –, was ihm zu chinesisch klang, wurde durch Intervention eines Verkehrsschilds das merging traffic – also zusammenlaufende Fahrspuren – ankündigte, in einer Art Doppelfusion Mingering Mike. Mike verarbeitete auf den Platten, deren liner

53 Vgl. Hadar 2007.

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notes er schrieb, so wie er die Cover und die Label-Logos gestaltete, seine Alltagserfahrungen, die sich erheblich dramatisierten, als Mike Anfang der 1970er Jahre schon gegen Ende seiner militärischen Ausbildung in Seattle und somit so gut wie unterwegs nach Vietnam – und d.h. für ihn so gut wie tot –, AWOL (= absent without official leave) ging, was ihn bis zur Generalamnestie durch Präsident Carter 1977 in den Untergrund zwang. Da Mikes Erfahrungen nicht nur seine waren, schuf er nur für sich eine recht rohe Pop Art im wahrsten Wortsinn. Seine Arbeiten wären beinah verloren gegangen, nachdem alles, was Mike in einen Lager untergestellt hatte, darunter die Kisten mit fake records, aufgrund eines Mietrückstands versteigert worden waren. Heute gehört The Mingering Mike Collection dem Smithsonian American Art Museum in Washington und wird dort auch gezeigt. Mehr Erfolg kann man als imaginärer Soulsänger und Labelbetreiber kaum haben. In seinem Fall hat bricolage weit geführt, zu Popkunst aus dem Volk. Wie viel solcher Arbeiten mag es wohl geben, ohne dass wir je von ihnen erfahren? 3.2 Sixto Rodriguez 1970 und 71 erschienen zwei LPs von Sixto Rodriguez, Cold Fact und Coming from Reality. Kaum jemand kannte Rodriguez und seine Platten, die sich leicht mit Dylans unterschätztem Doppel-Album Self Portrait (1970) oder auch seinem nächsten großem Album Blood on the Tracks (1975) messen können, bevor Malik Bendjellouls Oscar-prämierter Dokumentarfilm Searching for Sugar Man (USA 2012) in die Kinos und auf DVD herauskam. Alle Menschen, die mit der Produktion seiner beiden Platten zu tun hatten, können (sich) nicht erklären, warum Rodriguez’ Platten keine Riesenerfolge waren. Steve Rowland, der Produzent seines zweiten Albums, nennt Rodriguez einen weisen Mann oder sogar einen Propheten, der Anerkennung verdiene. Prophetische Kraft entfaltete Rodriguez’ Musik in der weißen Anti-ApartheidBewegung am anderen Ende der Welt, im totalitären Südafrika, wo man in den Plattenschränken der weißen Mittelklasse, wie im Film berichtet wird, zumeist folgende drei Platten fand: Abbey Road (1969) von den Beatles, Bridge over Troubled Water (1970) von Simon and Garfunkel und Cold Fact von Rodriguez. Stephen Segerman, der seit seinen Armeezeiten die Spitznamen Sugar trägt, weil sein Nachname klingt wie Sugar Man, der Titel des Eröffnungssongs von Film und erster Platte, erzählt, dass der Weg der LP Cold Fact nach Südafrika nach wie vor ein Mysterium sei. Anschließend erzählt er die Geschichte, die er gehört habe: Ein amerikanisches Mädchen soll ein Exemplar der Platte ihrem Freund mitgebracht haben. Weil Cold Fact vielen gefiel, aber nicht zu kaufen

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war, wurde die Platte auf Kompaktkassetten kopiert und weitergegeben und weiterkopiert und -verbreitet. Irgendwann konnte man Cold Fact dann auf Vinyl kaufen und später auch auf CD. Willem Möller, ein südafrikanischer von Rodriguez beeinflusster Sänger und Gitarrist, Teil der „africaansen“ Musikrevolution, erinnert sich an die befreiende Wirkung des Songs I Wonder; und der Plattenladenbesitzer Stephen Segerman erklärt The Establishment Blues zum Widerstandsmotor. Dieses Stück habe den Menschen vor Ohren geführt, dass es legitim sei, gegen einen Unrechtsstaat zu protestieren. Cold Fact bildete in Südafrika ein Volk – oder trug zumindest dazu bei –, obwohl einzelne Songs von der Zensur zerkratzt wurden, damit sie nicht im Radio gespielt werden konnten, was die Popularität nur weiter befeuerte. Als er eines Tages mit einer alten Freundin am Strand saß, die nach Los Angeles ausgewandert war und nun während ihres Besuchs eine Cold Fact-CD kaufen wollte, wurde Segerman klar, dass Rodriguez, von dem man – so Segerman – annahm, er habe sich auf der Bühne selbst verbrannt, was dann zumindest erklärte, warum Information über den Musiker spärlicher floss als über andere ähnlich bekannte Künstler – also die Beatles oder Simon and Garfunkel – und es auch keine weiteren Platten gab, ein südafrikanischer Superstar war. Seine erste Platte verrät kaum etwas über ihn. Auf dem Cover sitzt er und trägt Hut und dunkle Sonnenbrille. Der Musikjournalist Craig Bartholomew-Strydom erzählt eine andere Geschichte: Sixto Rodriguez habe sich am Ende eines schlecht aufgenommenen Konzert bedankt und erschossen. Als 1996 dann Rodriguez’ zweite Platte, Coming from Reality, in Südafrika auf CD erscheinen sollte, bat man Segerman um liner notes. Dort schrieb er, dass Rodriguez’ Nicht-Karriere eines der größten Rätsel der Popmusikgeschichte seien, weil es kaum cold facts über ihn gebe, so dass sich doch irgendein musikologischer Detektiv da draußen mal an die Recherche machen solle. Als dieser Detektiv fühlte sich Bartholomew-Strydom, dessen erste Strategie, dem Geld zu folgen, nicht weit führte. Wer auch immer an Rodriguez verdient hat, war nicht zu klären. Für Bartholomew zeichnete sich eine dreckige Geschichte ab, denn es ging allein in Südafrika um 500.000 Alben, die schließlich zu Clarence Avant, dem früheren Chef von Motown Records führte. Avant zeigt sich im Film traurig und betroffen in Erinnerung an Rodriguez Nicht-Karriere – womöglich hat es am hispanischen Namen gelegen –, erinnert sich aber an keine Geldflüsse mehr. Segerman und Bartholomew taten sich zur großen Rodriguez-Jagd zusammen und folgten schließlich dem Hinweis dieser Textzeilen „Met a girl in Dearborn, early six | o’clock this morn | A cold fact“ aus dem Song Inner City Blues. Dearborn ist ein Vorort von Detroit, „home of Motown, Marvin Gaye, Stevie Wonder and eventually Mike Theodore, producer of the album.“ (Bartholomew,

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00:39:00) 1997 erhielt Theodore einen Anruf von Bartholomew, der ihn schließlich fragte, wie Sixto Rodriguez gestorben sei, worauf Theodore entgegnete, dass Sixto am Leben sei und in Detroit lebe. In Kansas stieß Eva, die älteste der drei Töchter von Sixto Rodriguez, auf eine Kopie von Bartholomews Beitrag über die Suche nach ihrem Vater mit dem Titel Looking for Jesus. Daraufhin recherchierte sie im Netz, stieß auf das Fahndungsbild ihres Vaters auf einem Milchkarton, und hinterließ im Forum einer Website eine Nachricht mit ihren Kontaktdaten, auf die Stephen Segerman schließlich reagierte. Nur eine Nacht nach dem Telefonat mit Eva, rief Sixto bei Sugar an, der dieses Once-in-a-lifetimeEreignis auf ergreifende Weise schildert. Mit aufgerissenen Augen und dem Satz „it’s him“ habe seine Frau ihm den Hörer weitergereicht. Wann telefoniert Jesus schon selbst? Sixto fand die Geschichte auch kurios, zeigte sich aber nicht traurig darüber, bisher nicht gewusst zu haben, schon eine ganze Weile in Südafrika ein Superstar zu sein. Er erzählt, dass er nach der Vertragskündigung durch sein Label Sussex einfach als Abbrucharbeiter weitergearbeitet und für sich Musik gemacht habe. Seine jüngste Tochter Reagan äußert, dass er sich nie enttäuscht gezeigt habe, ein politisch denkender, sich für die working poor und andere Gruppen ohne oder mit viel zu leiser Stimme einsetzender Mensch geblieben sei. Rick Emmerson, ein Kollege vom Bau, beschreibt Sixtos magischen Qualitäten als erhebend, heraus aus dem Mittelmaß – „the artist is the pioneer“ –; so habe Rodriguez für das Bürgermeisteramt kandidiert. Auf dem Wahlzettel schrieben sie – das sind die, die nicht „wir“ sind – sogar seinen Namen falsch. Eva erläutert, dass es ihrem Vater gelungen sei, die Blue collar-Herkunft der Familie nicht zu verleugnen und stattdessen Menschen nicht nach ihren Einkommen oder Kontostand zu beurteilen. Sixtos mittlere Tochter Sandra erinnert an sein Philosophie-Studium und berichtet von vielen Besuchen in Museen, Wissenschaftszentren und Bibliotheken. Klingt alles in allem kynisch, was wiederum zu Rodriguez’ Wahr-Singen passt. Über Cold Fact, sagt Rodriguez, dass er sein Bestes gegeben habe und zufrieden sei. Im Musikgeschäft gebe es eben keine Garantien. Am 2. März 1998 landete Familie Rodriguez schließlich in Kapstadt und wich am Flughafen den beiden Limousinen, die auf sie warteten, erst einmal aus. Man trug sein Gepäck selbst und hielt sich nicht für so wichtig. Eva beschreibt das Gefühl, das sich dann einstellte, durch den Verweis auf Madonna. Willem Möller sollte mit Big Sky als Vorgruppe auftreten, ersetzte dann aber Rodriguez fehlende Band. Sandra verwunderte, dass ihr Vater ein so entspannter Superstar war. Die Presse fragte nach, ob er der „real“ Rodriguez sei. Beim ersten Konzert am 6. März schrien 5.000 Menschen zehn Minuten lang, bevor Sixto nach der endlos wiederholten Baseline endlich beginnen konnte, I Wonder zu singen. Reagan spekuliert, dass ihr Vater in diesem Augenblick wurde, wer er war – ein

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weiteres nietzscheanisches Motiv für eine positive Geschichte, wie Detroit sie braucht. Sixto Rodriguez spielte sechs ausverkaufte Konzerte. Reagan charakterisiert ihren Vater abschließend als einen bescheidenen Mann, der nie reich geworden, aber immer reich gewesen sei. Das mit der Tour verdiente Geld verschenkte er an Freunde und Bekannte. Die Südafrikareise, erfahren wir, sei ein Katalysator für Bildungsprozesse gewesen: Eva habe sich in den Fahrer verliebt und Sixto inzwischen einen südafrikanischen Enkel, aus dem Johannesburger Juwelier Stephen Segerman wurde ein Plattenladenbesitzer in Kapstadt. Nur für Rodriguez hat sich nichts geändert. Warum auch? Emmerson vergleicht ihn mit der Seidenraupe. Aus Jedermann ein Werden zu machen, eben darin bestehe Deleuze und Guattari zufolge wahres Genie, das einem die Wahl lässt.54 Es bleibt die Wahl zu wählen, was leichter geschrieben als getan ist. Wechseln wir zurück in die Fiktion. 3.3 John from Cincinatti Eine der besten Serien aller Zeiten wurde leider nach nur einer Season von HBO wieder eingestellt, David Milchs John from Cincinatti (USA 2007). Milch hatte sich als Creator der HBO-Serie Deadwood (USA 2004–2006), die auf der realen Geschichte des Goldgräber-Camps im heutigen South Dakota und den sie wesentlich bestimmenden Personen basiert, einen Namen gemacht. John from Cincinatti spielt im Surfer-Milieu von Imperial Beach, kurz I.B., der ersten Kalifornischen Stadt, die nördlich der Mexikanischen Grenze am Pazifik liegt und somit nördlich von Tijuana. I.B. verfügt über die längste Seebrücke in San Diego County und eine große kreisförmige militärische Antennenanlage, die Naval Radio Receiving Facility (NRRF). Pier und Elefantenkäfig spielen in der Serie Rollen. Für John from Cincinatti arbeitete Milch mit Kem Nunn zusammen, einem Autor von Surf-Romanen, der auf imdb.com als Creator geführt wird. Die Verschlungenheit der Serie erinnert mich an Thomas Pynchon, wegen der Surferei vor allem an Natürliche Mängel (2010, engl. 2009, Inherent Vice), dessen Verfilmung durch Paul Thomas Anderson Anfang 2015 in die Kinos kam. Der wundervolle durch Super 8-Optik auf alte Schule getrimmte Vorspann ist unterlegt mit dem Lied Johnny Appleseed (2001) von Joe Strummer and the Mescaleros. Zu Beginn der ersten Folge sehen wir Linc Stark (Luke Perry), den Gründer und Manager der Surfbekleidungsfirma Stinkweed, unter dunklen Wolken auf den Strand zugehen. Er beobachtet den ehemaligen Surfprofi Mitch Yost (Bruce Greenwood) beim Surfen. Hinter ihm erscheint John Monad (Austin Ni-

54 Vgl. Deleuze/Guattari 1997, 273.

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chols). Sein erster Satz lautet: „The end is near.“ Darauf antwortet Linc Stark: „Amen, my brother.“ Der Wind rauscht und im Hintergrund ziehen illegale Einwanderer vorbei. Linc setzt fort: „Those illigals act like it’s just another day at the beach.“ Mitch kommt aus dem Wasser. John geht auf ihn zu. Linc fragt: „You know Mitch Yost?“ John antwortet: „Mitch Yost should get back in the game.“ Linc folgt ihm. Als sie Mitch begegnen, fragt er: „Couple of fun ones, eh, Mitch“ Er spielt auf die Wellen an, während John ihn direkt anspricht: „You should get back in the game, Mitch Yost.“ Mitch antwortet: „You should mind your own business.“ Link lacht. Mitch rät ihm: „Go fuck yourself.“ Dann trägt er sein Board weiter zu seinem Auto. Link erklärt John: „In case you’re not crazy. I go back 20 years with this family. The deal with the kid is in the works. So stay away or whoever’s paying you better have you on a good health plan.“ John bleibt allein zurück, die Kamera umkreist ihn teilweise. In der nächsten Sequenz beobachtet Cissy Yost (Rebecca De Mornay), Mitchs Frau, ihren Enkel Shaun (Greyson Fletcher). Cissy besitzt mit ihrem Mann einen Surfshop, sie wird beobachtet von Cass (Emily Rose), die für Link Stark arbeitet. Shaun ist der Junge, um dessen Vertrag es geht. Die dritte Sequenz schließt wieder an die erste an. Linc redet auf Mitch ein, der in eine Spritze tritt und vermutet, dass es eine von Butchies sein könnte. Butchie (Brian Van Holt) ist Mitchs heroinsüchtiger Sohn und der Vater von Shaun. Er hat seinen Erfolg, zu dem auch das Sponsoring durch Stinkweed gehörte, offenbar nicht verkraftet. Mitch will nicht, dass Linc Shaun sponsort, Shaun und Cissy aber schon. Am Nachmittag soll ein Wettbewerb in Huntington Beach stattfinden. Huntington Beach liegt nördlich von San Diego bei Long Beach. Linc rät Mitch, er solle dem Teufel trauen, den er kenne und fährt weg. In der vierten Sequenz teilt der surfende jüdische Anwalt Meyer Dickstein (Willie Garson), der gerade das Verkauft-Schild am Snug Harbour Motel angebracht hat, in dem auch Butchie lebt, dem Motel-Manager Ramon (Luis Guzmán) in einen Gespräch mit, dass Butchie die ganze Idee dessen, was es bedeute zu surfen, verwandelt habe, woraufhin dieser antworte, dass Meyer zu alt sei für derartiges Fantum. Butchie sucht eine Vene für den nächsten Schuss. Mitch verlädt sein Board, wirft ein Gummimatte auf den Boden, übergießt sich mit Süßwasser und erhebt sich vom Boden (00:07:57). Er schwebt. Genau hier wird die Serie zur XSF. Mitch vermutet einen Hirntumor. John wird von Vietnam Joe (Jim Beaver) aufgegriffen, der sein Trauma, Vietnam, nicht überwunden hat. Als Shaun den pensionierten Polizisten Bill Jacks (Ed O’Neill), der sein Trauma, den Krebstod seiner Frau, ebenfalls nicht überwunden hat, besucht, um ihn zu überreden, ihn nach Huntington Beach zu fahren, erweckt Shaun Bills toten Vogel Zippy wieder zum Leben. Nach Shauns Surfunfall revanchiert sich Bill mit seinem Vogel

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bei Shaun. Das zweite Revitalisierungswunder ereignet sich in der 3. Folge im Krankenhaus. John überlebt sowieso alle Wunden; und schließlich verschwindet er mit Shaun. Die erzählte Zeit der Serie umfasst nur neun Tage. In der letzten Folge, am 9. Tag kehren John und Shaun surfend und blauen Flecktarn-Neos zu Bob Dylans Series of Dreams von der LP Oh Mercy (1989) aus den Wolken zurück. Meyer Dickstein erwacht, weil seine Verlobte Daphne (Jennifer Gray) ihn unter der Bettdecke oral befriedigt. Mitch schläft wieder neben Cissy und Cess in ihrem bzw. Lincs Porsche 356. Bills grüner Wundervogel Zippy trägt nun ein üppiges weißes Gefieder. Cess filmt John und Shaun nach der Landung synchron surfend, während Butchie und Kai (Keala Kennelly) fest und fester Händchen halten. Sie hatten am Strand übernachtet. Kai surft auch, arbeitet im Shop und wirft hin und wieder ein Auge auf Shaun. Cess ruft der Linc an, der neben der Porno-Darstellerin Tina Blake, Shauns nach dem Unfall ihres Sohnes zurückgekehrter Mutter, aufwacht. Tina greift Lincs erhobenen Daumen. John erklärt, dass Shaun okay sei und sie beide aus Cincinnati kämen. Cincinnati liegt oben in den Wolken. Selbst Cess und Kai versöhnen sich. Einige andere Nebenstränge der dicht verflochtenen Erzählung sind noch nicht einmal angeschnitten, aber es geht auch bei der Bewältigung der anderen Traumata, Kindesmissbrauch oder Diskriminierung Schwuler, um „live and learn“ (Ramon) und um die Wahl der Wahl, die z.B. der schwule und suizidale neue Motelbesitzer Berry Cunningham (Matt Winsten) wählt. John löst – wie Sixto Rodriguez – Bildungsprozesse aus durch autistische Mimesis, Imitation und die Verwandlung eigener Worte durch Wiederholung in seines Vaters Worte. Der 11. September 2014 ist inzwischen Geschichte. Das Ende war wieder einmal. Dwayne (Matthew Maher), der Operator der Yost Website, findet seinen Kopf immer wieder unter dem T-Shirt und zwischen den Brüsten der Café-Betreiberin Jerri (Paula Malcolmson) wieder. Dr. Smith (Gerret Dillahunt), der Klinikarzt, der Shaun vor dem Wunder untersucht und danach auch den Drogendealer Palaka (Paul Ben-Victor) behandelt hat, kommt nicht mehr zu Wort. Sogar die Palakas Boss Freddy (Dayton Callie) entspannt sich. An Ende surft Kai. „Mother of God, Cess-Kai“, sagt John, offenbar Religion. Wir hören Long Tall Sally (1956) von Little Richard. Wir müssen immer weiterdenken – und das geht nun einmal nicht anders als spekulativ (wie auch der vorliegende Band zeigt).

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Stilschöpfungen

AAAFNRA Grundzüge einer Ästhetik des Erratischen H OLGER S CHULZE

I. G RUNDZÜGE

EINER

ÄSTHETIK

DES

E RRATISCHEN

Dachau Blues! Dachau Blues!1 Das Erratische schlägt zu – und trifft: BONKERS!2 Eine Ästhetik des Erratischen kann nicht anders geschrieben werden als im erratischen Schlag, der auf einen weiteren erratischen Schlag und einen weiteren erratischen Schlag folgt. Und lediglich einen weiteren erratischen Schlag vorbereitet. A heavy bass line is my kind of silence.3 Eine Abtrennung, eine Auflösung, eine unaufhörliche Aufkündigung des Gemeinsinnes, des gemeinhin Anerkannten, des allgemein für nachvollziehbar Angesehenen. Everybody says that I gotta get a grip / But I let sanity give me the slip.4 Lob der Diskontinuität, des schmerzhaften Sprungs, des brachial dreinschlagenden Unerwarteten und der überraschenden Dynamik. Some people think I’m bonkers / But I just think I’m free.5 Eine Dynamik, die vor allem etwelchen Vorlieben, Abneigungen, Spintisierereien, vagen Ideen und Wünschen, Formobsessionen und plötzlichen Manien folgt. Man, I’m just livin’ my life / There’s nothin’ crazy about me.6 Kei-

1

Captain Beefheart (1969): Dachau Blues. In: ders.: Trout Mask Replica. Straight Rec-

2

Dizzee Rascal (2009): Bonkers. In: ders.: Tongue n’ Cheek. Dirtee Stank Recordings

ords Los Angeles, Track 3. London, Track 1. 3

Ebd.

4

Ebd.

5

Ebd.

6

Ebd.

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ne ordentliche Entwicklung, nirgendwo ein nachvollziehbar geordneter Strang der Erläuterung und der dankbar angenommenen Einführung. Ist das Selbstzweck? Some people pay for thrills / But I get mine for free.7 Versteckt sich hochkonsistente Ordnung im Untergrund? Müssen wir nur belesener und kundiger sein, Polyhistoren und Polyglotte, um die verborgene Ordnung zu erkennen? Man, I’m just livin’ my life / There’s nothin’ crazy about me.8 Oder, ist da – etwa gar keine? Gib uns Liebe Gib uns Geld Gib uns Dreck Der uns gefällt9 Ich tue das Gegenteil. Ich möchte historisch zurückgreifen, ich möchte eine Art Systematik und Kasuistik des Erratischen versuchen. Das kann mir nur misslingen. Denn wie weit können wir historisch zurückgreifen? Welche historischen Dokumente erratischer Aiesthesis sind bis dato überhaupt bis ins 21. Jahrhundert hineingelangt und wurden nicht zurechtredigiert, an das Mittelmaß der jeweiligen Epoche angeähnelt und ihrer jeweils genuinen Erratika beraubt? Wie könnten wir nach den Erratika früherer Epochen, geschweige denn anderer, tatsächlich uns fremder Kulturen suchen? Wonach suche ich also? Ich suche nach einer Ästhetik des Spekulativen, des grundlegend Kontingenten, des Inkonsistenten, des Diskontinuierlichen. Kann ich dann aber noch von Ästhetik sprechen? Kann ich dann noch davon sprechen, überhaupt etwas Bestimmbares zu suchen? Suche ich das Ungeordnete – was finde ich dann? Ich suche nicht das pur Ungeordnete, das wäre kaum suchbar; ich suche vielmehr Formen ästhetischer Praxis, deren leitende Prinzipien, Strukturen, generativen Rezepte nicht vordergründig erkennbar scheinen beziehungsweise sich en passant, im Prozess ästhetischen Handelns modifizieren und gewechselt werden. Ästhetische Praxis als Sprungprozession, als Slapstick und Gag, als Terror und radikale Überraschung.

7

Ebd.

8

Ebd.

9

The Schwarzenbach, Dreck, Der Uns Gefällt, in: Detlef Diederichsen & Holger Schulze (Konzept), Böse Musik. Oden an Gewalt, Tod & Teufel – Ein Themenwochenende, Haus der Kulturen der Welt Berlin 24. Oktober 2013.

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Als veröffentlichte Kunst ist diese Kunstform wohl eine junge. Es brauchte die Moderne und ihre Rehabilitation vermeintlich unschöner, unästhetischer, gar abstoßender Formsprachen, um auch anzuerkennen, dass ganze Individualstile von Künstlern und Künstlerinnen sich allein in diesen abgelehnten Formsprachen bewegen. Ja, dass ganze künstlerische Subkulturen unsere Welt bevölkern, deren Werke üblicherweise als Dreck, Ausschuss, Unbrauchbar, Wirres, Unverständliches Zeug oder Müll apostrophiert werden und wurden. Doch, was ist daran unverständlich? Was ist daran verworfen? Man sagte mir es sei soweit Es komme eine Seltsamkeit Und alles was bis jetzt noch war Sei dann auf einmal nicht mehr da10 Diese Zeilen sind formal unseltsam, sie sprechen aber von der Befürchtung etwas sehr seltsamen und befremdlichen in naher Zukunft. Zwar sind sie alles andere als ungeordnet, verworfen oder unverständlich – doch zu ihrer Zeit, in ihrem künstlerischen Feld waren diese Zeilen von Dirk von Lowtzow und Tocotronic tatsächlich befremdlich: Es war für die Hörerinnen und Hörer unklar, ob dies nun ironisch, ernsthaft oder als beides zugleich zu verstehen war. Und genau in dieser ausgehaltenen, angespannten, unaufgelösten Ambivalenz besteht ihr Genuss. Bitte oszillieren Sie!11 „(Ich bin froh um alles, was ich nicht weiß.)“12 Hier steht Deine Koffeinsuppe, Unsichtbarer. Ich war die Teufelin von Loudon. Generation Toastie: Unterhaltung stumm schalten. We got drank, we got kush, we got barz in this bitch: Dies umfasst in letzter Konsequenz eine Erweiterung und Anreicherung der Arbeitsweise der Philologie um Methoden und Zugänge der Ethnologie. Kanzlei LOL, ROFL & MMD. Robocop ist ein Korinthenkacker. Die Kränkung als Schenkung. Seinesgleichen geschieht. Suizid als Breitensport: Wenn der kleine Tod Dich mitnimmt. Die Population der Sonntagmittagsjogger. Es ist der finale Zählreim! Bildschirmschoner Apfelschorle. Eine Tube voller Dachse. Die Metempsychosen der Werkzeuge.

10 Tocotronic (1999): Die Neue Seltsamkeit. In: dies.: K.O.O.K.. L’age d’or Hamburg, Track 13. 11 Tocotronic (2010): Bitte Oszillieren Sie. In: dies.: Schall und Wahn. Vertigo Records London, Track 6. 12 Goetz 1993, 393.

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II. C REATIO EX

DISRUPTIO

Die Disruption und der unausgesetzte Erwartungsbruch sind die deutlichsten Kennzeichen der Erratika. Das Unerwartete am unerwarteten Ort ist nötig, um unaufhörlich eine Erfahrung der Fremdheit, der Befremdung, der Andersartigkeit, auch des Verstörenden und tatsächlich Überraschenden hervorzurufen. Wie geschieht dies konkret? „L’homme est malade parce qu’il est mal construit. Il faut se décider à le mettre à nu pour lui gratter cet animalcule qui le démange mortellement, dieu, et avec dieu ses organes. Car liez-moi si vous voulez, mais il n’y a rien de plus inutile qu’un organe. Lorsque vous lui aurez fait un corps sans organes, alors vous l’aurez délivré de tous ses automatismes et rendu à sa véritable liberté. Alors vous lui réapprendrez à danser à l’envers comme dans le délire des bals musette et cet envers sera son véritable endroit.“13

Die Konsistenz eines Artefaktes wird auf vielen Ebenen erzeugt, bestätigt und durch nur punktuellen Entzug bestätigt und verankert. Doch, was wenn diese Konsistenz auf der Ebene sowohl der Kohärenz, der Semantik, der Bedeutungskontinuitäten als auch auf der Ebene der Kohäsion, der Kontinuitäten in Texturen und Materialitäten unaufhörlich gebrochen und zerstört wird? Können wir dann noch von einem konsistenten Artefakt, gar einem Werk sprechen? „Lieber geil angreifen, kühn totalitär roh kämpferisch und lustig, so muss geschrieben werden, so wie der heftig denkende Mensch lebt. Ich brauche keinen Frieden, denn ich habe den Krieg in mir.“14

Die Künste insgesamt und insbesondere die Künste des Pop unternahmen ihre Versuche, diesen Krieg ästhetisch auszutragen, ihn auszureizen und also nach außen zu tragen zuletzt immer wieder. Sie begannen in den ersten Sezessionen des 19. Jahrhunderts über die Avantgarde des frühen 20., den Spätavantgarden des mittleren 20. und in Punk und alternativen sozialen Feldern der Kunst im späten 20. Jahrhundert. Die Künste der letzten hundert Jahre zeigten sich immer wieder auch als Widerstandskulturen gegen das, was bis dahin als Kunst gegolten haben konnte. Die Disruption ist erstes stilistisches Merkmal, die Häretikerinnen und Diskordianistinnen sind es, die die Künste als solche jeweils durch

13 Artaud 1947. 14 Goetz 1986, 21.

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ihre vermeintlich überraschend inkonsistenten Artefakte mit neuen Beispielen versorgen: Das kann also auch Kunst sein. Das Pathos dieses Bruches ist unübersehbar; der Narzissmus und die Werbewirksamkeit darin ebenso. Doch wie weit reicht es, wenn tatsächlich der erratische Bruch als geübtes Stilmerkmal eingesetzt wird? Nicht mehr nur als trademark sound im Zuge des artist marketing? Sondern als eine inhärente Art und Weise des stilsicheren Fortschreitens? Remember: KING KONG Died For Your Sins!15 Diese Disruption, diese Lust am willentlichen Bruch, an der Nicht-Kontinuität und dem Nicht-Konsens kann offenbar für Akteure in hochstratifizierten und funktional ausdifferenzierten Gesellschaften inklusive hocharbeitsteiliger, digitalisiert-globalisierter Arbeitswelt schlicht eine Befreiung bedeuten. Es ist ein Genuss, sich diesem Ausbruch hinzugeben. Es ist eine Freude, den Unterbruch sardonisch vorzunehmen: „If you can master nonsense as well as you have already learned to master sense, then each will expose the other for what it is: absurdity.“16 Folgen wir diesem erratisch disruptiven Denken der Principia Discordia (1965), so müssen wir annehmen, dass unsere Vermutung, etwas bestünde in einem Zustand der Unordnung, des Widerspruchs, der Inkonsistenz ebenso lediglich ein Effekt unserer Wahrnehmung und unserer Wirklichkeitskonstruktion sei, wie die in unseren Kulturen übliche Vermutung von Zuständen der Ordnung, der Übereinstimmung und der Konsistenz: „From that moment of illumination, a man begins to be free regardless of his surroundings. He becomes free to play order games and change them at will. He becomes free to play disorder games just for the hell of it. He becomes free to play neither or both.“17

Daraus entsteht das diskordianische Denken und Handeln, das beide Vorannahmen als austauschbar ansieht – und darum beide auch als ebenso berechtigte Wahlmöglichkeiten: „And as the master of his own games, he plays without fear,

15 Hill/Thornley 1965, 25. 16 Ebd., 79. 17 Ebd.

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and therefore without frustration, and therefore with good will in his soul and love in his being.“18 Im Duktus des Objektivismus und des Szientismus gesprochen: Warum sollte die Welt um uns herum überhaupt in Ordnungen bestehen und sich geordnet zeigen – wenn sie doch ebenso in Unordnungen bestehen und sich als ungeordnet zeigen könnte? Wäre es nicht ein anmaßender, kaum aussprechlicher Anthropozentrismus, zu erwarten, die Welt sei für uns und auf uns hin geordnet? Ein Ausgang aus diesem Anthropozentrismus der Ordnungserwartung bringt dann auch eine entsprechend deanthropomorphisierte Ästhetik mit sich, etwa im zuvor zitierten discordianism der ausgehenden 1960er Jahre – der bis heute in den entsprechenden digitalen Subkulturen fortwirkt. Eine Ästhetik des Diskordianismus, des Anti- oder genauer: des Postanthropozentrismus will vor allem dem folgenden kompositorischen Prinzip folgen: „Anything Any Time Anywhere – For No Reason At All!“19 (AAAFNRA) Mit dieser Maxime beschrieb der Vorsokratiker der Popkultur, Frank Zappa, die Grundlagen seiner Musikästhetik. Es ist kein Wortwitz oder eine amüsante, zitatgeeignete Interviewantwort; sondern tatsächlich ein generatives Prinzip, das die Kontrastierung des Unvermuteten, des Nicht-Erwartbaren und des größtmöglichen ästhetisch-semantischen Gegensatzes sich zum Selektions- und Ordnungsprinzip wählt. Im Werk von Zappa finden sich viele Beispiele hierfür – von seinen Aneignungen zeitgenössischer Boyband-Ästhetik (Ruben and the Jets), über elektroakustische Arbeiten (Lumpy Gravy), elektronische Popalben (Jazz From Hell) bis hin zu grotesk überdimensionierten Konzeptparodien (200 Motels, Joe‘s Garage, Thing-Fish, The Yellow Shark), die sein Markenzeichen wurden. Das Album Uncle Meat (1969) bietet hier allerdings wohl die größtmögliche Bandbreite und Erratik: Während die musikalischen Formen schon recht erratisch springen zwischen Jazzrock, hochbeschleunigten Gitarrensoli, elektronisch synkopierten Staccati, schwülstigüberproduziertem Mainstreamriffs, elektroakustisch verfremdetem Grunzen bis hin zu übertrieben inszenierten Pseudodialogen („The Voice of Cheese“) und O-Ton-Dialogen Backstage; so springen die sprachlichen Register und angesprochenen, nein: angesungenen semantischen Felder weiter von Verwandtschaftsverhältnissen, über einzelne Lebensmittel und Rituale der Nahrungsaufnahme, Umweltverschmutzung, Tierkrankheiten, sexuelle Praktiken (abweichend oder heteronormativ) und Konservierungsmethoden bis hin zu öffentlichem Nahverkehr. Und zu allem Überfluss wechseln die Sprecherpositionen zwischen unterschiedlichen Charakteren, Altersstufen, Gesellschafts- und Bil-

18 Ebd. 19 Zappa 1989, 163.

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dungsschichten, ja sogar Nationalitäten. Und nicht einmal die formale Struktur der Stücke bietet halt, von ganzen Variations-Suiten über Kürzestjingles bis zu originellen oder klischeehaften Popsongs werden die unterschiedlichsten Produktionsweisen und Formate genutzt. Kontrast entsteht in diesem Beispiel – und generell in einer Ästhetik des Erratischen – also nicht konstant auf einer Ebene des Artefaktes (etwa: allein in den Sprachstilistiken, allein in der Instrumentierung, allein in den gewählten Bildspendern, allein in den materiellen Texturen), sondern die Ebene des Kontrastes selbst wird auf überraschend kontrastierende Weise unaufhörlich gewechselt, verschoben, abgebrochen, neu gewählt. Es ist die reine, (wies scheinen mag: endlos) ausgedehnte Lust! Bitte oszillieren Sie Ping-Pong ohne Hierarchie Bitte oszillieren Sie Ich bitte Sie, genießen Sie20 Konsistenz wird zerspielt, ihr Neuentstehen wird zugelassen, auf überraschende Weise wiederum andeutungsweise angegriffen und schließlich auf einer neuerlich unvorhersehbaren Weise zur Gänze zerspielt. Es ist ein Spiel. Um alles. So sanft ist das Gesetz Bitte legen Sie nichts fest Das Regime ist so bescheiden Sie müssen nichts entscheiden21 „Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ,sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung‘ könnte anstelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zu münden.“22

Hier findet Deine Liebe ihre Grenze. Je zusammenhangsloser, je willkürlicher & je sprunghafter – desto besser! Die Krume der Welt. Die sachte Schau. „Das Schöne ist das, was die Augen ohne Schulung scheußlich finden. Das Schöne ist das, was meine Mätresse und meine Bedienstete instinktiv gräßlich finden.“

20 Tocotronic (2010): Bitte Oszillieren Sie. In: Dies.: Schall und Wahn. Vertigo Records London, Track 6. 21 Ebd. 22 Adorno 1951, 208.

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(Goncourt-Journal Bd.II, S. 218) Der Sielwolf würgt das Gewöll übern Hof (zur Melodie von Kelis‘ Milkshake). Der wütende Mopp. Die qualitative Bewertung kontingent fixierter Zeiträume ist glücklicherweise Nonsens. „Das ist nicht gedruckt, also ist es wahr!“ (Paul Gavarni, zitiert im Goncourt-Journal Bd.II, S. 289) Die lang ersehnte Scooter+Deichkind-Weihnachtsballade featuring Wencke Myrhe. Morgen Abend sprengen wir den Erdball. Ich pause die Pause.

III. D IE G ENERATIVITÄT

DES

U NBERECHENBAREN

War das unvorhersehbar? War das Ende des vorangegangenen Abschnitts überraschend? Oder vorhersehbar in Parallele zum Ende des ersten Abschnittes dieses Artikels? Hat das zuvor eingefügte Zitat dadurch ein alternatives Bündel aus Bedeutungen, Genres, Autoren und Diskursen hineingeflochten in diesen Text? Geht so ein erratischer Bruch? Oder nur die müde Illustration meines Gegenstandes? Diese Fragen und Gegenfragen zeigen die Ursprungsschwierigkeit jeder erratischen Ästhetik: Sie wird schnell (und immer schneller) als eine strategische Ästhetik qualifiziert – und damit auch entsprechend schnell als wenig wirksam und bloß strategisch im schwachen Sinne abqualifiziert. Was nur strategisch ist und als solches sich offenbart, kann in Zeiten einer auch ästhetisch und kulturell reflexiven Moderne höheren Grades kaum mehr hinreichend unmittelbare Wirkung entfalten. Strategisches Handeln bleibt stecken in strategischer Kalkulation und Inszenierung: Rohrkrepierer. Wie wirksam kann dann also eine Strategie des Unberechenbaren sein, die letztlich nichts als eine Strategie des Antistrategischen sein muss? Wie wirkt sich Unvorhersehbares aus? Du bist so ausgeflippt und wild: Dein Wahnsinn schützt Dich wie ein Schild.23 Das Überraschende kann tatsächlich ein solches Schutzschild sein; doch wie kann es wirksam werden? Die am längsten tradierten Verfahren, das Überraschende generativ werden zu lassen, sind Verfahren des methodischen Einsatzes hinreichend zufälliger Wahlentscheidungen, kurz: aleatorische Spiele.24 Die Kunst-, Literatur- und Gestaltungsgeschichte reicht hierbei weit in die Vormoderne hinein; historische Zeugnisse lassen vermuten: seit menschliche Kulturen

23 Dagobert (2013): Die ganz normale Liebe. In: Ders.: Dagobert, Buback Tonträger Hamburg, Track 4. 24 Schulze 2000.

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zum Zeitvertreib spielen, erspielten sie immer wieder auch ihre Artefakte, um Überraschung, Genuss und Drastik hervorzubringen. Die Würfel rollen; die Worte oder Zeichen fallen wie sie fallen; die Farben oder Dinge ebenso; die Töne und Laute ordnen sich wie sie sich ereignen. Keine Ordnung eines Autors, kein Plan eines Demiurgen: der Moment zeugt. Koinzidentalität25. Warum ist das nun erratisch? Warum gilt das nun als erratisch, unverständlich, schwer verdaulich? Ist nicht jede Sekunde, jede Stunde, jeder Tag unserer Leben genau so? Sind nicht wir – als subjektiv Deutungsmächtige – diejenigen, die über diese hinreichend kontingent hingeworfenen Momente, Gegenstände, Qualitäten eine geschmackvoll zugerichtete Fiktion von Ganzheit, von Zusammenhang, von Kontinuität, Logik und Stringenz darüberbreiten? Wie ein Netz – das uns manchmal engmaschiger und straffer gewoben gelingt und manchmal ziemlich löcherig, ausfranst und aufgerissen ist? „There’s an experiment I did. […] I had taken a DAT recorder to Hyde Park and near Bayswater Road I recorded a period of whatever sound was there: cars going by, dogs, people. […] I put it in SoundTools and I made a fade-up, let it run for 3 1/2 minutes and feded it out. I started listening to this thing over and over.“26

Das Ergebnis: „Something that is as completely arbitrary and disconnected as that, with sufficient listening’s, becomes highly connected. You can really imagine that this thing was constructed somehow“27 Die Kontingenz täglichen Lebens erscheint als Zusammenhang. Ein Auto beschleunigt; ihm folgt ein Hundegebell; das ausklingt im Auffliegen von Tauben. Solch eine Sammlung aleatorischer Fundstücke nötigt uns – ohne, dass wir uns dessen erwehren könnten – einen neuen Zusammenhang zu erfinden; wie oben von Brian Eno beschrieben. Wie vollzieht sich dies? In einem ersten Schritt lassen wir uns ganz von den gefundenen Materialien entlangführen, wir staunen und erfreuen uns an den Texturen, Oberflächen, den Stoffen und ihren Gegenüberstellungen, der Grellheit und Sanftheit, Tönungen und Körnungen; in einem zweiten (oder irgendwann einmal nachfolgenden) Schritt erst legt sich durch die Intensität unserer Hingabe an dieses aleatorisierte Material eine neue, andere, oft subtilere Ordnung über die Sammlung: Wir erkennen oder genauer: wir erfinden einen Zusammenhang –

25 Rudolf zur Lippe (2000): Sinnenbewusstsein. Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik, Band I: Tiefendimensionen des Ästhetischen; Band II: Leben in Übergängen – Transzendenz. Hohengehren Verlag, 291. 26 Brian Eno, zitiert in: David Toop 1995, 129. 27 Ebd.

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der so vermutlich kaum in den gefundenen Einzelheiten zu finden gewesen wäre. Wir imaginieren und stilisieren uns bislang vielleicht kaum vertraute Fiktionen von Zusammenhang, heuristische Fiktionen28. Wir erzeugen neue Gesamtheiten (oder auch Nicht-Gesamtheiten). Das Unvorhersehbare und Unvorhergesehene aleatorisch erspielter Sammlungen von Einzelheiten fügt sich durch uns allein zu etwas Neuem – und unsere derartige Fügung ist nichts anderes als generativ im doppelten Sinne. Generativ sowohl im Sinne der (zunächst textwissenschaftlich begründeten, jedoch kunstwissenschaftlich fortwirkenden) critique génétique29 – doch auch im Sinne einer Soziologie der Lebensalter, die nach Stadien des Explorierens und des Experimentierens eine Handlungs- und Lebensform des wirksamen Begründens und Schaffens von neuen Dingen, Relationen zu Menschen, von Institutionen und Bezugnahmen ansetzt.30 Generativ wirkt somit etwas, das aktuell hervorbringend ist und zugleich anregend wirkt, damit andere etwas ebenso hervorbringen. Handlungen, die sich nicht in sich selbst erschöpfen, sondern vor allem auch Anschlusshandlungen auslösen, bestärken und anleiten können – Anschlusshandlungen, deren Richtung und Charakter nicht determiniert, nicht vorausberechnet sind. Doch wie gelingt es uns, tatsächlich hinreichend aleatorisch, erratisch wirksam etwas hervorzubringen, das nicht durch und durch absichtsvoll berechnet und kalkuliert ist? Können wir uns überhaupt jemals von diesem humanoiden Zwang zum Vorbedenken, Vorausplanen, zu Kalkulation und Strategie, können wir uns jemals von diesem Intentionalitätszwang lösen? Vor allem aber: Wozu eigentlich? Das Leben vergisst, warum das Leben vergaß. Es ist ein Toast entsprungen. „Nur die niederen Künste sind interessant.“ (Goncourt-Journal Bd.I, S. 440) Der Rausch ist ein Geschenk an die Mitberauschten. My Bloody Valentine, Mickie Krause & deadmau5. Fusafungin an Schinkenknacker. „Die Zivilisationen sind […] eine Umwandlung der Gewohnheiten des Körpers.“ (Goncourt-Journal Bd.I, S. 433) Drucker kaputt, Drucker gekauft. Alles was ich tat, war Heroin zu nehmen. Das war alles, was ich tat. Die Inszenierung von Opazität als Strategie zum Machterhalt der herrschenden Geister. Quizduell installiert, Quizduell deinstalliert. Schon zwei Stunden später erinnere ich mich nicht im geringsten mehr, welcher Quelle ich diesen Satz entnahm. Clindamycin an Gänseleberpastete. Ein

28 Schulze 2005. 29 Vgl. beispielhaft: Louis Hay & Peter Nagy (Hrsg.) (1982): Avant-texte, texte, aprèstexte. Paris. 30 Vgl. beispielhaft: Kahlert 2012.

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wohliges Knistern in den Kieferhöhlen, als würden Holzscheite traulich mürbe werden. „Die Frauen, wie es nach fettem Käse vorkommt, haben Lust zu schlafen oder Lust zu kotzen.“ (Goncourt-Journal Bd.II, S. 75) Ein Lob des indolenten Fauxpas’.

IV. E IN L OB

DER I DIOSYNKRASIE

„Vorhin im Kaisers: eigentlich komisch, dass man fast am schlechtesten über Gedanken denkt, die man früher selber mal gedacht hat – dachte ich – dann: stimmt ja gar nicht – dieses bekannte: Elche, selber welche: nein, empfinde ich anders: am meisten nervt doch was anderes – und ich dachte dabei an Frau Venusberg – nämlich dieses absolut AUSGELEIERTE, einfach ZU OFT Gehörte dieser Gedanken, Positionen, Gereiztheiten, Urteile, Weltsichten, die Altheit dieses ganzen Stumpfsinns – weil ich an Leute dachte, die das lesen und dauernd sich denken: ja, ja, genau. Und mich dann wunderte, dass ich selber offenbar zustimmen will, aber bei keinem einzigen Satz da zustimmen kann. Und dann: dass nicht das nicht zustimmen können nervt, denn man will gar nicht ZUSTIMMEN, sondern schockiert werden, überrascht werden, was Neues hören, eine Wendung erleben, die einen umhaut usw. – sondern eben die Altheit, Ausgeleiertheit, die Verbreitetheit und Platitüdizitaet dieses ganzen Scheißes hier – ja genau, so ist das – du lachst ja gar nicht?“31 Es ist ein ganz gewöhnlicher Moment. Eine Gedankenflucht, wie sie alle Tage unternommen wird, hier nacherzählt von Rainald Goetz in seiner großen romanartigen Gegenwarts- und Netzmitschrift Abfall für alle (1998). Es zeigen sich die Wendungen und Selbstreflexionen, die Selbstüberraschungen und Gedankenentdeckungen – lanciert von Gedankenstrich zu Gedankenstrich – und die am Ende eine Positionsbestimmung zum offenbar soeben gelesenen Zeitungsartikel erlauben: Was denke ich nun eigentlich darüber? Warum nervt mich das? In dieser kurzen Passage zeigt sich ein generatives Prinzip, eine maßgebliche Triebkraft künstlerischen Arbeitens sowie deren Auswirkung auf das Subjekt dieses Arbeitens. Wir erkennen die Merkmale einer Ästhetik des NichtAbgestumpften, des Faszinations-, Begeisterungs- und Anregungsfähigen – aber auch des Reizbaren, Aggressiven, des Abgrenzungswütigen, des eindeutig Überempfindlichen: eine Ästhetik der Idiosynkrasie. Eine solche Poetik der Idiosynkrasie hat Goetz schon viel früher umrissen, in einem seiner ersten Texte Subito, dem berüchtigten Klagenfurt-Text, als eine

31 Goetz 1999, 95.

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Pop-Poetik des Alles-Alles-Geht-Uns-An!32 (AAGUA) Eine solche Empfindsamkeit oder gar Überempfindlichkeit wird nun aber in vertragsartigen Umgangsformen des Alltagslebens gerne als bloße „Befindlichkeit“ einer Person oder gar „ganz schön anstrengend“ abgetan – und nur mit angeekeltem Unterton erwähnt. Was aber dem reibungslosen Fluss sozialen Kommerzes hinderlich ist, kann für gestalterisch-künstlerische Tätigkeit im emphatischen Sinne zur unverzichtbaren Grundlage werden. Wie könnte eine maßlos abgestumpfte und betäubte Empfindsamkeit denn auch überraschend erkenntnisreiche Artefakte hervorbringen? Ist stumpfe Empfindung nicht höchstens die Grundlage für totalitär-apathische Omnipotenz- und Unrührbarkeitsphantasien? Werke entstehen so, die einen Wert wohl nur noch durch die (wiederum höchst empfindsame und erratische) Rahmung gegen jede von ihren Urhebern so angestrengt ersehnte Bedeutung erhalten können. Es braucht eine fiebrige, irritierende, auch verstörende und ärgerliche, eine unendlich ausdifferenzierte und hochindividuierte Überempfindlichkeit. „Die Unsouveränität halte ich für eine richtige Position des Geistes.“33 Die Überempfindlichkeit ist das Prinzip erratischer Ästhetik. Auch wenn sie nicht unbedingt – für manche überraschend – identisch ist mit einem extensiven Ausbreiten der jeweiligen Subjektivität: „I am interested in the inclusion of subjectivity and personal experience; I just prefer if it isn‘t my own.“34 Dieser Kommentar des US-Dichters und Herausgebers Kenneth Goldsmith umreißt den Kern der meisten Aussagen von Autorinnen und Autoren konzeptueller oder modernistisch geprägter Schreibverfahren. Wie arbeitet Goldsmith? Wie artikuliert sich die zuvor erwähnte Idiosynkrasie hinsichtlich bestimmter Sprach- und Textformen in seiner Arbeit? Etwa in der Arbeit an seinem Buch namens Day? Einem Buch, das durch die tatsächlich vollständige, wirklich kein Schriftzeichen auf den Seiten auslassende Abschrift einer Ausgabe der New York Times entstand – vom „Friday before Labor Day weekend of 2000“35, also vom 1. September des Jahres:

32 „Wir brauchen noch mehr Reize, noch viel mehr Werbung Tempo Autos Modehedonismen Pop und nochmal Pop. Mehr vom Blauen Bock, mehr vom Hardcoreschwachsinn der Titel Thesen Temperamente Und Akzente Sendungen. […] Denn alles alles alles geht uns an.“ Goetz 1986, 21. 33 Rainald Goetz, mehr. Fortsetzung folgt… Formate des Seriellen in den Künsten und Medien, Mosse-Lecture, Humboldt-Universität zu Berlin, 3. Mai 2012. 34 Kenneth Goldsmith alias @UncreativeWriti, https://twitter.com/UncreativeWriti/ status/358963794279546882. 35 Kenneth Goldsmith: Being Boring (online: http://epc.buffalo.edu/authors/goldsmith/ goldsmith_boring.htm, 2004)

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„I would take a page of the newspaper, start at the upper left hand corner and work my way through, following the articles as they were laid out on the page. If an article, for example, continued on another page, I wouldn’t go there. Instead, I would finish retyping the page I was on in full before proceeding to the next one. I allowed myself no creative liberties with the text. The object of the project was to be as uncreative in the process as possible. […] Everywhere there was a bit of text in the paper, I grabbed it. I made no distinction between editorial and advertising, stock quotes or classified ads. If it could be considered text, I had to have it. Even if there was, say, an ad for a car, I took a magnifying glass and grabbed the text off the license plate.“36

Eine einfache, tatsächlich forciert stumpfe und dumme Abschreibregel.37 Ein aleatorisches Spiel; das im Prozess des Spielens und Abschreibens tatsächlich eine sensorische Idiosynkrasie des Kopisten zu bedienen scheint: „Far from being boring, it was the most fascinating writing process I’ve ever experienced. It was surprisingly sensual. I was trained as a sculptor and moving the text from one place to another became as physical, and as sexy as, say, carving stone. It became this wild sort of obsession to peel the text off the page of the newspaper and force it into the fluid medium of the digital. I felt like I was taking the newspaper, giving it a good shake, and watching as the letters tumbled off the page into a big pile, transforming the static language that was glued to the page into moveable type.“38

Goldsmith kann seine Begeisterung (die vermutlich nicht viele teilen) kaum zurückhalten: „after it was finished, it became clear that the daily newspaper – or in this case Day – is really a great novel, filled with stories of love, jealousy, murder, competition, sex, passion, and so forth. It’s a fantastic thing: the daily newspaper, when translated, amounts to a 900 page book. Every day. And it’s a book that’s written in every city and in every country, only to be instantly discarded in order to write a brand new one, full of fresh stories the next day.“39

36 Ebd. 37 „I think it’s fair to say that most of us spend hours each day shifting content into different containers. Some of us call this writing.“ Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd.

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Wie in Day konzentriert sich Goldsmith in allein seinen Arbeiten auf eine literarische Ästhetik, die dezidiert – wie er es nennt – unkreative und dumme Arbeitsprinzipien sich wählt: „I am a dumb writer, perhaps one of the dumbest that’s ever lived. Whenever I have an idea, I question myself whether it is sufficiently dumb. I ask myself, is it possible that this, in any way, could be considered smart? If the answer is no, I proceed. I don’t write anything new or original. I copy pre-existing texts and move information from one place to another. A child could do what I do, but wouldn’t dare to for fear of being called stupid.“40

Das Kokettieren mit dem Dummen und Stumpfen ist hier unüberhörbar, er selbst konzediert dies, wenn er schreibt: „Dumb is not an inborn condition. You get to dumb after going through smart. Smart is stupid because it stops at smart. Smart is a phase. Dumb is post-smart.“41 Doch tatsächlich macht er sich selbst dumm und stumpf im Prozess der künstlerischen Arbeit. Er folgt einer durchaus dummen, nicht-raffinierten, unmittelbaren und nicht-gebrochenen Neigung, einer obsessiven Begeisterung, eben einer Idiosynkrasie. Abgestumpft ist daran nichts, es ist hochgespannt und exaltiert. Es ist eine post-intelligente Entscheidung, das in den Mittelpunkt der eigenen Arbeit zu rücken, was üblicherweise als irrelevant gilt, da bloß eine etwas abstruse Liebhaberei. Diese Überempfindlichkeit wird nun aber methodisch sogar noch intensiviert. Obwohl die Selbstaussagen von Autorinnen und Künstlern wie Goldsmith den Zugang der Subjektivität als solchen ostentativ ablehnen, so scheint dies allerdings tatsächlich vor allem eine strategische Entscheidung zur Selbstdarstellung zu sein. Im Ergebnis stellen die Texte, Bildwerke oder Hörstücke, die derart entstehen, eine hochsubjektive Vorliebe für bestimmte Materialien, Texturen, Tönungen und Körnungen aus; eine Vorliebe, die am besten jedoch mithilfe kombinatorischer und nicht semantisch gebundener Prinzipien der Werkgenese ausgelebt werden kann. Subjektivität wird also auf der Ebene der Semantik und Kohärenz zwar abgelehnt, gemieden und umgangen; auf der Ebene der Kohäsion und der Oberflächenstruktur allerdings wird sie so obsessiv gesucht und in sie eingetaucht, so dumm und unkreativ wie nur selten sonst. Mit dieser Ästhetik verlassen wir den Raum der sogenannten Kreativität, die gegenwärtig wohl in all ihrer Belobigung und Buzzwordnutzung wenig mehr

40 Kenneth Goldsmith: being dumb (online: http://www.theawl.com/2013/07/beingdumb). 41 Kenneth Goldsmith: Being Boring (online: http://epc.buffalo.edu/authors/goldsmith/ goldsmith_boring.htm, 2004).

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bedeutet als Beschönigung, Hübschmachen, Personalisierung und Dekoration gesellschaftlichen Alltags (sie ist damit, am Rande gesagt, ganz zurückgekehrt zu ihren Anfängen in erschreckend behaviouristisch gesonnenen Ansätzen zur Arbeitspsychologie der Fließbandarbeit). Die Idiosynkrasie nach Goldsmith gibt sich dagegen ganz der Dummheit und der Unkreativität ihrer Vorlieben hin; sie verlässt sich auf Ahnung und Gespür – und ist wenig ambitioniert zu mehr: „Smart is an over-achieving athlete, accomplishing things that mere mortals can only dream of. […] Dumb is an ill-prepared slacker, riding on hunches and intuition.“42

Dumme und unkreative Künstler und Autorinnen, die eine Ästhetik des Erratischen verfolgen, kommen damit immer auch in die Nähe einer wütenden Ästhetik des Potlatch‘, einer ökonomisch ignoranten Ästhetik der Verschwendung und des unendlich an sich selbst anschließenden Produzierens. Dies gilt für die großen, überbordenden Wuterzählungen und bewusst dummen Bramarbasierereien, Gedankensprünge, -fluchten und Assoziationsdriften, -wirbeln, -kreiseln, -untiefen von Elfriede Jelinek; es gilt für die improvisatorisch-selbstreflexiv-wütenden und ebenso dummen Aktionen von Christoph Schlingensief; und es gilt auch für die sprudelnd und dummheitsfroh entstehenden Zeichnungen, Texte, Werke von Jonathan Meese. Dummheit ist hier die Energie tatsächlich die stringenteste und grundlegendste ästhetische Lösung zu finden: Lösungen, die nicht auf das Intelligenztheater der etablierten gesellschaftlichen Felder hereinfallen. Denn aus dem Fonds unserer jeweils dummen Idiosynkrasien erheben sich weitaus seltener die üblichen Klischees. Klischees verfolgen wir dagegen eher im Bemühen, Gehör zu finden, uns passend zu machen, den gegebenen Modellen des geläufigen Verständnisses uns anzudienen. Die idiosynkratische Spürsinnigkeit dagegen leitet uns. Sie ist dumm, da sie nicht erklügelt, nicht ausgedacht und clever zurechtargumentiert für ein Publikum zuallererst. Mit Gespür für Schmerzen und Begehren finden wir unsere Worte, Klänge, Formen, nächste Handlungsschritte. Erratische Aktionen. Die auch langweilig sein können. Erkenntnisreich langweilig. Oder wie Goldsmith einen Ahnherr aleatorischer Ästhetik des letzten Jahrhunderts zitiert, John Cage: „If something is boring after two minutes, try it for four. If still boring, then eight. Then sixteen. Then thirtytwo. Eventually one discovers that it is not boring at all.“43

42 Kenneth Goldsmith: being dumb (online: http://www.theawl.com/2013/07/being-dumb). 43 Kenneth Goldsmith: Being Boring (online: http://epc.buffalo.edu/authors/goldsmith/ goldsmith_boring.htm.

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Wird der Hipster davon beschwipster? Zuletzt aktualisiert: niemals. Die Nacht verschlingt ihre Kinder, Netizens, Muslime oder Banker. In Bewunderung täuschend echter Speisewürze. Ich bin glücklich, wenn der Genuss meiner Kaufentscheidungen Dich froh macht. Es ist eine post-intelligente Entscheidung. Lösungsmittel‘s in the air. Wen der Wahnsinn lockend lobt. Ihr folgt Euch gegenseitig. Lustiger Artikel (allerdings kompletter Unsinn). Es ist davon auszugehen, dass die sieben Todsünden das Begehrensleben eines jeden Menschen prägen. Das Versagen der Westmächte. Who cares about opinions? There are other features in humanoids which are by far more meaningful. „Ein Tsingtao, bitte, zur Schildkrötensuppe im Kalbsbries!“ Wir sind brünftige Gürteltiere.

V. W INDBREAKER

UND

F ENDITASCHE

Aufwachen und sich vor Menschen ekeln. Genau mein Humor.44 Das Erratische ist nicht unbedingt eine bessere oder gar eine klügere Wahl der Ästhetik. Es ist eine notwendige Wahl – für die Person, die sie wählt. Im Zweifelsfall: bewusst dümmer. Bewusst unverständlicher. Verklausulierter. Auch lächerlicher. Und verkorkster. Verwickelter. Eine Ästhetik des durch und durch Idiosynkratischen, Kryptischen. Doch wer will das schon? Wer will schon Kryptik als Ziel? Ihr müsst euch auch mal wieder entschuldigen, geil zu viel geil zu geil zu finden. #Selfielosophie.45 Einige wollen das und viele schreiben auf eine solche Art und Weise. Zum Ende dieses Erratiktraktates möchte ich die Sprache eines Autors näher betrachten, den ich in den letzten Monaten sehr gerne gelesen habe: ein Beispiel aktueller, erratischer Poetik. „Das ist kein Pudding, das ist ein Grand Dessert.“ muss ich mir merken.46 Unter dem Alias Nouveaubeton47 erscheinen seit 2011 Sätze und Äußerungen auf Twitter, die eine bestimmte Persona charakterisieren; eine medial durch Texte dargestellte Persona48, die nichts anderes als hochidiosynkra-

44 https://twitter.com/nouveaubeton/status/423368936273764352 45 https://twitter.com/nouveaubeton/status/399299039688417280 46 https://twitter.com/nouveaubeton/status/422822309154816000 47 https://twitter.com/nouveaubeton 48 Zum Begriff der medialen (Text-)Persona in medienkulturwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Hinsicht: Holger Schulze (2012): Die mediale Persona. In: Ders.: Intimität und Medialität. Eine Anthropologie der Medien – Theorie der Werkgenese, Bd. 3, AVINUS-Verlag Berlin, 146-194; Schulze 2013; Schulze 2014.

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tisch auf die Phrasen und Modeworte, die klischierten Habitusformen und den Warenfetisch des Berliner Kulturbetriebs reagiert: „Das Future Lab soll aus Think Tank, Design Academy und orthopädischer Werkstatt bestehen.“ muss ich mir merken.49 DCPDDTTV (m/w/trans)50 Bitcoins sind ja sowieso die Zukunft der Paymedien. Deshalb ist es ja so total unfeministisch, dass REWE die nicht äkzäptät, die Hater!51 Young British Arthritis. #urban52 Von meiner dritten selbsterfickten Milliarde lasse ich eine Daily Soap mit anspruchsvoller elektronischer Musik und Nina Hoss produzieren.53 A B E R K R I T I S C H !??54 Ich bin dumm, und das ist auch gut so. #Philosophie55 Worte wie Hater, K O M P L E T T, Textfläche, Relevanz, kuratieren, Sätze wie „muss ich mir merken“, „Klar fällt das auf!“, „Ihr müsst auch mal wieder“, „Alle downlorden!“, „hat die Haare schön“ oder „Aus Liebe zum Punk!“ werden dabei einerseits ernsthaft, unironisch gebraucht und benutzt – und zugleich verhöhnt als gedankenlose Phrasen eines zeitgenössischen, zeitgeistig zerfressenen, eines wichtigtuerischen und selbstvergessenen Alltagsgesprächs: eine Doppelung, die für nicht wenige Leserinnen und Leser schwer zu verstehen ist. Wie kann es sein, dass eine Referenz, ein Zitat zwar zum einen ironisch, sarkastisch, angeekelt, boshaft verwendet wird – jedoch zugleich auch genau so gemeint wird, unironisch? Muss der Sprecher/Autor, muss Nouveaubeton sich nicht für eine Bedeutung und einen Gebrauch entscheiden? Nein, das muss er nicht. Denn diese literarische Pra-

49 https://twitter.com/nouveaubeton/status/407835517846179841 50 https://twitter.com/nouveaubeton/status/397869781896146944 51 https://twitter.com/nouveaubeton/status/402852925153619968 52 https://twitter.com/nouveaubeton/status/423132654981373952 53 https://twitter.com/nouveaubeton/status/399176310972751872 54 https://twitter.com/nouveaubeton/status/408058394181111808 55 https://twitter.com/nouveaubeton/status/414870691549544448

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xis der Doppel- und Mehrfachcodierung ist etwa im Feld der Künste und der Literatur etabliert, etwa in Texten von zuvor in diesem Artikel zitierten Autoren und Autorinnen wie Jelinek, Zappa, Schlingensief, Goetz. Doch löst dieses Stilmittel fortdauernd immer wieder bei einzelnen Lesern eine Irritation aus. Ambivalenz als Mehrfachcodierung scheint im ausgezeichneten Publikationsraum der Künste erträglich, in Stilisierung und Inszenierung – im alltäglichen Sprachgebrauch dagegen erscheint sie aber offenbar nach wie vor ungewohnt bis provozierend, selbst in einem so stilisierten bis manirierten Publikationsraum wie Twitter. Béton x Chärity! Für jeden RT spende ich 0,000000000000001 Cent an "Bottomboys ohne Grenzen" !!!!!!!56 Da kennt der Béton nichts, da guckt er ganz deep rein, in den Elektronikmarkt. Aber kritisch.57 Nouveaubeton wechselt seinen offenen Aliasnamen ganz nach Belieben – und als weiteren Ausdruck dieses doppelt codierten Wortgebrauches – zum Beispiel zuletzt zwischen Desirenée Bétonbusch, Zukunftsbéton, Ultraweich Béton oder auch Béton Béton Béton. Ebenso mehrfachcodiert erscheint auch sein Verhöhnen der Prominentensucht in sozialen Netzwerken und Medien einerseits und zugleich sein sprachlich offensiv überinszeniertes, grotesk-stilisiertes Ranwanzen und Beflirten, zum Beispiel von Sibylle Berg, Sarah Kuttner oder René Pollesch auf Twitter: „Gysi fordert Nobelpreis für Snowden„, ich fordere den Nobelpreis für @SibylleBerg!58 Die Kuttner zitiert total deepe Tocotronic-Lyrics, die ich K O M P L E T T auch schon mal zitiert habe und wer bekommt geil den Fäme ab, hä?59 Aber ihr wisst schon, dass mich der Pollesch geil blockt? #SibylleBerg60 Eine Doppeltcodierung, die insgesamt eine hass- und beleidigungsfrohe, dabei erwartungsgemäß schnell beleidigte und selbstmitleidige Textpersona inszeniert. Nouveaubetons Texte sind damit als gallige Selbstparodie – gesättigt mit dem

56 https://twitter.com/nouveaubeton/status/402189011705675777 57 https://twitter.com/nouveaubeton/status/405351835994959872 58 https://twitter.com/nouveaubeton/status/402791602411692032 59 https://twitter.com/nouveaubeton/status/401754526413488128 60 https://twitter.com/nouveaubeton/status/403591976135950336

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üblicherweise eher versteckten Selbsthass – auf in Berlin lebende Protagonisten und Protagonistinnen des zeitgenössischen Kulturbetriebs, seien sie nun Projektemacher, Autorinnen, Architekten und Kuratoren – oder doch nur eine teilzeitarbeitslose, aber „erfolgreiche Frau im Internet“61: eine von Nouveaubeton als begehrt dargestellte Bezeichnung, die sich sowohl den Titel Frau im Spiegel, Bild der Frau als auch der grotesken (und gleichwohl journalistisch gängigen) Berufsbezeichnung Netzphilosoph anbiedert. Als boshafter Ehrentitel verleiht Nouveaubeton ihn dabei unterschiedslos und ohne jede Rücksicht auf biologisches Geschlecht und Berufstätigkeit einer Person. Es entsteht dabei auch ein Zerrbild, eine Selbstparodie auf schwule Formen der exaltierten Selbstdarstellung: Weihnachtsmail an den #Windbreaker? ( ) Ja ( ) Nein ( ) K O M P L E T T auf keinen Fall!62 schreibt auf jede Häuserwand: „Poppers sind so wichtig! “63 Ihr wisst aber schon, dass Textflächen für das Amusement eines hochironischen Homopublikums geil auch nichts verändern in dieser Welt?64 J E T Z T A B E R W I E D E R L U S T I G !65 Nouveaubetons besondere Idiosynkrasie in Hinsicht auf bestimmte Worte und Phrasen wird schließlich noch betont durch die jährliche Abstimmung über das Nouveaubeton-Wort des Jahres: Ende 2012 war es der Windbreaker, Ende 2013 dann die Fenditasche66. Die Texte von Nouveaubeton zu lesen, die Folge ihrer Reaktion aufeinander und auf die umgebenden Autoren und Autorinnen auf Twitter mitzuverfolgen sowie Nouveaubetons Aufsaugen und Bewerten von zeitgeschichtlichen und zeitgeistigen Modeerscheinungen, all das macht den Genuss dieser erratischen Lektüre aus. Was ist Teichelmauke? – Panzerschokolade für alle! Pseudologie, Perzeptualismus & Ultrapostmodernismus: die Chinoiserien der digitalen Kultur. Letzte

61 https://twitter.com/nouveaubeton/status/347292259672272898 62 https://twitter.com/nouveaubeton/status/414462161386491904 63 https://twitter.com/nouveaubeton/status/402114559055757312 64 https://twitter.com/nouveaubeton/status/404569225273942016 65 https://twitter.com/nouveaubeton/status/403558547054931968 66 Vgl. http://twtpoll.com/96rmltfubslq7j2

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Nacht stellte ich dem Geschäftsführer von Ehapa erfolgreich mein Comicprojekt vor: Paranormal Boy. Transgender-Zölibat Bukkake. Hast Du Hummer und Dorsch? Ein Lob des geordneten Rückzugs. Das Weltkulturerbe Rechtsstaatlichkeit. Please do not create something. Das Mungbohnenmogulat. Joey Heindle in der Rolle von Jo Lendle. Im Sternbild des Akkuschraubers. Journalismus ohne Kritik ist Öffentlichkeitsarbeit. This civilisation is fucked up beyond all repair. Die zentrale Erkenntnis, die sich aus dem Studium der Quellen ergibt, lautet daher: Rejoice! (gebrauche oder entferne) An ill-prepared slacker, riding on hunches and intuition. Ihr müsst auch mal wieder Lyrik zu Geld machen. Verschiedene Dinge. Es ist fortlaufendes Schreiben der Gegenwart, es ist Zeitgenossenschaft im besten, sprich: humorvollen, empfindsamen und analytischen Sinn. Und solches Begreifen und Nachvollziehen ist der Reichtum und die Erkenntnis, die eine Ästhetik des Kryptischen, des Erratischen, eine spekulative Ästhetik erlaubt.

L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/Main. Artaud, Antonin (1947): Pour en finir avec le jugement de Dieu. France Culture Paris 28.11.1947. Goetz, Rainald (1986): Hirn. Frankfurt/Main. Goetz, Rainald (1993): KRONOS. Berichte – FESTUNG 3. Frankfurt/Main. Goetz, Rainald (1999): Abfall für alle. Roman eines Jahres – Heute morgen, um 4 Uhr 11, als ich von den Wiesen zurückkam, wo ich den Tau aufgelesen habe, Bd. 5. Frankfurt/Main. Hay, Louis/Nagy, Peter (Hrsg.) (1982): Avant-texte, texte, après-texte. Paris. Hill, Greg/Thornley, Kerry W. (1965): Greg Hill alias Malaclypse the Younger & Kerry Wendell Thornley alias Lord Omar Khayyam Ravenhurst: Principia Discordia or How The West Was Lost. Berkeley. Kahlert, Heike (2012): Generativität und Geschlecht in alternden Wohlfahrtsgesellschaften. Soziologische Analysen zum Problem des demographischen Wandels. Wiesbaden. Schulze, Holger (2000): Das aleatorische Spiel. Erkundung und Anwendung der nicht-intentionalen Werkgenese 1903-1993 – Theorie der Werkgenese, Bd. 1. München.

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Schulze, Holger (2005): Heuristik. Sechs Theorie Erzählungen zwischen Popkultur, Privatwirtschaft und dem, was einmal Kunst genannt wurde – Theorie der Werkgenese, Bd. 2. Bielefeld. Holger Schulze (2012): Die mediale Persona. In: Ders.: Intimität und Medialität. Eine Anthropologie der Medien – Theorie der Werkgenese, Bd. 3. Berlin, 146-194 Schulze, Holger (2012a): Intimität und Medialität. Eine Anthropologie der Medien – Theorie der Werkgenese, Bd. 3. Berlin. Schulze, Holger (2013): Personae des Pop. Ein mediales Dispositiv popkultureller Analyse. In: Baßler, Moritz/Curtis, Robin/Drügh, Heinz/Geer, Nadja/ Hecken, Thomas u. a. (Hrsg.): POP. Kultur und Kritik 2 (2013) (online: http://www.pop-zeitschrift.de/wp-content/uploads/2013/02/aufsatz-schulzepersonae.pdf ). Schulze, Holger (2014): The Medial Persona. Tectonics of the Medial Imaginarium. In: Eva Lia Wyss (Hrsg.) (2014): Communication of Love. Mediatized Intimacy from Love Letters to SMS. Interdisciplinary and Historical Studies. Bielefeld (in Druck). Toop, David (1995): Ocean of Sound. Aether talk, ambient sound and imaginary worlds. London. Zappa, Frank (1989): The Real Franz Zappa Book. With Peter Occhiogrosso. New York. zur Lippe, Rudolf (2000): Sinnenbewusstsein. Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik, Band I: Tiefendimensionen des Ästhetischen; Band II: Leben in Übergängen – Transzendenz.

Preacher Men Mystizismus und Neo-Mythologie im britischen Gothic-Rock M ARCUS S TIGLEGGER

I. G OTHIC -R OCK Gothic – das Geheimnisvolle, Finstere und Mystische – ist ein Begriff, der heute selbstverständlich für Literatur, Musik und Fernsehserien als Etikett dient. Dabei hat er tatsächlich eine lange und wechselhafte Geschichte hinter sich. Von der Schwarzen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts bis in die Rockmusik der späten 1970er Jahre führen viele Pfade, und nicht alle wurden zur popkulturellen Tradition. „Four Doors to the Future: Gothic-Rock is their Thing“ betitelten die William College News 1967 einen Konzertbericht über einen Auftritt von Jim Morrison und den Doors, der „malevolent, satanic, electric, and on fire“ gewesen sei.1 Dieser Neologismus sollte erst über zehn Jahre später wieder Verwendung finden, und doch haben wir es hier mit einer möglichen Geburt der schwarzromantischen Rockmusik zu tun – einer populären musikalischen Kontinuität jener mystischen Phantasiewelten, wie man sie zuvor aus der Literatur von Edgar Allen Poe, Charles Baudelaire, Bram Stoker und Mary Shelley kannte. Wie sich in der gothic fiction, der Literatur der Schwarzen Romantik, weibliche Vamps und männliche Verführer – gothic villians – um die Leidenschaft ängstlicher femmes fragiles mühten und die Vergangenheit wie ein dunkler Fluch über der Gegenwart lastete, fand sich in der Pop- und Rockmusik spätestens seit den 1960er Jahren eine finstere Variante, die sich im Begriff gothic beschreiben ließ. Jim Morrison, der ‚Lizard King‘ wies bereits viele Attribute auf, die man ab 1979 mit dieser Spielart offiziell verbinden würde: ein Interesse am Okkultis-

1

Baddeley 2002, 172.

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mus, an Lederkleidung, der décadence des fin de siècle, am Jenseitigen und Morbiden. Zahlreiche Urahnen der Gothic-Rockmusik werden genannt: Screamin’ Jay Hawkins2. The Velvet Underground und Nico3, King Crimson4, Alice Cooper5, Iggy Pop6, David Bowie in der Diamond Dogs-Phase (1974)7, doch Jim Morrison und The Doors8 tauchen mit Abstand am häufigsten auf. Mit ihren atmosphärischen und ekstatischen Rocksounds ebneten sie den Weg für Joy Division, Siouxsie & The Banshees und bald darauf The Cure9. All diese Künstlerinnen und Künstler verbindet die Spekulation mit dem Geheimnisvollen, dem Todesnahen und Mystischen. Ihre in Klang und Lyrics beschworenen Bildwelten atmen des Hauch der morbiden Ästhetik der Schwärze und Finsternis und machen das geneigte Publikum in fast ritueller Weise immer neu vertraut mit dem Außerweltlichen.

Abb. 1: The Doors – Bandfoto

2

Hannaham 1997, 117. / Baddeley 2002, 163.

3

Thompson 2004, 29. / Steele/Park 2005, 119. / Baddeley 2002, 168. / Nym 2010, 147.

4

Thompson 2004, 17.

/ Goodall 2013, 422. 5

Hannaham 1997, 115. / Davenport-Hines 1998, 363. / Baddeley 2002, 174. / Thompson 2004, 13.

6

Mercer 1988, 8. / Thompson 2004, 31.

7

Baddeley 2002, 177-181. / Thompson 2004, 13. / Steele/Park 2008, 121.

8

Baddeley 2002, 171-172. / Mercer 1988, 8. / Nym 2010, 147.

9

Davenport-Hines 1998, 366.

P REACHER M EN

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Der Musikproduzent Tony Wilson beschrieb die Post-Punk-Musik von Joy Division als „gothic compared with the pop mainstream on a BBC TV programme“ (Something Else, 15. September 1979). In einem undatierten Factory Recordsinterview mit Mary Hannon (ca. 1980) findet sich ein weiterer Hinweis: „One clue to Joy Division lies in their album’s title. Another is the description given by Martin Hannett, who calls them ‘dancing music, with gothic overtones’. Unintentionally, Bernard Albrecht gave an excellent description of ‘gothic’ in our interview, when describing his favourite film Nosferatu. ‘The atmosphere is really evil, but you feel comfortable inside it’.“ Tatsächlich findet man in der Musik von Joy Division wenig von jenem Mystizismus, der gerade spätere GothicRock-Bands kennzeichnet. In Ian Curtis Texten geht es eher um die Leiden des Alltags, um Krankheit, Sexualität und immer wieder um die Destruktivität und Selbstzerstörungswut der menschlichen Spezies und fand in den Grabskulpturen des Artworks allenfalls metaphorischen Ausdruck. Mystizismus setzte erst nach Curtis’ frühem Selbstmord ein, der Joy Division als einer der grandiosesten unabgeschlossenen Kapitel der Musikgeschichte erscheinen lässt. Gerade die spätere Formation der verbliebenen Band, New Order, konnte hier nicht die Antwort sein.

Abb. 2: Joy Division – Coverfoto Closer

Im August 1979 kam das Album Join Hands von Siouxsie & the Banshees in England heraus und etablierte eine gezähmte, sehr Bass-orientierte und rituell anmutende Variante von Post-Punk, deren finster-morbide Elemente umgehend

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auffielen. Siouxsie Sioux beschrieb das Album in Interviews unumwunden als „gothic“, um den neuen Sound der Band zu klassifizieren – in Interviews nach 1983 dagegen nahm sie von dieser Klassifizierung wieder Abstand, doch da war es bereits zu spät: die jaulenden Gitarren und monoton hämmernden Drums waren ebenso zum Gothic-Klischee geworden wie das theatralische Make-Up und Hairstyling der charismatischen Sängerin.

Abb. 3: Siouxsie and the Banshees – Bandfoto

Für den folgenden Text, der den exponierten Mystizismus und die NeoMythologie einer bis heute populären Gothic-Rock-Band der zweiten Generation thematisieren wird, mag gerade der Doors-Song „Riders on the Storm“ – um zum Beginn zurückzukehren – eine Schlüsselfunktion haben. Indem die geheimnisvolle Rockmusik der Doors als Gothic-Rock bezeichnet wurde, sollte vor allem die Präsenz von Motiven der klassischen literarischen Gothic-Fiction in der Popmusik beschrieben werden, denn bereits der Romantiker Charles Nodier formulierte sein Selbstverständnis angesichts der gothic novel Melmoth the Wanderer (1820) von Charles Robert Maturin wie folgt: „Das Ideal der romantischen Dichtung liegt in unserem Leiden“10. Gothic fiction ist die mystische Tradition in der Literatur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts – vertreten etwa durch Poe, Stoker und Mary Shelley –, doch gefiltert durch Expressionismus und Existenzialismus muss das ‚Gothic-Gefühl‘ als ein nahezu zeitloses Phänomen betrachtet werden, das immer wieder einen zeitgemäßen Ausdruck finden wird. Noch die spätromantischen Künstler des ausgehenden 19. Jahrhunderts lebten in dem Bewusstsein einer verfallenden Kultur, die sie in ihrer Kunst

10 Zit. n. Stiglegger 2002.

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auf beklemmende Weise reflektierten: Degeneration, Deformation, Krankheit, Tod, erotische Extravaganz, Vampirismus – der Einfluss der Schwarzen Romantik prägte selbst spätere Texte von Baudelaire, Arthur Rimbaud, Oscar Wilde und Joris K. Huysmans. Ausgehend von Horace Walpoles Schauerroman The Castle of Otranto (1764) lassen sich einige essentielle Motive des Gothic-Phänomens isolieren, die nicht nur für entsprechende Literatur, sondern nachhaltig auch für die Subkultur und die populäre Musikszene gelten: Die Atmosphäre wird beherrscht von einem Mysterium, von oft unerklärlichen, irrationalen Vorgängen. Oft steht eine uralte, mythische Prophezeiung im Hintergrund, mit der das Figurenarsenal oder der Schauplatz schicksalshaft verknüpft sind. Visionen und (Alb-)Träumen kommt gerade in diesem Kontext eine tragende Bedeutung zu. Als Schauplatz dient dabei nicht selten ein sehr altes Gebäude, oder aber explizitere Orte des Todes: abgelegene Gebiete, Schluchten, Ruinen oder Friedhöfe. Hinzu kommt eine meist unüberschaubares Ausmaß dieser Orte und Gebäude, eine mythische Größe, die das Individuum unter sich zu begraben scheint. Menschliche Konflikte erreichen in diesem pathetischen Umfeld mitunter hysterische Dimensionen: Panik, Angst, Trauer, Wut, Begierde, Leidenschaften aller Art tragen das ihre zum Exzess der Gothic-Atmosphäre bei. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen daher oft weibliche Protagonisten, die unverhofft in beklemmende Zusammenhänge geraten und am Ende um ihr Leben kämpfen müssen. Eine genderspezifische Zuschreibung ‚weiblicher Schwäche‘ wird dabei unterwandert: Die Gothic-Heroin entwickelt ihre eigenen Mechanismen der Aktion und Gegenaktion – gerade, wenn sie sich dem destruktiven Begehren eines bösartigen Mannes ausgesetzt sieht. Auch andere Modelle romantischer Verflechtung ordnen sich dem morbiden Setting unter: unerfüllte Liebe, einseitige Leidenschaft, endgültiger Abschied, der gemeinsame Liebestod und natürlich das disharmonische Liebesdreieck. All diese Konstrukte werden ins Irrationale gesteigert durch ein Zusammenspiel von Fabel, Setting, Atmosphäre und Charakterzeichnung. Gerade im Kino der achtziger und neunziger Jahre und den Musikvideos von Gothicrockbands kehren auch die Metonymien der gothic fiction wieder: deutlich zuzuordnende Stereotypen, die eine Atmosphäre des Unheimlichen beschwören sollen (Gewitter, Sturm, undefinierbare Geräusche, Klirren, Knarren, flackerndes Kerzenlicht). Obwohl Pop- und Rockmusiker wie Nico, David Bowie, Brian Eno oder Joy Division an diese mystischen Impulse anschlossen, wurde erst mit der Hitsingle Bela Lugosi’s Dead (1979) der britischen Band Bauhaus ein eigenes Genre des Gothic-Rock begründet. Der Text des verhallt gemischten Songs bietet eine halb augenzwinkernde Hommage an jenen Star der Universal-Filmstudios der 1930er, der als Gothic-Ikone Dracula weltberühmt geworden war:

68 | M ARCUS STIGLEGGER „White on white translucent black capes back on the rack. Bela Lugosi’s dead. The bats have left the bell tower, the victims have been bled, red velvet lines the black box. Bela Lugosi’s dead. Undead Undead Undead. The virginal brides file past his tomb, strewn with time’s dead flowers, bereft in deathly bloom, alone in a darkened room the count. Bela Lugosi’s dead. Undead Undead Undead.“

Abb. 4: Bauhaus – Bandfoto

Mystische Lyrics, verhallter, finsterer Gesang und schräge, fast jaulende Gitarren mit intensivem Delay prägten von da an den Sound von Bands wie The Sisters of Mercy, The Mission und Siouxsie and the Banshees. Im Folgenden soll

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deutlich werden, wie der britische Gothic-Rock zum Mystizismus der Popmusik der 1980er Jahre wurde und im eigenwilligen mythologischen Universum der Fields of the Nephilim aus Stevenage kulminierte, deren Sänger Carl McCoy noch heute als ‚Preacherman of the Apocalypse‘ unvergleichliche Zeremonien auf der Bühne entfesselt. An diesem Beispiel zeigt sich, wie es eine Rockband schaffen kann, durch private Mythologie, konsequenten Mystizismus und eigensinnige Ästhetik apokalyptische Spiritualität in die Popkultur zu pflanzen, die inzwischen seit 1986 wächst und gedeiht.

II. M YTHOS , M YSTIK

UND

R OCK ’ N ’R OLL

Was haben also Mythos und Mystik mit Rock’n’Roll gemeinsam? Wiederspricht ein solcher Zusammenhang nicht der Modernität, die populärer Musik zunächst anhaftet? Erinnert man sich an die zeitgenössische Kritik an der aufkommenden Rockmusik in den 1950er Jahren, die dieser eine schamlose Sexualisierung und Körperfixierung, einen Appell an primäre Instinkte durch hämmernde Rhythmen vorwarf, wird eher deutlich, dass diese frühe Rezeption gerade das ‚Archaische‘ der Rockmusik beklagte. Und früh entfalteten sich populäre Mythen um ikonische Persönlichkeiten des Rock, um Elvis Presley, Gene Vincent oder die Beatles. Der frühe Tod einiger Musiker (Vincent, Morrison, Nico) bestätigte deren ikonischen Status für das Publikum nachgerade und ebnete den Weg für einen Totenkult bis hin zum Mystizismus, der bis zur Annahme reichte, die Stars seien letztlich nicht gestorben, sondern hätten ihren Tod nur fingiert (um Elvis und Morrison kursieren diese Gerüchte seit Jahrzehnten) – „Mythen des Alltags“ allesamt, um eine Formulierung von Roland Barthes zu bemühen.11 Einer grundsätzlichen, der Ethnologie entstammenden Annahme nach ist unter Mythos eine mündlich, schriftlich oder ggf. musikalisch überlieferte Erzählung mit sakralem Gehalt zu verstehen. Mircea Eliade hat in Die Religionen und das Heilige (1954) verschiedene Elemente aufgezählt, die der Mythos enthält: der Mythos erzählt in letzter Instanz eine ‚wahre‘ Geschichte; die mythische Fabel ist heilig, d.h. ihre Gehalt ist dem alltäglichen Bereich entzogen; der Mythos ist stets der Zeit des Ursprungs oder der Schöpfung zugeordnet; dieser Ursprung muss nicht einer früheren Zeit angehören, sondern kann jede Form des Neubeginns bezeichnen. Folglich ist der gelebte Mythos eine Zeit, in der ‚alle Zeiten in eine fallen‘; der Mythos enthält die Begründung und Basis der Rituale; der My-

11 Barthes 1957.

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thos hat daher eine bindende, normative Kraft; die Protagonisten der mythischen Fabel sind ‚übermenschliche‘ Wesen. Der Mythos nach Eliade bezeichnet insofern den Einbruch des Heiligen ins Alltägliche. Mythos und Leben sind eng verknüpft und eigenen sich im Übrigen für eine strukturalistische Analyse im Kontext regionaler und sozialer Eigenheiten, wie Claude Lévi-Strauss in Strukturale Anthropologie (1958) nachgewiesen hat. Zugleich wird im Mythos eine ‚Aussage‘ formuliert und verdichtet – das entspricht wiederum Roland Barthes Mythendefinition aus Mythen des Alltags (s.o.). Immer geht es im Mythos um elementare Wahrheiten, die darin verdichtet und erfahrbar werden, selbst wenn es sich um moderne Mythen handelt, die kulturelle (Selbst-) Bilder entwerfen. Eine weitere Ebene der Mythentheorie erscheint wichtig: Ernst Cassirer und Claude Lévi-Strauss begreifen in Mythisches Denken (1925) bzw. Das wilde Denken (1962) den Mythos als Denkfigur, als eine Möglichkeit, die Welt zu begreifen. Dabei kommt wieder jene ‚Allgegenwart‘ und Zeitlosigkeit des mythischen Geschehens zum Tragen. Das mythische Denken ist zyklisch angelegt und arbeitet mittels ritueller Strukturen auf eine Wiederholung des behandelten Schlüsselereignisses hin – die repetitive Natur des medialen Narrativs kommt diesem Umstand entgegen: die Wiederholung von Songs auf Konzerten, die Verbreitung von Videoclips im Internet. Das führt so weit, dass das Publikum auf die zyklische Wiederkehr des Vertrauten – aber stets neu Bewegenden – zu hoffen scheint – ein einleuchtendes Erklärungsmodell für den von den Fans getragenen Kult um die ‚Stars‘, jene ‚übermenschlichen Wesen‘, deren Aura sie von selbst zum Leuchten bringt. Obwohl umgangssprachlich oft verwechselt, sind Mystik und Mythos nur bedingt verbunden. Allerdings kann Mystik der Ausdruck von mythischem Denken sein, denn es handelt sich dabei – basierend auf dem griechischen mystikos für geheimnisvoll – um einen Begriff für eine Aussage über die Begegnung mit dem Heiligen, Göttlichen oder Absoluten. Oft besteht hier ein Zusammenhang zu religiösen und spirituellen Erfahrungen, der sich auch in der Star-Verehrung durch Fans findet, die ihre Idole in der Performanz als Epiphanie des Absoluten zu erleben scheinen. Während sich der Mystizismus als Form des Würdigungsrituals in den praktizierten Religionen auf die Epiphanie Gottes richtet, tritt an diese Stelle der Verehrte Pop-Star. Und ähnlich wie der Kirche die Mystiker erscheinen der Popkultur auch diese unreflektiert anmutenden verzückten und devoten Fans suspekt. Erforscht man den Begriff Mystik weitergehend12, wird deutlich, dass es dabei eigentlich um ein zentrales Geheimnis, das mysterium,

12 Albert 1996.

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geht, woraus eine Geheimlehre entstehen kann, die nur dem Eingeweihten zugänglich ist. Neben die Verehrung eines zentralen Rockstars würde in der Übertragung auf die Popkultur also die Existenz und Kultivierung eines mit diesem Star verbundenen ‚Geheimkultes‘, der von außen betrachtet buchstäblich ‚mysteriös‘ erscheinen muss. Die Idee des aus sich selbst heraus leuchtenden Sterns, der dem ‚Star‘ seinen Namen gab, wird vom Fan auf eine Weise ernst genommen, die jegliche bürgerliche Identität des Verehrten hinter seiner mystischen Persona verschwinden lässt. Hierin liegt eine rituelle und quasi-spirituelle Dimension der Verehrung von Popstars, die sich im Kult und der Ausstellung von Devotionalien (Patches, Buttons, Shirts) äußert. Eine persönliche Begegnung mit dem Menschen hinter der persona muss notwendigerweise entlarvend im Sinn der Demystifikation verlaufen. Der Kern des Starkultes ist die sorgsame Bewahrung des Mysteriums. Ein interessantes Beispiel für eine kontraproduktive Demystifikation von Stars war die Phase der Rockband Kiss in den 1980er Jahren, als diese beschlossen, ohne ihre signifikanten Schminkmasken aufzutreten. Das Publikum lehnte dieses neue Image ab. Bald wurde deutlich, dass es bei Kiss gerade nicht um die Qualität handgemachter Rockmusik ging – sondern um die von den transformierenden Masken getragene mystische Qualität, zu der man später erfolgreich zurückkehrte. Gerade der Gothic-Rock mit seiner inhaltlichen und ästhetischen Affinität zum Mythischen und Mystischen zugleich bietet einen fruchtbaren Nährboden für das Entstehen eines solchen populären Kultes, in dessen Zentrum ein schwer fassbares ‚Absolutum‘ steht. Im Gothic-Rock ist alles Mysterium – die Persona der Musiker, die Thematik der Texte, die Schauplätze der Musikvideos und nicht zuletzt die signifikaten Effekte der Musik (Hall, Delay, Sampling, Ambience). Will man den Bezug zwischen Mythos, Mystik und populärer Kultur ergründen, bietet sich der Gothic-Rock in besonderem Maße an, denn er spekuliert offensiv auf die diffuse Sehnsucht des Genrepublikums nach dem Arcanum (dem zentralen Heiligtum), dem Ursprungsmythos und dem Mysterium der Stars.

III. D IE

ZWEITE

G ENERATION

DES

G OTHIC -R OCK

1987 hingen in europäischen Großstädten Plakate einer Tour, auf denen eine Formation im Nebel positionierter Italo-Westerner zu sehen war: unscharf, körnig, im Gegenlicht. Die Augen des Frontmannes schienen zu leuchten, und statt der Läufe von Schrotflinten ragten Gitarrenhälse in die Schwaden. Das erinnerte an das Ende des Horrorfilms THE FOG / THE FOG – DER NEBEL DES GRAUENS (1979; Regie: John Carpenter), als die Untoten noch einmal im Schutze des dich-

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ten Nebels zurückkehren – mit rot glimmenden Augen. Das erinnerte an die Roadmovie-Vampire aus NEAR DARK / NEAR DARK – DIE NACHT HAT IHREN PREIS (1987; Regie: Kathryn Bigelow), die in Westernmanier ein amerikanisches Diner massakrieren. Oder an die Vampirgang aus THE LOST BOYS (1986; Regie: Joel Schumacher), als sie auf einem nebelumwogten Hügel Aufstellung nimmt. Dieses Konzertplakat appellierte an die finstersten und atemberaubendsten Phantasien: Die Lichtung der Erhabenen in einem jenseitigen Nebel. Darunter stand in antiquierten Lettern: Fields of the Nephilim. Doch woher kamen diese Untoten des Rock, die ihren Weg gerade erst begonnen hatten?

Abb. 5: The Sisters of Mercy – Bandfoto

Der britische Gothic-Rock entwickelte sich – wie oben beschrieben – aus den dunklen Untiefen des Punk und der aufstrebenden New Wave Ende der 1970er Jahre. Statt noisigem Gitarrensound und schnoddrigen Vocals des Punk hörte man hier verhallten, dunklen Gesang, rituell anmutende Rhythmen, pulsierende Bassläufe und verspielte Gitarren. Nach Bauhaus kamen The Sisters of Mercy aus Leeds (gegründet 1980) und etablierten ein Bühnen-Star-Image, das die Rockmusik auf Jahre hin beeinflussen sollte: blasse Haut, Sonnenbrillen, schwarze Hüte, lange schwarze Haare, Stiefel und Ledermäntel. Was sich da aus dem Kunstnebel schälte, kündete von der nahen Apokalypse, von einem Leben im Zwielicht, von der Jenseitigkeit des Pop, von der Lichtung des ‚Absoluten‘. Die Sisters of Mercy, nach einem Song von Leonard Cohen benannt, betraten Sphären, die Jim Morrison mit den Doors nie erreicht hatte – sie verschwanden während ihrer Auftritte im dichten Trockeneisnebel, maskierten ihre Gesichter

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mit Hüten und Brillen und suchten eine größtmögliche Distanz zu ihrem Publikum, das sie gerade aufgrund dieser Unnahbarkeit rituell verehren konnte: mit zum ‚Lichtgebet‘ erhobenen Armen vor der Bühne, oder auf den Schultern kräftigerer Freunde sitzend, rhythmische Mäander mit dem Armen vollführend – immer auf der finstere Glimmen der Bühne ausgerichtet (auf dem frühen Videoaufnahmen von Livekonzerten ist das bestens zu beobachten). Mit dem Londoner Batcave-Club hatte sich in den frühen 1980er Jahren längst eine subkulturelle Szene formiert, die man nach ihrem morbiden Äußeren als Goth bezeichnete. Dieser ersten Generation von Gothic-Rock-Bands folgten weitere, doch kein Name sollte dieses Genre so nachhaltig definieren wie Carl McCoys Band Fields of the Nephilim aus Stevenage/Hertfordshire. Auf einer frühen E.P. Buring the Fields (1985) suchte man noch nach einem genuinen Sound, hatte gar ein Saxophon im Line-Up. Zudem war die Selbstpräsentation der Band seit dem Preacherman-Videoclip (1987) von Richard Stanley stets dem Vorwurf ausgesetzt, man kopiere The Sisters of Mercy der frühen Phase, die ihre ikonische LP First and Last and Always ebenfalls 1985 veröffentlicht hatten. Durch Stanley kam eine Variation hinzu: Um den Apokalypse-Cowboy-Look noch finsterer erscheinen zu lassen, bestäubte man die Kleidung mit Mehl, um den Staub der Jahrhunderte zu symbolisieren. Und während The Sisters of Mercy textlich vor allem persönliche Erlebnisse („Alice“), psychedelische Drogen („Adrenochrome“) und politische Ereignisse verarbeiteten („Dominion/Mother Russia“), prägte Carl McCoy die Fields of the Nephilim mit einer komplexen Mythologie, die er aus eigenen Obsessionen, Träumen und magischen Arbeiten generierte.

Abb. 6: Fields of the Nephilim – Original Line-Up

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IV. M YTHOLOGIE UND I MAGE OF THE N EPHILIM

DER

F IELDS

Die Neo-Mythologie der Fields of the Nephilim ist nach Einschätzung des Musikjournalisten Dave Thompson der Schlüssel zu ihrem anhaltenden Erfolg seit 1987: „Die Fields konstruierten in jedem Bereich eine Welt in einer Welt, eine persönliche Mythologie, die zwar nur eine Hand voll der ergebensten Fans oder Schüler zugänglich (oder überhaupt auch nur verständlich) war, die sich aber auch jenseits der Grenzen der Fields-Fans, die bisher nur eine kleine Kultgemeinde darstellten, vermitteln ließ. Ob ihre Musik oder das Artwork, ihre Konzerte oder ihr Merchandising – jeder Aspekt der Band an sich war unlösbar mit einem einzigen Identitätsanker verbunden.“13 Der Name Nephilim leitet sich aus der hebräischen Mythologie der apokryphen Bibelschriften her. In der Jerusalemer Einheitsübersetzung des Alten Testaments taucht er zumindest im ersten Buch Mose (Genesis 6:1-4) auf, wo sich die Engel („Söhne Gottes“) mit den Menschenfrauen paaren und eine Rasse von übermächtigen Riesen gebären, die Nephilim genannt werden und als mächtige Krieger vor der ‚großen Flut‘ beschrieben werden. Zudem werden die Bewohner Kanaans und die Krieger der Philister in unterschiedlicher Schreibweise ähnlich bezeichnet, etwa in Numeri 13:33. „Die Menschen erschienen wie Grashüpfer neben ihnen.“ Mythologisch kann man weitere biblische Gestalten als Nephilim interpretieren, etwa die vier Reiter der Apokalypse aus der Offenbarung des Johannes. In der populären Kultur tauchen die mythischen Nephilim regelmäßig auf, wenn auch ohne nachhaltige Bekanntheit. So bezog sich Jason Connerys Horrorfilm THE DEVIL’S TOMB (2009) ebenso auf dem Mythos wie eine Folge der X-FILES (ALL SAINTS) und die Fortsetzungen der PROPHECY-Filme (1998/2000). Neben der Fantasy-Literatur und Erich von Dänikens Theorien, in der Urzeit hätten Außerirdische sich mit menschlichen Frauen gepaart und Nachkommen gezeugt, was auf alten Reliefs deutlich dargestellt werde, blieb es der Band Fields of the Nephilim vorbehalten, diesen mythischen Namen im Bewusstsein eines Teils der Popkultur zu verankern. Auf dieser Basis eines biblischen Ursprungsmythos’ entwickelte Carl McCoy in seinen Lyrics von Beginn an einen komplexen Synkretismus aus traditioneller Mythologie und populärer Mystik. So tauchen neben den Nephilim selbst und einer spezifischen mit dem Lucifer-Mythos verbundenen Lesart auch Versatzstücke aus den Geschichten von Howard Philipps Lovecraft auf (etwa der

13 Thompson 2004, 214.

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gelegentliche Bezug auf Cthulhu und das von ihm erfundene Buch ‚Necronomicon‘). Ebenfalls findet man in den Zeilen Zitate von den britischen Magieren Aleister Crowley (dem Verfasser des Romans Moonchild) und Austin Osman Spare (nach dessen okkulter Schriftensammlung Earth Inferno benannte man später ein Live-Album). Die rituelle Performanz der von Carl McCoy geprägten Bühnenshow umfasst zudem Elemente des Schamanismus, wie man ihn von nordamerikanischen Prärieindianern und den sibirischen Jakuten kennt: Die zerfetzte und grob zusammengeflickte Lederkleidung, die verfilzten schwarzen Haare mit weißen Strähnen, der mit Federn geschmückte Hut; dazu kommt eine weit ausgreifende visionäre Gestik und der entrückte, in die Ferne gerichtete Blick des Sängers, den er gelegentlich mit hellen Kontaktlinsen unterstreicht. Die Musik arbeitet mit sphärischen Drones und sakralen Samples, verspielten Melodielinien und prägnanten Bassläufen, die von rituellen Drums untermalt werden. McCoys Stimme, die wie aus einer Dimension anmuten soll, verbindet den erzwungenen Bass des frühen Gothic-Rock im Stil von The Sisters of Mercy mit gelegentlichen Growl-Anflügen, wie sie aus dem Death Metal bekannt sind. Oft liegt ein starker Halleffekt auf den Vocals, um sie noch jenseitiger und mystischer erscheinen zu lassen. Mit diesem audiovisuellen und neomythologischen Zeichensystem gelang es der Band erfolgreich und bis heute ungebrochen, einen eigenen Nephilim-Mythos zu generieren, der dem Publikum zahlreiche Anknüpfungspunkte zur rituellen Devotion bietet. Zentral ist – dem Starkult entsprechend – das Mysterium um den Sänger Carl McCoy, der von Beginn an in Fanzine-Interviews mit Formulierungen wie „das ist zu privat“ oder „das lässt sich nicht in Worte fassen“ spezifischen Fragen zu seiner synkretistischen Mythologie auswich und so viele Aspekte gezielt im Unklaren ließ. Es blieb den Fans überlassen, auf der Basis der mystischen Ästhetik der Band über das zentrale Arcanum (die bewusste Leerstelle) zu spekulieren und so eine eigene Heterotopie jenseits der alltäglichen Profanität zu imaginieren.

V. M YSTISCHE P OP -H ITS Fields of the Nephilim etablierten ihren genreprägenden Sound der Zweiten Generation des Gothicrock in einer Zeit, als einzelnen LP-Veröffentlichungen noch erheblich mehr publizistische Aufmerksamkeit zugute kam. So wurden ihre Veröffentlichungen zwar nicht durchweg geschätzt, doch fanden sie vor allem in England und später auch auf dem europäischen Festland ein treues Publikum, das der Band aus heutiger Sicht erstaunliche Erfolge ermöglichte. Die Single Blue Water etwa erreichte 1987 in den britischen Charts Platz 75. 1988 koppelt

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man aus dem Album The Nephilim die Single Moonchild, die immerhin Platz 28 der Charts erreichte. Im Mai 1989 stieg die psychedelische Maxisingle Psychonaut, die von einem spektakulären Sonnentanz-Video begleitet wurde, auf Platz 35 der britischen Charts – durchaus beachtlich, wenn man die experimentelle, zutiefst spirituelle Ritualrockmusik dieser Veröffentlichung bedenkt. 1990 erschien das monumentale Elyzium-Album der Band, das von dem Pink-FloydMischer Andy Jackson produziert worden war. Die ausgekoppelte Single For Her Light erreichte ebenfalls die Top 40, und die folgende Remix-Single Sumerland (Dreamed) vom selben Album fand man im November 1990 auf Platz 37. Man kann angesichts dieser durchaus kommerziellen Relevanz der Band also von der erfolgreichen Etablierung einer spirituellen Privatmythologie im Kontext der Popkultur sprechen. Die Fans garantierten nicht nur die Präsenz des Nephilim-Stils auch außerhalb der Bühnenperformance, sondern sorgten für eine Kontinuität des Erfolges bis zur Neuformation der Band um 2008.

Abb. 7: Fields of the Nephilim – Bandlogo

Im Oktober 1990 fand ein epochales und vielerlei Hinsicht paradigmatisches Konzert der charismatischen Band in London / Brixton Academy statt. Man präsentierte in überzeugender musikalischer Symbiose vor allem Stücke des aktuellen Albums Elyzium sowie einige frühere Klassiker, allen voran das epische

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„Last Exit for the Lost“. Mitch Jenkins filmte das Konzert in einer Mischung aus schwarzweißem und farbigem Material, wobei die schwarzweißen Teile durchweg in einem kontrastreichen, körnigen Stil bearbeitet wurden und lieferte auf diese Weise weiteres ästhetisches Material für die mystische Spekulation seitens des Publikums, das nicht vor Ort sein konnte. Zahlreiche Einstellungen sind in Zeitlupe gefilmt, um die Außerweltlichkeit des Geschehens zu betonen. Die Nebenschwaden, die das Geschehen permanent durchziehen, steigern noch die Körnigkeit der Videobilder. Die Kamera bewegt sich dynamisch zwischen den Musikern, während die Montage vor allem auf die treibenden Rhythmen reagiert und mit gelegentlichen Stakkati die Schnittfrequenz bis zum Flash-Cutting steigert. In dem farbigen Einstellungen dominieren vor allem die Spots in rot, blau und grün, die das Gesicht im Stil des expressiven italienischen GothicHorrorfilms der 1960er und 1970er Jahre (z.B. SUSPIRIA, 1977; Regie: Dario Argento) dramatisieren. Das Gesicht des Sängers Carl McCoy wird in häufigen Nahaufnahmen geradezu fetischisiert. Immer wieder fährt die Kamera auf ihn zu, sucht seinen in die Ferne gerichteten Blick. Der Level der Mystifizierung der Musiker ist im Vergleich zum vorangehenden Konzertfilm FOREVER REMAIN (1988) noch einmal gesteigert, denn dort ist zwar der apokalyptische Westerncharakter im Bühnenoutfit noch erheblich präsenter, doch die Stilmittel werden deutlich simpler eingesetzt, Kameraperspektiven sind weniger ausgefallen, wie ohnehin nur drei Kameras im Einsatz waren. Für VISIONARY HEADS schnitt man allerdings zur Steigerung der visuellen Dynamik offenbar zeitlich versetzte Elemente zusammen, denn mitunter wechselt das Outfit des Sängers von einer Einstellung zur anderen: einmal trägt er seine zerschlissene Lederjacke, dann wieder sein flatterndes weißes Piratenhemd. Dieser Effekt wird in dem zu Promotionszwecken montierten Musikvideoclip FOR HER LIGHT noch deutlicher, denn hier bediente man sich aus allen Höhepunkten des Konzerts. Im Gegensatz zu den früheren originellen und aufwändig inszenierten Videoclips verlässt sich der Konzertfilm VISIONARY HEADS ganz auf die mystische Ausstrahlung der Band und ihre charismatische Bühnenpräsenz. Insofern geht Mitch Jenkins durchaus klassisch vor und dramatisiert das Bühnengeschehen allenfalls mit seinen filmtechnischen Mitteln, etwa durch den starken Fokus auf das Gitarrenspiel oder die Schlagzeugbeats. Am wichtigsten erscheint ihm das Verhältnis zwischen Bühne und Fans, was wiederum deutliche Belege für den im rituellen Konzerterlebnis praktizierten Mystizismus verdeutlicht.

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Abb. 8: Carl McCoy – Pressefoto im Schamanenoutfit

VI. E INE R OCK -Z EREMONIE 2009 tourten Fields of the Nephilim erneut in Westeuropa und nannten diese Events „Ceremonies“ (ein Filmdokument ist 2013 unter dem Titel CEROMONIES erscheinen). Und als rituelle Zeremonie muss man bereits den Auftritt in VISIONARY HEADS begreifen. Selten wurde ein Frontmann und Rocksänger deutlicher als Schamane inszeniert, als ritueller Mittler zwischen der Welt seiner mythischen Vision – der Welt der Nephilim – und der seiner geneigten Fans. Carl McCoy kann als eine Inkarnation mystisch-spekulativer Prozesse verstanden werden. Die Verehrung durch die Fans hat bei Fields of the Nephilim durchaus bizarre Züge angenommen. So wird spätestens seit den späten 1980er Jahren die Kleidung des Sängers kopiert: sein Kutscherhut, seine gealterter Lederkluft, der Mehlstaub, die schweren Motorradstiefel. Während der Konzerte hat sich ähnlich wie der spezifische ‚Handtanz‘ der Fans von The Sisters of Mercy und The Mission die Gewohnheit etabliert, mit Hilfe zweier Helfer aus der Menge aufzusteigen und die Arme zum Lichtgebet auszubreiten. Diese Form des Runenyogas

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ahmt die Form der gegabelten Lebensrune nach und soll den ‚Betenden‘ zu einer Antenne formen, um die spirituelle Energie von der Bühne aufzunehmen – zumindest ließe es sich so interpretieren. Auf diese rituelle Weise wird das Publikum explizit Teil der Performance und folglich reagiert Jenkins in seiner Inszenierung darauf, indem er immer wieder die Publikumstotale aus dem hinteren Teil des Raumes als Verschmelzung von Band und Fans nutzt. Von besonderer Bedeutung ist hierbei auch der satanische Gruß mit abgespreiztem kleinem und Zeigefinger. In der Mythologie der Band ist dies jedoch nicht auf eine antichristliche Geste begrenzt, sondern grüßt vielmehr den gefallenen Engel Lucifer des alten Testaments, der als gefallener Engel vergleichbar mit den ‚großen Alten‘ ist, die sich mit den Menschen vermählten und die Nephilim zeugten. Insofern sind die Nephilim ‚luciferische‘ Wesenheiten, nicht wirklich in einem dämonischen Sinne, sondern als Bringer und Träger eines spirituellen Lichts (luci ferre). Im Gegensatz zu der Rock’n’Roll-typischen Feier des ästhetischen Bösen und ‚Ungehorsamen‘, die sich ebenfalls dieses Handzeichens bedient, handelt es sich im Nephilim-Kontext hierbei nicht nur um eine kommunikative und würdigende Geste, sondern zudem um einen performativen Akt im Sinne der Bandmythologie. Fields of the Nephilim vertreten bis heute wie keine zweite Band neben ihnen eine bestimmte Ära des Gothic-Rock der späten 1980er Jahre. Neben ihrer konsequent weiterentwickelten Privatmythologie haben sie in zahlreichen LiveShows bewiesen, dass sich der synkretistische Mystizismus ihrer Alben in eine dynamische, psychedelische und ekstatische Rockshow live adaptieren lässt. Mitch Jenkins filmisch konventioneller Konzertfilm VISIONARY HEADS bietet einen intensiven Eindruck der charismatischen Bühnenpräsenz und des Versuchs, schamanistische Trancetechniken in psychedelische Rockmusik zu integrieren und so auf mythopoetischer Basis einem ebenso irritierenden wie faszinierenden Mystizismus zu huldigen. Wie eingangs betont, eignet sich das vorliegende Beispiel einer seit über zwei Dekaden weltweit erfolgreichen Gothic-Rockband nachdrücklich, um die fruchtbare Etablierung einer eigenen synkretistischen Mythologie und die Pflege der mystischen Starpersona sowie deren rituelle Würdigung seitens des devoten Fans zu analysieren. Der spekulative Erkenntnisprozess ist so einerseits auf der Ebene der Verehrung verortet: im dringenden Impuls, hinter das zentrale Mysterium des Stars vorzudringen und alle verfügbaren Fragment zu sammeln – in der Hoffnung, weiterführenden Aufschluss zu gewinnen; und zweitens bietet sich dieser in Livesituationen zu beobachtende, in Konzertfilmen dokumentierte und rekonstruierte Dialog zwischen Star und Publikum an, über dieses komplexe, auf Mystifizierung gegründete Verhältnis zu spekulieren. Der vorliegende Beitrag

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hat dieses Phänomen sowohl in einem close reading des Beispiels Field of the Nephilim in seiner ästhetischen Eigensinnigkeit beleuchtet, wie auch weiterführende und grundsätzliche Erkenntnisse über die Verehrungsprozesse im Kontext der Popkultur ermöglicht. Während gerade die Gothic-Kultur im englischsprachigen Raum weitgreifende Reflexion erfährt, beschränkt sich deren Erforschung im deutschsprachigen Raum auf wenige und zudem inkonsistente Ansätze. Dieser Beitrag mag als fruchtbarer Ansatz auch in diesem Bereich dienen.

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Grenz-/Überschreitungen

Frontierland! Spekulative Grenzerfahrungen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen in der US-amerikanischen Mystery-Serie SUPERNATURAL M ARCUS S. K LEINER „Es gehört zum Wesen der Spekulation, dass sie über die unmittelbar gegebenen Tatsachen hinausgeht.“ ALFRED NORTH WHITEHEAD (1974: 68)

1. E INLEITUNG Eine im Kontext von Mystery, Science Fiction und Fantasy immer wieder gestellte Frage lautet: „Was wäre, wenn...?“ Die Auseinandersetzung mit den Grenzen und den Grenzüberschreitungen vernünftigen Verstehens und Verständnisses bzw. einer rationalen Ordnung der Dinge ist ein wesentlicher Bestandteil von phantastisch-spekulativen Erzählungen in Populären Medienkulturen sowie der erzählerischen (Re-)Konstruktion von wissenschaftlich-technischen Erfindungen. Hierbei wird das Spekulative spektakulär bzw. zum Spektakel, das einen thrill des Spekulierens und am Spekulieren offenbart. Medialisierte, populärkulturelle Wissensproduktionen entfalten sich häufig im unaufgelösten sowie unauflösbaren Spannungsfeld von Wissen und Glauben, Leben und Tod, Realität und Simulation, Natürlichem und Übernatürlichen, Mensch und Maschine. Sie bleiben grundlegend spekulativ, wobei sie dem Spekulativen zugleich einen Realitätssinn und dem Realen einen Möglichkeitssinn verleihen.

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Mein Beitrag untersucht am Beispiel der US-amerikanischen MysteryFernsehserie SUPERNATURAL, wie spekulative Wissensproduktionen sowie Wissensirritationen in audiovisuellen Medienkulturen inszeniert werden. Nichtrealistische, spekulative Erzählformen sind in den letzten Jahren im Fernsehen sehr erfolgreich, wie etwa der Boom von Mystery-Serien zeigt.1 Darüber hinaus wird aufgezeigt, wie sie (sich) selbst wiederum unterlaufen (werden) durch eine spekulative Rationalisierung des (vermeintlich) Irrationalen, die das Phantastische und Mysteriöse (auch) rational erklärbar erscheinen lassen. Hierbei erzeugen die populärkulturellen Medienkulturen Mystery, Science Fiction und Fantasy zugleich eine „Fiktionshäresie“ (Lachmann 2002, 97; vgl. Antonsen 2007, 38), „indem sie mit den Regeln spielen, die eine Kultur für ihre Fiktionen und Fiktionsdiskurse geltend macht“ und dabei „Normen mimetischer Konventionen“ außer Kraft setzt, ebenso wie sie dadurch mit etablierten Realitätskonzepten spielen und „durch die Konstruktion des Unwahrscheinlichen und Unmöglichen das Scheitern zweifelsfreier Setzungen vorführen“. Diese unmöglichen und unwahrscheinlichen Grenzüberschreitungen erzeugen nicht etwa daher Verunsicherungen, weil sie Normabweichungen als real setzen, sondern sie stellen die Normen der Realitätswahrnehmung selbst in Frage, indem sie vom ontologisch und physikalisch Möglichen als Kernpunkt der erzählten sowie dargestellten Welt abweichen. Der Reiz und die Lust an der Inszenierung von Unschlüssigkeit und Widersprüchlichkeit, des Wundersamen und Übernatürlichen, des Unheimlichen und Unwirklichen sowie des Antirationalen und der daraus resultierenden Verunsicherung der Realitätsbegriffe, aber auch die hierbei geübte Kritik an Aufklärung und Positivismus sowie an deren Austreibung von Göttern, Geistern und Gespenstern, bestimmt die populären Medienkulturen Mystery, Science Fiction und Fantasy. Diese Themen werden zum Kernpunkt des Bedeutungsaufbaus ihrer Narrationen. Der große, internationale Erfolg dieser Medienkulturen kann durchaus als Symptom einer rational erschöpften und ausgeschöpften Gesell-

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Der deutsche Internet-Fernsehserien-Informationsdienst Serienjunkies zählt aktuell knapp 100 Mystery-Fernsehserien (vgl. www.serienjunkies.de/serien/mystery; zuletzt aufgerufen am 28.08.2014). In diesem Kontext kann zugleich auf das Comeback der phantastischen Literatur in jüngster Zeit hingewiesen werden, wie z.B. die großen internationalen Erfolge der Harry Potter- (Joanne K. Rowling) und Twilight-Saga (Stephenie Meyer) verdeutlichen. Bemerkenswert hierbei ist auch die aktuelle Neuauflage der klassischen „Einführung in die fantastische Literatur“ von Todorov (2013), dem internationalen Standardwerk zur phantastischen Literatur.

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schaft aufgefasst werden. Erkenntnis- sowie Verstehensprozesse finden hierbei weniger rational und Vernunft-basiert statt, sondern sind wesentlich intuitiv.2 Ich werde mit einer heuristischen Kontextualisierung der Leitthemen3 beginnen: Mystery, Spekulation und Grenze (Kap. 2). Dies schafft die Basis für meine Auseinandersetzung mit repräsentativen Mystery-Motiven in SUPERNATURAL, die v.a. auf die Staffeln 1-5 (2006-2010) fokussiert ist (Kap. 3). Das Erkenntnisinteresse ist darauf gerichtet zu zeigen, wie Populäre Medienproduktionen, hier das Mystery-TV, spekulative Erkenntnisprozesse transportieren, artikulieren und modifizieren. In Zentrum dieser Erkenntnisprozesse steht die Auseinandersetzung mit dem Zusammmenhang von Willensfreiheit, Handlungsfreiheit und Determination. Abschließen werde ich meine Überlegungen mit einer kurzen Diskussion der Freiheitskonzeption von SUPERNATURAL (Kap. 4).

2. K ONTEXTE 2.1 Mystery Mit dem Sammelbegriff Mystery werden allgemein bzw. recht unspezifisch Literatur, Filme sowie Serien bezeichnet, die Fantasy-, Horror- und Crime-Elemente miteinander vermischen. Nur selten finden sich hierbei Bezüge zur Science Fiction. Mystery steht insofern in der Tradition nicht-realistischer Narrationen. Diese bestimmen grundsätzlich populärkulturelle Spekulationen im Kontext von Mystery. Die Bedeutung des englischen Wortes mystery, Geheimnis und Rätsel, verweist auf etwas Verborgenes, Uneindeutiges, Unentschiedenes, Unmögliches und Unverstandenes, das zumeist nur spekulativ erschlossen werden kann, weil

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Neben der Intuition sind Drastik (Dath 2005) und Extremismus (Vgl. die vom Verfasser konzipierte und moderierte Podiumsdiskussion „Extremismus-Pop. Demokratiefeindliche Subkulturen in der Popmusik“, die am 23.11.2013 an der Popakademie Mannheim im Kontext des Kongresses „Zukunft Pop“ stattfand: http://medienkulturanalyse.de/ wp/?p=1684) konstitutive Erkenntnismedien des Populären und von Pop.

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Die Bestimmungen der Begriffe Mystery, Science Fiction und Fantasy besitzen nur eine sehr eingeschränkt heuristische Bedeutung und stellen keine differenzierte GenreDiskussion dar. Mich interessieren hierbei ausschließlich die spekulativen Elemente dieser Genre bzw. deren allgemeinen Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Ebenso stellt die kurze Behandlung der Begriffe Spekulation und Grenze keine differenzierte philosophische, kultur- oder sozialwissenschaftliche Diskussion dar.

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es an den Rändern bzw. Grenzen des Wissens und der Erfahrung situiert ist. Dies wird v.a. durch die Konfrontationen, Grenzen und Grenzüberschreitungen von Wissen, Wirklichkeit, Wissenschaft, Diesseits und Leben mit dem Irrationalen, Übersinnlichen, Übernatürlichen, Unheimlichen, Jenseitigen, Toten, Geistern, Dämonen usw. inszeniert. Das Wort mysteriös besitzt im Mystery-Genre eine Qualität, die als übergreifende ästhetische Kategorie in unterschiedlicher Verwendung auf verschiedene Künste und Medien (Malerei, Film, Literatur etc.) angewendet wird. Indem es sich primär auf das Dargestellte, nicht auf die Darstellungsform bezieht, bringt es eine Abweichung von der normierten Wirklichkeitsvorstellung zum Ausdruck, die dem Dargestellten zugrunde liegt, und setzt insofern stets eine Grenzüberschreitung voraus. Die erzählte Welt bezieht sich einerseits auf die Normen der außer-narrativen Wirklichkeit, die als Bezugssystem der inner-narrativ konzipierten Wirklichkeit zugrunde liegt und durch die Narration entsprechend nachgebildet wird; andererseits werden Elemente integriert, die mit den Bedingungen der Normwirklichkeit nicht vereinbar sind und die zugleich den Bedeutungskern der Mystery-Erzählungen darstellen. In SUPERNATURAL ist das Mysteriöse Teil einer übergeordneten, der Normwirklichkeit entgegengestellten Wirklichkeit, aus der diese letztlich hervorgegangen ist. Die Normwirklichkeit wird von ihr grundlegend in Frage gestellt, erscheint aber gleichwohl, zumindest für die handlungsbestimmenden ästhetischen Figuren und damit auch für den Blick der Zuschauer, als alltäglich bzw. nicht außergewöhnlich, weil die Existenz des Übernatürlichen nicht problematisiert wird.4 Die Differenz sowie der Bezug zwischen Normwirklichkeit und Alternativwirklichkeit bzw. zwischen möglicher und unmöglicher Wirklichkeit wird in SUPERNATURAL durch die Serienerzählung ausgetragen. Diese Differenz fokussiert nicht eine Stabilisierung des Gegensatzes von außer- und innner-narrativer Wirklichkeit, sondern die Erschütterung der dominanten Auffassung von (Norm-) Wirklichkeit. Die Mystery-Erzählung von SUPERNATURAL besitzt somit eine gesellschafts- und erkenntniskritische Dimension.

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In Fantasy-Erzählungen wird, als Subgenre der Phantastik bzw. der Phantastischen Literatur, im Unterschied zu Mystery-Erzählungen, eine von der Alltagswelt bzw. Normwirklichkeit völlig getrennte Phantasiewelt inszeniert. Motive und Erzählstrukturen in Fantasy-Erzählungen beziehen sich auf Mythen, (Volks-)Märchen, Sagen und Heldenepen – in ihren Gesellschaftsstrukturen orientiert sich Fantasy zumeist an realen historischen Epochen (vgl. Mass/Levine 2002; Weinreich 2007). Im Zentrum von Fantasy stehen übernatürliche, märchenhafte und magische Elemente. Das Fiktionale erscheint hier als das Reale.

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Mystery weist einen deutlichen Bezug zur traditionellen Phantastik bzw. zur Phantastischen Literatur auf (vgl. u.a. Thomsen/Fischer 1985; Zondergeld/Wiedenstried 1998; Todorov 2013). Wie in der Phantastischen Literatur das Phantastische, so liegt beim Mystery das Mysteriöse „im Moment der Ungewissheit und ist verbunden mit dem Schwanken des Helden (und des Lesers [/Zuschauers – MSK]) zwischen der Möglichkeit einer natürlichen Erklärung phantastischer Vorgänge (Bereich des Unheimlichen) und der Annahme neuer Naturgesetze (Bereich des Wunderbaren)“ (Wögerbauer 2000: 408). Die Phantastische Literatur kann, ebenso wie Mystery, speziell in der Version von SUPERNATURAL, als „Gegenentwurf zu einer rationalen, übertechnisierten Alltagswelt verstanden werden. So lässt sich gerade in Zeiten, in denen verstärkt Okkultismus und antirationale Tendenzen zu beobachten sind [...], ein Erstarken der Ph[antastischen] L[iteratur] feststellen“ (ebd.).5 Hierbei werden im Mystery, aber auch in der Phantastischen Literatur, zumeist die Kategorien von Zeit, Raum und Kausalität entstellt und die ästhetischen Prinzipien von Angemessenheit und Ähnlichkeit verletzt. Hierdurch wird ein komplexes Verfahren der Sinnzuweisung, aber auch der Sinnverweigerung initiiert, das an die Thematisierung oder NichtThematisierung von Verwunderung oder Zweifel gebunden ist und zumeist an den akzeptierten Realitätskriterien gemessen wird, als deren Verfechter der Held bzw. Protagonist oder der Erzähler fungieren. SUPERNATURAL ist dementsprechend konsequent technologisch antiquiert und erzählt gegen ein medientechnisches Apriori sowie die Austreibung des Geistes und von Geistern (vgl. Kittler 1985, 1986).6 Schriftliche Überlieferungen, etwa das Journal7 von JOHN WINCHESTER (Jeffrey Dean Morgan), dem Va-

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Vgl. hierzu etwa auch den Boom apokalyptischer Erzählungen, die Bedeutung des Paranormalen, die Herausforderung rationaler Parameter und die Erfindung realitätsirritierender Bilder im Kontext der Millennium-Erzählungen in Kinofilmen und Fernsehserien (s. u.a. Busse 2000).

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Dies unterscheidet SUPERNATURAL deutlich von Science Fiction-Erzählungen und deren Fokus u.a. auf naturwissenschaftlich-technische Entwicklungen, wissenschaftliche Erklärungsmodelle, fremde Welten bzw. den Weltraum, Mensch-Maschine-Visionen, das Künstliche bzw. Künstliche Intelligenz, die Zukunft etc.

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„DEAN WINCHESTER: This book. This is Dad's single most valuable possession. Everything he knows about every evil thing is in here. And he's passed it on to us. I think he wants us to pick up where he left off. You know, saving people, hunting things. The family business“ (Wendigo, 1. Staffel, 2. Episode 2). Die Erstausstrahlung dieser Folge in den USA war der 20.09.2005, der Originaltitel lautet „Wendigo“, der deutsche Titel ebenso (DVD). („Supernatural – Die komplette erste Staffel“, 6 DVDs;

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ter der beiden Serienprotagonisten SAM (Jared Padalecki) und DEAN WINCHESTER (Jensen Ackles), u.a. mit Informationen über verschiedenste übernatürliche Wesen und ihre Bekämpfung; Bücher, z.B. mit Zaubersprüchen oder Wissen über Geister oder Dämonen; Bibliotheken, in den Städten, in denen sich SAM und DEAN WINCHESTER befinden; Zeichen und Symbole des Übernatürlichen und zu dessen Abwehr; sowie zahlreiche Bilder, wesentlich von übernatürlichen Wesen, bestimmen die Serienwelt von SUPERNATURAL. Nur selten spielt (antiquierte) Medientechnik eine Rolle in der Serie, etwa in Form von Musikkassetten sowie dem Kassettenrekorder im Auto von DEAN WINCHESTER; veralteten Computern als Recherchemedien für Textwissen und Bilder; oder in Form von Mikrofichen in Bibliotheken. Die Bedeutung der Schriftkultur, der oral history und (archaische) Kulturtechniken leiten die Protagonisten der Serie in ihrem Kampf gegen das Übernatürliche und als Medien der Kommunikation sowie der Selbstverständigung. Seeßlen (2001) bezeichnet Mystery mit Blick auf den Film als das „jüngste Subgenre des fantastischen Films“8. Der Begriff verweist auf „keine bestimmten ,Regeln‘ im Umgang mit dem Übernatürlichen oder Unerklärlichen und kann vieles bedeuten: „[D]ie Anwesenheit einer außerirdischen Verschwörung, von der nur wenige wissen, wie in der Serie ,Akte X‘, die Vermischung der Welt als Wille und Vorstellung, das Wirken geheimnisvoller Kräfte in der alltäglichen Welt, das Reisen in das Innere einer anderen Seele, Besuche von Engeln und Teufeln auf der Erde, sogar des Todes höchstpersönlich, wie in ,Rendezvous mit Joe Black‘, Zwischenreiche zwischen dem Wirklichen und dem Jenseitigen, in denen es schwer fällt, die Lebenden von den Toten zu unterscheiden, wie in ,The

2008, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte David Nutter, die Geschichte verfassten Ron Milbauer/Terri Hughes Burton, das Drehbuch schrieb Eric Kripke. 8

Seeßlen (2001) unterscheidet drei Hauptrichtungen des fantastischen Films: „Im Science-Fiction Film wartet das Fantastische ,da draußen‘ oder wird die Zukunft nach dem Prinzip des ,Was wäre, wenn?‘ befragt. Im Horrorfilm lauert das Fantastische in den Nischen und Gewölben darauf, in das Alltagsleben der Menschen einzubrechen, bis es durch allerlei magische Rituale oder durch ein Opfer wieder in die Unterwelt verbannt werden kann. In der Fantasy wird das Fantastische zur selbstverständlichen Voraussetzung – es ist Realität. Der Thriller definiert sich dagegen dadurch, dass sich zwar gelegentlich die Bereiche von Wahn und Wirklichkeit überschneiden, es für alles aber eine rationale, psychologische Erklärung gibt.“ Zwischen diesen Genre hat es „in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder thematische und stilistische Verknüpfungen gegeben“ (ebd.).

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Sixth Sense‘. Mystery scheint also mehr eine Erzählweise, eine Stimmung zu beschreiben, als eine thematische Einheit.“ Im Entwurf alternativer Wirklichkeits- und Sinnszenarien sind häufig die Spuren eines geheimen, archaischen Wissens verborgen. Dieses (archaische) Geheimwissen tritt nicht nur als esoterisches Wissen, sondern auch als Spezialistenwissen oder als vergessenes Wissen magischer Praktiken auf und konfligiert in dieser Funktion mit dem Standardwissen einer dem common sense verpflichteten Instanz, die im Mystery-Genre vor allem durch die aufgeklärte Normalwirklichkeit des Lesers bzw. Zuschauers repräsentiert wird. Das geheime esoterische Wissen erscheint als ein durch bestimmte Defizite der Aufklärung erzeugtes anti-aufklärerisches Wissen. Die Protagonisten und Erzähler im MysteryGenre sind in geheimes Wissen Eingeweihte und somit nicht nur Repräsentanten des Normalwissens, sondern sie unterliegen zugleich der Faszination für das geheime Wissen. Indem das Mystery-Genre zum einen vergessene oder tabuisierte, verdrängte oder noch nicht zum Allgemeinwissen gehörende Alternativen aufruft und zum anderen Präzedenzloses vorstellt, kann es Kultur und Gesellschaft mit ihrem Vergessen (Gedächtniskultur) oder mit ihren Noch-Nicht-Wirklichkeiten (Spekulationskultur) konfrontieren. 2.2 Spekulation Die Gedächtniskultur von Mystery als populäre Medienkultur zielt auf die Auseinandersetzung mit den Grenzen und den möglichen Grenzüberschreitungen des Wirklichen, ihre Spekulationskultur fokussiert ein Spiel mit den Möglichkeiten der Wirklichkeit bzw. der Darstellung des Wirklichen im Bereich des (theoretisch und fiktional) Möglichen: „Das Mögliche ist beinahe unendlich, das Wirkliche streng begrenzt, weil doch nur eine von allen Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden kann. Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, dass wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mögliche vorzustoßen“ (Dürrenmatt 1987: 87).9 Hierdurch wird das Populär-

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Aus dieser Perspektive besteht eine latente Verbindung des Mystery-Genre mit der aktuellen Debatte um den sog. „Spekulativen Realismus“ (vgl. u.a. Avanessian/Quiring 2013a; Avanessian 2013b) – wenngleich das Erkenntnisinteresse des Mystery-Genres nicht auf eine Aktualisierung von Ontologie, Metaphysik oder einer Auseinandersetzung mit dem Absoluten fokussiert ist: „Denn Spekulation als haltlos zu begreifen, bedeutet letztlich, sich dem Gegebenen auszuliefern, statt in der Gegenwart neue Möglichkeiten zu entdecken. Dagegen kommt es stets gerade der spekulativen Dimension philosophischen Denkens zu, Neues zu entdecken oder das Alte neu zu denken.

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Spekulative in Medienkulturen, deren Bilderinventaren und Themenrepertoires, strukturell koppelbar und vergleichend diskutierbar mit anderen Formen von Spekulationen sowie deren Medialisierungen, etwa denen der Ökonomie. Die Spekulationen der Börse10, für den Alltagsmenschen zumeist gleichsam faszinierend und unverständlich, werden in Film und Fernsehen, sowohl in fiktiven Spielfilmen, wie „Wall Street“ (USA 1987, Regie: Oliver Stone) oder „The Wolf of Wall Street“ (USA 2013, Regie: Martin Scorsese), als auch in nichtfiktiven Medienkulturen, z.B. beim Börsenbericht der ARD oder von N2411, als spektakuläre Zeichenströme, Zahlenabenteuer, Menschenversammlungen, Stimmentumulte und eindrucksvoll-erschöpfendes Leben inszeniert.

So entdeckt das neue spekulative Denken mit der Notwendigkeit von Kontingenz auch die Kontingenz des (nur scheinbar) Notwendigen“ (Avanessian 2013a, 8). 10 Das Gabler Wirtschaftslexikon definiert Spekulation wie folgt: „Alle auf Gewinner-

zielung aus Preisveränderungen gerichteten Geschäftstätigkeiten (Spekulationshandel), also die Ausnutzung von zeitlichen Preisunterschieden. [...] Im Gegensatz zur Daueranlage meist kurzfristige Betätigung, die lediglich auf Gewinn bringende Ausnutzung der Preisunterschiede zu verschiedenen Zeitpunkten gerichtet ist. Es kann auf ein Steigen (Hausse-Spekulation) oder ein Fallen (Baisse-Spekulation) der Kurse spekuliert werden [...]. [...] Wirkungen: Indem die Spekulation die künftige Entwicklung vorwegnimmt, kann sie marktregulierend, preis- und risikoausgleichend wirken sowie die Handelbarkeit von Wertpapieren erhöhen und damit eine volkswirtschaftlich nützliche Aufgabe erfüllen. Andererseits kann die Spekulation Kursbewegungen induzieren, die zu tief greifenden Störungen des Kapitalmarkts führen, und im Extremfall auslösendes Moment für einen Börsencrash sein [Hervorhebungen im Original – MSK]“ (http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/54409/spekulation-v6.html; zuletzt aufgerufen am 21.08.2014). Zur Verflechtung von Spekulation und Börse sowie dem börsenspezifischen Wissen vgl. ausführlich Reichert (2009). Die (letztlich nicht kalkulierbaren) Spekulationen von SUPERNATURAL, d.h. der auf Geheim- bzw. archaisches Wissen basierende Kampf der handlungsleitenden ästhetischen Figuren gegen Himmel und Hölle, entscheiden über die Zukunft der seriellen Normwirklichkeit, machen diese (bedingt) gestaltbar. 11 Nur für die Eingeweihten ist das Wissen dieser spekulativen Zeichenströme, der Bör-

sensemantik oder der Bauchbinden in den Börsenberichten des Fernsehens verständlich und kann von den Eingeweihten als Basiswissen zur Veränderung der (Finanz-) Wirklichkeit genutzt werden. In SUPERNATURAL sind die handlungsleitenden ästhetischen Figuren in die spezifischen Mystery-Zeichensysteme, -Semantiken und -Rituale eingeweiht, um dadurch die (drohende und bedrohliche) Zukunft beeinflussen bzw. (bedingt) gestalten zu können.

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Diese Spekulationen erscheinen als Sinnbild für das jederzeit mögliche Spiel mit den Möglichkeiten der Wirklichkeit bzw. als spekulative Gestaltung von Wirklichkeit, die wesentlich kontingent, unsicher und riskant ist, weil Spekulationen zumeist auf bloße Annahmen bzw. Mutmaßungen beruhende Erwartungen und Behauptungen, dass etwas eintrifft, sind. Das Versprechen der Spekulation der Börse ist in beiden Hinsichten der Grenztanz zwischen gigantischem Gewinn und grandiosem Absturz. Der Konsum dieses Spektakels adressiert eine den phantastisch-spekulativen Erzählungen in Populären Medienkulturen vergleichbare Angstlust. In diese Richtung argumentiert auch Stähli (2007) in seiner Studie „Spektakuläre Spekulationen“. Er untersucht auf Grundlage einer der unspekulativsten Theorien, der Systemtheorie, wie in Selbst- und Fremdbeschreibungen der Börsenspekulation über ihren Status im Feld der Wissenschaften diskutiert wird. Die Spekulation verweist immer auch auf Momente des NichtÖkonomischen: sei es im thrill des Spekulierens und dessen Nähe zum verschwenderischen Geldspiel oder in der Beschreibung von Finanzmärkten als unkontrollierbare Masse. Die Börsenspekulation ist, wie die Ökonomie, stets mit Unterhaltung durchsetzt. Mit den Begriffen Spekulation und spekulativ (lat. speculari: „von ferne betrachten“, „beobachten“) wird ursprünglich, Erfahrungs- und Unterhaltungsunabhängig, das Denken, das die Wahrheit an sich zum Gegenstand hat bzw. die Erkenntnis des Wesens der Dinge und ihre ersten Prinzipien bezeichnet. Dies jenseits der Erfahrung liegender Dinge und unabhängig von lebenspraktischen Zusammenhängen.12 Diese Bedeutungsvielfalt der Begriffe Spekulation und spekulativ sowie ihr historischer Wandel sind darin begründet, dass diese Begriffe bis zur Gegenwart im Spannungsfeld von intuitivem und diskursivem bzw. reinem und empirischen Denken angesiedelt sind. Sie adressieren Grenzen.

12 Die Spekulation versucht, sowohl die Wahrnehmung, als auch überhaupt das Diesseits

zu überspringen, wogegen besonders Kant (1990, 599) kritisch Einspruch erhebt: „Eine theoretische Erkenntnis ist s p e k u l a t i v, wenn sie auf einen Gegenstand, oder solche Begriffe von einem Gegenstande, geht, wozu [...] man in keiner Erfahrung ge||langen kann. Sie wird der N a t u r e r k e n n t n i s entgegengesetzt, welche auf keine Gegenstände oder Prädikate derselben geht, als die in einer möglichen Erfahrung gegeben werden können [Hervorhebungen im Original – MSK].“

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2.3 Grenze Crossroads Demon: Please... All right, look... For a price, y'all can be smuggled across Hell's border. DEAN: By who? Crossroads Demon: Rogue reapers. They got secret ways, in and out. Not just Hell -- the Veil, Heaven. SAM: Rogue reapers smuggling people? Crossroads Demon: People, souls... SAM: So, what? They're like Hell coyotes?“ (Taxi Driver, 8. Staffel, 19. Episode) Spekulationen sind immer an der Grenze von Wesen und Erscheinung, Wirklichkeit und Möglichkeit, Gelingen und Nicht-Gelingen, Erfolg und Misserfolg situiert. Sie sind Grenzgänge. Im Mystery-Genre sind die spektakulär-spekulativen Grenzgänge immer zwischen Diesseits und Jenseits situiert. Die Konfrontation mit den Grenzen des Wissens, der Wirklichkeit oder des Lebens ist der wesentliche Grundzug von Gesellschaft, Kultur und Mensch. Unser Dasein ist „überall von Grenzen betroffen“ (Jaspers 1956a: 45). Grenzsituationen13 gehören zur Signatur der Existenz: „Grenzsituationen erfahren und Existieren ist dasselbe“ (Jaspers 1956b: 204). Sie gründen in der Endlichkeit des Menschseins, sind endgültig und nicht überschaubar. Diese Situationen können nur zur Klarheit gebracht werden, indem der Mensch sich offen und illusionslos mit ihnen auseinandersetzt. In SUPERNATURAL zeichnen sich nur die ästhetischen Figuren der sog. Jäger durch diese Klarheit aus. Grenze bedeutet für Jaspers (ebd., 203), dass „es [...] ein anderes [gibt], aber zugleich: dies andere ist nicht mehr für das Bewusstsein im Dasein. [...] Die Grenzsituation gehört zur Existenz, wie die Situation zum immanent bleibenden Bewusstsein.“ Grenzsituationen sind Situationen, durch die die Existenz umgreifend krisenhaft wird – entsprechend ist die Existenz in SUPERNATURAL permanent krisenhaft. Jaspers nennt geschichtliche Bestimmtheit, Zufall, Tod, Leiden, Kampf und Schuld als die wesentlichen Grenzsituationen – dies gilt auch für die Seriennarration von SUPERNATURAL. Diese verweisen den Menschen angstvoll auf sich selbst sowie seine Freiheit zurück und eröffnen ihm zugleich

13 Situationen sind die vorgegebene Lebenswelt des Menschen, die er selbstbestimmt ge-

stalten oder von der er sich distanzieren kann: „Weil Dasein ein Sein in Situationen ist, so kann ich niemals aus der Situation heraus, ohne in eine andere einzutreten [Hervorhebung im Original – MSK]“ (Jaspers 1956b, 203).

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die Möglichkeiten des Scheiterns sowie des Selbstseins: „Wir werden wir selbst, indem wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten“ (ebd., 204). Grenzsituationen gehören untrennbar zur Existenz und können nicht durch den planenden Willen aus der Welt geschafft werden, ebenso wenig wie man vor ihnen ausweichen kann. Die Performativität der Grenzen von Wissen, Wirklichkeit und Leben im Mystery-Genre können als kontinuierliche Auseinandersetzungen mit Grenzsituationen beschrieben werden. Menschsein wird hier dramaturgisch und ästhetisch unter den Perspektiven von Grenzen, Grenzziehungen und Grenzsituationen, ihren Auswirkungen und Gestaltungsprozessen inszeniert. Die Mystery-Erzählung können als eine, im Sinne Foucaults (1996a: 9), Geschichte der Grenzen beschrieben werden: „Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben [...], mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt; und während ihrer ganzen Geschichte sagt diese geschaffene Leere, dieser freie Raum, durch den sie isoliert, ganz genau so viel über sie aus wie über ihre Werte; [...]. [...] Eine Kultur über ihre Grenzerfahrungen zu befragen, heißt, sie an den Grenzen der Geschichte über eine Absplitterung, die wie die Geburt ihrer Geschichte ist, zu befragen [Hervorhebungen im Original – MSK].“ Grenzen, Grenzziehungen und Grenzsituationen offenbaren sich im MysteryGenre als Bildungsressourcen, die einen alternativen Blick auf die Bildungsprozesse von Wissen, Wirklichkeit, Leben und Menschsein werfen. Nicht Verstehen und Dialog sind Ausgangspunkte sozialer Interaktionen und Kommunikationen im Mystery, sondern die Kategorien der Differenz, der Brüche, der produktiven Zwischenräume und Grenzzonen, der Vermischung und des Missverstehens, der dritten Räume von Zwischenwelten und Konflikträumen, in denen der Zusamenhang von Natürlichem und Übernatürlichem, Leben und Tod, Himmel und Hölle immer wieder neu bestimmt wird. Grenzen und Grenzsituationen sind hierbei grundsätzlich ambivalent: sowohl ab- sowie ausgrenzend, produktiv, d.h. hervorbringend. Grenzen stellen sowohl Trennlinien als auch Schwellen des Übergangs dar. Insofern kommt ihnen eine Scharnierfunktion zu. Die Seriennarration von SUPERNATURAL setzt wesentlich auf die Schwellenfunktion von Grenzen, weil das Natürliche und Übernatürliche untrennbar miteinander verwoben sind.

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3. ANALYSE 3.1 Serie DEAN WINCHESTER:

Normal people, they see a monster and they run, not us. No, no, no we search out things that want to kill us, yeah, huh, or eat us. You know who does that? Crazy people. We are insame. (Yellow Fever, 4. Staffel, 6. Episode)

SUPERNATURAL ist eine US-amerikanische Mystery-Fernsehserie, die seit dem 13. September 2005 zuerst auf dem Sender The WB und seit 2007 auf dem Nachfolgesender The CW ausgestrahlt wird. Entwickelt wurde diese Serie vom USamerikanischen Autor, Produzenten und Regisseur Eric Kripke, der als Autor und Co-Produzent bis heute für die Serie arbeitet. Bisher wurden in 10. Staffeln über 200 Episoden ausgestrahlt, die aktuell 10. Staffel läuft seit dem 7. Oktober 2014. SUPERNATURAL ist eine Warner Bros. Television-Produktion in Zusammenarbeit mit der Produktionsfirma Wonderland Sound and Vision und Kripke Enterprises.14 Die Vorgeschichte von SUPERNATURAL beginnt in der Nacht des 2. November 1983 in Lawrence, Kansas. In dieser Nacht tötet AZAZEL (Fredric Lehne), ein gelbäugiger Dämon, MARY WINCHESTER (Samantha Smith)15, die Mutter von

14 Die Erstausstrahlung dieser Folge in den USA war der 23.10.2008, der Originaltitel

lautet „Yellow Fever“, der deutsche Titel „Gelbfieber“ (DVD). („Supernatural – Die komplette vierte Staffel“, 6 DVDs; 2010, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Phil Sgriccia, das Drehbuch schrieben Andrew Grabb & Daniel Loflin. 15 Diese Geschichte hat wiederum eine Vorgeschichte, die schrittweise im Verlauf der

ersten fünf Staffeln enthüllt wird, besonders deutlich etwa in der 3. Episode der 4. Staffel (Die Erstausstrahlung in den USA war der 02.10.2008, der Originaltitel lautet „In the Beginning“, der deutsche Titel „Am Anfang war...“ (DVD). („Supernatural – Die komplette vierte Staffel“, 6 DVDs; 2010, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Steve Boyum, das Drehbuch schrieb Jeremy Carver) und in der 13. Episode der 5. Staffel (Die Erstausstrahlung in den USA war der 04.02.2010, der Originaltitel lautet „The Song Remains the Same“, der deutsche Titel „Die Engel wachen über Dich“ (DVD). („Supernatural – Die komplette fünfte Staffel“, 6 DVDs; 2012, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Steve Boyum, das Drehbuch schrieben Sera Gamble & Nancy Weiner). Die Vorgeschichte zur Vorgeschichte beginnt damit, dass AZAZEL, um LUZIFER aus

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und DEAN, und füttert SAM mit Dämonenblut, um ihm dadurch überirdische Kräfte zu verleihen, damit dieser später das Dämonenheer von AZAZEL16 mit anführen kann, um das Höllentor zu öffnen und LUZIFER aus seiner Gefangenschaft17 zu befreien, damit dieser auf der Erde die Apokalypse auslösen kann, um

SAM

dessen Käfig zu befreien, eine Armee besonderer Kinder erschaffen sollte, die eine Dämonenarmee anführen. AZAZEL war während der Gefangenschaft LUZIFERS der König der Hölle. Mit SAM sind es insgesamt neun besondere Kinder, die AZAZEL auswählt bzw. erschafft. Alle treten nur in den ersten beiden Staffeln auf und töten sich einerseits gegenseitig, um den Stärksten unter sich zu ermitteln oder werden im Handlungsverlauf getötet: ANDREW „ANDY“ GALLAGHER (Gabriel Tigerman, Staffel 2), ANSEM „WEBBER“ WEEMS (Elias Toufexis, Staffel 2), AVA WILSON (Katharine Isabelle, Staffel 2), JAKE TALLEY (Dennis Schmidt-Foß, Staffel 2), LILY (Jessica Harmon, Staffel 2), MAX MILLER (Brendan Fletcher, Staffel 1), ROSIE HOLT (nur als Babyaufnahme, kein Darstellername bekannt, Staffel 1), SCOTT CAREY (Richard DeKlerk, Staffel 2). Hierbei begegnete er MARY WINCHESTER (geborene CAMPBELL) – sie benannte SAM und DEAN nach ihren Eltern SAMUEL (Mitch Pileggi) und DEANNA CAMPBELL

(Allison Hossack). Ihr Vater SAMUEL war Jäger und bildete sie zu einer

Jägerin aus. Nachdem AZAZEL ihre Eltern und ihren Verlobten JOHN WINCHESTER getötet hatte, schloss AZAZEL mit MARY im Jahr 1973 einen Deal: Er darf in zehn Jahren zu MARY kommen und ihrem zweitgeborenen Kind Dämonenblut in den Mund träufeln, um ihn dadurch zu einem besonderen Kind zu machen. Dafür belebt er JOHN WINCHESTER AZAZEL

wieder. In der Nacht, in der AZAZEL ihren Sohn SAM besucht, tötet

sie jedoch, da MARY ihr Wort nicht gehalten hatte, ihn dabei nicht zu stören.

In der Nacht vom 2. November 1983 tötet AZAZEL auch alle anderen Mütter bzw. Stiefmütter der besonderen Kinder auf die gleiche Weise wie MARY WINCHESTER. 16 AZAZEL (hebräisch Asasel, ,Entlassung‘, ,gänzliche Entfernung‘) ist ursprünglich der

hebräische Eigenname für einen Wüstendämon, dem am Versöhnungstag Jom Kippur beim jüdischen Sühnefest einer der beiden Sündenböcke hinausgeschickt wird, der die Sünden und die Schuld der Gemeinschaft trägt. Die Sünde und Schuld sollen dadurch symbolisch aus der Mitte der Gemeinschaft verbannt und zu ihrem Ursprung, also dem Teufel, zurückgejagt werden. „Im apokryphen Buch Henoch erscheint“ Asasel, wie Lurker (2014, 51) weiterhin betont, „als Anführer der aufrührerischen Engel.“ Die ästhetische Figur AZAZEL in SUPERNATURAL basiert, wie alle anderen mythologischen Figuren auch, nur sehr bedingt auf dieser mythologischen Figur. 17 In die Hölle verbannt wurde LUZIFER als Satan bezeichnet, um ihn als Widersacher GOTTES

zu kennzeichnen. Vor seiner Verbannung aus dem Himmel in die Hölle ge-

lang es LUZIFER, sich der Seele einer Frau zu bemächtigen und sie, LILITH (verschiedene Darstellerinnen: Rachel Pattee, Katie Cassidy, Sierra McCormick, Katherine

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die Erde, die LUZIFER als letztes perfektes Werk von GOTT ansieht, von den Menschen, seiner fehlerhaften Schöpfung, zu reinigen – dies wird erst in der 2. Staffel deutlich. MARY hängt blutend an der Decke des Kinderzimmers ihres sechs Monate alten Sohns SAM. MARY, das Zimmer und das Haus gehen unmittelbar in Flammen auf; sie verbrennt in den Flammen und das Haus brennt ab. DEAN flieht mit SAM aus dem Haus, ihr Vater, JOHN WINCHESTER, kommt kurze Zeit später zu

Boecher), zum ersten Dämon in der Geschichte zu machen. Mit dieser Tat trotzte LUZIFER GOTT

und verspottete seine Schöpfung, wodurch seine Strafe drastischer aus-

fiel. LUZIFER wurde in der Hölle in einen Käfig gesperrt, der so konzipiert wurde, dass er ihn niemals verlassen sollte. In seiner GOTT bestimmten Machtlosigkeit blieb er zugleich machtvoll in der Hölle, als deren Herrscher er galt und er wurde von den Dämonen als ihr GOTT betrachtet. Der Käfig wurde durch 666 Siegel gesichert, von denen 66 gebrochen werden mussten, um LUZIFER zu befreien, damit die Apokalypse eintreten kann. Die Siegel waren dazu bestimmt, LUZIFERS Macht zu binden und ihn an der Flucht aus der Hölle zu hindern. Von 66 Siegeln, die zerstört werden mussten, waren nur zwei in einer bestimmten Reihenfolge zu brechen. Nachdem DEAN das erste Siegel gebrochen hatte, begannen die Dämonen damit, die anderen 65 Siegel zu brechen. Die wichtigsten Siegel waren das 1. und das 66. Siegel. Das erste Siegel wurde von DEAN gebrochen, als er in der Hölle Seelen folterte. Die Dämonen brachen die anderen 64 Siegel und SAM brach schließlich das letzte Siegel, als er LILITH mit seinen Kräften, die er durch das Dämonenblut bekam, getötet hatte. Er ist somit verantwortlich für LUZIFERS Auferstehung. Das 1. Siegel besagt, dass ein gerechter Mensch, der in der Hölle gefoltert wurde und anschließend selber foltert, somit das Blut eines Sterblichen fließen lässt, das 1. Siegel bricht. DEAN bricht das Siegel unbewusst, als er nach dreißig Jahren der Folter dem weißäugigen Dämon ALASTAIR zustimmt, selbst Seelen zu foltern. Die nächsten zehn Jahre wird er zu ALASTAIRS Folterknecht. ALASTAIR ist ein Dämon, der früher ein Mensch war. Er ist verantwortlich für das Foltern und Misshandeln der Seelen in der Hölle und besitzt großes okkultes, magisches und rituelles Wissen. Brown (2011, 79) stellt heraus, dass sich die ästhetische Figur einerseits auf die griechische Mythologie bezieht und andererseits auf das „Dictionnaire Infernal“: „Originally, the word alastor was used to describe an act of justified vengeance. Eventually, however, the idea was personified and become the name of a dark and menacing figure similar to Furies (winged creatures who carried out violent justice in Greek and Roman mythology) [...] According to an 1863 demological text by Collin de Plancy, Dictionnaire Infernal, Alastor is Hell’s chief executioner [...]. The text also says that Alastor’s most dominant trait is his sadism. Torturing and killing are not just a job to Alastor. He revels in this work [Hervorhebungen im Original – MSK]. “

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ihnen, weil er MARY nicht retten konnte. Seine Lebensaufgabe besteht seitdem darin, diesen Dämon zu suchen, um ihn zu töten, und seine Söhne zu Jägern auszubilden, damit sie seine Mission fortsetzen, sollte er versagen oder selbst getötet werden.18 Auf seiner Suche jagt und tötet er, wie seine Söhne, übernatürliche Wesen (Dämonen, Geister, Gespenster, Hexen, Vampire, Werwölfe, Mumien, Zauberer etc.), die das Leben der Menschen oder sein bzw. das seiner Söhne Leben bedrohen. Bei dieser Suche opfert JOHN WINCHESTER sein Leben zu Beginn der 2. Staffel, um seinen Sohn DEAN zu retten.19 Hierzu muss er einen Handel gerade mit dem Dämon eingehen, der seine Frau getötet hat und diesem auch die Waffe übergeben, mit der allein man ihn töten kann. Die eigentliche Seriennarration von SUPERNATURAL beginnt 22 Jahre spä20 ter. DEAN besucht SAM an der Stanford University, nachdem sich beide längere Zeit nicht gesehen haben. Dort studiert SAM Jura, lebt mit seiner Freundin JESSICA LEE MOORE (Adrianne Palicki) zusammen, bereitet sich auf ein Vorstellungsgespräch vor und lebt ein normales Leben diesseits seiner familiären JägerBürde – DEAN hingegen war in der Zwischenzeit weiter als Jäger tätig.21 Der

18 Die Jäger-Tradition geht auf die Familie von MARY WINCHESTER zurück, nicht auf

die von JOHN WINCHESTER. Dies wird erst in der 3. Episode der 4. Staffel aufgedeckt und im Laufe der 6. Staffel (24.09.2010-20.05.2011) vertieft. Die Erstausstrahlung der 3. Episode der 4. Staffel in den USA war 02.10.2008, der Originaltitel lautet „In the Beginning“, der deutsche Titel „Am Anfang war...“ (DVD). („Supernatural – Die komplette vierte Staffel“, 6 DVDs; 2010, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Steve Boyum, das Drehbuch schrieb Jeremy Carver. 19 Nach einem Autounfall am Ende der 1. Staffel, den AZAZEL beauftragte, befinden

sich die WINCHESTERS zu Beginn der 2. Staffel in einem Krankenhaus in Memphis, Tennessee. JOHN und SAM haben den Unfall mit nur leichteren Verletzungen überstanden, DEAN liegt hingegen schwer verletzt und sterbend im Koma. Die Erstausstrahlung dieser Episode in den USA war der 28.09.2006, der Originaltitel lautet „In My Time of Dying“, der deutsche Titel „Während ich starb“ (DVD). („Supernatural – Die komplette zweite Staffel“, 6 DVDs; 2013, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Kim Manners, das Drehbuch schrieb Eric Kripke. 20 Die Erstausstrahlung dieser, der 1. Episode der 1. Staffel, in den USA war der

13.09.2005, der Originaltitel lautet „Pilot“, der deutsche Titel ebenso (DVD). Regie führte David Nutter, das Drehbuch schrieb Eric Kripke. 21 Diese Familientradition ist die größte weltliche Determinante für die WINCHESTER-

Brüder. Sie kann willentlich und handelnd nicht überwunden werden. Durch die Jäger-Bürde wird ihre Willens- und Handlungsfreiheit eingeschränkt.

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Grund für seinen Besuch ist das Verschwinden ihres Vaters, der seit 22 Jahren auf der Suche nach AZAZEL ist und dabei zahlreiche übernatürliche Wesen bekämpft. DEAN kann SAM überreden, gemeinsam ihren Vater zu suchen. Um ihn aufzuspüren müssen die Brüder die Wesen jagen, die ihr Vater jagt und SAM muss das Leben wieder aufnehmen, von dem er nichts mehr wissen wollte. Am Ende der Pilot-Episode, nachdem SAM von der gemeinsamen Suche und der gemeinsam bewältigten Geisterjagd nach Hause zurückkehrt, stirbt seine Freundin den gleichen Tod wie seine Mutter. DEAN rettet SAM abermals aus den Flammen. Gemeinsam begeben sie sich auf die Suche nach AZAZEL, ihrem Vater und nach allen übernatürlichen Wesen, die die Menschen bedrohen. Eingestimmt wird man auf diese Schlussszene der Pilot-Episode programmatisch durch den Song „Highway to Hell“ von AC/DC.22 Diesen Highway werden die beiden Brüder in den Episoden der folgenden zehn Staffeln nicht mehr verlassen, ebenso wenig wie den schwarzen 1967er Chevy Impala, den DEAN von seinem Vater bekommen hat, und mit dem sie kreuz und quer durch Amerika fahren, um das Übernatürliche zu jagen. Im Kofferraum befinden sich das Waffenarsenal der Brüder und diverse Gegenstände, wie etwa Amulette gegen dämonische Besessenheit, um sich vor den übernatürlichen Wesen zu schützen. Dieser Wagen wird zu ihrem eigentlichen Zuhause. Der zweite Ort, an dem sich die beiden Brüder temporär heimisch fühlen, ist das Haus von ROBERT „BOBBY“ SINGER (Jim Beaver), einem alten Freund ihres Vaters, der in der letzten Episode der ersten Staffel eingeführt wird.23 Dieses Haus

22 Der Song befindet sich auf dem gleichnamigen sechsten Studioalbum der Band, das

am 27.07.1979 auf Atlantic Records veröffentlicht wurde. Die starke Verwurzelung der Serie in der Populär- und Popkultur zeigt sich u.a. an den zahlreichen Referenzen zur Popmusik – diese Referenzen finden sich aber auch hinsichtlich von Filmen (z.B. „I Know What You Did Last Summer“) oder Fernsehserien (u.a. „X-Files“). Die Referenzen zur Popmusik finden sich in zahlreichen Episodentiteln: „The Kids Are Alright“ (2. Episode, 3. Staffel, The Who); „Dark Side oft he Moon“ (5. Staffel, 16. Episode, Pink Floyd); „Exil on Main Street“ (1. Episode, 6. Staffel, The Rolling Stones) oder „Folsom Prison Blues“ (19. Episode, 2. Staffel, Johnny Cash). Darüber hinaus verwenden sie oft Namen von Musikern als Decknamen, wie z.B. „Father Simmons and Father Frehley“ (14. Episode, 1. Staffel – Anspielung auf Gene Simmons, Gesang/Bass und Frehley, Leadgitarre/Gesang). 23 Die Erstausstrahlung dieser Episode in den USA war der 04.05.2006, der Originaltitel

lautet „Devil’s Trap“, der deutsche Titel „Teufelskralle“ (DVD) („Supernatural – Die komplette erste Staffel“, 6DVDs; 2008, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Kim Manners, das Drehbuch schrieb Eric Kripke.

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befindet sich auf seinem Autofriedhof („Singer Salvage Yard“) – in der 2. Episode der 7. Staffel brennt sein Haus allerdings ab.24 BOBBY wird für die beiden Brüder nach dem Tod ihres Vaters zu einer Art Ersatzvater und Lehrmeister im Kampf gegen das Übernatürliche. Nachdem DEAN im Finale der 2. Staffel 25 AZAZEL getötet hat , besteht die wesentliche Aufgabe der beiden Brüder bis zur zehnten Staffel darin, sich selbst, ihre Familie und Freunde sowie die Welt vor den destruktiven Mächten des Übernatürlichen zu retten.26 3.2 Mystery-Motive SAM WINCHESTER:

How do you do it? How does Dad do it? DEAN WINCHESTER: Well for one, them. I mean, our family's so screwed to hell, maybe we can help some others. Makes things a little bit more bearable. And I tell you what else helps. Killing as many evil sons-of-bitches as I possibly can. (Wendigo, 1. Staffel, 2. Episode)

24 Die Erstausstrahlung dieser Episode in den USA war der 30.09.2011, der Originaltitel

lautet „Hello, Cruel World“, der deutsche Titel „Böse neue Welt“ (DVD) („Supernatural – Die komplette siebte Staffel“, 6DVDs; 2013, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Guy Bee, das Drehbuch schrieb Ben Edlund. 25 Beim Kampf gegen AZAZEL in dieser finalen Episode wird das Höllentor geöffnet,

wodurch hunderte von Dämonen in die Welt eindringen. Die Erstausstrahlung dieser Episode in den USA war der 17.05.2007, der Originaltitel lautet „All Hell Breaks Loose (Part 2)“, der deutsche Titel „Der Sturm bricht los (Teil 2)“ (DVD) („Supernatural – Die komplette zweite Staffel“, 6DVDs; 2013, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Kim Manners, die Story verfassten Eric Kripke und Michael T. Moore, das Drehbuch schrieb Eric Kripke. 26 Ergänzt wird die Seriennarration einerseits durch thematisch selbstständige „Monster-

of-the Week“-Episoden und andererseits durch selbstreflexive Episoden, so etwa in der 5. Staffel in der 9. Episode, in der SAM und DEAN an einer SUPERNATURAL-FanKonvention teilnehmen. Die Erstausstrahlung dieser Episode in den USA war der 12.11.2009, der Originaltitel lautet „The Real Ghostbusters“, der deutsche Titel „Die echten Geisterjäger“ (DVD) („Supernatural – Die komplette fünfte Staffel“, 6DVDs; 2012, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte James L. Conway, das Drehbuch schrieb Eric Kripke, die Story stammt von Nancy Weiner.

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Die in Kapitel 2 (Kontexte) hervorgehobenen Themen werden in SUPERNATURAL im Kampf der beiden ästhetischen Figuren SAM und DEAN WINCHESTER gegen Geister, Monster, Dämonen und LUZIFER aus der Perspektive des Wunderbaren, Wundersamen, Wunderlichen und Übernatürlichen spekulativ erschlossen, umgeordnet und verwandelt. Zentral hierbei ist, dass die beiden Serien-Protagonisten die spannungsvolle Interdependenz zwischen dem Natürlichen und Übernatürlichen kontinuierlich symbolisieren: einerseits sterben beide Brüder in der Seriennarration mehrfach und werden anschließend wieder zum Leben erweckt bzw. aus der Hölle zurück in die Welt gebracht; andererseits ist SAM, seit er als sechs Monate altes Baby das Dämonenblut von AZAZEL trinken musste, ein Wesen zwischen zwei Welten. Im weiteren Verlauf der Serie setzt SAM den Konsum von Dämonenblut auch bewusst zum Kampf gegen die übernatürlichen Mächte ein. Hierbei erscheint das Wundersame und Außergewöhnliche stets als das Vertraute und Alltägliche: GOTT, LUZIFER, Engel, Dämonen, Vampire, Werwölfe und alle anderen mythisch-mythologisch sowie religionsgeschichtlich überlieferten Himmels- und Höllenwesen. Das Nicht-Aufgeben-Können der Familientradition, d.h. (Dämonen-, Monster- etc.) Jäger zu sein, verkörpert v.a. von den ästhetischen Figuren SAM und DEAN WINCHESTER, steht in der Serienrealität für die Notwendigkeit spekulativer Überschreitung der Realität und für die Dominanz einer Welt, in der andere Gesetze gelten. In diese Welt werden die ästhetischen Figuren hineingezogen, im Besonderen, weil zumeist nahe Verwandte oder Partner von Dämonen und anderen Wesen getötet wurden, diese also die Grenze zwischen Leben und Tod überschritten haben.27 Die Inszenierung der schlichten Spannung zwischen einem nicht intervenierenden, abwesenden GOTT 28 (Gut) sowie seiner Engel und einem intervenierenden, präsenten Teufel (Böse), inklusive seiner dämonischen Helfer, ist hierbei nur scheinbar eine konventionelle Handlungsstruktur. Letztlich sind GOTT und seine Engel zumeist, ebenso wie der Teufel und seine Dämonen immer destruktiv – der Himmel ebenso wenig ein positiv besetzter Ort wie die Hölle. Beide Orte sind assoziiert mit Leid, Qualen, Machtkämpfen oder Gnadenlosigkeit. Zur Ästhetik von SUPERNATURAL gehört es, dass nicht nur die Grenzen zwischen den Zuständen des Diesseits und des Jenseits fließend werden, sondern dass die Verhält-

27 Den Anreiz, eine mysteriöse, phantastische Welt hinter der sicht- und messbaren Rea-

lität zu entdecken bzw. darzustellen, die intensive Auseinandersetzung mit Tod und Teufel, die Vorliebe für das Schreckliche, Wundersame und Groteske etc., verbindet die populärkulturelle Begeisterung für Mystery auch mit der Schwarzen Romantik (vgl. u.a. Praz 1994; Krämer 2012). 28 In der Serie bezieht sich GOTT auf die Gottheit der abrahamitischen Religionen.

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nisse auch auf beiden Seiten zur Unübersichtlichkeit tendieren. In SUPERNATURAL wird (reale) Gewissheit im Spiel von (irrationalen) Gewissheiten aufgelöst, Gut und Böse von ihren vermeintlich eindeutigen Wirklichkeitsorten entbunden. Mit dem Schauerroman des 18. und 19. Jahrhundert (vgl. u.a. Grizelj 2009; Cusack/Murnane 2011) teilt SUPERNATURAL aber, dass durch die Betonung der dunklen Seite der menschlichen Natur der beherrschende Genius nicht GOTT, sondern der Teufel ist. Er ist GOTTES direkter Rivale um die Herrschaft der Welt.29 Was für die spannungsreiche Interdependenz von Himmel, Hölle, Welt und GOTT, LUZIFER, Mensch in SUPERNATURAL bleibt, sind mediale und rezeptionelle Spekulationen, die Produktion einer entbundenen Einbildungskraft, über die Möglichkeiten dieser Gewissheiten und die Unmöglichkeit von Unmöglichkeiten. Wissensproduktion und Erkenntnisprozesse bleiben spekulativ, das Übernatürliche kann nicht verbindlich an vermeintlich akzeptierten Realitätskriterien gemessen, sondern nur durch eine spekulativ-spektakuläre Transgression temporär verwunden werden. Erzeugt wird hierbei eine spekulative Urteilskraft des Populären, bei der die Intuition zum zentralen Erkenntnismedium wird. Die zentralen Themen, über die in SUPERNATURAL spekuliert werden, sind: •



• •



Zeichen und Symbole, v.a. die, mit denen das Übernatürliche identifiziert, aber auch die, mit denen es bekämpft werden kann. SUPERNATURAL ist aus dieser Perspektive ein semiotisches Abenteuer, korrespondierend zur Bedeutung der Schriftkultur in der Serie. Religion(en) und Volkskultur(en), Legenden und Mythen – in Form eigensinniger Popularisierung(en), nicht als konkrete (Re-)Inszenierung(en) oder Kommentierung(en) von Tradition(en) bzw. kultureller Tradierung(en). Die Unheimlichkeit der Welt, die vom Monströsen und Übernatürlichen bestimmt wird. Der Zusammenhang von Handlungsfreiheit, Willensfreiheit und Determination, ebenso wie das Verhältnis von Gut (GOTT) und Böse (LUZIFER), aber auch der Bezug zwischen Immanenz und Transzendenz, als grundlegende philosophische Fragen, die die Serie behandelt. Der Bezug von (alternativen) Wissensformen und (außergewöhnlichen) Handlungspraxen.

29 In SUPERNATURAL wird bezeichnenderweise christliche Mythologie und die Konfron-

tation von GOTT und TEUFEL erst in der 4. Staffel durch die ästhetische Figur des Engels CASTIEL (Misha Collins), genannt CASS, eingeführt. Dieser hatte DEAN WINCHESTER aus der Hölle zurückgeholt.

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Die Bedeutung von Mystery und die Betrachtung der Wirklichkeit aus der Perspektive von Mystery.30

Die (implizite) Dialektik der Seriennarration besteht allerdings darin, dass diese Serienspekulationen nicht spekulativ bleiben, sondern Serien-intern rationalisiert werden: Spekulationen über Spekulationen, die spektakuläre Spekulationen spektakulär entspektakularisieren und zu einem Bedeutungsverlust des Spekulativen führen, sich selbst entmystifizieren einerseits und andererseits dabei zugleich die Traditionen, die sie adressieren, eigensinnig remystifizieren, eine Art populärkulturelles Geheimwissen für alle, die die Serie sehen, produzieren.31 Zur Veranschaulichung der spezifischen Behandlung dieser Themen werde ich im Folgenden zwei konstitutive Mystery-Motive der Serie exemplarisch diskutieren: Dämonologie und Angelologie (vgl. zur Bedeutung von Religion und Angelologie auch Gianni 2011; Wimmler/Kienzel 2011; Koven/Thorgeirsdottir 2011). Der zentrale Analysefokus liegt dabei auf dem zuvor hervorgehobenen Zusammenhang von Handlungsfreiheit, Willensfreiheit und Determination. 3.3 Dämonologie und Angelologie DEAN WINCHESTER:

She’s a demon SAM. Alright? They want us dead, we want them dead. (Malleus Maleficarum, 3 Staffel, 9. Episode)

: I thought angels were supposed to be guardians. Fluffy wings, halos – you know, Michael Landon. Not dicks. (Are You There, God? It’s Me, DEAN WINCHESTER, 4. Staffel, 2. Episode)

DEAN WINCHESTER

Spekulative Erkenntnisprozesse finden bei SUPERNATURAL durch die Popularisierung sowie populärkulturelle Neuinterpretation von mythologischem und theologischem Wissen statt. Hierzu gehört im Wesentlichen die Auseinandersetzung mit Dämonen und Engeln als Repräsentanten der Wissens- sowie Werteordnung von GOTT und Teufel. Hierbei wird das mythologische und religiöse

30 Die Seriennarration von SUPERNATURAL ist äußerst selbstreflexiv und thematisiert

sich wiederholt als Erzählung in der Erzählung (vgl. Kleiner 2008). 31 Vergleichbar ist dies mit der narrativen Wissensproduktion in Vampir- und Zombiese-

rien, wie etwa bei TRUE BLOOD (2008-2014, HBO) oder THE WALKING DEAD (seit 2010, AMC; vgl. hierzu Kleiner 2013). Spezial- bzw. Geheimwissen zu übernatürlichen Wesen und Wirklichkeiten wird zum Alltagswissen der Serienzuschauer.

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Wissen nicht als historische Wahrheitserzählung aufgefasst, sondern als narrative Wissensproduktionen inszeniert. Mythologisches und religiöses Wissen stellen aus dieser Perspektive Konstruktionen von überhistorischen oder historischen Schöpfungen sowie Schöpfungsgeschichten dar, die sich allerdings als ReKonstruktionen mit unmittelbarem Wahrheitsgehalt präsentieren. In der Seriennarration von SUPERNATURAL wird das historisch-tradierte mythologische sowie religiöse Wissen zum Ausgangspunkt für lose Kopplungen und Serien-spezifische Umschreibungen. Die Grundhaltung der Serie ist entsprechend de-konstruktiv, wie Brown (2011: 2) betont: „[...] SUPERNATURAL isn’t just a show that was developed by using mythology; it is mythology. The show is not just based on mythological figures and events; it is a new kind of myth, all its own [Hervorhebungen im Original – MSK].“ SUPERNATURAL begreift Mythologien und Religionen insofern als Geschichten, die dem Möglichen eine narrative Wirklichkeitsform geben, aber auch anders hätten geschrieben werden können, wie alle Geschichten, die jemals verfasst wurden. Die Serie präsentiert Serien-spezifische Alternativen zu diesen Geschichten, aus denen populärkulturell-mythologisches sowie säkular-religiöses Wissen für die Glaubensgemeinschaft der Serienfans entsteht. GOTT ist aus dieser Perspektive nur ein literarischer Ursprung aller Wirklichkeit, eine Schöpfergeschichte, die nicht ohne Schöpfer gedacht und legitimiert werden kann. GOTT ist somit letztlich auch nur ein (phantastisches) Geschöpf menschlicher Phantasieproduktion – ebenso LUZIFER als von GOTT geschaffener Engel und Schöpfer von allem Widergöttlichen. Die Serienerzählung reflektiert ihren fiktionalen Charakter kontinuierlich, indem sie in einigen Episoden die Serienhandlung von SUPERNATURAL als fiktionale Erzählung in der Serienerzählung inszeniert: SAM und DEAN spielen SAM und DEAN – oder beide nehmen an einer Fan-Konvention zu SUPERNATURAL teil. SAM und DEAN, also diejenigen ästhetischen Figuren, die letztlich immer der Macht von LUZIFER und GOTT erfolgreich trotzen, wenngleich sie dazu häufig übernatürliche Hilfe benötigen, und die Menschheit vor dem Untergang retten, werden nicht nur durch diese Erzählungen in der Erzählung als Geschöpfe der Fiktion herausgestellt, um dadurch die Bedeutung des durch die Serienhandlung produzierten alternativen Wissens, etwa zur Dämonologie und Angelologie, zu relativieren. Darüber hinaus trägt hierzu wesentlich die Figur CHUCK SHURLEY (Rob Benedikt) bei, die selbst wiederum die ästhetische Figur ist, über die am meisten in der Serie spekuliert werden kann – er spielt in der 4., 5. und 10. Staffel mit: Ist er lediglich ein Schriftsteller, der den Decknamen CARVER EDLUND verwendet? Ist er ein Prophet GOTTES, der Bücher über die Nachrichten, die ihm von GOTT übermittelt werden, schreibt, in denen es hauptsächlich um SAM und DEAN geht?

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Oder ist er GOTT selbst? Diese Fragen werden in der Serie nicht definitiv beantwortet – es sind nur Spekulationen hierzu möglich. Tatsache ist, dass das, was er schreibt, Serien-Realität wird. Der Engel CASTIEL (Misha Collins) erklärt SAM und DEAN, dass CHUCK ein Prophet des Herren ist. In der 7., 8. und 9. Staffel gibt es allerdings einen zweiten Propheten, KEVIN TRAN (Osric Chau), ein hochbegabter vietnamesischer High School Student. CASTIEL fasst dies wiederum als Zeichen des Todes von CHUCK auf, weil es pro Generation nur einen Propheten geben kann. Allerdings taucht CHUCK in der 5. Episode der 10. Staffel („Fan Fiction“, in den USA ausgestrahlt am 11.11.2014) wieder auf. Am Ende der 5. Staffel beendet er sein letztes CASTIEL -Skript und löst sich buchstäblich in Luft auf – anschließend erfährt der Zuschauer, dass CHUCK seine SUPERNATURAL-Geschichten immer in weißer Kleidung geschrieben hat. Dies sind nur einige der Hinweise zur und Spuren der ästhetischen Figur CHUCK, die in der Serie aber an kein Ziel führen bzw. nicht aufgeklärt werden. Zur Bedeutung der Schriftkultur in der Serie passt es allerdings, dass ein Schriftsteller als Schöpfer-GOTT gehandelt wird, der mit seinen Schöpfungen, also den SUPERNATURAL-Büchern, in der Serienwirklichkeit nicht sonderlich erfolgreich ist und andererseits seinen Textschöpfungen nicht vollkommen souverän gegenübersteht und diese kontrolliert. Allmacht und Souveränität besitzt im Serienuniversum von SUPERNATURAL niemand, auch GOTT anscheinend nicht. So betont der TOD (Julian Richings) in einem Gespräch mit DEAN in der 21. Episode („Two Minutes to Midnight“) der 5. Staffel32, dass er sehr alt sei, vielleicht so alt wie GOTT oder sogar älter. Man könne ähnlich wie beim Ei und beim Huhn nicht sagen, wer zuerst da war, und vermutlich wird er selbst GOTT eines Tages holen. Hiermit deutet er die potentielle Sterblichkeit GOTTES an. Gleichzeitig ist auch der TOD nicht allmächtig und souverän; das wird in derselben Episode deutlich, denn er wird durch einen Bindungszauber von LUZIFER an der Leine gehalten, sodass der TOD für ihn auf der Erde Zerstörungen anrichten muss. Darum schließt der vermeintlich allmächtige 33 TOD mit (dem Menschen) DEAN einen Deal: Er gibt ihm seinen Ring , so dass

32 Die Erstausstrahlung dieser Episode in den USA war der 06.05.2010, der Originaltitel

lautet „Two Minutes to Midnight“, der deutsche Titel „Das Ende ist nah“ (DVD) („Supernatural – Die komplette fünfte Staffel“, 6 DVDs; 2012, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Phil Sgriccia, das Drehbuch schrieb Sera Gamble. 33 Hierbei handelt es sich um einen der vier magischen Ringe der apokalyptischen Reiter

(Krieg, Hungersnot, Pest und Tod). Jeder der Reiter, bis auf den Tod, ist auf seinen Ring angewiesen, um im Besitz seiner apokalyptischen Macht zu sein. Die Ringe sind die Schlüssel für LUZIFERS Käfig. SAM und DEAN entreißen den drei apokalyptischen

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wieder in den Höllenkäfig gesperrt werden kann. GOTT wiederum hielt den TOD über Jahrtausende unter der Erde gefangen, bevor dieser von LUZIFER befreit wurde. Diese permanent changierenden Machtpositionen und Machteinschränkungen sowie die damit einhergehende Souveränität und der Souveränitätsverlust ermöglichen Serien-intern vielfältige Spekulationen über die Funktionen und Bedeutungen dieser ästhetischen Figuren. Diese erhalten dadurch keine festgelegten Rollen und gestalten sie veränderbar. Über ihre konkreten Funktionen und Bedeutungen kann nur spekuliert werden, die Serienerzählung gibt hierzu keine definitiven Antworten. Zugleich regt die Serie somit die Auseinandersetzungen mit alternativen Perspektiven auf die mythologischen und religionsgeschichtlichen Funktionen und Bedeutungen dieser Figuren an. Die Serie ist also nicht nur, wie zuvor betont, ein semiotisches Abenteuer, sondern auch ein mythologisches und religiöses, in dem alternatives, populärkulturelles Wissen als Effekt narrativer Spekulationen produziert und intuitiv angeeignet wird. Beide Abenteuer kommen in der Serienwirklichkeit niemals an ein Ziel – einerseits bedingt durch die Serialität der Erzählung, andererseits, und dies ist wichtiger, mit Blick auf die erkenntnistheoretische Grundposition, die SUPERNATURAL zugrunde liegt.

LUZIFER

Reitern Krieg, Hunger und Pest vor DEANS Gespräch mit dem TOD die Ringe – der TOD

steht jedoch gegen seinen Willen unter der Kontrolle LUZIFERS. DEAN erhält sei-

nen Ring freiwillig unter der Bedingung, LUZIFER zurück in den Käfig zu sperren. Der Käfig wurde, wie zuvor beschrieben, von GOTT als Strafe für LUZIFERS Aufruhr gegen ihn erschaffen und um die Menschen vor LUZIFER zu schützen. Der Käfig hinderte daran, Einfluss auf das Weltgeschehen zu nehmen. Er war in seinem Ge-

LUZIFER

fängnis nahezu machtlos und konnte nur darauf warten, befreit zu werden. Die von LUZIFER

eingeleitete Apokalypse, nachdem er unbeabsichtigt von SAM am Ende der 2.

Staffel aus seinem Käfig befreit wurde, endet in der Serie mit einem Kampf zwischen MICHAEL

und LUZIFER. Die einzige Chance ihn aufzuhalten ist, ihn zu besiegen und

zurück in den Käfig zu sperren. In SUPERNATURAL wird der Kampf zwischen MICHAEL

und LUZIFER von SAM und DEAN in der 22. Episode („Swan Song“) der 5.

Staffel gestört. Die Brüder mischen sich ein und SAM landet zusammen mit MICHAEL und LUZIFER im Höllenkäfig. (Die Erstausstrahlung dieser Episode in den USA war der 13.05.2010, der Originaltitel lautet „Swan Song“, der deutsche Titel „Schwanenlied“ (DVD) („Supernatural – Die komplette fünfte Staffel“, 6DVDs; 2012, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Steve Boyum, das Drehbuch schrieb Eric Kripke, die Geschichte verfasste Eric „Giz“ Gewirtz.)

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Besonders deutlich wird das an der Bedeutung und Funktion von Dämonen in der Serie und der in ihr präsentierten Dämonologie – erst im späteren Verlauf der Serie in der Konfrontation der Dämonen mit Engeln und der Serien-spezifischen Angelologie. Das Geheimwissen über Dämonen und Engel, als Repräsentanten von mythologischem und religiösem Wissen, trifft hierbei auf das Geheimwissen der Jäger, also der Menschen, die ihr Wissen einerseits aus historischen (religionsgeschichtlichen, mytologischen, esoterischen, abergläubischen etc.) Quellen beziehen und andererseits durch eine populärkulturell informierte Kreativität sowie Spekulation, etwa mit Blick auf Filme, Fernsehserien oder Popmusik, alternatives Wissen produzieren. Ein Dämon34 (griech. daímōn, ‚Gott‘, ,göttliches Wesen‘, ,Dämon‘; ,Unglück‘, Verderben‘, ,Tod‘) hat, wie die Etymologie des Begriffs andeutet, zwei grundlegende Bedeutungsdimensionen – einerseits eine eher positiv-neutrale Bedeutung als Mittlerwesen zwischen Göttern und Menschen35, so etwa bei Platon, der Stoa, Plutarch oder Philon v. Alexandria (vgl. Harmening 2009:102f.); und eine v.a. durch den religionsgeschichtliche Rekonstruktion des Christentums ausschließlich negative Bedeutung: „Das griechische Wort steht wohl zu daíesthai, teilen, verteilen, zuteilen u. bedeutet dann ,göttliches Wesen, das zuteilt‘, näherhin das Schicksal. D.en sind anonyme Naturpotenzen, ohne individuelle Gestalt u. eigenen Mythos, namenlose, auf einer älteren Stufe der Götterentwicklung verharrende numinose Wesenheiten. Unberechenbar u. oft zerstörend, verbreiten sie Schrecken. Sie erfüllen das menschliche Leben mit beständiger Furcht [...] [Hervorhebung im Original – MSK]“ (Harmening 2009: 101).

34 Brown (2011, 54) beschreibt die religions- und kulturhistorische Bedeutung von Dä-

monen wie folgt: „The concept of demon is not as old as one might think. In actuality, most ancient civilizations did not even have a word for demon. There were certainly spirits and gods that represented negative or destructive forces, but these forces were commonly considered a neccessary part oft he balance of the cosmic order. There are people who hold the mistaken belief that the notion of demons originated with the JudeoChristian ideas regarding Lucifer or ,fallen angels‘. This is not entirely correct, either. The demonology of Judaism has a number of malevolent entities that predate Lucifer’s fall in the mythical chronology. Lucifer aside, many of the figures now referred to as demons have origins in preexisting, sometimes even prehistoric, religious traditions.“ 35 In diesem Kontext werden Dämonen auch als Schicksalsmacht (etwa Kreuzungsdä-

monen) konzipiert oder sie werden symbolisch als die mahnende Stimme des eigenen Gewissens, in Sinne eines inneren Dämons, aufgefasst.

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Dämonen werden in SUPERNATURAL als ununterscheidbarer schwarzer Materiestrom/-schwarm bzw. große dunkle Wolke dargestellt,36 die elektromagnetische Störungen erzeugen, das mediale Apriori dadurch ins Schwingen bringen, einen schwefelhaltigen Rest sowie Geruch hinterlassen und von den Menschen temporär Besitz ergreifen, wobei die besessenen Menschen einerseits sterben und andererseits nach einem vorausgehenden Exorzismus weiterleben können. Die dämonische Existenz hat kein Verhältnis mehr zu GOTT; sie ist widergöttlich und der religiösen Existenz geradezu entgegengesetzt. Als anonymer Materiestrom/schwarm müssen die Dämonen in der Serie menschliche Körper annehmen, um zu seriellen Handlungskörpern zu werden. Der exorzistische Kampf gegen Dämonen und die dämonische Besessenheit ist letztlich eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen der Willensfreiheit des Menschen und seiner Handlungsfreiheit bzw. -macht. Hierzu sind alternativ-spekulatives (okultes, abgergläubisches, paranormales etc.) Wissen sowie rituelle Kulturtechniken notwendig, etwa in Form von Beschwörungen, Zaubersprüchen, Exorzismen, Bannriten oder Einsatz von Salz. Diese Kulturtechniken werden ergänzt durch archaische und spirituelle Gegenstände, wie z.B. Amulette oder Fluch- und Defixionstafeln. Dämonen besitzen selbst keinen freien Willen, unterstehen der Macht 37 LUZIFERS (lat. lucifer, ,Lichtbringer‘) und sind auf der Erde, um seinen Willen zu erfüllen. Gleichwohl gibt es in der Serienwelt von SUPERNATURAL Dämonen, die sich LUZIFERS Willen widersetzen und eine selbstbestimmte Ordnung der

36 Diesbezüglich korrespondiert die Dämonendarstellung der Serie zu großen Teilen mit

der mythologischen und religionsgeschichtlichen Auffassung vom Wesen der Dämonen: „Dämonen haben einen luftartigen Leib, sind deshalb in der Lage, in fremde Körper einzudringen, fliegen mit sehr großer Geschwindigkeit, haben Sinnesempfindungen, Affekte u. Leidenschaften, besitzen eine hohe Intelligenz u. sind aufgrund ihres hohen Alters sehr erfahren, kunstfertig und geschickt [...]“ (Harmening 2009, 413). 37 Lurker (2014, 286) rekonstruiert folgende religions- und kulturgeschichtliche Genea-

logie von LUZIFER : „Luzifer [...] im Christentum ein Name für den Teufel; er geht auf Jesias (14,12) zurück, wo die Höllenfahrt des Königs von Babel mit dem Sturz des strahlenden Morgensterns (hebräisch Helal) verglichen wird. Von den Kirchenvätern wurde der Name L. auf [...] Satan übertragen – in Anlehnung an Lukas 10,18, wonach Satan wie ein Blitz vom Himmel fällt. Einige gnostische Gruppen betrachten L. als eigene göttliche Kraft oder als den ,erstgeborenen Sohn Gottes‘. Meist wird übersehen, dass L. als antiker Name für den Morgenstern ([...] Phosphoros) im Neuen Testament auch zur Bezeichnung Christi dient, z.B. in der Apokalypse 22,16 [Hervorhebung im Original – MSK].“

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Dinge erzeugen wollen. Das prominenteste Beispiel der Serie ist die ästhetische Figur CROWLEY (Mark Sheppard).38 LUZIFER stellt selbst zugleich den machtvollsten Widerstand gegen die göttlich Ordnung der Dinge dar als Ausdruck seines Begehrens nach Willensfreiheit und somit nach (Handlungs-)Macht. Hier stellt sich die Frage, wie Dämonen, dies gilt aber auch für Engel, rebellieren können, wenn sie naturhaft keinen freien Willen besitzen. Der freie Wille und die selbstbewusste Selbstbestimmung sind dekonstruktive Haltungen, die subversives Handeln auslösen und aus denen Freiheits- und Befreiungsgeschichten entstehen, in deren Zentrum Individuen stehen, die das vermeintlich Unteilbare, hier die göttliche bzw. die höllische Ordnung der Dinge, (teilweise zumindest) umordnen, ohne sie dabei gänzlich auflösen zu können.

38 CROWLEY ist der langlebigste Dämon und größte Antagonist der WINCHESTERBRÜDER

und zudem der in SUPERNATURAL am häufigsten auftauchende und einfluss-

reichste Dämon. Als Dämon ist er der König der Kreuzungsdämonen, war zunächst die rechte Hand von LILITH und wurde, nachdem LUZIFER wieder in den Höllenkäfig eingesperrt wurde, zum neuen König der Hölle und führte die Höllenmächte an. CROWLEY

war, bevor er zum Dämon wurde, ein Mensch. Sein richtiger Name lautet

Fergus Roderick Mcleod, er lebte im 17. Jahrhundert, seine Mutter war die Hexe ROWENA

(Ruth Connell). Sie spielt in der 10. Staffel eine zentrale Rolle. CROWLEY

versucht beständig sich gegen jede Art der Fremdbestimmung zu widersetzen und seine Ziele durchzusetzen. Er ist somit der Dämon, der sich durch das höchste Maß an Willens- und Handlungsfreiheit in der Serie auszeichnet, ohne dabei jemals allmächtig oder souverän sein zu können. Als historisches Vorbild für die ästhetische Figur CROWLEY

nennt Brown (2011, 72f.) den britischen Okkultisten und Schriftsteller

Aleister Crowley. Die größte Zahl der Dämonen bleibt anonym und austauschbar; nur die jeweiligen menschlichen Hüllen, in denen sie sich befinden, machen sie unterscheidbar. Allerdings gibt es auch eine kleine Zahl von Dämonen, die individuelle Kennzeichnungen besitzen, verbunden mit einer im Vergleich zu CROWLEY allerdings viel geringeren Form von Willens- und Handlungsfreiheit. Beispiele hierfür sind z.B. LILITH, AZAZEL,

der Höllenfolterknecht ALASTAIR (verschiedene Darsteller aufgrund

der verschiedenen Menschen, die von ihm besessen werden: Mark Rolston, Andrew Wheeler, Christopher Heyerdahl), der Ritter der Hölle ABADDON (Alaina Huffman), RUBY

(verschiedene Darstellerinnen aufgrund der verschiedenen Menschen, die von

ihr besessen werden: Katie Cassidy, Genevieve Padalecki) oder MEG MASTERS (Nicki Lynn Aycox).

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Die anderen beiden Namen von LUZIFER, also Satan39 und Teufel, fokussieren diesen subversiven Aspekt stärker.40 Satan (hebräisch, ,Widersacher‘, griech. Satanas) hat im Alten Testament u.a. die Rolle des Verführers sowie Versuchers und ist im Christentum das leibhaftige Prinzip des Bösen. Nach seinem Aufruhr gegen GOTT wird er durch den Engel Michael in den Abgrund gestürzt, „die Kirchenväter übertrugen den Namen [...] LUZIFER auf S., der die diabolischen Mächte repräsentiert, ,Fürst dieser Welt‘ ist“ (vgl. Lurker 2014: 414f.). Der Begriff Teufel (griech. díabolos, ,Durcheinanderwerfer‘, ,Verwirrer‘, ,Verleumder‘) ist die „Personifikation der widergöttlichen Macht“. Eine aus der Sicht des Menschen prästabilisierte, deterministische (Un-)Ordnung der Dinge (Mythos/Religion, Gott/Teufel) wird in SUPERNATURAL durch die Konfrontation mit dem (zumeist relativ) freien Willen des Menschen, der allerdings exklusiv an die ästhetischen Figuren der Jäger gebunden ist, in (Un-) Ordnung gebracht. Die Serienwelt von SUPERNATURAL ist hierbei zwar fatalistisch, aber niemals deterministisch. Mehr noch als die Produktion von alternativem mythologischen und religiösen Wissen ist die Auseinandersetzung mit der Bedingung der Möglichkeit der Willensfreiheit zentraler Gegenstand der spekulativen Erkenntnisprozesse in der Serie. Die Kontrolle des freien Willens der Menschen ist für die Dämonen und Engel ebenso wie für den Teufel und GOTT die Bedingung der Möglichkeit, ihre Ziele durchzusetzen. Diese brauchen menschliche Körper als Hüllen, verbunden mit der Kontrolle über ihre Gedanken und Gefühle, um auf der Erde real zu werden und interventionistisch in das irdische Geschehen einzugreifen. Insofern sind sie nicht umfassend souverän bzw. allmächtig und der Mensch entsprechend nicht beständig ohnmächtig. Das Waffenarsenal41 der Jäger bietet in Verbindung mit Bann- und Zaubersprüchen sowie Ritualen (Exorzismus etc.) die Möglichkeit einer (bedingten und temporären) Gegenmacht zu diesen Bemächtigungsversuchen – Waffen, um Willens- und Handlungsfreiheit in einer von Höllen- und Himmelsmächten determi-

39 Für den hier diskutierten Kontext ist die Auseinandersetzung mit den beiden anderen

Namen von Satan, Beelzebub (,Herr der Fliegen‘) und Belial (,der Heillose‘, ,Nichtswürdige‘) nicht von Bedeutung. 40 Die Aufteilung in gute und böse Dämonen geht v.a. auf frühchristliche Autoren und

deren Bezug zur neuplatonischen Dämonologie zurück: Die bösen Dämonen sind hier die gefallenen Engel, die aufrührerisch gegen GOTT waren. Ihre Handlungsintention besteht darin, die Menschen GOTT und vom christlichen Glauben abzuwenden (vgl. Harmening 2009, 104f.). 41 Dazu gehören u.a. Salz, Eisen (zumeist in Verbindung mit Gewehren und Pistolen),

Weihwasser, Teufelsfallen, Dämonenmesser (vgl. auch Brown 2009, 7-35).

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nierten Welt zu ermöglichen. Die Jäger sind allerdings die einzigen Menschen, die von dieser Gegenmacht wissen und sie zur Anwendung bringen können. Dämonische Besessenheit ist ein Weg der Kontrolle über den Menschen und zu seiner Instrumentalisierung. Aufgrund der großen Bedeutung von Dämonen in der Serie wird diese Besessenheit regelmäßig durch Exorzismen ausgetrieben, wenn die Dämonen nicht getötet werden – dies geschieht häufiger. Das Zeichen einer dämonischen Besessenheit ist die Verfärbung der Augen (weiss, gelb, rot, schwarz) des Besessenen – die Augenfarbe dient zur Typologisierung und Hierarchisierung der einzelnen Dämonen. Im Unterschied zum Großteil der mythologischen, kultur- und religionsgeschichtlichen Dokumentationen zur dämonischen Besessenheit hält diese in der Serie nicht lange an, ebenso vollziehen die Protagonisten der Serie die Exorzismen sehr schnell. Die Exorzismen, die SAM und DEAN durchführen, beziehen sich auf verschiedene christliche Rituale, wesentlich basieren sie aber auf den Rituale aus dem liturgischen Buch Rituale Romanum (vgl. Brown 2011, 151ff.) – die erste amtliche Ausgabe erschien 1614 unter Papst Paul V. Besessenheit zielt auf die Unmöglichkeit der Freiheit von der inneren Fremdbestimmung, weil das Unfreie und Unwillentliche in den Körper der Menschen eindringt und von diesem sowie seinen Gedanken und Gefühlen Besitz ergreift. In der Serie sind das diejenigen ästhetischen Figuren, die sich nicht von inneren Motivationen wie Leidenschaften, Affekten oder Trieben grundlegend bestimmen lassen, wie etwa SAM und DEAN, die sich der Besessenheit und den Bemächtigungsversuchen entziehen und als Individuen mit einem freien Willen erscheinen. Zwar entspringt die Willensintention Jäger zu sein nicht aus der primären Willensfreiheit der beiden Brüder, denn sie stellt eine familiäre Bürde dar. Auch, wenn sich ihr Wollen somit auf äußere Ziele richtet, so wird es zu ihrem Willensziel ab dem Zeitpunkt, an dem sie ihr Schicksal, Jäger sein zu müssen, ausdrücklich als von ihnen selbst intendiert zu eigen machen und dies in allen zehn Staffeln konsequent weiter verfolgen. Dieses Konzept von Willensfreiheit hat seinen Ursprung nicht in der reinen Selbsttätigkeit und Spontanität des Menschen. Das Wollen der beiden Serienprotagonisten gründet auch nicht grundsätzlich in ihrer Selbstbestimmung, ist nicht frei von äußerem Zwang – das gilt ebenso für GOTT und LUZIFER. Das serienspezifische Konzept von Willensfreiheit in SUPERNATURAL definiert sich als Wahlfreiheit, d.h. als Freiheit, Handlungen wählen und unterlassen zu können (vgl. zur philosophischen Bestimmung der Willensfreiheit zusammenfassend u.a. Keil 2012). Die Serie steht hierbei in einer Nähe zu Humes (1978) Kritik an der Annahme der Willensfreiheit, der er mit dem Argument begegnet, dass die Annahme der Freiheit als des Gegenteils von Notwendigkeit den festgestellten bestän-

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digen Zusammenhang zwischen einer Handlung und ihrem Motiv zerstören müsste und deshalb der Erfahrung widerspricht. Dem Menschen bleibt die Freiheit der Spontaneität, auch wenn unsere Taten in affektiven Beweggründen ihren Ursprung haben. Darunter versteht Hume die Möglichkeit, sich gegen äußere Gewalt zur Wehr zu setzen. Genau diese Freiheit der Spontaneität und zur Gegenwehr zeichnet die beiden Serienprotagonisten SAM und DEAN aus. Die systematische, (para-)wissenschaftliche, religionsgeschichtliche und kulturhistorische Erforschung von Dämonen wird als Dämonologie bezeichnet – in der christlichen Theologie ist die Dämonologie ein Zusatz zur Angelologie, weil es sich bei Dämonen zumeist um gefallene Engel handelt. Dies trifft in SUPERNATURAL nur teilweise zu (vgl. hierzu u.a. Böcher/Wanke/Stemberger/ Tavard 1981; Harmening 2009b; Lurker 2014). Die kulturhistorisch verschiedenen Funktionen und Bedeutungen von Dämonen, die sie in den unterschiedlichen Mythologien und Religionen besitzen, werden in der Seriennarration zumeist nicht historisch korrekt repräsentiert, sondern wesentlich hinsichtlich der Serienlogik transformiert. SUPERNATURAL steht in der Auseinandersetzung mit Dämonen durchaus in der christlichen Tradition, weil Dämonen im Unterschied etwa zur griechischen Mythologie als grundsätzlich negativ dargestellt werden, auch, wenn es in der Serie immer wieder strategische Arrangements, aber auch sexuelle Beziehungen zu Dämonen gibt, wie z.B. zu CROWLEY (Mark Sheppard), dem König der Kreuzungsdämonen42, später König der Hölle, oder zwischen SAM WINCHESTER und RUBY (Genevieve Padalecki). Auf einen Kreuzungsdämon trifft man, wie sein Name andeutet, vorwiegend an Kreuzungen. Sie schließen mit den Menschen einen Deal und erfüllen ihnen im Austausch für ihre Seele einen bedeutenden Wunsch. Der Deal wird mit einem Kuss besiegelt. Nach zehn Jahren ist der Deal spätestens abgelaufen und der Kreuzungsdämon setzt die (für Menschen unsichtbaren, für Engel und Dämonen sichtbaren) Höllenhunde als Schuldeneintreiber auf den Menschen an, mit dem er einen Deal geschlossen hat, um seine Seele einzufordern. Der Deal bleibt auch bestehen, wenn der jeweilige Kreuzungsdämon getötet wird: „Crossroads lore is suprisingly universal and can be found in cultures from Europe, Greece, India, ancient Mongolia, Japan, and Native America. The list of SUPERNATURAL beings

42 Ein Beispiel für die Inszenierung von Kreuzungsdämonen in der Serie ist die 8. Epi-

sode („Crossroad Blues“) der 2. Staffel. Die Erstausstrahlung dieser Episode in den USA war der 16.11.2006, der Originaltitel lautet „Crossroad Blues“, der deutsche Titel „Kreuzung zur Hölle“ (DVD) („Supernatural – Die komplette vierte Staffel“, 6DVDs; 2013, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Steve Boyum, das Drehbuch schrieb Sera Gamble.

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to be found at crossroads varies from one culture to another but includes angry spirits, witches, sprites, ancestral ghosts, fairies, and [...] demons“ (Brown 2011, 67). Die Idee von Dämonenpakten geht, wie Harmening (2009: 104f.) herausstellt, auf Augustinus (De deo Sokratis; De civitate dei) und die Weiterentwicklung seiner Überlegungen bei Thomas v. Aquin (Summa theologiae; Quaestiones disputate de malo) zurück. Beide sehen in Dämonen, aber auch im Aberglauben und bei der Zauberei, stellvertretend für die Macht des Teufels, also das negativ Übernatürliche, eine unheimliche Bedrohung und Versuchung des Menschen. Ein Beispiel für die serienimmanente Transformation von mythologischem, kultur- und religionsgeschichtlichem Wissen stellt neben der zuvor beschriebenen ästhetischen Figuren AZAZEL und ALASTAIR die Figur LILITH dar (vgl. Brown 2011, 159-177). Sie ist ein, wie Lurker (2014, 280f.) betont, „schon im Alten Testament (Jesaias 34,14) erwähnter weiblicher Dämon des jüdischen Volksglaubens, volksetymologisch als die ,Nächtliche‘ gedeutet, ursprünglich aus der babylon. Dämonologie stammend [...]. Die L. [...] wurde als blutsaugendes Nachtgespenst gedacht; in der talmudischen Überlieferung galt sie als teuflisches Wesen und als erste Frau Adams. [...] Ihre Töchter mit dem Hinterteil einer Eselin (Symbol der Geilheit und Grausamkeit) pflegten das Blut ihrer Opfer auszusaugen [Hervorhebungen im Original – MSK]“.43 Der weibliche Dämon RUBY beschreibt LILITH in der 9. Episode der 4. Staffel („I Know What You Did Last Summer“)44 als „one scary bitch“ und ergänzt: „When I was in the pit, there was talk. She’s cooking up something big – apocalyptic big.“ Durch ihren Tod öffnet sich das Höllentor, sie ist das letzte zu bre-

43 Die Serie bezieht sich nicht ausschließlich auf Dämonen aus der jüdisch-christlichen

Tradition. Es spielen u.a., ebenfalls modifiziert zur Überlieferungsgeschichte, der mittelpersische Schattendämon, Leichenfresser und Quälgeist der Seelen in der Hölle, DAĒVAS („Shadow“, 16. Episode, 1. Staffel), eine Rolle; Dämonen des indischen Volksglaubens mit dem Namen ARCHERI, die als kleine Mädchen erscheinen („All Hell Breaks Loose: Part 1“, 21. Episode, 2. Staffel) oder die Nachtdämonen des Vedismus, RAKSHASAS („Everybody Loves a Clown“, 2. Episode, 2. Staffel). Giannini (2011, 164) argumentiert entsprechen, „that the bricolage of religious and folkloric traditions Supernatural incorporates in its narratives disallows tying it explicitly to a single religion.“ 44 Die Erstausstrahlung dieser Episode in den USA war der 13.11.2008, der Originaltitel

lautet „I Know What You Did Last Summer“, der deutsche Titel „Ich weiß, was Du letzten Sommer gemacht hast“ (DVD) („Supernatural – Die komplette zweite Staffel“, 6 DVDs; 2010, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Charles Besson, das Drehbuch schrieb Sera Gamble.

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chende Siegel, LUZIFER wird dadurch aus seinem Käfig befreit und kann auf die Erde zurückkehren, um die Apokalypse vorzubereiten. Zuvor war sie LUZIFERS skrupellose Stellvertreterin auf Erden. LILITH wurde hierbei mit Grausamkeit, Leid und Schrecken assoziiert. Als menschliche Hüllen wählt sie sich einerseits die Körper kleiner Mädchen aus, andererseits die schöner junger Frauen, um ihre Ziele, v.a. bei Männern, durch Täuschung und Verführung durchzusetzen. Ihre Loyalität gegen LUZIFER ist nur begrenzt, denn sie bietet SAM und DEAN in der 4. Staffel einen Deal an: beide sollen sterben, sie solle überleben und nicht von ihnen getötet werden, LUZIFER verbleibt somit im Höllenkäfig und die Welt ist gerettet – ob dies wiederum eine verführerische Täuschung von ihr ist, bleibt in der Serienerzählung offen. Typisch für die modifizierende Adaption von mythologischem, kultur- und religionsgeschichtlichem Wissen in SUPERNATURAL ist, dass von Grundfakten, etwa LILITH als die erste Frau Adams und als erster Dämon der Geschichte, ausgegangen wird, bei der Gestaltung der ästhetischen Figur allerdings nur noch auf einige allgemeine Kennzeichen der historischen Figuren zurückgegriffen wird, bei LILITH etwa auf ihre Grausamkeit und erotische Verführungsstärke. In der Serienhandlung erlangen die jeweiligen Figuren ein populärkulturell-mythologisches Eigenleben. Das Gleiche gilt für die Darstellung von Engeln und für die Serien-spezifische Angelologie.45 Engel werden, im Vergleich zu Dämonen, erst spät in der Serienhandlung eingeführt, konkret in der 4. Staffel durch den Engel CASTIEL, der seit dieser Staffel der bedeutendste übernatürliche Verbündete der WINCHESTERBrüder ist (vgl. zur Angelologie der Serie Brown 2011, 85-111). In der 13. Episode („Houses oft he Holy“)46 der 2. Staffel dachten die beiden Brüder, sie hätten es mit einem Racheengel zu tun. Im Verlauf der Handlung stellt sich aller-

45 In der christlichen systematischen Theologie stellt die Angelologie das Studium der

biblischen Doktrin von den Engeln dar. Hierbei werden Themen wie z.B. der Ursprung, die Existenz und das Wesen der Engel, die Einteilung der Engel in verschiedene Klassen, der Dienst und die Werke der Engel behandelt. Böse und destruktive Engel gibt es hierbei nur unter der Perspektive der Gefallenen Engel. Dieser Aspekt steht im Gegensatz dazu im Zentrum der Serien-spezifischen Angelologie von SUPERNATURAL.

46 Die Erstausstrahlung dieser Episode in den USA war der 01.02.2007, der Originaltitel

lautet „House oft he Holy“, der deutsche Titel „Haus der Heiligen“ (DVD) („Supernatural – Die komplette zweite Staffel“, 6DVDs; 2013, Warner Bros. Entertainment/ Warner Home Video Germany). Regie führte Kim Manners, das Drehbuch schrieb Sera Gamble.

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dings heraus, dass es sich nur um einen wütenden Geist handelt. In dieser Episode betont DEAN, dass er weder an Engel noch an GOTT glaubt: „There’s no higher power. There’s no God. I mean, there’s just chaos, and violence, and random unpredictable evil that comes out of nowhere and rips you to shreds.“ Diese Meinung wird DEAN in der 4. Staffel zwar ändern (müssen), ohne zugleich einen positiven Bezug zu Engeln, abgesehen teilweise von CASTIEL, und zu GOTT zu entwickeln. Die Engel in der Serie und GOTT sind für ihn nicht besser als die Dämonen und LUZIFER. Das Maß des Menschlichen ist für ihn der Mensch.47 Die himmlischen und die höllischen Mächte zeichnen sich für DEAN primär durch einen Willen zur Macht und zur Destruktion (des Menschlichen) aus. Beide Mächte verlangen die bedingungslose Unterwerfung des Menschen und seinen unbedingten Gehorsam. Dazu muss die menschliche Willens- und Handlungsfreiheit manipuliert und determiniert werden. Die Vorgeschichte zur Einführung von Engeln, damit verbunden auch zu einer umfassenderen Auseinandersetzung mit GOTT in der bzw. ab der 4. Staffel, beginnt am Ende der 2. Staffel (21. & 22. Episode, „All Hell Breaks Loose (Part 1)“ & „All Hell Breaks Loose (Part 2)“): SAM stirbt in der 21. Episode. DEAN schließt daraufhin einen Pakt mit einem Kreuzungsdämon, der SAM wiederbelebt. Durch diesen Pakt hat DEAN nur noch ein Jahr Lebenszeit. In der 3. Staffel gelingt es den Brüdern nicht, diesen Dämonenpakt aufzulösen. Am Ende der Staffel wird DEAN vor den Augen von SAM von den Höllenhunden zerfetzt und landet in der Hölle. In der 1. Episode der 4. Staffel („Lazarus Rising“) wird DEAN von CASTIEL, vermeintlich auf GOTTES Befehl hin, aus der Hölle gerettet und zurück ins Leben gebracht. Er hat zuvor vier Monate nach Erdenzeit und 40 Jahre nach Höllenzeit in der Hölle verbracht und wurde dort zum Folterknecht unschuldiger Seelen ausgebildet, weil er seine Folterqualen im Fegefeuer nicht mehr aushalten konnte. Diese Aussage ist unwahrscheinlich, weil GOTT an dieser Stelle in der Serie als Abwesender inszeniert wird. Engel (griech. ángeloi, ,Boten‘; lat. angelus; Übersetzung vom hebr. mal’ach, ,Bote‘) sind ursprünglich himmlische Wesen, die GOTT zur Seite stehen und seinen Auftrag ausführen. Engel sind darüber in „vielen Religionen bekannte gottähnliche Wesen in Menschengestalt o. tierartig. In der Bibel gehören sie zum Hofstaat GOTTES (Jak, 1,6-12), erscheinen als seine Vertreter u. Abgesandten (1 Chr 21,18; Lk 1,26), sind Werkzeuge seiner Ratschlüsse (Ps 35,5f.), Schutzgeister des Menschen (Mt 18,10) u. Offenbarer eschatologischer Geheimnisse (Offb 17,1,7)“ (Harmening 2009: 131). Ein Engel ist ein geistiges Wesen, das von GOTT

47 Insofern kann an den Engeln nicht mehr die Frage nach einer idealen Schöpfung be-

handelt werden. Ebenso wenig funktionieren sie noch als Tugendallegorien.

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geschaffen und mit einer besonderen Aufgabe im Rahmen seiner Schöpfung betraut sind. Sie haben außerordentliche, aber als geschaffene Wesen begrenzte Kräfte und Kenntnisse – diese Aspekte greift die Serie grundsätzlich auf. In der Auseinandersetzung mit den himmlischen und höllischen Mächten wird in SUPERNATURAL die Bedingung der Möglichkeit menschlicher (Willensund Handlungs-)Freiheit verhandelt. Himmel und Hölle, GOTT und LUZIFER, ENGEL und DÄMONEN sind in der Serie letztlich nur, wenngleich kulturhistorisch äußerst bedeutende, Symbole für determinative Mächte, die die Willens- und Handlungsfreiheit des Menschen kontrollieren sowie instrumentalisieren wollen. Das Freisetzen zur Freiheit ist aus dieser Perspektive weder durch die Religion, in SUPERNATURAL bedeutet das wesentlich die Religion der jüdisch-christlichen Tradition, noch im Gegensatz dazu durch den Atheismus oder den Satanismus und seinem Fokus auf den Anthropozentrismus möglich. Das Freisetzen zur Freiheit muss das Resultat einer selbstbewussten Selbstbestimmung jedes Einzelnen sein. Dies gilt letztlich auch für alle handlungsrelevanten himmlischen und höllischen Mächte in der Serie. Zudem sind gerade diejenigen ästhetischen Figuren der Serie die größten Determinanten menschlicher Freiheit, die sich selbst durch ein Höchstmaß an Widerstand gegen die göttliche und teuflische Determination auszeichnen bzw. diese subvertieren wollen, um selbst zu Schöpfern und souveränen Herrschern zu werden. Hierbei handelt es sich v.a. um die Erzengel48, aber auch um den Dokumentationsengel METATRON (Curtis Armstrong); um den individualisierten Dämon der Serie, CROWLEY und um GOTTES größten Antipoden LUZIFER.49 Die

48 Wimmler/Kienzl (2011, 181f.) haben die Vorstellung, dass (bestimmte) Engel einen

freien Willen besitzen können, als eine grundlegend christliche hervor: „That angels possess free will is a strongly Christian motif [...]. In both Judaism and Islam, angles have no free will and are unable to sin [...]. In Judaism, Satan is one of God’s angels, who tests humans on his behalf. Because angels have no free will, many concluded that the Islamic Iblis (Lucifer), who disobeyed God and thus sinned, could not be an angel, but instead must be a djiin [...]. However, the motif of Iblis’ disobedience followed an esthablished trend within Jewish apocalyptic thought, a movement that was prevalent from the 2nd century BCE tot he 1st century CE. The idea of fallen angels originated in this context, altough it never asserted itself in Judaism. One of there apocalyptic groups was profoundly influenced by this motif: the Jesus-movement, which later became Christianity [...].“ 49 CASTIEL ist eine diesbezüglich ambivalente Figur: In der 4. und 5. Staffel ist er ein ge-

treuer Diener GOTTES. In der 6. Staffel führt er einen Bürgerkrieg im Himmel gegen den Erzengel RAPHAEL (verschiedene Darsteller: Demore Barnes, Lanette Ware), um

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Versuche dieser ästhetischen Figuren, eine souveräne Allmacht und somit, trotz grundlegender Determination durch GOTT und LUZIFER, Willens- und Handlungsfreiheit zu erlangen, scheitern, womit auch das Scheitern dieser Determinationsmodelle in der Serie symbolisch inszeniert wird. Keine Macht besitzt die Macht, umfassend zu regieren und zu determinieren. Im Gegensatz zu diesen Macht-Geschöpfen sind die beiden SchöpferFiguren, GOTT und CHUCK, nicht an Macht und Herrschaft interessiert – einerseits sind sie daher abwesend wie GOTT oder verschwinden andererseits wie CHUCK. GOTT wird in SUPERNATURAL als ein (zumeist) abwesender inszeniert, der an seiner Schöpfung und an der Herrschaft über die Welt kein Interesse zu haben scheint – somit bleibt auch (zumeist) Gottes Gerechtigkeit verborgen.50 Durch seine Abwesenheit kommt es letztlich gerade zu der himmlischen und höllischen Anarchie in der Serienwirklichkeit. Die Serie legt allerdings auch nicht nah, dass die zuvor herausgestellten Themen gegenstandslos werden, wenn es einen anwesenden und intervenierenden GOTT gibt. Im Alten Testament wird die Verborgenheit Gottes von den Menschen als unheilvolle Präsenz erfahren (u.a. Hi 13, 24; Hi 30,21). Auf das Motiv bezieht sich

zu verhindern, dass dieser die Apokalypse wieder herbeiführt. Der Besitz aller Seelen des Fegfeuers, die CASTIEL mithilfe von CROWELY erlangt, verleiht ihm die Macht, den Bürgerkrieg im Himmel zu gewinnen, RAPHAEL zu töten und sich selbst zum neuen GOTT zu erklären. Als neuer GOTT geht CASTIEL in der 7. Staffel zugrunde, sieht seinen Fehler der göttlichen Machtergreifung ein, wenngleich er zahlreiche Menschen und Engel zuvor getötet hat, verliert seine Macht und wird im Fegefeuer gefangen. In der 8. Staffel wird er durch den Engel METATRON zum Menschen degradiert. Dieser hat gottesähnliche Kräfte durch den Besitz der Engelstafel erlangt, die das Wort GOTTES enthält. Am Ende der 9. Staffel besiegt CASTIEL wiederum METATRON und wird erneut zum Anführer der Himmelsscharen. Dies bleibt er auch bis zur Mitte der 10. Staffel. Nachdem CASTIEL in der 7. Staffel seine Verfehlungen einsieht, also GOTT werden zu wollen, wird er wieder zum wichtigsten Verbündeten der WINCHESTER-

Brüder im Kampf gegen das Übernatürliche und schützt somit zusammen mit ihnen die Welt vor ihrem Untergang. 50 Im Alten Testament wird die Erfahrung der Gottverlassenheit, d.h. das Fehlen von Er-

fahrungen rettender Gottesnähe, mit unterschiedlichen Sprachbildern beschrieben: Gott verbirgt sein Gesicht (u.a. Hi 13,24, Jes 64,6); Gott ignoriert das Elend der Seinen (z.B. Ps 22, 2-3); die Taubheit und das Schweigen Gottes (etwa Ps 35,22), verbunden mit dem Wunsch, dass Gott hören, hinhören und antworten soll (vgl. Ps 55,3); Gott verbirgt sein Gesicht und sich selbst (wie z.B. Ps 10,1); die Gottesferne allgemein (u.a. Ps 10,1; Ps 22,2). Diese Motive finden sich alle in SUPERNATURAL.

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die Serie explizit. Diese wird aber auch im Alten Testament auf die Verborgenheit der Weisheit Gottes (etwa Hi 28,21) zurückgeführt bzw. auf die beschränkte Erkenntnisfähigkeit des Menschen (wie z.B. Pred 8, 16f.) und es wird dazu geraten, sich mit der Ferne und Unerforschbarkeit Gottes zu arrangieren (vgl. Pred 5,1). Die Abwesenheit GOTTES wird in SUPERNATURAL durch das Fehlverhalten des Engels GADREEL (verschiedene Darsteller: Jared Padalecki/Tahmoh Penikett) erklärt, der von GOTT zum Wächter des Garten Eden gemacht wurde. Durch die Unaufmerksamkeit GADREELS gelangte die Schlange in den Garten Eden und verführte Eva dazu, die verbotenen Früchte zu essen. Dadurch wurden sie von GOTT aus dem Paradies verbannt und Verderbnis wurde über die Menschheit gebracht. GOTT fühlte sich dermaßen von GADREEL betrogen, da er spurlos aus dem Himmel verschwand. Nur die vier ERZENGEL (MICHAEL; LUZIFER; RAPHAEL; 51 GABRIEL) und METATRON (Curtis Armstrong) haben GOTT jemals persönlich

51 METATRON ist ein gutes Beispiel für die modifizierte Angelologie der Serie. Das Glei-

che gilt für die anderen Engel der Serie, die nicht alle, wie etwa ANNA MILTON und CASTIEL

einen realen mythologischen oder religionsgeschichtlichen Hintergrund be-

sitzen, d.h. reine Serienerfindungen sind: u.a. URIEL (Robert Wisdom); MICHAEL (verschiedene Darsteller: Matthew Cohen, Jake Abel); GABRIEL (Michael Pan); RAPHAEL; ZACHARIAH (Kurt

Fuller); ANNA MILTON (Dasha Lehmann). Lurker (2014, 313) kenn-

zeichnet den mythologischen und religionsgeschichtlichen Ort von METATRON, dem hochrangigen Engel in der jüdischen Mythologie und Vermittler des göttlichen Willens wie folgt: „Metatron, in der Kabbala genannter guter Dämon, Engel des Angesichts und Vorsteher der Stärke. Er nimmt die Gebete der Menschen in Empfang und flicht daraus Kronen, um sie auf das Haupt Gottes zu setzen. Später wird er in okkultischen Kreisen als der Erzengel verstanden, der mit der ersten Emanation (Sephirah) verbunden ist.“ Auf diese werde ich daher nicht gesondert eingehen. In der Serienwirklichkeit ist METATRON der Engel, der GOTTES Wort aufgezeichnet hat, daher alle Geheimnisse GOTTES kennt und beständig mit ihm im Austausch stand. Nach dem Verschwinden GOTTES verschwand auch METATRON und versteckte sich auf der Erde, um menschliche Geschichten zu Sammeln – dies durchaus in Anlehnung an seine mythologische Figur. Die Engelstafel mit dem Wort GOTTES soll er durch eigene Aufzeichnungen seitdem ergänzt haben. Zudem verfolgt METATRON einen eigenen Machtplan: Er will alle Engel aus dem Himmel auf die Erde verbannen, sich die Herrschaft über den Himmel aneignen und stellt dazu eine Schar getreuer Engel zusammen. Seine göttliche Stärke liegt in der Engelstafel begründet. CASTIEL kann diese Pläne schließlich durchkreuzen und sie den anderen Engeln offenbaren. Er wird daraufhin von ihnen im Himmel eingesperrt und verliert alle Macht.

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gesehen. Nachdem GOTT den Himmel verließ, übernahm der Erzengel MICHAEL die Herrschaft über die Engel und den Himmel. GOTT tritt in der Serienhandlung in verschiedenen Situationen, Funktionen und Rollen auf: • • • • •



als Verwechslung (u.a. 1. Staffel, 12. Episode, „Faith“)52; als (vermeintlicher) Wille (u.a. 2. Staffel, 13. Episode, „Houses of the Holy“)53; als (vermeintliche) (Licht-)Erscheinung (u.a. 5. Staffel, 1. Episode, „Sympathy fort he Devil“)54; als Wort (u.a. in der 6. Staffel auf der Engelstafel); als Diskurs und Geschichte, der bzw. die über ihn von Engeln, Dämonen, LUZIFER und den Menschen geführt wird (in allen Staffel, verstärkt aber ab der 4. Staffel); vermittelt durch den Engel JOSHUA (Roger Aaron Brwon), dem einzigen, zu dem GOTT angeblich spricht (u.a. 5. Staffel, 16. Episode, „Dark Side of the Moon“)55;

52 Die Erstausstrahlung dieser Folge in den USA war der 17.01.2006, der Originaltitel lautet „Faith“, der deutsche Titel „Der Wunderheiler“ (DVD). („Supernatural – Die komplette erste Staffel“, 6 DVDs; 2008, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Allan Kroeker, das Drehbuch schrieben Sara Gramble & Raelle Tucker. 53 Die Erstausstrahlung dieser Folge in den USA war der 01.02.2007, der Originaltitel lautet „Houses of the Holy“, der deutsche Titel „Haus der Heiligen“ (DVD). („Supernatural – Die komplette zweite Staffel“, 6 DVDs; 2008, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Kim Manners, das Drehbuch schrieb Sara Gramble. 54 Die Erstausstrahlung dieser Folge in den USA war der 10.09.2009, der Originaltitel lautet „Sympathy for the Devil“, der deutsche Titel „Mein Name ist Luzifer“ (DVD). („Supernatural – Die komplette fünfte Staffel“, 6 DVDs; 2012, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Robert Singer, das Drehbuch schrieb Eric Kripke. 55 Die Erstausstrahlung dieser Folge in den USA war der 21.02.2011, der Originaltitel lautet „Dark Side of the Moon“, der deutsche Titel „Sonnenfinsternis“ (DVD). („Supernatural – Die komplette fünfte Staffel“, 6 DVDs; 2012, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Jeff Woolnough, das Drehbuch schrieben Andrew Gabb & Daniel Loflin.

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als Schweigender (u.a. 6. Staffel, 20. Episode, „The Man Who Would Be King“)56; und als Retter (u.a. 1. Episode, 4. Staffel, „Lazarus Rising“)57, ohne dabei selbst in Erscheinung zu treten.58

In der Serie bietet GOTT neben CHUCK den größten Spielraum für Spekulationen – im deutlichen Unterschied zu LUZIFER, der sehr transparent und präsent dargestellt wird. Die spekulativen Erkenntnisprozesse in SUPERNATURAL fokussieren somit primär den Zusammenhang von Schöpfer und Schöpfung, Determination und Freiheit. Dieses Thema stellt eine anthropologische Konstante dar, die historisch und sozio-kulturell jeweils unterschiedlich ausgestaltet performativ wird.59 Die intensive Auseinandersetzung mit Dämonen und Engeln, LUZIFER und GOTT kann durchaus auch als Auseinandersetzung mit der in der jüngeren Vergangenheit stark zunehmenden Bereitschaft verstanden werden, an Geistwesen, Geisterwesen bzw. das Übernatürliche zu glauben, wohingegen der (christliche) Gottesglaube kontinuierlich abnimmt. Engel leben gegenwärtig nicht nur in der Esoterik (Spiritismus) oder Ratgeberliteratur (zur Mythologie und Religionsgeschichte) in modifizierter Form weiter, sondern auch in zahlreichen populären Mediennarrationen, wobei die (post)moderne Weltsicht mit dem Glauben an überirdische Wesen in Einklang gebracht wird. Diese Entwicklung stellt u.a. eine Antwort auf die Abschaffung der Engel in der Aufklärung, etwa bei Kant und Schleiermacher, als unnötiges, abergläubisches Beiwerk der Religion dar, verbunden mit ihrer Reduktion zu Tugendallegorien und ihre Verweisung in Geis-

56 Die Erstausstrahlung dieser Folge in den USA war der 10.09.2009, der Originaltitel lautet „The Man Who Would Be King“, der deutsche Titel „Nur ein Zeichen“ (DVD). („Supernatural – Die komplette sechste Staffel“, 6 DVDs; 2013, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Ben Edlund, das Drehbuch schrieb Ben Edlund. 57 Die Erstausstrahlung dieser Folge in den USA war der 23.11.2009, der Originaltitel lautet „Lazarus Rising“, der deutsche Titel „Lazarus erhebt sich“ (DVD). („Supernatural – Die komplette vierte Staffel“, 6 DVDs; 2010, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Kim Manners, das Drehbuch schrieb Eric Kripke. 58 Auch CASTIEL wird dreimal in der Serie nach seinem (vermeintlichen) Tod von GOTT

wieder zum Leben erweckt. 59 Dies legt die Serie zumindest nahe, weil es in der Serienerzählung auch (zumindest

bedingt) interkulturell und (eingeschränkt) Religionen-übergreifend inszeniert wird.

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terreiche (vgl. u.a. Hafner 2009; Dürr 2009). Für die Kritik an diesen beiden Entwicklungen ist SUPERNATURAL repräsentativ. Darüber hinaus stellt die serienspezifische Form der Dämonologie in SUPERNATURAL einen (selbst-)ironischen Bezug zu der von Harmening (2009: 105f.) rekonstruierten des 17. und 18. Jahrhunderts sowie zu deren Kritik durch die Aufklärung dar: „Auch im 17. u. 18. Jh. bleibt die Realität der Dämonen unbezweifelt. Doch verschieben sich nun die Aspekte: Barocke Dissertationen theologischer, juristischer, medizinischer u. naturwissenschaftlicher Provenienz erörtern dämonologische Probleme um Bergmännlein, Rübezahl, [...] Werwölfe, die Weiße Frau, das Wilde Heer o. die jüngsten Berichte aus dem Balkan über die ,serbischen Vampire‘. Sie suchen die Phänomene zu rationalisieren u. damit zu entmythologisieren. Die popularisierende Breitenwirkung aufklärerischer Kampfschriften gegen den Aberglauben ließ schließlich alle gelehrte D. auf den Bereich von Gespenstergeschichten [...] u. Sensationsberichten schrumpfen, an die niemand mehr so recht glauben wollte.“ SUPERNATURAL ist eine populäre Medienerzählung, die durchaus als Fortschreibung der Dämonologie als Gespenster-/Geistergeschichte aufgefasst werden kann. Allerdings schreibt sie diese narrative Tradition populär- und popkulturell um. Zugleich betreibt sie dabei eine Serien-immanente Rationalisierung des Irrationalen, knüpft an die Aufklärungskritik an der Dämonologie an, ohne dabei das Irrationale, also den Glauben an das Übernatürliche, das letztlich die Grenzen von Vernunfterkenntnis und Rationalität markiert, vollständig zu dekonstruieren. Die Serienwirklichkeit von SUPERNATURAL bleibt in jeder Hinsicht grundlegend spekulativ und selbstreflexiv. Die Erkenntnisproduktion erfolgt narrativ in Form von Storytelling.60 Diese Erzählhaltung verbindet die Serie grundlegend mit Populär- und Popkulturen, deren konstitutive Motoren Selbstreferentialität und Historisierung sind. Sie

60 Die Überlegungen zur Ästhetik des Mystery-Films von Seeßlen (2001) sind in diesem

Kontext auch mit Blick auf die Serie zutreffend: „Zur Ästhetik dieser Filme gehört es, dass nicht nur die Grenzen zwischen den Zuständen des Diesseits und des Jenseits fließend werden, sondern dass die Verhältnisse auch auf beiden Seiten zur Unübersichtlichkeit tendieren. Religiöse Bilder explodieren förmlich, mehr oder minder komisch etwa in Dogma, wo Engel, Apostel, Musen und Gottesbilder durcheinander purzeln, mehr oder minder ernsthaft in God’s Army, wo die Engel des Himmels einen blutigen Krieg untereinander führen, weil sie auf die Menschen eifersüchtig sind, denen Gott eine Seele gegeben hat. [...] Mystery ist daher auch ein vielgestaltiger Entwurf, das Religiöse, das Mythische und das Psychische, das die anderen Genres durch ihre Ästhetik der Grenzüberschreitungen definierten, neu zusammenzusetzen.“

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betreiben Storytelling, also einen permanenten Dialog mit sich und ihrer Geschichte. Von einer subjektiven Perspektive aus betrachtet sind Populär- und Popkulturen ein daraus resultierendes Imaginationsarsenal und eine Möglichkeitswelt von Identitätsangeboten. Nicht zuletzt fungieren beide Kulturen auch als Sozialisationsagentur und Welterklärungs- bzw. -bewältigungsmodell. Aus der Perspektive des Populärkultur- bzw. Pop-Rezipienten ist die Performativität und Individualität seiner Populärkultur bzw. Popkultur entscheidend, also die eigensinnige Aneignung und/oder Modifikation populärkultureller bzw. popkultureller Bezugsrahmen, die u.a. von Geschmackspräferenzen, persönlichem Erleben, individuellem Lebensgefühl oder Affektbindungen an Populärkultur- bzw. Pop-Wirklichkeiten bestimmt wird. Man könnte hier auch von populärkultureller bzw. popkultureller Selbstermächtigung sprechen oder von kultivierter Selbstgestaltung bzw. Techniken der Selbstkultivierung (vgl. hierzu Kleiner 2008, 2009, 2013a/b). Storytelling ist eine situative, subjektive und relativ undisziplinierte Form des Erzählens bzw. der Narration, bei der es weniger um erzähltheoretische Konventionen, als um die Produktion einer gestimmten Befindlichkeit oder intuitiven Erkenntnis geht. Die Aneignung der alternativen Wissensproduktion zum Zusammenhang von Dämonologie und Angelologie in SUPERNATURAL als Interpretationsgrundlage der Themen Willensfreiheit, Handlungsfreiheit und Determination erfolgt entsprechend ebenso individualisiert wie intuitiv. Als Orientierung hierbei dienen unter anderem das eigene Wissen und die selbstbestimmte Haltung zu den (ästhetischen) Verführungen sowie (suggestiven) Narrationen der Serie.

4. F AZIT Was wir sehen bedeutet nichts / Der sogenannte Realismus fällt nicht weiter ins Gewicht Tocotronic (Hi Freaks / Tocotronic 2002). DEAN WINCHESTER:

Honestly? I think the world’s gonna end bloody. But that doesn’t mean we shouldn’t fight. We do have choices. I choose to go down swingin’. (Jus in Bello, 12. Episode, 3. Staffel)61

61 Die Erstausstrahlung dieser Episode in den USA war der 21.02.2008, der Originaltitel

lautet „Jus in Bello“, der deutsche Titel „Kriegsrecht“ (DVD) („Supernatural – Die komplette dritte Staffel“, 6 DVDs; 2009, Warner Bros. Entertainment/Warner Home Video Germany). Regie führte Phil Sgriccia, das Drehbuch schrieb Ben Edlund.

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Was ist besser: Frieden oder Freiheit? Diese Frage wird DEAN in der letzte Episode („Swan Song“) der 5. Staffel von CASTIEL gestellt. DEAN antwortet unmittelbar: Freiheit.62 Wir befinden uns in dieser Seriensituation kurz vor dem Ausbruch der Apokalypse und beim finalen Kampf zwischen MICHAEL und LUZIFER. Auch in der vermeintlich ausweglosesten Situation gibt es immer noch die Freiheit der Wahl – entgegen aller himmlischen und höllischen Bedrohung. In jeder Episode von SUPERNATURAL müssen die beiden Brüder Entscheidungen treffen und haben zugleich immer die Möglichkeit, Entscheidungen treffen zu können.63 64 SAM und DEAN entscheiden sich gleichermaßen spekulativ und intuitiv. Die

62 Diese Wahl kann durchaus als eine existenzphilosophische Position begriffen werden:

Freiheit ist für Sartre (1994, 84ff.) keine Eigenschaft des Menschen, sondern als seine Grundbestimmung fällt sie mit dem Sein des Menschen zusammen. Der Mensch erfährt seine Freiheit, indem er seinen Entwurf verwirklicht. Sie bedeutet Selbstbestimmung durch den Entwurf seiner selbst (Wahlfreiheit). Freiheit ist bei Sartre immer auf Faktizität bezogen, sie ist stets engagierte Freiheit – dieses Freiheitsverständnis liegt auch der Serie zugrunde. Der Mensch ist kein absolut freies Wesen in dem Sinne, dass ihn nichts beschränkt. Zu seiner Existenz gehören faktische Bestimmungen, die ihm durch seinen Entwurf zugänglich sind und durch die sein Entwurf eine bestimmte Bedeutung erhält. Die Freiheit bedarf der Faktizität, der Widerständigkeit der Welt, als unerlässliche Voraussetzung für die Verwirklichung von Freiheit. 63 Für Sartre (1994, 836ff.) ist die faktische Notwendigkeit der Freiheit, wählen zu müs-

sen, ohne sich begründen zu können, die einzige Begrenzung der Freiheit. Jede andere Grenze ist als solche nur für die Freiheit und durch sie konstituiert, insofern sie immer wieder überschritten werden kann. 64 Intuition bezeichnet ein unmittelbares, plötzliches Erfassen und Erkennen – durch An-

schauung, Anblick, Betrachtung, nicht durch langes Nachdenken oder gezielte rationale Reflexion. Die Auseinandersetzung der WINCHESTER-Brüder mit dem Übernatürlichen, v.a. aber die von die DEAN, zeichnet sich genau dadurch aus. Intuitionen sind darüber hinaus grundsätzlich performativ – daran hat der Zuschauer mit Blick auf das Handeln der beiden Brüder permanent teil. Performative Handlungen sind aber auch nicht vollkommen planbar, kontrollierbar und verfügbar, sie eröffnen spekulative Spiel- und Freiräume. Das intuitive Handeln von SAM und DEAN ist nicht grundlegend kalkulierbar und führt nicht immer an ein Ziel bzw. löst nicht unmittelbar bestehende Probleme. Die Pointe von Intuitionen liegt entsprechend darin, das sie frei sind, offen, nicht definierbar, einen Rahmen von Möglichkeiten eröffnen, die nicht vorbestimmt sind. Das ist der Grundzug der spekulativen Erkenntnisprozesse in der Serie und bindet diese an eine Überlegung von Camus (1993, 80): „Für den absurden Menschen geht es nicht mehr um Erklärungen und Lösungen, sondern um Erfahrungen und Beschreibungen.“

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menschliche Willens- und Handlungsfreiheit ist in der gesamten Serie stärker als das Schicksal und jede (himmlische und höllische) Determinationsmacht – ohne sich von diesen aber jemals lösen zu können.65 Wimmler und Kienzl (2011, 183) sprechen daher zu Recht vom „Winchesters’ ,Team Free Will‘“. Dieses Grundthema möchte ich abschließend Bezug nehmend auf Camus’ (1993) Konzeption absurder Freiheit diskutieren, weil die Freiheitsgeschichten, die SUPERNATURAL erzählt, existenzphilosophische sind und nicht primär religiöse.66 Hölle und Himmel sind die Grenzen, an denen sich das Freiheitsverständnis von SAM und DEAN entwickelt. Die Notwendigkeit der Überschreitung dieser Grenzen, um ihrem Schicksal entsprechend als Jäger zu handeln, konfrontiert sie beständig mit Grenzsituationen, die ihnen die Absurdität ihrer Existenz aufzeigen, denn die Konfrontation mit den höllischen und himmlischen Mächten kann in der Serienwirklichkeit ebenso wenig enden wie ihre Reise durch Amerika niemals endet. Alles beginnt am Ende immer wieder von Vorne. In der Serie werden die Leitthemen Willensfreiheit, Handlungsfreiheit und Determination aus der Perspektive von Grenzsituationen inszeniert, die eine konstitutive Rolle für den menschlichen Selbstbezug bzw. das Projekt der Selbstwerdung spielen. Diese Selbstwerdungsprozesse müssen ohne (letzte) Verbindlichkeiten und Sicherheiten auskommen: Weder Hölle noch Himmel sind hierbei letztlich handlungsleitend für die WINCHESTER-Brüder. Sie sind dabei allerdings stets Bezug nehmend auf die beiden Vaterfiguren JOHN WINCHESTER und BOBBY SINGER auf sich allein gestellt. Die vorapokalyptische Welt, das ist in allen zehn Staffeln die Grundsituation der Serienwirklichkeit, ist, im Verständnis von Camus (1993) absurd. Die Dramaturgie der Serie ergibt sich aus der Darstellung der Konsequenzen, die man daraus ziehen kann, d.h. im Versuch der Bewältigung des Absurden im Leben. Das Leben von SAM und DEAN ist entsprechend grundlegend absurd. Sie haben sich nicht ausgesucht, Jäger zu sein und müssen ihr Leben als Jäger verbringen.

65 Das Maß des Menschen ist aus dieser Perspektive der Menschen. Die Serie präsentiert

diesbezüglich spekulative Erkenntnisprozesse zu den Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Willens- und Handlungsfreiheit. 66 Das Maß des Menschen bleibt für die Serie entscheidend. Camus (1993, 21) formu-

liert dazu eine für die Serienwirklichkeit passende Überlegung: „Das Herz in mir kann ich fühlen, und ich schließe daraus, dass es existiert. Die Welt kann ich berühren, und auch daraus schließe ich, dass sie existiert. Damit aber hört mein ganzes Wissen auf, alles andere ist Konstruktion.“ Aus dieser Perspektive ist die Serie zutiefst religionskritisch, ebenso kritisch ist sie aber auch mit allen anderen anti-religiösen, okkulten, esoterischen usw. Glaubensgemeinschaften.

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Die existentielle Grunderfahrung des Absurden wird den Brüdern nach ihrer Initiation zu Jägern in ihrer Kindheit vermittelt und in jeder Episode der bisherigen zehn Staffel immer wieder aktualisiert. Ihren Kampf gegen die höllischen und himmlischen Mächte können sie niemals gewinnen und müssen ihn immer wieder von vorne beginnen, um die Welt beständig vor dem Untergang zu retten. Die Frage, wie man in einem solchen Universum konkret leben kann, veranschaulichen die beiden Brüder: sie leben ohne Scheuklappen, sind „Fürsten ohne Reich“ und „haben vor den anderen das eine voraus, dass sie wissen, wie illusorisch alle Reiche sind“ (ebd., 77) – die höllischen, die himmlischen und die menschlichen. SAM und DEAN leben von dem, was sie haben und spekulieren nicht auf das, was sie nicht haben, sondern ausschließlich darauf, wie sie in ihrer absurden Welt überleben können. Ein glückliches Familienleben und eine gelingende Beziehung sind, ebenso wie der Wunsch, die Jäger-Existenz abzulegen, schmerzvolle Begehrenskulissen der beiden Brüder. Im Verlauf der Serienhandlung haben sie zu akzeptieren gelernt, dass ihnen die Erfüllung dieser Wünsche verwehrt bleibt. Hierbei offenbart sich die von Camus (ebd., 47ff.) für den absurden Menschen beschriebene Diskrepanz zwischen dem Menschen mit seiner Sehnsucht nach Sinn und dem Verstehen und dem Schweigen der Welt und der Dinge zwischen der menschlichen Erwartung der Harmonie, Einheit und Verstehbarkeit der Welt und deren Undurchdringlichkeit und Fremdheit, die sich dem Menschen entgegenstellt und ihn enttäuscht. Das Absurde wird in SUPERNATURAL von SAM und DEAN als ein Klima empfunden und durch ihre gestimmten Befindlichkeiten veranschaulicht. Dieses Klima und diese Stimmungen eröffnen zunächst die Nutz- und Sinnlosigkeit sowie Fremdheit, also die Absurdität menschlichen Seins. In ihnen spiegelt sich die Distanz von Mensch und Welt deutlich wider. Wenn diese gestimmten Befindlichkeiten zur bewussten Einsicht in die Absurdität des Daseins durchbrechen und sich nicht mehr abweisen lassen, führt dies, aus der Perspektive von Camus, zur Subversion der gesamten Weltsicht bzw. zum Hinfall der kosmologischen Werte Wahrheit, Einheit, Zweck, Sinn usw. Dies trägt dazu bei, dass die Welt dem Menschen fremd wird und entgleitet (vgl. ebd., 18). Das Entgleiten der Welt wird in allen Staffeln von SUPERNATURAL immer wieder eindrucksvoll dargestellt. Das Gefühl für das ewige Umsonst des immer Selben weckt das Bewusstsein für die Absurdität und verlangt von den beiden Brüdern, aber auch von den anderen Jägern, eine Stellungnahme.67

67 Nur die Jäger besitzen in der Serie diese Klarsicht, nur sie können als absurde Men-

schen im Verständnis von Camus bezeichnet werden.

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Der absurde Mensch ist vor eine doppelte Entscheidung gestellt: Verdrängung des oder bewusste Konfrontation mit dem Absurden. Camus (ebd., 13ff.) unterscheidet drei Formen des Ausweichens vor der Sinnlosigkeit und Kontingenz des Lebens und der Welt, die das Absurde offenbart: erstens das „typische Ausweichen“, unter dem er jede Art von Verdrängung versteht; zweitens das „tödliche Ausweichen“, d.h. den Selbstmord; und drittens die Hoffnung als Flucht in religiös-transzendente Ziele. Nachdem die beiden Brüder die Ausweglosigkeit ihrer absurden Jäger-Existenz angenommen haben, ist die Verdrängung keine Handlungsoption mehr für SAM und DEAN. Die Beziehungen, die die beiden Brüder führen, SAM zu Beginn der 1. Staffel und DEAN zu Beginn der 6. Staffel, erscheinen als Verdrängungsversuche, als ein Ausweichen vor der bewussten Konfrontation mit dem Schicksal ihrer absurden Existenz. Die Beziehungen sind daher in der Serie nur von kurzer Dauer. Die Auseinandersetzung des bewussten Menschen mit seinem Leben, dessen, der die Gewissheit der Absurdität nicht verdrängt, dafür stehen alle JägerFiguren in der Serie, fordert ebenfalls eine doppelte Entscheidung: Selbstmord oder Wiederherstellung (ebd., 16f.). Da der Selbstmord für Camus Flucht bedeutet und somit als Lösung ausscheidet, ebenso letztlich für die WINCHESTERBrüder, kommt nur die Wiederherstellung in Frage. Unter Wiederherstellung versteht Camus die Umwandlung der alltäglichen Lebenswelt, die nicht mehr durch Monotonie, sondern durch ständige Revolte gegen das Absurde gekennzeichnet ist, in der Serie ist das die menschliche Existenz unter der Determination von Hölle und Himmel: „Der [Weg zurück in die Mitwelt – MSK] führt in die Welt des anonymen ,man‘, aber der Mensch begeht ihn von nun an mit seiner Auflehnung und seinem Scharfblick. Er hat es verlernt zu hoffen. [...] Nichts ist entschieden. Alles ist verwandelt“ (ebd., 48). Die positive Konsequenz der Einsicht in die Absurdität des Daseins ist die am Beispiel von Sisyphos vorgeführte Revolte, d.h. die ständige Auflehnung gegen das Absurde. SAM und DEAN vollziehen diese Revolte in jeder Episode. Die positiven Bestimmungen der Revolte sind Bewusstsein, Klarsicht, Freiheit, Leidenschaft, Hoffnungslosigkeit und Gleichgültigkeit. Erst die Zurückweisung von Zukunft und Hoffnung ermöglichen absurde Freiheit. Die radikale Ablehnung jeder Art von Hoffnung und die daraus resultierende Betonung der Positivität des Lebens, hat Sartre (1994b: 96) zum Ausdruck gebracht: „[M]it der Hoffnungslosigkeit beginnt der wahre Optimismus: der Optimismus dessen, der nichts erwartet“. Das einleitende Zitat von DEAN steht exemplarisch für diese Haltung. Die Geschichte der WINCHESTER-Brüder kann zusammenfassend als populärkulturelle Variante des „Mythos von Sisyphos“ (ebd.) aufgefasst werden. Das Glück von Sisyphos besteht darin, dass ihm eine Sinngebung seines Lebens ge-

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lungen ist. Er hat der totalen Determination durch den Stein seine Freiheit entgegengesetzt und sich somit zum Herren seines Universums gemacht. Seine Freiheit zeigt sich darin, dass er nicht mehr schlechthin durch den Fels bestimmt ist, der ihm sein Ziel unausweichlich vorgibt, sondern selbst sein Ziel setzt. Dies ist den beiden Brüdern ebenso gelungen, indem sie ihr Schicksal selbstbewusst, illusionslos und konsequent, aber auch leidenschaftlich, angenommen haben. Dadurch können sie immer wieder der Determination ihrer Willens- und Handlungsfreiheit durch Hölle und Himmel widerstehen. Das Absurde wird zum Maßstab des Handelns und verschafft „Freiheit auf Zeit“ (ebd., 59). Als Konsequenz für die praktische Lebensgestaltung ergibt sich: Der Maßstab menschlichen Handelns wird durch Quantität, nicht durch Qualität des Lebens: „Wenn ich mich davon überzeuge, dass das Leben einzig das Gesicht des Absurden hat [...] gilt [nicht], so gut wie möglich, sondern so lange wie möglich zu leben.“ Diese Überlegung von Camus spiegelt sich im Überleben und im Überlebenswillen der beiden Brüder wieder. Es gilt, das eigene Leben nach eigenem Ermessen so intensiv wie möglich auszuschöpfen. Die absurde Existenz der beiden Brüder und die Absurdität der Serienwirklichkeit adressiert ein spekulatives Spiel mit den Möglichkeiten der Wirklichkeit, konkret mit den Möglichkeiten der Willens- und Handlungsfreiheit in einer determinierten bzw. determinierenden Welt. Die WINCHESTER-Brüder haben in SUPERNATURAL eine existentielle Apologie für die absurde Willens- und Handlungsfreiheit in ihrem Serienleben eindrucksvoll vorgelebt. So intensiv wie möglich zu leben, leidenschaftlich alles Gegenwärtige auszuschöpfen, der Liebe zum Leben Ausdruck zu verleihen, das Leben und die Welt in ihren Grenzen und mit ihren Abgründen vollkommen zu bejahen und dennoch gegen sie zu revoltieren; das sind die Themen und Haltungen, die für die WINCHESTER-Brüder aus der Einsicht in die Absurdität der Welt folgen. Der Erfahrung der Absurdität setzen sie von Anfang an die Erfahrung der Positivität des Lebens entgegen. Daraus entwickelt die Serie eine Beantwortung der Sinnfrage, die die Behauptung von Camus (ebd., 49), dass das Leben „um so besser gelebt wird, je weniger sinnvoll es ist“, ästhetisch umsetzt. Dies bedeutet, dass das Absurde weder idealistisch überwunden oder religiös transzendiert werden kann. Das Absurde wird, sobald es erkannt ist, zur Richtschnur des Verhaltens des absurden Menschen. Er führt dieses Leben mit Klarsicht und ohne Illusionen. Er verharrt nicht in Verzweiflung und Resignation, sondern wählt die bewusste Auflehnung und das ständige Scheitern. Gemeint ist nicht ein sich Anpassen an die Gegebenheiten des Lebens, sondern die klare und gelassene Ablehnung aller Transzendenz, allen Trostes und allen Glaubens. Gemeint ist das Bewusstsein und das auf sich nehmen einer sich ganz im Diesseits ihren Sinn gebenden Existenz: „Der

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Hoffnung beraubt sein heißt noch nicht: verzweifeln. Die Flammen der Erde wiegen wohl die himmlischen Düfte auf.“ Erst die Zurückweisung von Zukunft und Hoffnung ermöglichen – absurde – Freiheit – und das bedeutet für Camus, ebenso wie in SUPERNATURAL, Willens- und Handlungsfreiheit.

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A Superhero Never Dies Zur Transkulturalität einer plurimedialen Figur I VO R ITZER „[…] not merely the older city but even the nation-state itself has ceased to play a central functional and formal role in a process that has in a new quantum leap of capital prodigiously expanded beyond them, leaving them behind as ruined and archaic remains of earlier stages in the development of this mode of production.“ FREDRIC JAMESON

1. P LURIMEDIALITÄT

UND

T RANSKULTURALITÄT

Superhelden sind globale Figuren. Sie treten in differenten kulturellen Kontexten ebenso auf wie in differenten dispositivischen Konstellationen. Comics, Romane, Fernsehserien, Kinofilme oder Videospiele sind mediale Formen, die ihnen als Plattformen dienen. Entgegen der bislang dominanten SuperheldenForschung wird sich dieser Beitrag daher weder auf das Mediendispositiv des Comics noch auf den Kulturraum konzentrieren. Stattdessen ist das ökonomische wie feuilletonistische Reüssieren von Superhelden-Filmen fokussiert, die spätestens mit der Spiderman-Trilogie (Sam Raimi, USA 2002-2007) zu normativierenden Referenztexten evolvieren. Als Schlüssel-Franchise fungiert die Trilogie als Impulsgeber für eine globale Entwicklung, die insbesondere im Feld des asiatischen Kinos nachhaltige Effekte zeitigt. Ob in Russland mit Chernaya Molniya (Dmitry Kiselyov, Aleksandr Voytinskiy, 2009), in Malaysia mit Cicak-man (Yusry Kru, 2006), in Thailand mit Mercury Man (Bhandit Thongdee, 2006) und

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Red Eagle (Wisit Sasanatieng, 2010), in Indien mit Krrish (Rakesh Roshan, 2006), Drona (Goldie Behl, 2008) und Ra.One (Anubhav Sinha, 2011) oder in Japan mit Zebraman (Takashi Miike, 2004), Ultraman (Kazuya Konaka, 2004) und Kamen Raidâ: The First (Takao Nagaishi, 2005), es lassen sich zahlreiche Paradigmen asiatischer Superhelden-Zyklen konstatieren, die auch jenseits USamerikanischer Bildpraktiken ihre eigene Signifikanz besitzen. Sie demonstrieren nicht weniger eindrücklich, was geschieht, wenn versucht wird, in der aufgeklärten und säkularisierten Moderne noch Mythen zu erzählen. Neben „Mythen des Alltags“1, die im Sinne von Roland Barthes ideologisch versuchen, die elementare Historizität von Sachverhalten durch eine postulierte Natürlichkeit zu kaschieren, ist es vor allem die populäre Kultur, die an die antike und mittelalterliche Tradition epischer Fiktionen anknüpft, um so neue Mythen zu generieren. Immer häufiger übernimmt hier gerade der Film nicht nur die Zweitverwertung mythologischer Stoffe aus anderen Medien, er erschafft vielmehr selbst moderne Mythologien. Ein zentraler Mythos, den die Populärkultur des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat, ist der Mythos des Superhelden. Bei einem Superhelden handelt es sich um eine fiktive Figur, die oft übermenschliche Fähigkeiten und/oder eine hochtechnologisierte Ausrüstung besitzt. Damit versucht sie, die Menschheit vor Übel zu beschützen und Böses zu bekämpfen. Dieser – letztlich vigilantistische – Kampf wird legitimiert durch die spezifischen Eigenschaften des Superhelden: Charakteristisch sind sein ausgeprägter Mut und edler Charakter, die ihn von der Amoralität seiner Feinde abheben. Um im Kampf zu reüssieren, halten Superhelden meist ihre wahre Alltagsidentität geheim, indem sie sich ein Pseudonym zulegen und sich während ihrer heroischen Aktionen kostümieren. Eine solche Definition des Superhelden kann transkulturelle Gültigkeit für sich beanspruchen. Auch jenseits der USA konturiert sie ihr Referenzobjekt. Im Rahmen einer Fallstudie werde ich mich im Folgenden auf Superhelden-Filme aus China fokussieren. Dies ist nicht nur den pragmatischen Gründen eines notwendigerweise begrenzten Umfangs wissenschaftlicher Aufsätze geschuldet, sondern soll sowohl erstens eine global immer dominantere nationale Kinematographie jenseits von ‚Hollywood‘ ins Bewusstsein rufen wie auch zweitens die in seiner Bildlichkeit spezifische Signifikanz des Mediums Films für das kulturelle Imaginäre berücksichtigen. Ferner wird der Blick nach China dort mit einer filmischen Superhelden-Mythologie konfrontiert, die auf basalste Weise hybrid funktioniert. Als Teil multipler „global cultural flows“2, also der transnational

1

Barthes 1964.

2

Appadurai 1990, 6.

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wirkmächtigen Diskurse und Praktiken kultureller Felder, entlehnt sie ihre Elemente differenten medialen wie kulturellen Kontexten, ohne dabei hierarchische Strukturen auszubilden. Aus heuristischer Perspektive kommt ihr somit das besondere Potential zu, Fragen nach der Medien- wie Kulturspezifik von Superhelden-Mythen kritisch auf den Prüfstein stellen zu lassen. Sie bildet auf verschiedenen Ebenen ‚unreine‘ Qualitäten aus, deren radikale Durchmischung von Medien und Kulturen noch immer eine Herausforderung für die wissenschaftliche Analyse und Theoriebildung darstellt. Seit wann existieren Superhelden in China? Superhelden treten medienhistorisch anfangs als Comicfiguren in Erscheinung, zuerst in den USA der 1930er Jahre, wobei als erste Superhelden-Figur der ikonisch gewordene ‚Superman‘ gelten kann. Diese Superhelden-Comics wurden zunächst nicht in China verlegt, und mit Gründung der Volksrepublik China anno 1949 ist eine Verbreitung dort praktisch unmöglich geworden. Wo die Comics aber zu dieser Zeit durchaus erhältlich sind, ist die Stadt Hongkong, wo seit 1843 die Briten als Kronkolonialmacht herrschen. Als sich Hongkong nun nach dem Zweiten Weltkrieg zur zentralen Filmmetropole nicht nur in China, sondern in ganz Südostasien entwickelt, erfährt auch der Superheld dort seine filmische Repräsentation. Dennoch entstehen Superhelden-Filme auch im kulturellen Spektrum von Hongkong erst relativ spät, nicht vor den 1990er Jahren. Zuvor sind eher Filme um einen spezifisch chinesischen Heldentypus populär, der starke mythologische Analogien zur Superhelden-Figur besitzt: die sog. wuxia-Geschichten.

Abb. 1: A Touch of Zen (HK 1971; King Hu)

Unter wuxia (wu = Kampfkunst, xia = Rittertum) versteht man eine traditionelle, bis ins neunte Jahrhundert vor Christus zurückreichende Narrationsform der chinesischen Literatur, welche von galanten Kriegern erzählt, die sich in einer fiktiven romantischen Welt (jiang hu) im Konflikt bewähren müssen. Die wuxia-Helden

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können in ihrem Kampf für Gerechtigkeit (yi) auf oft übermenschliche Fähigkeiten zurückgreifen. So ist es ihnen aufgrund ihrer Martial Arts-Kenntnisse (qinggong) möglich, über Wasser zu gleiten, Wände empor zu laufen oder über Bäume zu fliegen. Kinematographisch werden diese transhumanen Fähigkeiten seit Filmen wie A Touch of Zen (King Hu) durch wire work realisiert.3 [Abb. 1] Wuxia-Filme können in dieser phantastischen Dimension als Chinas frühe Respondenz auf die Superhelden-Filme der USA gelten: Menschen mit Superkräften kämpfen für das Gute und gegen das Böse.4

2. B RICOLAGE

UND

S IMULACRUM

Im (hongkong)chinesischen Superhelden-Kino werden ab den 1990er Jahren neben Rekursen auf die Tradition des wuxia vor allem Anlehnungen an die USamerikanische Comic-Historie prägend. Filme wie The Heroic Trio (Johnnie To, HK 1992) und dessen düsteres Sequel Executioners (Johnnie To, HK 1993) sowie Black Mask (Daniel Lee, HK 1996), Black Mask 2: City of Masks (Tsui Hark, HK/USA 2001), Silver Hawk (Jingle Ma, HK 2004), City Under Siege (Benny Chan, HK 2010) oder The Legend of the Fist: The Return of Chen Zhen (Andrew Lau, China/HK 2010) zeichnen sich alle durch ein Prinzip der „Bricolage“ aus. „Bricolage“ lässt sich in etwa mit „Bastelei“ übersetzen und geht als Begriff zurück auf die strukturalistische Ethnologie von Claude Lévi-Strauss. Lévi-Strauss bezeichnet damit einen Vorgang, der kulturelle Codes aus ihrem Sinnzusammenhang reißt und in einen anderen Kontext hineinzitiert, so dass ein neuer Sinnzusammenhang konstituiert wird: „Der Bastler ist in der Lage, eine große Anzahl verschiedenartigster Arbeiten auszuführen“, so Lévi-Strauss: „[D]ie Regel seines Spiels besteht immer darin, […] den Vorrat zu erneuern oder zu bereichern oder ihn mit den Überbleibseln, von früheren Konstruktionen oder Destruktionen zu versorgen.“5 Dieses Konzept der „Bricolage“ korreliert mit einer Strategie, die immer wieder mit dem Neuen Hongkong-Kino in Verbindung gebracht wird: Eklektizismus als Abkehr von der „Metaerzählung“.6 In seinem

3

Wire work bezeichnet eine Übersteigerung von realer Kampfkunst durch spezifische Drahtseiltechniken. Akteure werden dabei an Seilen durch den Raum manövriert, um ihren Bewegungen so übermenschliche Züge zu verleihen.

4

Zum wuxia-Komplex siehe Teo 2009.

5

Lévi-Strauss 1968, 30.

6

Siehe dazu den Überblick bei Lyotard 1990, 49-53.

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luziden Essay Postmodernism and Hong Kong Cinema (2000) vertritt der chinesische Kulturkritiker und Filmemacher Evans Chan die These, dass die Filmindustrie Hongkongs stets frei aus dem populären Kino Hollywoods zitiert habe, um so auf diese Weise ihren rasanten Output an Filmprodukten konstant halten zu können. Dieses Konzept sei ökonomisch ein großer Erfolg gewesen und habe gleichzeitig das Hongkong-Kino zu einem Paradigma postmoderner Medienkultur par excellence gemacht. Chan führt exemplarisch aus, Naked Killer (Clarence Ford, HK 1992) sei ein narratives Pastiche von Basic Instinct (Paul Verhoeven, USA 1991), wohingegen man es bei A Chinese Ghost Story (Ching, HK 1987) mit einem formalen Pastiche von Poltergeist (Tobe Hooper, USA 1982) zu tun habe. Solche Tendenzen lassen sich über Chans Überlegungen hinaus bis auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurückführen. Amerikanische Produktionsmethoden, Beleuchtungstechniken, Kadrierungsstandards und Continuity Regeln bestimmen seit der ‚klassischen‘ Studiozeit Hongkongs das kantonesische Kino. In den frühen 1970er Jahren, also gut eine Dekade bevor man in Hollywood und Frankreich angesichts von Produktionen wie One from the Heart (Francis Ford Coppola, USA 1982) oder La lune dans le canivaux (Beineix, Frankreich 1983) von einem Kino der Postmoderne spricht, kommt es zu einem ersten Höhepunkt der Pastiche-Ästhetik in Hongkong. So variiert etwa der Exploitation-Film Sexy Killer (Sun Chung, HK 1976) deutlich Plot und Figurenkonfiguration des Blaxploitation-Titels Coffy (Jack Hill, USA 1973), während beispielsweise die wuxiaAdaption The Water Margin (Chang Cheh, HK 1972) mit einem Italo-WesternScore aufwartet, der sich an Arbeiten von Ennio Morricone orientiert. Die postmodernen Elemente eines Pastiches liegen in ihrer speziellen Beziehung zwischen Original und Kopie: Die Kopie existiert tendenziell ohne das Original. Genau so verhält es sich mit den zu thematisierenden chinesischen Superhelden-Filmen. In Kontrast zu Red Eagle (Thailand) oder Ultraman (Japan) besitzen die kinematographischen Bilder kein spezifisches Vor-Bild. Filme wie The Heroic Trio, The Executioners, Black Mask, Black Mask 2: City of Masks, Silver Hawk, City Under Siege und Legend of the Fist: The Return of Chen Zhen zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine Vielzahl unterschiedlicher Referenztexte herbeizitieren. Sie speisen sich aus dem semiotischen Schatz einer popkulturellen Comic-Ikonographie, die die Grenzen vermeintlich abgeschlossener Mediendispositive wie Kulturräume transgrediert.

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Abb. 2: The Legend of the Fist: The Return of Chen Zhen (China/HK 2010; Andrew Lau)

Chen Zhen (Donnie Yen) in Legend of the Fist kehrt nach dem Zweiten Weltkrieg aus Europa zurück nach Shanghai, wo er Teil der chinesischen Widerstandsbewegung gegen die japanische Besatzung wird und als maskierter Kämpfer für Recht und Ordnung sorgt. Dabei verkleidet er sich, indem er eine schwarze Maske, einen schwarzen Anzug und eine schwarze Kappe trägt. [Abb. 2]. Er nutzt mithin eine ähnliche Verkleidung wie Black Mask. Dieser Superheld (gespielt von Jet Li in Teil Eins, von Andy On in Teil Zwei) arbeitet tagsüber als Bibliothekar, während er nachts auf seine durch Genmanipulation erworbenen Superkräfte wie fehlendes Schmerzempfinden und besondere Martial-ArtsFähigkeiten zurückgreift, um damit als maskierter Rächer die Unterwelt von Hongkong zu dezimieren. [Abb. 3]

Abb. 3: Black Mask 2: City of Masks (HK/USA 2001; Tsui Hark)

In City Under Siege wird der geistig zurückgebliebene Protagonist (Aaron Kwok) mit einem Virus infiziert, der ihn Superkräfte entwickeln lässt. Damit tritt er gegen eine Bande von Verbrechern an, die ebenfalls kontaminiert worden

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sind. Am Ende steht ein Showdown der Mutanten. Silver Hawk rückt eine reiche Millionenerbin (Michelle Yeoh) ins Zentrum, die ihre reichhaltige Freizeit dazu nutzt, als maskierte Vigilantin die Gesellschaft abermals vor kriminellen Bedrohungen zu beschützen. [Abb. 4]

Abb. 4+5: Silver Hawk (HK 2004; Jingle Ma), The Heroic Trio (HK 1992; Johnnie To)

The Heroic Trio und Executioners dagegen handeln bereits von drei weiblichen Superhelden. Masked Woman (Anita Mui) ist im bürgerlichen Leben Hausfrau und Gattin des Polizeichefs von Hongkong. Benötigt man im Kampf für Gerechtigkeit jedoch ihre Hilfe, steht sie ihrem Ehemann oft inkognito als maskierte Amazone zur Seite. Thief Catcher (Maggie Cheung) verdingt sich als Kopfgeldjägerin und geht als Schrotflinte schwingende Motorradbraut gegen Gangster und Dämonen vor. Als dritte im Bunde des heroischen Trios macht Invisible Girl (Michelle Yeoh) ihrem Namen alle Ehre. Sie verfügt über außergewöhnliche Kung Fu-Kenntnisse und besitzt durch einen Tarnumhang die Fähigkeit, sich temporär unsichtbar zu machen. [Abb. 5] Von Batman (in Silver Hawk) über Green Hornet/Kato und Iron Fist (in Black Mask, Black Mask 2: City of Masks sowie Legend of the Fist: The Return of Chen Zhen), über die X-Men und Hulk (in City Under Siege) bis hin zu Wonder Woman, Black Widow und die Fantastic Four (in The Heroic Trio sowie Executioners) reicht das figurale Referenzmaterial an zitierten Superhelden. Damit können chinesische Superhelden-Filme als ein Simulacrum der amerikanischen Vorbilder angesehen werden. Das Simulacrum nimmt aus poststrukturalistischer Perspektive bekanntlich eine Liquidierung aller Referenten bzw. ihre künstliche Reanimation in neuen Zeichensystemen vor. Jean Baudrillard hat zu dieser Simulation in einer berühmt gewordenen Passage angemerkt: „In Wirklichkeit ist das große Medium das Modell. Das Mediatisierte ist nicht das, was durch die Presse, über das Fernsehen und das Radio läuft – sondern das, was von der Zeichen/Form mit Beschlag belegt, als Modell artikuliert und vom Code re-

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guliert wird.“7 Mediale Differenzen können demnach nur noch simuliert werden. Genau dieser Simulationsprozess ist zentral für die Superhelden-Filme aus China/Hongkong. Als postmodernes Pastiche reorganisieren sie kulturelle Fragmente, ohne besondere Rücksicht zu nehmen auf deren originäre Bedeutungen und Kontexte. So entstehen neue Formen, die an der Oberfläche noch Spuren früherer Fragmente besitzen, aber nicht mehr notwendigerweise Verbindungen zu einer bestimmten Quelle aufweisen. Intertextuelle Beziehungen werden auf diese Weise vom Zitat zum Stil. Dieser Stil ist nicht nur als spezifische Eigenart des (hongkong)chinesischen Superhelden-Films, sondern, im Sinne von Fredric Jameson, durchaus auch als komplexe „kulturelle Dominante“ zu begreifen: „eine Konzeption, die es ermöglicht, die Präsenz und die Koexistenz eines Spektrums ganz verschiedener, jedoch einer bestimmten Dominanz untergeordneter Elemente zu erfassen“8. Unter der Dominanz von Superhelden-Figuren bilden sich somit Cluster von hybriden Mythologemen aus, die durch Praktiken der Bricolage und Simulation entstehen.

3. D IGITALISIERUNG UND G LOBALISIERUNG Die ästhetische Qualität des Superhelden-Films aus China/Hongkong liegt neben seiner narrativen wie formalen Pastiche-Techniken primär in einer Ökonomie der Geschwindigkeit begründet. Ein rasantes Erzähltempo, furiose Bewegungen der Schauspieler, eine hochfrequente Montagefolge sowie permanente Zeit- und Ortswechsel konstituieren sein spezifisches Erscheinungsbild. Während dabei The Heroic Trio und Executioners mit wire work, dynamischen Kamerafahrten und schnellen Schnitten zwischen Großaufnahmen und Halbnahen noch eher dem New Wave Cinema der 1980er Jahre verhaftet sind, gehören die Produktionsvoraussetzungen und Formen, welche Black Mask zum Teil und Black Mask 2: City of Masks, Silver Hawk, City Under Siege sowie Legend of the Fist: The Return of Chen Zhen im Besonderen prägen, zu einer neuen Ästhetik, die auf digitalem Compositing basiert. Lev Manovich9 versteht das Digital Compositing bekanntlich als eine Möglichkeit der nahtlosen Kontrolle über disparate visuelle Effekte, die zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten generiert worden sind. Diese

7

Baudrillard 2002, 280.

8

Jameson 1986, 48.

9

Manovich 2001.

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Kontrolle erlaube eine Koordination der Effekte dahingehend, dass die Wahrnehmung ihrer Disparität vom Zuschauerstandpunkt aus nicht mehr möglich sei. Analog zur Avantgarde des Kubismus, welche mit zentralperspektivisch organisierten Bildräumen breche und dem Betrachter jede fixierte Position verweigere, offenbare das digitale Compositing dem Rezipienten einen Raum an Informationen, der sich über Schichtungen und Interferenzen definiere. Für Manovich liegt die kulturelle wie politische Signifikanz des Digital Compositings nicht nur in der oftmals bizarren und widersprüchlichen Mischung aus Realismus und Illusion, sondern auch in der Methodik, wie diese neuartigen post-photographischen Bilder produziert werden. Die Arbeit der Kamera wird in vielen Fällen dem Compositor übertragen, der am Rechner mittels Schnittprogramm einzelne Sequenzen zusammenfügt. Auf diese Weise ist die kinematographische Einstellung extrem formbar, bis hin zur grundlegenden formalen Komposition eines jeden einzelnen visuellen Elements. Das Kino wird zur Software. Der größte Markt für digitales Compositing findet sich transnational im Kino der Attraktionen und ganz besonders in aktuellen Superhelden-Filmen. Dort wird Digital Compositing verstärkt mit wire work kombiniert: „two characteristics seem to define state-of-the-art action films – the supremacy of digital special effects and […] the ,Hong-Kongification of American Cinema‘“10. Diese ,Hongkongifizierung‘ lässt sich mit Darrell Y. Hamamoto durchaus als problematische Form einer orientalistischen Asiaphilie beschreiben: „a deceptively benign ideological construct that naturalises and justifies the systematic appropriation of cultural property and expressive forms created by Yellow people“11. Ehemalige Peking Oper-Darsteller und Experten des Drahtseil-Kung Fu (wire fu) wie Ching Siu-tung (The Heroic Trio, Executioners), Yuen Woo-ping (Black Mask, Black Mask 2: City of Masks, Silver Hawk), Chung Chi-li (City Under Siege) und Donnie Yen (Legend of the Fist: The Return of Chen Zhen) arbeiten inzwischen auch in Hollywood. Durch den Einsatz digitalen Compositings und wire fu-Choreographie von hongkongchinesischen Fachkräften ist es nun möglich, Martial-Arts-unkundige US-Stars ebenfalls zu transhumanen Kampfkünstlern zu stilisieren. Die vergleichsweise ‚realistischen‘ Konventionen des amerikanischen Martial-Arts-Films, paradigmatisch vertreten in Bloodsport (Newt Arnold, USA 1988) oder Kickboxer (Mark DiSalle, USA 1989), sehen sich im Schwinden begriffen. Aus dem „blend of two-or-three-step sparring drills and barroom-brawl tactics“12 etwa der ikonischen Jean-Claude Van Damme-Filme

10 Hunt 2004, 269. 11 Hamamoto 2000, 12. 12 Reid 1993, 32.

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wird durch wire fu eine Beschleunigung der Bewegungen entgegen aller terrestrischen wie gravitalen Gesetze lanciert. Die Ästhetik des Hongkong-Kinos ist dabei jedoch im Prozess der Aneignung signifikant transformiert. Sowohl Yuen Woo-pings Inszenierung der Actionszenen in The Matrix (Andy Wachowski/ Larry Wachowski, USA 1999) oder Kill Bill (Quentin Tarantino, USA 2003), sowohl Ching Siu-tungs Arbeit an Belly of the Beast (Kanada/Großbritannien/ HK 2003) und In the Name of the King: A Dungeon Siege Tale (Uwe Boll, USA/Kanada/Deutschland 2007) als auch Donnie Yens Choreographien von Highlander: Endgame (USA 2000; Douglas Aarniokoski) und Blade II (Guillermo del Toro, USA/Deutschland 2002) definiert sich über drei Prinzipien: a) das Selbstzitat eigener Filme aus Hongkong b) die gleichzeitige Abmilderung von deren Expressivität und c) das Primat von digitalen Effekten in der Postproduktion gegenüber einer on-set-Technologie wie wire work. Für das US-amerikanische Superhelden-Kino erweisen sich diese Strategien als zentral. Sie erlauben den Einsatz einer transnationalen Ästhetik bei gleichzeitiger Wahrung von lokalen kulturellen Traditionen. Superhelden-Filme wie XMen (Bryan Singer, USA 2000) oder Daredevil (Mark Steven Johnson, USA 2003) sind von Corey Yuen (Fong Sai-yuk, HK 1993) respektive Yuen Woopings Bruder Yuen Cheung-yan (Tai-Chi, HK 1993) im Stil des Neuen Hongkong-Kinos choreographiert, desavouieren aber nicht vollständig die ästhetischen Wurzeln ihrer amerikanischen Comic-Vorlagen. „Cyber-Fu“13 löst ein traditionelles wire fu ab. Den Preis für diesen Austausch zwischen ‚Ost‘ und ‚West‘ haben beide zu zahlen. Während die Filmindustrie Hongkongs an einem Mangel von Talenten leidet, hat Hollywood die ‚Identität‘ seines classical style verloren. Obwohl Hollywood – abgesehen von der Übernahme Columbias durch Sony und Universals durch Vivendi – nicht globalisiert ist, liegen seine zukünftigen Märkte wie Drehorte im Ausland. Das Hongkong-Kino erweist sich für Hollywood als eine zentrale Brücke gegen diese Entwicklung, indem es ihm ermöglicht, den Anschein einer US-amerikanischen Exklusivität abzulegen. Hongkongs Kinoindustrie hat dasselbe Problem für sich bereits Jahre zuvor erkannt – die Produktion Zu: Warriors from the Magic Mountain (Tsui Hark, HK 1983) markiert schon Mitte der 1980er Jahre den Paradigmenwechsel, indem der Film sowohl USPersonal als auch digitale Spezialeffekte mit wuxia-Traditionen hybridisiert.14 [Abb. 6]

13 Hunt 2004, 278. 14 Zu Zu: Warriors from the Magic Mountain siehe ausführlich Schroeder 2004.

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Abb. 6: Zu: Warriors from the Magic Mountain (HK 1983; Tsui Hark)

Seit Zu: Warriors from the Magic Mountain findet eine rege Zusammenarbeit zwischen Hongkong und Hollywood statt. Zunächst erstreckt sich diese Zusammenarbeit lediglich auf den Austausch von Technologien und Know-how im Produktionsprozess, bis es schließlich zu einem Austausch von narrativen Formen, Stil und letztlich Personal kommt. Denn viele von Hongkongs führenden Talenten – Regisseure (John Woo, Ringo Lam, Ronny Yu, Stanley Tong, Kirk Wong) wie Schauspieler (Chow Yun-fat, Jackie Chan, Jet Li, Sammo Hung, Michelle Yeoh) – entscheiden sich 1997 nach dem Rückfall der britischen Kronkolonie an China und angesichts der großen Börsenkrise Asiens aus finanziellen Gründen nach Amerika zu emigrieren. Die letzten Jahre lassen sich als eine kongruente Entwicklung bis hin zur Assimilation von Hongkong und Hollywood beschreiben: „Für den Westen hat [die] visuelle Sprache im Hongkong-Film, das enorme Schnitttempo und die flinken Bewegungen der Darsteller […] lange Jahre Leseschwierigkeiten produziert. Erst in den neunziger Jahren schraubten viele Regisseure ihr Erzähltempo, die Länge und Abfolge einzelner Szenen, die Art des Handlungsgefüges, die Zahl und Frequenz von Zeit- und Ortswechseln, herunter und machten […] Zugeständnisse an westliche Sehgewohnheiten.“15 Als Ergebnis ihrer parallelen Entwicklungen haben sowohl Hollywood als auch Hongkong begonnen, die Idee nationaler Kinematographien zu desavouieren und Assemblagen auszubilden, in dem die USA nur noch einen Souverän unter vielen darstellen. Dabei fungiert insbesondere die Medienkultur der Superhelden heute als ästhetischer Knotenpunkt in einem globalen Netzwerk ökonomischen wie kulturellen Austauschs.

15 Rehling 2002, 50.

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Sie ist ein Symptom dessen geworden, was Michael Hardt und Antonio Negri die post-postmoderne Kondition nennen: infinite Zirkulation von Kapital, Information und Bildern. Nach dem Kollaps der Sowjetunion durchläuft Herrschaft aus ihrer postmarxistischen Perspektive eine permanente Durchmischung von Macht und Kultur, die „Grenzen nationaler Souveränität sind durchlässig wie ein Sieb, und jeder Versuch, die Migrationsbewegungen […] zu regulieren, scheitert“16. Die Entwicklung gehe weg von imaginierter Gemeinschaft, wie sie noch Benedict Anderson definiert hat: als „imagined political community“17. An die Stelle des Nationalstaates sei eine neue transnationale Ordnung getreten, wobei nach Negri und Hardt dem Imaginären, d.h. dem Raum der Fantasien und Fiktionen entscheidende Funktion zukommt. Während alte Herrschaftsformen, verkörpert durch Nation und europäische Kolonialmacht, stets Grenzen markiert hätten, gedeihe die Hegemonie des Empire in permanenter Bewegung. Herrschaft werde in ein dynamisches Modell von Kommunikation transponiert, das kulturelle Praktiken durch Produktion immanenter transnationaler Systeme neu definiere. Die globale Medienkultur der Superhelden reagiert auf die ökonomischen Entwicklungen der Transnationalisierung, indem es den globalisierten medienkulturellen Flüssen folgt. Ästhetischer Effekt sind Medientexte globaler Hybridität: zwischen Eigenheit und Exteriorität, Autoaffirmation und Fremdbezug, Identität und Alterität. Hollywood- und Hongkong-Kino werden so als Differenzkategorie obsolet, wie bereits Ackbar Abbas angemerkt hat: „East and West are overcome and discredited as separate notions, and another space or a space of otherness is introduced“18. Superhelden-Mythologien evolvieren zu transkulturellen Texten, die für eine globale Gemeinschaft re-imaginiert sind. Die Figur des Superhelden fungiert mithin als Signifikant kultureller Differenz, an dem in einem infiniten Zwischenraum transnationaler Kultur lokale Identität und globale Alterität neu verhandelt werden. Ihr ist es, im Sinne von Homi Bhabha, zu tun um die „Konzeptualisierung einer internationalen Kultur, die nicht auf der Exotik des Multikulturalismus oder der Diversität der Kulturen, sondern auf der Einschreibung und Artikulation der Hybridität von Kultur beruht“19. Die reziproke Durchdringung der reisenden Bilder und Töne macht eine klare Separation von Fremdem und Eigenem, ‚Osten‘ und ‚Westen‘ unmöglich. Eine generische wie kulturelle Grenzen durchbrechende Öffnung artikuliert sich, deren hybrider Charakter ebenso liminale wie polyphone Qualität besitzt.

16 Hardt/Negri 2002, 255. 17 Anderson 1991, 6. 18 Abbas 1996, 300. 19 Bhabha 2002, 58.

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Abb. 7: Silver Hawk (HK 2004; Jingle Ma)

Die ‚Vielstimmigkeit‘ von Superhelden-Figuren wie Black Mask oder Silver Hawk [Abb. 7] liegt eben darin begründet, dass im transnationalen kulturellen Dialog unterschiedliche Elemente von Lokalem und Globalem miteinander verschmelzen, ohne aber einfach ineinander aufzugehen. Vielmehr ist ein dynamischer Prozess der Begegnung initiiert, an dem bipolare Strukturen zerbrechen müssen. Anstatt kulturelle Essentialismen zu postulieren, konstituieren Superhelden-Mythen ein unverschmolzenes Patchwork verschiedenster Einflüsse, das gerade durch seine axiomatische Heterogenität besticht.

Abb. 8: Fist of Fury (HK 1972; Lo Wei)

Insbesondere Legend of the Fist: The Return of Chen Zhen zeugt von diesem ‚dritten‘ Raum. Auf der einen Seite verfolgt der Film, co-produziert von China und Hongkong, überdeutlich ein nationalistisches Projekt. Legend of the Fist: The Return of Chen Zhen ist ein Sequel zu dem Martial Arts-Klassiker Fist of Fury (Lo Wie, HK 1972) mit Bruce Lee in der Rolle des Chen Zhen. [Abb. 8] Fist of Fury besitzt anders als Legend of the Fist: The Return of Chen Zhen noch

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keine Superhelden-Elemente, es handelt sich um einen traditionellen Martial Arts-Film, der filmhistorisch besonders interessant ist, weil er durch den Verzicht auf phantastische Elemente zu Beginn der 1970er Jahre einen neuen Zyklus an Kung Fu-Produktionen im Hongkong-Kino initiiert. Fist of Fury spielt in Shanghai, Anfang des 20. Jahrhunderts, als China erstmals von der kaiserlichen japanischen Armee okkupiert ist, nachdem es 1895 zur Niederlage gegen Japan im Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg gekommen war. Erzählt wird vom Konflikt zweier Kampfsportschulen, einer chinesischen und einer japanischen. Bruce Lee freilich spielt den aufrechten Chinesen, der herausfindet, dass die Japaner seinen Meister ermordet haben. Er rächt sich an den Schuldigen und wird dadurch schließlich zu einem chinesischen Volkshelden. Fist of Fury endet damit, dass Chen Zhen von der japanischen Armee erschossen wird und so zum chinesischen Martyrer evolviert. In Legend of the Fist: The Return of Chen Zhen kommt es dennoch zur Rückkehr dieses Chen Zhen, wie der Untertitel des Films ja bereits expliziert. Seine Legende scheint also stärker zu sein als biologische Gesetze, kann sie doch selbst Tote wieder lebendig machen. Sicherlich wäre dies als ein Zeichen für das Potential des Kinos als postmoderner Mythengenerator zu lesen: Es schafft und reanimiert seine Legenden nach Belieben, es vermag selbst den Tod zu besiegen. Legend of the Fist: The Return of Chen Zhen operiert dabei durchaus sehr selbstreflexiv. Natürlich ist es kein Zufall, dass der Protagonist sich seine Verkleidung als Superheld aus dem Schaukasten eines Kinos besorgt, er sich also an einem filmischen Vorbild orientiert und sein Superhelden-Alter-Ego geradewegs aus dem Kino zu kommen scheint. Genau dies scheint der entscheidende Punkt: Im Film wird betont, dass er eine künstliche Figur ist, eine Legende. Und diese Legende ist vor allem ein Kinomythos: der Mythos, den Bruce Lee einst gestiftet hat. Das Entscheidende an Chen Zhens Kostüm ist dann auch die Ähnlichkeit, die es nicht nur mit Batman und nicht nur mit Black Mask besitzt, sondern vor allem mit dem Kostüm eines weiteren Filmcharakters, den ebenfalls Bruce Lee verkörpert hat: die Verkleidung des Kato aus der Fernsehserie The Green Hornet (USA 1966-1967). [Abb. 9]

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Abb. 9+10: The Legend of the Fist: The Return of Chen Zhen (China/HK 2010; Andrew Lau)

Wie Fist of Fury ist auch Legend of the Fist: The Return of Chen Zhen stark von anti-japanischen Ressentiments bestimmt. Ergänzt werden diese durch eine extreme Glorifizierung des chinesischen Protagonisten, der im Besiegen von dutzenden Gegnern tatsächlich mit Superkräften ausgestattet zu sein scheint. Signifikant ist dabei, dass er im Showdown plötzlich nicht mehr maskiert auftritt und schließlich sogar seine Oberkörperbekleidung ablegt. Natürlich ist auch das wieder ein Bruce Lee-Zitat, zugleich wird Chens Körper aber so zum mythischen Körper stilisiert: dem Körper Chinas. Zweifelsohne ließe sich der Showdown als nationale, ja nationalistische Allegorie lesen: Es geht darum, wie China von Japan zunächst besiegt und malträtiert wird, um dann wie der Phoenix aus der Asche sich zu rekonstituieren – eben die Geschichte Chinas nach dem Zweiten Weltkrieg, die Geschichte einer Nation, die sich nach traumatischen Ereignissen neu erschafft als sozialistische Weltmacht. Chen Zhens ebenso muskelbepackter wie drahtiger und wendiger Körper würde aus dieser Perspektive zum Signifikanten einer nationalen Identität, die sich gerade durch ihre Leidensfähigkeit auszeichnet, aber eben auch durch Dynamik und Anpassungsfähigkeit, die beide heute so wichtig sind für ein China, das in einer globalisierten Welt bestehen möchte. [Abb. 10] Die Ästhetik von Legend of the Fist: The Return of Chen Zhen trägt dieser Globalisierung deutlich Rechnung. Sie orientiert sich wie schon The Heroic Trio, Executioners, Black Mask, Black Mask 2: City of Masks, Silver Hawk und City Under Siege am Paradigma des frühen transnationalen Films Zu: Warriors from the Magic Mountain. Dabei wird ein kinematographischer Illusionsraum entworfen, der sich auszeichnet durch a) flexible Körperlichkeit b) exzessive Geschwindigkeit c) entfesselte Kamera d) virtuelle Dreidimensionalität und e) konstante visuelle Veränderung. Klassische Martial-Arts-Choreographie und digitale Spezialeffekte schließen sich hier mitnichten aus, ergänzen sich vielmehr. Indem

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erstere fließende Körperbewegungen durch den Raum ermöglicht und letztgenannte den Raum selbst flexibel machen kann, entsteht eine bemerkenswerte filmische Dynamik. Das digitale Compositing der Bilder macht es möglich, jedes beliebige Stadium einer Sequenz flüssig ohne Zeichen von Fragmentierung mit einem anderen Stadium zu verbinden. Es entsteht eine Illusion von Kontinuität, wie sie in der Geschichte des Kinos zuvor ungekannt ist. Furiose Kamerabewegungen etablieren eine Illusion von Dreidimensionalität, während die visuelle Perspektive in den computeranimierten Sets und Effekten abstrahiert wird. Dadurch entsteht der Schwindel erregende Eindruck eines freien Falls, welcher den Zuschauer zusammen mit den visuellen Ankern der kinematographischen Einstellung entwurzelt. Eine Simultaneität disparater Raumschichtungen löst in Filmen von Silver Hawk bis City Under Siege traditionelle Wahrnehmungsschemata auf. [Abb. 11+12]

Abb. 11+12: Silver Hawk (HK 2004; Jingle Ma), City Under Siege (HK 2010; Benny Chan)

Die sich so konstituierende Desorientierung lässt diese Filme zweifelsohne als allegorischen Kommentar zur post-postmodernen Kondition des Empire erscheinen. Wo das Empire daran arbeitet, Herrschaft in ein dynamisches Modell von Kommunikation zu transponieren, stiften Superhelden-Filme einen virtuellen Bilderfluss von ungemeiner Schnelligkeit, der sehr stark an das Modell erinnert, welches Paul Virilio als Echtzeit klassifiziert hat: „Die […] ausgelöste Revolution beschränkt sich nicht auf die bloße Beschleunigung der Informationsübertragung; sie bietet zugleich eine völlig neue Weltanschauung, einen völlig neuen Zugang zur Welt, die künftig durch ein neues, indirektes Licht erhellt wird.“20 Silver Hawk, City Under Siege und Legend of the Fist: The Return of Chen Zhen verschmelzen wire work, digitales Compositing, analoge Kamerafahrten und hyperkinetische Montage zu einer Vision von Transnationalität, in dem sich Abbas’ „space of otherness“ als globalisierter Superhelden-Film artikuliert. Nicht nur

20 Virilio 1993, 12.

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die Dichotomie von Technologie vs. Körper greift hier nicht mehr. Auch die binären Kategorien von Ost und West erweisen sich als obsolet. An ihre Stelle tritt ein hybrides Interface von Globalität und Lokalität, zu dessen medienkultureller Signifikanz hier einige Gedanken angeführt worden sind.

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Aneignungen/Transformationen

Die Natur, der Mensch und das Ende Spekulative Weltentwürfe des Apokalyptischen im Film T HOMAS W ILKE „Was ist der Tod gegen die Gefahr?“ HEINER MÜLLER/ TRAUMTEXTE „There's six million ways to die but only one to live“. NINE, MAKE OR TAKE, PROFILE REC. 1995, PROFT 451

1. E INLEITUNG In der medialen Alltagserfahrung findet spätestens seit H. G. Wells spektakulären War of the world ein fortwährender Gewöhnungsprozess an Weltuntergangsszenarien und Bedrohungskulissen statt. Die Fiktion nähert sich heute dank digitaler Effekte und Computersimulationen in ihrer audiovisuellen und narrativen Überzeugungskraft einem durchaus akzeptablen Realitätseindruck. Und bleibt gleichwohl in ihrer Substanz spekulativ. Denn: wer war schon bei einem Weltuntergang zugegen und reklamiert Zeugenschaft? Einige solcher aktuell verfügbaren Szenarien stimmen skeptisch, einige nachdenklich, viele lassen sich jedoch genussvoll im Kinosessel rezipieren. Gerade dort wird eindrucksvoll vorgeführt, dass es in der offerierten Hoffnungslosigkeit stets jemanden gibt, der Bescheid weiß, der eine Lösung findet, der weiß, was zu tun ist und der eindringlich vermitteln kann, dass es kein Aufgeben, sondern ein ,Danach‘ gibt. Es wird zwar schlimm, ziemlich schlimm, aber nicht so schlimm, dass jetzt ernsthaft etwas geändert werden müsste. Bei audiovisuellen, fiktionalen Endzeitszenarien drängt sich die Frage nach der Perspektive auf: Ist es eine bange Sicht auf die

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Zukunft, auf das realitätsnahe Ungewisse, auf das, was kommt, ohne dass man weiß, was das ist? Auf den Einzelnen bezogen: Wer ist wogegen und womit gewappnet? Das ist voraussetzungsreich: Wer überlebt unter welchen Bedingungen mit welchen Folgen und was hat er zu bieten, dass das Überleben gesichert ist? Strom? Wasser? Lebensmittel? Waffen? Wem Vertrauen? Und schließlich mit Blick auf die Zukunft: Wer räumt das alles wieder auf? Wer schafft Ordnung? Der Angstdiskurs lässt grüßen. Steht eine solche spekulative Kulisse in einer Relation zu den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen? Es sind keinesfalls neue Fragen nach Deutungshoheit und diskursiver Weltkonstruktionen – ob religiös, kulturell, politisch oder ökonomisch. Sie wiederholen sich stetig in unterschiedlicher Intensität und Variation und zählen so zu einem spekulativen Rhetorikrepertoire einer Gesellschaft. Im Folgenden widme ich mich aus einer medienkulturwissenschaftlichen Perspektive einer Auswahl von Filmen Roland Emmerichs, die nach amerikanischer Blockbustermanier auf die spekulative Frage „Was wäre, wenn ...?“ ein affizierendes Unterhaltungsangebot machen. Der Blick richtet sich auf die thematische Verdichtung und die Verwendung apokalyptischer Motive, spekulative Szenarien und deren sichtbare Konsequenzen. Beispielhaft wird das anhand von folgenden fünf Filmen diskutiert: Independence Day (1996), Godzilla (1998), 2012 (2009), The Day after Tomorrow (2010) sowie White House Down (2013). Sie stehen pars pro toto für eine große Zahl an ähnlich gelagerten Filmen aus den sich zum Teil überlagernden Genres Action, Abenteuer, Thriller und Science Fiction. Neben dieser Stellvertreterfunktion finden sich – ganz offensichtlich und konventionalisiert – strukturelle Ähnlichkeiten in der Narration, Dramaturgie, Konfliktgestaltung und der Lösung. Es werden konkrete audiovisuelle Weltuntergangs- und Bedrohungsszenarien sowie deren unmittelbare Konsequenzen als spekulative Realisierung, mithin als spektakuläres Ergebnis eines Spekulierens innerhalb eines fixen Filmrahmens problematisiert. Handlungsleitend ist die Annahme, dass sich Roland Emmerich in seinen Filmen überwiegend christlicher bzw. christlich geprägter Apokalypsemotive bedient. Diese sind als tradierte Diskursfragmente präsent, kulturell anschlussfähig und für das Publikum sofort verständlich. Denn das Christentum ist die einzige Religion, die ihre teleologisch gefasste Heilserwartung über das Jüngste Gericht apokalyptisch transzendiert. Zu Beginn steht eine knappe Auseinandersetzung mit biblischen Textvorgaben der Apokalypse(n), um im Anschluss den spekulativen Gehalt der konfligierenden Beziehungen sowie auf den Zerstörungsszenarien in den filmischen Weltentwürfen Emmerichs zu diskutieren. Welche Lösungen werden angeboten, von den Protagonisten gesucht und wie verändern sich gesellschaftliche sowie kommunikative Ordnungen.

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2. APOKALYPTISCHE V ORSTELLUNGEN UND IHRE TEXTLICHEN N IEDERLEGUNGEN Frühjüdische und urchristliche transzendierte Heilserwartungen finden sich als textliche Hinterlassenschaften seit der Antike und werden von der Forschung in ihrer Verschriftlichung hauptsächlich auf den Zeitraum zwischen 200 vor Christus bis 100 nach Christus datiert.1 Sowohl Hintergründe, religiöse Gruppierungen als auch Entstehungsorte divergieren. Die in sich variierenden apokalyptischen Texte beziehen sich alle auf zukünftige Ereignisse, deren Eintreten am Ende einer bestimmten Weltperiode erwartet wird. Das schließt den Gedanken an eine Heilserwartung in der Zukunft ein und es entwickelt sich über das „Gericht Gottes“ als einer unumkehrbaren Zäsur die Vorstellung von zwei Weltzeiten bzw. zwei Äonen: Die Erste ist eine irdische, die sich dem Ende neigt, der eine Zweite noch ausstehende folgt und in der sich die Heilskraft Gottes offenbart.2 Klar konturierte apokalyptische Auffassungen sind durch die Bücher der Propheten Jesaja, Baruch, Joel und Ezechiel überliefert. Dafür einige Beispiele: Der Prophet Ezechiel berichtet, dass Jahwe über die Berge Edoms komme, denn dieser hätte sich gegen das Haus Israel „durch Blut versündigt“ (Ez 35, 6) und Jahwe würde nun alles in „Wüste und Einöde“ sowie die Städte in Ruinen verwandeln (Ez 35, 4). An dem Tag jedoch, an dem der Herr jedoch das Haus Israel von seinen „Schulden reinige“, würden die Städte wieder bevölkert, die Ruinen wieder aufgebaut und „das verwüstete Land“ wieder angebaut werden (Ez 36, 33, 34), auf dass man danach sagen könne: „Dieses verwüstete Land ist wie der Garten Eden geworden“ (Ez 36, 35). Gog, der König von Magog, kommt „vom äußersten Norden“ und wird „wie eine Wetterwolke heraufziehen, um das Land zu bedecken“ (Ez 38, 15, 16). An diesem Tag lässt der Zorn Jahwes „ein großes

1

So beispielsweise das kanonische Danielbuch, die Johannesoffenbarung oder das 4. Esrabuch, das Martyrium des Jesaja, das im zweiten Teil von der Himmelfahrt des Propheten Jesaja berichtet. Ebenso zählen die Sybillinischen Bücher dazu, unzusammenhängende und auf die jeweilige Situation bezogene Texte, die ein künftiges Weltgericht ankündigten und sich für einen monotheistischen Glauben aussprachen. Vgl. hierzu ausführlich Termolen 1999, 26 f. Nach dem Auffinden des äthiopischen Henochbuches 1773 kamen weitere apokalyptische Texte hinzu, wie die Himmelfahrt des Moses, die syrische Baruchapokalypse, der slavische Henoch, die Apokalypse des Eliae und Abraham sowie die Petrusoffenbarung.

2

Zur Diskrepanz in der sprachlichen Vorstellung von Zeit zwischen dem Griechischen (Zeit als Funktion von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) und dem Lateinischen (Zeit als modale Handlung der Vollendung bzw. Unvollendung) vgl. Derrida 2012, 58.

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Beben über das Land Israel kommen“, „die Berge werden umgerissen, die Felsen stürzen ein, und alle Mauern fallen zu Boden“ (Ez 38, 19, 20). Damit nicht genug: Jahwe „werde mit ihm ins Gericht gehen durch Pest und Blut und Regenstürze und Hagelsteine; Feuer und Schwefel will ich regnen lassen“ (Ez 38, 22). Spekulieren lässt sich über den Erlebnishintergrund derartiger apokalyptischer Szenarien, die jedoch gleichsam klar konturiert sind. Die Apokalypse im Sinne der Apokalyptik hat die ganze irdische Welt und darüber hinaus auch das Jenseits zum Gegenstand und weniger das ‚Ende der Geschichte‘, wie es die Eschatologie formuliert. Sie bewegt sich zwar zumeist in einem eschatologischen Rahmen, bezieht sich jedoch konkret auf den Ablauf der letzten Tage mit Blick auf die gesamte Welt. Der Begriff der Apokalypse als Offenbarung oder Enthüllung findet sich erstmals in der neutestamentarischen Johannesoffenbarung, die zugleich die jüngste ist und darauf verweist, dass etwas vorher Verborgenes zutage tritt: „Apokalyptische Schriften der jüdischchristlichen Antike sollten wehrlose Unterdrückte ermutigen, indem sie aufdeckten, was in der Geschichte meist verhüllt ist: Gewalttätige Mächte gehen unweigerlich ihrem Ende entgegen.“3 Das ‚Prinzip Hoffnung‘ tritt erst durch die Schilderung dessen, was passiert, in Erscheinung und wird in seiner Offenheit handlungsleitend. Der Korpus der verschiedenen apokalyptischen Texte weist inhaltliche Gemeinsamkeiten auf, so dass trotz innermotivischer Variationen von einem übergeordneten Motiv der Apokalypse gesprochen werden kann. Dieser inhaltliche Kern wird im religionswissenschaftlichen Diskurs durchaus konsensuell diskutiert.4 So ist die Apokalypse in Abgrenzung von einem alltagssprachlichen Gebrauch die Offenbarung eines Geschehens, das sich auf das Schicksal der ganzen Welt bezieht und bis zu einem bestimmten Zeitpunkt für diese verborgen war. Es gibt einen Träger der Offenbarung, der mittels Visionen oder Auditionen in die Zukunft sieht und damit die ‚letzten Tage‘ voraussieht. Diese bleiben jedoch unbestimmt. In der Grundstruktur der Offenbarung oder der Apokalypse stecken seit der Antike die Urfragen menschlichen Handelns: In welcher Balance befinden sich die Kräfte der Natur, des Kosmos, des Menschen? Zu welchen Konsequenzen führt menschliches Handeln? Welche Opfer müssen gebracht werden? Wer führt und übernimmt Verantwortung? Diese Fragen bleiben in der jeweiligen Gegenwart spekulativ, sie speisen sich aus den Mythen, Geschichten, Epen der Vergangenheit, um situativ entschieden zu werden. Innerhalb einer religiös geprägten Ordnung ist die Aufteilung zwischen Sender und Empfänger klar ge-

3

Ohler 2006, 101.

4

Vgl. Hahn 1991/Vielhauer 1997/Termolen 1999.

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regelt; diese verliert im westeuropäischen Prozess der Säkularisierung ihre Stabilität. In diesem Auflösungsprozess werden religiöse Inhalte zu Bestandteilen medialer Artefakte, die in einem populärkulturellen Zusammenhang konsumfähig und damit unterhaltsam werden. Die Apokalypse verliert sich in der Apokalypse: In diesem Fall, wenn die Apokalypse offenbart, dann ist sie zuvor Offenbarung der Apokalypse, das heißt Selbst-Darstellung [autoprésentation] der apokalyptischen Struktur der Sprache, der Schrift, der Erfahrung der Präsenz, sei es des Textes, oder der Markierung im Allgemeinen: das heißt der teilbaren Sendung, für die es weder gesicherte Selbst-Darstellung noch Bestimmung gibt.5

Keine Erschütterung mehr und keine Einschüchterung, nur noch eine hohle, schaurig-kitzelnde, konsequenzlose und auf sich selbst reduzierte Drohgebärde, deren ‚Wie‘ allenthalben zum Spektakel verkommt.

3. APOKALYPSE IM F ILM UND SPEKULATIVE W ELTENTWÜRFE BEI R OLAND E MMERICH Der Film scheint nun die beste Möglichkeit, das ‚Wie‘ der Apokalypse zu realisieren, denn neben der „Selbst-Darstellung“ und ihren grenzenlosen Möglichkeiten greift die filmische Eigenlogik in Form von narrativer Verdichtung, Damatisierung, Subjektivierung und Emotionalisierung. Betrachtet man nun die Auseinandersetzung zwischen Film und Apokalypse näher, dann fällt ein sehr früher Essay Susan Sontags auf: The Imagination of Disaster, in der sie phänomenal und pointiert zwei Leistungen des Science-Fiction-Films herausstellt: For one job that fantasy can do is to lift us out of the unbearably humdrum and to distract us from terrors – real or anticipated – by an escape into exotic dangerous situations wich have last-minute happy endings. But another one of the things that fantasy can do is to normalize what is psychologically unbearable, thereby inuring to use it. In the one case, fantasy beautifies the world. In the other, it neutralizes it.6

Das können nun auch apokalyptische Endzeitszenarien für sich beanspruchen, ohne dass es ausschließlich Science-Fiction sein muss. Im Weitblick der gegen-

5

Derrida 2012, 60 (Herv. i. O.).

6

Sontag 1965, 42.

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wärtigen Diskussion tritt in neuerer Zeit ein dreibändig angelegtes Handbuch Theologie und populärer Film in Erscheinung, das Themen, Genres, Akteure sowohl überblicksartig als auch in Form von Close Readings mannigfaltig diskutiert.7 Die Apokalypse ist dabei nur ein Thema von vielen und wird bei PezzoliOlgiati als Objekt in der theoretischen Herangehensweise anhand von kunstgeschichtlichen Verweisen abgearbeitet.8 Die Spezifik des populärkulturellen Filmes kommt dabei nicht immer zum Tragen. Eine andere Studie beschäftigt sich mit der Gegenwärtigkeit apokalyptischer Motive in populären Filmen.9 Dies geschieht allerdings aus einer diachronen theologisch-hermeneutischen Perspektive, die wie Pezzoli-Olgiati ebenfalls innerhalb einer der Theologie inhärenten Argumentationslogik verbleibt und sich nicht der Thematik einer populärkulturellen Spekulationskulisse öffnet. Der Film hat die Möglichkeit, mit der Wirklichkeit zu spielen, indem er eine neue schafft und die gegebene, außerfilmische als ein kontingentes Resultat von zusammen oder gegeneinander arbeitenden heterogenen Faktoren betrachtet. Die außerfilmische Wirklichkeit gerät zur Referenz, sie könnte aber auch ganz anders sein. In diesem populärkulturellen Vollzug des Möglichen, des Noch-nichtAusgehandelten, Realisationspotentials ist das spekulative Moment Gegenstand des medialen Effekts und im besten Falle des sinnlichen Genusses. Der Film schafft also im Anschluss an Susan Sontag direkt die Möglichkeiten für eine Umsetzung von Fantasien, Weltentwürfen, Szenarien der Grenzsituationen, der Grenzziehung, der Wertevermittlung, der Vorstellungen von Normen und Moral sowie den Grenzüberschreitungen und ihren möglichen Konsequenzen. Das ist phänomenal keinesfalls neu, sondern gerade in der Rückführung auf die sprechergebundenen Urtexte und eine sich jeweils anschließende kulturelle Transformation innerhalb der Literatur und Kunstgeschichte immer schon medial als auch medienspezifisch gewesen: Die Apokalypse hat in ihrer sinnlich anschaulichen Präsenz bzw. medialen Simulation in Texten und Bildern schon stattgefunden, aber gerade nicht in Wirklichkeit. Der Day After wird immer wieder vor Augen geführt, er wird medienalltäglich. An die Stelle der Erfahrung tritt die Sensation, das Besondere verliert sich im Allgemeinen.10

7

Vgl. Bohrmann/Veith/Zöller 2007; Ebd. 2009; Ebd. 2012.

8

Vgl. Pezzoli-Olgiati 2009.

9

Vgl. Valentin 2005.

10 Kleiner 2013, 226 (Herv. i. O).

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Das zeigt sich exemplarisch bereits in den infernalisch-spekulativen Darstellungen der Hölle in Vergils Unterweltbeschreibungen über Sandro Botticellis Illustrationen der Göttlichen Komödie Dantes bis zu Hieronymus Bosch. In ihrer audiovisuellen Umsetzung gewinnt die Apokalypse über Aspekte wie Zeitdehnung, Raffung, Bildausschnitt, narrative Konzentration, physische Konditionierung, Emotionalisierung und Subjektivierung schließlich eine neue Qualität: Sie affiziert als ein scheinbar unausweichliches, geschlossenes sowie ästhetisiert eintretendes Ende, und als filmdramaturgisch kausales Prinzip ist sie nur performativ zu verstehen: Der Finalrhetoriker inszeniert sich als Eingeweihter, als Geheimnisträger aus der Zukunft. Endzeitrede ist, so besehen, nie Diskurs. Endzeitrede ist nicht statuarisch und rational, schert sich nicht um die Regeln syntaktischer Folgerichtigkeit oder um das bessere Argument und passt schon gar nicht in das Kostüm propositionaler Sätze. Die Rede vom Ende ereignet sich im Modus des performativen Sprechens. Wer so redet, vollzieht, zumindest für sich selbst, was er sagt.11

Eben die, Die durch die Hölle gehen (R.: M. Cimino 1978, engl.: The Deer Hunter) Und passend dazu der programmatisch-kompositorische Anfang von Francis Ford Coppolas Apocalypse now: The Doors singen This is the End zu Bildern von napalmgetränkten brennenden Palmenstränden. Keine unzulässige Einschränkung durch Worte – ein menschengemachtes Ende wahrnehmbar durch Bilder, Sound und Musik. Endzeitliche Szenarien bevölkern als Simulation von individuellen und gesellschaftlichen Erfahrungen die Filmgeschichte. Folgt man Valentin,12 dann gehören zur Bestimmung eines Apokalypsefilms im Wesentlichen fünf Elemente: eine Katastrophe mit einem weitreichendem Ausmaß, einem drohenden Ende der Zeiten, die Frage nach der persönlichen Verantwortung, eine universale Gerechtigkeit sowie Katharsiselemente, in der die Verlorenen der Geschichte gerettet werden. Dabei spielen die Filme mittlerweile nicht mehr unbedingt in einer weit entfernten Zukunft, sondern sie sind anschlussfähig in der Gegenwart angesiedelt. Insoweit fügt sich die vergleichende Beobachtung von Anke Sterneborg passgenau zu Emmerichs Filmen: Die Science-Fiction-Szenarien haben heute eine ganz andere Dringlichkeit als noch vor wenigen Jahrzehnten, weil sie eben keine abgehobenen künstlichen Fantasien mehr sind,

11 Bahr 2001, 10. 12 Valentin 2005, 324f.

162 | THOMAS W ILKE sondern beklemmend realistische, greifbare Bedrohungen, die aus den Nachrichten vertraut sind. [...] Immer seltener ist die Zukunft noch durch futuristische Formen gekennzeichnet, weil es irgendwann einfach keinen Fortschritt mehr gibt, sondern nur noch Rückschritt, Verfall und Verwahrlosung.13

Dabei ist der Apokalyptiker derjenige, der über ein Wissen verfügt, ohne zwangsläufig beteiligt sein zu müssen, wohingegen die Apokalypse ein Ereignis darstellt, das nolens volens einen integrativen Charakter aufweist. Die Überraschung des eintretenden Endes ist also aufgrund des Ausblendens programmiert und im Film ein Effekt. In dem Ereignis ‚Apokalypse‘ bleibt man, auch wenn man kein Apokalyptiker ist, kein Außenstehender. Ein situatives Handlungswissen für die Apokalypse gibt es nicht, dass lässt sich nicht erlernen, sondern verweist auf instantane Bildungsprozesse, deren Ziel letztlich das eigene Überleben ist.14 Das Hereinbrechen der Apokalypse in den Alltag ist keine Grenzüberschreitung des Alltags selbst, sondern ein Zusammenbrechen desselben. Die Konfrontation von Apokalypse und alltäglicher Sinngebung führt in eine Absurdität der Existenz, in eine Absurdität des Jetzt-Seins. Die bildästhetische Wucht und der ohrenbetäubende Sound, mit dem uns die vielfältigen apokalyptischen Szenarien im Film mittlerweile erreicht haben, referieren nicht nur auf die sich entwickelnden Techniken der Audiovision, sondern auch auf informationsbasierte Angstdiskurse der Nachrichten: Angesichts von Terroranschlägen, Virenausbrüchen und Naturkatastrophen müssen Drehbuchautoren und Regisseure die Realität nur ein kleines bisschen weiterdenken, um sie in beklemmende Visionen globaler Zerstörung zu überführen. Während die Pixel die Katastrophen perfekt vorgaukeln, nähren die Nachrichten ganz reale Ängste.15

Emmerichs Filme zeigen aus der Perspektive spekulativer Weltentwürfe einen spezifischen Erzähl- und Darstellungsgestus, der sich nahezu immer wiederkehrend aus einer Krise speist, die ziemlich geradlinig in einer Katastrophe mündet.

13 Sterneborg 2012, 36. 14 Vgl. Kleiner 2013. Aktuell diskutiert Slavoj Žižek aus philosophischer und psychoanalytischer Sicht das ‚Ereignis‘ als begriffliches Phänomen und in klarer Abgrenzung zu einer historisch-strukturanalytischen Formulierung. So „erscheint das Ereignis also als Effekt, der seine Gründe zu übersteigen scheint – und der Raum eines Ereignisses ist derjenige, der von dem Spalt zwischen einem Effekt und seinen Ursachen eröffnet wird.“ Žižek 2014, 9. 15 Sterneborg 2012, 32.

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In The Day after Tomorrow ist es die gefrorene Nordhalbkugel, in 2012 die Verschiebung der Erdplatten, in Godzilla die Konsequenz der Atomversuche, in Independence Day die Aliens und in White House Down der Terrorismus. Die Krise zu Beginn steht für eine irreversible Umbruchssituation, die in ihren Ausmaßen nicht vorhersehbar ist und für die Protagonisten einzigartige Erfahrungen mit sich bringt. Wenn sich Handlungswissen aus Erfahrung und Wiederholung speist, dann gilt in einem solchen Fall: Die Katastrophe ist nicht erlernbar und damit nicht beherrschbar. Die Welt wird danach – so es ein Danach gibt oder geben kann – nicht mehr die gleiche sein können. Die Frage nach einer persönlichen oder der gesellschaftlichen Verantwortung wird deutlich und mit ihrer Lösung respektive der Rettung winkt als Belohnung der reinigende Effekt der Katharsis. So beginnen sich die Ebenen der Spekulationen zu überlagern: Die nicht immer klar erkenn- und benennbaren Umbruchssituationen, die Gleichzeitigkeit von Ereignissen, der ungleichzeitigen Abfolge, die Überlebenschancen – wessen Überlebenschancen? – oder die potentiellen Erfahrungsgehalte für die Akteure. Die Ereignishaftigkeit des Apokalyptischen scheint unbestritten, ohne dass damit das Ereignis als etwas, das in den Erfahrungsraum eintritt, Aussagen über den Erwartungshorizont zulässt. Die spekulative Faktizität von ex ante prospektierten Ereignissen ist nie identisch mit der als wirklich zu denkenden Totalität und Tonalität zukünftiger Zusammenhänge. Die filmische Fiktion des Faktischen gibt dem Effekt einen Raum und wird zu einer normativ-gestaltenden Kraft, denn die Wirklichkeit hat selbst ausschnittsweise so noch nicht stattgefunden. 3.1 Ausgangssituationen und Bedrohungen Jeder der hier näher betrachteten Filme Roland Emmerichs steht in seiner Zeit für sich und zählt zu dem, was gemeinhin unter erfolgreichem amerikanischen Blockbusterkino verstanden wird: Laut Box Office Mojo befinden sich im Ranking nach weltweiten Einspielergebnissen Independence Day auf Platz 42, 2012 auf Platz 50, The Day after Tomorrow auf Platz 102 und Godzilla auf Platz 196 und White House Down schafft es in der Kategorie Top Movies in the Past 365 Days auf Platz 47.16 Diese Zahlen relativeren sich zwar aufgrund der sich jeweils neu konfigurierenden Kinostartliste, zeigen jedoch, dass sie innerhalb eines Kinomainstreams angesiedelt sind. In der Einleitung wird das eintretende Bedrohungsszenario umrissen, so dass allen Beteiligten und dem Zuschauer klar wird, dass es hier nicht nur um ihr eigenes Leben, sondern um den Fortbestand der Nation, der Menschheit oder der

16 Vgl. Link 2.

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Erde geht. Im Kern geht es um die Konfliktlösung, die Bewältigung, das Überstehen dieser sich ankündigenden Apokalypse. In Independence Day nähert sich der Erde – zwei Tage vor dem amerikanischen Unabhängigkeitstag – ein riesiges Raumschiff, von dem sich mehrere kleinere abkoppeln und sich über vielen Metropolen der Welt stationieren. Die Aliens greifen mit dem erklärten Ziel an, die Menschheit auszulöschen, um die Ressourcen der Erde ausbeuten zu können.17 In Godzilla zerstört eine durch Atombombenstrahlung mutierte und sich selbst fortpflanzende Echse New York und bedroht durch ihre asexuelle Fortpflanzung die ganze Menschheit.18 In The Day after Tomorrow bricht durch gravierende Klimaveränderungen innerhalb kürzester Zeit eine neue Eiszeit aus, die die gesamte Nordhalbkugel betrifft. In 2012 kommt es aufgrund von Sonnenaktivitäten zu enormen Erdkrustenverschiebungen und kilometerhohen Flutwellen. In White House Down schließlich wird das Weiße Haus Ziel eines terroristischen Angriffs und von einer paramilitärischen Einheit besetzt, um Ziele im Nahen Osten sofort mit Atomraketen anzugreifen. Damit entwickelt jeder Film ein anderes Bedrohungsszenario für den (möglichen) Untergang der Stadt, der Nation, der Menschheit oder der Erde. 3.2 Konfligierende Beziehungen In allen Filmen spielen gescheiterte (zwischen-)menschliche Beziehungen eine handlungsleitende Rolle, indem sie zumeist den filmischen Ausgangspunkt markieren und eine gewisse emotionale Zerrissenheit zur Schau stellen. Im Laufe des jeweiligen Films wird die Beziehung aufgrund der Umstände, der äußeren Bedrohung und der zu meisternden Aufgaben nach innen gestärkt, die Bande lassen sich festigen, das Happy End zeigt eine Problemlösungsstrategie für familiäre Rollenmuster in Extremsituationen. Deutlich wird, dass Endzeitszenarien

17 Die Invasion von Aliens ist spätestens seit Orwells radiophoner Umsetzung des H.G. Wells Roman War of the worlds ein Medienthema, sowie die spätere Verfilmung von 1978 Invasion of the Bodysnatcher, deutsch: Die Körperfresser kommen, Regie: Philip Kaufmann. 18 Emmerichs Neuverfilmung von Godzilla steht in einem Zusammenhang mit den japanischen Godzilla-Produktionen, die sich mit der ersten Produktion des Regisseurs Ishirō Honda von 1954 kritisch zu den Atomwaffenversuchen der USA positionieren. Einen Überblick geben: Buttgereit, J. (2006): Japan – Die Monsterinsel. Godzilla, Gamera, Frankenstein und Co. Berlin.; ebenso Gricksch, G. (1998): Godzilla. Von Japan bis Hollywood. Alles über das berühmteste Monster der Filmgeschichte. München.

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selten in heile Welten einbrechen, sondern die drohende Katastrophe bereits auf einer gesellschaftlichen Mikroebene, der Familie, beobachtbar wird.19 In Independence Day übernimmt Captain Steven „Steve“ Hiller (Will Smith) die Stiefvaterfigur und kann – nach der Trauung vor dem Weltraumausflug – am Ende des Films seinem Ziehsohn auf dem Arm das versprochene Feuerwerk in Form der explodierenden Raumschiffe zeigen. Durch die Konzentration auf Hiller treten die möglichen Probleme einer alleinerziehenden Mutter (Vivica Fox) nicht in Erscheinung. Alles wird gut, der Papa wird’s schon richten, auch wenn er als Kampfpilot gegen Aliens kämpft. Die zur Schau getragenen Lässigkeit gibt einen unterhaltsamen Effekt, suggeriert Beherrschbarkeit und relativiert die Veränderungen. Während der Blitzhochzeit fungieren der Satellitentechniker David Levinson (Jeff Goldblum) und seine Ex-Frau (Margaret Colin) als Trauzeugen und kommen sich dabei wieder näher, um sich schließlich am Ende in den Armen zu liegen. Levinson muss sich zwar die enervierenden Vorwürfe seines Vaters (Judd Hirsch) gefallen lassen, er wäre nicht ehrgeizig genug gewesen und hätte zudem zu wenig für seine Ehe getan – nach der geglückten Vernichtung des Mutterraumschiffes und den anerkennenden Worten des Präsidenten (Bill Pullman) ist letztlich aber auch der Vater stolz auf seinen Sohn. In Godzilla hat die angehende Journalistin Audrey Timmonds (Maria Pitillo) vor vielen Jahren den Biologen Nick Tatoupoulos (Matthew Broderick) verlassen, obwohl er um ihre Hand anhielt. Er hängt dieser Beziehung noch nach, was die im mobilen Laborzelt an die Geräte gepinnten Bilder eindrücklich zeigen. Sie hintergeht ihn nochmals, indem sie ihm das streng geheime Videomaterial der ersten Godzilla-Sichtung klaut, das nach Veröffentlichung zu seinem Ausschluss bei der Operation führt. Gleichwohl gibt es für die Beiden, nachdem sie die Monsterverfolgungsjagd in einem Taxi durch New York glücklich überstanden haben, ein gemeinsames Happy End. Auf der Beziehungsebene sind die anderen drei Filme sehr ähnlich angelegt. In The Day after Tomorrow ist der US-amerikanische Paläoklimatologe Jack Hall (Dennis Quaid) oft unterwegs, lebt offensichtlich allein und nimmt nicht mehr rege am Familienleben teil. Sein Sohn Sam (Jake Gyllenhall) nimmt mit Schulfreunden an einer Wissensolympiade in New York teil und rettet sich mit ihnen in die öffentliche Bibliothek, als eine Flutwelle die Stadt erreicht und zerstört. Jack macht sich auf den Weg, seinen Sohn zu retten entgegen seiner eigenen Prognose, dass jede Hilfe zu spät käme. Er ‚rettet‘ schließlich seinen Sohn und das Einverständnis der zuvor gestörten Vater-Sohn-Beziehung wird über das

19 Vgl. Vollmer 2009.

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in der Extremsituation gewährte Vertrauen des Sohnes auf den Vater wieder eingelöst und verstärkt. In 2012 gibt es zwei größere, den Film strukturierende Beziehungsstränge: Der schwarze Wissenschaftler Adrian Helmsley (Chiwetel Ejiofor) ist ganz offensichtlich mit seinem Beruf verheiratet – ein Privatleben gibt es neben der Forschung nicht, bis er auf die Tochter (Thandie Newton) des schwarzen Präsidenten Wilson (Danny Glover) trifft. Dieser opfert sich, um seinen Platz auf der Arche dem jungen und vielversprechenden Wissenschaftler Helmsley einzuräumen, ein Akt mit Symbolkraft. Des Präsidenten Tochter und der Wissenschaftler finden schließlich während der Apokalypse zueinander. Parallel dazu versucht der geschiedene Familienvater Jackson Curtis (John Cusack), erfolgloser Romanautor und Chauffeur, das Verhältnis zu seinen beiden Kindern zu stabilisieren und unternimmt mit ihnen einen Zeltausflug in den Yellowstone Nationalpark.20 Durch sein Handeln und Reden zeigt er sich trotz ehelichen Scheiterns als das wahre und unerschrockene Familienoberhaupt. Abgeklärt und unerschrocken rettet er seine Kinder, Ex-Frau und seinen Ehe-Nachfolger Gordon Silbermann (Thomas McCarthy) vor der nahenden Katastrophe in Kalifornien. Führungseigenschaften zeigen sich also nicht im Alltag, sondern in Grenz- und Extremsituationen. Wer die Nerven behält und weiß, was als nächstes zu tun ist, überlebt. Die Anerkennung folgt, indem sein Sohn wieder Daddy zu ihm sagt und ihn nicht mehr nur distanzierend beim Vornamen nennt. Silbermann kann seinen Platz in der Ordnung der Familie nicht einnehmen: „Ich habe mir immer eine Familie gewünscht. Du bist ein Glückspilz Jackson, vergiss das nie.“ Silbermann leistet zwar seinen Beitrag zur Rettung, muss jedoch sterben, da er nicht mit Jackson konkurrieren kann, der durch die Rettung und seinen vollen Einsatz seine Familie wieder zurück gewinnt. Auf die am Ende von Jacksons Tochter gestellte Frage „Daddy, wann sind wir wieder zu Hause?“ antwortet Jackson, dass sie bald ein neues finden würden und ergänzt: „Ich meine, da, wo wir alle zusammen sind, ist unser Zuhause, stimmt’s?“ Er zeigt damit, dass er mit ‚zu Hause‘ sehr viel mehr meint, als nur den Wohnort. Es ist vielmehr eine normative

20 Georg Seeßlen urteilt mit deutlichem Bezug auf die Familie dichotomisch und gar nicht zurückhaltend, indem er in 2012 eine „brachiale Anthologie des kinematographischen Desasters [sieht]. In der Geschichte eines erfolglosen Schundromanproduzenten und gescheiterten Ehemanns, der, um seine Familie zu retten, in der Apokalypse zum Helden wird, gibt es Erdbeben, Flutwellen, Flugzeugabstürze, Schiffsuntergänge, Feuerbälle, einstürzende Neubauten. Und auf der anderen Seite Familie, Durchhaltewillen, Opferbereitschaft. […] Dumm sind die pathetischen Dialoge, dumm ist die Konstruktion von Weltenbrand und Familiengeschichte“. Seeßlen 2009, 50.

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Überhöhung der familiären Festigkeit, die mit dem Vater als Führungsfigur und Familienvorstand trotz Schwankungen, Risse und vermeintlichen Fehlverhalten durch den Einzelnen nicht zu erschüttern ist. In White House Down ist John Cale (Channing Tatum) ebenfalls ein gescheiterter Familienvater, der sich um ein gutes Verhältnis zu seiner Tochter Emily (Joey King) bemüht, seine Ex-Frau (Rachelle Lefevre) ihm jedoch zu verstehen gibt, dass es dafür bereits zu spät sei. Nicht nur durch die gemeinsam durchgestandene Tortur, sondern eben weil Cale letztlich den Job beim Präsidenten Sawyer (Jamie Foxx) bekommt, ist Daddy der Größte: Er hält sein Versprechen und nimmt seine Tochter mit in den Hubschrauber des Präsidenten. Auch wenn die Beziehung selbst nicht gekittet werden kann, die Vaterfigur wird hier nicht nur am Ende, sondern bereits im Verlauf des Films überdeutlich gestärkt, wenn sich Cale mit dem Präsidenten über Töchterprobleme unterhält. Dann schweben sie nicht in Lebensgefahr, sondern sind einfach zwei Väter, die sich auf Augenhöhe über ihre Kinder und deren (Alltags-)Probleme unterhalten. Aus den anfänglich konfligierenden Beziehungen gehen die Protagonisten im Laufe des Films stets gestärkt hervor, sie zeigen, dass die Beschädigung nicht irreparabel ist, sondern durch die Arbeit an sich selbst, nicht nachlassendes Vertrauen, dem Annehmen und dem (gemeinsamen) Bestehen von Herausforderungen und Gefahren das familiäre Band mit Fokus auf den Mann als ‚Pater Familias‘ wieder gefestigt werden kann. Damit entsteht der Eindruck männlichen Heteronormativität und einem linearen Familienleitbild, das unbeschadet der äußeren Ereignisse aufrechterhalten werden kann und gerade deshalb so verführerisch ist. Zumal die Konturierung der Frauenfiguren durch ihre starke Reduzierung auf emotionalen Support diesen Eindruck stärkt. Die Verletzungen der Vergangenheit verschwinden oder verheilen scheinbar. Sie sind nicht mehr dominant wegen der oder gerade durch die präsentische Übermacht des Ereignisses. Das spekulative Moment verliert sich in der normativen Präfiguration eines tradierten Familienleitbildes. Doch ob die gemeinsam gemachten Erfahrungen belastbar für einen gemeinsamen Neuanfang sind, wie beispielsweise das neue Zuhause, bleibt offen. Und so bekommt das spekulative Moment des Ausgangspunktes eine neue Faktizität, die das Prozesshafte der Spekulation deutlich werden lässt. 3.3 Appetite for Destruction Während die konfligierenden Beziehungen als Ausgangspunkt der Filme stets einen determinierenden Hinweis darauf geben, dass da zwar etwas im Vorfeld kaputt gegangen ist, man sich jedoch bemüht, über den Status Quo hinaus das wieder zu reparieren, sind die Zerstörungen in der und durch die Natur, in der Zivilisation und auf symbolischer Ebene irreparabel und katastrophaler, eben

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endzeitlich. Alles arbeitet in der Transformation von ganz zu kaputt auf den apokalyptischen Moment der Zerstörung hin: Im Voraus vage berechnete Flutwellen, die die Städte unter sich begraben und die Spitzen des Himalaya umspülen, auseinander driftende Erdplatten, die alles in die Tiefe reißen, alles überströmende Lava, melonengroße Hagelkörner, die die Menschen erschlagen, das Auge des Hurrikans, das alles in Bruchteilen von Sekunden auf minus 100 Grad Celsius gefrieren lässt oder die nicht aufzuhaltende Vermehrung einer überlegenen Spezies. Der zerstörerischen Kraft der Natur kann der Mensch nichts entgegensetzen, sie weist dem Menschen seinen Platz zu. Daran ändert auch die Technik oder der Glauben daran nichts. Zugleich und paradoxerweise verhindert der Film zielstrebig in seiner Sinnzuschreibung die Vernichtung seiner Protagonisten. Anders verhält es sich bei Monstern, Aliens und den Terroristen: Diese sind bezwingbar und sie müssen es auch sein, nicht nur aus Gründen des Lokalpatriotismus und der Rechtfertigung einer auf tönernen Füßen stehenden menschlichen Hybris. Emmerich konturiert die Zerstörungen in sehr deutlich voneinander abgrenzbaren Dimensionen: In Independence Day kommt die Bedrohung und der Angriff von außerhalb der Welt, das lässt sich weitestgehend unpolitisch verhandeln, da sich keine Schuldfrage stellt.21 Die Erde und mit ihr die Menschheit werden zu Opfern. Die extraterrestrische Bedrohung stärkt den Zusammenhalt nach innen – die abstimmende Kommunikation gestaltet sich übernational, auch wenn die USA das Heft des Handelns in der Hand behalten. Das Politische kommt hier über den Patriotismus des US-amerikanischen Nationalfeiertags zum Tragen: „Wenn wir die Aliens besiegen, wird der 4. Juli nicht mehr länger nur ein Feiertag für die USA sein, sondern für die ganze Welt.“ So wie die Aliens die zu zerstörenden menschlichen Zentren in den Metropolen der Welt ausmachen, müssen die Menschen in das Zentrum der Aliens. Das gilt für die Raumschiffe der Aliens über der Erde als auch für das Mutterschiff – eine Mothership

21 Emmerich hierzu im Interview: „Ja, aber in ‚Independence Day‘ geht es um Aliens. Mit Aliens kann man sich alles erlauben. Die sind halt die Bösewichte – und wir Menschen die Guten. Das ist politisch viel weniger brisant.“ Zit. nach Borcholte 2013. Wesentlich kritischer sieht das Peter Bürger in seiner empirisch gesättigten Hollywood-Studie über den Zusammenhang von Film, Wirtschaft und Politik: „Independence Day ist wegweisend für die offene Politisierung des Weltraumthemas im Kino der 90er Jahre, bei der das US-Militär sich in großem Umfang beteiligt. Die simple Grundbotschaft: Die Technologie der USA ist allmächtig, in Washington sitzt das Oberhaupt unserer Erde, und beides dient dem Wohl der ganzen Menschheit.“ Bürger 2005, 375.

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Connection. Captain Hiller fliegt letztlich mit dem Satellitentechniker in das Raumschiff der Aliens, um die Atombombe erfolgreich zu zünden. Die Schwachstelle der Raumschiffe über der Erde findet letztlich derjenige heraus, der dysfunktional als Outsider, Spinner und Alkoholiker bereits ausgegrenzt am Rande der Gesellschaft lebt.22 Ebenso in 2012, als die Erde aufgrund einer gigantischen Eruption auf der Sonne einer Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes ausgesetzt ist, trifft die Menschen keine Schuld, sie sind auch hier einer höheren Macht ausgesetzt, deren Auswirkungen in der Voraussage zwangsläufig unkonkret formulierbar sind.23 Aufgrund der wissenschaftlichen Berechnungen und des zeitlichen Vorlaufs von drei Jahren gibt es einen internationalen und gleichsam geheimen Beschluss zum Bau von sechs Archen, deren technische Realisation China übernimmt. Das biblische Beispiel des Überleben-Wollens und -Könnens dient als Vorbild, die Vorsehung ist jedoch keinesfalls göttlich, sondern an wissenschaftliche Erkenntnisse, deren Zugang und das notwendige Geld gebunden. Die etwas zu früh eintretende Zerstörung ist allumfassend, der einzig halbwegs sichere Fluchtweg gelingt Jackson samt Familie mit einem kleinen Flugzeug. Aus der Luft werden sie Zeuge des dramatischen Untergangs von Kalifornien, das auseinander gerissen, fortwährend explodierend und emblematisch im Wasser versinkt. Die intensiv gestalteten Bilder geben in ihrer Dichte und der damit einhergehenden situativen Nichtbeschreibbarkeit eine (be-) greifbare und detailreiche Vorstellung des katastrophalen Dramas. Der Untergang ist allumfassend und in seinem Schrecken zugleich ein Faszinosum. Aus der Luft wird den Beobachtern, Überlebenden und Zeugen – und damit auch dem Zuschauer – die Gnade der göttlichen Perspektive zuteil. Jedoch ist es zu viel für die Zeugen, um das Geschehen rational fassen und in Worte verpacken zu können. Es ist visuell beobachtbar, damit aber noch nicht begrifflich fassbar. Der Zuschauer wird zum Beobachter einer Beobachtung des an und für sich Nichtbeobachtbaren. Und so ist Kates erste und einzige Frage im Cockpit an Jackson: „Woher wusstest Du, dass das passiert?“ Hier kommt der ‚Seher‘ Charlie Frost (Woody Harrelson) aus dem Yellowstone National Park ins Gespräch, der zwar in der Attribuierung durch Jackson als „Verrückter“ durchgeht, aber da sich alles bisher bewahrheitet hat, glaubt ihm Jackson. Der Glaube an eine an sich nicht glaubwürdige Wahrheit

22 Vgl. Schulze 2013. 23 In Hell, einer deutschen Produktion von Tim Fehlbaum von 2012, in der Roland Emmerich als Produzent agierte, wird die Sonne zum postapokalyptischen Akteur, indem sie durch ihre entfesselte Strahlkraft alles versengt und der Kampf der Menschen um Wasser jedwede zivilisatorische Leistung in den Hintergrund treten lässt.

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überwindet den Zweifel. Rational ist Rettung nicht möglich, hier steckt der Kern der Spekulation. Deviantes Wissen ist in sich durch die fehlende empirische bzw. veralltäglichte Absicherung spekulativ und so grenzüberschreitend. Und so gibt es durch den ‚Verrückten‘ und seinem devianten Wissen den notwendigen Funken Hoffnung auf Rettung: Das Wissen um die Schiffe, die gebaut werden und in denen man sicher sei sowie die Karte mit dem Weg dahin. Jacksons einzige Grundforderung besteht demnach im Vertrauen, nachdem er Charlie Frosts Wissen vertraut: „Kate, vertrau mir einfach, okay?“ Nach der ersten offensichtlichen und kompletten zivilisatorischen Zerstörung beginnt die Zerstörung der Natur durch die Natur: Es wird Feuer regnen – als Jackson die Karte mit dem Standort der Archen holt, fliegen ihm und seiner Familie der Yellostone um die Ohren, übergroße Feuergeschosse, denen er aufgrund seiner Chauffeurstätigkeit jedoch immer noch einmal gekonnt ausweichen kann, so dass die Flucht von dort ebenfalls gelingt. Zurück bleiben Chaos, fehlende Hoffnung und keine Aussicht auf Rettung. In Las Vegas wiederholt sich das durch nichts aufzuhaltende Zerstörungsszenario noch einmal wie in Kalifornien; in Indien und in China sind es zur gleichen Zeit riesige Tsunamis, die alles überschwemmen. Dass es keinerlei zivilisatorischen Zeichen mehr gibt, zeigt immer wieder Jacksons ergebnislose Suche nach Radiosendern, auch wenn die satellitengestützte Kommunikation für die Führungsriege nach wie vor noch funktioniert. In The Day after Tomorrow ist die berechnete und etwas zu früh eintretende Eiszeit eine Folge der globalen Klimaerwärmung durch die Menschen und die Zerstörung betrifft überwiegend die Nordhalbkugel – also vergleichsweise weltwirtschaftlich und politisch führende Nationen. Der sekundenschnelle Vereisungsprozess, dem eine gewaltige Flutwelle vorausgeht, wird als etwas inszeniert, dem man zwar bedingt entkommen kann, im Grunde jedoch alternativlos ausgeliefert ist.24 Anders hingegen ist es bei Godzilla, in dem das Monster ein (!)

24 Prominente Unterstützung bekommt Roland Emmerich in diesem Fall vom Potsdamer Klimatologen Stefan Rahmstorf: „The film makers are quite up-front about the fact that it's not a scientifically realistic scenario. […] In an interview, director Roland Emmerich also says that […] they had to construct their own private theory to squeeze the theme into a 2-hour blockbuster movie format. To portray the dramatic effects of a major climatic disaster within a short time span, they simply took known weather extremes – tornados, storm surges, cyclones, hail storms and blizzards – and amplified those. On the other hand, given the rules and constraints of the genre, it is remarkable to what extent the filmmakers have tried to include some realistic background. […] In this way, what climatologists think is presented in a realistic way in the film, and it is

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sichtbares Ergebnis der Atomwaffenversuche – in dem Fall die der Franzosen und nicht der Amerikaner – im Pazifik darstellt. Der französische Geheimdienstagent LaRoche (Jean Reno) ist als Patriot in New York zur „Schadensbegrenzung“, denn er müsse manchmal sein „Land vor sich selbst beschützen“, vor Fehlern, die gemacht worden seien und nicht publik gemacht werden dürften, da sie „eine schreckliche Schweinerei hinterlassen“ haben. In der Prozesslogik erscheint das unter Umständen widersprüchlich, gehorcht jedoch in der filmischen Abfolge einer konkreten Vorstellung des Apokalyptischen. Godzilla repräsentiert eine zu überschreitende Grenze: Wenn dieses ‚Ungeheuer‘ nicht besiegt werden könne, dann entstünde genau in diesem Moment evolutionär eine neue Spezies, die aufgrund ihrer degenerierten Voraussetzungen relativ leicht über die Menschheit als Ganzes triumphieren könne. Dieses eine Unwesen schwimmt also direkt auf New York zu, wo eine wahre Zerstörungsorgie ohne erkennbaren kausalen Zusammenhang beginnt. Das Monster bewegt sich im Dschungel der Großstadt und auf der Jagd nach ihm wetteifern Militär – als scheinbar einzig probater Akteur – und das Monster um die größtmögliche Zerstörung. In White House Down konzentriert sich die Zerstörung auf das Areal um das Weiße Haus in Washington als weltpolitischem Nukleus und die abgeschossene Air Force One; das Bedrohungspotential ist durch die computergesteuerte Aktivierung des atomaren US-Waffensystems und deren Einstellung auf Ziele im Nahen Osten global eingestellt. Die Bedrohungsmatrix der USA entsteht erst durch eigene ‚Fehlbildungen‘: Der Computerhacker hatte zuvor bei der NSA gearbeitet, ein Terrorist ist ein Ex-Delta-Force-Mitglied und war bei der CIA, zudem verdeckt in Pakistan und dort für zwei Jahre in einem Taliban-Gefängnis, andere werden als aktenkundige rechtsradikale Soziopathen erkannt. Die Aktionen der Vergangenheit richten sich in der Vollendung gegen die gegenwärtige USA und deren wirtschaftspolitischen Verankerungsstrategien. Symbolische Zerstörungen treten in Emmerichs Filmen auf unterschiedlichen Ebenen konzentriert auf: Ob es das Weiße Haus ist, dass durch eine Explosion teilweise einstürzt (White House Down), von einer Flutwelle weggespült wird (2012) oder von einem galaktischem Lichtstrahl komplett zerstört wird (Independence Day) oder die Freiheitsstatue, die zwar der Flutwelle trotzen kann, jedoch zu zwei Dritteln im Eis verschwindet (The Day After Tomorrow) oder der Petersdom in Rom, der einstürzt – es ist eine stetig wiederkehrende Arbeit mit kulturellen, nationalen und religiösen Symbolen. Die Hauptszene in Michelangelos Deckenfresko zur Schöpfungsgeschichte in der Sixtinischen Kapelle, in der

very clear that the rapid drama that later unfolds is counter to what any climatologist expected – it’s where the fiction starts.“ Zit. nach Link 1.

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der Schöpfergott Adam erschafft, wird in 2012 zerrissen, der göttliche Funken kann nicht mehr überspringen, pars pro toto sind Menschheit und Kultur dem Untergang geweiht, das Ganze ohne göttlichen Beistand. In 2012 wird gleich zu Beginn sehr dezidiert vom Ende bzw. dem nahenden Ende gesprochen, bis es der freakige Radiomoderator Charlie Frost auf die Frage von Jackson, was das genau sei, was da in Hollywood beginnen würde, explizit ausspricht: „Es ist die Apokalypse, das Jüngste Gericht, der Tag der Abrechnung, das Ende der Welt, mein Freund. Die Christen sprechen von Entrückung, aber die Maya wussten davon, die Hopi-Indianer, das I-Ging, die Bibel, mehr oder weniger ...“ In The Day after Tomorrow rettet sich eine Gruppe von Menschen in die öffentliche Bibliothek in New York und sie überleben den Eissturm einzig aus dem Grund, weil sie Bücher verheizen, um nicht zu erfrieren. Sie verbrennen kein Inventar, keine Möbel mit höherem Heizwert, sondern ausschließlich Bücher. Als eine pragmatische Geste aus der Not der Situation heraus verstanden, ist das jedoch nicht frei von symbolischem Handeln. Es gibt letztlich nur ein Buch, das vehement gegen das Verbrennen verteidigt wird: die Bibel, und nicht nur irgendeine, sondern eine Gutenberg-Bibel.25 Diese, so wird im Film erklärt, sei als erstes gedrucktes Buch besonders schützenswert, denn sie repräsentiere den Anfang der Aufklärung und auch wenn die westliche Gesellschaft am Ende sei, so sollte doch wenigstens ein kleiner Teil gerettet werden. Interessanterweise verkörpern die Protagonisten, die einen Heldenstatus innerhalb der Handlung zugeschrieben bekommen, sehr häufig den Typus des Anti-Helden. Sie sind Wissenschaftler, Techniker, Chauffeure, haben Schwächen, Defekte, Versagensängste. Und doch bewähren sie sich situativ, die äußeren Umstände schüchtern sie nicht ein. Sie machen das Richtige, ohne im Vorfeld wissen zu können, dass dies das Richtige ist. In entscheidenden Situationen tun sie eben genau das, was sie tun, nicht weil sie über einen Handlungsspielraum oder Erfahrungswissen verfügen oder gar Zeit zum Abwägen hätten, sondern weil sie aufgrund ihrer Grundverfasstheit, ihrer (moralischen) Einstellung, ihres unabdingbaren (Überlebens-)Willen, ihrer Verantwortung und ihrer Souveränität handeln. So macht sich Jack Hall in The Day after Tomorrow entgegen aller Vernunft auf den Weg, um seinen Sohn im vereisten New York zu retten und befördert so das hoffnungsgebende Moment des Heldenhaften. In 2012 liefert sich Jackson Curtis in einer Limousine ein Wettrennen mit der zerstörerischen Macht des Bebens, um seine Familie zu retten.

25 Die Bibel oder besser der Text der Bibel als rettungswürdiger Gegenstand ist Hauptmotiv im postapokalyptischen Szenario von The Book of Eli (USA 2010, Regie Albert und Allen Hughes).

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Diese Einstellungen lassen keine Zweifel zu, sind unreflektiert und absolut notwendig, um scheinbar naheliegende Lösungswege zu finden und diese kompromisslos zu gehen. Es sind prototypische Selbstbildungsprozesse, die hier in Extremsituationen, die kein glimpfliches Entkommen vorsehen, in Szene gesetzt werden. Kleiner entfaltet diesen Gedanken mit Bezug auf die Existenzphilosophie sowie Medienbildungstheorien am Beispiel der US-Serie Walking Dead und kommt zu dem Ergebnis, dass „Populäre Medienkulturen performative Bildungskulturen (sind), die poetisch und fiktional (Selbst-)Bildungsprozesse adressieren, indem sie diese zumeist spektakulär aufführen und als Selbstgestaltungsangebote anzeigen. [...] Die Ethik als Ästhetik der Existenz konstituiert sich durch das Ethos, die Haltung des Subjekts, und nicht über die Befolgung von herrschenden Normen und Konventionen, die darauf zielen, die Existenz zu normieren. (Selbst-)Bildungsprozesse [...] sind entsprechend Prozesse der Be- oder Verarbeitung subsumtionsresistenter Erfahrung, aus denen eine Veränderung von grundlegenden Figuren meines je gegebenen Welt- und Selbstentwurfs resultiert.“26

Die Ergebnisse derartiger Prozesse zeigen sich gerade nicht im Alltags, sondern werden in grenzüberschreitenden Extremsituationen sichtbar, die situativ und nicht strategisch angelegt sind und so strategisches Handeln nicht wirklich zulassen. 3.4 Das Opfer, Gott und der Glauben Das Opfer und die Opferbereitschaft für den Glauben sind nicht nur im Christentum ein zentrales Thema, doch dort wird es alttestamentarisch mit Bezug zum Judentum und der durch Gott im letzten Moment verhinderten Opferung Isaaks durch Abraham grundgelegt. Vom vormals archaisch angelegten Menschenopfer über das Tieropfer, das Opferlamm, hin zur Symbolik der Eucharistie durch die Transsubstantiation, das Opfer und die Opferbereitschaft bleibt das Opfer auf der symbolischen Ebene des neutestamentarisch fixierten Initialisierungsmythos bestehen: Christus opfert sich für die Menschheit. Ob das Opfer als etwas bringt, ist im Vorfeld nicht bestimmbar, sondern erst im Nachhinein. Das berührt keinesfalls die Funktionalisierung des Opfers an sich, bedenkt man kulturübergreifend an die Fortführung, die Stabilisierung oder die Wiederherstellung einer bestehenden oder sich konstituierenden Ordnung, der individuellen oder gesellschaftlichen Rettung oder dem Wunsch nach Hoffnung. Das berührt auch nicht

26 Kleiner 2013, 249.

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die Ritualität, die Sinnhaftigkeit oder säkularisiert die Sinnlosigkeit eines Opfers sondern vielmehr die Gegebenheit als kultürlicher Bestandteil einer Gesellschaft. So sind in Emmerichs Szenarien ebenfalls Opfer zu bringen: symbolisch, materiell oder physisch. Sie kennzeichnet ein hoher Einsatz, schließlich geht es auch wahlweise um die Rettung der Nation, der Menschheit, des Weltfriedens oder der Erde. In Independence Day opfert sich der von den Aliens entführte Trunkenbold aufgrund einer verklemmten Rakete und findet damit die Lösung – das ist sein Opfer, das mit dem Ergebnis jubilierend empfangen wird und so kann er post mortem zum Helden stilisiert werden – Sterben für das Vaterland. In The Day after Tomorrow, in 2012 und in White House Down stirbt jeweils der Präsident, in letzterem symbolisch, um das Komplott aufdecken zu können, dort trifft es dann den Vizepräsidenten. In diesen Geschichten wird deutlich gemacht, dass die präsidiale Verantwortung die Person nicht entlässt, nicht entlassen kann, es ist das Bild des Kapitäns, der als letzter das Schiff verlässt. Hierzu bietet sich ein Exkurs zur Rolle des Präsidenten an: Die Thematisierung des Präsidentenamtes und der Person lässt sich als ein Dreh- und Angelpunkt der jeweiligen Geschichte begreifen; der hegemoniale Führungsanspruch und die Größe der Nation insbesondere bei den USA zeigen sich in den Filmen Emmerichs auch in der Führung durch den Präsidenten. Er ist derjenige, der die folgenreichen Entscheidungen zu treffen hat und die (politische) Verantwortung dafür trägt. Wichtige wissenschaftliche oder situativ-relevante Erkenntnisse (The Day after Tomorrow, 2012, Independence Day) werden zur Entscheidungsfindung direkt zu ihm gebracht. Das verstärkt die Wahrnehmung des Präsidenten bzw. des Amtes als Schlüsselrolle. In Emmerichs Filmen lassen sich verallgemeinernd drei thematische Ebenen differenzieren: In der Binnensicht wird der Präsident und seine Familie privat gezeigt, so in Independence Day, in 2012, hier noch verstärkt durch die Vater-Tochter-Beziehung oder in White House Down, als es darum geht, welches Restaurant die First Lady am Abend besuchen möchte. In der Außensicht auf den Präsidenten geht es stets um einen nationalen Rahmen, die Wahrung der Identität, der Integrität, den Idealen der Freiheit, der Selbstbestimmung, den Interessen der Wirtschaft oder der Verteidigung vor einer äußeren oder inneren Bedrohung. In dieser Außensicht spielt oftmals über den Verweis auf historische Vorgänger die Anbindung an ein tradiertes amerikanisches Selbstverständnis die Hauptrolle. Wie in White House Down werden Lincoln, Washington oder Jefferson gern als Referenz benannt. Oder der Präsident lässt es sich wie in Independence Day nicht nehmen, als Kampfpilot selbst in den Düsenjet einzusteigen und gegen die Aliens zu kämpfen. In einer dritten semantischen Ebene geht es vorrangig um die Rolle der USA im internationalen Gefüge, um über Technologie, Wirtschaft, Politik, Militär oder die

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Wissenschaft die Führungsrolle in der Weltgemeinschaft nicht nur beanspruchen, sondern auch über den Präsidenten rechtfertigen zu können. Schließlich bietet der Glaube, individualisiert oder kollektiv, eine ideale Spekulationskulisse. In Independence Day spricht Davids Vater in einer ausweglosen Situation zu David: „An irgendeinem Punkt im Leben verliert jeder mal seinen Glauben, David. Ich zum Beispiel habe seit dem Tod Deiner Mutter nicht mehr zu Gott gesprochen.“ Den Glauben zu verlieren, sich von Gott verlassen zu fühlen, thematisieren als Motiv bereits im Alten Testament viele Psalme und verbinden damit den Wunsch nach einer Antwort Gottes. Gleichwohl speist sich religiöser Glauben aus Vertrauen, keinem persönlich-konkretisierbaren, sondern einem abstrakten, mithin transzendierbaren Vertrauen. Und so geht es in jedem der Filme um ein Urvertrauen in persönliche Beziehungen, das gestört wurde, sich jedoch im Verlauf des Films wieder herstellen lässt. Es geht um zwischenmenschliches Vertrauen, das sich in Arbeitsbeziehungen niederschlägt, um Vertrauen in die gouvernementalen Handlungen, in die technologische und menschliche Leistungsfähigkeit und in die bereits getroffenen oder noch zu treffenden Sicherheitsvorkehrungen für Extremsituationen. Der Bezug auf die Wissenschaft und ihre der Wahrheit verpflichtete Wissensproduktion machen vielen Überlegungen anschlussfähig und helfen über die situativ-spektakulären Irritationen. Wem kann man glauben, wem kann man vertrauen? Vertrauen und Wahrheit zusammengedacht, werden hier wiederum zum spekulativen Gegenstand: Vertrauen die Akteure durch Wahrheit als einer Setzung, die zu einer Voraussetzung wird oder produziert eine Wahrheit durch Kausalität Vertrauen und damit einen Glauben durch eine erfahrene Wirklichkeit? Idealistisch und zugleich funktional betrachtet: Die Politik vertraut den zu Wahrheit verpflichteten wissenschaftlichen Erkenntnissen, die Menschen vertrauen der Politik und sich gegenseitig – diese Kette ließe sich fortsetzen und in der Fortsetzung gleich wieder durch kritische Gegenfragen auflösen. In Godzilla ist der Biologe Nick der einsame Rufer, der Wissende ohne Lobby, dem die eigenen Leute nur schwerlich glauben und auch nicht glauben wollen, bis die Fakten für ihn sprechen. Deshalb wird er, da die Relevanz des produzierten devianten Wissens ebenfalls nur schwer eingeordnet werden kann, lediglich der ‚Würmermann‘ genannt. Ähnlich verhält es sich in Independence Day mit David, der als Fernsehtechniker dem Countdown auf die Spur kommt. Das Wissen über die Terroristen wird in White House Down medial produziert und irritiert in seiner Glaubwürdigkeit nicht mehr. Das Wissen um den bevorstehenden Untergang unterliegt in 2012 einer Geheimhaltungsstufe, die zum Tod derjenigen führt, die darüber die Öffentlichkeit informieren wollen. Denn die offizielle Seite rechnet bei einer Veröffentlichung mit Panik. Letztlich schimmert die Furcht durch, bei

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einer Rettung moralisch und ethisch verantwortungsvoll handeln zu müssen. Genau darauf zielt der Appell des Wissenschaftlers am Ende. Denn die rettenden Archeplätze bekommen in 2012 in der Planung diejenigen, die es sich leisten können, eine Milliarde Euro für ein Ticket pro Person zu bezahlen. Die zustande kommende Auslese der zu Rettenden ist weder natürlich noch sozial, geschweige denn darwinistisch. Die ökonomische Logik besagt, wer es sich leisten kann, ist es wert, zu überleben. Das hieraus entstehende moralische Dilemma zwischen Finanzierbarkeit und ethischer Verantwortung gegenüber der Humanität versucht einzig der Wissenschaftler zu thematisieren und zu lösen. Da er nicht interessengeleitet handelt, sondern lediglich seinem Gewissen verpflichtet ist, zeigt sich das glaubwürdig Gute im aufopferungsbereiten Idealtypus, der dadurch überzeugender wird. Der Fehlschluss liegt in dem Versuch, das Ergebnis mit den Kosten zu rechtfertigen: Wir brauchen das Geld der Menschen, um die Archen bauen zu können, ohne zu wissen, woher das Geld kommt oder wer es gibt. Damit ist die Rettungsaktion zwar staatlich angeordnet und international vertraglich sanktioniert, zugleich jedoch Gegenstand eines Arkanums der intransparenten Auswahl und keineswegs einem wie auch immer gearteten öffentlichen Gemeinwohls. Das bleibt in Bezug auf eine bevorstehende Apokalypse spekulativ. Der Zusammenhang zur Apokalypse erschließt sich hier auf den zweiten Blick: Wenn das Ende zeitlich naht und die Ausmaße annimmt, von denen man glaubt, dass sie eine Rettung nicht für alle ermöglichen, dann sind nahe liegende Fragen und damit verbundene Handlungsoptionen, wer sich retten kann, wer gerettet wird und wer über eine Auswahl der zu Rettenden entscheidet. Das wird gerade bei 2012 nicht nur zu einem ökonomischen, sondern auch zu einem machtpolitischen Argument und zeigt, dass moralisches Handeln in Extremsituationen einen Spekulationsgestus entwickelt. 3.5 Zur Situation der medialen Kommunikation Da die entworfenen Szenarien in der zeitlich nah erfahrbaren Gegenwart angesiedelt sind, liegt es nahe, dass das vertraute System der Medien anschlussfähig gespiegelt wird. Eine nicht unwesentliche Frage betrifft das erfolgreiche Kommunizieren in derartigen extremen Szenarien: Woher kommen die relevanten Informationen? Wer kann diese kommunizieren und aus diesem Wissen einen Vorteil generieren? Deutlich wird das im direkten Vergleich von Godzilla und White House Down. In Godzilla wird der Status des investigativ recherchierenden Reporters, des furchtlosen Kameramanns als ein bewundernswertes und erstrebenswertes Ziel inszeniert. Die sensiblen analogen Informationen liegen als VHS-Kassette scheinbar achtlos im Zeltlabor von Nick Tatoupoulus und werden so zum leichten Ziel von Audrey – Gelegenheit macht Diebe. Informationen aus

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dem inneren Kreis der militärisch-wissenschaftlichen Problemlösung gelangen durch eine angehende Journalistin über das Fernsehen an eine (Fernseh-)Öffentlichkeit. Sie brauchen aufgrund ihrer Medialität noch einen Mittler, der um die Informationen und ihre Relevanz weiß. Es lässt sich mit der intrinsischen Journalistenmotivation nach Bewährung und Anerkennung durch eine gute Story und der moralischen Pflicht nach Veröffentlichung verstehen, die Audrey so handeln lässt, auch wenn es letztlich nicht ganz so läuft, wie sie es sich vorstellt. Die persönliche Ebene triumphiert, da Nick, Audrey im Arm haltend, am Ende alle anderen Journalisten abweist, mit dem Hinweis, die Story bekäme jemand exklusiv, nämlich Audrey. Es gibt also noch etwas über das zu Sehende hinaus zu erzählen, dass exklusiv ist. Die unmittelbare Beteiligung am Geschehen wird über die Figur des Journalisten vermittelt und über sein Involviert sein glaubwürdig. Der Informationsweg ist noch einer massenmedialen Logik verhaftet, die den Journalisten als Schlüsselfigur braucht. In White House Down hat sich das mediale Verständnis im Zuge der umfassenden digitalen Vernetzung grundlegend gewandelt. Hier ist es die elfjährige Emily Cale, die mit ihrem Smartphone im Weißen Haus Videoaufnahmen macht, die sie in ihren Youtube-Kanal hochlädt und die von dort in das Fernsehen gelangen. Die Information selbst, der Mittler und der Weg der Information sind andere geworden. Das Nichtirritieren über das instantane Verfügen von Informationen und deren virale Verbreitung sagt mehr über die Selbstbeobachtungsmechanismen der Gesellschaft aus als das stilisierte Heldentum der Medien. Zugleich wird eine zwar dramaturgische jedoch selbstverständliche Form von Medienkompetenz in Szene gesetzt, die auf die situativen Gegebenheiten reagiert und über jeden Zweifel erhaben ist: Medien reagieren darauf und schaffen über medialisierten Content wiederum Medienereignisse. Medien sind die Voraussetzung für Medienereignisse. Strukturell lässt sich das ebenso für Godzilla über die VHS-Kassette konstatieren, allerdings haben sich die Rahmenbedingungen geändert. Nur weil Emily ihre Situation als relevant für eine mediale Beobachtung einschätzt und die Terroristen mittels Smartphone filmt, den Clip sofort in ihren Youtube-Kanal lädt und dieses Material wiederum zum Kern der Fernsehberichterstattung wird, kann das Militär die Attentäter identifizieren und entsprechend reagieren. Damit werden die Geste des Mitfilmens und des ins Internet Hochladens performativ, da die daraus erwachsenen Konsequenzen nicht absehbar sind. Eine mediale Erregungsspirale setzt ein: Die Erstbeobachtung Emilys ist eine mediale Setzung, die zur Voraussetzung der Beobachtung des Fernsehens wird. Diese gerät wiederum zur Beobachtung der Beobachtung des Fernsehens durch die Terroristen und verändert so das situative Wahrnehmungsund Handlungsgefüge im besetzten Weißen Haus.

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Das Konvergieren von Medienproduktion als User generated Content und situativer Beobachtung formiert sich zu einer kulturellen Technik, deren Beherrschen integrativ wirkt, selbstverständlich und anschlussfähig ist und die möglicherweise als eine relevante Geste verstanden werden kann. So wird Emily – nachdem sie in letzter Sekunde fahnenschwenkend den Luftangriff abwehren konnte – als erstes von der Reporterin gefragt, ob sie denn wisse, wie viele ihrem Video-Blog sensu Youtube-Kanal folgen. Da dies das Fernsehen live überträgt, kann John Cale das Geschehen vor dem Weißen Haus im Weißen Haus vor dem Fernseher mitverfolgen. Auf die Antwort der Reporterin „700 Millionen Menschen“ sieht man noch ihr erstauntes Gesicht und es wird klar, dass die insinuierte Feedbackschleife – wie viele folgen meinem Kanal – doch nicht in jeder Situation realisierbar ist, vor allem, wenn man als Geisel gehalten wird und das Smartphone abgeben musste. Medial beobachten heißt zugleich, mit und in dem Wissen zu handeln, selbst medial beobachtet zu werden. Der Modus medialer Selbstbeobachtung wird zum Bestandteil von Ereignissen. Man schaut sich in Echtzeit bei der eigenen Verfolgungsjagd zu. Nur so wird verständlich, dass Emily ihren Vater, nachdem alles überstanden ist, als erstes fragt, ob er ihren TV-Auftritt gesehen habe. Das Geschehen ist ohne digitale Vernetzung, ist ohne Internet, Smartphone, Youtube und der medialen Verschränkung nicht mehr denkbar, der Antagonist als ‚medialer Dinosaurier‘ nutzt einen Pager. Er entzieht sich zwar einer Datenkontrolle, ist allerdings leichter zu identifizieren. Die Informationen über die Terroristen werden hinsichtlich ihrer Echtheit nicht angezweifelt, sie brauchen nicht mehr die Reputation der Wissenschaft oder des Journalismus, 700 Millionen widerspruchsfreie Klicks werden zu einem quantitativen Argument.

4. R ETTUNG IST

UNUMGÄNGLICH

Roland Emmerichs Filme sind in ihrer Grundaussage eindeutig: Das Abendland hängt an seinem irdischen Leben. Das zeigen die überbordenden Rettungspläne und die Maßnahmen, die dazu ergriffen werden. Von Hoffnungslosigkeit, Schicksalsergebenheit, Unsicherheit, Zweifel oder Mutlosigkeit ist nichts zu spüren oder zu sehen. Der Nervenkitzel liegt in der Bewältigung der Bedrohung. Darüber hinaus setzen die Bedrohungskulissen ein enormes spekulatives Potential frei, da sie stets in einem grenzüberschreitenden Modus agieren. Schaffen die (Anti-)Helden es, ohne Superkräfte, an den Grenzen der Glaubwürdig- und Leistungsfähigkeit? Emmerich setzt diese Katastrophen nicht einfach nur als Katastrophen im Sinne eines Unfalls, die Chaos produzieren. Sie nehmen apokalyptische Ausmaße an, sie übertreffen die Vorstellungen der Protagonisten und doch sind sie gleichermaßen mit herkömmlichen Methoden, Waffen, Technik und der

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Intelligenz der Menschen irgendwie händelbar und lösbar. Alles unterliegt einer Kontrolle, zumeist der US-Regierung und sie wird nicht aus der Hand gegeben, um später zu einer wie auch immer gearteten Normalität zurückkehren zu können. Es ist nicht das Ende, sondern Katharsis im Kinostuhl, die Rettung und Erlösung ist nahe. Die Exzentrik des Menschen und seine ‚Errungenschaften‘ führen letztlich dazu, dass der drohende Untergang doch noch beherrschbar wird, weil er letztlich äußerlich bleibt und nichts infrage stellt. Klar wird, dass ein Zusammenspiel von (Ur-)Ängsten, Mythen und distanzierter Schaulust den Unterhaltungswert des Spektakels nähren, Emmerich verhüllt nichts, was sich zeigen lässt, das wird gezeigt: Der Kontrast zwischen der diabolischen Unübersichtlichkeit des Alptraums und der schlichten Einfachheit der Identifikationsdramaturgie läßt sich allerdings auch auf Spannungen zurückführen, die im Genre der Endzeit-Visionen selbst zugrunde gelegt sind. Mythen mit Motiven von Katastrophen versuchen zweierlei: Ängstigendes darzustellen und in Form von Symbolisierungen zu bannen. In mythischen Visionen wird diese doppelte Funktion auf das Zusammenspiel von Bildhaftigkeit und Narration verteilt: Die Abgründe der geschauten Visionen werden im Schema des Nacheinander gebannt. Was geschichtlich als das Ineinander widersprüchlicher Triebkräfte ein und derselben Gegenwart erfahren wird, trennt die Dramaturgie des Mythos in Äonen.27

Nachdem die Katastrophe überstanden ist, wird sie erzählbar, kontextualisierbar und begründbar, zumindest, was das unmittelbar darauf Folgende angeht. Und so spricht am Ende von The Day after Tomorrow der Präsident rückblickend auf die Katastrophe in einer Fernsehansprache nicht nur an das amerikanische Volk als ein Überlebender, als ein Geretteter, als ein in seiner Funktion als Präsident handelnder, und im Weiteren als ein sich zumindest scheinbar verantwortlich Fühlender: „Die zerstörerische Gewalt der Natur, die wir in den vergangenen vier Wochen erleben mussten, hat uns alle mit tiefer Demut erfüllt. Viele Jahre haben wir geglaubt, wir könnten uns der natürlichen Ressourcen unseres Planeten uneingeschränkt bedienen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Wir haben uns geirrt, ich habe mich geirrt. Die Tatsache, dass ich hier aus einem Konsulat von ausländischem Boden zu Ihnen spreche, ist Zeugnis unserer veränderten Realität. Nicht nur wir Amerikaner, sondern auch viele andere Menschen dieser Erde, sind nun Gast in Ländern, die wir einst als ‚Dritte Welt‘ bezeichnet haben. Sie nahmen uns in Zeiten der Not auf und gewährten uns Schutz. Und ich empfinde tiefe Dankbarkeit für ihre Gastfreundschaft.“ Afrika ist in 2012 schließlich

27 Martig 2001, 59.

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das Ziel von drei Archen, wovon eine die amerikanische ist und spielte im gesamten Rettungsszenario keine Rolle, da der afrikanische Kontinent von den verheerenden Zerstörungen weitestgehend verschont geblieben ist. Als vormalige ‚Dritte Welt‘ bietet er sich als rettender prospektiver Zufluchtsort an, ohne dass die Rede von Demut oder repräsentativer Neuordnung die Rede ist. Von daher könnte in diesem Zusammenhang auch von einer postapokalyptischen Neukolonisation gesprochen werden. Die hier beispielhaft diskutierten audiovisuellen Untergangs- und Bedrohungsszenarien spekulieren mit großer Lust im Konjunktiv. Sie zeigen die Realisation einer Möglichkeit und bleiben in der filmischen Gesamtanlage und Dramaturgie konventionell und absehbar. Einzelne semantische Motive oder umfassende Transformationsprozesse reproduzieren eine mythische Grundstruktur: Ein unstabiler Ausgang führt zu einer Krise, die ganz knapp, aber doch bravourös gemeistert, wieder in eine neue stabile Situation führt. Augenscheinlich werden die vielfachen Annahmen in ein unterkomplexes, weil erzählbares, lineares Handlungsgefüge überführt, das uns als Zuschauer zumindest eines verspricht: Kontinuität. Dabei werden die Absurdität der Situation und die psychische Verarbeitung von Chaos, Tod, Gewalt, Elend, Hoffnungslosigkeit und Verletzungen durch die Protagonisten nicht thematisiert. Sie können es auch nicht, da die Sinnstiftung bzw. die Sinnsuche nicht aufgegeben wird. Sie wird von heroisch bis pathetisch aufrecht gehalten, und zwar für die Familie, die Liebe, die Freundschaft, das Gute im Menschen, für die Nation und letztlich für die Welt. Die konfligierenden Beziehungen unterliegen einem Prozesscharakter, das Ende einer Beziehung wird zum Ausgangspunkt der Arbeit an ihr. Die Zerstörungen übertreffen alle Vorstellungen, werden sprachlich hauptsächlich metaphorisch erfasst und hinterlassen bei den Protagonisten maximal äußerlich sichtbare Spuren. Utopie statt Dystopie. Dafür müssen Opfer gebracht werden, aber dann wird auch alles gut. Hauptsache der Glaube wird bewahrt, der Glaube an sich und an das Gute. So wie der Präsident als Side-Kick und verlässliche Größe. Die Spekulationen werden in ihrer Potenz mehrdimensional. Wer ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort? Wer hat die Ressourcen, das Wissen, die Kraft, zu überleben, sich zu retten, gegebenenfalls noch andere Mittel, um über das Ende hinaus moralisch integer zu sein? Darüber hinaus: Die Welt wird eine andere sein, doch gibt der Film vor, was antizipierbar erscheint? Emmerich macht in seinen Filmen deutlich, dass in endzeitlichen Extremsituationen eine (hegemonial) rationale Ordnung der Dinge zwar überschritten werden kann, diese aber damit keinesfalls aufgelöst wird. Der Thrill des Spekulierens verkommt dabei zu einem oft nebulösen (Unterhaltungs-)Effekt, der durch den Helden eingelöst wird und den Zuschauer in schläfrige Sicherheit wiegt. Das Ausleben (in) einer solchen

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Welt bzw. eines solch spekulativen Szenarios korreliert mit antizipierten Konsequenzen unseres heutigen Handelns. Unsere Lebensqualität wird Einbußen erleben, da große Teile der Welt untergegangen sind, oder das Sicherheitsrisiko steigt, in welchem Umfang auch immer. Aber der Held, die Erlöserfigur, ein nicht zwangsläufig gläubiger, jedoch unbedingt glaubwürdiger Messias zeigt uns: Es wird schon irgendwie weitergehen. Auch wenn die Welt untergeht.

L ITERATUR Anders, Günther (1980/1956): Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit. In: Ders. (Hrsg.): Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. I Über die Seel im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München, 233-324. Arenhoevel, Diego/Deissler, Alfons/Vögtle, Anton (o.J.): Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Deutsche Ausgabe mit den Erläuterungen der Jerusalemer Bibel. Leipzig. Bahr, Petra (2001): „Das Ende ist da.“ Anmerkungen zu einer heiklen Sprachpraxis an der Zeitenwende. In: Margrit Frölich/Reinhard Middel/Karsten Visarius (Hrsg.) (2001): Nach dem Ende. Auflösung und Untergänge im Kino an der Jahrtausendwende. Marburg, 49-69. Borcholte, Andreas (2013): Blockbuster-Spezialist Emmerich: „Mit Aliens kann man sich alles erlauben“. In: Spiegel Online. Aufgerufen von http://www.spie gel.de/kultur/kino/kino-regisseur-roland-emmerich-ueber-white-house-down-a919312.html [zugegriffen: 20.03.2013] Bormann, Thomas/Veith, Werner/Zöller, Stephan (Hrsg.) (2007, 2009, 2012): Handbuch Theologie und Populärer Film. Band 1, 2, 3 Paderborn. Bürger, Peter (2005): Kino der Angst. Terror, Krieg und Stastskunst aus Hollywood. Stuttgart. Derrida, Jaques (2012/1983): Apokalypse. Wien. Frölich, Margrit/Middel, Reinhard/Visarius, Karsten (Hrsg.) (2001): Nach dem Ende. Auflösung und Untergänge im Kino an der Jahrtausendwende. Marburg. Hahn, Ferdinand (1991): Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik. Eine Einführung. Neukirchen-Vluyn. Jerome, F. Shapiro (2002): Atomic Bomb Cinema. The Apocalyptic Imagination on Film. London. Kleiner, Marcus S. (2013): Apokalypse (not) now. In: Marcus S. Kleiner/ Thomas Wilke (Hrsg.) (2013): Performativität und Medialität Populärer Kulturen. Wiesbaden. Koch, Markus (2002): Alien-Invasionsfilme. Die Renaissance eines ScienceFiction-Motivs nach dem Ende des Kalten Krieges. München.

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Online Link 1: Rahmstorf, S. (o. J.): The Day After Tomorrow – some comments on the movie. Aufgerufen von http://www.pik-potsdam.de/~stefan/tdat_review.html [zugegriffen 20.03.2014] Link 2: Vgl. http://www.boxofficemojo.com [zugegriffen 27.02.2014]

Eine Theorie des Populär-Spekulativen in sozialen Medien R AMÓN R EICHERT

Auf den ersten Blick scheinen die Spekulationen des Alltäglichen im Sinne einer mysteriös anmutenden Aussage und die Spekulationen als philosophische Denkweise einander diametral gegenstehend. Zwischen den Polen des Obskuren und des Methodischen liegt aber ein dritter Diskursstrang der Spekulation, der im Feld der Finanzmarktanalyse entstanden ist und der Alltägliches und Methodologisches in sich vereint und zum Ausgangspunkt genommen werden soll, Akteure in Sozialen Medien als „spekulierende Spekulanten“1 zu bestimmen, die maßgeblich zur Reflexivität der Sozialen Medien beitragen. In der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes entwickelt Hegel eine vielzitierte Denkfigur der Sinnverschiebung, deren Modernität für die fankulturelle Rezeptionsforschung von Interesse sein kann, wenn in Betracht gezogen wird, die soziale und kulturelle Energie in Rezeptionskontexten theoretisch zu rahmen. Eine Vielzahl prominenter Gegenwartsautoren hat auf die Modernität der Hegelschen Dialektik hingewiesen und versucht, die von ihm theoretisch in Aussicht gestellte Unabschließbarkeit des Sinns und somit des Verstehens kritisch zu befragen und weiterzuentwickeln. In meinem Aufsatz möchte ich die von Hegel aufgeworfene Figur des permanenten Gleitens und des möglichen Verschiebens des Sinns im Dialog mit zeitgenössischen Autoren wie Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Henry Jenkins thematisieren und ihr Potenzial für die theoretische Rahmung der Fankultur in den Sozialen Medien aufzeigen. In diesem Zusammenhang konzentriere ich mich auf die Hegelsche Philosophie des Spekulativen, die ich – enger gefasst als ästhetischen Analysebegriff der Reflexion und der Re-

1

Stäheli 2007.

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flexivität – zur produktiven Thematisierung der populärkulturellen Praktiken in den Sozialen Medien des Web 2.0 einsetzen möchte. Im Unterschied zur einschlägigen Literatur, welche die fankulturellen Aktivitäten im Internet untersucht2, gehe ich über die ästhetische Reflexion als jenen Beitrag, den die einzelnen Rezipient/innen zu leisten imstande sind, hinaus und versuche vielmehr, den Aspekt der strukturellen Reflexivität stark zu machen, um die Phänomene der Populärkultur auch als einen Effekt von technischen Infrastrukturen und medialen Dispositionen erklären zu können. Zur Klärung dieses Bezugsystems wird im ersten Schritt der Begriff des Spekulativen sondiert, um sich davon ausgehend die wichtige Unterscheidung zwischen spekulativer Reflexion und spekulativer Reflexivität erschließen zu können.

R EFLEXION

UND

R EFLEXIVITÄT

In der Hegelschen Dialektik nimmt der Begriff des Spekulativen einen zentralen Stellenwert ein, um eine bestimmte Art und Weise des Reflektierens zu unterscheiden. Spekulatives Denken kann sowohl als eine Reflexion als auch eine Reflexivität betrachtet werden. Klären wir zunächst den Begriff der Reflexion. Die Reflexion wird von Hegel als eine spekulierende Tätigkeit aufgefasst, mit der etwa die Bereitschaft eines Akteurs, auf Reflexion zu setzen gemeint ist - im Kontext einer distanzierenden Bezugnahme, die sich von Impulsivität oder Naivität unterscheidet. In dieser Hinsicht versteht er unter einer spekulierenden Fähigkeit die Eigenschaft, die eigene, ego-zentrische Perspektive zu verlassen, um Einsicht in die eigene Bedingtheit, z.B. die Bedingtheit vermittels technischmedialer Systeme zu erlangen. Reflexion ist folglich dann gegeben, wenn ein Subjekt sich auf eine bestimmte Art und Weise von etwas distanziert, das ihm als Reflexivität technisch-medialer Infrastrukturen für spezifische Selbstanwendungen gegeben ist. In Hinsicht auf die fankulturelle Praxis der ironischen oder parodierenden Distanzierung von einem gegebenen Sujet, Stereotyp oder Motiv kann die Reflexion als eine Handlung verstanden werden, mit welcher ein Subjekt sein ästhetisches Verhältnis zu einem Thema zum Ausdruck bringt und mit dem von ihm selbst Hergestellten eine Kommunikation über es selbst – nämlich als ein reflektierendes Subjekt – eröffnet. Reflexion meint also in diesem Zusammenhang, dass es ein Subjekt als Träger einer bestimmten Handlung geben muss, das ein reflexives Verhältnis zu einem bestimmten Gegenstand unterhält. Ein Subjekt, das z.B. in sozialen Netzwerkmedien über ‚seine‘ Reflexion kom-

2

Vgl. Jenkins 2008.

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muniziert, reflektiert auf unterschiedliche und vielfältige Weise. Es reflektiert nicht nur den jeweiligen Inhalt, auf den es sich bezieht, sondern nimmt auch reflektierend Bezug auf die Reflexion der anderen, die sich mit seiner Reflexion auseinandersetzen (es thematisiert z.B. die Kommentare auf sein Deutungsangebot) und vermag auch die Reflexivität des medialen Dispositivs reflektieren, in dessen Rahmen es sich wahrnehmbar macht. In diesem Sinne reflektiert das reflektierende Subjekt auch die Reflexivität der Sozialen Medien und tritt als ihr Beobachter auf. Das die Reflexivität der Sozialen Medien beobachtende Subjekt kann also auf ganz unterschiedliche Weise reagieren: Es kann spezifische Handlungen setzen, sei es, dass es im Rahmen von medialen Anpassungsleistungen versucht, Inhalte ‚erfolgreich‘ zu verbreiten (Fakes, virale Inhalte etc.) oder im Sinne der Selbstoptimierung versucht, möglichst viel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken (z.B. durch die Bereitstellung von Inhalten, die viele Likes generieren – diese Inhalte sind folglich nicht als eine lebensweltliche Äußerungen des Subjekts zu verstehen, sondern sind als reflexive Aussagen zu betrachten, mit denen ein Subjekt sich im Kommunikationsraum reflexiv verhält). Ich möchte im Folgenden auf dem grundlegenden Unterschied von Reflexion und Reflexivität aufbauen und dabei argumentieren, dass im Zwischenraum der beiden Begriffe möglicherweise die kulturelle Energie digitaler Medienkulturen verortet werden kann. Denn beide Positionen der Reflexion und der Reflexivität bedingen einander, sind voneinander abhängig und stehen in einem Wechselverhältnis zueinander. Insofern kann man davon ausgehen, dass sich der reflexive Handlungsspielraum der Fanaktivitäten auf YouTube innerhalb eines Möglichkeitsraumes befindet, der bestimmte Formen der Reflexivität aufweist, die den Bedienungsfunktionen zugehörig sind: Kommentar-, Bewertungs-, Verwaltungsund Verknüpfungsfunktionen. Der Möglichkeitsraum der Reflexion entspricht also im entfernten Sinne auch dem, was man mit Hegel Reflexivität nennen könnte und was später in der medienanalytischen Theoriebildung mit dem Begriff des Dispositivs umschrieben wurde, um die Ermöglichung technischmedialer Infrastrukturen zu beschreiben. Denn Reflexivität ist nach Hegel ein Merkmal von Strukturen, Prozessen und Systemen, setzt kein handelndes Subjekt, kein individuelles Bewusstsein und keine subjektiv vermittelnden Denkprozesse voraus, sondern ist etwas (hier weiterführend angedacht), das u.a. als eine Eigenschaft in technisch-medialen Infrastrukturen eingelagert ist.

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‚M IGRATION

DER

F ORM ‘

ODER ‚ REINE

ANEIGNUNG ‘?

In der vergleichenden Intermedialitätsforschung haben sich bis heute Analysebegriffe tradiert, die Anschlüsse an die Hegelsche Figur der Vermittlung anbieten, auch wenn dieser historische Bezug in den Untersuchungen nicht explizit gemacht wird. So ist etwa die Rede von einem „kontaktgebenden Medium“ und einem „kontaktnehmenden Medium“3, das als „Vorlage“, „Ausgangsbasis“ oder „Basismedium“4 für die ‚Vermittlung‘ in ein anderes Medium dient und der medialen ‚Übersetzung‘ von einem Medium in ein anderes Medium als ‚Orientierung‘ dienen soll. Medienvergleiche operieren häufig mit Figuren medienspezifischer Eigenschaften, die isoliert und kategorisiert werden können: „Die Literatur ist dabei das Basismedium, welches ein kontaktgebendes Medium dadurch verarbeitet, dass es dessen Elemente mit seinen ureigensten Mitteln umsetzt.“5 Dieser Denkfigur ist aber selbst eine raumzeitliche Ordnung und Abfolge eingeschrieben, die implizit von einer Eigenlogik des Medialen ausgeht und auch im vermeintlichen Medienwechsel (etwa vom Buch zum Theaterstück und zum Film) Grenzen zwischen unterschiedlichen medialen Formaten aufrechterhält und stabilisiert. In allen diesen Fällen beruft man sich auf die Form des Identischen im jeweiligen Medium, um die Abwandlungen und Verschiebungen kenntlich machen zu können. Bestimmten Medien werden im Sinne der Einzelmedienontologie spezifische Eigenschaften zugeschrieben, die sich von anderen Medien diskret und distinktiv unterscheidbar machen. Die Logik der Segregation des Medialen wird als fundamentum in re gesetzt und meint, dass jedes Medium mit seinem eigenen Unterschied einhergeht und das Vermittelnde zwischen den Medien eine Kategorie ist, in der die unterschiedenen Medien aufeinander bezogen sind. Diese Denkfiguren werden dann bemüht, wenn es darum geht, den Transfer zwischen den einzelnen Medien kategorial zu bestimmen und zu ordnen: von der Literaturvorlage zur Verfilmung, vom Filmischen im Comic, von der Vermittlung des Malerischen in der fotografischen Darstellung. Diese medialen Bezüge werden oft als Abstammungslinien gesehen, die Ursprüngliches in Nachträgliches und Originales in Verfälschtes auftrennen lassen. Aber auch wenn diese Vermischung und Überlagerungen in einer höheren Einheit aufgehoben werden, so setzen sich die medialen Hybridisierungen durch eine Ansammlung eines medialen Eigensinns aus, der in der Medienanalyse wieder segregiert und in mediale Referenzen gegliedert werden kann. Diese Sichtweise bleibt aber

3

Vgl. zur Begriffsbildung: Wolf 1996, 85-116.

4

Winkelmann 2004, 19.

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Ebd.

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der Erklärung der Vermittlung des Objekts verhaftet und nimmt an, dass das vermittelnde Medium immer schon vermittelt sein muss, nämlich durch das Objekt, das dann dem Subjekt vorausgesetzt bleibt. Damit retten die Medienontologen das Objekt vor dem Subjekt und konzentrieren sich etwa auf die Migration medialer Formen, die oft ‚oberhalb‘ des Subjekts angesiedelt wird. Diese Sichtweise konserviert spezifische Merkmale und Eigenschaften, die als Form erhalten bleiben, auch wenn sie auf unterschiedliche Weise de- oder rekontextualisiert werden. Diese ontologisierende Perspektivierung der kulturellen Formen gesteht dem kulturellen Wandel zwar eine Prozesshaftigkeit zu, versucht aber gleichzeitig in bestimmten Formen, Motiven oder Sujets einen unveränderlichen Charakterzug nachzuweisen, der dann in der populären Ikonografie als stabiler Referenzpunkt, nämlich als ‚Zitat‘ ausgewiesen wird. Dieser weitverbreitete Ansatz findet sich in unterschiedlichen Ausprägungen in den Kultur- und Kunstwissenschaften und versucht, die Traditionslinien von semantischen oder bildlichen Entitäten innerhalb eines kulturellen Gedächtnisses nachweisen. Demgegenüber betonen die Neostrukturalisten den Akt der reinen Aneignung, der sich unmittelbar aus der reinen Gegebenheit des je Wiederholten ergeben würde. So mobilisiert Deleuze in diesem Sinne gegen Hegel, wenn er konstatiert: „Man muss erkennen, wie Hegel das Unmittelbare entstellt und verfälscht, um auf diesem Unverständnis seine Dialektik zu begründen und die Vermittlung in eine Bewegung einzuführen, die nur mehr die seines eigenen Denkens und der Allgemeinheiten dieses Denkens ist. Die spekulativen Abfolgen ersetzen die Koexistenzen, die Gegensätze überdecken und verbergen die Wiederholungen“.6 Im Unterschied zu Hegel begriffsimmanenter Spekulation geht Deleuze von einer nichtbegrifflichen inneren Differenz aus – eine Ansicht, die er mit Derrida teilt. Beide Autoren gehen von einem Subjekt aus, das immer nur das bereits Vergangene vorfindet, ohne es in ein Gegenwärtiges verwandeln zu können. In diesem Sinne schreibt Deleuze, dass jedes Produkt „bereits als vergangen gedacht und wiedererkannt“7 wird. So haftet bereits dem oben erwähnten Terminus der Spekulation selbst schon eine Differenz an sich selbst an, denn einerseits verweist er etymologisch auf den Spiegel, speculum und charakterisiert damit eine Art der Rückbezüglichkeitsbeziehung, andererseits bedeutet er in einem alltäglichen Sprachgebrauch auch ein Überschreiten des unmittelbar Vorhandenen auf ein unbestimmtes Zukünftiges. Spekulative Diskurse sind folglich von einer Temporalität gekennzeichnet, da sie die Präsenz selbst nicht darstellen können, sondern immer nur eine Präsenz in ihrer Zukunft antizipieren können, in diesem Sinne immer

6

Deleuze 1992, 77.

7

Ebd., 31.

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nur eine zukünftige Präsenz verhandeln und in Aussicht stellen können, eine Präsenz im Kommen also, die immer wieder von Neuem aufgeschoben werden muss. In diesem Sinn bietet YouTube seinen Nutzerinnen und Nutzern die Möglichkeit, ein spekulatives Spiel mit der Apräsenz des Geheimnisvollen, Rätselhaften, Unheilvollen und Schicksalsmächtigen zu entwickeln. In Bezug auf den im vorhergehenden Kapitel angesprochenen Stellenwert technisch-medialer Reflexivität können wir die von Deleuze und Derrida in Aussicht gestellten Figuren der Wiederholung auch als Medien der Wiederholung kennzeichnen. Am Beispiel des Online-Videoportals YouTube könnte aufgezeigt werden, inwiefern es Wiederholung ermöglicht, kodiert und generiert – mit Hilfe der Algorithmen des Sortierens, Tabellierens und Verknüpfens. Um die Dimension von YouTube als Medium der Reflexivität beschreiben zu können, muss die Art und Weise, wie die Videoplattform ihre Produktions- und Rezeptionskontexte mit Hilfe wechselnder Softwarearchitekturen organisiert, erörtert werden. Mit seiner Art und Weise der Gestaltung, Organisation und Aufbereitung seiner Daten und Informationen generiert das Videoportal macht-, wissens- und subjekttechnologische Formationen und setzt damit auch medienästhetische Standards, Normen und technische Vorgaben, die auf ein spezifisches Wahrnehmen, Erinnern und Kommunizieren abzielen. So nimmt etwa das kollaborative Erschließen und Verwalten von unterschiedlichen Webinhalten im Web 2.0 einen großen Raum an der Schnittstelle zwischen User/innen-generierter Reflexion und struktureller Reflexivität ein. Eine dieser Verfahrenstechniken, das Video zusätzlich zu signifizieren, stellt das Social Tagging (dt. „mit einem Etikett versehen“) dar. Hierbei können registrierte Mitglieder ihre Videos hochladen, diese mit Hilfe von „Tags“ (Schlagwörter) kennzeichnen und für weitere Nutzerinnen und Nutzer verfügbar machen, die selbst wiederum weitere Tags oder auch Bewertungen vergeben können. Es handelt sich dabei um ein Verfahren der kollaborativen Verschlagwortung, das zu den charakteristischen Anwendungen der sozialen Software zählt und nicht automatisch oder mit Hilfe eines kontrollierten Vokabulars (Schlagwortkatalog), sondern individuell erfolgt. Im Rahmen dieser Verschlagwortung digitaler Ressourcen können die User die von ihnen frei gewählten Tags dem Videomaterial ohne feststehende Regelstruktur zuordnen. Mit dem Social Tagging – aber auch mit Hyperlinks, Plug Ins, Rating- und Votingverfahren entstehen instabile (Bedeutungs-)Netze, mit denen das Video zwar zusätzliche Meta-Informationen erhält, aber dennoch einem offenen und unabgeschlossenen Bedeutungsprozess überantwortet wird. So entstehen fluide und sich permanent erweiternde Taxonomien (Klassifikationsschema), die sich durch Hyperlinks (elektronische Verweise zu einem anderen Dokument) und Social Bookmarking

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(kollektive Linksammlungen) vernetzen und im relationalen Gefüge der wechselseitigen Bezugnahmen nur eine Momentaufnahme abbilden. Der Stellenwert der usergenerierten Parodien zeigt sich folglich nicht nur alleine auf der Ebene der Repräsentation (die eine filmwissenschaftliche Analyse nahe legen würde), sondern auch darin, wie in der Zirkulation der Videos durch Feedback, Approbiation und Hyperlinks Bedeutungsproduktionen hervorgebracht werden, die maßgeblich dafür verantwortlich sind, welchen Stellenwert ein spezifisches Video innerhalb der Rezeptionskontexte einnehmen kann. In diesem Sinne verändert sich der Rezeptionskontext der Videos andauernd und bleibt innerhalb kulturell heterogener Diskurse und Praktiken offen und unabgeschlossen. Somit befinden sich die Produzentinnen und Konsumentinnen der YouTube-Clips grundsätzlich in einer offenen und unabgeschlossenen Austauschbeziehung der gegen- und wechselseitigen Konstitution. In diesem Sinne bleiben die Videos im Aggregatzustand unterschiedlicher Verhandlungsprozesse und Mitbestimmungsmöglichkeiten uneindeutig, ephemer und umkämpft. Meine These ist daher, dass die Videoplattform YouTube eine technischmediale Infrastruktur darstellt, die spezifische Formen von Reflexivität generiert. Die funktionalen Möglichkeiten, die YouTube etabliert, dürfen aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die technischen Strukturen der Reflexivität von den subjektiven Reflexionen durchquert wird, um technische Dispositive für unterschiedliche Zwecke zu nutzen. Was sich mit YouTube etabliert hat, ist der Versuch, Reflexivität organisiert in technische Systeme zu übertragen, um den potentiellen Bedeutungsüberschuss von Inhalten, die in jedem Sinnsystem selbst angelegt sind, in medientechnische Architekturen und algorithmische Verkettungen aufzulösen. Auf der einen Seite situieren sich eine Vielzahl von Fanaktivitäten im Frontend-Bereich, die sich am transmedialen und intertextuellen Bedeutungsüberschuss abarbeiten und die inhärenten Widersprüchlichkeiten unterschiedlichster Inhalte und Formate offenlegen; auf der anderen Seite wird das von den Fans aktivierte Gleiten des Sinns in algorithmenbasierten Verfahren erhoben, ausgewertet und visuell modelliert.

D IFFERENZ

OHNE

W IDERSPRUCH ?

In ihrer Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Satzsinngleiten haben zahlreiche Autoren immer wieder die „Macht des Negativen“ bei Hegel kritisiert und darauf insistiert, dass sich das Denken der Differenz „nicht auf den Widerspruch

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reduzieren“8 lässt. Diese Dialektik zwischen Zwang und Freiheit oder Opportunismus und Widerstand kann für das Denken einer Bedeutungssubversion, die das Deutungspotential einer ästhetisch-kreativen Fankultur produktiv stimulieren kann, verwendet werden. Herunter gebrochen auf unsere Thematik der Fankulturforschung geht es um die grundlegende Frage, auf welche Weise sich Akteure mit ihren kontextmodifizierenden Reenactments innerhalb technisch-medialer Gegebenheiten positionieren! Würde man ihnen entlang der angesprochenen „Macht des Negativen“ eine theoretisch fixierte ‚Position‘ des Widerstandes einräumen, dann würden sich ihre Akte und Artefakte auf einen simplen Widerspruch reduzieren lassen und sie wären bloß in der Lage, auf bereits Gegebenes zu reagieren. Würde man ihnen aber eine Neuschöpfung zugestehen, dann wäre das ästhetische Bezugsverhältnis unterbrochen und Referenzen und Relationen zu anderen Artefakten verlören ihre Möglichkeiten, Beziehungen zu knüpfen und unterschiedliche Gewichtungen zu setzen. Um diese simple Dichotomie zu unterlaufen, gehe ich von der Annahme aus, dass zwischen Akteuren, Medien und ihren Netzwerken dynamische Interdependenzen entstehen, die im Falle der Sozialen Medien zur Etablierung von marktförmigen Strukturen, spekulativem Verhalten und reflexiven Feedbackschleifen führen. In seiner Vorrede zur Phänomenologie des Geistes kritisiert Hegel den wissenschaftlichen Anspruch auf einen abgeschlossenen Sinn von Aussagen und rückt an seine Stelle die „dialektische Bewegung des Satzes selbst.“9 Der semantische Gehalt von Aussagen oder allgemeiner: der Sinn von diversen Inhalten erschließt sich erst, wenn sein Gleiten, genauer das Satzsinngleiten in Betracht gezogen wird. Hegel operiert hier mit dem Begriff der Wahrheit: Sie „ist die Bewegung ihrer an ihr selbst“, und das „Wahre ist so der bacchantische Taumel“. Im Kontext dieser Bewegung „bestehen zwar die einzelnen Gestalten des Geistes wie die bestimmten Gedanken nicht, aber sie sind so sehr auch positive notwendige Momente, als sie negativ und verschwindend sind.“10 Für ihn erfüllt der Gegenstand nicht länger das Mindestmaß einer stabilen Bestimmtheit. Folglich bildet für Hegel dieser Taumel einer permanenten Bedeutungsverschiebung, die keinen fixen Bestand ausbilden kann und nur zu ihrem Verschwinden vorausgesetzt werden kann, den Anlass, den Korrespondenzbegriff der Wahrheit radikal in Frage zu stellen, weil für ihn das Wissen auf keinen Gegenstand der Erkenntnis mehr referiert, nach dem sich ein gegenstandsorientiertes Wissen kontinuierlich und verlässlich ausrichten könne. Angetrieben wird diese Dynamik der Be-

8

Deleuze 1992, 78.

9

Hegel 1986a, 53.

10 Ebd., 57.

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deutungsverschiebung in erster Linie durch den Widerspruch, der im Hegelschen Denken in jedem Begriff latent enthalten ist: „Spekulativ denken heißt, ein Wirkliches auflösen und dieses in sich so entgegensetzen, dass die Unterschiede nach Denkbestimmungen entgegengesetzt sind und der Gegenstand als Einheit beider aufgefasst wird.“11 Doch die hier von Hegel mit dem Begriff der „Entgegensetzung“ angesprochene Differenz lässt sich nach Deleuze „nicht auf den Widerspruch reduzieren“12. Und somit wird dann auch die „Macht des Negativen“ bei Hegel kritisiert. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass der Begriff des Widerspruchs immer schon theoretisch gesetzt ist und die konkreten Praktiken der Reflexion und der strukturellen Reflexivität von Online-Portalen aus dem Blick verliert. Um diese Verflechtung von Reflexion und Reflexivität genauer zu fassen, möchte ich im Folgenden auf die konkreten Verfahren und möglichen Praktiken des Videoportals YouTube eingehen. YouTube bildet heute ein populärkulturelles Archiv unzähliger Reenactments, Parodien und Travestien. Sie können im Allgemeinen als Formate beschrieben werden, die sich aus kontinuierlichen Asymmetrien und Verschiebungen zusammensetzen. Ein Video akkommodiert sich einem anderen Video und geht gleichzeitig über das einzelne Exemplar hinausgeht, weil es permanent verlinkt, bewertet, kommentiert wird. Videos auf dem Videoportal YouTube befinden sich in einem unaufhörlichen Prozess der wechselseitigen Kommentierungen, Bewertungen, Remixes (Neubearbeitung eines Inhaltes) und Reinszenierungen (szenisches Nachspielen) und produzieren instabile Bedeutungsnetze, die von politischen Befürwortern und Gegnern gleichermaßen hervorgebracht werden. Diese kulturelle Praxis hat wesentlichen Einfluss auf die Transformationen der populärkulturellen Diskurse über spezifische Formate, kreisen um die Vernetzungskultur des Community-Building und verorten sich ebenso in Fan/HateAuseinandersetzungen. Fan/Hate-Diskurse werden von Fans und Anti-Fans getragen, die in ihren Videobotschaften positive oder negative Distinktionsmarker für das Aufzeigen kultureller Gruppenzugehörigkeit durch Geschmacksbildung nutzen. Vor diesem Hintergrund scheint es nicht mehr plausibel zu sein, von einem einzelnen ‚kontaktgebenden‘ Medium auszugehen, sondern eine Vielzahl von Wirkungen im Verhältnis zu den Ursachen anzunehmen. Diese Vielzahl von Wirkungen ist auch nicht feststehend und in sich abgeschlossen. In diesem Sinne kann der Begriff der Wechselwirkung, der noch bei Hegel die Dialektik ordnete und wo sich Ursachen und Wirkungen ineinander verschlungen haben, nicht mehr ins Treffen geführt werden. Soziale Medien verändern also aufgrund ihrer

11 Hegel 1986c, 30. 12 Ebd., 78.

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technisch-medialen Infrastrukturen der permanenten Instabilität von medialen Ereignissen und sozialer Wahrnehmung die Wirkungsschleifen, die nicht mehr in einer Ursache beschlossen sein können. Dementsprechend empfiehlt es sich in der Analyse der Sozialen Medien mit Deleuze von einem strukturellen „Mangel an Symmetrie“ auszugehen, der die Nicht- bzw. die A-Symmetrie meint und eine permanente Verschiebbarkeit im Blick hat. In diesem Sinne könnte man in der Beschreibung der Bedeutungsdynamik auf YouTube eher von einem „Prozess der Signalisierung“ sprechen.13 Der Begriff des Signals beschreibt das Auftauchen von asymmetrischen Elementen und Ordnungen von disparaten Größen, die immer schon in einem referentiellen Zusammenhang stehen. Das, was also die einzelnen Videos repräsentieren sollen, ist selbst schon vermittelt durch die Reflexivität des Systems ‚YouTube‘ und eingebettet in hypertextuelle und hypermediale Verfahren, die den repräsentationalen Charakter der Videobilder aufheben.

D IALEKTISCHE S PEKULATION

ALS ÄSTHETISCHE

P RAXIS

Wie oben skizziert, distanziert Hegel das spekulative Denken sowohl vom Identischen als auch vom Nicht-Identischen und vermag sich damit sowohl der Identität als auch der Differenz zu entziehen, um am Widerspruch zwischen beiden Positionen festzuhalten. Dieses Festhalten am Widerspruch eröffnet also eine Spannung, die überhaupt erst den Prozess der Bedeutungskonstitution in den Blick zu bekommen vermag. In der „Wissenschaft der Logik“ versucht Hegel, diesen Zwischenraum einer ästhetischen Haltung des Ambivalenten formal zu akzentuieren und macht darauf aufmerksam, dass eine dialektische Spekulation nicht darauf abzielt, eine alternative Sprechposition aufzubauen, sondern im Gegenteil darauf abzielt, die kulturellen Ausdruckformen in ihrer eigenen Widersprüchlichkeit freizulegen.14 In diesem Sinne firmiert das Spekulative für Hegel als ein ästhetisches Verfahren, das darauf abzielt, die immanente Logik und das Bauprinzip von Diskursen, Bildern, Praktiken u.a.m. freizulegen. An diesem Punkt setzt Derrida mit seiner Lektüre von Hegels Spekulationsbegriff an, wenn er die Spekulation als ein Wechselverhältnis der Selbstbeziehung ansieht, die keine gemeinsame Grundlage der Identitätsstiftung mehr voraussetzt und in seiner Konzeption der „Grammatologie“ den Schluss zieht, dass der „Ursprung der Spekulation eine Differenz“ einzieht.15 Für ihn ist es die spe-

13 Vgl. Helbig 1996. 14 Vgl. Hegel 1986b, 37. 15 Derrida 1983, 65.

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kulative Grammatologie, die er als eine grundlegende Kategorie der Zeichenanalyse ansieht, sie hat für ihn die Aufgabe, jene Bedingungen zu untersuchen, die für die Repräsentationen gegeben sein müssen, damit sie Bedeutung überhaupt erst vermitteln können. Hierbei geht es hier weniger darum, die Bedingungen des Zeichens als Zeichens im Sinne einer grundlagentheoretischen Fundierung festzulegen, sondern vielmehr die Bedingungen der Möglichkeit freizulegen, mit denen Bedeutung generiert und auf ein bestimmtes Subjekt, Prädikat oder Objekt übertragen wird. Auf diesen unauflöslichen Widerspruch von Subjektivierungsprozessen im Internet verweisen heute zahlreiche Untersuchungen zu den Strukturen, Mechanismen und Bedingungen der Formation von Subjektivität, die zum Schluss kommen, dass sich die Selbstpraktiken immer im ambivalenten Spannungsfeld von Subjektivierung und Entsubjektivierung bewegen. Nach Michel Foucault ist die Kritik eine experimentelle und ortlose Praxis, die letztlich auf eine permanente Absetzbewegung und eine Praxis der „Entsubjektivierung“16 hinausläuft. Entsubjektivierung ist für ihn folglich immer auch in einer Ambivalenz befangen, die eine fassbare Identifizierung unmöglich macht. Die Ambivalenz behält zugleich die Möglichkeit von Kritik wie die Unmöglichkeit einer Instanz ein, welches sich als wahres Selbst bestimmen könnte. Im Unterschied zum Subjektivierungsregime, das auf das Zu- und Abrichten der Subjekte abzielt, beharrt die Entsubjektivierung auf einem kritischen Verhältnis zur Politik des Selbst- und Identitätsmanagements und versucht, die Imperative zur Selbstfindung zu überwinden, ohne sich jedoch in Selbstauflösung zu verlieren. In diesem Sinne meint Entsubjektivierung eine mehr oder weniger kontingente Erfahrung, die uns eher widerfährt, als dass sie von uns beherrscht und kontrolliert werden würde und damit die Grenzen der kohärenten Subjektivität überschreitet. Inwiefern darin Entgrenzung zu einer Subjektivierungsform zu werden vermag, muss folglich offen bleiben. Einerseits ist das Subjekt als Konstituierendes immer schon medial konstituiert, andererseits eröffnet es mit seiner iterativen und signifizierenden „Kraft zum Bruch“17 unendlich viele neue Kontexte. In ihrer grundlegenden Verflechtung ermöglichen sich Aktivität und Passivität, Konstituierendes und Konstituiertes wechselseitig. Demzufolge ist dem Subjekt die vollkommene Aneignung seiner persönlichen Hervorbringungen und Fähigkeiten ebenso versperrt wie auch im Umkehrschluss seine totale Enteignung durch die anderen. Mittels ihrer Selbstpraktiken konstituiert sich vielmehr ein Raum von offenen Horizonten und

16 Foucault 1993, 27. 17 Derrida 2001, 27.

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Unbestimmbarkeiten, worin jede Deutung eine chiastische Struktur erhält. Die wechselseitige Verflechtung von Subjekt und Medium hat Merleau-Ponty in seinem Spätwerk mit dem Begriff des Chiasmus umschrieben18. Der Begriff Chiasmus leitet sich von dem griechischen Buchstaben Chi (Χ) ab und bezeichnet eine kreuzweise syntaktische Wortstellung. In seinem unvollendeten Theoriefragment tritt an Stelle des griechischen Begriffs der Terminus ,Überkreu-zung‘, mit dem er eine Abkehr von der traditionellen dualistischen Sichtweise zu überwinden versucht. Mit der Figur des Chiasmus schließt er völlige Kongruenz ebenso aus wie völlige Inkongruenz. Infolgedessen zeigt sich die Aktivität der Sinngenerierung als brüchiger Sinn. Durch die chiastische Konstellation medialer Praktiken entstehen Paradoxien, die nicht mehr mit begrifflichen oder interpretativen Methoden angeeignet werden können. Derart sich überkreuzende Bedeutungsprozesse führen in die Interpretationen widerständige und singuläre Momente ein, welche den Erklärungsversuch einer geschlossenen Sinntotalisierung kontinuierlich unterlaufen. Folglich wird Macht nicht gemäß der Tradition als Substanz oder Eigentum gedacht, sondern als nicht-statische Kräfterelation. Daraus folgt, dass der Widerstand ein unverzichtbares Moment der Macht darstellt. Der von Foucault geprägte Begriff der Gouvernementalität macht darauf aufmerksam, wie diese Dynamik der Machtverhältnisse ihre jeweilige Ausrichtung erfährt. Die Arbeiten der Governmentality Studies interessieren sich für Prozesse der Emergenz: Statt von quasi-naturgegebenen Problemen auszugehen, fragen Autoren wie Nikolas Rose19, wie verschiedene soziale Bereiche durch die Problematisierung bestimmter Denk- und Handlungsformen als regierbare konstituiert werden. Demzufolge sind die sozialen Praktiken der User/innen auf YouTube nicht als bloße Ausführung überindividueller Normen oder als passive Aneignung infrastruktureller Vorgaben zu verstehen. Die Grundannahme, dass kulturelle Praktiken immer vieldeutig und veränderlich sind und ihre theoretische Reflexion immer auch ein aktiver Konstruktionsprozess ist, kann als Ausgangspunkt für die Thematisierung kultureller Praktiken und ihrer Bedeutungen genommen werden, vereinfachende oder vereinheitlichende Interpretationen von Kultur zu vermeiden. Daraus kann gefolgert werden, dass kulturelle Formationen von den sich im veränderlichen Feld von Beziehungen verortenden Praktiken immer wieder aufs Neue transformiert werden. Infolgedessen berücksichtigt eine Kartografie der kulturellen Formationen das komplexe Gewebe der möglichen Bedeutungen von Kultur und ihren Kontexten. Sie verfolgt weniger die Absicht, repräsentative Karten der kulturellen Praktiken

18 Merleau-Ponty 1986, 172-203. 19 Rose 1990.

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zu entwerfen, sondern versucht vielmehr, die strategischen und taktischen Möglichkeiten der Aneignungspraktiken sicht- und sagbar zu machen. Somit kann den kulturellen Formationen dieselbe handlungsermöglichende Wirkung zugesprochen werden wie den sozialen Beziehungen. Vor diesem Hintergrund distanziert sich die Erforschung der kulturellen Formationen vom Ideal der autonomen und neutralen Wissenschaft und positioniert sich als ein politischstrategisches Projekt. Medien operieren in bestimmten diskursiven Räumen, die ihre kulturellen Formen und Funktionen festlegen. Es ist also keineswegs so, dass Medien stets von sich aus ein – angemessenes oder wirksames – Wissen über das erzeugen, was sie sind und können20. Das, was Medien können, entsteht und entwickelt sich folglich erst aus ihrem Gebrauch heraus. Die vielfältigen Nutzungsprozesse im Netz sind jedoch immer auch Gegenstand forschungsstrategischer Exemplifizierungen und entziehen sich trotz versuchter Etikettierungen der festen Rahmensetzung und somit der theoretischen ,Sichtbarmachung‘ der Unübersichtlichkeit des Alltags. Eine nichtstatische/temporalisierte Konzeption der kulturellen Formation geht einer teleologischen Indoktrination der Medienkanäle aus dem Weg und verändert die Perspektive der Medien: Sie verändern sich von Anfang an und sind permanenten Aneignungsprozessen unterworfen. Gemeinsam ist diesen Selektions- und Bemächtigungsprozessen, dass die User/innen die Relevanz der Produkte für ihre persönliche und soziale Lebenssituation selbst herausfinden wollen. Diese performative Herstellung der Medien, die nicht an sich, sondern immer nur für sich, d.h. in konkreten alltäglichen, sozialen Zusammenhängen existieren, führt zur Annahme, dass die Medien in diesem Sinne kein geschlossenes System abbilden, sondern immer auch die Möglichkeit von Veränderung und Subversion beinhalten. In einem Feld fortwährender Differenzierungen und Transformationen fungieren komplexe mediale Konstellationen, die sich aus Normen, Dispositiven, Freiheitstechnologien, Adressierungen, Evidenzstrategien zusammensetzen, als basale Strategien für die Prozessierung kulturellen Sinns. Daher ist es notwendig, einen differenzierten Begriff sozialer Praxis zu entwickeln, um nach dem Gebrauch fragen zu können, der von den Rahmenbedingungen der Uploads gemacht wird. Wenn das Verhältnis von struktureller Reflexivität und subjektiver Reflexion nicht als determiniertes Zwangs- oder Gewaltverhältnis verstanden werden soll, sondern als strategische Machtbeziehung, die offen bleibt für ihre Umkehrung oder Veränderung, dann muss der Beitrag, den die Akteure zur Konstituierung bestimmter Praxisformen des Spielens leisten, auch differenziert werden und als prinzipielle Öffnung der Populärkultur 2.0 verstanden werden.

20 Vgl. zur performativen Logik des Medialen: Jäger 2004, 35-74.

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L ITERATUR Deleuze, Gilles (1992): Differenz und Wiederholung. München. Derrida, Jaçques (1983): Grammatologie. Frankfurt/Main. Derrida, Jaçques (2001): Signatur Ereignis Kontext. In: Jaçques Derrida (Hrsg.): Limited Inc. Wien, 15-45. Foucault, Michel (1993): Technologien des Selbst. In: Luther H. Martin/Huck Gutman/Patrick H. (Hrsg.): Technologien des Selbst. Frankfurt/Main, 24-62. Foucault, Michel (2000): Die Gouvernementalität. In: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.): Gouvernmentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt/Main, 41-67. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986a): Phänomenologie des Geistes, Gesammelte Werke 3. Frankfurt/Main. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986b): Wissenschaft der Logik, Gesammelte Werke 5. Frankfurt/Main. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986c): Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Gesammelte Werke 13. Frankfurt/Main. Helbig, Jörg (1996): Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität. Heidelberg. Jäger, Ludwig (2004): Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Sybille Krämer (Hrsg.): Performativität und Medialität. München, 35-74. Jenkins, Henry (2008): Convergence Culture. New York. Merleau-Ponty, Maurice (1986): Das Sichtbare und das Unsichtbare. München. Rose, Nikolas (1990): Governing the Soul. The Shaping of the Private Self. London/New York. Stäheli, Urs (2007): Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie. Frankfurt/Main. Werner Wolf (1996): Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft? Plädoyer für eine literaturzentrierte Erforschung von Grenzüberschreitungen zwischen Wortkunst und anderen Medien am Beispiel von Virginia Woolfs ‚The Sting Quartet‘. In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 21, 85-116. Winkelmann, Sabine (2004): Intermedialität in Eugene O'Neills Dramen: The Emperor Jones, the Hairy Ape und The Great God Brown. Berlin.

Bildmotive

Covergestaltung: Kuno Seltmann Bild I: Bild II: Bild III: Bild IV:

Anna Maciocha (S. 9) Elisabeth Rapp (S. 39) Claudia Virzí (S. 83) Anna Maciocha (S. 153)

Autorinnen und Autoren

Kleiner, Marcus S., Prof. Dr., Medien- und Kulturwissenschaftler, Professor für Medienmanagement mit dem Lehrgebiet Live-Kommunikation und Entertainment an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Macromedia, University of Applied Sciences, am Campus Stuttgart, „Experte für Populäre Medienkulturen“ (FAZ), Sprecher der AG „Populärkultur und Medien“ in der Gesellschaft für Medienwissenschaft (2011-2015), Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift „Rock and Pop in the Movies – Journal zur Analyse von Rock- und Popmusikfilmen“, Kolumnist für Popmusik in der Zeitschrift „Pop. Kultur und Kritik“, Reihenherausgeber „Serienkulturen: Analyse – Kritik – Bedeutung“ (VS/ Springer) & „Popkulturen“ (transcript). Weitere Informationen und Kontakt unter: www.medienkulturanalyse.de. Reichert, Ramón, Dr. phil. Habil., 2009-2013 Professor für Neue Medien am Institut für Theater- Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Seit 2014 ist er Leiter der postgradualen Masterstudiengänge „Data Studies“ und „Cross Media“ an der Donau-Uni Krems. Er ist Initiator des 2013 gegründeten internationalen Forschernetzwerks „Social Media Studies“. Er lehrt und forscht mit besonderer Schwerpunktsetzung des Medienwandels und der gesellschaftlichen Veränderung in den Wissensfeldern „Digitale Medienkultur“, „Digital Humanities“ und „Social Media Studies“. Publikationen (Auswahl): Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0, 2008; Das Wissen der Börse. Medien und Praktiken der Finanzmarktes, 2009; Die Macht der Vielen. Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung, 2013; Big Data 2014 (Hrsg.). Ritzer, Ivo, Prof. Dr. phil., W1-Professur für Medienwissenschaft an der Universität Bayreuth, Schwerpunkt „Medien in Afrika“. Zuvor Lehrkraft für besondere Aufgaben am Medienwissenschaftlichen Seminar der Universität Siegen; wissenschaftlicher Mitarbeiter der Mediendramaturgie und Filmwissenschaft an

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der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Lehrbeauftragter für Medien-, Bildund Kulturtheorie an der Fachhochschule Mainz; externer Gutachter für Theatre, Film and Television Studies an der University of Glasgow. Gründer und Sprecher der AG Genre Studies innerhalb der Gesellschaft für Medienwissenschaft. Forschungsinteressen u.a.: Medienarchäologie, World Cinema, Serielle Television. Digitale Medien. Zahlreiche Publikationen zu Medien-, Bild-, Film- und Kulturtheorie, aktuell u.a.: Wie das Fernsehen den Krieg gewann: Zur Medienästhetik des Krieges in der TV-Serie, Wiesbaden: Springer VS 2015; Classical Hollywood und kontinentale Philosophie, Wiesbaden: Springer VS 2015; Genrereflexionen, Rabbit Eye – Zeitschrift für Filmforschung 6/2014 (hrsg. m. O. Schmidt); Genre Hybridisation: Global Cinematic Flows, Marburg: Schüren 2013 (hrsg. m. P.W. Schulze). Sanders, Olaf, (*1967), Dr. phil., hat die Professur für Systematische Erziehungswissenschaft an der TU Dresden inne. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Theorie und Philosophie der Bildung, populärer Kultur und der Medien, vor allem des Films und neuerer Fernsehserien. Kontakt: [email protected] Schulze, Holger, (*1970), Prof. Dr., ist Professor für Musikwissenschaft an der Universität Kopenhagen sowie Leiter des Sound Studies Lab. Als Kurator ist er für das Haus der Kulturen der Welt tätig und für das Deutschlandradio Kultur als Autor von Radiofeatures. Buchveröffentlichungen: Sound as Popular Culture (2015, hg. mit Jens Gerrit Papenburg); Gespür (2014); Intimität und Medialität: Anthropologie der Medien (2012); Sound Studies: Eine Einführung (2008, hg.) Stiglegger, Marcus, Dr. phil. habil., Film- und Kulturwissenschaftler an der Universität Mainz. Lehrtätigkeiten an Universitäten und Filmhochschulen in Mannheim, Klagenfurt, Regensburg, Ludwigsburg, Köln, Wroclaw und Clemson/SC. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Filmästhetik, Filmgeschichte und Medientheorie. Promotion SadicoNazista (1999, 3. Auflage Hagen 2014), Habilitation Ritual & Verführung. Schaulust, Spektakel & Sinnlichkeit im Film (Berlin 2006). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Körpertheorie der Medien, die Seduktionstheorie der Medien, die Dialektik von Mythos und Moderne in der populären Kultur, Medienkulturanthropologie, Genretheorie. Mitglied der GfMAGs Film, Genre und Populäre Kultur. Aktuelle Veröffentlichungen: Kurosawa. Die Ästhetik des langen Abschieds, München 2014, und Verdichtungen. Zu Ikonologie und Mythologie der populären Kultur, Hagen 2014. Herausgeber des

A UTORINNEN UND A UTOREN | 203

Kulturmagazins :Ikonen:. Herausgeber der Buchreihen ‚Medien/Kultur‘, ‚Kultur + Kritik‘ (Bertz + Fischer) sowie ‚Mythos|Moderne‘ (Eisenhut). Wilke, Thomas, Dr. phil., ist Akademischer Rat am Institut für Medienwissenschaft, Universität Tübingen; Arbeitsschwerpunkte: populäre und auditive Medienkulturen, Dispositiv- und Performativitätsforschung; Publikationen: Mashups. Neue Praktiken und Ästhetiken in populären Medienkulturen. 2015 (zus. Mit F. Mundhenke, F. Arenas); Performativität und Medialität Populärer Kulturen. Theorien, Ästhetiken, Praktiken. Wiesbaden, 2013 (zus. mit M.S. Kleiner); Heißer Sommer – Coole Beats. Zur populären Musik und ihren medialen Repräsentation in der DDR. Frankfurt/Main, 2010 (zus. mit S. Trültzsch), Schallplattenunterhalter und Diskothek in der DDR. Analyse und Modellierung einer spezifischen Unterhaltungsform. Leipzig, 2009. Kontakt: [email protected]