Black Box Pop: Analysen populärer Musik [1. Aufl.] 9783839418789

Wie analysiert man eigentlich populäre Musik? Nach zwei Jahrzehnten eines überwiegend kulturwissenschaftlichen Blicks au

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German Pages 284 Year 2014

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Black Box Pop: Analysen populärer Musik [1. Aufl.]
 9783839418789

Table of contents :
INHALT
Editorial
Komplexitäten und Reduktionen. Zu einigen Prämi ssen der Popmusikanalyse
Probleme, Aufgaben und Ziele der Analyse populärer Musik
Computergestützte Analyse und Hit-Songwriting
AABA, Refrain, Chorus, Bridge, PreChorus — Songformen und ihre historische Entwicklung
Address ing the Persona
Musical Meaning and the Musicology of Record Production
The Representation of Meaning in Post-Millennial Rock
Nine Inch Nai ls ' »Hurt«: Ein Johnny-Cash-Original — Eine musik- und diskursanalytische Rekonstruktion musikalischer Bedeutungen
Das Begriffspaar Simplizität/Komplexität in der rhythmischen Analyse: Theoretische Annäherung und prakt ische Anwendung
Die Rol le des Timings am Beispiel zeitgenössischer Jazzgitarristen
Der Danzón und dessen Fortwirken in ausgewählten Interpretationen von Gonzalo Rubalcaba
Das Stück »Wanabni« der Palästinenserin Kamilya Jubran und des Schweizers Werner Hasler im mul t ilokalen Hörtest. Eine multiperspektivische Analyse
Forensische Popmusik-Analyse
Zu den Autoren

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Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Black Box Pop

Beiträge zur Popularmusikforschung 38 Herausgegeben von Dietrich Helms und Thomas Phleps Editorial Board: Dr. Martin Cloonan (Glasgow) | Prof. Dr. Ekkehard Jost (Gießen) Prof. Dr. Rajko Mursˇicˇ (Ljubljana) | Prof. Dr. Winfried Pape (Gießen) Prof. Dr. Helmut Rösing (Hamburg) | Prof. Dr. Mechthild von Schoenebeck (Dortmund) | Prof. Dr. Alfred Smudits (Wien)

Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Black Box Pop. Analysen populärer Musik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: nena 2112 / photocase.com Lektorat & Satz: Ralf v. Appen, André Doehring und Yvonne Thieré Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1878-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Editorial 7

Komplexitäten und Reduktionen. Zu einigen Prämissen der Popmusikanalyse Simon Obert 9

Probleme, Aufgaben und Ziele der Analyse populärer Musik André Doehring 23

Computergestützte Analyse und Hit-Songwriting Frank Riedemann 43

AABA, Refrain, Chorus, Bridge, PreChorus — Songformen und ihre historische Entwicklung Ralf von Appen und Markus Frei-Hauenschild 57

Addressing the Persona Allan Moore 125

Musical Meaning and the Musicology of Record Production Simon Zagorski-Thomas 135

The Representation of Meaning in Post-Millennial Rock Walter Everett 149

Nine Inch Nails' »Hurt«: Ein Johnny-Cash-Original — Eine musik- und diskursanalytische Rekonstruktion musikalischer Bedeutungen Steffen Just 171

Das Begriffspaar Simplizität/Komplexität in der rhythmischen Analyse: Theoretische Annäherung und praktische Anwendung Franz Krieger 191

Die Rolle des Timings am Beispiel zeitgenössischer Jazzgitarristen Márton Szegedi 201

Der Danzón und dessen Fortwirken in ausgewählten Interpretationen von Gonzalo Rubalcaba Christa Bruckner-Haring 215

Das Stück »Wanabni« der Palästinenserin Kamilya Jubran und des Schweizers Werner Hasler im multilokalen Hörtest. Eine multiperspektivische Analyse Thomas Burkhalter, Christoph Jacke, Sandra Passaro 227

Forensische Popmusik-Analyse Helmut Rösing 257

Zu den Autoren 279

EDITORIAL

»Nun sag, wie hältst du's mit der Analyse populärer Musik?« ist die Gretchenfrage der Musikwissenschaft der Gegenwart. Lange Zeit hat sie sich vor einer konkreten Antwort gedrückt. Die ersten Analysen in den 1960er Jahren, unternommen mit einer für den Kunstdiskurs entwickelten Methodik und mit dem Ziel des Nachweises musikalischer Minderwertigkeit, wurden von der Popularmusikforschung als unangemessen und falsch kritisiert. Doch blieben konkrete Vorschläge, wie es denn besser zu machen sei, selten und umstritten. Popularmusikforschung basiert — betrachtet man die Veröffentlichungen — vor allem auf Sozialtheorien, Medien- und Kommunikationstheorien, aber eigentlich kaum auf einer Musiktheorie. Das macht sie zu einem der anschlussfähigsten musikalischen Forschungsfelder, doch aus der Perspektive der Musikwissenschaft erweckt sie damit immer auch den Eindruck der Randständigkeit bzw. sogar der Exterritorialität. Viele Disziplinen haben Substantielles zur Erforschung der populären Musik beigetragen. Doch was ist der genuin musikwissenschaftliche Beitrag? Wo sind die musikwissenschaftlichen »Kernkompetenzen«, das Beschreiben von Musik als, ja, Musik? Diese Ausgangsfrage setzt einen Domino-Effekt in Gang: Um populäre Musik analysieren zu können, müsste man zunächst einmal wissen, was eigentlich das Material ist, aus dem der Gegenstand besteht. Tönend bewegte Formen geben wohl kaum hinreichende Antworten. Damit ist jedoch nicht nur die Frage nach dem Material, sondern viel fundamentaler nach dem, was denn Musik sei, aufgeworfen. Es geht um die »Machart« der Musik, doch wer ist der »Macher«, auf dessen »Machen« die Analyse zielt? Traditionelle Methoden galten dem Tun des Komponisten. Doch »machen« nicht auch Musiker, Produzenten, Journalisten, Hörer? Was das Material sein könnte, ließe sich abschätzen, wenn man wüsste, zu welchem Zweck die Analyse durchgeführt werden soll. Der kindliche Spaß am Zerlegen von Dingen in ihre Einzelteile kann kaum das Movens einer Wissenschaft sein. Doch dazu müsste man auch klären, für wen man eigentlich analysiert. Gibt es überhaupt einen Bedarf der Hörer populärer Musik nach einer wissenschaftlichen Erklärung dessen, was sie hören, so wie es einstmals einen Bedarf der Hörer von

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EDITORIAL Kunstmusik gab, der die Institutionalisierung von Musiktheorie als wissenschaftliches Fach auch außerhalb der Komponistenausbildung beförderte? Selbstverständlich schuldet jede Wissenschaft der Gesellschaft Antworten auf Fragen, die diese überhaupt nicht gestellt hat. Doch kann sie deshalb (und hiermit beziehen wir uns durchaus auf die gesamte Musikwissenschaft) das Fragen nach Fragen, die die Gesellschaft stellt, ignorieren? Eine Antwort auf all diese Fragen liefert dieses Buch nicht, sondern viele und auch das kann eine Erkenntnis sein. Erklingende Musik — und nicht nur die, die man die populäre nennt — stellt der Wissenschaft viel mehr Fragen, als anhand des Notenbildes beantwortet werden können: Fragen nicht aus der Perspektive der Interpreten, wie wir sie bisher diskutiert haben, sondern aus der Perspektive der Hörer. Welche Methodiken verwende ich zur Beschreibung dessen, was Musiker machen: Mikrorhythmik z.B. oder Stimm-/Instrumenten-/Ensembleklang bzw. ganz allgemein Sound? Und wie analysiere ich die Kunst der Tonträgerproduktion? Oder noch grundsätzlicher: Welche Sprache verwende ich eigentlich für eine wissenschaftliche Beschreibung rein klanglicher Phänomene und was ist »wahr« oder »objektiv« angesichts der Subjektivität der Versprachlichung des Höreindrucks? Die zahlreichen Fragezeichen in diesem Editorial belegen: Was vor beinahe einem halben Jahrhundert als Versuch begann, Banalität nachzuweisen, hat inzwischen ein komplexes Potential erwiesen, das die Musikwissenschaft verändern könnte. Dieser Zugewinn an Fragestellungen, Methodiken, Gegenständen ist bei aller Anschlussfähigkeit genuin musikwissenschaftlich. Er könnte stärken helfen, was angesichts aller berechtigter Forderungen nach Trans- und Interdisziplinarität bei einem kleinen Fach leicht aus den Augen gerät: »...was die Musikwissenschaft im Innersten zusammenhält.« Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge sind Schriftfassungen von Vorträgen, die anlässlich der von der VolkswagenStiftung geförderten 21. Arbeitstagung des Arbeitskreises Studium Populärer Musik (ASPM) vom 29. bis 31. November 2010 in Kooperation mit der Popakademie BadenWürttemberg in Mannheim zum Schwerpunktthema »Black Box Pop. Analysen populärer Musik« gehalten worden sind. Der ASPM bedankt sich herzlich für die Unterstützung. Wer mehr wissen will über anstehende oder vergangene Tagungen, Neuerscheinungen und interessante Institutionen, findet diese Daten, Fakten und Informationen rund um die Popularmusikforschung unter www.aspm-online.de und in unserer Internetzeitschrift Samples (www.aspm-samples.de). Dietrich Helms und Thomas Phleps Osnabrück und Kassel, im September 2011

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ZU

KOMPLEXITÄTEN UND REDUKTIONEN. * E I N I G E N P R ÄM I S S E N D E R P O PM U S I K A N A L Y S E Simon Ober t

Die Situation, in der sich die Diskussion der Analyse populärer Musik befindet, ist vordergründig so paradox wie grundsätzlich notwendig: Zweifellos ist Analyse ein virulentes Thema. Blättert man beispielsweise das Register im 2009 von Derek B. Scott herausgegebenen Ashgate Research Companion to Popular Musicology durch, sieht man, dass von allen Stichwörtern unter »analysis« die meisten Seitenverweise eingetragen sind ȩ und das, obwohl von den 26 Essays des immerhin knapp 500 Seiten umfassenden Bandes lediglich einer explizit der Analyse gewidmet ist. Gleichzeitig scheint mit der Virulenz der Thematik auch schon das Ende des Konsens' erreicht zu sein. Sichtet und vergleicht man die zur Analyse populärer Musik erschienene Literatur, erfährt man vor allem eines: dass in den einzelnen Punkten, die die Analyse differenzieren und spezifizierenden ȩ sie damit notwendigerweise vom Rang einer bloß allgemeinen Forderung auf eine praktische Ebene ›herunterkonkretisieren‹ ȩ, Dissens besteht. Was sind überhaupt die konkret zu analysierenden Gegenstände ȩ Klänge, Strukturen, Stücke, Werke, soziokulturelle Akte, Diskurse? Was sind, hinsichtlich des Gegenstands, angenommen, man habe ihn gefunden bzw. festgelegt, die angemessenen Methoden der Analyse? Was sind die für die jeweilige Analysemethode sowohl notwendigen als auch passenden Theorien, auf denen man aufbauen kann und mittels derer man sich in einem Forschungsdiskurs verortet? Was sind hinsichtlich eines Analyse-Gegenstands die angemessenen Termini, Idiome, Textsorten, grafischen und anderen Mittel, um die Ergebnisse darzustellen? Wie grenzt man eine jeweilige analytische Fragestellung ein, um nicht ins Uferlose zu geraten und somit eine wünschenswerte Klarheit zu erzielen? Wie weitet man sie aus, um sich notwendigerweise verständlich zu machen — konkret: wie trägt man mit Analyse(n) zum Forschungsdiskurs bei? An wen richtet man sich damit? Wer liest überhaupt Analysen und warum? ȩ *

Für anregende Gespräche danke ich Sarah Chaker (Wien), Maria HanácƼek (Berlin) und David Nicholls (Southampton).

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SIMON OBERT Offene Fragen sind freilich das Brot einer Wissenschaft. Sie sind konstitutiv, weil es zum reflektiven Selbstverständnis der Geistes- und Sozialwissenschaften gehört, nichts a priori anzunehmen. Und diese kritische Grundhaltung bezieht sich sowohl auf die Forschungsobjekte der Wissenschaften als auch auf ihr eigenes Tun. Aus den Debatten zur Analyse populärer Musik seien im Folgenden vier Themenfelder aufgegriffen: zum ersten die Frage nach dem Gegenstand der Analyse, dahingehend spezifiziert, in welcher Relation »Text« und »Kontext« zueinander stehen; zum zweiten das immer wieder geforderte Postulat der Angemessenheit von Analyse-Methode und analysierter Musik; zum dritten das Problem der Notation bzw. grafischen Repräsentation; und schließlich der Anspruch, was Analyse leisten könne. Die letzten drei der genannten Themen seien aus einer bestimmten Perspektive betrachtet: Es ist auffällig, dass innerhalb der skizzierten offenen Situation ungeklärter Fragen unter Popmusikforschern eine gewisse Einigkeit darin besteht, wie Popanalyse nicht gemacht werden solle. Als argumentative Strategie dienen in methodologischen Texten denn auch häufig die Historische Musikwissenschaft und Musiktheorie als Negativfolie, um über die Abgrenzung von diesen zu verdeutlichen, welche Fehler zu vermeiden sind bzw. welche Irrtümer und falschen Schlussfolgerungen Popmusikanalyse sich einhandelte, würde sie deren Methoden und damit theoretische und ästhetische Implikationen unreflektiert übernehmen. Diese Abgrenzungsstrategie ist für das Selbstverständnis der Popularmusikforschung im Rahmen einer fortdauernden Selbstkonstitution als nach wie vor junge Disziplin einerseits so sinnvoll, wie es andererseits das Abgegrenzte, die meistens nur herbeizitiert »herkömmliche« Musikwissenschaft, im Prinzip auf das »Beethoven paradigm« (Goehr 992: 205) verkürzt. Diese abgrenzende Kritik sei daher hinsichtlich der drei genannten Themen auf ihre Prämissen befragt. Sollte es sich zeigen, dass bereits die Prämissen nicht zutreffen, dann ist zwar die Kritik nicht unbedingt wertlos, aber sie hat wahrscheinlich andere Ursachen und müsste demnach auf etwas anderes zielen, als sie vorgibt. Denn manche der in den Debatten angesprochenen Problem- und Fragestellungen, mit denen Popmusikanalyse umzugehen hat, dürften weniger aus einer sogenannten »inadäquaten« Übertragung von sogenannten »herkömmlichen« Methoden, Terminologien und Darstellungsweisen resultieren. Vielmehr sind dies Probleme und Fragen, die die musikalische Analyse allgemein betreffen, unabhängig von einer wissenschaftsdisziplinären Ausrichtung nach popmusikalischen, historischen, systematischen, ethnologischen oder theoretischen Schwerpunkten.

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KOMPLEXITbTEN UND REDUKTIONEN. ZU EINIGEN PRbMISSEN DER POPMUSIKANALYSE

1 . Z u m G e g e n st a n d , o d e r : I s T he r e a T e x t/ C o n te x t i n T h i s C o n t e x t/ T e x t? Die Frage nach dem Gegenstand musikalischer Analyse ist eine der dringlichsten, angesichts des vielschichtigen und vielgestaltigen Handlungs- und Gegenstandskomplexes, der Musik konstituiert. Die nahe liegende Entscheidung, zwischen klingendem Text, der der musikalischen Analyse zugänglich ist, und nicht klingendem Kontext, der aber konstitutiv zu einer Musik gehört, weil sie innerhalb dieses Kontextes entstanden sei sowie rezipiert wurde und werde, zu unterscheiden, ist eher einer Pragmatik geschuldet, als dass sie objektive Definition wäre. Denn zum einen ist das, was klingt, ein Wahrnehmungsgegenstand und demnach vom jeweiligen Hörer abhängig. Der Hörer konstituiert seinen Hörgegenstand. Dies ist keine Frage der Metaphorik ȩ es ist eine Frage, die einen Gegenstand, je nach Art der Wahrnehmung, tatsächlich ändern kann. Beispielsweise analysiert Dörte HartwichWiechell in ihrem Buch Pop-Musik. Analysen und Interpretationen neben anderen den Song »Street Fighting Man« (968) der Rolling Stones. In ihrer Transkription des Outros, das nach dem dritten Chorus beginnt (ab 2:30), notiert sie einen durchgehenden schwarzen Balken und schreibt dazu: »elektronisch erzeugter Liegeton« (Hartwich-Wiechell 974: 37). Mittlerweile weiß man, dass das, was dort erklingt, von einer Shehani, einem indischen Doppelrohrblattinstrument, stammt. Ein Hörer, dem dieses Wissen zur Verfügung steht (sei es über andere oder aus eigener Erfahrung erworben), hört den Song dementsprechend anders als jemand, der dies nicht weiß oder den Klang nicht identifizieren kann. Und damit ist der Gegenstand auch ein anderer. Denn die wahrnehmungsbedingte Seinsweise eines Gegenstands lässt sich von seinen »Erscheinungen nicht trennen«, weil »zu den Erscheinungen eines Objekts lediglich das [zählt], was wir im Medium unserer Sinne an ihm unterscheiden können« (Seel 2003: 70f.). Würde man daraus den relativierenden Schluss ziehen, dass alle Wahrnehmung nur vorläufig und deswegen in letzter Konsequenz unhaltbar sei, hieße das, sich auf einen irgendwo hinter der Wahrnehmung befindlichen Gegenstand zurückzuziehen und damit einem Objektivismus das Wort reden, demzufolge musikalische Stücke unveränderliche Entitäten darstellten. Objekte menschlicher Wahrnehmung bestehen aber nur zu jeweils subjektiven und sozialen, d.h. intersubjektiv verhandelten Bedingungen. Die unterschiedliche Wahrnehmungs

Das Beispiel soll lediglich zur Verdeutlichung der Konstitution des Wahrnehmungsgegenstands durch den Hörer dienen; eine negative Darstellung von Hartwich-Wiechell liegt mir fern.



SIMON OBERT weise bzw. Gegenstandskonstitution, ob in »Street Fighting Man« ein elektronischer oder ein Shehani-Klang zu hören ist, hat weitreichende Konsequenzen: bndert sich der wahrgenommene Klang, ändert sich auch der Gegenstand. Ist demnach gar nicht so klar, was mit einem Text gemeint ist, ist es auf der anderen Seite, der des Kontextes, keineswegs klarer. Was für den einen ein Text ist, mag für den anderen ein Kontext sein und umgekehrt, je nach Erkenntnisinteresse (oder disziplinärem Hintergrund). Für einen Musikwissenschaftler, der die Verwendung fernöstlicher Instrumente in populärer Musik untersucht, mag der Song »Street Fighting Man« ein Text sein, für einen Kulturwissenschaftler, der die '68er-Bewegung untersucht, kann er ein Kontext sein. Daher ist, kurz gesagt, als Kontext je das zu begreifen, was unter erkenntnistheoretischen (oder allgemeiner: interessegeleiteten) Prämissen je kontextualisiert wird: Kontexte sind nicht per se vorhanden ȩ sie umgeben nicht einen Text wie das Wasser den Fisch ȩ, sondern sind als solche überhaupt erst zu erkennen. So gesehen ist das Erkennen und Zuschreiben von Kontexten prinzipiell unabschließbar. Gewiss gibt es nahe liegende Kontexte, sofern sie eine mehrheitlich verfügbare Erfahrung oder ein akzeptiertes Wissen darstellen wie z.B. Stil oder Genre. Dennoch ist die Zuordnung eines Musikstücks zu einem Genre eine vorzunehmende Leistung, egal ob sie unbewusst oder bewusst geschieht. So wie das, was man hört (»Text«) vom Hörer abhängig ist, so ist das, was als jeweiliger Kontext erkannt und zugeordnet wird, vom Rezipienten abhängig. Daraus ist zu folgern, dass Text und Kontext nicht zu trennen sind, weil sie in einem gegenseitigen Konstituierungsverhältnis stehen. Ein Musikstück wird ebenso durch seinen Kontext bestimmt, wie es diesen (mit-)bestimmt: bndert sich der Kontext durch unterschiedliche Kontextualisierungen, ändert sich damit einhergehend die Musik; ändert sich die Musik durch unterschiedliche Wahrnehmungs- und Verstehensweisen, ändert sich auch der Kontext. Dies sei anhand des Songs »Street Fighting Man« kurz skizziert: Wenn man im Outro einen elektronisch erzeugten Klang hört, würde das Aussagen implizieren über den technologischen Stand von Tonstudios Ende der 960er Jahre;2 über die relative Avanciertheit der Stones und/oder des Produzenten (Jimmy Miller), diese Technologie überhaupt zu verwenden (relativ im Vergleich zu Aufnahmen, die diese technologische Möglichkeit nicht nutzen); über die relative Schlichtheit der Verwendung dieser Technologie, einen bloßen Liegeklang zu erzeugen (relativ im Vergleich dazu, wie viel mehr Möglichkeiten die Studiotechnologie bot, die in anderen Aufnahmen

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Bereits die zeitliche Zuordnung stellt eine Kontextualisierung dar.

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KOMPLEXITbTEN UND REDUKTIONEN. ZU EINIGEN PRbMISSEN DER POPMUSIKANALYSE jener Zeit ausgeschöpft werden); über die Dialektik von Schlichtheit der Form und Komplexität der Mittel (die unabhängig davon besteht, ob die Stones und/oder der Produzent dies intendierten oder nicht), so dass sich die Musik als dialektische gewissermaßen selbst, d.h. in und mit ihren eigenen Klangstrukturen reflektiert; über die darin begründete ȩ und in »Street Fighting Man« sich artikulierende ȩ Dialektik der Moderne, dass Subjekte im Rahmen von technologischem Fortschritt Entscheidungsfreiheit gewinnen und Verfügungsgewalt ausüben. Geht man hingegen davon aus, dass es sich bei dem besagten Klang um den einer Shehani handelt, würde das Aussagen implizieren über die Verwendung eines fernöstlichen Instruments in westlicher Rockmusik im Zusammenhang mit der seit Mitte der 960er Jahre festzustellenden Erweiterung ihres Instrumentariums; über den trotz dieser Erweiterung gerade um fernöstliche Instrumente vorhandenen Exotismus; über den soziokulturellen Bedeutungszusammenhang, der der Verwendung fernöstlicher Instrumente eine modische Konnotation des Eskapismus und westlichen Zivilisationsüberdrusses zuschreibt; über eine textlich-musikalische Bedeutungskorrespondenz, die die ambivalente Haltung, wie sie in den Lyrics zum Ausdruck kommt (in den Strophen: Bejahung des Straßenkampfes, im Chorus: dessen Verneinung, weil in »sleepy London« für einen Straßenkämpfer kein Platz sei), zugunsten der Musik einschließlich ihrer eskapistischen Tendenzen entscheidet.3 Entgegen dem Eindruck, der aus der vorangegangenen Diskussion entstanden sein könnte, dass das Text/Kontext-Verhältnis so unentwirrbar verflochten ist, dass es ein aussichtsloses Unterfangen wäre, die beiden Aspekte zu separieren, ist das genaue Gegenteil beabsichtigt: Ein Analytiker kommt um die Entscheidung, was sein Gegenstand sei ȩ trotz aller Konsequenzen, die Abgrenzungen mit sich bringen ȩ, nicht herum. Sofern sich Popularmusikforschung als eine Musikwissenschaft versteht (was freilich nicht unabdingbar so sein muss), wäre das Aufgeben klanglicher Strukturen als zentraler Forschungsgegenstand ein Kompetenzverlust; denn geschichtliche Prozesse können auch Historiker untersuchen, gesellschaftliche Netzwerke und Praktiken Soziologen usw. Begreift Popularmusikforschung jedoch Klangstrukturen als Zentrum, ist damit auch der Analysegegenstand erfasst ȩ als Ausgangspunkt, der je nach Fragestellung und Erkenntnisinteresse kontextuell zu erweitern ist. Analyse besteht demzufolge nicht nur in der 3

Um mögliche Horizonte interpretativer Kontextualisierung auszuschreiten, sind beide Ausführungen zu »Street Fighting Man« bewusst überspitzt gezeichnet, was aber gleichzeitig aus ihrer Skizzenhaftigkeit resultiert, die sich durch argumentative Herleitungen einholen ließe.

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SIMON OBERT Zerlegung größerer Klangeinheiten in kleinere, sondern nimmt bereits eine Zerlegung von Text und Kontext vor. Und so wie musikalische Analyse (im engeren Sinn) größere Klanggebilde in kleinere zerlegt, um deren Funktionieren in gegenseitiger Relation sowie zum Gesamtgebilde synthetisch zu begreifen, separiert Analyse (in einem weiteren Sinn) Text und Kontext, um die ins Auge gefassten Konstitutionsverhältnisse genauer erkennen zu können. Die Priorisierung der Klangobjekte hätte auch in den sozialen, medialen, historischen etc. Phänomenen, die die populäre Musik ausmachen, ihre Begründung. Dass beispielsweise die Beatlemania oder der Wirbel nach John Lennons bußerung, die Beatles seien populärer als Jesus, oder die produktive Rezeption der Beatles durch mehrere Britpop-Bands in den 990er Jahren ohne die Songs der Beatles stattgefunden hätte, darf bezweifelt werden. »Denn ungeachtet aller soziologischen Rahmenbedingungen hätte die Popmusik niemals ihre Bedeutung gewonnen, wenn ihr nicht ein irreduzibler ästhetischer Erfahrungskern […] innewohnte, der allen übrigen Phänomenen Zentrum und Ausgangspunkt ist« (Ullmaier 1995: 50).

2 . Z u r M e t ho d e , o d e r : Al l th e T ool s T h a t' r e F i t t o S p l i nt Doch unter welchen Kriterien wäre populäre Musik konkret zu analysieren? Bisherige bußerungen hierzu haben vor allem die Angemessenheit von Analysemethode und Musik gefordert. Würde dies nicht geleistet, etwa »through the application of inappropriate criteria«, führte dies zu einem »misunderstanding« (Middleton 990: 03) populärer Musik. Middletons Feststellung beruht im Fall der unpassenden Analyseansätze und Beschreibungsweisen auf der bloßen Übertragung von Kriterien ȩ und damit Werten ȩ, die an einem bestimmten Repertoire gewonnen wurden, auf ein anderes, das diese Kriterien und Werte jedoch nicht teilt. Dem ist zweifellos zuzustimmen. Es wirft aber die Frage auf, wovon sich demgegenüber die passenden Kriterien ableiten ließen. In einem fachhistorischen Rückblick führt Middleton dies an anderer Stelle dahingehend aus: »Much of the early musicology of pop […] drew on modes of descriptive and structural analysis, and of rather speculative hermeneutics, that were familiar from the existing traditions of the musicological discipline, as they had been applied to the classical repertoire; the issue here, for many, was whether such

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KOMPLEXITbTEN UND REDUKTIONEN. ZU EINIGEN PRbMISSEN DER POPMUSIKANALYSE modes were capable of grasping the pop texts as they were actually understood in the culture or whether, rather, they perhaps misrepresented them« (Middleton 2000: 2). Als Kriterium von Angemessenheit fungiert damit ein Begriff des tatsächlichen bzw. eigentlichen Verstehens, der durch seine Verortung in einer jeweils zeitgenössischen Kultur als maßgeblich qualifiziert wird. Middleton ist insofern beizupflichten, als die Situierung eines Musikstücks in der Kultur seiner Entstehungs- und ersten Rezeptionszeit unschätzbare Einsichten liefern kann, und zwar sowohl in das Stück als auch in seinen kulturellen Kontext. Doch wenn dies das primäre oder gar ausschließliche Kriterium für angemessenes Analysieren und Verstehen bleiben sollte (was Middletons Aussage nahe legt, auch wenn er in anderen Publikationen das Gegenteil beweist), würde sich eine Forschungsdisziplin einer ganzen Reihe potentieller Fragestellungen entledigen, zu deren Beantwortung Analyse dienen kann. Denn ursprüngliche Entstehungs- und Rezeptionskulturen sind keine Konstanten, die ahistorisch fortdauern, vielmehr unterliegen sie selbst einem historischen Wandel; sie können spätere Verstehensweisen eines Stücks zwar prägen, doch diese wären dann ihrerseits Gegenstand einer Untersuchung, die danach fragen könnte, wie die diskursiven Bedingungen beschaffen sind, dass manche ältere Verstehensweisen in einer späteren Kultur übernommen werden, andere hingegen nicht. Außerdem würde durch das Beibehalten einmal hergeleiteter Kriterien einer zukünftigen Theoriebildung, die sich möglicherweise auf ganz andere als zeitgenössische Kriterien beruft, deswegen aber nicht unbrauchbar sein müssen, der Riegel vorgeschoben werden. (Beispielsweise wurden die Methoden Heinrich Schenkers oder die pitch-class set theory Allan Fortes erst Jahrzehnte nach der Entstehung des Repertoires, auf das sie angewendet werden, [weiter-] entwickelt, stellen aber dennoch, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, äußerst brauchbare Analysewerkzeuge dar.) Daneben ist das Kriterium jenes »eigentlichen Verstehens« auch auf einer wissenschaftstheoretischen Ebene problematisch, weil es ein Objektivitätsideal mit Ausschließlichkeitsanspruch einführt. Darin weist es eine merkwürdige Parallele zu älteren Wissenschaftsparadigmen auf, beispielsweise zur sogenannten objektiven Historik, wie sie sich im Zuge der Bildung der Geschichtswissenschaft im 9. Jahrhundert durchzusetzen begann. Nichts anderes bedeutet der häufig zitierte Ausspruch Leopold von Rankes, einem ihrer Hauptvertreter, dass Geschichtsschreibung lediglich zu zeigen habe, »wie es eigentlich gewesen« (Ranke 824: VI). Unnötig zu sagen, dass ein solcher Objektivitäts- oder gar Wahrheitsanspruch unter heutigen wissenschaftstheoretischen Prämissen mindestens als fragwürdig gelten muss.

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SIMON OBERT Doch das Postulat einer angemessenen Kriterienherleitung aus einer damalig zeitgenössischen Kultur birgt ein weiteres Problem. Was würde es bedeuten, eine Musik nur adäquat nach den Modi ihrer zeitgenössischen Kultur beschreiben zu können? Eine Musik nur richtig innerhalb des Kontextes ihrer Produktion, frühen Vermittlung und Rezeption verstehen zu können? Konsequent weitergedacht, wäre dann beispielsweise einem Großteil der Ethnomusikologie oder auch der Mittelalterforschung schlechterdings die Existenzberechtigung abzusprechen. Zwar verbringen Ethnomusikologen Monate, manchmal Jahre in der Kultur, deren Musik sie erforschen möchten, lernen die dort verwendete Sprache, die Bräuche, die sozialen Verhaltensregeln; Mediävisten arbeiten unzählige Traktate und zeitgenössische Berichte durch, aus denen sie Aufschluss gewinnen über das Denken, Fühlen und Handeln zu jener Zeit. Aber sie können sich noch so sehr in eine Kultur hineindenken, -leben und -lesen, am Ende wird immer eine Differenz, eine unüberbrückbare Ferne bleiben, die sie zu einem Fremden macht ȩ und damit für »misrepresentation« anfällig ist. Und wer würde entscheiden, wo Ferne aufhört und Nähe anfängt? Das Postulat der Angemessenheit zwischen Analysemethode und Gegenstand ist jedoch keineswegs zu negieren, nur wäre zu überlegen, worin die Angemessenheit bestehen soll. Die Nähe einer Methode einschließlich der sie begründenden Kriterien dürfte wohl eher eine sekundäre Rolle spielen. In erster Linie wäre Angemessenheit an den Ergebnissen festzumachen, die eine Methodenanwendung zeitigt. Denn diese mag durchaus fern zum Gegenstand sein: Sofern anschlussfähige, diskursive, neuartige, produktiv weiter zu nutzende Einsichten in den Gegenstand das Resultat sind, ist jede noch so nah- oder abseitige Methode nicht nur angebracht, sondern auch wünschenswert.

3 . Z u r g r a f i sc he n R ep r ä s en ta ti o n , o d er : B o u n d S ou n d Parallel zu dem eben angesprochenen Kritikpunkt wird auch immer wieder die Verwendung westlicher musikalischer Notation bei der Analyse populärer Musik kritisch in Frage gestellt. Philip Tagg bemerkt hierzu, dass Notation nicht die Hauptquelle für den Analytiker populärer Musik darstellen sollte, denn: »The reason for this is that while notation may be a viable starting point for much art music analysis, in that it was the only form of storage for over a millennium, popular music […] is neither conceived nor designed to be

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KOMPLEXITbTEN UND REDUKTIONEN. ZU EINIGEN PRbMISSEN DER POPMUSIKANALYSE stored or distributed as notation, a large number of important parameters of musical expression being either difficult or impossible to encode into traditional notation« (Tagg 1982: 41). Taggs Beobachtung trifft zweifellos zu, und die vielen theoretischen Implikationen, die methodologisch an sie anknüpfen (vgl. z.B. Brackett 2000: 2729; Middleton 990: 04-06; Wicke 2003: 5-9), unterstreichen ihre Bedeutung. Doch die Unterscheidung, die Taggs Aussage fundiert ȩ in Schrift präskribierte und gespeicherte Kunstmusik einerseits und die Klänge populärer Musik andererseits ȩ, geht in letzter Hinsicht am Kern der Problematik grafischer Repräsentation von musikalischen Klangereignissen vorbei. Setzt man die Praktikabilität von grafischen Mitteln für die musikalische Analyse voraus, ist es gleichgültig, ob es sich um klassische, Pop-, Avantgarde-, frühmittelalterliche, balinesische etc. Musik handelt ȩ sofern in den Klängen etwas analytisch gezeigt werden soll, besteht bei allen die prinzipiell gleiche Aufgabe, sie so oder so grafisch zu repräsentieren. Und in allen Fällen bleiben die grafischen Zeichen ȩ egal ob man eine präskriptive Partitur, eine deskriptive Transkription oder ein computergeneriertes Sonogramm verwendet ȩ angesichts des realisierten und hörbaren Klangs eine nachgerade lächerliche Krücke. Allerdings eine, ohne die man als Analytiker kaum auskommt: Damit man auf musikalische Klänge, die per se prozessual und daher für wissenschaftliche Untersuchungen nur schwer zugänglich sind, zugreifen und aus ihnen Informationen über ihre Eigenschaften gewinnen kann, müssen sie verfügbar gemacht werden, auch zum Zweck ihrer Kommunizierbarkeit. Eine häufig anzutreffende Behauptung, die die Unterscheidung nichtnotierter populärer Musik und notierter westlicher Kunstmusik stützt, dass deren Notation ihre wesentlichen Eigenschaften abbilde, trifft allenfalls auf einer theoretischen Ebene zu. Jeder, der einmal eine Partitur gehört hat (sic), die über ein MIDI-Programm abgespielt wurde, wird zugeben, dass die Wiedergabe exakter Tonhöhen und Dauernverhältnisse wenig mit der musikalischen Praxis zu tun hat. Und dass die historische Musikwissenschaft und Musiktheorie nach einer »notational centricity« (Tagg) orientiert sind, unter Vernachlässigung prozessualer, performativer Aspekte, ist denn auch zu Recht kritisiert (Middleton 990: 05f.) und in diesen Disziplinen erst in jüngerer Zeit ernsthaft thematisiert worden (vgl. z.B. Abbate 2004). Mit anderen Worten: Die westliche Kunstmusik beruht wie andere Musikarten auch auf mündlichen Überlieferungen, die sich zwar graduell, nicht aber kategorial unterscheiden, so dass das Problem der Notation nicht in einer Ver-

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SIMON OBERT schiedenartigkeit von Klängen unterschiedlicher Musikpraktiken,4 sondern in einer unhintergehbaren Eigenschaft grafischer Repräsentation begründet liegt: ihrer operativen Reduktivität. Jede Transformation von phänomenalen Gegebenheiten in eine grafische Form zum Zweck ihrer Symbolisierung beinhaltet reduktive Schritte, weil das Phänomen eine so große Informationsmenge aufweist, dass sie gesamthaft nicht in die Grafik übertragbar ist oder nicht übertragen werden soll, da sonst der Zweck der Grafik getrübt würde. Die grafische Symbolisierung soll nur jene Informationen enthalten, die für den Zweck ihrer Verwendung hinreichend sind: »No system of transcription, mechanical or otherwise, can preserve all of a musical example accurately and it is up to the transcriber to select or emphasize pertinent parts of the entire configuration« (Garfias 964: 233). Es bedarf allerdings der vorausgesetzten Übereinkunft zwischen den Herstellern und Nutzern grafischer Repräsentationen, dass es sich um eine zweckhafte Reduktivität handelt. Würde beispielsweise ein Nutzer dem Hersteller einer Straßenkarte vorwerfen, er habe nicht jede minimale Straßenbiegung abgebildet, müsste sich der Nutzer seinerseits vorwerfen lassen, dass er den Zweck einer solchen Straßenkarte nicht verstanden habe. Denn die Abbildung jeder Biegung würde einerseits die Karte unleserlich machen und andererseits überflüssige bzw. irrelevante Informationen enthalten, beides bezogen auf den Zweck der Orientierung in relativ großen räumlichen Verhältnissen bei relativ hohen Geschwindigkeiten des automobilen Verkehrs. Dass grafische Repräsentationen von Klängen ȩ egal ob prä- oder deskriptiv ȩ grundsätzlich reduktiv sind, wäre insofern nicht weiter der Rede wert, weil selbstverständlich. Allerdings ist zu betonen, dass die Herstellung grafischer Repräsentationen oder das selektive Heranziehen bestehender Notationen selbst schon als analytischer Schritt zu betrachten ist. Dementsprechend wäre zu folgern, dass Transkriptionen und andere Grafiken nicht primär aus einer jeweiligen Musikart abgeleitet werden können, sondern in erster Linie der analytischen Fragestellung und der zum Zweck ihrer Beantwortung passenden Mittel folgen sollten. Und diese Orientierung an der Fra4

Es gehört zu den Merkwürdigkeiten (die die Vermutung stützt, dass einige Popularmusikforscher sich hier von einer am Problem vorbeigehenden Intention der Abgrenzung gegenüber anderen musikwissenschaftlichen Disziplinen leiten lassen), dass zwar die Verwendung westlicher musikalischer Notation für populäre Musik problematisiert wurde, nicht aber die Verwendung der Buchstabenschrift für das gleichfalls nur klanglich vorliegende Phänomen gesungener Texte; gedruckte Lyrics sind aber, wie Sheets, nachträgliche Transkriptionen. Mir ist nur eine Untersuchung bekannt (Senn 2007), die diese Thematik, mittels der Werkzeuge der International Phonetic Association, überhaupt und überzeugend angeht.

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KOMPLEXITbTEN UND REDUKTIONEN. ZU EINIGEN PRbMISSEN DER POPMUSIKANALYSE gestellung bestimmt auch, welche Eigenschaften eines Komplexes grafisch auf welche Weise dargestellt werden.

4 . Z u m A n s pr u c h, o d e r : » F or W h a t I t' s W or th « Die Reduktion ist kein Problem der grafischen Repräsentation allein, sondern eine grundsätzliche Implikation musikalischer Analyse. Peter Wicke hat, in einer methodologischen Kritik mehrerer Publikationen von Walter Everett, daher zu Recht auf ihren nur partikular geltenden Anspruch verwiesen: »Die Reduktion einer ebenso komplexen wie widersprüchlichen Musikpraxis auf solche Erscheinungen, die sich in Begriffen der klassisch-romantischen Musiktheorie schenkerscher Prägung fassen lassen, ist jedoch ein methodologisch höchst fragwürdiges Unternehmen« (Wicke 2003: 113).5 Das Unbehagen, das Wicke angesichts der Anwendung von Methoden artikuliert, die auf den Theorien Heinrich Schenkers beruhen, wäre prinzipiell an jeder Methodenanwendung zu kritisieren: als Reduktion einer je mehr oder weniger komplexen Musikpraxis. Die auf Schenkers Theorie fußenden Ansätze erfassen Tonhöhenaspekte und Stimmführungen in einem größeren formalen Zusammenhang; Harmonieanalyse erfasst nur die zusammenklingenden Tonhöhenbeziehung und die Relationen dieser Zusammenklänge untereinander und zu einem Tonzentrum; Rhythmusanalyse ist nur auf die kleindimensionalen zeitlichen Relationen von Klängen, Formanalyse nur auf die größer dimensionierten zeitlichen Relationen von Klangkomplexen ausgerichtet; Klanganalyse mittels Sonogrammen erfasst zunächst nur die akustischen Eigenschaften von Klängen im zeitlichen Verlauf; usw. Solange sich ein Analytiker der begrenzten Reichweite seiner Ansätze bewusst ist und dementsprechend zum einen die Ergebnisse seiner Analyse nicht verabsolutiert oder zum anderen mehrere Analyseansätze anwendet, um seinen analytischen Gesichtskreis auszuweiten, stellt die reduktive Geltung von Analyse auch kein Problem dar. Dies wäre ferner dahingehend zu betonen, dass Analyse ohnehin von einer Fragestellung geleitet wird, zu deren Beantwortung sie lediglich dient. (Nichts ist unanalytischer, als der isolierte Vorsatz, »mal ein Stück zu analysieren«.) Das jeweilige Erkenntnisinteresse am Gegenstand, das diesem gegenüber immer nur partikular sein kann, bedingt die Analysemethode, nicht umgekehrt. 5

Der grundsätzliche Gedanke Wickes zum beschränkten Anspruch von Analyse ist zu unterstreichen, seine Kritik an Everett teile ich jedoch nicht.

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SIMON OBERT Daran sowie an die eingangs gemachte Beobachtung anknüpfend, dass Musikstücke keine unveränderlichen Entitäten darstellen, ist schließlich auf die dynamische Prozessualität des Analysierens zu verweisen. Denn um zu erkennen, welche Methode zu einem Gegenstand passen könnte, muss ein Analytiker den Gegenstand bereits in irgendeiner Weise als solchen erkannt haben, d.h. er muss wenigstens rudimentäre analytische Handlungen durchgeführt haben. Im einfachsten Fall heißt das, ihn wahrgenommen zu haben. Und Wahrnehmung ist nicht nur ein physiologisch-sensorischer Vorgang, auch nicht ein bloß perzipierendes Hören, sondern beinhaltet, wie rudimentär auch immer, analytische, also unterscheidende, zuordnende, bewertende Handlungsanteile. Angenommen, nach einer Wahrnehmung setzte sich ein Analytiker daran, einen musikalischen Gegenstand (weiter) zu analysieren, dann hört dieser Austausch zwischen ihm und dem Gegenstand ja nicht auf. Denn wie oft passiert es beim Analysieren, dass man in einem späteren Stadium auf Dinge aufmerksam wird, die man zunächst gar nicht wahrgenommen hatte; folglich geht die Analyse weiter in diese Richtung, wofür man aber eventuell einen anderen Ansatz oder gar eine andere Methode anwendet, und wieder gelangt man zu weiteren Aspekten ȩ vielleicht durch Hinzuziehung von Quellen ȩ, die den Gegenstand in einem anderen Licht darstellen, und um die Gründe dieser Belichtung herauszufinden, verfolgt man wiederum einen anderen Ansatz. So verstanden, ist Analyse weder eine Einbahnstraße des Verstehens ȩ vom Gegenstand durch die Methode zum Ergebnis ȩ noch eine einmalige Handlung, sondern vollzieht sich in fortwährender Interaktion zwischen Gegenstand und Analytiker als dialogischer Prozess, der prinzipiell unabschließbar ist. Hans-Georg Gadamer begründete diesen Prozess (in Anlehnung an Robin George Collingwood) in einer »Logik von Frage und Antwort« (Gadamer 975: 35ff.), der alles hermeneutische Tun folge. Für den Fortgang des Prozesses ist es entscheidend, dass ein jeweils erreichtes Verständnis nur als »Vorgriff« oder »Vorurteil der Vollkommenheit« (ebd.: 277f.) gelten kann. Hat demnach Gadamers »hermeneutischer Zirkel«, zumindest begrifflich, einen holistischen Fluchtpunkt, so ist gegenüber dieser hierarchischen eine alternierende Verstehensbewegung anzunehmen, weil sie über die Partikularität von Analyse nicht hinausgreifen kann: Analyse als dialogischer Prozess resultiert nicht in einem transzendentalen Ziel, sondern ist durch der Jeweiligkeit ihrer (methodischen) Perspektiven bedingt, die ein Analytiker wechselseitig einnimmt. Ganzheit gibt es analytisch nicht, und keine Musik ist zu Ende analysierbar.

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KOMPLEXITbTEN UND REDUKTIONEN. ZU EINIGEN PRbMISSEN DER POPMUSIKANALYSE

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A b s t r ac t In methodological debates on the analysis of popular music some topics have gained broad attention. Four of these topics are discussed in this essay: the matter of the analytical object; the demand of an adequacy between method and analyzed music; the problem of the graphical representation of sounds; and eventually the claim what analysis can or should achieve. In the aforementioned debates, great efforts have been made to sharpen the profile of popular music studies by distinguishing it from other musicological disciplines. While discussing the methodological topics this essay also takes into account the gains and losses of that distinction.

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P R O B L E M E , A U F G A B E N U N D Z I EL E D E R A N A L Y S E PO P U L Ä R E R M U S I K A ndré Doe hri ng »But analyze we must« (Walser 2003: 21).

Z u r S i t u a t i o n d e r w i s s e n s c h af t l i c he n B esc h äf ti g u n g m i t A n al ys e Es erstaunt, wie ruhig die deutschsprachige Diskussion über die Analyse populärer Musik im Vergleich zum anglophonen Bereich (bspw. Middleton 1990; Brackett 1995; Everett 2000; Moore 2003a, 2003b; Frith 2004; Warner 2009) geblieben ist, was auf unterschiedliche Gewichtungen des Gegenstands wie auch eine divergierende Sensibilität für die daraus sich ergebenden Fragen und Probleme deuten mag. Der Blick in die maßgeblichen Nachschlagewerke der Musikwissenschaft belegt dies: Der Artikel in der MGG (Gruber 1994) widmet der Analyse vierzehn Spalten, die sich über acht Seiten erstrecken. Immerhin hat sich somit der Umfang, gewertet als Indiz für die dem Thema beigemessene Bedeutung, im Vergleich zur ersten Ausgabe (Erpf 1951) ungefähr verdreifacht. Allerdings ist er immer noch als gering zu werten, zieht man den Artikel über Analyse im New Grove (Bent/Pople 2001) hinzu, der sich über 63 zweispaltige Seiten erstreckt, in denen sowohl eine historische als auch eine problemzentrierte Perspektive auf Analyse eingenommen werden. Diese Form und das Ausmaß der Auseinandersetzung als Ergebnis der New bzw. der Critical Musicology zu deuten, dürfte sicherlich nicht falsch sein. Im Übrigen erscheint es ebenso bezeichnend wie eigentlich — da erwartbar — unnötig zu erwähnen, dass eine Auseinandersetzung mit der Analyse populärer Musik, ja selbst ein Verweis darauf im deutschsprachigen Artikel nicht entdeckt werden kann. Der New Grove schneidet die Thematik im Analyse-Artikel in einem knappen Absatz an (ebd.: 564), im dortigen Artikel zur populären Musik finden wir, neben kaum

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ANDRÉ DOEHRING diskutierten Formanalysen oder Harmoniepattern (Middleton 2001: 142ff.), ebenfalls einen Absatz (ebd.: 151) bzw. eine halbe Seite (Manuel 2001: 159) über die Methoden und Probleme der Analyse populärer Musik. Angesichts des Ausbleibens von Analyse betreffenden Erörterungen im Artikel zur populären Musik in der MGG (Wicke 1997) — auch dieser ist kürzer als das englischsprachige Pendant — kann sich der Zusatz »immerhin« kaum verkniffen werden. Im Feld der deutschsprachigen Popularmusikforschung, die zwar als interdisziplinär angelegtes Unternehmen nicht allein, aber doch überwiegend der Musikwissenschaft entstammt,1 ist man ein wenig sensibilisierter für die besondere Herausforderung der Analyse nicht-notierter populärer Musik. Denn der im Vergleich zur Analyse westlicher Kunstmusik fehlende Notentext sowie die vielfältigen Möglichkeiten der Verwendung einer Musik in unterschiedlichsten Kontexten haben an der Nützlichkeit der Methodik von Analyse zweifeln lassen, die bisher vorrangig dazu diente, »in der Musik« nicht nur den Kunst- und Werkcharakter der untersuchten Gegenstände, sondern zugleich die eigene Disziplin als Kunstwissenschaft zu legitimieren. Aufgeworfene Fragen betrafen sowohl Mängel der Methodik, der Theorie als auch die Grenzen des untersuchten Gegenstands und somit der Möglichkeiten des disziplinären Zugriffs (vgl. Helms 2002; Wicke 2002). Zudem scheint das bisher analysierte Repertoire kaum geeignet, den umfassenden Terminus »populäre Musik« in seiner Breite abzubilden, denn noch immer zeichnen sich populärmusikalische Analysen durch einen engen zeitlichen und stilistischen Rahmen aus, was in erster Linie an den Auswählenden2 1

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Dies ist sicher eine Folge der besonderen Entwicklung der deutschen systematischen Musikwissenschaft seit etwa dem Ende der 1960er Jahre, in der sich eine jüngere Generation von Wissenschaftlern mit einem erweiterten wissenschaftlichen Instrumentarium neuen und auch populärmusikalischen Gegenständen zugewandt hatte. Bereits im ersten Band der Beiträge zur Popularmusikforschung war es Ekkehard Jost (1986: 36), der, neben dort vertretenen Autoren wie Hermann Rauhe, Günter Kleinen oder Helmut Rösing, speziell auf den Aspekt der Analyse populärer Musik als eine Lösung für die »Probleme der Popularmusikforschung« verweist. Dasjenige Repertoire wird behandelt, das man kennt und — in aller Regel — wertschätzt. Sehr wahrscheinlich ist diese Fokussierung in Zusammenhang mit der beginnenden Institutionalisierung der deutschsprachigen Popularmusikforschung in den 1980er Jahren zu sehen. Hier bemühte sich eine (auch) mit Rockmusik sozialisierte Generation von Musikwissenschaftlern, das neue Forschungsgebiet methodisch zu etablieren, indem sie an den gewählten Stücken der Beatles oder des Progressive Rock das legitimierte und legitimierende Handwerkszeug der Analyse anwandten (ich danke Alfred Smudits für diesen Hinweis). Künftige Generationen von Musikwissenschaftlern werden demnach »ihre« und somit eventuell andere Musik untersuchen. Allerdings muss man skeptisch sein: Regelmäßige Befragungen der Studienanfänger in meinen Semi-

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PROBLEME, AUFGABEN UND ZIELE DER ANALYSE POPULÄRER MUSIK selber sowie den verwendeten theoretischen Voraussetzungen und Methoden (dazu später mehr) der Analyse liegen dürfte. Viele Bereiche sind fast nicht präsent: etwa der stets nur mit spitzen Fingern angefasste Pop, der die Charts dominiert, oder die gesamte Palette der elektronischen Tanzmusik, die sowohl als zu neu (»Ist doch bereits morgen wieder vergessen!«), zu redundant (»Lohnt sich das denn ›musikalisch‹ überhaupt für eine Analyse?«) oder gar überhaupt nicht behandelbar mit den Werkzeugen der Musikwissenschaft gilt.3 Außerdem kaum zur Analyse gelangen beispielsweise Live-Darbietungen, womit das gesamte Konzert- bzw. Clubgeschehen und somit auch der Bereich improvisierter populärer Musik sowie große Anteile des Amateur-Musikbereichs aus dem Fokus oder vielmehr: erst gar nicht in den Fokus der Wissenschaft geraten. Denn nach wie vor gilt der im Tonstudio aufgenommene Tonträger als Ausgangs- und Bezugspunkt der Analyse populärer Musik — der in aller Regel als Produkt (i.e. Ware) einer musikindustriellen Handlung durch Verknüpfung verschiedener Produktionsbereiche den Weg zum Analysierenden4 gefunden hat, was in der Analyse oft verschwiegen oder nur unzureichend reflektiert wird. Und somit lockt den Musikologen stets die Versuchung bzw. es dräut die Gefahr, das hier vorliegende Stück Musik ähnlich dem in der Analyse abendländischer Kunstmusik vorliegenden Notentext als geschlossene Einheit, gar als ›Werk‹ zu überhöhen, das vom ›Künstler‹-Subjekt oder -Team exakt so und nicht anders auf Band resp. Festplatte aufgenommen wurde.5 Ähnlich sieht Peter Wicke (2003: 117) die im Analyseprozess entstehende Notation von populärer Musik als »überaus problematisch« an, weil sie als ein schriftliches Medium Klingendes — unzureichend — festzuhalten

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naren legen genau dieselben Muster der Geringschätzung von Stilbereichen an den Tag, die in der Wissenschaft gepflegt werden, nämlich nachdrückliche Abneigungen von afroamerikanisch geprägten Stilbereichen (HipHop, R'n'B) oder elektronischer Tanzmusik. Offensichtlich reproduzieren sich hier Geschmacksmuster einer gebildeten bzw. sich in der Ausbildung befindenden Mittelschicht, die, ähnlich wie Bethany Bryson (1996) dies einst für den Heavy Metal oder die Country Music feststellte, eine Distinktion nach unten vollführt, d.h. sich via Geschmack resp. »geschmäcklerisch« von der mit »niederen« sozialen Schichten assoziierten Musik distanziert. Darunter fallen beispielsweise die Fragen, wie Klangerzeugung und -bearbeitung dieser Musik erfasst, dargestellt und somit einer Interpretation zugänglich gemacht werden können. Erschöpfende Antworten können hier kaum gegeben werden, es deutet sich aber ein weiterer Diskussions- und Forschungsbedarf an. Die im Artikel durchweg gebrauchte männliche Form ist weniger dem auch in der Musikwissenschaft herrschenden grotesk asymmetrischen Geschlechterverhältnis geschuldet als der besseren Lesbarkeit. Vgl. bspw. die Analyse von »A Day In The Life« (1967) der Beatles (Geuen/ Hiemke 2001).

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ANDRÉ DOEHRING sucht. Für eine Aufführungspraxis, in der Notation als Ausgangspunkt musikalischer Produktion dient, mag dieses Verfahren sinnvoll erscheinen. In einer Musikkultur allerdings, die weitgehend schriftlos — selbst nach der Notation durch den Musikwissenschaftler — musiziert, erscheint diese Notation als Endpunkt des nicht-notierten Musikprozesses doppelt unangemessen. Auch Wicke warnt vor der benannten musikwissenschaftlichen déformation proféssionelle: Ist Klang erst einmal in westlicher Notation allein geronnen, droht selbst dem widerständigsten Musikologen die Gefahr, der »Diktatur des tonalen funktional-harmonischen Systems« (ebd.) zu erliegen, sprich: er drückt sich in den erlernten und mithilfe der Noten ja belegbaren Termini aus, ohne dies in angemessener Weise zu reflektieren. So bleibt zunächst festzuhalten: Gegenstand der Analyse ist eine klangliche Struktur, deren Notation im Prozess der Analyse populärer Musik lediglich ein Hilfsinstrument, ein Mittel und kein (Selbst-)Zweck ist. In den letzten Jahren konnte man zu dem Eindruck gelangen, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Analyse populärer Musik in quantitativer Hinsicht trotz dieser vereinzelt geäußerten Bedenken eindrucksvoll gestiegen ist.6 In neueren Arbeiten (Elflein 2010, Rappe 2010) immerhin avancieren bisher vernachlässigte Stilbereiche zum Analysegegenstand. Hier findet man ausgreifende kulturelle Kontextualisierungen des Klingenden, sensibilisierte Überlegungen bezüglich methodischer und technologischer Aspekte der Erfassung von Sound oder stimmlicher Darbietung sowie deren Darstellung in Transkriptionen. Und doch bleibt noch immer eine für den deutschsprachigen Raum insgesamt problematische Literaturlage zu beklagen, in der nicht zuletzt umfassende Hand- oder Lehrbücher fehlen und somit kaum exemplarische Analysen vorhanden sind, die vorbehaltlos Studierenden empfohlen werden könnten, die sich in analytischen Seminaren und Arbeiten mit der Analyse populärer Musik beschäftigen.

Die Öffnung des Musikbegriffs Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden darlegen, dass eines der zentralen, weil grundlegenden Probleme der Analyse populärer Musik (immer noch) der Musikbegriff ist, der den meisten Analysen zugrunde liegt. Der Musikwissenschaftler Andreas Moraitis (1994: 166) verdeutlicht diese 6

Jüngstes Indiz für diese Hinwendung zur Analyse populärer Musik ist die ASPMTagung »Black Box Pop. Analysen populärer Musik« (2010), die die bisher höchste Zahl von Teilnehmern und Vortragenden in der Geschichte des ASPM verzeichnete.

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PROBLEME, AUFGABEN UND ZIELE DER ANALYSE POPULÄRER MUSIK Auffassung schlechterdings, indem er Analyse und Hermeneutik voneinander abgrenzt: Analyse umfasse alle Aktivitäten, die sich »mit der rein musikalischen Faktur eines Werkes« beschäftigen, Hermeneutik dagegen behandele die »Deutung der außermusikalischen Referenzen«. Der Gegenstand einer Analyse wäre demnach als objektive, autonome Größe bestimm- und somit mit dem Instrumentarium der Analyse analysierbar, alles Äußere wäre in diesem ersten Schritt der Beschäftigung mit »der Musik allein« irrelevant, da erst in der Interpretation »externe« Umstände eine Bewandtnis erhielten.7 Dabei verhält es sich doch in Wirklichkeit so, dass Musik als diskursiver Begriff der nicht verbalisierbaren ästhetischen Erfahrung das darstellt, was eine diskursive Gemeinschaft darunter verstehen möchte bzw. soll. Im von Wicke (2002, 2003, 2004) vorgestellten zweistufigen Musikerfahrungsprozess ist der Musikbegriff deshalb von der klanglichen Struktur abgekoppelt. Der Begriff, den sich Menschen, Gruppen oder Berufszweige wie die Musikwissenschaft von Musik in diesem Sinne machen, stellt daher gerade nicht eine autonome Größe, sondern eine sozial verfestigte Art des Sprechens über Klang und Klangerfahrungen dar.8 Da die Klangerfahrung erst in Begriffen zu »Musik« wird — Wolfgang Horn (1996: 16) spricht poetisch von einer »Mitgift der Existenzweise von Musik« —, muss diese Versprachlichung eine Untersuchungsebene der Musikanalyse sein. Denn die Art des Sprechens bzw. Schreibens über Musik ist keinesfalls bloß subjektiv, sondern sie ordnet sich einem Regime des Sprechens und des — gerade in Expertenkreisen wie der musikologischen Community natürlich richtigen — Denkens über Musik unter bzw. sie kann ihm erst gar nicht entkommen. Die Nichtbegrifflichkeit von Musik macht also jede Äußerung darüber bereits zu einer diskursiven Äußerung, d.h. sie ist ebenso Teil und Ergebnis eines Diskurses, wie sie, je nach Sprecherposition, weitere Aussagen über Musik formen wird. Auch diejenige Analyse, die vermeintlich »rein musikimmanent« sich mit »der Musik« be7

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Diese Haltung lässt sich etwa bei Allan F. Moore wiederfinden. Er unterzieht jede Analyse einem »›so what?‹-test, that is, how well it >analytical informed work@ moves from analysis to useful, and usable, interpretation« (Moore 2009: 412). Wie im Weiteren dargelegt wird, finden wir hier zwar die geforderte Überprüfung der eigenen Position und der angestrebten Zwecke der Analyse, aber die Annahme, dass eine Kluft zwischen Analyse und Interpretation zu überspringen wäre, ist falsch: Von Anfang an sind wir, erst als Beobachter, Hörer oder Teilnehmer, dann als für die Analyse Auswählender und Interpretierender, mit Musik im Wickeschen Sinne konfrontiert. Wir können uns weder unseres Blickes auf noch des Diskurses über die untersuchte Musik in der für Moore vorrangigen ersten Analyse entziehen. Christopher Small (1998) hat diesen aktiven Musikprozess, der erst durch das Handeln von Menschen ermöglicht wird, als »musicking« bezeichnet.

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ANDRÉ DOEHRING schäftigt, indem sie bspw. harmonische Progressionsmodelle absolutiert, führt derart ein diskursives Regime fort. Ähnlich führt auch die verbreitete Vorstellung von Musik als Text in die Irre, da sie dazu verleitet, Bedeutungen dem »Text« bzw. der Musik zu entnehmen, wo doch diese im Umgang, d.h. in der Benennung als Text erst entstehen. Eine Aufgabe von Musikanalyse müsste es daher sein herauszustellen, wie das jeweilige Klanggebilde als Musik in unterschiedlichen Kontexten erfahren werden kann. Tia DeNora (2000: 31) kritisiert das analytische Verfahren in ihrem Plädoyer für eine »sociology of musical affect« dafür, dass es nicht berücksichtige, welche Bedeutungen Musik als kulturelles Vehikel — Wicke (2004: 116) benutzt das Bild eines »Generators« — für verschiedene Menschen in unterschiedlichen Situationen besitzen kann. Dietrich Helms (2002: 102) fordert daher zugespitzt, dass Musikanalyse eigentlich eine Analyse der Rezeptionskontexte sein müsse, d.h. »der Prozesse, welche einem Stück seine Bedeutungen zuweisen«. Somit wäre das Bild des solitären, über die Noten gebeugten Musikwissenschaftlers endgültig über Bord geworfen, da nun eine empirisch gestützte, qualitativ ausgerichtete Erfassung von Aneignungen und Bedeutungen von populärer Musik wohl angeraten scheint. Hat Analyse als Instrument der Erkenntnissuche also ausgedient? Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass auch die musikwissenschaftliche Analyse einen Fall der Rezeption darstellt. Insofern kann eine wohl reflektierte Analyse — zu diesem Punkt ausführlicher unten — bereits eine mögliche Form der Rezeption analytisch und argumentativ erfassen. Zweitens ist darauf zu beharren, dass der Rezeptionskontext von Musik zwar imstande ist, neue Bedeutungen zu erzeugen, er dies aber in keinesfalls zufälliger Verknüpfung von musikalischem Material und Bedeutung tut. Deshalb betont auch Helms (ebd.), dass der Kontext stets »gleichzeitig auf struktureller bzw. materialer, auf individuell-psychischer und auf sozialer Ebene« verortet werden muss. Gerade weil die klangliche Basis wichtig ist für die jeweilige Rezeption dieser Musik, ohne in irgendeiner Weise determinierend zu wirken, verlangt ein derart erweiterter Musikbegriff vom Wissenschaftler des Weiteren nicht allein das Bewusstsein der sozialen Beschränktheit der eigenen Begrifflichkeit, sondern er muss sich über die benutzten und an die Musik herangetragenen Begriffe ständig Rechenschaft ablegen, da er das klangliche Objekt der Analyse durch die Art des Sprechens diskursiv rahmt — wie auch alle anderen, die über dieses Objekt sprechen.9

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Vgl. auch die Ausführungen von Cook (2001).

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PROBLEME, AUFGABEN UND ZIELE DER ANALYSE POPULÄRER MUSIK »The act of description […] co-produces itself and the meaning of its object. With regard to music, then, the matter of its social significance is not pregiven, but is rather the result of how that music is apprehended within specific circumstances« (DeNora 2000: 23, Hervorhebung im Original). Wicke formuliert daher als Aufgabe an die Popularmusikforschung, »in den kulturellen Zusammenhängen um die analysierten Musikformen und den darin jeweils dominanten Diskursen den Codes nachzugehen, die das Klanggeschehen strukturieren« (Wicke 2003: 119). Dies stellt freilich hohe Anforderungen an den Analysierenden: Entweder verfügt er über kontextuelles Wissen aufgrund seiner sozialen Verortung innerhalb der Musikkultur, deren Musik er analysiert, oder er muss es, bspw. auf ethnografischem Wege, herstellen. Von Adorno (2003a: 253) ist das schöne Bonmot überliefert: »Sprache interpretieren heißt: Sprache verstehen; Musik interpretieren: Musik machen.« Wer demnach als musikalisch Handelnder agiert, weiß um die kontextuellen, sozialen, politischen und klanglichen Bedeutungen, ihre Voraussetzungen wie auch Folgen. »Nur in der mimetischen Praxis [des Musizierens], die freilich zur stummen Imagination verinnerlicht sein mag nach Art des stummen Lesens, erschließt sich Musik; niemals einer Betrachtung, die sie unabhängig von ihrem Vollzug deutet« (ebd.). Natürlich ging es Adorno als ausgebildetem Instrumentalisten und Komponisten um die Erfahrung der Aufführung abendländischer Kunst- und nicht Popularmusik, doch nimmt man diese Aufforderung nach einer von dem Vollzug musikalischer Praxis abhängigen Interpretation ernst, bedeutet es, die Kontexte der musikalischen Praxen — und hier ist ein erweiterter Begriff der musikalischen Praxis im Sinne Kurt Blaukopfs (1984: 20f.) anzulegen, der selbstverständlich über das Musizieren hinausgeht — an die Analyse heranzutragen.10 10 Dagegen erklärt — kaum überzeugend — Moraitis (1994: 296) die Stilkompetenz des Analysierenden zur Voraussetzung für ein »adäquates Musikverstehen«, worunter er die Aneignung der musikalischen als auch »musikalisch-sprachlichen« Tradition vergangener Epochen versteht. Selbstverständlich gebe es dabei Schwierigkeiten »praktischer Natur« (die allerdings, richtig gewendet, theoretischer kaum sein könnten): Der Historiker habe es, etwa im Vergleich zum Musikethnologen, einfacher, Musik adäquat, also »richtig« zu verstehen, da er Stilgesetze voraussetzen könne. Der Ethnologe hingegen müsse sich vor Ort erst Wissen über die Musik aneignen. Moraitis verweist als Beispiel auf einen Artikel von Gerhard Kubik (1973) über afrikanische Musikkulturen und entblößt sich weiter: »Wir haben allerdings den Eindruck, daß Kubik die Rolle des Musikers, der vielfach unbewußt agiert, ohne über die Möglichkeit theoretischer Reflexion zu verfügen, ein wenig überbewertet« (Moraitis 1994: 296).

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ANDRÉ DOEHRING Die oftmals (etwa bei Helms 2002 oder Wicke 2003) anzutreffende Warnung, dass musikwissenschaftliche Analyse ein Spezialistendiskurs sei, der die Musik ihren Kontexten entreißt und sie somit ihrer ›eigentlichen‹ Bedeutung bei den ›wahren‹ Experten der jeweiligen Subkultur entledige, mag man einerseits, gerade angesichts eines eigentümlich musikologischen Jargons (etwa bei Geuen/Hiemke 2001), für zutreffend halten. Andererseits aber muss ihr entgegnet werden, dass diese Selbstmarginalisierung der Musikwissenschaft eine Priorisierung der Rezipienten (wer auch immer das sein mag?) impliziert und zur Folge hätte, dass Analyse tatsächlich zugunsten einer empirisch geleiteten Befragung ebendieser idealisierten »ExpertenHörer« ad acta gelegt werden müsste. Diese Perspektive imaginiert folglich einen gültigen Ort, eine erklärte Subjektposition und eine »wahre« Bedeutung. So wäre bspw. elektronische Tanzmusik ausschließlich vom Tänzer auf dem Dancefloor »wirklich« zu verstehen, allerdings nur dann, wenn er oder sie sich als mit allen Wassern gewaschene Mitglieder der Subkultur der Clubgänger auszuzeichnen wissen. Jedoch gilt: einen Generalschlüssel des Musikverstehens gibt es nicht. Die musikwissenschaftliche Analyse, zugleich selbst eine mögliche Form der Rezeption, hat sich aufgrund der Sensibilisierung für andere Kontexte von Musik ihrer begrenzten Reichweite bewusst zu sein und darf sie nicht verleugnen. Sie ist und bleibt ein Spezialistendiskurs, der durch Kontextualisierung und Diskursivierung neue Erkenntniswege offen legt. Für die Analyse — übrigens nicht nur — populärer Musik bedeutet dies, dass sie einen grundlegenden Paradigmenwechsel entwickeln muss. Nicht »Musik« muss untersucht werden, sondern die klangliche Ebene und die sich auf dieser Basis entfaltenden Begriffe, welche um die Deutungsansprüche über diese Musik ringen (vgl. auch Wicke 2002: 69). Die Aufgabe der Kontextualisierung verlangt, sich Wissen um die kulturellen Zusammenhänge anzueignen und es an die Analyse heranzutragen, die Forderung der Diskursivierung von Analyse betrifft die kritische Sichtung nach Machtpositionen des Sprechens über die untersuchte Musik. Beides setzt aber voraus, dass die Klangerfahrung durch den Analysierenden und ihre spezifische Art der Verbalisierung Teil eben dieses Perspektivwechsels sein müssen, wie im Weiteren ausgeführt wird.11 11 Ausgerechnet Carl Dahlhaus war sich sicher: »Man versteht Musik genauer, wenn man die Mühe nicht scheut, sich die Struktur der Sprache, in der über sie geredet wird, bewußt zu machen« (Dahlhaus 1973: 46). Dahlhaus bezieht diese Aussage auf August Halms Analyse von Beethovens d-Moll-Sonate op. 31,2, die als »Denken über Musik« ein Teil der »Sache selbst« geworden sei: »Es ist die Wirkungsgeschichte — nicht eine dem historischen Wandel enthobene ›Überwelt‹ —, in welcher der Sinn, der ›objektivierte Geist‹ musikalischer Werke aufbewahrt ist« (ebd.). Letztlich sitzt Dahlhaus damit zwar auf dem richtigen Ross,

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PROBLEME, AUFGABEN UND ZIELE DER ANALYSE POPULÄRER MUSIK

E x k u r s: V om ( an f än g l i c h en ) V e r sag en d er A n a l y s e In einer Analyse von Musik der Band Maxïmo Park (Doehring 2006) ging ich der Fragestellung nach, warum ausgerechnet in dieser Band ein Wiedergänger von New Wave-Bands wie The Jam und anderen erkannt wurde und sie somit als Aushängeschild der sogenannten New Wave of New Wave galten. Im Ergebnis konnte jedoch mithilfe der gewählten Methodik der Analyse diese Frage nicht beantwortet werden. Es gab Anlass zur Vermutung, dass »außermusikalische« Faktoren wie Verpackung, Bewerbung und Lancierung — in Hermann Rauhes (1974: 18) Terminologie: die Quartärkomponenten — dieser Musik eine Rolle spielten, da eben »die Musik« keine manifesten Bezüge analytisch aufzuweisen hatte. Erst durch eine ausführliche Beschäftigung (Doehring 2011) mit den medialen Prozessen und den zentralen Medienakteuren, den Musikredakteuren der für die Berichterstattung maßgeblichen deutschen Popmusikzeitschriften, die zur Bekanntheit dieser Band beigetragen hatten, kann nun ein multiperspektivischer Blick auf das Entstehen dieser Zuschreibungen an die Musik eingenommen werden. Die in der musikalischen Analyse erkannte klangliche Struktur der Musik Maxïmo Parks weist Brüche und bewusst gesetzte Formungen auf, die den Musikjournalisten die Einordnung nach professionell erworbenen Mustern der Selektion neuer Popmusik erlaubte.12 Diese Muster der musikalischen Wahrnehmung ähneln einander nicht nur aufgrund ihres gemeinsamen institutionellen Kontextes der Anwendung — nämlich in den Redaktionen der Musikzeitschriften —, sondern auch, weil die Musikredakteure fast gleich alt und alle männlich sind und zudem über einen ähnlichen Sozialisations-, Bildung- wie Ausbildungs- und — viel wichtiger — musikalischen Habitus verfügen (vgl. ebd.: 169ff. u. 185ff.). Die spezielle Musikwerdung der klanglichen Struktur der Songs dieser Band wurde somit zunächst auf der subjektiven, dann der institutionellen wie schließlich der veröffentlichten und letztlich öffentlichen Ebene durch diese Faktoren bestimmt. Gleichzeitig haben in diesen Prozess der musikalischen Bedeutungskonstitution ökonomisch motiohne allerdings tatsächlich loszureiten. Denn immer noch ist ein Sinn dem Werk zu entnehmen, das hier um seine »Wirkungsgeschichte« (zudem in einer ziemlich eindimensionalen Kommunikationsvorstellung) erweitert wird. 12 Sie beschreiben die Musik der Single »Apply Some Pressure« (2005) als »catchy« oder »eingängig«, eine Musik, die »es schaffen konnte« (vgl. Doehring 2011: 268). Die Analyse dieser Musik (Doehring 2006) belegt auf formaler, harmonischer, melodischer wie rhythmischer Ebene den erklärten Willen der Band, einen Song zu schreiben, der aus vier Refrains bestehe, um somit im Radio für einen nachhaltigen Eindruck zu sorgen.

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ANDRÉ DOEHRING vierte Diskursinstanzen eingegriffen: Die Promoter und die Plattenfirma Warp haben in diesem Fall eine umfassend angelegte und kooperative (d.h. sowohl von Band- als auch Medienseite wohlwollend »begleitete«) Kampagne gestartet, die die professionellen Wahrnehmungsinstrumente der Musikjournalisten wecken, das Interesse aufrechterhalten und sie vor allem mit Begrifflichkeiten des erwünschten Sprechens über diese Musik versorgen konnte. Zusätzlich profitierte die Kampagne von einer dem musikjournalistischen Feld eigenen Dynamik der Konkurrenz: In der von den Musikjournalisten geäußerten Wahrnehmung der damaligen Situation seien »alle« von dieser Band begeistert gewesen, man »musste etwas machen« und hat zugleich die von der Plattenfirma angebotene — kostenlose — Reise zu PromotionKonzerten der Band im Ausland gerne wahrgenommen (vgl. ebd.: 266ff.). Zusammenfassend haben habituelle, professionelle, strukturelle und ökonomische Faktoren derart auf die Musikjournalisten eingewirkt, dass sie den Klängen von Maxïmo Park diese Musikwerdung zukommen ließen — die wiederum Ausgangspunkt meiner eigenen Analyse war und damit notwendig als »musikimmanente« Analyse scheitern musste. Denn zum Zeitpunkt meiner analytischen Arbeit bin ich mir weder der benutzten Begriffe und ihrer diskursiven Prägung noch — und hier komme ich zum zweiten Punkt der Problematik der Analyse — meines Blickes, meiner speziellen Perspektive und Interessen an der Musik von Maxïmo Park bewusst gewesen.

D a s F or sc he r s u b j e k t Hans Heinrich Eggebrecht (2004) hat in einem späten, zugleich hellsichtigen wie esoterisch-versponnenen Artikel über das Verstehen durch Analyse vom Analysierenden das unbedingte Bewusstwerden des subjektiven Zugangs zum »Werk« eingefordert. Eggebrecht geht, ähnlich wie Wicke, von einem zweistufigen musikalischen Verstehensprozess aus. Die erste Stufe der klanglichen Erfahrung bezeichnet er als »ästhetisches Verstehen«, die begrifflich geprägte kognitive Verarbeitung dieser Erfahrung dann als »erkennendes Verstehen«. Letzteres ist als ein Versuch der Übersetzung der vorausgehenden sinnlichen Erfahrung von Klang zu verstehen, der in der Totale, d.h. als Abbildung sämtlicher sinnlicher Empfindungen des intuitiven ästhetischen Verstehens, misslingen müsse. Da Eggebrecht als Gegenstand der Analyse einen »in der Regel zum Klingen bestimmten Notentext« (ebd.: 18; Herv. A.D.) definiert, basiert jede Analyse als besondere Form des erkennenden Verstehens auf der subjektiven sinnlichen Erfahrung dieses Klanges. Die in der Analyse zu leistende

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PROBLEME, AUFGABEN UND ZIELE DER ANALYSE POPULÄRER MUSIK Aufgabe definiert er daher als eine kenntlich zu machende Reflexion der persönlichen Zugangsweise zur Musik, der für die Analyse benutzten Begriffe sowie der daraus beeinflussten Ergebnisse der Analyse. Eine Analyse sei als gelungen zu werten, wenn sie als ein Stück »dokumentierter Rezeption« (ebd.: 20) in dieser individuellen Deutung einen Aspekt des »Werkes« anderen verständlich und nachvollziehbar darstellen kann, oder in Eggebrechts Worten: wenn das ›Werk‹ in der Analyse »getroffen ist, und das heißt, ob — auch nur als Widerschein — ein Strahl aus seiner Mitte heraus zum Leuchten kommt« (ebd.). So luzid Eggebrecht den Anteil des Forschersubjekts am Prozess der Analyse herausstellt, so fragwürdig erscheint doch sein Bezugspunkt der Analyse im »Werk«, das nach oben dargelegtem Musikbegriff durchaus als ein zu hinterfragender Gegenstand der Analyse, aber kaum als ihr objektiver Maßstab eine Rolle spielen kann. Auch Moore (2007: xx) stellt die »necessity of self-interrogative writing« in der Analyse heraus. Diese Hinterfragung der Subjektposition des Analysierenden, ein »relatively new topic in musicology« (ebd.: ixx), eröffnet bzw. erinnert an eine ethische Dimension wissenschaftlicher Arbeit, indem sie eben nicht mehr eine, nämlich die eigene resp. die dem »Werk« »angemessene« Hörerposition verabsolutiert, sondern sich auch anderen Hörweisen öffnet und sie für die eigene Arbeit in Betracht zieht. Genau genommen bedeutet die Einforderung von Reflexivität bezüglich der unhintergehbaren Subjektivität des analytischen Zugriffs auf Musik, dass der Musikwissenschaftler sich nun die Fragen tatsächlich stellen bzw. gefallen lassen muss, nicht nur wie, sondern auch für wen und somit wofür er es denn tut. Diether de la Motte bspw. antwortet auf die Frage von Schüler (1996) nach den Zielen von Analyse, ihm sei einerseits gelegen an »Vermittlung von Erkenntnis und Verständnis für Struktur, Qualität, Originalität, aber auch für Probleme des Werkes« (Motte 1996: 47). Analyse ist für ihn aber in zweiter Instanz auch eine »›Liebes-Erklärung‹; ich möchte zu Wort bringen, was und warum ich liebe« (ebd.). Diese Antworten von de la Motte weisen exemplarisch auf die beiden häufig in Analysen vorzufindenden impliziten Motive hin: Erstens will man Verständnis für das »Werk« erarbeiten, d.h. anderen ein ihm angemessenes, gar »richtiges« Verstehen seiner Geformtheit und somit seiner adäquaten Wahrnehmung mitteilen. Zweitens ist Analyse oft und in der Regel unhinterfragt eine Erforschung der eigenen Reaktion auf diese Musik. Dieser Zugang ist absolut legitim: »Aufklärung über sich selbst ist das Grundmotiv allen Fragens und damit aller Wissenschaft«, haben Helmut Rösing und Peter Petersen (2000: 16) die Ängstlichen und/ oder Nachdenkenden beruhigt.

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ANDRÉ DOEHRING Auch in der Analyse populärer Musik sind beide Motive zu entdecken. So will Martin Pfleiderer (2009: 186) am Beispiel des Dub Reggae zeigen, dass ein »musikästhetischer Analyseansatz«, der ihm zufolge jenseits von normativen Ansprüchen stehen soll, die »große Attraktivität« dieser Musik begreifbar machen und anderen Hörern vermitteln könne. Angesichts der Begeisterung für den Gegenstand der Untersuchung ist jedoch Vorsicht angebracht, denn nicht selten führt sie beim kritischen Leser zum Eindruck einer pädagogisch verbrämten Missionierung. Im Nu rückt die Analyse populärer Musik somit in die Nähe der geradezu klassischen Analysesituation westlicher Kunstmusik, wo der Musikwissenschaftler »seine« Musik und ihre — für ihn! — speziellen Reize13 durch analytische Untersuchungen begründet, um sie dem Leser als »gute« Musik nahelegen zu können. Wenn darüber hinaus die Fachgrenzen überschritten werden, impliziert die asymmetrische Struktur dieser Kommunikation zwischen dem Experten einer- und dem Laien andererseits zudem — wie eh und je — eine wertvolle, weil von Diskursleitern14 wertvoll gesprochene Musik. Selbstverständlich soll dies nicht bedeuten, dass von nun an keine Analysen mehr über Lieblingsmusiken geschrieben werden sollten, von denen es nicht nur unter Popularmusikforschern einige geben dürfte. Ganz im Gegenteil! Gerade die Vertrautheit mit einer Musik kann eine immense Hilfe beim Erlangen von Erkenntnis sein, allerdings nur dann, wenn diese persönliche Verbundenheit erkannt und benannt wird. Jede Analyse bedarf einer Fragestellung, die von einem Erkenntnisziel motiviert ist. So gewiss ein persönliches Interesse am Erkenntnisobjekt Beginn jeder Erkenntnissuche ist resp. sein muss, so darf doch dieser Anfang einer Vertiefung in den gewählten Gegenstand nicht dazu führen, dass Liebhaberei oder gar Geschmäcklerisches die wissenschaftliche Verpflichtung auf eine Reflexion und Ursachenermittlung zum Erliegen bringt. Zusammenhänge herzustellen, die das Besondere vor dem Hintergrund des Allgemeinen kritisch und für alle ersichtlich beleuchten, ist ein explizites Ziel von Analyse. Sie darf bei der persönlichen »Liebes-Erklärung«, der Analyse der eigenen ästhetischen Erfahrung beginnen, sie sollte jedoch dann ihr Ziel in 13 Ob dies klangliche, handwerkliche, künstlerische oder gar institutionelle sind, sei für den Moment dahingestellt. 14 Es stellen sich natürlich Zweifel ein, ob der Musikwissenschaftler ein solcher Diskursleiter je für die populäre Musik gewesen ist. Die wohl vielen der auf diesem Gebiet tätigen Wissenschaftler ständig begegnenden Anfragen von Radiostationen, Zeitungen oder Zeitschriften, ob man sich als »Experte für populäre Musik« zu einem bestimmten Thema äußern möge, belegen zumindest, dass eine Außensicht auf den eigenen Status existiert, die die oben stehende Warnung als berechtigt erscheinen lässt.

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PROBLEME, AUFGABEN UND ZIELE DER ANALYSE POPULÄRER MUSIK einer reflektierten und — ich füge hinzu: gesellschaftlich relevanten Fragestellung begründen. Nicht nur kann Analyse somit als Methode der Musikästhetik auf der klanglichen Ebene begründen, welche Musikerfahrung sich daraus generierte,15 sondern sie ist auch ein probates Werkzeug auch der Musiksoziologie. Bereits 1958 begreift Adorno in einem frühen Entwurf zur Musiksoziologie Analyse als deren geeignete Methode. Für ihn (2003b: 18) ist in Musik Gesellschaft enthalten: »Jeder Klang allein schon sagt Wir.«16 Dieser kollektive Gehalt sei von der Musiksoziologie gesellschaftlich zu dechiffrieren (vgl. ebd.: 12). Wie geht sie dabei vor? Musiksoziologie sei nicht in verschiedene Gebiete zu unterteilen, da der gesellschaftliche (Musik-)Prozess auch keine verschiedenen Sphären kenne. Deshalb gebe es keine starren Methoden, sondern diese richteten sich nach dem Gegenstand aus und legitimierten sich danach, was sie »daran aufleuchten« (ebd.: 9) lassen. Ein Musiksoziologe müsse ein doppeltes Verhältnis zur Musik einnehmen, d.h. sie sowohl von innen als auch von außen untersuchen. Von innen bedeutet, mithilfe der Analyse den musikalischen Sinn »gesellschaftlich zum Sprechen zu bringen« (ebd.: 12). Adorno gesteht zu, dass dies nicht einfach zu erlernen oder darzustellen sei, aber alle gelungenen Versuche sich durch eine innere Kohärenz — in meiner Deutung: den roten Faden des Erkenntnisinteresses — und die »Kraft, die einzelnen Momente aufzuhellen«, auszeichneten. Als Bedingung einer produktiven Musiksoziologie sieht er das Verstehen der Sprache der Musik (zur Erinnerung: ein kontextsensitives Wissen um die musikalische Praxis), was wesentlich von der »Verfeinerung und Reflexion der musikalisch-analytischen Methoden« abhänge (ebd.; Herv. A.D.). Um Musik zu »verstehen«, bedürfe es nämlich der Fähigkeit zur »Introspektion« (ebd.: 15), über welche nur geschulte Experten (d.h. praktisch als auch theoretisch Gebildete) mit einer exzeptionellen und weiter ausgebildeten Fähigkeit zur »Selbstbetrachtung« (ebd.) verfügten. Von außen heißt für Adorno, bloß positivistische Äußerungen über Musik nicht als gegeben zu 15 Übrigens muss dies nicht auf das eigene Musikerleben beschränkt bleiben, sondern auch die explizierte Musikerfahrung anderer kann mit analytischen Ergebnissen argumentativ ergründet werden. »Why does it kick butt?«, lautet die berühmte Frage, die jeder Musikwissenschaftler eigentlich dem Hörer populärer Musik beantworten können sollte: »The chords, melodic contours, and metric structures must be grasped analytically or else one has no way of addressing how in material terms the music manages to ›kick butt‹« (McClary/Walser 1990: 290). 16 Ähnlich sieht dies auch Robert Walser, wenn er Analyse als Aufgabe beschreibt, den »human complexities that are registered in sounds« (2003: 38) gerecht zu werden. »You only have the problem of connecting music and society if you've separated them in the first place« (ebd.: 27).

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ANDRÉ DOEHRING werten, sondern sie auf ihre Grundlagen der Aussageproduktion hin zu befragen. Musiksoziologie muss deshalb »die Fähigkeit zum immanenten musikalischen Mitvollzug kombinieren mit der Souveränität, das Phänomen von außen her zu verfremden und damit gesellschaftlich durchsichtig zu machen« (ebd.: 19). Es versteht sich, dass Adornos Materialbegriff und seine elitäre Haltung gegenüber von ihm sogenannter »leichter Musik« einer umweglosen Übertragung auf die Analyse populärer Musik im Wege stehen. Und selbstverständlich ist die Aufgabe der »gesellschaftlichen Dechiffrierung« der Musik äußerst vage formuliert. Doch lässt sich festhalten, dass auch Adorno Analyse als ein Werkzeug der Erkenntnis begreift, das gesellschaftlich präformiertes Sprechen über Musik durch Analyse konfrontieren, d.h. belegen oder ablehnen kann. Analyse kann derart, gestützt durch die praktisch wie theoretisch erworbene Fähigkeit zur Kontextualisierung von Musik und durch den selbstreflexiven Umgang mit Material und Werkzeug der Analyse, zu einer musiksoziologischen Fragestellung methodisch beitragen. Ziel einer solchen, von Robert Walser (2003: 21) als »cultural analysis« bezeichneten Unternehmung ist es, unter Bezugnahme auf die analysierten Klangstrukturen aufzuzeigen, wie Diskurse soziale Bedeutung von Klang evozieren (und vice versa) und somit spezifische Musikerfahrungen ermöglichen.17 Eine so verstandene Analyse hat ein klares Erkenntnisinteresse: als Mittel, nicht Ziel der Popularmusikforschung an der Beschreibung kultureller Praxen und deren potentieller Veränderung beizutragen.18

K o n s eq u e n z e n : D i s k u r si v i e r u n g d er A n al ys e u n d r ad i k al e S el b s tr e f l ex i v i t ä t Ein objektivierter Musikbegriff, der Musik zu untersuchen meint, wo er doch nur einen Musikbegriff vertritt, sowie die nur unzureichend hinterfragte 17 Auch Moore sieht dies ähnlich, allerdings zielt sein Bemühen in erster Linie auf das Verstehen der Musiker bzw. ihres Ausdruckswillens, weniger auf die kulturellen oder sozialen Ursachen und Gebräuche der Musik: »What good analysis does, it seems to me, is to show why it is that explicable musical structures can support the interpretations that we wish to put upon them. >...@ And this is the project which, it seems to me, has become key in the last decade: to demonstrate why it is that the particular sounds, sound-complexes, sound-structures that musicians use are appropriate to the expressive circumstances they find themselves in, and therefore enable meaningful interpretations to be made of their actions in bringing about just those sounds, sound-complexes and soundstructures« (Moore 2007: xviii). 18 Ähnliche Ansprüche formuliert Blaukopf (1984: 21) für die Musiksoziologie.

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PROBLEME, AUFGABEN UND ZIELE DER ANALYSE POPULÄRER MUSIK Position des forschenden Subjekts hindern daran, Analyse als ein Mittel zu mehr als — immerhin — der Erklärung eines musikästhetischen Verstehens zu begreifen. Erst durch eine Diskursivierung der Analyse, die das Sprechen über Musikbegriffe in die Analyse der klanglichen Strukturen ein- und rückbezieht, kann die lange überholte Trennung inner- und außermusikalischer Analyse überwunden werden, die einer historisch bedingten Auffassung entspringt, die mit der Idee der musikalischen Autonomie gegen Ende des 18. Jahrhunderts sich zu entwickeln begann (vgl. Eggebrecht 1973: 49). Die radikale Selbstreflexivität des Forschersubjekts muss zudem die Einsicht vermitteln, dass es durch Motive, Ziele und Methoden das klangliche Objekt rahmt und diskursiviert. Dieser Prozess ist expliziter Bestandteil jeder Analyse und gehört daher auch in ihre schriftliche Fassung. In einer der wenigen Arbeiten, die sich analytisch mit elektronischer Tanzmusik auseinandersetzen, gibt Mark J. Butler (2006) ein anschauliches Beispiel für diese Forderungen. Butler erkennt in den anglophonen Popular Music Studies einen »reflexive turn« (ebd.: 16f.), der sich durch folgende Aspekte des Umgangs mit der zu analysierenden Musik auszeichne. Analyse wird von ihm als soziale Praxis bezeichnet, innerhalb der sich der Analysierende in Beziehung zu der Musik und anderen Diskursteilnehmern setzt. Durch intensiven Austausch mit anderen Wissenschaftlern, aber auch Musikern, Hörern, Tänzern usw. weiß der Analysierende um die Stärken wie Limitierungen seiner Arbeit. Zudem ist er sich bewusst, dass er seine multiplen Rollen nicht verleugnen kann, sondern versuchen muss, sie produktiv und offen in die analytische Argumentation zu integrieren; Butler spricht vom »explicit positioning of the analyst within the analysis« (ebd.: 16; Herv. i. Orig.). Auf diese Weise hat nicht nur — wie gewohnt — der Wissenschaftler das Sprachrecht in der Analyse, sondern Butler erscheint in seinen Ausführungen auch als Hörer, Amateur-Musiker oder Teilnehmer an musikalischen Veranstaltungen, d.h. er berichtet über Musikerlebnisse beim Tanzen, beim Beobachten der Tänzer oder beim Beobachten der Beobachter der Tänzer während öffentlicher Aufführungen elektronischer Tanzmusik. Diese radikale Selbstreflexivität als Voraussetzung und Teil der Analyse verlangt also, sich seiner Subjektivität und Rollendiversität, seiner Ziele der Analyse sowie der durch die Methode und Begriffe verursachten Effekte bewusst zu werden und sie zu benennen. Allgemein formuliert bedeutet es, die spezifische Situation der Analyse und der eigenen Rezeption dieser Musik hinsichtlich der subjektiven, sozialen, politischen, kulturellen oder ökonomischen Kontexte zu erhellen. Es wäre vermessen, diese Anforderungen zu konkretisieren; wer wie Butler glaubt, dass die Offenbarung sexueller Orientierung die eigene Analyse nachdrücklich verständlicher macht, kann,

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ANDRÉ DOEHRING nein: soll das gerne tun. Wesentlicher als die inhaltliche ist nämlich die ethische Dimension dieser Handlungsmaxime, denn diese ausdrückliche (Selbst-)Positionierung des Forschenden versucht, den althergebrachten »god-trick of seeing everything from nowhere« (Haraway 1991: 189)19 einer objektivitätsfixierten Forschungslogik zu überwinden. Die hier anklingende Idee radikaler Spezifität unterläuft somit einerseits das pauschalisierende Sprechen über Musik, sie muss allerdings andererseits anerkennen, dass sie nur einen Zugriff auf die untersuchte Musik darstellt. Es ist daher eine unvermeidliche Folge des Geforderten, sich die hier abzeichnende begrenzte Autorität des musikwissenschaftlichen Sprechens über populäre Musik — hier im Spezialfall der Analyse — angesichts der Vielzahl gültiger Interpretationen einzugestehen. Der sich bereits abzeichnende lautstarke Vorwurf, da »könne ja nun jeder kommen« und seine »Meinung« über populäre Musik zum Besten geben, offenbart einerseits das vom Zerfall bedrohte Anspruchsdenken einer Disziplin, die gewohnt war, ihre Deutungen der untersuchten Musik als allein gültige anzusehen. 20 Andererseits können die Nörgler beruhigt werden: Analyse darf im Vergleich zum alltäglichen Sprechen eine besondere Gültigkeit beanspruchen, da sie ein wissenschaftliches Unternehmen ist und bleibt — insofern sie trotz des subjektiven und spezifischen Zugriffs, der in seiner Offenlegung die intersubjektive Nachvollziehbarkeit und somit eine handhabbare Objektivität anstrebt, weiterhin Ansprüche von Diskursivität, logischer Konsistenz und Überprüfbarkeit erfüllt. Eigentümlicher- wie bezeichnenderweise finden wir diese Forderungen nach Reflexivität immer wieder in der Literatur zur — nicht nur populärmusikalischen — Analyse. Gruber fordert bspw. in der MGG: »Die vom Musikanalytiker vorgenommene Analyse gibt nicht nur seine musikästhetische Position preis, sondern auch seinen historischen Standort, der mit der kompositionstechnischen Entwicklung nur bedingt standhält. >…@ Eine Analyse ist nie abgeschlossen, ihr integrativer Bestandteil ist der Erfahrungshorizont des Analysierenden. Sie ist aber vollständig, wenn dieser Bezug erkannt, kritisch reflektiert und Teil der Analyse ist« (Gruber 1994: 579). 19 In der Übersetzung von Helga Kelle: »göttlichen Trick, alles von nirgendwo aus sehen zu können« (Haraway 1995: 81). 20 Die Auseinandersetzungen über die »richtige«, d.h. »beste« Analyse innerhalb der Musikwissenschaft vermochten nicht, die Expertenrolle der Disziplin im gesellschaftlichen Diskurs über Musik zu beeinträchtigten. Die Hinwendung zur zeitgenössischen Musik mit ihrer Betonung der klanglichen Ebene — und nicht zuletzt der teils vehemente Widerspruch der Komponisten gegen die vorgelegten Analysen — hat die Musikwissenschaft vor ähnliche Probleme gestellt, wie sie auch in der Analyse populärer Musik zu beobachten sind.

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PROBLEME, AUFGABEN UND ZIELE DER ANALYSE POPULÄRER MUSIK Man kommt sich vor wie Don Quichotte im Kampf gegen die Windmühlen angesichts der vehementen Bezeugungen der Wissenschaft zur Verpflichtung auf die kritische Selbstreflexion und ihrer gleichzeitigen Zeugnisse der Folgenlosigkeit dieser Gelöbnisse. Die Feststellung, dass »kaum noch Anlass für ein distanziertes und zögerliches Verhältnis der Popmusikforschung zur musikalischen Analyse besteht« (Pfleiderer 2008: 169), mag einer deutschsprachigen Popularmusikforschung zustehen, die eine ähnliche Debatte über Analyse wie im anglophonen Raum bereits geführt hat. Derzeit aber muss diese Haltung sowohl als Symptom wie auch als Grund für die nach wie vor sich behauptende Pseudo-Reflektivität der Disziplin gedeutet werden. Letztlich bleibt mir also nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die lange bekannten Forderungen um die wenigen Ergänzungen (etwa die Diskurskompetenz) erweitert zur Umsetzung anzumahnen, gerade angesichts der zunächst einmal begrüßenswerten Zunahme von Analysen populärer Musik. Vielleicht ist gerade, weil Analyse sich momentan »under construction« befindet — um den Titel von Rappes (2010) Analyse des gleichnamigen Songs von Missy Elliott zu bemühen —, die Gelegenheit für meinen Eingriff günstig, den Analysierenden als Konstrukteur wahr- und ernstzunehmen. Wenn sich zudem die — oft unbewusst eingeschlichene — Idee des objektiv bestehenden, wert- wie gehaltvollen Werks, des Songs oder Tracks überwinden lässt hin zu einer Sicht auf die speziellen Prozesse der Bedeutungszuweisungen an Klang, kann es gelingen, Analyse als ein Instrument zu (be-)nutzen, das nicht das Verstehen von der Musik im Sinn hat, sondern hilft, das Verstehen des — vielfältigen und doch diskursiv geformten — Musikverstehens voranzutreiben, wie es als Aufgabe systematischer Musikwissenschaft formuliert worden (Motte-Haber 1982: 12) und für die Popularmusikforschung zu übernehmen ist.

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A b s t r ac t After a period of moderate usage, analysis recently seems to enjoy new demand as an appropriate tool for the study of popular music. Yet this paper claims first that still too little attention is being paid to the contexts and discourses of popular music which shape our notion of the music we want to analyse. Second, the analyst her/himself rarely questions her/his motives and goals of performing an analysis. In taking both claims seriously, analysis could be used for setting clear the aesthetic impressions popular music has to offer as well as advance again as a tool for sociomusicology, just like Adorno once proposed.

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COMPUTERGESTÜTZTE ANALYSE U N D H I T -S O N G W R I T I N G F ra nk Rie demann Kommerziell erfolgreiche Popmusik1 weist formatspezifische Strukturen und Konventionen auf, die im engen Zusammenhang mit der Chartkompatibilität eines Songs stehen. So betonen professionelle Songwriter immer wieder, dass erst die intensive analytische Auseinandersetzung mit bestehenden Hitsongs die Basis für erfolgreiches Songwriting schafft (z.B. Silver/Bruce 1939; Tucker 2003; Chambers 2005). Im Zuge des Analyseprozesses werden musikund textimmanente Strukturen erkannt und internalisiert, wodurch ein Repertoire an alternativen Ausdrucks- und Gestaltungsmitteln aufgebaut wird. 2 Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, dass ca. 90 Prozent der erfolgreichsten Hits aus den aktuellen deutschen Singlecharts exklusiv oder durch Co-writing aus der Feder professioneller Songwriter stammen (vgl. Riedemann, in Vorb.). Dennoch stehen viele Musiker einer analytisch-theoretischen Reflektion im Bereich Songwriting skeptisch gegenüber, da dies dem medial propagierten Ideal des naiv-unmittelbaren Schöpfungsakts als Quasi-Beweis für die Authentizität eines Künstlers widerspricht. Dabei ließen sich durch eine profunde Analyse potentielle Inkompatibilitäten mit dem avisierten Format vermeiden: »People listen to songs on the radio, then do the opposite. The rules are there ȩ why do so few composers bother to learn them?« (Curtis Mayfield, zit. n. Hirschhorn 2001: xxiv). Derartige »Regelverstöße« im Sinne einer Abweichung von formatspezifischen Konventionen lassen sich nicht nur im Amateurbereich, sondern auch bei Non-Hits im professionellen Kontext entdecken wie ein Vergleich mit Hitsongs nachfolgend zeigen wird. Hierbei soll diskutiert werden, 1

2

Die Bezeichnung »Popmusik« wird hier als Oberbegriff für populären Mainstream gebraucht, wie man ihn insbesondere in den Charts vorfindet. Zur definitorischen Problematik populärer Musikformen und des Genrebegriffs sei hier auf die einschlägige Literatur verwiesen: z.B. Middleton 2001; Rösing 2005; die Problematik der Genrezuweisung wird ausführlich bei Fabbri 2004 diskutiert. Kachulis (2003: ix) verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff »internal library«.

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FRANK RIEDEMANN welchen Beitrag die Musikwissenschaft durch computergestützte Analyseverfahren zur Professionalisierung und Erweiterung der kreativen Ausdrucksmöglichkeiten im Bereich Hitsongwriting leisten kann. Zunächst ein kurzer Exkurs zur Ausbildungssituation. Das Berklee College of Music in Boston ist laut eigenem Bekunden die weltweit einzige akademische Institution, die Songwriting als Hauptfach anbietet (Kachulis 2010). Darüber hinaus wird Songwriting als Teildisziplin im Rahmen der praktischen Popmusikerausbildung unterrichtet, wie z.B. am Liverpool Institute for Performing Arts, an der Popakademie in Mannheim oder im Rahmen des Kontaktstudiengangs Popularmusik in Hamburg. In Ermangelung weiterführender Standardliteratur sind die Studieninhalte hierbei hochgradig personalisiert und reflektieren die Erfahrungswerte der jeweiligen Dozenten, die sich z.T. gleichzeitig als Autoren für die einführende unterrichtsbegleitende Literatur verantwortlich zeichnen (u.a. Pattison 1991; Perricone 2000; Kachulis 2003; Abou-Dakn 2006). Überdies richtet sich die gesamte Publikationsbreite zum Thema Songwriting immer auch an den musiktheoretischen Laien, sodass auf die Darstellung komplexer musikalischer Sachverhalte weitestgehend verzichtet wird (ein Überblick zur Songwritingliteratur findet sich bei Schmidt/ Terhag 2010: 102f.). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass im Gegensatz zum klassischen Kompositionsstudium weder Ausbildungsstandards für den Fachbereich Songwriting existieren noch weiterführende Literatur verfügbar ist. Im Anbetracht der Tatsache, dass in der Songwritingliteratur sehr unterschiedliche Ausdrucks- und Gestaltungsmerkmale als hitkonstituierend bezeichnet werden, stellt sich die Frage, inwiefern diese Features in der von den Autoren proklamierten Frequenz in Hitsongs tatsächlich statistisch nachweisbar sind. Hierzu ein Blick auf den aktuellen Forschungsstand in der Musikwissenschaft: Die Forschungslage im Bereich der Analyse populärer Musik ist nach wie vor geprägt durch den Einfluss der Cultural Studies, die kulturelle Aneignungs- und Rezeptionskontexte in den Vordergrund stellen. Dennoch lässt sich in den letzten Jahren ein Trend zur Rückbesinnung auf die Analyse der klingenden Musik als eine der traditionellen Kernkompetenzen der Musikwissenschaft beobachten. In diesem Zusammenhang steht immer noch die Frage nach einem angemessenen methodischen Zugang aus, was sich unter anderem in einer großen Methodenvielfalt niederschlägt (vgl. Middleton 2000; Moore 2003). Im Bereich musikanalytisch ausgerichteter Studien dominieren in erster Linie hermeneutische Einzel- oder Werkanalysen mit Fokus auf einen einzelnen Künstler oder einer Gruppe (Elflein 2010: 11). Obgleich die Volksmusikforschung bereits auf eine lange Tradition rechnergestützter

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COMPUTERGESTÜTZTE ANALYSE UND HIT-SONGWRITING statistisch-analytischer Studien verweisen kann (z.B. Steinbeck 1982; Jesser 1991; Eerola et al. 2001), liegen nur sehr wenige Forschungsergebnisse über die statistische Verteilung von musik- und textimmanenten Merkmalen im Bereich aktueller populärer Musik vor (vgl. Kopiez/Müllensiefen 2011). Verantwortlich für dieses Forschungsdefizit sind nicht zuletzt forschungsökonomische Gründe: Es gibt aufgrund des geltenden Urheberrechts keine frei verfügbaren Datenbanken aktueller populärer Musik, die in einem analysefähigem computerlesbaren Format vorliegen. So steht zu Beginn der Forschung stets eine sehr aufwendige Transkription und Kodierung der Songs. Für den Fall, dass die existierenden Softwarepakete nicht die benötigten Analysefunktionen aufweisen, muss überdies eine Einarbeitung in die entsprechende Befehlssyntax des jeweiligen Analysetools oder aber die enorm zeitintensive Programmierung einer neuen Analysesoftware erfolgen. Beides verlangt profunde Programmierkenntnisse, die in den seltensten Fällen bei einem Musikwissenschaftler vorausgesetzt werden können. Die Ergebnisse des nachfolgenden Vergleichs zwischen Hits und Non-Hits sind im Kontext einer Forschungsarbeit zur computergestützten Analyse musik- und textimmanenter Gestaltungsmerkmale aktueller Popmusik entstanden (Riedemann, in Vorb.). Im weiteren Verlauf sollen exemplarisch sowohl ausgewählte Rahmenvariablen vorgestellt werden, die einen bestimmten Wertebereich innerhalb des vorliegenden Hitformats beschreiben, als auch Variablen, die auf komplexe kombinatorische Realisierungen von musik- und textimmanenten Strukturen verweisen. Die Auswahl der Variablen ist das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Material und basiert sowohl auf musiktheoretischen und -psychologischen Überlegungen als auch auf Erfahrungen des Autors als professionellem Songwriter.3 Nachfolgend werden aus Gründen der Übersichtlichkeit nur Merkmale vorgestellt, die den Chorus als Zentralsektion eines Songs betreffen.4 Im Anschluss wird eine binär-logistische Regression das Potential der computergestützten Analyse als auch die Beschränkungen eines hohen Abstraktionsniveaus verdeutlichen. Die zu analysierenden Songs wurden auf Grundlage des Notentextes in ein computerlesbares Format kodiert und in die vom Autor entwickelte Analysesoftware Essencer eingegeben. Das Programm stellt mit mehr als 1.600 3

4

Der Hinweis auf die Tätigkeit des Autors als Songwriter ist insofern bedeutsam, als dass der individuelle Standpunkt des Analysierenden zwangsläufig einen Einfluss auf den Analyseprozess ausübt, vgl. Redmann 2002: 203ff. Der Begriff Zentralsektion wird insbesondere im Umfeld des Berklee College of Music gebraucht. Er trägt dem Umstand Rechnung, dass hier die zentrale textliche Idee bzw. der Hook eines Songs zu finden ist, vgl. Pattison 1991: 53.

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FRANK RIEDEMANN Seiten Programmcode eine Vielzahl von Funktionen zur Verfügung, die speziell auf die Anforderungen der Popmusikanalyse zugeschnitten sind. Obgleich der Notentext die erklingende Musik nur bedingt in ihrer »sonischen Wirklichkeit« (Wicke 2003: 123) und den damit verbundenen subjektiven Erlebnisqualitäten repräsentiert, bildet dieser dennoch wichtige musikstrukturelle Bezüge ab, wie neuere musikpsychologische Forschungen bestätigen (Huron 2006; Müllensiefen et al. 2008). Dennoch soll hier mitnichten der Eindruck eines Primats des Notentextes als Analysegrundlage erweckt werden ȩ die Komplexitätsreduktion ist in erster Linie forschungspragmatischen Überlegungen geschuldet (zur Problematik der »notational centricity« vgl. Middleton 2000: 4). Als Hitsongs wurden 57 der erfolgreichsten Titel aus den deutschen Singlejahrescharts der Jahre 2000-2005 ausgewählt, wobei jedes Jahr mit mindestens neun Songs vertreten ist.5 Als Non-Hits wurden jene Songs klassifiziert, die zusammen mit einem der zuvor genannten Hits auf einem Album erschienen sind, aber keine Chartnotierung als Single aufweisen. Obgleich diese Arbeitsdefinition von Non-Hits als eine stark verkürzte Annäherung an ein äußerst vielschichtiges Phänomen zu bewerten ist, stellt sie dennoch im Kontext der nachfolgenden Untersuchung eine hinreichend praktikable Lösung für die Auswahl des Vergleichskorpus dar. Die Auswahl der Non-Hits erfolgte durch eine Zufallsfunktion mit der Vorgabe, dass der Untersuchungszeitraum von 2000-2005 zu gleichen Teilen repräsentiert wird: Jahr

Act

2000 Melanie C.

Hit

Album

»I Turn To You«

2001 Enrique Iglesias »Hero«

Non-Hit

Northern Star

»Why«

Escape

»Love 4 Fun«

2002 Shakira

»Whenever, Wherever« Laundry Service

2003 Evanescence

»Bring Me To Life«

Anywhere But Home »My Last Breath«

»Fool«

2004 Britney Spears

»Everytime«

In The Zone

»Breathe On Me«

2005 Tokio Hotel

»Durch den Monsun«

Schrei

»Unendlichkeit«

Tabelle 1: Randomisiertes Sample der Non-Hits

Aufgrund der verhältnismäßig geringen Anzahl an Non-Hits gegenüber Hits werden die nachfolgenden Vergleiche eher konservativ als Tendenzen bewertet. Dennoch liefern diese Ergebnisse bereits wertvolle Hinweise für 5

Der Hit-Korpus beinhaltet eigentlich 60 Songs mit je zehn Songs pro Jahr ȩ da allerdings drei Songs keine Vers/Chorus-Struktur aufweisen, wurden sie aus dieser Analyse ausgeschlossen.

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COMPUTERGESTÜTZTE ANALYSE UND HIT-SONGWRITING potentielle Inkompatibilitäten der Non-Hits mit dem vorliegenden Hitformat, welches sich unter anderem in der Organisation und Gestaltung spezifischer Merkmale ausdrückt. Die erste Variable erfasst den ersten Einsatzzeitpunkt des ersten Chorus als zentrale Sektion eines Popsongs. Bei Hits liegt der Einsatzzeitpunkt bei einem Mittelwert von 43 Sekunden und einer Standardabweichung von 17 Sekunden (Variable SeC_FCS, siehe Tabelle 2). Hierbei treten weder der Maximalwert von 73 Sekunden noch der Minimalwert von 0 Sekunden statistisch als Ausreißer in Erscheinung.6 Diese Verteilung bei Hitsongs deckt sich mit der Einschätzung von Guy Chambers, der als langjähriger Songwriter von Robbie Williams eine Vielzahl von Welthits komponiert hat. In einem BBCInterview bezeichnet Chambers den Einsatzzeitpunkt des ersten Chorus als eine wichtige Regel im Songwriting: »Another big songwriting rule is getting to the chorus before a minute. That is something I am always aware of. I even look at the clock on the computer« (Chambers 2005). Diese Umstände deuten darauf hin, dass es sich bei SeC_FCS um eine Rahmenvariable handelt, die im Kontext des vorliegenden Hitformats einen Wertebereich vorgibt, innerhalb dessen sich eine Merkmalsausprägung bewegen sollte.7 Betrachtet man nun die ausgewählten Non-Hits, so zeigt sich, dass zwei Non-Hits, »Why« von Melanie C. und »Breathe On Me« von Britney Spears, mit 110 bzw. 130 Sekunden weit jenseits dieses Rahmenbereichs liegen und somit auf eine Format-Inkompatibilität hindeuten. Überdies zeigt auch der U-Test nach Mann/Whitney einen sehr signifikanten Unterschied zwischen Hits und Non-Hits auf einem Niveau von p = 0.01 auf (vgl. Tabelle 2).8 Das zweite Feature beschreibt die systemische Redundanz der Melodiephrasen im Chorus, indem die gemittelte Selbstähnlichkeit aller Melodiephrasen zueinander berechnet wird. Als Vergleichsmaß wurde hierbei »opti3« implementiert, welches das bhnlichkeitsurteil von Musikexperten durch die Kombination unterschiedlicher melodischer bhnlichkeitsmaße mittels einer Regressionsgleichung modelliert (vgl. Müllensiefen 2004: 238ff.). 6

7

8

Als Ausreißer werden jene Werte innerhalb eines Boxplots nach Tukey verstanden, die um mehr als das 1,5-fache vom Interquartilabstand entfernt liegen, also des Bereichs, in dem sich die mittleren 50% aller Werte bewegen (vgl. Bortz 2005: 40; Bühl 2008: 237). Das Attribut Rahmenvariable wird nicht allein aufgrund statistischer Voraussetzungen zugewiesen. Vielmehr spielen hier neben statistischen Gegebenheiten auch musiktheoretische, musikpsychologische als auch kompositionspragmatische Überlegungen eine Rolle. Insofern ist diese Bezeichnung bereits als ein Teil des Interpretationsprozesses zu verstehen. Auf eine ausführliche Beschreibung der am jeweiligen Datenniveau angepassten statistischen Tests wird an dieser Stelle verzichtet und auf die einschlägige Fachliteratur verwiesen, z.B. Bortz 2005.

47

FRANK RIEDEMANN Das so entstandene Feature SeMC_RSim_Ch ist auf den Wertebereich 0—1 skaliert, wobei der Wert 1 die sektionsinterne Identität aller Melodiephrasen zueinander beschreibt und 0 deren maximale Unähnlichkeit. Obgleich hier kein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Korpora festgestellt werden kann, fällt dennoch der hohe Wert von 0.86 für die systemische Redundanz im Chorus des Tokio Hotel-Titels »Unendlichkeit« auf. In Anbetracht des Umstands, dass sich das bhnlichkeitsmaß »opti3« sensibel gegenüber leichten Phrasenverlängerungen oder -verkürzungen verhält, deutet dieser hohe Wert auf eine sehr geringe melodische Entwicklung innerhalb dieser Zentralsektion hin. Überdies liegt der Titel von Tokio Hotel sowohl weit über dem Mittelwert von 0.33 (Standardabweichung 0.15) als auch dem Maximum von 0.76 bei Hitsongs. Auf der anderen Seite der Skala liegt bei Non-Hits der Song »Breathe On Me« von Britney Spears mit 0.07 noch unter dem Minimum von Hitsongs, welches bei 0.11 liegt (siehe Tabelle 2). Dieser untere Wert ist allerdings im Anbetracht der zuvor erwähnten Anfälligkeit des bhnlichkeitsmaßes »opti3« gegenüber Phrasenverkürzungen und -verlängerungen im Gegensatz zu einem sehr hohen Wert als weniger prekär zu bewerten. Insgesamt weist auch diese Variable vor allem mit ihrem oberen Grenzwert das Potential einer Rahmenvariablen auf, da eine geringe melodische Entwicklung im Chorus nur bedingt durch andere Parameter kompensiert werden kann. SeC_FCS Zeitpunkt erstes Erklingen des Chorus in Sekunden

SeMC_Rsim_Ch Systemische Redundanz der Melodiephrasen im Chorus

Hits Mittelwert

43

0.33

Hits Stdabw.

17

0.15

Hits Minimum

0

0.11

Hits Maximum

73

0.76

Non-Hit »Why«

110

0.14

Non-Hit »Love 4 Fun«

37

0.43

Non-Hit »Fool«

55

0.30

Non-Hit »My Last Breath«

56

0.18

Non-Hit »Breathe On Me«

130

0.07

Non-Hit »Unendlichkeit«

32

0.86

Mann-Whitney U-Test p = 0.010*

Mann-Whitney U-Test p = 0.195

Signifikanztest

Tabelle 2: Merkmale SeC_FCS und SeMC_Rsim_Ch.9 9

Die zusätzliche Symbolisierung des statistischen Signifikanzniveaus durch Sternchen folgt der gängigen Konvention in den empirischen Wissenschaften: Signifi-

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COMPUTERGESTÜTZTE ANALYSE UND HIT-SONGWRITING Nachdem die ersten beiden Variablen sich mit dem Einsatzzeitpunkt und Redundanzverhältnissen im Chorus beschäftigt haben, soll nun eine weitere Variable einen Aspekt der harmonisch-melodischen Strukturierung dieser Sektion behandeln. So erfasst das nächste Feature die Vorkommenshäufigkeit dreier prominenter kompositorischer Strukturprinzipien, nachfolgend KSPs genannt, innerhalb des Chorus. Sie nehmen eine besonders wichtige Ordnungsfunktion unter den harmonisch-melodischen Variations- und Wiederholungstechniken ein und dienen häufig als organisatorisches Rückgrat des Chorus: x x

x

Melidents ȩ identische Wiederholung einer Melodiephrase über einem veränderten harmonischen Hintergrund, Sequenzierung ȩ Wiederholung einer Tonfolge auf einem anderen Tonhöhenniveau (es wird nicht zwischen realer und tonaler Sequenz unterschieden) und Intchanges ȩ Wiederholung einer Melodiephrase bei gleichzeitiger Anpassung des Zieltonbereichs auf einem der Taktschwerpunkte an den veränderten Akkordhintergrund (Hybridform aus Melident und Sequenz).

Abbildung 1: Beispiel Sequenzierung und Intchange (Alexander: »Take Me Tonight«)

In Tabelle 3 werden diese drei KSPs zusammengefasst zu der binären Variablen SeMc_KSP_SIM_Ch, welche darüber Auskunft gibt, inwiefern mindestens 50% aller Melodiephrasen im Chorus von mindestens einem dieser drei Strukturprinzipien organisiert sind. Die oberste und unterste Zeile der Tabelle

kante Aussagen mit einem Sternchen weisen eine Irrtumswahrscheinlichkeit von p Musiker, Popmusikforscher, Mitarbeiter Fach Musik/Populäre Musik und Medien Universität Paderborn (Produktion, Rezeption, Weiterverarbeitung) *EW: Eckhard Wiemann > Pianist, Musiker, Produzent, Lehrender Fach Musik/Populäre Musik und Medien Universität Paderborn (Produktion, Rezeption, Weiterverarbeitung) *JB: Jochen Bonz, > Journalist, Popkultur/Musikforschender, Ethnologe/Soziologe, Universität Gießen (Distribution, Rezeption, Weiterverarbeitung) *AB: Mauro Abbühl > Kulturförderer, Bern, ArtLink (Rezeption, Weiterverarbeitung, Distribution) *MA: Michael Ahlers > Musiker, Produzent, Popmusikforscher, Musikpädagoge, Mitarbeiter Fach Musik/Populäre Musik und Medien/Fach Musik Universität Paderborn, Professor für Musikpädagogik/Digitale Medien Universität Augsburg (Produktion, Rezeption, Weiterverarbeitung) *SA. Seth Ayyaz > Musiker, Musikwissenschaftler, City University London und Zenith Foundation (Produktion, Rezeption, Weiterverarbeitung) *KA: Kinan Azmeh > Musiker, Damaskus (Produktion) *RB: Roger Behrens > Musiker, Journalist, Mitherausgeber Testcard, Popmusik/ -kultur-Philosoph, Lehraufträge u.a. an den Universitäten Weimar, Hamburg, Lüneburg und Paderborn (Produktion, Rezeption, Weiterverarbeitung) *PB: Paul Bonomo (aka Snax, Tony Amherst, Captain Comatose) > Produzent, Musiker, DJ, Labelinhaber Random Rec., Berlin (Produktion, Rezeption, Weiterverarbeitung, Distribution) *ME: Manuel Engelbertz > Kulturwissenschaftler und freier Musikjournalist, Magazin Friedrich, Berlin (Rezeption, Weiterverarbeitung) *SF: Sven Fortmann > Journalist Lowdown-Magazin, Berlin (Rezeption, Weiterverarbeitung) *CG: Christine Giese > DJ Suzi Wong, Journalistin (Radio), Berlin (Rezeption, Weiterverarbeitung) *TH: Thaddeus Herrmann > Journalist/Redakteur De:Bug-Magazin, Label City Centre Offices, DJ, Berlin (Produktion, Rezeption, Weiterverarbeitung, Distribution) *OK: Olaf Karnik > Musiker, DJ, Journalist, Kurator, Popmusikforschender, Fach Musik/Populäre Musik und Medien Universität Paderborn (Produktion, Distribution, Rezeption, Weiterverarbeitung) *TK: Tarek Khoury > Musikwissenschaftler, Produzent und Journalist (Radio), Köln (Produktion, Rezeption, Weiterverarbeitung)

255

THOMAS BURKHALTER, CHRISTOPH JACKE UND SANDRA PASSARO *RK: Robert Koch > Produzent, Musiker, Bands Jahcoozi, The Tape, Robot Koch, Label, DJ, Berlin (Produktion, Rezeption, Weiterverarbeitung, Distribution) *UL: Uli Lettermann > Saxophonist, Musiker, Lehrender Fach Musik/Populäre Musik und Medien Universität Paderborn (Produktion, Rezeption, Weiterverarbeitung) *NL: Neil van der Linden > Musikethnologe und Kulturproduzent, Amsterdam (Rezeption, Weiterverarbeitung) *AM: Azza Madian > Musikwissenschaftlerin, Bibliothek von Alexandria und Kairo Symphony Orchestra (Rezeption, Weiterverarbeitung) *MK: Karima Mansour > Zeitgenössische Tänzerin, Kairo (Produktion, Weiterverarbeitung) *GM: Guilnard Moufarrej > Musikethnologin, UCLA Los Angeles (Rezeption, Weiterverarbeitung) *ZN: Ziad Nawfal > Radiojournalist, Radio Lebanon, Beirut (Rezeption, Distribution) *KN: Kristina Nelson > Kulturvermittlerin, Kairo (Rezeption, Weiterverarbeitung) *MP: Martin Pfleiderer > Saxophonist, Professor für Geschichte des Jazz und populärer Musik, Hochschule für Musik Franz Liszt, Weimar (Produktion, Rezeption, Weiterverarbeitung) *MR: Michael Rappe > Musiker, Produzent, DJ, Veranstalter, Professor für Populäre Musik, Hochschule für Musik und Tanz Köln (Produktion, Distribution, Rezeption, Weiterverarbeitung) *KR: Kamran Rastegar > Musiker, Literaturwissenschaftler, Department of German, Russian & Asian Languages, Tufts University, Medfort (Produktion, Rezeption, Weiterverarbeitung, Distribution) *AR: Akram Rayess > Musikwissenschaftler, Beirut (Rezeption, Weiterverarbeitung) *SA: Mustafa Said > Oud-Spieler, Kairo (Produktion) *AS: Ahmad El Sawy > Oud-Spieler, Kairo (Produktion) *SC: Manuel Schottmüller > Booker, »SSC Booking«, Düsseldorf (Rezeption, Weiterverarbeitung) *JS: Jonathan Shannon > Ethnologe, Anthropology Faculty, Hunter College of the City of New York (Rezeption, Weiterverarbeitung) *FS: Florian Sievers > Journalist, Berlin (Rezeption, Weiterverarbeitung) *MS: Martin Stokes > Musikethnologe, lecturer in Ethnomusicology, Oxford University (Rezeption, Weiterverarbeitung) *MW: Michael Wentzlaff > Schauspieler, Berlin (Rezeption, Weiterverarbeitung)

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F O R E N S I S C H E P O P M U S I K -A N A L YS E Helmut Rösing

1 . A l l g e m e i n e Ü b e r l eg u n g e n z u r A n a l y s e v o n ( P o p - ) M u si k Musikanalyse ist immer Interessen geleitet. Fragen zum Stil, zur musikgeschichtlichen Einordnung, zur Funktion und zur Zielgruppe, zur Qualität und zur Bewertung nach Kriterien wie Originalität, Authentizität, Emotionalität und Botschaft können Ausgangspunkt und Ziel einer analytischen Auseinandersetzung mit Musik sein. Im Mittelpunkt aber steht die Klärung der Machart von Musik. Zu deren Beschreibung gibt es unterschiedliche Verfahrensweisen. Rein physikalisch lassen sich die Spektren von Schallereignissen nach Gegebenheiten wie Tonhöhenverlauf, Teiltonstruktur, Geräuschanteil und Zeitdauer der Schallereignisse, nach Intensitätsmerkmalen, Amplitudenschwankungen und Envelope-Struktur statistisch auswerten und benennen. Informationstheoretische und semiotische Modellbildung kann darauf aufbauen (Stoffer 1996). Für eine musikalische Beschreibung sind derartige physikalische und psycho-akustische Parameter jedoch solange wenig ergiebig, wie sie nicht in Verbindung gebracht werden mit wahrnehmungspsychologischen Grundlagen des Musikhörens. Hier geht es um die Repräsentation von akustischen Reizen in den auditiven Verarbeitungszentren des Gehirns nach den Kriterien von dem, was als Musik gilt. Damit erst beginnt die eigentliche Musikanalyse. Grundlage dafür bietet weniger deren physikalische Erscheinungsform als vielmehr ihre notenschriftliche Kodierung. Notenschrift hat sich in der westlichen Kultur seit dem Mittelalter von den Gestaltungsverläufe skizzierenden Neumen bis hin zur analytisch-sezierenden Einzelton-Notation entwickelt. Analog dazu wurde ein musiktheoretischer Überbau geschaffen, der in einem umfangreichen Regelwerk seinen Niederschlag gefunden hat. Diese Regeln sind im

257

HELMUT RÖSING Verlauf der Musikgeschichte immer differenzierter und komplexer geworden. Das führte zu einer zunehmenden Kluft zwischen einer musiktheoretisch fundierten, nach Noten komponierten Kunstmusik und einer nach wie vor primär mündlich tradierten Umgangs-, Gebrauchs- und Volksmusik. Popmusik ist allerdings weder Kunst- noch Volksmusik. In seinem Buch Die vier Weltalter der Musik beschreibt sie Walter Wiora als die im »Weltalter der Technik und globalen Industriekultur« aufgekommene »Musik für Hörermassen« (Wiora 1961: 125). Sie hat sich aus Gassenhauer, Volkslied, Operette und Schlager entwickelt und ist durch die Fusion mit afroamerikanisch ausgerichteten Musikstilen wie Blues und Rock, ferner durch die konsequente Einbeziehung aller jeweils zur Verfügung stehenden elektronisch-digitalen Gestaltungsmöglichkeiten zur dominierenden Kraft im aktuellen Musikgeschehen geworden. Auch Popmusik basiert selbstverständlich auf den Grundlagen der abendländischen Musiktheorie, nicht aber auf dem für Kunstmusik typischen, hoch elaborierten theoretischen Überbau. Mit anderen Worten: Sie ist meistens tonal oder modal ausgerichtet, sie arbeitet mit Akkorden und Akkordfortschreitungen der klassischen Harmonielehre, sie verwendet einfache formale und satztechnische Strukturen, sie bevorzugt einen durchgehenden und eingängigen Beat, und sie huldigt dem Refrainprinzip mit Ohrwurmqualität: Musikalische Motive verdichten sich zu einer prägnanten Gestalt, deren Wiedererkennungswert mit jeder Wiederholung zunimmt. Jeder, der will, kann sich diesen Typ von Musik hörend aneignen ȩ ohne musikalische Vorkenntnisse oder gar Expertenwissen. Wie Rock, Jazz oder elektronische Tanzmusik zählt auch Popmusik zu jenen Musiksparten, die im herkömmlichen wissenschaftlichen Diskurs allein schon darum stigmatisiert sind, weil sie ohne notenschriftliches Substrat auskommen. Ihre Entstehung und Tradierung erfolgt oral bzw. medial. Die hier von Experten nach wie vor gebetsmühlenartig konstatierte ›Regression der musikalischen Mittel‹ verkennt die Tatsache, dass es zumindest vier Aspekte sind, die es bei der Einschätzung von Popmusik gleichrangig zu berücksichtigen gilt: 1. die Musik und ihre Faktur, 2. ihre Kommunikationsstrukturen, d.h. die Symbolhaltigkeit der Sounds und deren Bezug zu verschiedenen Lebenswelten, 3. die Marktsituation mit den konstanten Größen Geld und Macht sowie 4. die Präferenzen der Musikhörenden in Anlehnung an deren Wertbindungen und Lebensstile (Rösing 2002: 24f.). Alle vier Aspekte ergeben eine Matrix wechselseitiger Bezugnahmen. Durch sie wird die Produktion von Musik ebenso bestimmt wie deren Distribution und Rezeption. Was als musikstrukturelle Regression bzw. Verfall abgetan wird, erhält in dem Bezugsfeld dieser Matrix einen ganz anderen

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FORENSISCHE POPMUSIK-ANALYSE Stellenwert als in der Kunstmusik. Je eindeutiger Popmusik zudem am Markt orientiert und kommerziell ausgerichtet ist, desto so mehr unterliegt sie dem Gesetz der Einfachheit. Strukturelle Simplizität statt Komplexität ist angesagt, um eine vertraute Symbolwelt musikalischer Klänge entstehen zu lassen. Für den Kunstmusik-Liebhaber ist das trivial im negativen Sinn. Für den Normalhörer aber hat diese Trivialität ihren besonderen Reiz. Durch sie werden die musikalischen Codes und Symbolwelten emotional verständlich, assoziativ nachvollziehbar und körperlich umsetzbar. Trivialität avanciert somit zu einem entscheidenden Qualitätsmerkmal. Folgt man Peter Wicke, dann wird für den musikstrukturellen Bereich die »Materialität von Klang« zum Ausgangspunkt einer musikkulturellen Praxis, die auf »Sinnlichkeit, Vergnügen und Unterhaltung« zielt (Wicke 2002: 70). Somit geht es primär darum, die jeweiligen Charakteristika von Klang ȩ verstanden als die Gesamtheit aller die sinnliche Qualität von Musik bestimmenden Faktoren ȩ analytisch aufzuschließen.

2 . F or en si sc he P op m u si k - A n al y s e Der hier skizzierte Sachverhalt ist grundlegend für so gut wie jede Analyse von Popmusik, die von einem Gericht in Auftrag gegeben wird. Im Mittelpunkt steht dabei aber weniger eine umfassende stilistische, historische und gesellschaftliche Bewertung von Popmusik-Titeln in ihrer Gesamtheit als vielmehr die Frage nach dem Anteil der eigenschöpferischen Leistung an dem Musikprodukt. Forensische Popmusik-Analyse ist immer vergleichend. Ausgangspunkt sind zwei Musikstücke: ein urheberrechtlich geschütztes Original und ein später entstandenes Stück, in dem angeblich urheberrechtlich geschütztes Material Verwendung gefunden hat. Was der Kläger diesbezüglich vorbringt, versucht die Seite der Beklagten zu widerlegen. Die Argumentation des Klägers vollzieht sich in der Regel in zwei Schritten, um eine Urheberrechtsverletzung so plausibel wie möglich nachzuweisen. Erstens muss deutlich gemacht werden, dass das Originalwerk eine eigenschöpferische Qualität und Wertigkeit besitzt. Grundlage dafür ist die minutiöse Analyse kleinster Musikpartikel, die aus kunstmusikalischer Sicht als eher trivial oder banal abgetan zu werden pflegen, hier aber als Indikatoren für musikalische Prägnanz stehen: Aus musikstrukturellen ›Kleinigkeiten‹ kann eine Motivsemantik erwachsen, die für geistiges Eigentum kennzeichnend ist. Zweitens ist darzulegen, dass musikalische Bestandteile, die nachweislich zur schöpferischen Individualität des Originalstücks beitra-

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HELMUT RÖSING gen, auch in jenem Musiktitel zu finden sind, dem Urheberrechtsverletzung vorgeworfen wird. Die Abwehrstrategie der Beklagtenseite besteht darin, diese Eigentümlichkeiten klein zu reden. Als Beleg wird gerne auf die Nähe zu volkstümlichem und damit urheberrechtsfreiem Liedgut verwiesen. Oder aber auf angeblich vergleichbare Partien aus so genannten klassischen Kompositionen. Im Vergleich mit deren Strukturen wird dann die Machart des Poptitels als banale Anwendung rein handwerklicher Musikbetätigung abgetan. Dass eine derartige Argumentationsweise dem Untersuchungsgegenstand Popmusik nicht gerade angemessen ist, dürfte nach den bisherigen Ausführungen zweifelsfrei sein. Auslöser für eine gerichtliche Auseinandersetzung mit in Deutschland geschaffener Popmusik ist der Paragraph 24 des deutschen Urheberrechts vom 1. Januar 1966 (im Überblick Brösche 1998; ausführlich im Hinblick auf Popmusik Pendzich 2004: 147ff.). Ausschlaggebend für eine gerichtliche Auseinandersetzung sind letztlich so gut wie immer finanzielle Aspekte: Wer ist der legitime Nutznießer der Umwandlung von geistigem Eigentum in klingende Münze? Wem gehört die fragliche Musik, ein zündender musikalischer Einfall, ein bestimmter Sound, ein markanter Basslauf, ein rhythmisch auffallend gebautes Motiv oder eine Melodie mit hohem Wiedererkennungswert? Handelt es sich hier um die kompositorische Verwertung von musikalischem Allgemeingut, um den gekonnt handwerklichen Umgang mit Ton-, Rhythmus- und Akkordfiguren zur Schaffung eines individuell geformten neuen Musikstücks, oder handelt es sich um unfreie Anleihen bei bereits vorhandenen und im Rahmen der gesetzlichen Fristen urheberrechtlich geschützten Musikstücken? Pointiert gesagt: Ein Plagiatvorwurf wird erhoben, wenn es sich lohnen könnte, am kommerziellen Erfolg eines Musikstücks zu partizipieren. Die juristische Klärung derartiger, um einen Plagiatsvorwurf kreisenden Fragen ist zwar durch das Urheberrecht geregelt, bedarf aber ȩ soweit es die Analyse und Einschätzung der musikimmanenten Sachverhalte betrifft ȩ der außergerichtlichen Expertise. Doch auch sie ist letztlich den Festschreibungen im Paragraphen 24 verpflichtet. Der hier in Absatz 2 explizit formulierte Melodienschutz macht deutlich, dass dieses Gesetz seine geschichtlichen Wurzeln im 19. Jahrhundert hat. Die Melodie ȩ definiert als in sich geschlossene Tonfolge, die dem Musikwerk seine individuelle Prägung gibt ȩ galt zu dieser Zeit noch als das höchste Gut der westlichen Musik und somit als der entscheidende Indikator für schöpferische Leistung. Ein starrer Melodienschutz aber wird den musikimmanenten Gegebenheiten von Popmusik nur bedingt gerecht.

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FORENSISCHE POPMUSIK-ANALYSE Nicht zuletzt auch aus diesem Grund wurde das Melodiendiktat schon 1921 von Alexander Elster durch den Begriff der »Kleinen Münze« wenn schon nicht aufgehoben, so doch zumindest relativiert (Elster 1921). Die Kleine Münze bezeichnet die unterste Grenze eines gerade noch urheberrechtlich geschützten und zu schützenden Werkes. Es benennt allerdings keine klaren Kriterien hinsichtlich der Minimalanforderungen an die allgemeine und die melodische Gestaltungshöhe. Der BGH hat dazu jedoch in den 1980er/1990er Jahren einige Grundsatzurteile mit Präzedenzwirkung gefällt.1 Bereits kleinste melodische und rhythmische Veränderungen von musikalischem Allgemeingut stellen demnach einen bewussten kompositorischen Eingriff dar und sind die Grundlage für die Schaffung von geistigem Eigentum. Kritiker meinen, damit sei die kompositorische Freiheit eingeschränkt, weil es praktisch keine allgemeinfreien Musikbausteine mehr gebe. Die Befürworter verweisen jedoch darauf, dass gerade für Popmusik die Kleine Münze ein höchst angemessenes Beurteilungskriterium darstelle. Dies vor allem dann, wenn der musikalische Gesamteindruck2 zum Maß für eigenschöpferische Leistung erhoben wird. Der Gesamteindruck ist das Ergebnis eines Ineinandergreifens von mindestens fünf Gestaltungsebenen: x

Strukturebene (großformale Anlage, Periodenbildung, Wiederholung, Taktaufteilung);

x

klangliche Ebene (Klangfarbe als Ergebnis von Instrumentation und Arrangement, elektronische Soundgestaltung);

x

rhythmische Ebene (Tempo, zeitliche Dichte der Tonfolgen, Zeitdauer und Betonung der Töne im Taktgefüge);

x

melodische Ebene (Anordnung von Tonfolgen ȩ Tonhöhen, Intervalle ȩ zu einer in sich geschlossenen Gestalt);

x

harmonische Ebene (Zusammenklänge ȩ in tonaler Musik nach den Regeln der Harmonielehre).

Die Gewichtung der fünf Gestaltungsebenen ist je nach Gattung und Stil der Popmusik unterschiedlich anzusetzen. Bei Techno z.B. steht die klangliche, bei HipHop die rhythmische und beim volkstümlichen Schlager die melodi1

2

5.9.1970: »Magdalenenarie« (Az. I ZR 44/68 Kammergericht Berlin); 26.9.1980: »Dirlada« (Az. I ZR 17/78 OLG Hamburg); 3.2.1988 »Fantasy« (Az. I ZR 143/86 Kammergericht Berlin); 3.2.1988: »Ein bißchen Frieden« (Az. I ZR 142/86 Kammergericht Berlin); 24.1.1991: »Brown Girl I« (Az. I ZR 78/89 OLG Hamburg); 24.1.1991:»Brown Girl II« (Az. I ZR 72/89 OLG Hamburg). Siehe die Urteilsbegründung zu »Brown Girl II« in Gewerblicher Rechtschutz und Urheberrecht (GRUR) 1991: 533f.

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HELMUT RÖSING sche Ebene im Fokus der Komposition. Schon dieser Umstand lässt deutlich werden, dass die Kriterien zur Bestimmung von eigenschöpferischer Leistung gemäß der Kleinen Münze nicht nach festen Richtlinien dingfest gemacht werden können. Sie müssen von Einzelfall zu Einzelfall neu verhandelt und der jeweiligen Musikform in angemessener Weise zugrunde gelegt werden. Das soll im Folgenden anhand von vier Beispielen näher erläutert werden.

3 . E i n z el an al y se n »Ich bin hier, du bist da« ȩ »FKK« Ende der 1980er Jahre haben Jürgen Dohrenkamp alias Jürgen von der Lippe und Wendelin Haverkamp das Lied »Ich bin hier, du bist da« komponiert und getextet. Es erschien 1990 mit Jürgen von der Lippe als Sänger auf der CD Humor ist Humor. Vier Jahre später wurde von BMG eine CD mit dem Titel Lieder, die die Welt nicht braucht veröffentlicht. Sie enthält u.a. das Lied »FKK«, komponiert und gesungen von Die Doofen (Wigand Boning und Oliver Dittrich). Hier nun war zu klären, ob erstens der Refrain des Liedes »Ich bin hier, du bist da« wirklich eigenschöpferische Elemente aufweist und zweitens die Übereinstimmungen der Refrains in den Liedern »Ich bin hier, du bist da« und »FKK« so groß sind, dass eine Urheberrechtsverletzung vorliegt. (1) Das Lied »Ich bin hier, du bist da« beginnt nach kurzer Instrumentaleinleitung mit dem Refrain. Er steht im 4/4-Takt, umfasst acht Takte und ist nach jeder der vier Liedstrophen unverändert zu hören (Notenbeispiel 1). Am Ende erklingt er ein weiteres Mal in einer schlusstypischen Variante. Das ist formal gesehen Standard. Auch harmonisch greift der Refrain auf Bekanntes zurück. Er steht in D-Dur, weist keine harmoniefremden Töne auf und folgt dem Ablauf T-D-D-T (Takt 1-4) bzw. T-S-D-T (Takt 5-8):

Notenbeispiel 1: Jürgen von der Lippe und Wendelin Haverkamp ȩ »Ich bin hier, du bist da«, Refrain

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FORENSISCHE POPMUSIK-ANALYSE Das entscheidende, vom Sänger vorgetragene motivische Material des gesamten Refrains ist ein dreitöniges, abwärts geführtes Terzmotiv in eingestrichener Tonlage. Es wird in den Takten 1-4 von fis, g und a ausgehend gebracht. Da es sich um eine tonale Sequenzierung handelt, ändert sich die Intervallstruktur entsprechend dem Ausgangston. Die Variantenbildungen in der Intervallstruktur des Kernmotivs sind kein Ergebnis einer kompositorischen Leistung. Sie ergeben sich vielmehr zwangsläufig. Gleichwohl stellen sie ein belebendes Element dar. Das zwischen aufsteigender Quarte und kleiner Terz changierende Übergangsintervall zwischen den Terzzügen dagegen ist sehr wohl das Resultat einer kompositorischen Entscheidung. Takt 5 bringt im Parlando-Stil auf dem Ton a den Anlauf zum Höhepunkt der Refrainmelodie, dem h in Takt 6. Damit umspannt die Refrainmelodie den Umfang einer Sexte und verweist auf die Nähe zu volkstümlichen Liedgut. Der Sext-Ambitus wird zum Schluss von Takt 6 durch den Sextsprung aufwärts als einzigem emphatischem Element in der ansonsten betont ruhig gehaltenen Melodieführung besonders hervorgehoben, bevor in Takt 7 der Abstieg zum Grundton erfolgt. Dabei kommt nochmals das Kernmotiv des Refrains zu Gehör. Nicht zuletzt dank dieses motivischen Rückbezugs enthält der Refrain jene Geschlossenheit, die die Motivfolge zu einer Melodie werden lässt. Das rhythmische Geschehen und die klangliche Gestaltung sind konsequent einfach gehalten. Im stimmlichen Vortrag wird trotz gemäßigtem Tempo auf Modulationsreichtum oder gar Dramatik bewusst verzichtet. Der Gesangsvortrag wirkt insgesamt zurückgenommen. Die Einwürfe des Background-Chores erinnern ebenso wie das gesamte Arrangement mit kurzen Floskeln von Hawai-Gitarre und Mundharmonika an Versatzstücke aus Schlagern der 1960er Jahre, aber eben nur an Versatzstücke ohne den dort üblichen stimulierenden Impetus. Das alles passt zusammen. Die verschiedenen musikstrukturellen Ebenen zeichnen sich durch große Einfachheit, durch bewusste Reduktion und durch die Vermeidung von dramatischen Akzenten aus. Das der Volksmusik entlehnte Hauptmotiv hat Ohrwurmqualität und animiert zum Mitsingen. Dem wird aber durch die Monotonie des Refrainverlaufs ein Dämpfer versetzt. Aus dieser Spannung zwischen Erwartetem und tatsächlich Realisiertem bezieht der Refrain seine ihm eigene ästhetische Qualität. (2) Das Lied »FKK« hat demgegenüber einen ganz anderen Charakter. Es weist ein zügiges Tempo auf und beginnt mit Schlagzeugbreak und instrumental gespieltem Refrain mit dissonierender Flöte zu Schlagzeug, Bass und Akkordeon. Eingeleitet durch ein stimulierendes »Hey« des Vokalduos wird

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HELMUT RÖSING sodann die achttaktige Refrainmelodie gesungen. Sie ist ebenso wie ihre harmonische Ausgestaltung tonal gehalten:

Notenbeispiel 2: Die Doofen ȩ »FKK«, Refrain

Das von den zwei Sängern vorgetragene motivische Material der ersten Hälfte des Refrains besteht aus dem vom vorigen Lied bestens bekannten Kernmotiv. Es erklingt viermal ȩ ebenfalls in eingestrichener Lage. Zwischen dem 3. und 4. Terzmotiv wird jedoch das tiefe a angesungen. Das Aufwärtsintervall zum Anfangston fis des 4. Terzmotivs beträgt eine Sexte. Das führt zu einer deutlichen binnenstrukturellen Dynamisierung dieses 1. Refrainteils, der folgerichtig auf dem Grundton d als Schlusston endet. Im 2. Refrainteil ertönt das Terzmotiv zweimal in der Umkehrung, wird also aufwärts statt abwärts geführt. Somit weist der Refrain von »FKK« erhebliche Unterschiede im Vergleich mit dem Refrain von »Ich bin hier, du bist da« auf. Sie werden durch die weiteren Strukturebenen noch verstärkt. Der Rhythmus verfügt über eine dynamisierende, fast schon gehetzt-treibende Kraft. Er ist eher dazu angetan, die durchweg skuril-komischen Textaussagen im Sinn einer schnellen Pointenfolge zu unterstreichen. Dabei wird auf stiltypische Versatzstücke aus Swingzeit und Dixieland-Revival zurückgegriffen. Bleibt als Fazit: Die vorrangig, aber keineswegs ausschließlich melodiebezogene Detailanalyse der musikalischen Struktur beider Refrains zeigt neben deutlichen Übereinstimmungen auch erhebliche Unterschiede auf. Sie betreffen alle Gestaltungsebenen. Selbst die teilweise vorhandene Identität der verwendeten Motive führt keineswegs zur Identität der Refrainmelodien. Beiden Stücken kann eine individuelle Prägung im Sinn der Kleinen Münze zugesprochen werden. Der Vorwurf des Plagiats erweist sich als ungerechtfertigt.

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FORENSISCHE POPMUSIK-ANALYSE

»Mambo No. 5« ȩ »Mambo No. 5 ȩ A Little Bit Of...« Im Jahr 1999 veröffentlichte BMG den Titel »Mambo No. 5 ȩ A Little Bit Of...« von Lou Bega. Die CD wurde ein Verkaufsschlager. Nicht zuletzt aus diesem Grund erhob sich die Frage, ob es sich hier um eine selbstständige Komposition handelt oder um eine Adaption eines nahezu gleich lautenden Stücks aus den 1950er Jahren: »Mambo No. 5« des kubanischen Komponisten, Arrangeurs und Bandleaders Perez Prado. Von Prados »Mambo No. 5« liegen acht Tonträger vor, auf drei von ihnen sind unterschiedliche Versionen des Stücks eingespielt. Eine konstante Größe hierbei stellen allerdings drei Bläserriffs dar. Sie geben dem Stück seine eigentliche Kontur. Die folgende Analyse basiert auf der Version, wie sie der Sampler Perez ›Prez‹ Prado: King of Mambo enthält, da sie fraglos als Vorlage für den Mambo-Titel von Lou Bega hergehalten hat. Riff 1 eröffnet das Stück (siehe Notenbeispiel 3 auf der folgenden Seite). Es besteht aus vier aufsteigenden, jeweils halbtaktigen Dreiklangsbrechungen. Die Aufwärtsbewegung wird in der zweiten Takthälfte durch einen Sekundschritt abwärts gestoppt und mit dem folgenden Sekundschritt aufwärts auf dem letzten Achtel zur Eins des nächsten Taktes übergeleitet. Die rhythmische Struktur ist geprägt durch Akzente auf dem 1. Viertel sowie dem 6. Achtel; der synkopische Charakter wird zudem durch die Pause auf dem 3. Achtel verstärkt. Dieses Riff kann man für afro-kubanische Musik als durchaus gängig und damit allgemeinfrei bezeichnen. Anders verhält es sich mit Riff 2. Es besteht aus einem mehrstimmigen Bläsersatz, in dem zwei in ihrem Verlauf gegensätzliche Motive miteinander verzahnt sind. Motiv A wird gespielt von zwei Trompeten und Altsaxophon, Motiv B von Tenor- und Baritonsaxophon. Motiv A ›spielt‹ mit der kleinen Terz, die in jeweils einem Takt aufwärts und dann wieder abwärts geführt wird. Motiv B ist gekennzeichnet durch einen Quartsprung aufwärts, Quintsprung abwärts / aufwärts sowie einen Quartsprung abwärts / aufwärts. Diese agile Bewegungsfigur erhält durch die rhythmische Schwerpunktverlagerung gegenüber Motiv A eine besondere Prägnanz. Die Akzente der Motive A und B sind mehrmals um ein Achtel versetzt. Das verleiht Riff 2 eine außerordentliche Dynamik, die durch Riff 3 mit zwei Viertelnoten auf dem 1. und 4. Viertel des Takts sehr effektvoll gestoppt wird. Für sich allein betrachtet, ist dieses Riff natürlich nicht schutzwürdig, sehr wohl aber im gesamten Kontext des Stücks durch seine Kombination mit Riff 2. »Mambo No. 5 ȩ A Little Bit Of...« ist eine Reminiszenz an die »gute, alte« Mambozeit und huldigt einem seiner herausragenden Repräsentanten,

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HELMUT RÖSING

Notenbeispiel 3: Perez Prado ȩ »Mambo No. 5«, Riff Nr. 1, 2 und 3

Perez Prado als »King of Mambo«. Der Titel von Prado gibt den Rahmen für das Stück von Lou Bega. Tempo, Mamborhythmik, Tonart und Harmonik (zwischen B und Es pendelnd) entsprechen der Vorlage, deren Riffs dem die Strophen abschließenden Gesangsrefrain jeweils in originaler Gestalt als instrumentale Begleitfigur unterlegt bzw. hinzugefügt wurden. Riff 2 und 3 erklingen nach Introduktion, Strophe und Refraingesang in voller Lautstärke. Die während des Gesangs kontinuierlich gesteigerte Spannung entlädt sich im Schlussteil auf markante Weise gemäß den Worten des Songtextes »Please set in the trumpet«. Mit den gesampleten Prado-Riffs ist zugleich auch ein Bezug zur instrumentalen Introduktion des Mambo-Songs

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FORENSISCHE POPMUSIK-ANALYSE gegeben. Der Beginn des Stücks markiert mit Technosounds die musikalische Gegenwart, der Schluss dagegen den typischen Mambo-Sound der 1950er Jahre. »Mambo No. 5 ȩ A Little Bit Of...« von Lou Bega ist ȩ daran lassen Introduktion, Strophen- und Refraingesang keinen Zweifel ȩ ein eigenschöpferisches Werk. Seine Prägnanz aber verdankt es, so paradox das klingen mag, gerade dem Umstand, dass in ihm bestimmte kompositorische Elemente des Tanzstücks »Mambo No. 5« von Perez Prado nicht verblassen, sondern im Gegenteil ganz besonders hervorgehoben werden, und zwar im instrumentalen Schlussteil des Refrains durch die Eins-zu-Eins-Übernahme von Riff 2 und 3. Urheberrechtlich lässt sich dieser Sachverhalt folgendermaßen präzisieren: Auf 16 Takte Original-Lou-Bega-Komposition kommen acht Takte Original-Perez-Prado-Komposition. Rein rechnerisch entspricht das einer Kompositionsleistung, die zu etwa 67 Prozent Lou Bega und zu 33 Prozent Perez Prado zuzuordnen ist.

»Let It Rain« Im Jahr 1997 wurde wiederholt in Funk und Fernsehen ein Werbespot für Uniroyal-Regenreifen gesendet,3 von dem es hieß, er enthalte musikalisches Material aus dem Song »Let It Rain« der US-amerikanischen Komponistin, Arrangeurin und Sängerin Kristen Hall. Die ohne Einwilligung der RechteInhaberin vorgenommene Bearbeitung für den Spot schien allerdings nicht auf der 1994 auf der CD Be Careful What You Wish For veröffentlichten Originalversion zu fußen, sondern auf der Refrainvariante einer 1995 für Sony von Amanda Marshall eingesungenen Coverversion. Es galt nun zu klären, ob der Refrain überhaupt schutzfähig ist und ob ȩ wenn ja ȩ seine Eigentümlichkeit im Spot erhalten geblieben ist. Der Song »Let It Rain« steht dem afro-amerikanischen Blues- und SoulIdiom nahe. Das erfordert, in Bezug auf den Gesang, eine stimmlich markante und vor allem im Refrain möglichst emphatische Gesangsweise. Ohnehin variieren von Strophe zu Strophe und Refrain zu Refrain Stimmgebung, Tonfall und melodische Verzierungen im Sinn von Paraphrase bzw. Improvisation auf der Grundlage eines durch die melodische Kontur, durch Tempo, Rhythmus und Takt sowie die harmonische Abfolge vorgegebenen Verlaufsschemas. Das alles lässt sich notenschriftlich wegen ihrer »drastischen Ab-

3

Produziert von Tobias Gad für Daydream Film Productions München (1997).

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HELMUT RÖSING straktion« und Klangneutralität nur rudimentär festhalten (Schneider 2002: 108). Noch mehr als für das Original trifft dieser Sachverhalt auf die Coverversion zu. Das verdankt sich der ausdrucksstarken und modulationsfähigen Stimme von Amanda Marshall und betrifft nicht nur die Strophen, sondern natürlich auch den 16 Takte umfassenden Refrain (Notenbeispiel 4). Er wird insgesamt viermal gesungen und zwar jedes Mal ein wenig verändert. Seiner Einprägsamkeit und seinem Wiedererkennungswert tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil, die bewusst einfach gehaltene motivisch-rhythmische Gestaltung des Refrains auf der Grundlage des gängigen Kadenzschemas Tonika ȩ Dominante ȩ Subdominantparallele ȩ Subdominante erhält gerade durch die improvisatorische Variantenbildung (Tonhöhenvarianten und -modulationen, ternäre Phrasierungen innerhalb des binären Taktschemas, stimmliche Farbschattierungen) den Reiz des Individuellen.

Notenbeispiel 4: Amanda Marshall ȩ »Let It Rain«, Refrain

Die eigenständige kompositorische Leistung des Refrains im GitarrenpopArrangement allerdings liegt ȩ gemessen an den Standards, die etwa hinsichtlich der melodischen Prägnanz eines Schlagers oder Evergreens anzusetzen sind ȩ unterhalb des Niveaus der Kleinen Münze. Bezieht man aber

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FORENSISCHE POPMUSIK-ANALYSE die improvisatorische Züge tragende Interpretation in die kompositorische Leistung im weiteren Sinn mit ein, dann weist die von Amanda Marshall gesungene Coverversion durchaus individuelle, eigenschöpferische Gestaltungsmerkmale auf. Für den Werbespot wurde die Refraingestaltung von Amanda Marshall als Vorbild und musikalischer Prototyp verwendet. Dabei war man bestrebt, eine Urheberrechtsverletzung zu umgehen. Das geschah vor allem durch die Veränderung der melodischen Kontur der Singstimme:

Notenbeispiel 5: Uniroyal-Werbespot

Über dem nahezu identischen Kadenzschema als harmonischem Grundgerüst wurden bei der Musik zum Uniroyal-Werbespot in der Tat mehrfach andere akkordeigene Töne zur Gestaltung des Verlaufs der Singstimme verwendet als im Refrain der Coverversion von Amanda Marshall. So ist z.B. der melodische Duktus der ersten Viertaktgruppe abwärts statt aufwärts gerichtet. Außerdem wird der Schlüsseltext »Let It Rain« zweimal statt nur einmal gesungen. Die zweite Viertaktgruppe dagegen kann als nahezu identisch bezeichnet werden. Sie weist geringfügige Veränderung bei den Tondauern auf und fußt auf der Tonikaparallele cis-Moll statt der Subdominantparallele fis-Moll. Der Spannungsbogen beider Refrains erreicht seinen Höhepunkt übereinstimmend in der dritten Viertaktgruppe: bei Amanda Marshall auf dem zweigestrichenen h im 2. Viertel von Takt 10, beim Spot ebenfalls auf dem h im letzten Achtel von Takt 10. Der auf dem 4. Viertel von Takt 11 beginnende Abwärtszug gis-fis-e-cis in der Uniroyal-Musik stimmt mit der Intervallfolge in Takt 13 der Vorlage von Amanda Marshall überein. Das alles reicht aber nicht aus, um von einer direkten Melodieentnahme zu sprechen.

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HELMUT RÖSING Betrachtet man jedoch das Zusammenwirken aller am Musikgeschehen beteiligten Ebenen, dann ergibt sich ein ganz anderes Bild. Denn wirklich identisch sind die Tonart (E-Dur), die formale Anlage (Refrain mit vier Viertaktgruppen), der Takt (4/4), das gemäßigte Tempo, der Rhythmus (swingend), der Sound und das Arrangement (Gitarrenpop), der Schlüsseltext (»Let It Rain«) und die stimmliche Darbietung im soulnahen emphatischen Gesangsstil. Die Vorlage verblasst angesichts dieser Übereinstimmungen ȩ aller im Werbespot gezielt vorgenommenen geringfügigen Abänderungen zum Trotz ȩ keineswegs beim vergleichenden Hören. Der ästhetische Gesamteindruck von Original und Kopie ist nahezu identisch. Damit bewahrheitet sich ein alter Grundsatz der Gestaltpsychologie: Die einzelnen musikalischen Elemente fügen sich zu einem Gesamteindruck mit einer bestimmten übersummativen Qualität zusammen. Diese kann auch dann unverändert bleiben, wenn einige Details nicht gleich sind. Der Uniroyal-Werbespot wurde als besonders eklatante Ausbeutung von geistigem Eigentum bewertet. Er durfte nicht mehr gesendet werden und zudem wurde eine erhebliche Entschädigungssumme an die Inhaber der Urheberrechte fällig.

»Winds Of The Lost Soul« ȩ »Ghettorap hin, Ghettorap her« Im Jahr 2005 erschien bei Urban/Universal Music die CD Carlo Cokxxx Nutten 2 von Bushido. Sieben der insgesamt 15 Titel verwenden Samples der schwedischen Dark Wave-Band Arcana aus den Jahren 2000 bis 20044, ohne dass dies auf der CD angegeben ist. Um die urheberrechtliche Relevanz dieser Übernahmen zu klären, waren die folgenden Fragen zu beantworten: 1. handelt es sich bei den Stücken von Arcana um urheberrechtlich geschützte Werke, 2. stellen die entnommenen Teile schutzfähiges Material dar, 3. handelt es sich hierbei um Kopien oder um bearbeitetes Material und 4. welche Funktion haben diese übernommenen Teile in den Stücken von Bushido? (1) Die Musiktitel der Gruppe Arcana weisen eine klare großformale Anlage auf. Nach dem kompositorischen Baukastenprinzip erfolgt im Mehrspurverfahren eine zunehmende Schichtung recht verschiedener, in sich periodisch gegliederter Bausteine. Die Schichtung führt zu einer immer dichteren Textur im Stückverlauf. Die Lautstärke nimmt zu, der Klangraum weitet sich, und wiederholt führen glockenartige Klänge zu einem Maximum an Span4

Veröffentlicht auf The Last Embrace (2000), Inner Pale Sun (2002) und The New Light (2004).

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FORENSISCHE POPMUSIK-ANALYSE nungssteigerung, bevor die groß angelegten Spannungsbögen in einem schnellen Fade-Out zu ihrem Ende kommen. Die einzelnen musikalischen Komponenten sind klanglich wie rhythmisch unterschiedlich und abwechslungsreich geformt. Zum Stückbeginn dominieren Bausteine mit kürzeren Tonbewegungen und Spielfiguren. Sie werden durch Motivkomponenten mit längeren Notenwerten und zunehmend melodischer Ausprägung überhöht. Die rhythmisch stärker bewegten Einleitungsfiguren bleiben im Hintergrund erhalten und verleihen dem nun eher großflächigen Gesamtklang eine unüberhörbare Lebendigkeit. Diese Lebendigkeit wird durch entweder synthetisch erzeugte oder elektronisch bearbeitete Instrumental- und Vokalklänge verstärkt. Der auf diese Weise erzielte Gesamtklang ist das Ergebnis einer elaborierten Soundtüftelei jenseits von vorgegebenen Konventionen oder gar Klischees ȩ etwa im Hinblick auf Instrumentenbesetzungen, wie sie in mittelalterlicher Musik bevorzugt werden. Ein und derselbe Baustein erklingt zudem in den Wiederholungen immer wieder ein wenig anders. Die einzelnen Tonspuren wurden real eingespielt und nicht einfach geloopt. Was beim ersten Anhören noch als reduktionistisch, schlicht oder gar monoton wirken mag, erweist sich somit beim genauen Hinhören als keinesfalls weniger variantenreich als z.B. klangliche und rhythmische Strukturierungen in Minimal Music. Die Stücke weisen zudem eine starke melodische Qualität auf. Die Aneinanderreihung von teils identischen, teils ähnlichen Motiven verdichtet sich zu Melodien in generell molltonalem Kontext. Rezeptionspsychologisch gesagt: Die steten, oft durch geringe Soundveränderungen variierten Motivwiederholungen führen zu einer Konditionierung des Gehörs. Die Motive gewinnen dadurch jene unverwechselbare Prägnanz und Eindringlichkeit, wie sie generell auch für gute Melodien im Refrainteil von Poptiteln kennzeichnend ist. Die konkrete Ausformung der Musikstücke genügt den Kriterien der Kleinen Münze. Daran ändern auch die deutlich wahrnehmbaren Reminiszenzen an mittelalterliche Musik nichts. Die Anlehnungen an das eine oder andere Musikmodell des Mittelalters (Verwendung von Kirchentonarten, Bordunklänge, Quintparallelen) fungieren modellsemantisch als klingende Projektionsflächen für Traumbilder und Imaginationen von Mittelalter aus heutiger Sicht (Kreutziger-Herr 2003: 206f.). Musikalische Mittelalter-Topoi werden von Arcana in neue, der Dark Wave-Szene angemessene popmusikalische Zusammenhänge gebracht. Diese Art der Aneignung und kreativen Umsetzung von mittelalterlicher Klangsymbolik geht fraglos über das rein Handwerkliche und mithin gemeinfreie musikalische Vokabular hinaus.

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HELMUT RÖSING (2) Auf welche Weise nun Bushido Ausschnitte aus der Musik von Arcana verwendet, sei im Folgenden exemplarisch an dem Titel »Ghettorap hin, Ghettorap her« dargestellt. Bushido greift hier auf das Stück »Winds Of The Lost Soul« zurück. Der Ausschnitt entstammt dem Anfang des 4:30 Minuten langen Titels und hat eine Dauer von 20 Sekunden (Diagramm 1). Der Ausschnitt wird in stark beschleunigter Form verwendet. Dadurch verkürzt sich die Spieldauer auf 10,6 Sekunden. Das entspricht einem Verhältnis von 15:8 bzw. dem Intervall einer großen Septime aufwärts. Das Sample erklingt durchgängig vom Anfang bis zum Ende des Stücks als Tonschleife, im FadeOut jedoch verkürzt auf 7,4 Sekunden.

Diagramm 1: Arcana ȩ »Winds Of The Lost Soul«

Der Ausschnitt beginnt mit einem markanten Röhrenglocken-Schlag zu liegenden Basstönen (Bordun Cis-Gis) und rhythmisch strukturierenden Figuren des Schlagzeugs. Die bereits zuvor gegenwärtige Vokalspur wird von einer neu einsetzenden Bläser-Linie mit Oboen-nahem Klang mehr in den Hintergrund des musikalischen Geschehens verschoben. Zu Beginn von Takt 4 wechselt der Bordunklang nach E-A entsprechend den Tönen in der Oberstimme, bevor zum Taktende über den Vorhalt H wieder Gis als Anfang des Loops erreicht wird.

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FORENSISCHE POPMUSIK-ANALYSE Die Oberstimme ist ebenso wie die dazu größtenteils in parallelen Quinten geführte 2. Stimme deutlich gegliedert. Sie besteht aus vier eintaktigen Teilen. Sie ergeben mit ihren unterschiedlichen, auf- und absteigenden Intervallen eine in sich geschlossene Tonfolge. Nicht zuletzt auch auf Grund der ständigen Wiederholung des Samples in »Ghettorap hin, Ghettorap her« erhalten sie den Status einer Melodie. (3) Eine vergleichend-akustische Analyse mit dem Programm WaveLab 4.01b bestätigt, dass die Übernahme als Sample 1:1, d.h. ohne eigenständige musikrelevante Bearbeitung erfolgte. Verlangsamt man das Bushido-Sample auf die Verlaufsgeschwindigkeit des Originals, dann sind die Hüllkurven der Amplitudenverläufe des Ausschnitts aus »Winds Of The Lost Soul« und dem Sample zu »Ghettorap hin, Ghettorap her« bis in die kleinsten Ausschläge hinein identisch (Diagramm 2). Einzig ein im Bushido-Beispiel nach 18,4 Sekunden zusätzlich getätigter Bassdrum-Schlag führt zu einem deutlichen Anstieg der Kurve. Er fehlt im Arcana-Beispiel.

Diagramm 2: Bushido ȩ »Ghettorap hin, Ghettorap her«

Auch die Anzeige der Spektren beider Ausschnitte bestätigt die Identität von Original und Sample. Die Frequenzbalken weisen große Übereinstimmung insbesondere in den musikalisch relevanten Frequenzbereichen auf. Bei

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HELMUT RÖSING Bushido wurde das gesamte Klangbild lediglich etwas aufgehellt. Das führt zu einer Reduktion der Balkenlänge in tiefster Lage (rot), zu einer leichten Ausdünnung der Balken in mittlerer Lage (grün) und zur Anhebung im Helligkeitsbereich (blau). Dieses Analyseergebnis wird durch die FFT-Anzeigen zusätzlich bestätigt. Die mit Hilfe des Equalizers durchgeführte Modifizierung des Klangbildes bei Bushido hat einen einfachen Grund. Durch sie erfolgt eine Anpassung des Samples an eine der Rapmusik gemäße Nutzungs- und Wiedergabesituation. Arcanas Musik ist für die Beschallung größerer Räume in HiFi-Qualität konzipiert, Bushidos Stücke dagegen sollen ihre optimale Wirkung beim Anhören über kleine Wiedergabegeräte wie Autoradio, iPod u.ä. entfalten. (4) Entscheidend ist nun, welche Rolle bzw. welche musikalische Funktion das Sample in Bushidos Stück übernimmt. Gibt der gesamplete Ausschnitt kaum mehr als einen klangtapetenartigen Hintergrund ab oder kommt ihm eine tragende Funktion für den Rapgesang Bushidos zu? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Stücke von Bushido zwei Darbietungsbereiche enthalten, zum einen den von verschiedenen Schlagzeug-Figuren rhythmisch unterlegten Rapgesang und zum anderen das musikalische Geschehen. Im HipHop wird seit den Anfängen bei Grandmaster Flash gesamplet. Die Samples bestehen allerdings in der Regel aus Fragmenten mit zwei bis drei Sekunden Dauer, und sie werden durch raffinierte Schichtungen im Mehrspurverfahren zu einer neuen Musik geformt. Diese kann allenfalls von Kennern auf ihre originalen Bestandteile hin erfasst werden. Im Vergleich dazu folgt der Einsatz des Samples bei Bushido einem sehr einfachen Verarbeitungsmuster. Darum ist das Sample hier ohne weiteres im Hinblick auf das zugrunde liegende Original zu identifizieren. Selbst die Transposition durch Beschleunigung der Abspielgeschwindigkeit lässt die musikalische Grundsubstanz unverändert durchscheinen. Die gestalterische Charakteristik des Ausschnitts erweist sich als hochgradig transpositionsresistent. Genau das aber ist ein entscheidender Faktor für jedwede »gute Gestalt« im Sinn der Wahrnehmungspsychologie. Die Identifikation des Samples wird zudem dadurch erleichtert, dass es auch solistisch erklingt. Und das nicht nur in der Introduktion, bevor Sprechgesang zu Drumset-Schlägen einsetzt, sondern auch am Schluss. Bis zum letzten Fade-Out ist es hier dreimal zu hören. Bereits dieser Umstand spricht gegen eine Verwendung des Samples lediglich als Klangtapete. Hinzu kommt, dass der Rap-Vortrag von Bushido überhaupt erst durch den geloopten Arcana-Ausschnitt eine musikalische Darbietungsebene erhält. Das wird

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FORENSISCHE POPMUSIK-ANALYSE auch im CD-Booklet so gesehen. Allerdings ist hier fälschlicher Weise Bushido als Urheber für die Musik genannt. Die kontinuierlichen Sample-Wiederholungen innerhalb des Stücks stärken seinen Wiedererkennungswert. Das gilt selbst dann, wenn die Aufmerksamkeit beim Anhören auf die Rap-Texte gerichtet ist. Für diejenigen, die dem Inhalt der Texte ȩ in denen mit deutlicher Wiederholungsredundanz gearbeitet wird ȩ nicht immer konzentriert folgen wollen, gewinnt die musikalische Darbietungsebene eine zumindest gleichrangige Bedeutung. Ihre Beziehung zur Textebene ist durch den Kontrast bestimmt. Hier handelt es sich um eine unverkennbare, klanglich markante und weite Assoziationsräume eröffnende Musik gegenüber der durch Agilität, Härte und verbale Provokation gekennzeichneten Rap-Deklamation. Gerade dieser Kontrast ist es, der die Eindringlichkeit des Rapgesangs erheblich steigert. Würde die von Arcana komponierte Dark Ambient-Musik gegenüber den Rapdarbietungen von Bushido verblassen, dann wäre das ein großer Verlust: Dem Stück von Bushido fehlte dann eine musikalische Dimension. Alles in allem macht die Analyse deutlich: Der von der Klägerseite erhobene Plagiatsvorwurf ist nicht von der Hand zu weisen. Denn das Sample, das Bushido seinem Rapgesang als musikalisches Geschehen zugrunde gelegt hat, ist urheberrechtlich geschützt. Fremdes geistiges Eigentum wurde nutzbringend verwendet, ohne den Urheber, die Gruppe Arcana, um Erlaubnis zu fragen und am Gewinn zu beteiligen.

4. Schlussbemerkung Forensische Popmusikanalyse bildet die Grundlage dafür, Musik gemäß den Richtlinien der UNESCO als immaterielles geistiges Eigentum zu schützen. Der Annahme, heutzutage sei frei verfügbar, was z.B. via Internet und MP3Files abrufbar ist, kann damit ein Riegel vorgeschoben werden. Allerdings gilt es einige Grundsätze zu beherzigen, damit die Analyse zu angemessenen Ergebnissen führt. Popmusik kann und darf nicht nach Kriterien der westlichen Kunstmusik betrachtet und bewertet werden. Kompositorisch gesehen besteht ihre Aufgabe darin, durch eine bewusste Reduktion der musikstrukturellen Mittel möglichst eingängige und zugleich prägnante Gestalten zu schaffen. Gekonnter Minimalismus wird zum Qualitätskriterium und Erfolgsrezept. Als Anschauungsmodell dafür mag etwa das Lied »Da Da Da« von Trio ebenso gelten wie so manche Titel von Modern Talking. Das vermeintlich Triviale entfaltet schon dann seine individuelle Wirkung, wenn es in Kleinigkeiten von dem abweicht, was in den musikalischen Lehrbüchern

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HELMUT RÖSING notiert und im allgemein verfügbaren Liedgut gegenwärtig ist. Jedes Intervall, jede binnenrhythmische Veränderung, jede neue Soundvariante ist hier von Belang, aber ebenso auch jede Wiederholung eines rhythmisch, klanglich, harmonisch und melodisch gestalteten Motivs. Das eine wie das andere setzt Entscheidungen voraus. Und genau darin besteht die Arbeit des Komponierens. Mag man auch darüber streiten, ob ein einziger elektronischer Sound von Kraftwerk bereits Urheberrechtsschutz genießen sollte,5 so bleibt doch unbestritten, dass die Popmusikproduktionen der letzten Jahre nicht allesamt gemeinfreies Kulturgut sein können.

L i t er at u r Brösche, Thomas (1998). »Urheberrecht.« In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil Bd. 9. Hg. v. Ludwig Finscher. Kassel u.a. / Stuttgart u. Weimar: Bärenreiter / Metzler (2. Aufl.), Sp. 1203-1213. Elster, Alexander (1921). Gewerblicher Rechtsschutz. Berlin: De Gruyter. Kreutziger-Herr, Annette (2003). Ein Traum von Mittelalter. Die Wiederentdeckung mittelalterlicher Musik in der Neuzeit. Köln: Böhlau. Pendzich, Marc (2004). Von der Coverversion zum Hit-Recycling. Historische, ökonomische und rechtliche Aspekte eines zentralen Phänomens der Pop- und Rockmusik. Münster: Lit. Rösing, Helmut (2002). »›Popularmusikforschung‹ in Deutschland ȩ von den Anfängen bis zu den 1990er Jahren.« In: Musikwissenschaft und populäre Musik: Versuch einer Bestandsaufnahme. Hg. v. Helmut Rösing, Albrecht Schneider und Martin Pfleiderer (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 19). Frankfurt/M. u.a.: Lang, S. 13-35. Schneider, Albrecht (2002). »Klanganalyse als Methodik der Popularmusikforschung.« In: Musikwissenschaft und populäre Musik: Versuch einer Bestandsaufnahme. Hg. v. Helmut Rösing, Albrecht Schneider und Martin Pfleiderer (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 19). Frankfurt/M. u.a.: Lang, S. 107-129. Stoffer, Thomas H. (1996). »Mentale Repräsentation musikalischer Strukturen.« In: Zeitschrift für Semiotik 18, S. 213-234. Wicke, Peter (Hg.) (2001). Rock und Popmusik (= Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert 8). Laaber: Laaber. Wicke, Peter (2002). »Popmusik in der Theorie. Aspekte einer problematischen Beziehung.« In: Musikwissenschaft und populäre Musik: Versuch einer Bestandsaufnahme. Hg. v. Helmut Rösing, Albrecht Schneider und Martin Pfleiderer (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 19). Frankfurt/M. u.a.: Lang, S. 61-73. Wiora, Walter (1961). Die vier Weltalter der Musik. Ein universalhistorischer Entwurf. Stuttgart: Kohlhammer.

5

Vgl. dazu die Verlautbarung der Pressestelle des BGH Karlsruhe vom 20. Dezember 2008: »Metall auf Metall« (Az. I ZR 112/06).

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FORENSISCHE POPMUSIK-ANALYSE

D i sk o g r ap hi e Arcana (2000). The Last Embrace. Cold Meat Industry (Schweden) CMI 79. Arcana (2002). Inner Pale Sun. Cold Meat Industry (Schweden) CMI 121. Arcana (2004). The New Light. Erebus Odora (Schweden) 005. Bega, Lou (1999). Mambo No. 5 ȩ A Little Bit Of... BMG EAN 74321 6580 12. Bushido (2005). Carlo Cokxxx Nutten II. Urban/ersguterjunge 987 080-1. Die Doofen (1994). Lieder, die die Welt nicht braucht. BMG-Ariola 7432127206-2. Hall, Kristen (1994). Be Careful What You Wish For. High Street Records 10326. Lippe, Jürgen von der (1990). Humor ist Humor. BMG-Ariola 261126. Marshall, Amanda (1995). »Let It Rain«. Auf CD V.A. ȩ Kuschelrock 10. Sony SMM 484000 2. Prado, Perez (1990). Perez ›Prez‹ Prado: King Of Mambo. RCA EAN 00356 2904 2421.

A b s t r ac t Forensic analysis of pop music is usually comparative. Main topic is the question about the individual creative parts of one composition, using material of a formerly produced and copyrighted piece of music. To prove the violation of author's copyright it seems unavoidable to point out that (1) the original composition has creative qualities and that (2) the one or other of these creative elements is an essential part of the newer music. The analysis of four examples of presumptive plagiarism makes it obvious that in pop music the criterion for creativity is due to minimal changes in working up nearly identical musical elements.

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ZU

DEN

AUTOREN

Ralf von Appen (*1975), Studium der Musikwissenschaft, Philosophie und Psychologie, 2001-2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen, seit 2004 am Institut für Musikwissenschaft/Musikpädagogik in Gießen. Promotion mit der Arbeit Der Wert der Musik. Zur Ästhetik des Populären (Bielefeld 2007); seit 2008 im Vorstand des ASPM; 2009/2010 Gastprofessor an der Universität Wien. • Weiteres s. http://www.uni-giessen.de/cms/fbz/ fb03/institute/musikpaedagogik/lehrende/wissenschaftlichemitarbeiter/app en. • E-Mail: [email protected]. Christa Bruckner-Haring (*1980), Studium der Musikpädagogik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz (KUG), Spanisch-Studium an der Karl-Franzens-Universität Graz und Instrumentalpädagogikstudium Klavier an der KUG; Dissertationsprojekt zu »Gonzalo Rubalcabas Stilistik zwischen kubanischer Tradition und dem Jazz«; seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Jazzforschung an der KUG, sowie seit 2010 Projektmitarbeiterin des von HERA geförderten EU-Kooperationsprojektes Rhythm Changes: Jazz Cultures and European Identities (www.rhythmchanges.net). • Bibliographie: https://online.kug.ac.at/KUGonline/visitenkarte.show_vcard?pPers onenId=1E725F1B9388AE9E&pPersonenGruppe=3. • E-Mail: c.bruckner-haring @kug.ac.at. Thomas Burkhalter (*1973), Studium der Sozialanthropologie und Musikethnologie in Bern und Zürich, Dissertation zu Globalisierung, Digitalisierung und Musik in Beirut (2009), seit 2007 Lehraufträge an den Universitäten Oldenburg und Paderborn. Zur Zeit Leiter des Forschungsprojekts »Globale Nischen: Musik in einer transnationalen Welt« an der Zürcher Hochschule der Künste. • Bibliographie und Online-Texte www.norient.com. • E-Mail: tom@ norient.com. André Doehring (*1973), Studium der Musikwissenschaft und Soziologie, seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik in Gießen, Promotion 2010, Lehrauftrag in Wien 2011. • Jüngste Veröffentlichung: Musikkommunikatoren. Berufsrollen, Organisationsstrukturen und Handlungsspielräume im Popmusikjournalismus (Bielefeld: Transcript 2011). • E-Mail: [email protected]. Walter Everett (*1954) ist Professor für Musiktheorie an der University of Michigan, Ann Arbor. Er ist Autor der Monographien The Beatles as Musicians (2 Bde.) und The Foundations of Rock (beide Oxford University Press) und hat u.a. den Band Expression in Pop-Rock Music (Routledge) herausgegeben. Seine Beiträge zu Rockmusik, Schenkerscher Theorie und zum Kunstlied des 19.

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ZU DEN AUTOREN Jahrhunderts erschienen in zahlreichen Sammelbänden und Zeitschriften. • E-Mail: [email protected]. Markus Frei-Hauenschild (*1963), Studium der Historischen Musikwissenschaft, Systematischen Musikwissenschaft/Musikethnologie und Volkskunde an der Universität Göttingen. 1995 Promotion mit einer Dissertation zu Biographie und Streichquartettschaffen von Friedrich Ernst Fesca. 1997-2000 Mitarbeiter eines DFG-Forschungsprojekts an der Uni Mainz. Seit 2008 StR i.H. an der Uni Gießen. Langjährige Erfahrung als Bassist, Arrangeur und Komponist (Blues, Rock, Theatermusik). • Schwerpunkte: angewandte Musiktheorie, Kammermusik des 19. und 20. Jhdts., Geschichte der populären Musik. • E-Mail: [email protected]. Christoph Jacke (*1968), Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Englischen Philologie, Politikwissenschaft und Geographie in Münster. 2004 Dissertation zum Thema »Medien(sub)kultur«, 2001-2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter, Geschäftsführer und Koordinator im Studiengang »Angewandte Kulturwissenschaften/Kultur, Kommunikation und Management« der Universität Münster, seit 2008 Professor für Theorie, Ästhetik und Geschichte der Populären Musik im Fach Musik/Studiengang »Populäre Musik und Medien« an der Universität Paderborn sowie Begründer und Sprecher der »AG Populärkultur und Medien« in der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM). • Forschungsschwerpunkte und Veröffentlichungen siehe http:// www.christophjacke.de. • E-Mail: [email protected]. Steffen Just (*1982): Studium der Musikwissenschaft und Psychologie an der Universität Hamburg. Magister im Jahr 2010 mit einer Abschlussarbeit zur Untersuchung und Analyse von Bedeutungen populärer Musik. • E-Mail: [email protected]. Franz Krieger (*1963), Studium der Musikpädagogik und Geschichte; Dissertationen zu den Themenbereichen »Jazz-Solopiano« (1995) und »Strukturierung und musikalische Befähigung« (2003); Habilitation im Fach »Popularmusik« (2003); seit 1991 Mitarbeiter am Institut für Jazzforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz, seit 2000 außerordentlicher Professor; Mitherausgeber der Reihen Jazzforschung / Jazz Research, Beiträge zur Jazzforschung / Studies in Jazz Research und Jazz Research News; Forschungsschwerpunkte: musikalische Transkription und Analyse • Bibliographie: https://online.kug.ac.at/KUGonline/visitenkarte.show_vcard?pPers onenId=E2CC36BAE02C8 5AB&pPersonenGruppe=3. • E-Mail: franz.krieger@ kug.ac.at. Allan Moore (*1954) ist Professor of Popular Music an der University of Surrey, Großbritannien. Sein besonderes Forschungsinteresse gilt dem Zusammenspiel von Musik und Text in aufgezeichneter Musik (recorded music) bei der Produktion potentieller Bedeutungen. Er ist Mitglied des editorial board der Zeitschrift Popular Music und des advisory boards weiterer Zeitschriften und Buchreihen. Moore ist Reihenherausgeber der demnächst bei Ashgate erscheinenden Reihe Library of Essays in Popular Music, Herausgeber der Bücher Cambridge Companion to Blues & Gospel Music und Analysing Popu-

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ZU DEN AUTOREN lar Music (Cambridge) und Autor von bisher fünf Monographien, u.a. von Rock: The Primary Text und dem demnächst erscheinenden Song Means (Ashgate).• E-Mail: [email protected]. Simon Obert (*1970), Studium der Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Linguistik und Medienwissenschaft, seit 2002 wissenschaftlicher Assistent an der Universität Basel, seit 2006 außerdem Co-Leiter und Mitarbeiter der Anton Webern-Gesamtausgabe. • Veröffentlichungen s. http://www.mwi.unibas. ch. • E-Mail: [email protected]. Sandra Passaro (*1975), Gründerin und Inhaberin der Agentur „Stars & Heroes«, internationale PR-Agentur, Management & Consulting (Berlin, seit 2004). Ausbilderin Kaufmann/-frau für audiovisuelle Medien. Seit 2005 Lehraufträge und Gastvorträge u.a. Freie Universität Berlin/Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Popakademie Mannheim, Universität Paderborn/Studiengang »Populäre Musik und Medien«. • Veröffentlichung 2011 (zus. mit Christoph Jacke): »›Pop Will Eat Itself. Will Pop Eat Itself?‹ Aktuelle Entwicklungen der transnationalen Popmusikindustrien.« In: ›They Say I’m Different...‹ Popularmusik, Szenen und ihre AkteurInnen. Hg. v. Wolfgang Fichna und Rosa Reitsamer. • E-Mail: [email protected]. Frank Riedemann (*1969), Studium der Musikwissenschaft in Hamburg; Staatsexamen in Englisch und Musik; Absolvent Kontaktstudiengang Popularmusik an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg; langjährige Tätigkeit als Songwriter/Musikproduzent; zur Zeit Fertigstellung einer Dissertation über musik- und textimmanente Merkmale von Hitsongs. • E-Mail: riedemann@ gmx.de. Helmut Rösing (*1943), Professor (em.) für Systematische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg, Gründungsmitglied des ASPM 1985, im Vorstand bis 2001, Herausgeber der Beiträge zur Popularmusikforschung 1986-2000 und der Schriften zur Popularmusikforschung 1996-2002. • Veröffentlichungen u.a.: Musik und Massenmedien (München/Salzburg 1978); Rezeptionsforschung in der Musikwissenschaft (Darmstadt 1983); Musik als Droge (Mainz 1991); Musikpsychologie. Ein Handbuch (Reinbek 1993, mit H. Bruhn, R. Oerter); Grundkurs Musikwissenschaft (Reinbek 1998, mit H. Bruhn); Orientierung Musikwissenschaft. Was sie kann, was sie will (Reinbek 2000, mit P. Petersen); Das klingt so schön hässlich. Gedanken zum Bezugssystem Musik (Bielefeld 2005). • Anschrift: Prof. Dr. Helmut Rösing, Zehdenicker Str. 28, 10119 Berlin. Márton Szegedi (*1982), Studium der Musikpädagogik (M.A.), Gitarre (M.A.) und Musikwissenschaft (Dr. phil.) an der Kunstuniversität Graz; seit 2007 Veröffentlichungen in der Zeitschrift Jazz Research News sowie im Jahrbuch Jazzforschung / Jazz Research (Graz); Forschungsschwerpunkte: Jazzanalyse, Transkription, Jazzgitarristen, Stilforschung. • E-Mail: martonszegedi@ gmail.com.

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ZU DEN AUTOREN Simon Zagorski-Thomas (*1958) ist Senior Lecturer in Music and Music Technology am London College of Music, University of West London, wo er den Masterstudiengang Record Production leitet. Zuvor arbeitete er als Komponist, Toningenieur und Produzent mit Künstlern wie Phil Collins, Mica Paris, dem London Community Gospel Choir, Bill Bruford, The Mock Turtles, Courtney Pine und dem Balanesco Quartett. Seine aktuellen Forschungen beschäftigen sich mit der Tonträgerproduktion und der Kognition von Rhythmus und Groove in der populären Musik. • Zagorski-Thomas hat zusammen mit Simon Frith bei Ashgate einen Sammelband zur Tonträgerproduktion herausgegeben und arbeitet an einer Monographie zu diesem Thema, cf. auch http://www. zagorski-thomas.com, www.artofrecordproduction.com. • E-Mail: Simon. [email protected].

ASPM Arbeitskreis Studium Populärer Musik e.V. Der ASPM ist der mitgliederstärkste Verband der Popularmusikforschung in Deutschland. Der ASPM fördert fachspezifische und interdisziplinäre Forschungsvorhaben in allen Bereichen populärer Musik (Jazz, Rock, Pop, Neue Volksmusik etc.). Der ASPM sieht seine Aufgaben insbesondere darin x x x x

Tagungen und Symposien zu organisieren, Nachwuchs in der Popularmusikforschung zu fördern, Informationen auszutauschen, wissenschaftliche Untersuchungen anzuregen und durchzuführen.

Der ASPM ist ein gemeinnütziger Verein und arbeitet international mit anderen wissenschaftlichen und kulturellen Verbänden und Institutionen zusammen. Der ASPM gibt die Zeitschriften Beiträge zur Popularmusikforschung und Samples. Notizen, Projekte und Kurzbeiträge zur Popularmusikforschung (www.aspm-samples.de) sowie die Schriftenreihe texte zur populären musik heraus. Informationen zum Verband und zur Mitgliedschaft: Arbeitskreis Studium Populärer Musik (ASPM) Ahornweg 154 25469 Halstenbek E-Mail: [email protected] • Online: www.aspm-online.de

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Beiträge zur Popularmusikforschung Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Thema Nr. 1 Sex und populäre Musik Januar 2011, 234 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1571-5

Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) No Time for Losers Charts, Listen und andere Kanonisierungen in der populären Musik 2008, 178 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-89942-983-1

Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Sound and the City Populäre Musik im urbanen Kontext 2007, 166 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN 978-3-89942-796-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Beiträge zur Popularmusikforschung Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Cut and paste Schnittmuster populärer Musik der Gegenwart 2006, 156 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN 978-3-89942-569-7

Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Keiner wird gewinnen Populäre Musik im Wettbewerb 2005, 214 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-89942-406-5

Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) 9/11 – The world’s all out of tune Populäre Musik nach dem 11. September 2001 2004, 212 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-256-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de