Politische Kultur und Außenpolitik im Vergleich [Reprint 2019 ed.] 9783486793826, 9783486242935

Politische Kulturen und Außenpolitiken der wichtigsten Staaten und der bedeutsamsten politisch-geographischen Räume werd

172 57 11MB

German Pages 256 Year 1999

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Politische Kultur und Außenpolitik im Vergleich [Reprint 2019 ed.]
 9783486793826, 9783486242935

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung und Fragestellung
Japan: verletzte Ehre?
Der eingemauerte Koloß, oder: Die in sich ruhende Kugel China
Rußland: Das Dritte Rom
Deutschland + Frankreich: Kultur oder Zivilisation?
England: Handel und Wandel
Sekten werden zur Weltmacht: Die Vereinigten Staaten von Gottes Gnaden
Lateinamerika: Eroberer ohne Land
Der Nahost-Konflikt: clash of civilizations?
Staatenwelt ohne Struktur: Schwarz-Afrika?
Indien: Gott und Gewalt
Schlußwort: Gottes Garten der Kulturen - frei nach Herder

Citation preview

Lehr- und Handbücher der Politikwissenschaft Herausgegeben von

Dr. Arno Mohr Bisher erschienene Werke: Bellers, Politische Kultur und Außenpolitik im Vergleich Gabriel • Holtmann, Handbuch Politisches System der Bundesrepublik Deutschland, 2. Auflage Glöckler-Fuchs, Institutionalisierung der europäischen Außenpolitik Jäger • Welz, Regierungssystem der USA, 2. Auflage Lehmkuhl, Theorien Internationaler Politik, 2. Auflage Lietzmann • Bleek, Politikwissenschaft - Geschichte und Entwicklung Mohr (Hrg. mit Claußen, Falter, Prätorius, Schiller, Schmidt, Waschkuhn, Winkler, Woyke), Grundzüge der Politikwissenschaft, 2. Auflage Naßmacher, Politikwissenschaft, 3. Auflage Pilz • Ortwein, Das politische System Deutschlands, 2. Auflage Schmid, Verbände Schumann, Repräsentative Umfrage, 2. Auflage Sommer, Institutionelle Verantwortung Wagschal, Statistik für Politikwissenschaftler Waschkuhn, Demokratietheorien Waschkuhn • Thumfart, Politik in Ostdeutschland Woyke, Europäische Union

Politische Kultur und Außenpolitik im Vergleich Von Universitätsprofessor

Dr. Jürgen Bellers

R. Oldenbourg Verlag München Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bellers, JOrgen: Politische Kultur und Außenpolitik im Vergleich / von Jürgen Bellers. - München ; Wien : Oldenbourg, 1999 (Lehr- und Handbücher der Politikwissenschaft) ISBN 3-486-24293-8

© 1999 R. Oldenbourg Verlag Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0, Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Druck: MB Verlagsdruck, Schrobenhausen Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-24293-8

Inhaltsverzeichnis Einleitung und Fragestellung

5

Japan: verletzte Ehre?

16

Der eingemauerte Koloß, oder: Die in sich ruhende Kugel China

42

Rußland: Das Dritte Rom

68

Deutschland + Frankreich: Kultur oder Zivilisation?

89

England: Handel und Wandel

126

Sekten werden zur Weltmacht: Die Vereinigten Staaten von Gottes Gnaden

146

Lateinamerika: Eroberer ohne Land

177

Der Nahost-Konflikt: clash of civilizations?

210

Staatenwelt ohne Struktur: Schwarz-Afrika

227

Indien: Gott und Gewalt

241

Schlußwort: Gottes Garten der Kulturen

252

Einleitung

5

Einleitung und Fragestellung:

Die besondere Zier jeder wissenschaftlichen Veröffentlichung ist das Suchen und Finden der Lücke - die Lücke der Forschung. In der WissenschaftsSchickeria heißt es auch das "Desiderat" oder noch feiner "Desideratum", was aber das gleiche bedeutet. Die Lücke ist das, was noch nicht erforscht wurde, oder das, was bisher falsch erforscht wurde. Und die Füllung der Lücke ist das, mit dem der Wissenschaftler Ehre (wissenschaftlich: Reputation) erlangen kann, wonach er zentral strebt (weniger nach Geld) und die das Motiv seines Handelns ist. Letztlich will der engagierte Wissenschaftler im Stillen kantianische Höhen erreichen. Das kann auf eine angenehme und eine unangenehme Art erfolgen: Jüngere Wissenschaftler, vor allem diejenigen, die eine feste Stelle zu erlangen streben, bevorzugen das In-die-Pfanne-hauen, besonders beliebt gegenüber gleichaltrigen Kollegen, weil hier der Profilierungseffekt sehr groß ist. (Bei den etablierten Ordinarien ist diese Strategie weniger empfehlenswert, da diese über die Stellen verfügen, die man gerade - bei Gefahr des Unterganges - mit dieser Konfrontationsprofilierung erlangen will.) Die älteren Wissenschaftler suchen demgegenüber nicht nur die Lücke, sondern sogar das Loch, das neo-nihilistische Nichts oder Nullum, wo eben nichts ist, gar nichts, so daß man mit der Forschung ganz von Neuem anfangen kann, ohne in das Gehege anderer Wissenschaftler zu geraten. Diese Streben nach dem ständig Neuen ist typisch modern, typisch für eine kapitalistische Gesellschaft, deren Wachstumszwang beständig das Streben nach und die Produktion neuer Ideen und Waren mit sich bringt - das schlägt sich auch in der Wissenschaft nieder, der die Muße und die Kontemplation der Antike und des Mittelalters verloren ging. Für die Altvorderen war Wahrheit nicht das ständig Neue, sondern die Erkenntnis des ewig Wahren und ewig Gleichen, wie es von Gott geschaffen ist. Das ist nun leider passé, so daß sich auch der Verfasser dieses Buches auf die Lochsuche begeben muß (hoffentlich in der angenehmen Art und Weise). Was ist nun das Loch, das mich hier interessiert? Es ist der Zusammenhang von politischer Kultur und Außenpolitik, um es auf diese eine Formel zu bringen. (Daß die Wahl des Themas nicht nur rein loch-gesteuert ist, beteuere ich hiermit, denn ich bin zutiefst davon überzeugt, daß politische Kultur die Art von Außenpolitik mitbestimmt, andere Faktoren sind natürlich auch wichtig: technologische und wirtschaftliche Entwicklungen; internationale Bündnisse und Konstellationen; Art des politischem Systems, aber das hängt schon wieder mit der politischen Kultur zusammen, usw.) Am besten, ich beginne zunächst damit, die Begriffe zu definieren, deren Zusammenhang wir in diesem Buch untersuchen wollen:

6

Einleitung

Politische Kultur ist zunächst kein normativer, sondern ein empirischer Begriff. Also nicht Kultur im Sinne der Damen, die im Theater Goethes Dramen sehen; Kultur als Repräsentation des Guten und Wahren und Schönen. Sondern "Kultur" im schlichten Sinne von allgemein oder zumindest mehrheitlich in einer Nation verbreiteten Einstellungen und Meinungen, und zwar hier im besonderen gegenüber der Politik und dem Politischen. Nach Almond und Verba, den Klassikern der politischen Kultur-Forschung, lassen sich vier Dimensionen politischer Kultur unterscheiden: - nationale Identität: was macht es aus, daß ich mich als Deutscher/ Franzose/ Engländer usw. empfinde, bzw. von den anderen als solcher (am Strand während des Urlaubs) wahrgenommen und auch wiedererkannt werde (Stichwort: "Der Ballermann-Deutsche" auf Mallorca); - Art und Weise der Beteiligung der Bürger an der Politik, an politischen Entscheidungsprozessen (Politik verstanden als "autoritative Wertallokation" verstanden, als herrschaftlich verbindliche Festlegungen von Zielen und Mitteln z.B. durch Gesetze oder sonstige Vorgaben, Normen, denen wir folgen müssen - und meist auch freiwillig folgen wollen: wir sehen den Sinn der Normen durchaus ein); - Erwartungen an die Regierung seitens der Bevölkerung; - Stil des decision-making-processes ( = politischer Entscheidungsprozeß vor allem auf der Ebene der zentralstaatlichen Regierung). Dabei wird unterschieden in Meinungen, Einstellungen und Werten: - wobei Meinungen relativ instabil sind, während demgegenüber - Einstellungen (z.B. Parteipräferenzen) und Werte (z.B. in der Erziehung: autoritär oder liberal) dauerhaft(er) sind. (Selbstverständlich hängen die drei Komplexe zusammen, wobei grundlegend die Werte-Ebene ist). Wir stellen hier im wesentlichen auf diese Werteebene ab. Nach Greiffenhagen gehören auch unpolitische Bereiche wie Einstellung zur Arbeit und Freizeit hierzu - in einem weiteren Sinne, gleichermaßen Milieus als neuen Formen schichtspezifischer politischer Kultur, wie z.B. das Milieu der Singles oder der technokratischen Aufsteiger oder früher das katholische oder das proletarische Milieu, die aber immer mehr verschwinden, selbst im Ruhrgebiet. Politische Kultur umfaßt "die Gesamtheit der Werte und Normen, ...Grundwerte und Grundrechte... politische Kenntnisse,... historischpolitische Erfahrungen und Traditionen ..., die das politische Verhalten, die Erziehung und Sozialisation, die politische Bildung und allgemein den politischen Prozeß in einer Gesellschaft bestimmen." (Drechsler, Huilligen, Neumann, Gesellschaft und Staat, München 1992, S. 576) Und Max Weber geht implizit von einem noch umfassenderen Begriff aus: In seiner "Protestantische Ethik" prägt dieser Protestantismus die Gesamtheit der dominanten Lebensformen dieser Gesellschaften. Auf die Bedeutung der Religion für die politische Kultur wird unten des näheren eingegangen.

Einleitung

7

Ich begreife hier demgemäß politische Kultur im umfassenden Sinne - unter Aufgreifung der genannten Elemente und darauf aufbauend, aber sie erweiternd - als die Gesamtheit der historisch fundierten, politisch bedeutsamen, über die Zeit relativ stabilen Einstellungen und Verhaltensweisen einer (meist nationalstaatlich organisierten), territorial umfassenderen (z.T. kontinentalen oder subkontinentalen), großen Assoziation von Menschen, die u.a. durch ein bestimmtes Mindestmaß an solchen gemeinsamen Vor- und Einstellungen sozialpsychologisch/symbolisch integriert wird. (Dieser Begriff der politischen Kultur ist umfassender als der, wie er gegenwärtig in der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der internationalen Beziehungen diskutiert wird. Dieser Begriff ist zwar empirisch vielleicht leichter einlösbar, dafür jedoch relativ aussagelos, so wenn festgestellt wird, daß die Elite der Bundesrepublik Deutschland weitgehend die NATO unterstützt. Das ist zwar richtig, aber auf die oben erwähnte Ebene der Meinungen und Einstellungen beschränkt. Hier wird jedoch eine Ebene "tiefer" angesetzt, was zwar auch auf diese Meinungen und Einstellungen ausstrahlt, aber man darf soll Ursache und Wirkung nicht verwechseln. Wie diese Werteebene wissenschaftlich adäquat erfaßt werden kann, soll auf den nächsten Seiten unter dem Stichwort "Strukturanalyse" erörtert werden.) An der hier zugrunde gelegten Definition von politischer Kultur ist hervorzuheben: Politische Kultur entsteht historisch, ist keine Schaffung oder Konstruktion aus dem Nichts (wie die moderne Theorie des Konstruktivismus suggeriert). In den folgenden Untersuchungen wird daher stets geschichtlich und geschichtswissenschaftlich und z.T. geistesgeschichtlich argumentiert, zumindest zurück bis zum Beginn der Moderne (16. Jahrhundert), wenn nicht sogar weiter. Dabei bin ich der Meinung, daß die politischen Kulturen in ihrer gegenwärtigen Form durch die Moderne und durch die modernen Nationalstaaten bestimmt wurden, d.h. durch die Zeit nach der Französischen Revolution von 1789, die den demokratischen Staat unserer Zeit schuf. Prägezeit war und ist daher das 19. Jahrhundert (dieser Zeitraum wird daher auch jeweils ausführlicher behandelt), was natürlich tieferliegende Prägungen durch die Jahrhunderte zuvor nicht ausschließt, bzw. diese Prägungen sind grundlegend. Es geht um den Kern dieser Kulturen: Was macht sie zentral zu dem, was sie sind? Was ist ihre innere Substanz, was sind die mentalen Muster und typischen Konstellationen, die sie über die Zeit als gleich erkennen läßt (=ldentität)? Das gilt es hier herauszuarbeiten. Um ein Beispiel O. Spenglers zu nehmen, mit dem er die Antike von der Moderne schied: Die Antike dachte und lebte in Kategorien der Endlichkeit. Es war der endliche Kosmos als Kugel, in dem sich der Mensch geborgen fühlen konnte. Die Moderne ist demgegenüber, wie Hobbes als erster herausarbeitete, durch "Unendlichkeit" geprägt: ständiges Wachstum, die "bürgerliche" Ökonomie geht von der Grenzenlosigkeit der menschlichen Be-

8

Einleitung

dürftigkeit aus, keine (religiösen) Grenzen der Welteroberung und Welterforschung, auch die Mathematik entwickelte mit Leibniz den Begriff der Unendlichkeit, wie wir aus unserem Gymnasialunterricht (Infinitesimalrechnung) wissen. In diesem Sinne wollen wir fragen: Was ist die Essenz der französischen Geschichte oder der russischen oder der chinesischen, was sich vielleicht sogar - mit aller gebotenen Vorsicht - auf einige wenige Formeln reduzieren läßt? Das Einfache ist das Wahre. Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Marx, den man - bei aller notwendigen Kritik - in seiner analytischen und methodischen Kraft noch nicht so schnell abschreiben sollte, führte die Entwicklung des Kapitalismus auf wenige Bewegungsgesetze zurück, die dieses System bestimmen, solange es besteht: Konkurrenz, Profitprinzip, tendenzieller Fall der Profitrate, d.h. zunehmende Krisenanfälligkeit des Gesamtsystems (was bisher noch nicht widerlegt ist). Solche Grundlagen, solche Strukturmechanismen wollen wir hier auch herauspräparieren, das verstehen wir unter historischer Strukturanalyse als Methode der politischen Kultur- und Außenpolitikforschung, und wir kommen dabei zu Begriffen wie z.B. der klientelistischen Struktur Lateinamerikas, die typisch für diese Gesellschaften ist; oder dem konfuzianische China usw. Dabei ist - wie beim Menschen - diese Identität dem historischen Wandel nicht entzogen. Politische Kulturen können zerfallen, in Teilen zumindest, wenn sie in sich widersprüchlich werden oder heterogen sind/werden oder an Deutungs- oder Sinngebungskraft verlieren (nicht mehr geglaubt werden) oder mit der tatsächlichen ökonomischen und sozialen Entwicklung nicht mehr konform gehen. Aber ein gleicher Kern bleibt bei allem Wandel, so wie ja auch das Individuum trotz Lernens und Änderns in bestimmten Aspekten mit sich identisch bleibt, es sei denn, es wird verrückt: Die Deutschen der Jahrhundertwende zu den Deutschen von heute unterscheiden sich natürlich nicht nur am Rande. Aber doch sind beide in gewisser Hinsicht gleich, trotz allen Wandels. Und zwar derart, daß selbst die Unterschiedlichkeit noch Ausfluß des gleichen Kerns ist. Das wird im Kapitel "Deutschland/Frankreich" deutlich werden. (Solche Vergleiche von Individuellem und Kollektivem sind wissenschaftstheoretisch erlaubt, so lange man sich des Analogiecharakters bewußt bleibt. Es geht hier nicht um Gleichheit, sondern um Strukturähnlichkeit, so daß man aus der Erforschung des einen Hypothesen, mehr aber nicht!, zur Erforschung des anderen und umgekehrt gewinnen kann. Das enthebt natürlich nicht von der wissenschaftlichen Pflicht, jeden Teil für sich zu untersuchen. Empirische Rückschlüsse vom einen zum anderen sind nicht möglich). Zu fragen wird sein, wie sich heterogene oder krisenhafte politische Kulturen auf die Art von Außenbeziehungen des jeweiligen Staates auswirken.

Einleitung

9

Ich gebe zu: solche kulturellen Großgebilde, wie wir sie hier in den Blick zu nehmen versuchen, sind gewagt, und stehen immer unter dem Verdacht, bloß Vorurteile von Stammtischen oder deren wissenschaftlichen Äquivalenten ( = Konferenzen) zu reproduzieren. Aber die Makrosoziologie und die Geschichtsphilosophie verfahren so seit langem durchaus erfolgreich. Eine Kontrollinstanz gegen Verirrungen ist die Vielfalt der Geschichte, vor deren empirischen Tribunal sich die Konstrukte nationaler/kultureller Identität hier bewähren müssen - und zwar nicht nur vor der fragestellungsspezifischen Auswahl historischen Materials je nach Interesse des Forschers, sondern möglichst vor der Gesamtheit von Geschichte. Auch wenn es hybrid erscheinen mag und vielleicht auch ist, es ist der Versuch, eine Totalität zu versuchen (wobei man sich allerdings der Fragilität und Fraglichkeit solcher rein gedanklicher Abstraktionen bewußt sein muß. Die Totalität gibt es natürlich nicht in der Wirklichkeit, so wie dort ein Baum steht). Aber ohne solche Grenzbegriffe kommen wir nicht aus (das wußte schon Kant), oder wir beschränken uns auf das positivistische Zählen von Einzelfakten, so daß wir dann zwar genauestens wissen, was der womöglich statistisch erforschte Zusammenhang zwischen Entwicklungshilfevergabe und Außenhandel des Staates X im Jahre Y ist, aber mehr auch nicht. (Ähnliches gilt für manche demoskopische Meinungsforschung, die z.B. die Schwankungen der Einstellung zu Kanzler Kohl tagesgenau schein-präzise feststellt, was allerdings höchstens für Wahlkampfstrategen interessant ist. Damit soll nicht gesagt werden, daß die Demoskopie auch langfristige und grundlegende Einstellungen erfassen kann. Man denke nur an die Untersuchungen von Inglehart zum postmaterialistischen Wertewandel in Industriegesellschaften). Dabei sind - das gehört zu den wissenschaftstheoretischen Selbstverständlichkeiten - Reifikationen zu vermeiden: D.h. die Begriffe, die wir hier bilden (z.B. die politische Kultur Chinas), sind nicht gegenständlich mißzuverstehen, als gäbe es politische Kultur so, wie es z.B. die Stadt Siegen mit ihren Häusern und Fabriken und Bergen gibt, die ich gerade durch mein Fenster sehe. "Kultur" ist ein geistiges Konstrukt, eine Festlegung des Wissenschaftlers, die allerdings von vielen Menschen bewußt oder unbewußt geteilt wird. Die politische Kultur Indiens ist daher einerseits ein Produkt aus Büchern, andererseits aber auch - und darauf beruht dieses Produkt - geistig in den Köpfen vieler Inder (bewußt oder unbewußt) präsent und handlungsleitend (zumindest bei der auch außenpolitisch entscheidenden Elite). Aber so präsent, daß sie natürlich nicht direkt sichtbar ist (sie ist kein Gegenstand, sie darf nicht reifiziert werden), denn keiner kann hinter die Stirnplatte der Menschen sehen; aber das hier Gedachte und Gefühlte schlägt sich im Handeln und Verhalten der Menschen nieder, z.B. in der Orientierung auf die Familie als Element der politischen Kultur Chinas. Z.T. wird das dann in der Wissenschaft oder auch in den großen Sozialphilosophien der jeweiligen Gesellschaften (z.B. bei Konfuzius) oder auch bei den großen Dichtern reflektiert. In den Philosophien und den großen Dichtungen kondensieren sich

10

Einleitung

oft gewisse Grundgedanken, die in einem Volk und/oder Nationalstaat oder einer (politischen) Kultur entwickelt wurden und die typisch sind. Auch in Märchen und Mythen kommt das hier Gemeinte zum Ausdruck. Der Schweizer Psychologe C. G. Jung nannte es das kollektive Unbewußte, und er hat damit etwas erfaßt, was bedeutend ist, auch wenn seine Kategorien sehr allgemein sind (z.B. männlich/weiblich). Wie das kollektive Unbewußte, so ist auch die politische Kultur nicht biologisch im Gehirn oder sonstwo genetisch verankert, sondern ein von den meisten Menschen geteiltes, mentales Phänomen, das ihnen - in unterschiedlichen Graden der Intensität - wahrscheinlich durch Sozialisation vermittelt wurde und das so in den Gesellschaften durch Sprache, Wissenschaft, öffentliche Meinung usw. über die Zeiten tradiert wird. Noch eines: Die Begriffe Kultur und Nation usw. scheinen hier etwas durcheinanderzupurzeln. Daher eine kurze Klärung. Das, was wir heute als bestimmendes Element der Weltpolitik und des Weltsystems festzustellen haben, ist der Nationalstaat, der dadurch definiert ist, daß die Nation oder das Nationale für die jeweilige Bezugs-Gesellschaft oder Bezugs-Politik (= staatliche Herrschaft) stark prägend wirkt. Denn jede Nation ist im gewissen Maße (wenn auch nicht gänzlich) unterschiedlich, allein durch die Unterschiedlichkeit der Sprachen, in der unterschiedliche Traditionen, unterschiedliche Erfahrungen, unterschiedliche Normen usw. zum Ausdruck kommen. Dieses Nationale ist teil-identisch mit dem, was wir hier unter (politischer) Kultur verstehen. Aber die politische Kultur ist oft umfassender als das Nationale, z.B. gibt es eine politische Kultur Lateinamerikas, die mehrere Nationalstaaten umfaßt. Gemeinsam ist politischer Kultur und Nationalstaat, daß bei ihnen die Binnentransaktionen (z.B. nur die innerstaatlichen Telephongespräche) weitaus umfangreicher sind als die Außentransaktionen: Man telephoniert halt mehr unter Deutschen als grenzüberschreitend. Nur im Falle Indiens sind Nationalstaat und politische Kultur weitgehend deckungsgleich. Kommen wir zum zweiten Bezugspunkt unserer Untersuchung, der auch zuweilen "Variable" genannt wird, weil er sich gemäß Änderung des ersten Bezugspunktes ("politische Kultur") ändert, variabel ist, als Folgewirkung u.a. der hier als invariabel gesetzten politischen Kultur gesetzt wird - so hier zumindest die hypothetische Annahme, der nachgegangen werden soll: der Bezugspunkt ist die Außenpolitik der Nationalstaaten, die von der jeweiligen politischen Kultur umschlossen werden; oder wir wollen es hier direkt mit "Außenbeziehungen" als einem weiteren Begriff bezeichnen (der auch kulturelle, wirtschaftliche, touristische usw. Außenbeziehungen mit einbezieht). Hier fällt das Definieren einfacher: es geht um Nationalstaaten in bestimmten Kulturräumen (wie z.B. Lateinamerika), die in vielfältigen Interaktionen zu anderen Nationalstaaten/ Kulturräumen stehen - seien dies nun Handels-

Einleitung

11

oder Migrationsbewegungen oder der Transfer kultureller Ideen (u.a. durch Händler) oder militärische Auseinandersetzungen oder Direktinvestionen oder "normale" politische sowie diplomatische Kontakte usw. Außenbeziehungen sind also alle Kontakte nach außen im weitesten Sinne. Was sie umfassen, wird in den folgenden Ausführungen deutlich werden. Einziges Kriterium für den Unterschied zwischen Außen- und Binnenbeziehungen ist die - empirisch einfach feststellbare - Tatsache, daß die ebenso einfach feststellbare Überschreitung einer territorialen (nationalstaatlichen, Völker/staatsrechtlichen) Grenze erfolgt. Das ist also operational relativ einfach festzumachen, im Gegensatz zum oben erwähnten Kulturungetüm, auf das jedoch nicht verzichtet werden soll noch kann. Die Kulturen und Nationen sind sicherlich unterschiedlich, das wird wohl von keinem bestritten, und das soll in diesem Buch ausführlich noch dargelegt werden. Jedoch gibt es - neben gewissen menschenrechtlichen "Errungenschaften" - auch historisch fundierte Gemeinsamkeiten der Kulturen: Sie sind alle geprägt - z.T. geradezu traumatisch, z.T. aber auch durchaus positiv-förderlich (Kulturtransfer durch Handel und Händler z.B.) - von großen, säkularen Bewegungen, von Wanderungen von Menschen und Völkern, von militärischen Zügen und Invasionen, z.T. sich periodisch wiederholend. Auch Handel gehört hierher, ebenso Nomadismus, verheerende Heereszüge, Hungers- und Kreuzzüge, Kolonialeroberungen usw. Kulturen und Nationen sind z.T. bis heute geprägt von der Erfahrung von ständigen Invasionen, auch wenn sie vor Jahrhunderten stattfanden. (Man denke nur an die Angst der Russen vor fremden Angriffen und Einfällen, gegen die sie sich stets wappnen wollen. Man denke nur an die Große Mauer in Nordchina.) Sie brechen im kollektiven Gedächtnis wie in individuellen Träumen immer wieder hervor, und ein Teil der jeweiligen Kulturleistungen besteht in der Bewältigung, Abwehr und Reflexion dieser angstbesetzten "Erinnerungen". Individual- und sozialpsychologische Ebene sind hier - wie bereits erwähnt - durchaus analogisierbar, wenn auch nicht identisch, denn das Fühlen und Denken eines Volkes besteht aus der Summation des Denkens der vielen Einzelnen, die eben in bestimmten Hinsichten gleich sind bedingt durch gleiche Sozialisations- und Lebenserfahrungen. Und dieses Gemeinsame in den Einzelnen ist hier gemeint. (Von diesen Wanderungen als sozialpsychologischem Trauma wird im folgenden immer wieder die Rede sein). Wanderung und Invasionen sind oft bedingt durch geographischnaturräumliche, aber auch sozialen und politischen Benachteiligungen (Wüsten, Urwälder usw.) Ziel sind die fruchtbaren Gegenden der Welt. Amerika ist so eine Gesellschaft von Einwanderern, in China herrschten oft Invasoren; und der gesamte Nahost-Konflikt ist von Wanderungen vielfältigster Art bedingt. Mit der Geographie hängt auch der weitere, hypothetische Faktor ab, den wir hier für wichtig halten (ohne daß wir nun die Faktoren in ihrer relativen

12

Einleitung

Bedeutung quantifizieren oder rangieren könnten), nämlich die Religion als einem zentralen Moment, Ursprung und Ausdruck der politischen Kulturen, die wir untersuchen wollen - trotz aller Säkularisierungstendenzen. (Die Säkularisierung ist ja auch gerade umgekehrt Folge des Protestantismus Lutherischer Prägung und der von ihm forcierten Trennung in das Reich der Welt und das Reich Gottes). Es lassen sich prinzipiell drei Typen von Religion unterscheiden: monotheistische, polytheistische und (und als geschichtlich frühere Ausformung des Polytheismus) animistische Religionen. (Der Animismus als Glaube an die Beseeltheit von Dingen und Menschen interessiert daher hier nur am Rande). These ist nun, daß die geschichtsmächtigen überlebensfähigen monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) nur in der geographischen Region des Nahen Ostens entstanden sind (und sich von da aus global ausdehnten); Asien vor allem jedoch ansonsten polytheistisch ist, und Schwarzafrika in Teilen noch animistisch. Die beiden großen monotheistischen Religionen waren und sind zudem äußerst missionarisch aktiv, kulturell expansiv - im Gegensatz z.B. zum Konfuzianismus oder zum Hinduismus. Das hat vielleicht wieder mit der Kärglichkeit der natürlichen Rahmenbedingungen im Nahen Osten - sieht man von den großen Flußkulturen ab - zu tun, die wir schon erwähnten. Und dieses Missionarische ist natürlich sehr bedeutend für die Außenbeziehungen, denkt man an die Kolonisation Lateinamerikas oder an die Eroberungen des Islam - wiederum im Gegensatz zu dem In-sich-ruhen von hinduistischer und konfuzianischer Kultur. Wir behaupten hier also einen transhistorisch wirkenden, fast gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen geographischen Bedingungen, daraus resultierenden Wanderungen sowie religiösen Ausformungen und schließlich sich daraus herauskristallisierenden Formen politischer Kultur, die wiederum bedeutend für die Außenbeziehungen dieser Staaten/Nationen/Kulturen sind.

Einleitung

13

Schematisch dargestellt könnte das wie folgt aussehen:

Außenbeziehungen politische Kultur Religion Wanderungen (deren Abwehr oder als Einwanderer) geographische Bedingungen

Was hat nun der hoffentlich geduldige Leser im folgenden zu erwarten? Erst einmal: Mit der gewissen Süffisanz dieser Einleitung darf es nicht weitergehen. Der immerhin verbeamtete Autor wird sich darum ehrlich bemühen, auch wenn es ihm schwer fällt. Versprochen! Der Verfasser erdreistet sich weiterhin, die Welt in zehn Großkulturen zu unterteilen. Das sind: Vereinigte Staaten von Amerika Lateinamerika England, bzw. Großbritannien Frankreich und Deutschland Rußland Schwarzafrika der islamisch-jüdische Raum (Nahost) Indien/Hinduismus China Japan (Damit geht er allerdings weitgehend konform mit den üblichen Einteilungen der politischen-Kultur-Forschung, vgl. nur das Standardwerk von J. Hartmann, Vergleichende Politikwissenschaft, Frankfurt/M. 1995). Die Zuordnung dieser Länder/Regionen zu den oben entwickelten Kategorien und zu weiteren Kategorien läßt sich anhand des folgenden Koordinatensystems verdeutlichen. (Dabei wird weiter unterschieden zwischen dezentral und zentral organisierten politischen Systemen, weil diese Dichotomie wichtig auch für die Außenbeziehungen ist. Denn dezentral-feudale Systeme sind z.B. wettbewerbsorientiert, die das Kämpferische, auch nach außen hin, betonen).

14

Einleitung

politische Ebene zentralistisch bürokratisch China

Islam Rußland

• polytheistisch indifferent

monotheistisch

Westeuropa USA (Lateinamerika)

mentale Ebene

Japan Indien

dezentral feudal wettbewerbsorientiert

Die oben aufgeführte Einteilung in zehn Regionen rechtfertigt sich dadurch, daß sie alle diejenigen Kulturen erfaßt, von denen aufgrund historischer Vorkenntnisse vermutet werden kann, daß sie so stark sind, auf "ihre" jeweiligen Außenbeziehungen signifikant zu wirken. Im Umkehrschluß heißt das: Kulturen, die nicht auf die Außenwirkungen wirken, werden hier nicht erfaßt. Das ist kein Werturteil über die jeweilige Kultur; es interessiert hier eben nur das Verhältnis "politische Kultur - Außenbeziehungen". Bei kleineren und kleinen Staaten (Schweiz, aber auch Niederlande oder Nepal) ist so etwas aber nicht festzustellen, da sie zu sehr von äußeren und internationalen Rahmenbedingungen - wirtschaftlich, politisch, militärisch usw. - abhängig sind, als daß die Kultur von innen her in größerem Umfang außenpolitisch wirken könnte. Ähnliches gilt für synkretistische, d.h. kulturell nicht einheitliche Staaten und Kulturen wie z.B. Indonesien oder Malaysia (hinduistisch-islamisch, z.T. auch chinesisch-konfuzianisch), hier ist keine einheitliche kulturelle Gestalt mit Außenwirkungen zu konstatieren. Und schließlich sind unter dieser Rubrik die ehemaligen Reiche einzuordnen, wie Österreich, das Osmanische Reich/Türkei oder Spanien, die aus ihrem Untergang die Konsequenz auch einer politisch-kulturellen Umorien-

Einleitung

15

tierung zogen und ziehen, nämlich nicht mehr dem (imperialen oder interkontinentalen) Reichsgedanken von zuvor anzuhängen, sondern sich neuen kulturellen Systemen zuzuwenden, bei den drei genannten Staaten ist es die Idee von Europa, gegenwärtig in Form von Demokratie und Marktwirtschaft der Europäischen Union, der die Staaten beigetreten sind, bzw. beitreten wollen.

16

Japan

Japan: verletzte Ehre? Vorbemerkung und Fragestellung Ähnlich wie im deutschen Falle, haben wir auch in Japan das eigenartige Phänomen festzustellen, daß eine in der Geschichte international nicht expansive und lange Zeit isolationistische Kultur im 20. Jahrhundert unversehens imperialistisch und faschistisch wurde. Wie auch in der Geschichtsschreibung über Deutschland, sollte man sich auch für Japan nicht mit der "Betriebsunfa1ls"-These begnügen, als habe eine einmalige und zufällige Konstellation von Faktoren in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zu dieser kriegerischen Explosion geführt. Es war nicht nur die moralische Verkommenheit bestimmter Teile der Eliten oder die Dominanz des Militärs in der japanischen Politik seit Beginn der 30er Jahre dieses Jahrhunderts, sondern es waren verwickelte traditionelle Trends der japanischen Geschichte und politischen Kultur, die sich hier aber nun seit 1930 in gegensätzlicher Form äußerten, nämlich nicht mehr isolationistisch-friedlich, sondern imperialistisch-aggressiv. Dem Zusammenhang zwischen Isolationismus und Aggression gilt es hier nachzugehen.

Exkurs Ehe wir das näher zu erläutern versuchen, ist vielleicht ein Exkurs auf die sozialpsychologischen Grundlagen von Politik sinnvoll. Zunächst ein einfaches Modell des Menschen nach S. Freud, das wir dann analogisierend auf Gesellschaft und Außenpolitik übertragen wollen: Überich Ich Es Erläuterung: Es gibt im Individuum von Geburt her Grundlagenkräfte (das "Es"), die Nahrungsaufnahme, instinktives Verhalten, Sexualität und sonstiges Reagieren steuern, wie beim Tier. Im Unterschied zu diesem werden diese Triebe beim Menschen jedoch durch Erziehung und Kultur überformt und geändert, wenn auch natürlich nicht eliminiert. (Das wollte nur der Asket und Junggeselle I. Kant aus dem fernen Königsberg.) Die Erziehung lehrt dem Kind und Ju-

Japan

17

gendlichen ("Ich"), wie es beispielsweise seine ihm natürlich innewohnende Aggressivität so kulturell-konform modifiziert und anwendet, daß die Eltern dem zustimmen können: es hämmert oder fährt wild Fahrrad usw.; schlägt aber nicht mehr - nach Konsum eines Thrillers - das Nachbarskind. Daß die Eltern - um bei diesem Beispiel zu bleiben - diese Aggressivitätsentwicklung (hoffentlich!) in bestimmte Richtungen lenken, ist nun wiederum bedingt von den gesamtgesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen in einer bestimmten Gesellschaft (= Überich). So war in der feudalen Gesellschaft Aggressivität in Form von Ritterkämpfen erlaubt, während heutzutage eher produktive und nichtmilitärische Formen (das oben erwähnte Hämmern) bevorzugt werden (obwohl bei Jungen auch heute noch, trotz allgegenwärtigen Pazifismus, urtümliche Triebe als Kämpfen, Schießen, Balgen, Klettern usw. hervorbrechen.) Das zu den Grenzen der Zivilisier- und Erziehbarkeit des Menschen, man muß leider präzisieren: des meist männlichen Menschen. Auch wenn die sozialen Kontrollen durch das Überich zuweilen nicht funktionieren, ist gerade dieses Überich (als das gesellschaftliche Normgefüge) nun wichtig für unsere Untersuchung der politischen Kultur, denn diese ist ein wichtiger Bestandteil der gesellschaftlichen Anforderungen gegenüber dem Individuum und seinen Gesellungsformen (Familie, Clan, Verein, Verband, Partei usw.). Dieses Überich geht also auch in die politische Kultur eines Landes ein, und über die Sozialisation und Erziehung (auch noch im Erwachsenenleben, hier auch über die Medien) werden bestimmte Grundtrends einer Kultur allen Individuen eben dieser Kultur oder eben dieses Landes vermittelt: im postfaschistischen Deutschland (übrigens Ost und West gleichermaßen) ist wohl jedem Jugendlichen das Desaster des "3. Reiches" präsent - bewußt und/oder unterbewußt -, und selbst die, die es ablehnen oder verleugnen (wie die Rechtsradikalen), beziehen sich noch wenn auch negativ - auf dieses traumatische Ereignis der deutschen Geschichte. Obwohl dieses "Ereignis" nur in vielen, individuellen Erziehungsakten vermittelt wird, ist doch der Effekt vereinheitlichend (weil das Ereignis und dessen Wirkungen als solche einheitlich sind): das "deutsche Überich" ist hiervon geprägt, so daß ein erneutes Aufkommen von so etwas wie dem Nationalsozialismus in Deutschland sehr unwahrscheinlich ist. Solche kollektive Erfahrungen werden über Generationen weitergegeben, auch wenn sie verblassen, (bis zur Unkenntlichkeit) modifiziert werden oder gar mit der Zeit verschwinden können. Als mythische Erinnerung bleiben sie immer bestehen - und treten dann z.B. in Märchen auf (wie in Träumen beim Menschen). Versuchen wir nun dieses einfache, sozialpsychologische Modell auf die internationale Politik zu beziehen, so ergeben sich folgende Schichten, die hierarchisch angeordnet sind (d.h. die hier jeweils unten angegebenen Ebenen wirken auf die je höheren), allerdings sind ebenso - wenn auch in weit

18

Japan

aus geringerem Maße - Rückwirkungen und Einflüsse von "oben" nach "unten" festzustellen:

außenpolitische Entscheidungen (historische) Trends der Außenpolitik eines Staates I internationale Konstellation, Verhalten anderer Staaten I Ressourcen eines Staates (und der der anderen) ' Militär- und Wirtschaftspotential

\ l• /

I Wirtschaftliches und politisches System I Entscheidungsstrukturen und Wahrnehmungsweisen der Eliten I politische Kultur Überich und Sozialisation ("Ijas kollektive Unbewußte") Geschichte, Geographie (siehe Einleitung)

Das heißt: Die Grundstrukturen der politischen Kultur eines Staates, wie sie von bestimmten Sozialisationsinstanzen mit großer Regelmäßigkeit und Konstanz generiert ( = erzeugt) werden, beeinflussen - neben anderen Faktoren (Schema) - die Wahrnehmungen (Perzeptionen) der außenpolitischen Entscheidungsträger ( = außenpolitische Elite, decision makers) eines Landes, und bestimmen so die außenpolitischen Trends eines Staates mit. Dabei ändert sich die historisch tradierte politische Kultur natürlich auch durch die zahlreichen, außenpolitischen Entscheidungen, die wiederum in der politischen Kultur eingelagert sind - ein Wechselbezug.

Nähern wir uns langsam wieder Japan! Wie ist hier das anfangs erwähnte Umkippen von Isolationismus zu Nationalismus (1. Phase um 1900) und zu Imperialismus (2. Phase ab 1930) zu erklären? Letztlich ist es genau so zu erklären wie bei einem einzelnen Individuum, das bis ins Mark beleidigt und seelisch verletzt wird. (Diese Analogie, nicht Gleichsetzung (!) von Individuum und Gesamtgesellschaft ist - wie erläutert -

Japan

19

erlaubt, da ich - in guter Hegelianischer Tradition - davon ausgehe, daß Gesellschaft einerseits eine gemeinsame "Konstruktion" dieser Individuen ist und andererseits diese Individuen seit ihrer Geburt im Sinne der gesamtgesellschaftlichen Normen erzogen werden.) Wir wissen aus unseren Alltagserfahrungen, daß solche seelisch verletzten Menschen dies ggf. durch Aggressionen zu kompensieren trachten. (Man verzeihe mir diese naive Alltagsargumentation, aber so ist es halt, und durch wissenschaftliche Unverständlichkeit wird es auch nicht wahrer.) Politisch wurden solche psychologischen Effekte z.B. geschichtsmächtig im Deutschland nach dem verlorenen 1. Weltkrieg, für den das Land mit dem als ungerecht empfundenen Versailler "Schmach'-Frieden bezahlen (auch im wörtlichen Sinne) mußte: Man glaubte sich in seiner Ehre gekränkt (und zwar nicht nur die radikalen Parteien), und reagierte dementsprechend aggressiv (vor allem im links- und rechtsextremen Lager). Zumindest und spätestens offen, als die Probleme noch durch die Weltwirtschaftskrise 1929 ff. verschärft wurden und sich ein verbrecherischer Demagoge wie Hitler als (vermeintliche) Alternative anbot. Ähnliches oder Analoges kann man für Japan sagen. Um es als These voranzustellen - in den Worten von M. Kenlchi : "Das durch die Konfrontation mit dem Westen verursachte Trauma führte ... zu einem verstärkten Streben nach Hegemonie im eigenen Vorgarten (genauer, in der Region von der Mandschurei bis nach Indochina und Indonesien), vielleicht sogar heute noch." Und später (S. 105 f. ebd.): "Das Trauma der möglichen Kolonisierung (Japans) (schlug um in) einen narzißtisch gewendeten Diskurs", der das Eigene höher als das Andere und Ausländische stellte. Und das Ausländische und als unterentwickelt Betrachtete waren Korea (das dann mit einer gewissen Logik auch erobert wurde), und ab den 30er Jahren dieses Jahrhunderts auch im gesamten Süd- und Südostasien mit dem Zentrum in China. Das sei als These den folgenden Ausführungen vorangestellt - und soll nun im folgenden erläutert werden.

20

Japan

Zur Chronologie der These "Geschichtlicher Überblick (nach H. Lajta, K. A. Dietsch, Japan, München 1977, S. 7/8) Die japanischen Inseln wurden wohl erstmals in der frühen Steinzeit vom asiatischen Festland her besiedelt. Funde von Speeren, Schwertern, Spaten, Pflugscharen und Gefäßen aus dem 8./9. Jahrhundert v. Chr. beweisen, daß schon eifrig Landwirtschaft betrieben und Kriege geführt wurden. Die Legende schreibt die erste Staatsgründung Kamuyamato-Iwarehiko no Mikoto zu; er soll als Jimmutenno der erste Kaiser Japans (660 - 585 v.Chr.) gewesen sein. Im 3./4. Jahrhundert besiegt der von Kyushu nach Yamato (Yamato-Becken, Nara) vordringende Klan einen dort herrschenden Uji (Familienklan). Das Herrscherhaus Yamato leitet seine Abstammung von der Sonnengottheit Amaterasu ab. Große kulturelle Einflüsse aus China und Korea kennzeichnen die Zeit bis zur Einführung des Konfuzianismus und des Buddhismus um 538 (n.Chr.). Prinz Shotuku (573 - 621) gibt der Nation die erste eigene Verfassung und führt politische Reformen durch. Während seiner Regierung werden die ersten großen Buddhatempel gebaut. 7 1 0 - 9 4 Nara wird Reichshauptstadt. Buddhistische Kunst und Architektur erleben die erste große Blütezeit. Heian - Periode 794 - 1192 Kyoto wird unter dem Namen Heiankyo neue Hauptstadt. Adel und Ritterstand schaffen sich eigene Landgüter und halten sich Privatsoldaten, die Samurais. Das Herrscherhaus Fujiwara macht Kyoto zum Zentrum von Kunst und Kultur. Kamakura-Periode 1192 Yoritomo Minamoto erhält als Generalissimus (Schogun) vom Kaiser große politische Privilegien und erhebt Kamakura zum Militärsitz (Schogunat). Die Schogune nehmen großen Einfluß auf die Regierung. Das Waffenhandwerk wird zur >erhabenen Kunst< erhoben (Bushido). 1274 Mongolenheere unter Kublai Khan fallen in Japan ein und werden aufgerieben. 1281 Zweiter Mongoleneinfall. Die Japaner schlagen ein 100 000 Mann starkes Mongolenheer. Die Reste der Mongolenarmee werden von einem Taifun (Kamikaze) vernichtet. Muromachi-Periode 1333 - 1573 Edelleute, Mönche und Kurtisanen beeinflussen den Hof. Samurais stürzen Kaiser Godaigo, der in die Yoshino-Berge flieht und von dort die Gegenregierung leitet. Japan bekommt zwei Kaiserhäuser. Die BakufuHerrschaft (Militärregierung) wirkt sich nachteilig auf den Fortschritt des Landes auf. Mächtige Samurai-Anführer stürzen Japan in den Bürgerkrieg. Der Kaiserhof verfällt, die Schogune verlieren an Macht, die Nation führt einen hundertjährigen Vernichtungskrieg. 1543 Portugiesische Seeleute bringen die ersten Feuerwaffen nach Japan.

Japan

21

1549 Der Jesuitenpater Franz Xaver beginnt mit der Christianisierung Japans. Einige Jahre später, unter Hideyoshi Toyotomi, wird das Christentum verboten. Azuchi-Momoyama-Periode 1573 Nobunaga Oda stürzt den Schogun in Kyoto und versucht, das Land zu einigen. Nach seiner Ermordung setzt General Hideyoshi sein Werk fort. Kontaktaufnahme mit der westlichen Welt. 1592 Ein Versuch, Korea zu erobern, scheitert. Nobunaga residiert im Schloß Azuchi, Hideyoshi im Schloß Momoyama. Beide Schlösser gaben dieser Epoche den Namen. Edo-Periode 1603 Nach dem Tode von Hideyoshi verlegt leyasu Tokugawa (1542-1616) den Sitz der Militärregierung nach Edo, dem heutigen Tokio. 264 Jahre lang erwählen die Kaiser aus der Familie Tokugawa ihre Schogune, die mit absoluter Gewalt regieren. Die Samurais erlangen große Macht. Japan wird zum Polizeistaat und schließt sich von der übrigen Welt ab. 1609 Holländische und englische Kaufleute dürfen nur mehr in den Häfen Hirado und Nagasaki Handel treiben. 1614-15 Die Tokugawas besiegen ihre letzten Widersacher, die Toyotomis, in Osaka. Errichtung des Feudalsystems. 1639 Die Regierung erläßt ein Verbot, demzufolge kein Japaner das Land verlassen, geschweige denn ein Ausländer es betreten darf. Es folgt eine lange Friedenszeit. Der Wirtschaftsaufschwung ist einzigartig, der Lebensstandard steigt. Kunst und Wissenschaft stehen in hoher Blüte. Edo (Tokio) wird Mittelpunkt der Kultur. In den Städten lebt man in Luxus, während der Bauern- und Soldatenstand verarmt. 1792 Japan verweigert Rußland die Aufnahme von Handelsbeziehungen. 1853 - 54 Kommodore Matthew Perry aus den USA zwingt das Schogunat, den Handel mit den Vereinigten Staaten zu gestatten. Es folgt ein Freundschaftsvertrag mit den USA, später auch mit England und Rußland. 1867 Der 15. Tokugawa Schogun gibt die Regierung an den kaiserlichen Hof zurück. Damit endet nicht nur das Tokugawa Schogunat, sondern auch die seit dem Ende des 12. Jahrhunderts bestehende Samurai-Regierung. Meiji-Periode 1867-1912 Kaiser Mutsuhito verleiht seiner Regentschaftsperiode den Namen Meiji ("Erleuchtete Herrschaft") und gibt dem Land eine neue Verfassung. Japan ist auf dem Weg zur Großmacht. Der >göttliche Ursprung< des Kaisers wird in der Verfassung verankert. Edo wird in Tokio umbenannt und wird neue Reichshauptstadt. 1870 Die Einteilung des Volkes in Stände wird abgeschafft. 1890 Erste Sitzung eines nationalen Parlaments. Eine neue konstitutionelle Regierungsform wird eingeführt. 1894-95 Krieg gegen China. Entscheidender Sieg der Japaner bei Port Arthur unter Baron Nogi Maresuke. 1902 Englisch-japanisches Bündnis.

22

Japan

1904 - 05 Krieg gegen Rußland. Sieg der Japaner bei Port Arthur unter Nogi und bei Tsushima unter Admiral Togo. 1910 Japan annektiert Korea. Taisho- und Showa-Periode 1912 Kaiser Yoshihito besteigt den Thron und nimmt den Namen Taisho (>Große Gerechtigkeit) an. 1914-18 Erster Weltkrieg. Japan, auf Seiten der Alliierten, erobert die deutsche Garnison in Tsingtau (China). 1920 Japan tritt dem Völkerbund bei. 1925 Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer. 1926 Tod Taishos. Hirohito wird Kaiser und nennt seine Regentschaftsperiode Showa (>Erleuchteter FriedeUmfassender FriedeAmerican Way of LifelmageNeue ZionGod's Own Country< usw. lange von sich besessen haben und vielerorts noch immer besitzen, diese schwer wägbaren Faktoren gewinnen oft Einfluß auf die Außenpolitik, die freilich möglichst realitätsnah zu bestimmen und nicht einfach zu behaupten ist." (H.-U. Wehler, Grundzüge der amerikanischen Außenpolitik 1750 - 1900, Frankfurt a.M. 1984, S.15) Zusammenfassend sei an einem Beispiel und anhand der folgenden Tabelle gesagt: W e r einmal in einer kleineren Stadt z.B. mitten in Pennsylvania gelebt hat, spürt, was amerikanische Kultur ist: übergroße Gastfreundschaft insbesondere gegenüber Ausländern, (anscheinend) offene Häuser, aber auch: eine gewisse Enge des moralischen Blickwinkels. Alles ist fast dörflich

Vereinigte Staaten

151

kontrolliert, unmoralisches Verhalten in der Definition der Mehrheit wird nicht akzeptiert (was aber beispielsweise andere religiöse Lebensformen wie die der Amish People, einer Art christlich-fundamentalistischer Sekte, nicht ausschließt.) (In den U S A hat es - im Gegensatz zu Westeuropa, aber ähnlich wie in Rußland - kaum einen Abfall von der Religion gegeben. Säkularismus ist unbekannt.) Das am Rande des Städtchens gelegene College ist z.T. in antikisierendem Stil erbaut, mit Akropolis-Säulen an der Eingangshalle wie vor dem Kapitol in Washington. Und die Semesteranfangsfestlichkeiten werden so begangen, wie sich in Deutschland die Universitäten und Ordinarien vor der Studentenrebellion 1968 ff. präsentierten: viel Würde, viel Talar, viel hehre Worte über Moral und wissenschaftliche Ethik usw. - all das ist noch ungebrochen! Es soll nun nicht behauptet werden, so sei es überall - in Kalifornien mit seiner freien Hippie-Kultur sieht es ganz anders aus. Aber beiden - den Hippies und den Amish-People - ist doch eines gemeinsam: sie fühlen sich als moralische Avantgarde. (Der europäische Zynismus würde sie - zu Recht "Gutmenschen" nennen.) Und dieser gemeinsame Kern wirkt sich außenpolitisch in zweifacher Weise aus: entweder als Expansionismus, um alle Welt moralisch zu machen; oder als Rückzug aus der Welt (außenpolitischer Isolationismus), um nicht von der Unmoral jenseits der Küsten infiziert zu werden.

152

Vereinigte Staaten

Politische Kultur und Außenpolitik in den U S A politische Kultur

Außenpolitik

erste moderne Demokratie (Ursprungsmythos) Moralismus

demokratischer Isolationismus moralische Distanz zur Welt

Dominanz des Gesellschaftlichen, AntiStaatlichkeit (Vertragstheorie)

Auflösung von Welt- und Machtpolitik in Marktprozesse

Verbindung von Politik und Religion

außenpolitisches, globales Sendungsbewußtsein (Idealismus)

Demokratie als Ausfluß der protestantischen Religion

Demokratisierung der Welt

U S A als antieuropäische Gründung

Distanz zu Europa, Eingreifen nur im "Notfall"(Weltkriegen)

Pluralismus im Innern

Wettbewerb der Nationen

Vertragstheorie

Legalisierung internationaler Politik durch Völkerbund und U N (siehe hierzu im folgenden)

Wie diese Elemente der politischen Kultur in der Außenpolitik wirken, sollen die folgenden, historischen Ausführungen nachweisen.

Phasen der amerikanischen Außenpolitik seit 1780 In der Zeit nach der Unabhängigkeit des Landes war es zunächst bestrebt, sich nach Möglichkeit in der Weltpolitik zurückzuhalten. Es war die erste Epoche eines amerikanischen Isolationismus, wie er in den folgenden zwei Jahrhunderten immer wieder aufkommen sollte - mal mehr, mal weniger, aber immer im Sinne einer Reduktion des außenpolitischen Engagements. Das ist wohl der richtige Begriff, denn der oft verwandte Begriff des "Isolationismus" suggeriert fälschlicherweise einen gänzlichen Rückzug der U S A , was weder je gewollt noch je realisierbar war und ist. Denn außenpolitischer Isolationismus ist nicht als gänzliche, weltpolitische Abstinenz mißzuverste-

Vereinigte

Staaten

153

hen, weltwirtschaftlich gesehen waren die Amerikaner, zumindest seit 1900, immer präsent, auch politisch, wenn auch dann eher indirekt. Trotz aller links-revisionistischen und marxistischen Kritik am Phänomen und Begriff des "Isolationismus" bleibt es aber trotz dieser Einschränkungen erklärungsbedürftig und hervorzuheben, daß z.B. die USA in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts neutralistisch und abstinent von den Ereignissen in Europa auf ihrer "Insel" blieben und Präsident Roosevelt einige Mühen hatte, seine kriegsunwillige Bevölkerung zum Eintritt in den 2. Weltkrieg zu "bringen". Darauf wird noch einzugehen sein. Daher wird zwar nicht der Begriff des Isolationismus im folgenden beibehalten, aber doch der vorsichtigere und damit realitätsadäquatere Begriff einer Reduktion des außenpolitischen Engagements. Der frühe "Isolationismus" (in diesem Sinne) des 18. und 19. Jahrhunderts war zum einen praktisch dadurch bedingt, daß sich die noch junge und schwache und durch den Unabhängigkeitskrieg geschwächte Republik keine außenpolitischen oder gar militärischen Verwicklungen leisten konnte - sie war zu neu und als Republik ohne monarchische Unterstützung und wirtschaftlich unentwickelt und überhaupt weit, weit weg - jenseits des Großen Meeres. Man hatte auch noch ungut in Erinnerung, daß u.a. zu Beginn des 17. Jahrhunderts im Erbfolgekrieg und im Siebenjährigen Krieg (1756 - 1763) diese europäisch-aristoktratischen Konflikte auch auf dem Territorium der amerikanischen Kolonien ausgetragen wurden - zu deren Lasten. Es waren schon die ersten Vorformen von Weltkriegen, die - verursacht auf dem alten Kontinent - globale Ausmaße annahmen. Die außenpolitische Zurückhaltung, wie sie in der berühmten KongreßAbschieds-Adresse von Präsident G . Washington 1797 zum Ausdruck kam, bezog sich vor allem auf die Verwicklungen in Europa, parallel dazu ging aber die territoriale Westexpansion der USA in Richtung Mississippi weiter. Und darüber hinaus. Dabei Ist der Begriff des "alten Kontinents" aus amerikanischer Sicht wortwörtlich zu nehmen: denn die Bürger der Vereinigten Staaten fühlten (und fühlen) sich als die moderne, demokratische, republikanische, kapitalistischmoderne, fortschrittliche Gesellschaftsform der Zukunft, während die Fürsten Europas als moralisch und politisch verrottet galten, von dem man sich fern halten müsse. Hier schlägt sich das ideologische Überlegenheitsbewußtsein der politischen Kultur direkt in der Außenpolitik nieder. Diese Motivlagen bei einem Großteil der amerikanischen Bevölkerung sollten auch in der Zukunft immer wieder hervorbrechen: Warum sollen wir Amerikaner unsere Söhne in Kriegen auf irgendwelchen, fernen Kontinenten opfern - für Angelegenheiten, die uns nichts angehen und die wir wohl möglich gar nicht kennen noch kennen lernen wollen? So denken noch viele Amerikaner heute - nicht ohne eine gewisse nachvollziehbare Berechtigung und Plausibilität.

154

Vereinigte Staaten

Sind wir nicht - so weiter der Gedankengang - sicher und selbstgenügsam unangreifbar auf unserer großen Insel vom Atlantik zum Stillen O z e a n ? Besteht nicht ohnehin die Gefahr, daß wir unsere moralischen Standards senken müssen, wenn wir uns zu sehr mit den "anderen" einlassen? (wobei allerdings geflissentlich verdrängt wurde, daß der Unabhängigkeitskampf der U S A nur deshalb erfolgreich war, weil er vom absolutistischen Frankreich, dem europäischen und kolonialpolitischen Hauptgegner Englands, unterstützt wurde; und wobei natürlich auch verdrängt wird, d a ß die Bildung der amerikanischen Nation die zumindest partielle, physische und/oder kulturelle Ausrottung der indianischen Urbevölkerung zur Voraussetzung hatte). D a ß eine Neutralität der U S A gegenüber den europäischen Konflikten geboten war, zeigte der englisch-französische Krieg nach Ausbruch der Französischen Revolution, als England den französisch-amerikanischen und Frankreich den englisch-amerikanischen Handel störten. Hier drohten die U S A zwischen alle Fronten zu geraten. Ende des 18. Jahrhunderts kam es dann auch zu kriegerischen Auseinandersetzungen (nicht zum Krieg) mit Frankreich, das amerikanische Schiffe gekapert hatte. Zuvor war es aber zur Rückversicherung - zu einem Handelsvertrag mit England gekommen. Dazu kam es später auch mit Frankreich, da beide Seiten an einem Krieg nicht interessiert sein konnten. 1803 kauften die U S A sogar die französische Kolonie Louisiana (nachdem die U S A zuvor mit einem amerikanischenglischen Bündnis gedroht hatten und Napoleon bewußt wurde, d a ß er das ferne Territorium militärisch nicht halten können würde). Oft geht dieser außenpolitische Isolationismus (oder - wie gesagt - besser: diese zeitweilige weltpolitische, relative Distanz) einher mit merkantilistischen und protektionistischen Tendenzen in der Außenwirtschaftspolitik der Vereinigten Staaten, besonders natürlich in der unmittelbaren Zeit nach dem Unabhängigkeitskampf, als in einem vor- oder protoindustriellen Land erst die Grundlagen für einen wirtschaftlichen Aufschwung gelegt werden mußten - u.a. durch Abwehr ausländischer Konkurrenz (insbesondere der überlegenen britischen), aber auch - das sollte bei der Theorie und Praxis des europäischen und amerikanischen Merkantilismus nicht vergessen werden durch ein expansives Moment: Denn ein Element des Merkantilismus war die Steigerung des nationalen Wohlstandes durch eine evt. staatlich geförderte, innere wirtschaftliche Entwicklung. Dazu war jedoch der Bezug von Rohstoffen vonnöten, und dazu konnte der Erwerb von Kolonien unabdingbar sein - oder im Falle Amerikas: die territoriale Ausdehnung nach Westen. (Letztliches Ziel des Merkantilismus war es, eigene Waren in möglichst großem Umfang abzusetzen, um möglichst hohe Gewinne für die eigene nationale Wohlfahrt akkumulieren zu können. Weitere logische Konsequenz war die Minimierung der Importe, um die derart erreichten Gewinne im Lande z u halten: mehr Export als Import, war die Devise, was sich natürlich nur zum Vorteil weniger, nämlich der Exportstarken, auswirkt, und zu Lasten der Staaten wirkt, die auf Dauer übermäßig importieren, d.h. sich aus gegenüber

Vereinigte Staaten

155

dem Ausland verschulden, und damit auch politisch abhängig werden. Diese wirtschaftliche Abhängigkeit kann natürlich auch politisch vom Gläubiger gewollt sein, um anderweitige, außenpolitische Interessen durchzusetzen.) A u c h außenpolitisch im engeren Sinne war diese erste P h a s e nicht nur isolationistisch. Es gab - neben dem isolationistischen Grundtrend - durchaus aggressive Akte: 1775 einen Feldzug gegen die kanadisch-englischen Kolonisten im Norden, die sich nicht dem Unabhängigkeitskampf anschließen wollten; auch danach beanspruchten die U S A weiterhin Kanada, und von 1812 - 1814 kam es zum regelrechten Krieg mit Großbritannien, den die U S A begonnen hatten, um die stets drohende, englische Gefahr aus dem Norden auszuschalten, was mißlang. (Seitdem entwickelten sich die dreiseitigen Beziehungen U S A - England - Kanada angesichts von realistischen Alternativen friedlich und kooperativ.) Damit leiten wir schon zur nächsten Periode der us-amerikanischen Außenpolitik über - nämlich einer erneuten Mischung der Karten von Isolationismus und Expansionismus.

Die Monroe-Doktrin Mit Verkündung der Monroe-Doktrin im Jahre 1823, in der die U S A für sich als Nation beanspruchten, daß der gesamte Doppelkontinent Amerika (inkl. das vormalig spanische Lateinamerika!) den Amerikanern (sprich: den U S A ) vorbehalten bleiben sollte, ohne Einmischung europäischer oder anderer Mächte (vorrangig des Königreichs Spanien), gab sich das Land zwar weiter den Anschein eines Isolationismus (Abwehr der Fremden); in Wirklichkeit stellte diese Doktrin jedoch einen Wendepunkt der amerikanischen Außenpolitik dar: E s ging um die Schaffung einer machtpolitisch von den U S A dominierten Sphäre vor allem in Lateinamerika, das nach dessen Unabhängigkeit von Spanien um 1815 republikanisch geworden war und republikanisch bleiben sollte. Man wollte einer angestrebte Reetablierung der spanischen Monarchie (oder anderer Fürstenhäuser) auf dem amerikanischen Kontinent auf jeden Fall präventiv entgegenwirken (was letztlich auch trotz der machtpolitischen Schwäche der U S A gelang). Das war der ideologische Aspekt. E s war das Bestreben, den Liberalismus nicht nur in den U S A z u m Sieg zu verhelfen, sondern auch in Lateinamerika und potentiell global (obwohl das damals noch nicht aktuell war). Der Moralismus der amerikanischen Innenpolitik - das wird hier deutlich zeigt sich, wie erwähnt, nicht nur in der Abkehr von der Welt, sondern ebenso im Bestreben nach deren Bekehrung (hier: zum antimonarchischen Republikanismus, speziell in Lateinamerika). Die religiöse Kategorie der "Bekehrung" ist angebracht, da die Vereinigten Staaten durchaus einen bestimmten Welterlösungsanspruch vertreten.

156

Vereinigte Staaten

In der Monroe-Doktrin forderte der Präsident jedoch auch die Außenpolitik seines Landes auf, sich - in der Tradition von G. Washington - von den europäischen Angelegenheiten fern zu halten - aus den genannten Gründen. So blieb man auch europapolitisch abstinent, bei allem amerikapolitischen Engagement. In Europa wurde man gerade einmal lediglich dahingehend aktiv, daß man 1848 die bürgerliche Revolutionsregierung der Frankfurter Nationalversammlung in Deutschland völkerrechtlich anerkannte (ohne dann aber übrigens irgend etwas zu deren Erhalt angesichts der vorschreitenden Reaktion zu tun, was wohl auch realiter machtpolitisch nicht möglich war.) Wie gesagt: Die Distanz zu Europa bedeutete nicht außenpolitischer Passivismus. In den 40er Jahren wurde Texas - noch in mexikanischem Besitz durch die Zuwanderung amerikanischer Siedler durchdrungen, so daß es sich zunächst unabhängig von Mexiko und als selbständiger Staat erklärte, um dann im Jahre 1845 den Vereinigten Staaten von Amerika beizutreten. Daraufhin kam es zum Krieg zwischen Mexiko und den USA, der 1848 zugunsten der USA entschieden wurde und Mexiko die Hälfte seines Territoriums kostete. Mit Oregon - den USA infolge einer friedlichen Vereinbarung mit England angegliedert - gewann man wesentliche Zugänge zum Pazifik und auch zum großen ostasiatischen Markt, insonderheit zu China. Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts war dieser Prozeß der Ausdehnung bis zum Pazifik und bis zur heutigen südlichen Grenze so gut wie abgeschlossen und damit weitgehend den kontinentalen Umfang gewonnen, den sie bis heute besitzt. Im Visier der Washingtoner Außenpolitik lag seit den 50er Jahren noch das spanische Kuba, das schließlich - nach zahlreichen vergeblichen Versuchen - als Folge des spanisch-amerikanischen Krieges 1898 unabhängige Republik wurde, jedoch faktisch ein us-amerikanisches Protektorat war (amerikanische Kontrollrechte und US- Flottenstützpunkte auf der Insel). Es gab zwar um die Jahrhundertwende nochmals eine (offen) imperialistische Phase der amerikanischen Außenpolitik unter Präsident Th. Roosevelt, wie auch in den europäischen Staaten der Zeit; sie war aber - trotz aller Großmacht-Rhetorik - vom Umfang der territorialen Annektionen eher gering (Philippinen, Portorico 1889), die meisten Gebiete wurden auch wieder spätestens mit Ende des Zweiten Weltkrieges unabhängig, so daß diese Phase insgesamt nicht von größerer historischer Bedeutung ist. Hervorzuheben ist jedoch die Errichtung der (amerikanischen) Panama-Kanal-Zone, die die USA pachteten (und nun aufgrund eines Ende der 1970er Jahre von Präsident Carter ausgehandelten Vertrages bis zur Jahrhundertwende an Panama zurückgeben wollen/müssen), und - wie gesagt - der spanischamerikanische Krieg 1898, der aber auch durchaus als antikolonialer Krieg interpretiert werden kann, als Krieg gegen die Kolonialmacht Spanien. Der amerikanische Imperialismus soll hier nicht verharmlost werden, immerhin dauerte er z.T. fast 50 Jahre z.B. hinsichtlich der Besetzung der Philippi-

Vereinigte Staaten

157

nen. Aber typisch für die amerikanische Politik des gesamten 20. Jahrhunderts sollte vielmehr die Politik der offenen Tür gegenüber China werden, wie sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts verfolgt wurde, insbesondere dann vom amerikanischen Außenminister Hay. (1844 hatten sich die U S A bereits chinesische Häfen als Zugang zum dortigen Markt sichern lassen.) In dieser Politik bündelten sich globale, amerikanische Freihandelsinteressen, die dem binnenpolitischen Liberalisierungsideal entsprechen und im Interesse des amerikanischen Exports einen freien Weltmarkt anzielten, auf der einen Seite mit dem Bestreben auf der anderen Seite, weltweit demokratische Regierungsformen realisiert zu sehen oder gar zu erzwingen. Denn nur liberale Demokratien garantieren auch liberalisierte Märkte - weltweit, wie intendiert. Freie Weltmärkte und Staaten freier Bürger (als Bedingung des Wirtschaftsliberalismus) waren und sind das Ziel. Ideologisch überhöht (und grundgelegt) wurde das vom amerikanischen Sendungsbewußtsein, die gotterwählte Nation zu sein, die die Freiheit des Christenmenschen allen Menschen - gleich welcher Nation oder Hautfarbe - bringen möge und solle. Es war die zuerst von den Briten "erfundene" und dann partiell auch realisierte Idee des "informal empire", der indirekten Herrschaft über ökonomische Bande, die sich in der open-door-policy manifestierte. Man sollte hier auch eher von Einfluß sprechen (was natürlich Machtausübung im Einzelfall nicht ausschließt). Das Ziel, den chinesischen Markt allen Mächten und Menschen offen zu halten - Kernelement der genannten open-door-Doktrin - , war zunächst einmal bedingt dadurch, daß die Kolonialmächte, allen voran Großbritannien und Rußland, schon große Teil des chinesischen Reiches in ihren Einflußbereich gebracht hatten (+ einer Reihe von territorialen Stützpunkten) und die U S A nun versuchen mußten, ebenfalls einen Fuß in die Tür zu bekommen. Alle Kolonialmächte und die U S A einigten sich daher kurz vor der Jahrhundertwende auf die open-door-policy gegenüber China. Gegenüber Japan praktizierten die U S A sogar offen-militärisch eine solche Öffnung = Liberalisierung des Landes, die auch einen gewissen Demokratisierungsprozeß auslöste, (siehe Kapitel Japan) Der amerikanische C o m m o dore Perry zwang - im Auftrag seiner Regierung - die Japaner 1854 mit seinen Kanonenschiffen, das bis dato fast vollkommen von der Außenwelt abgeschlossene Inselreich in Handelskontakt mit den Industriestaaten z u treten - und löste so eine innenpolitische Revolution aus, die durch den derart längerfristig in die W e g e geleiteten Industrialisierungsprozeß zum modernen und heute auch - nach einigen "Umwegen" - demokratischen Japan führte. Ähnlich wie die amerikanische Besatzungsmacht auch im Deutschland nach 1945 die Demokratie erzwang. Wie gesagt, ist diese imperialistische Expansion um die Jahrhundertwende nicht typisch für die amerikanische Außenpolitik, zumal die territoriale Ausdehnung im Vergleich zu den europäischen Großmächten sehr beschränkt blieb (auf die Karibik und den Pazifik (Hawaii seit 1900): fast schon eher ein

158

Vereinigte Staaten

"Insel-Imperialismus") und zumal sie mit einer weiterhin fortgesetzten außenpolitischen Distanz zu Europa einherging.

Der Erste Weltkrieg Diese Distanz sollte sich auch 1914 bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges bestätigen: Die U S A erklärten ihre Neutralität - warum amerikanische Söhne für ferne Teile der Welt opfern? Die Bevölkerung zeigte jedoch ebenso offen ihre Sympathien für die englische Mutternation, der man sich wegen ähnlicher politischer Systeme (Demokratie!) und der Gleichheit der Sprache verwandt fühlte. Ähnliches galt für das demokratische und republikanische Frankreich. Präsident Wilson konnte daher immer mehr den neutralen Standpunkt zunächst indirekt, dann offener verlassen, indem er die (westlichen) Alliierten wirtschaftlich und damit vermittelt auch militärisch unterstützte. A b e r erst die Erklärung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges seitens der deutschen Reichsleitung, der damit auch gegen die U S A gerichtet war, schuf die Voraussetzungen, daß Amerika 1917 in den Krieg gegen die Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich) trat. Dazu kam die (versehentlich bekannt gewordene) deutsche Zusage an Mexiko, d a ß dieses die nun im Besitz der U S A befindlichen Südstaaten zurückerhielte, wenn die Deutschland siegen würden. Das erregte die einflußreiche, amerikanische Öffentlichkeit sehr. D a ß die U S A nun doch in den Krieg eintraten, erforderte nichtsdestotrotz ein erhebliches M a ß von ideologischer Legitimation gegenüber dieser amerikanischen Öffentlichkeit - und zwar auf zwei Ebenen: - der des sog. außenpolitischen Idealismus und - der des Manichäismus. Beide sind auch zentrale Elemente der außenpolitischen Kultur der U S A . Wir knüpfen damit an das im ersten Abschnitt Gesagte an. Der "Idealismus" hat - in der Tradition von Kant und des Liberalismus überhaupt - zum Grundgedanken, daß sich Gesellschaft und die Bürger selbst organisieren könnten, potentiell auch ohne Staat oder nur mit einem Minim u m davon ("minimal State"). Der Mensch - so die Grundüberzeugung der Aufklärung - sei vernünftig und könne seine Angelegenheiten selbst erledigen (während die kontinentaleuropäische Tradition stets dazu neigt, auf die Erbsündigkeit und Boshaftigkeit des Menschen z u verweisen, was seine Kontrolle durch den Staat - zur Abwehr des Bösen - erfordere.) Eine derart liberal selbstorganisierte Gesellschaft sei - so wird weiter argumentiert auch friedlich - und zwar innen - und außenpolitisch. Denn wenn die Bürger selber demokratisch über die Politik bestimmen könnten, würden sie (im Gegensatz zu einem womöglich kriegslüsternen Diktator) natürlich gegen

Vereinigte Staaten

159

einen Angriffskrieg stimmen, da sie ja selbst als Soldaten die Opfer auf den Kriegsfeldern wären. Die Formel lautet verkürzt: Zwischen Demokratien gibt es keine Kriege, und dafür spricht ja auch einiges, betrachtet man die Geschichte. "War does not pay!"(Obwohl man nicht die verblendende Kraft des Nationalismus unterschätzen sollte: die Deutschen zogen 1914 gerne und freiwillig in den Krieg; ähnliches wiederholte sich seit 1990 in den Jugoslawien-Kriegen). Und das war nun der ideologische Hintergrund des Wilsonianischen Idealismus: es ging ihm mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg gegen Deutschland vor allem nicht nur um den militärischen Sieg der Alliierten, es ging ihm um die Verbannung des Krieges überhaupt und für alle Zeiten, indem die reaktionären Autokratien des Deutschen Reiches, der österreichischungarischen Monarchie und des Osmanischen Reiches überwunden und durch Demokratien ersetzt würden. Denn - so die Logik -: Die Demokratien würden keinen Krieg beginnen. Seine bis heute wirkende Parole war: "Make the world safe for democracy." (Es gäbe höchsten Verteidigungskriege der Demokratien gegen Diktaturen.) Auch würden die Demokratien das freie Wirtschaften der freien Bürger national und international fördern, Freihandel bewirken, und auch das führt zu Frieden, denn aus dieser Sicht will man mit den anderen Nationen ja Geld machen, Handel treiben, und das würde gerade durch Krieg verhindert. Kurz formuliert: Man erschießt nicht seinen Kunden! Etwas naiv, aber wirkungsmächtig! S o forderten die Amerikaner zum Ende des Weltkrieges hin eher indirekt u.a. die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches (was dann ja auch im November 1918 durch die neue Regierung unter dem Sozialdemokraten Ebert erfolgte) - als einer Voraussetzung des "ewigen Friedens" (um den Titel einer hier einschlägigen Schrift von I. Kant zu variieren). Der amerikanische Kriegseintritt wurde also ideologisch überhöht als Kampf zwischen den Mächten des Friedens, den Mächten des Lichtes und des Guten gegen die bösen Mächten der Autokratie und des Schattens. Diese Lichtmetaphorik ist typisch für manichäisches Denken, wie es auch später in der Außenpolitik der U S A immer wieder zu Tage treten wird (z.B. Reagans "Reich des Bösen", wie er die Sowjetunion bezeichnete). Christlich beeinflußte Politik neigt zu dieser Entgegensetzung, auch wenn der persische Religionsstifter Mani (gekreuzigt 276 n.Chr.), von dem diese Lichtmetaphorik stammt, sicherlich nicht in die Reihe der christlichen Kirchenväter einzuordnen ist. Allerdings gab e s manichäisch Einflüsse auf das Christentum, auch in den Vereinigten Staaten. Monotheistische Religionssysteme neigen ohnehin zum Dogmatismus und zur Intoleranz, im Vergleich zum Vielfalt ermöglichenden Polytheismus. Pontius Pilatus wusch sich seine Hände in Unschuld, er wußte die Wahrheit nicht und hätte a m liebsten alle freigelassen!

160

Vereinigte

Staaten

Mit solch idealistischen Vorstellungen zog Wilson nicht nur in den Krieg, sondern anschließend - nach Kapitulation der Mittelmächte - auch in die Friedensverhandlungen. Denn Europa sollte nach dem Prinzip der "Selbstbestimmung der Völker" (= Demokratie) neu organisiert werden. So wurde Österreich-Ungarn - allerdings gegen die Absicht Wilsons - in eine Reihe von selbständigen Staaten aufgelöst, gemäß des Willens der Völker der vormaligen kuk-Monarchie: Tschechen, Ungarn usw. (ohne daß es dadurch unbedingt demokratischer wurde, siehe Ungarn in den 20er und 30er Jahren und danach); ebenso das Osmanische Reich, dessen arabische Territorien (z.B. Syrien) aber nicht - wie es dem Selbstbestimmungsprinzip entsprochen hätte - in die Unabhängigkeit entlassen, sondern als VölkerbundsMandatsgebiete (faktischen Kolonien) den Siegermächten Großbritannien und Frankreich zugewiesen wurden (was natürlich den arabischen Nationalismus sehr enttäuschte, siehe Kapitel Nahost). Auch die durch den Versailler Friedensvertrag erfolgte "Bestrafung" Deutschlands, auf der vor allem Frankreich bestand, widersprach dem Grundsatz der Selbstbestimmung, denn Deutschland war mittlerweile demokratisiert worden, auch deshalb, weil man so - auf die 14 Punkte Wilsons vertrauend - günstigere Friedensbedingungen erhoffte. Die Bestrafung durch zunächst nicht einmal konkretisierte Reparationszahlungen sowie durch die z.T. nach den vorgegebenen, ethnischen Kriterien nicht gerechtfertigte Abtrennung von deutschen und auch dominant deutsch besiedelten Territorien im Osten und Westen des Reiches war die Ursache des erbitterten Kampfes in Deutschland seitens aller Parteien gegen das "System von Versailles", was dann auch dazu mit beitrug, daß Hitler 1933 die Macht "ergreifen" konnte. Er hatte für seine Interessen den Anti-Versailles-Komplex instrumentalisiert. Die amerikanische Außenpolitik war angesichts der Diskrepanz zwischen den hohen, "idealistischen" Prinzipien einerseits und der harten, machtpolitischen Realität (Bestrafung Deutschlands auf französisches Drängen hin) andererseits unglaubwürdig geworden. Der mit dem Versailler Vertrag auch geschaffene Völkerbund sollte nach den Vorstellungen von Wilson auch Krieg für immer verhindern. Der amerikanische Präsident erklärte den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht nur mit den reaktionären Autokratien in Mitteleuropa, sondern auch mit der Gleichgewichtspolitik der Vorkriegszeit, durch die ein Bündnis in Schach gehaltene werden sollte durch ein möglichst gleichstarkes Gegenbündnis. Das Gleichgewicht durch Konfrontation und wechselseitige Abschreckung sollte den Frieden sichern, führte dann aber zum Krieg, so daß Wilson daraus die Konsequenz zog, Frieden zukünftig anders zu garantieren, nämlich durch ein System kollektiver (und nicht mehr bündnisbezogener, konfrontativer) Sicherheit. Dieses kollektive Sicherheitssystem sollte durch den Völkerbund realisiert werden und nach folgenden, "idealistischen" Grundsätzen funktionieren ("idealistisch" hier im doppelten Sinn des Wortes zu verstehen, einerseits im Sinne der Philosophie Wilsons und andererseits im Sinne von "weit-

Vereinigte Staaten

161

fremd"): In diesem System sollten sich alle Staaten gegen den Staat zusammenschließen, der einen Krieg vom Zaune bricht. Allein diese Drohung würde schon abschreckend wirken (nicht aber das Gerangel von entgegengesetzten Bündnissen). Idealistisch im Sinne von weltfremd war (und ist) das deshalb, weil weder in der Geschichte bis 1918 noch dann vor allem in der Geschichte der 30er Jahre (weltweites kriegerisches Vordingen faschistischer Staaten) die Staatenwelt einheitlich gegen die Aggressoren gekämpft hat: Stalin schloß 1939 sogar ein Bündnis mit Hitler - über alle ideologischen Gräben hinweg! - und trug dadurch mit zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bei. (Erst heutzutage ist vielleicht im Rahmen der Europäischen Union oder der OECD ein solches Sicherheitssystem möglich, aber wohl nur dadurch,, daß die nordatlantischen Anrainer-Staaten + Japan, alles Demokratien, wirtschaftlich und sozial so eng verflochten sind, daß der Gedanke an einen Krieg gar nicht mehr aufkommt. Es gibt vielfältige, andere und vor allem gewaltfreie Streitschlichtungsmechanismen.) Das Selbstbestimmungsprinzip wurde also nicht konsequent durchgeführt, auch nicht gegenüber Deutschland, so daß die Wilsonsche Politik unglaubwürdig wurde. Auch konnten Deutschland und die UdSSR - als zu Parias erklärte Staaten des internationalen Systems - nicht Mitglied des Völkerbundes werden. (Deutschland wurde erst 1926, die UdSSR erst 1934 Mitglieder; 1933 trat Hitler wieder aus dem Völkerbund aus; 1939 wurde die UdSSR wegen ihres Aggressionskrieges gegen Finnland wieder ausgeschlossen.) Das war aber nicht der wesentliche Grund, warum der US-Senat 1920 einen amerikanischen Beitritt in den Völkerbund ablehnte, überhaupt dem Versailler Friedensvertrag nicht zustimmte. Begründet war dies vielmehr in der erläuterten, erneut hervorbrechenden Distanz der USA gegenüber dem europäischen Kontinent: man wollte sich nicht in Bündnissen verpflichten, die die Amerikaner in Kriege involvieren könnten, die nicht im amerikanischen Interesse liegen würden und die evt. die USA zu etwas zwingen könnten, was sie nicht wollen würde. Man war nur interessiert an einem offenen, liberalen Weltmarkt, auf dem die Übermacht der amerikanischen Industrie zur Geltung kommen konnte. Zur Erhaltung oder Schaffung einer funktionierenden Weltwirtschaft wurde man daher auch konsequenterweise aktiv: u.a. vermittelten amerikanische Bankiers die nach ihnen benannten Dawes- und Young-Pläne von 1924 und 1930 zur einvernehmlichen, zumindest zeitweiligen Regelung der deutschen Reparationsschulden, die den großen Markt Deutschlands aus der Weltwirtschaft zu desintegrieren und damit allen zu schaden drohten. Außenpolitisch (im engeren Sinne) wurde man z.B. 1928 nur aktiv im Sinne eines blassen Idealismus, als der französische und amerikanische Außenminister in dem nach ihnen benannten Briand-Kellogg-Pakt den Krieg ächteten, ohne auch nur im weitesten Begriff die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen miteinzubeziehen, die eine Kriegsächtung ermöglicht hätten - (das machten die Vereinigten Staaten erst nach 1945) - besonders abstrus angesichts der Tatsache, daß 11 Jahre später der Zweiten Weltkrieg

162

Vereinigte Staaten

ausbrechen sollte. Auch Japans Expansionskurs wollte man in den 30er Jahren juristisch durch Verträge (Flottenbegrenzungsabkommen) eindämmen - so wie man ja auch in der Innenpolitik durch Gerichte Kriminelle ins Gefängnis bringt. Dieser - wenn man so will - typisch amerikanische Legalismus, die Übertragung juristischer Kategorien auf die internationale (Macht-)Politik, verkennt die zentralen Unterschiede zwischen Innen- und Außenpolitik, da die Außenpolitik keine verbindliche und durchsetzungsfähige Gerichtsbarkeit besitzt; dennoch neigen die Amerikaner bis heute zu einem solchen Denken. (Nicht zufällig war Präsident Wilson Professor für Völkerrecht.) Aber die Hitlers und Stalins kann man nicht durch Verträge (die sie brechen), sondern nur durch Gegenmacht eindämmen, abschrecken. Die USA standen daher auch recht unbeholfen zu Beginn der 30er Jahre der einsetzenden, japanischen Eroberungen gegenüber (z.B. 1931 in der Mandschurei) - gewollt und ungewollt. Auch China half man - bis auf verbale Bekundungen - faktisch nicht in seinem Abwehrkampf gegen Japan und die Sowjetunion. Seit Beginn der 30er Jahre verzichtete Washington auch auf direkte militärische Interventionen in Lateinamerika, das sich dagegen immer mehr zu wehren begann . (Das ist allerdings sicherlich positiv zu beurteilen.) Insgesamt blieb man lange passiv gegenüber den auftauchenden Faschismen in aller Welt.

Erneuter Isolationismus Ein Hauch von erneutem Isolationismus überzog in den 20er und 30er Jahren wieder die amerikanische Außenpolitik. Aber der Isolationismus war im wesentlich auf den politischen Bereich beschränkt. In der Weltwirtschaft waren die USA zwar weiterhin sehr präsent - und damit auch politisch indirekt einflußreich, aber zu ihren Bedingungen. In den USA wurde immerhin seit Mitte der 20er Jahre 45% der industriellen Güter weltweit produziert, fast alle europäischen Staaten waren ihr gegenüber als Folge des Ersten Weltkrieges verschuldet, auch Großbritannien. Aber auch weltwirtschaftlich handelten die USA im gewisse Sinne gewissenlos/isolationistisch und langfristig zum eigenen Schaden: Denn das Land koppelte sich protektionistisch durch hohe Zölle von der Weltwirtschaft ab, so daß die europäischen Nationen nicht durch Exporte dorthin die Devisen verdienen konnten, mit denen sie in der Lage gewesen wären, ihre Schulden gegenüber den USA zurückzuzahlen. Dieses in sich widersinnige System (einerseits Reparationszahlungen an die USA, die andererseits mit Krediten aus den USA bezahlt wurden) mußte kollabieren, was dann 1929 mit der Weltwirtschaftskrise und dem Zusammenbruch der in sich verschachtelten Kreditpyramide geschah. Da halfen auch nicht mehr die oft nur kurzfristigen amerikanischen Anleihen in Europa, die ja gerade umgekehrt durch ihre panikartige Kündigung die Krise verschärften, die Liquidität der Wirtschaft

Vereinigte Staaten

163

reduzierten und zu um sich greifenden Konkursen von Banken und Unternehmungen infolge Zahlungsunfähigkeit führten. Die Weltwirtschaftskrise seit 1929 ließ dann nicht nur den Welthandel (und damit den amerikanischen Einfluß) erheblich schrumpfen, sondern reduzierte zudem das außenpolitische Engagement der USA noch weiter, so daß man nun von Isolationismus in der engeren Bedeutung des Begriffes sprechen kann. Der 1933 neu ins Amt gewählte, demokratische Präsident F. D. Roosevelt widmete sich ganz der Binnenwirtschaft und Binnenpolitik, indem er die Konjunktur anzukurbeln und soziale Reformprogramme zu realisieren versuchte. Die verschärft isolationistische Außenpolitik der USA in den 30er Jahren läuft parallel zu einer beispiellosen Eskalation kriegerischer Ereignisse in dieser Zeit: fast jedes Jahr erfolgte eine territoriale Eroberung, Verträge wurden ständig verletzt, Kriegskoalitionen wurden geschmiedet, bis dann 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach. Der Kongreß reagierte darauf passiv mit Neutralitätsgesetzen, die die USA und ihre Bürger auch wirtschaftlich aus den Konflikten und Kriegen heraushalten sollten. (Allerdings war sich Roosevelt bewußt, daß die U S A irgendwann eingreifen müßten. Seit 1937 äußerte er dies auch öffentlich.) Die isolationistische Grundströmung der öffentlichen Meinung wollte jedoch den amerikanischen Interessenradius auf den Pazifik, auf Lateinamerika und den westlichen Pazifik beschränkt sehen; gleichgültig dem gegenüber, was in Europa und Asien geschah. Roosevelt begriff demgegenüber - hier auch wieder idealistisch argumentierend - die Auseinandersetzung mit dem faschistischen Deutschland und Japan als Kampf zwischen liberaler Demokratie auf der einen Seite und verbrecherischer Diktatur auf der anderen Seite. Auch wirtschaftlich hielt er die U S A nur für überlebensfähig, wenn es einen offenen Weltmarkt gäbe (den gerade die auf Autarkie bedachten Planwirtschaften von Faschismus und Kommunismus verhinderten). Mit dem offensichtlichen Vordringen Deutschlands und Japans gerieten daher auch die amerikanischen Isolationisten zunehmend in die argumentative Defensive, so daß die U S A seit 1940/41 das von Hitler bedrohte Großbritannien wirtschaftlich und politisch massiv zu unterstützen begannen. Die Vereinigten Staaten waren 1941 - schon vor dem Kriegseintritt - zum Krieg bereit und dafür gut gerüstet. Mit dem japanischen Überfall auf die amerikanische Flotte in Pearl Harbour Ende 1941 und der daraufhin erfolgenden deutschen Kriegserklärung an die USA trat das Land in den Zweiten Weltkrieg ein und begründete damit ein weltpolitisches Engagement, das bis heute andauert - jenseits von Isolationismus, in der Tradition des Idealismus, der die Nachkriegs-Weltpolitik der USA zentral bestimmen sollte (auch wenn die isolationistische Strömung stets mehr oder weniger präsent ist und durchaus auch dominant werden

164

Vereinigte Staaten

kann, wenn z.B. wie gegenwärtig das Fehlen eines Feindes, wie früher der Kommunismus, einhergeht mit einem vehementen Antiamerikanismus im islamischen Raum. Auch sehen es die Amerikaner gar nicht ein, auf ewig Westeuropa zu verteidigen und europäische Probleme zu lösen •«Jugoslawien-Konflikt 1990 ff.>, was ja nur kostet). Dieser Nachkriegs-Idealismus der USA manifestierte sich auf folgenden Ebenen: 1. Außenpolitischer "Idealismus" 2. Wirtschaftlicher "Idealismus" ad 1) Mit Gründung der Vereinten Nationen 1945 - der Nachfolgeorganisation des gescheiterten Völkerbundes - auf Initiative vor allem der USA hin, die der UN nun auch beitraten, verpflichteten sich die Vereinigten Staaten - im Gegensatz zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg - zu einem dauerhaften weltpolitischen Engagement, insbesondere in West- und Südeuropa - als weltweiter Grant der Demokratie; und realisierten es auch, seitdem der Kalte Krieg 1947 mit der UdSSR ausgebrochen war (Berlin-Krise 1947 usw.): im Einsatz von (amerikanischen) Truppen im Korea-Krieg 1951; durch Stationierung von Truppen in verschiedenen Konfliktzonen der Welt; durch Aufbau von antisowjetischen Bündnissystemen: Nato, Bagdad-Pakt, SEATO; im Vertrag mit Japan usw. - alles um das Gebiet der Sowjetunion herum, um sie in ihrer ideologischen und politischen Expansion einzudämmen, wie sie in der kommunistischen Machtübernahme in Prag 1948 besonders offensichtlich zum Ausdruck gekommen war. Als spätestens seit 1947 eine Kooperation mit der Sowjetunion immer schwieriger wurde -, traten die Vereinigten Staaten - aller Tradition zuwider 1949 einem Bündnis mit westeuropäischen Staaten, nämlich der NATO, bei, das sie zur Verteidigung Westeuropas gegen den vordringenden Kommunismus verpflichtete. Zwar legte der NATO-Vertrag nur eine Verpflichtung in sehr unverbindlicher Form fest, die - nimmt man den Wortlaut des Vertragstextes ernst - ggf. bei einem Angriff auf einen Bündnispartner die (amerikanischen) Bündnispflichten mit der Entsendung einer größeren Sanitätseinheit erfüllt sehen könnte (auch in der UN gab es ja solche Vorbehalte, z.B. durch das absolute Vetorecht der Großmächte im UN-Sicherheitsrat); aber immerhin. Auch stationierten die USA militärische Einheiten in Westeuropa, um ihren Verteidigungswillen gegenüber dem Feind, aber auch gegenüber den diesbezüglich skeptischen Verbündeten in West-Europa zu dokumentieren, unter Beweis zu stellen. Idealistisch durch und durch war natürlich der manichäische Kampf gegen das Böse überhaupt: den atheistischen Kommunismus. Dem war man in den 40er und 50er Jahre bereits innerstaatlich mit einer rabiaten Antikommunismus-Hetze gegen Intellektuelle zu Leibe gerückt (der US-Senator McCarthy verfolgte selbst Ch. Chaplin als eine des Kommunismus verdächtigte Per-

Vereinigte Staaten

165

son; erst recht natürlich zahlreiche, vor dem Dritten Reich in die U S A Emigrierte, z.B. B. Brecht.) Zeitgleich hierzu folgte Ende der 40er Jahren die von der demokratischen Präsidentschaft Truman entwickelte Strategie der Eindämmung (Containment policy nach G.F. Kennan), die durch flexible, aber begrenzte, amerikanische Truppenverbände an der Grenze z u m sowjetischen Herrschaftsbereich der kommunistischen Expansion entgegenwirken wollte. Man hielt eine Fortsetzung der Kriegskoalition mit der aggressiven Sowjetunion für nicht mehr möglich - angesichts des kommunistischen Vordringens bis zur Elbe. Allerdings beinhaltete diese Strategie von Kennan, Truman und dem seinerzeitigen Außenminister Marshall auch ein wirtschaftliches Element - wie unten ausführlicher zu behandeln sein wird -, denn den USEntscheidungsträgern war klar, d a ß ein weiteres Vordringen der kommunistischen Parteien und Ideen in Westeuropa nur gestoppt werden könne, wenn die wirtschaftliche Not beseitigt werden würde. Leere Mägen machen links, und daher initiierten die U S A 1947 den Marshall-Plan mit rd. 10 Milliarden Dollar Wirtschaftshilfe (Kredite und Zusagen) an eine Reihe vom Krieg zerstörter, westeuropäischer Staaten inklusive (West-)Deutschland. Inwieweit dieses Programm dann den in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands zu Beginn der 50er Jahre einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung bewirkten, ist in der Forschung umstritten; entscheidend ist hier jedoch nur, daß sich die ökonomische Lage seit Beginn der 50er Jahre entscheidend zu bessern begann und damit die Gefahr einer kommunistischen Unterwanderung gebannt war. (Im Sinne der amerikanischen Freihandelsidee war es, d a ß die U S A die Vergabe der Gelder explizit an die Verpflichtung der Westeuropäer banden, sich zu einem gemeinsamen Markt zusammenzuschließen - der Ursprung der EWG). Die republikanische Nachfolgepräsidentschaft Eisenhower mit ihrem maßgeblichen Außenminister J. F. Dulles akzentuierte dieses idealistische Element noch mehr: für Dulles war die U d S S R nicht wie für Kennan ein machtpolitischer Gegner, den es machtpolitisch und notfalls militärisch zu bekämpfen gelte (in diesem Sinne interessierte Kennan nicht das innere G e sellschaftssystem eines Staates, auch nicht einer Diktatur, Hauptsache: sie ist außenpolitisch nicht aggressiv); für Dulles war die Sowjetunion auch unter Chruschtschow, dem Stalin-Nachfolger, die Ausgeburt des Teufels, des Bösen, des Atheismus und des Antichristen. Das ist nicht ironisch übertrieben, sondern entsprach durchaus (nebenbei gesagt: in Teilen bis heute) der manichäisch-politischen Rhetorik in den Vereinigten Staaten von Amerika, wie sie vor allem in der Reagan-Ära der 80er Jahre wiederbelebt wurde. Militärstrategisch manifestierte sich dies seit Beginn der 50er Jahre in einer absoluten Konfrontationsstrategie gegenüber der U d S S R , der für den Fall auch nur kleinster Angriffsakte eine massive Vergeltung mit atomaren Schlägen direkt ins Herz des Kommunismus, nach Moskau, in den Kreml, gedroht wurde. (Was schon erheblich über die eher gemäßigte, auf Eindämmung beschränkte Strategie unter Truman und Kennan hinausging.) Die

166

Vereinigte Staaten

Strategie von Dulles entsprach dem amerikanischen Gemüt und der amerikanischen Kultur, in der sich die christlichen "Gutmenschen" nur allzugern gegen das Böse abzugrenzen trachten - das festigt die eigene Identität (zumal man im Stillen weiß, daß man doch nicht ganz so gut ist, wie öffentlich dargestellt). Dulles gab sogar noch "einen drauf": Er wollte offensiv die osteuropäischen Staaten vom Kommunismus befreien - so die Rhetorik! Natürlich blieb diese Strategie der massiven Vergeltung und Befreiung nur Papier, denn die USA griffen - angesichts der möglichen Gegenwehr der UdSSR - weder 1953 während des Aufstandes in der DDR noch 1956 während der revolutionären Ereignisse in Ungarn und in Polen noch 1958 während des rot-chinesischen Bombardements taiwanesischer Inseln noch noch noch ein. Sie blieben vielmehr passiv - und wurden so mit der Zeit unglaubwürdig. Man wirft ja auch nicht beispielsweise wegen einer kleinen, unbewohnten Insel (auch wenn sie im taiwanesisch-westlichem Besitz ist) trotz ständigem rotchinesischem Bombardements keine (Atom-)Bomben auf Moskau. Zumal die UdSSR seit Ende der 50er selbst über Atomwaffen verfügte, die auch interkontinental amerikanisches Territorium erreichen konnten - und damit das Kapitol direkt zu bedrohen in der Lage waren. Diese Gefahr für das Kapitol machte aber selbst die bärbeißigsten Idealisten nachgiebig. So begann bereits der noch republikanische Nachfolger von Dulles im Amt des Außenministers, Herter, im Verlaufe der Berlin-Krise (1958 - 1963) dem kommunistischen Osten und auch der "DDR" gegenüber erhebliche Konzessionen zu machen - ganz im Widerstreit zu Adenauer, der daraufhin zu den USA auf Distanz ging und sich Frankreich unter de Gaulle vermehrt zuwandte, da er befürchtete, die USA würden deutsche und europäische Interessen zugunsten der Verhinderung eines Krieges zwischen den Supermächten opfern. Und unter dem demokratischen Nachfolge-Präsidenten Kennedy wurde aus den geschilderten, miltärstrategischen Gründen zu Beginn der 60er Jahre explizit eine Entspannungspolitik gegenüber dem Ostblock konzipiert, die ähnlich wie 1969 ff. Bundeskanzler Brandt - zunächst einmal auf ein machtpolitisches Arrangement mit Moskau abzielte (wechselseitige Anerkennung des territorialen status quo, vor allem der Elbe als der Westgrenze des Ostblocks) - und damit dem Ostblock weit entgegenkam, insbesondere zunächst einmal die Existenz dieser kommunistischen Staaten als gegeben und nicht revidierbar betrachtete (im Gegensatz zur vormaligen "Befreiungs"-ldeologie) - alles mit dem Ziel, den großen Atomkrieg zu verhindern, um auch die USA davor zu bewahren. Man hatte sich machtpolitisch mit der kommunistischen Herrschaft abgefunden (ähnlich umgekehrt wie die UdSSR mit dem Kapitalismus), allerdings unter dem Vorbehalt, sich vor allem auf der ideologischen und gesellschaftspolitischen Ebene weiterhin mit dem Gegensystem aggressiv auseinanderzusetzten (so auch die analoge Theorie der "friedlichen Koexistenz", wie sie von KPdSU-Chef Chruschtschow

Vereinigte

Staaten

167

1956 auf dem 20. Parteitag entwickelt und offiziell verkündigt wurde, die auf einen militärischen Ausgleich bei Fortbestand des ideologischen Kampfes setzte). Wichtig und weiterhin "idealistisch" an der Entspannungspolitik Kennedys war, daß er zwar machtpolitisch auf einen zeitweiligen Kompromiß mit Moskau zielte; aber andererseits so von der Überlegenheit des amerikanischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems überzeugt war, daß er an dessen langfristigen Sieg glaubte. Letztlich würde der Westen siegen, da sich der Mensch nicht auf Dauer unterdrücken lasse und da das marktwirtschaftliche System weitaus mehr Wohlstand garantieren würde. Darin hat der Westen ja auch Recht bekommen. Auch Kennedy dachte idealistisch, indirekt konfrontativ gegen den Ostblock, wenn auch mit anderen, nicht militärischen Methoden als seine Vorgänger - eben Methoden des wirtschaftlichen und politischen Wettbewerbs. Der Grundsatz der wechselseitigen Anerkennung des machtpolitischen status quo galt vor allem für Europa. In den Undefinierten "Grauzonen" der Welt, wo nicht klar war, wer hier "Vorherrschaftsrechte" hatte, kam es daher in den 60er und 70er Jahren zu allerdings nur indirekten militärischen und ideologischen Konfrontationen der beiden Supermächte. Das war vor allem in Südostasien (60er Jahre) und in Afrika (2. Hälfte der 70er Jahre) der Fall: Vor dem Hintergrund dieser mangelhaften Abgrenzungen und auf der Basis der idealistische Ideologie (Abwehr der kommunistischen Diktatur) rutschten die Amerikaner seit 1961 daher in den Vietnam-Krieg, zunächst zu Beginn der 60er mit einigen Militär-Beratern, dann aber zunehmend mit einer immer größer werdenden Armee, bis zu 540.000 amerikanische Soldaten (1967), die in Vietnam gegen die aus Nordvietnam vordrängenden, kommunistischen Vietcong kämpften, dabei jedoch ein durchaus fragliches, sicherlich nicht demokratisches Südvietnam unterstützten und verteidigten. Das brachte Legitimationsprobleme für die Amerikaner gegenüber ihrer kritischen Öffentlichkeit mit sich, zumal die Genfer Konferenz von 1954 Wahlen für Gesamtvietnam (Nord und Süd) versprochen hatte, was jedoch Südvietnam und die USA zu verhindern wußten, weil sie diese Wahlen wohl zugunsten der Kommunisten verloren hätten. (Das war ein Anlaß für den dann ausbrechenden, kommunistisch beeinflußten Guerilla-Krieg. Die USA konnten sich nur scheinbar dadurch rechtfertigen, daß sie das Abkommen von 1954 nicht unterschrieben hatten. Das war zwar formalrechtlich nicht zu bestreiten, jedoch ein durchsichtiges Argument.) Ein großer Teil der 3. Welt interpretierte die amerikanische Intervention als Form des Imperialismus einer kapitalistischen Nation, die ihre Pfründe und ihr Prestige als nicht besiegbare Weltmacht bewahren wollte; und sicherlich war da auch einiges dran. Auch die amerikanische Öffentlichkeit wandte sich seit Mitte der 60er Jahre immer mehr gegen den äußerst grausam geführten Krieg, vor allem die rebellierende Studentenschaft. Denn der Krieg war untypisch für die USA, die - wie dargelegt - eher auf die Bildung von Wirtschaft-

168

Vereinigte Staaten

lieh fundierten informal empires aus waren und sind, nicht auf offene, territoriale Eroberungen, die eher Verführungen durch einen übertriebenen Manichäismus sind. Der Einsatz in Vietnam war eher Folge einer antikommunistischen Verblendung, infolgedessen man in einem Gebiet der Welt zu kämpfen müssen glaubte, das machtpolitisch und erst recht ökonomisch sowie rohstoffpolitisch gänzlich bedeutungslos war (was auch in den USA durchaus gesehen wurde, z.B. von dem bekannten Politikwissenschaftler H. J. Morgenthau). Zumal die kommunistischen Blöcke Sowjetunion und Volksrepublik China seit Beginn der 60er Jahre immer mehr in Konflikt gerieten - bis zu militärischen Auseinandersetzungen am Ussuri im Jahre 1969 - und damit sich selbst erheblich schwächten. So daß die so reduzierte kommunistische Gefahr auch nicht mehr in Vietnam bekämpft zu werden brauchte. Zumal die Kommunismen der Dritten Welt oft National-Kommunismen waren, die nicht so stark von Moskau oder Peking abhängig waren wie die mittel- und osteuropäischen Staaten des Warschauer Paktes (Ostblock). Dies alles bewirkte relativ schnell, daß sich die USA wieder aus Vietnam zurückzogen (obwohl dadurch ihre machtpolitische Glaubwürdigkeit und ihr Status gefährdet schien, allerdings nur kurzfristig), der (faktische) Rückzug begann bereits 1968, als Präsident Johnson (der Nachfolger Kennedys) wegen der Niederlage in Vietnam und wegen der innenpolitischen Proteste eine erneute Kandidatur für die Präsidentschaft ablehnte. Der Vietnam-Krieg war für Amerika untypisch und wurde dann auch von der Regierung Nixon 1973 beendet (eine Supermacht, die einen Krieg verliert!) - allerdings unter Opferung des südvietnamesischen Verbündeten, der 1975 vom kommunistischen Gegenpart aus Nordvietnam unter auch die USA demütigenden Umständen militärisch überwältigt und erobert wurde. (Eine psychologische Kettenreaktion, daß nun zahlreiche Staaten der Dritten Welt oder auch West-Europas nicht mehr auf den militärischen Schutz der Vereinigten Staaten vertrauten, konnte durch das Geschick des Außenministers Kissinger und durch die weltweite Dominanz der USA verhindert werden.) Der Rückzug aus Vietnam wurde nur möglich durch ein neues Verständnis von Entspannungspolitik, wie sie 1969 bis 1977 von der Administration Nixon und vor allem ihrem Außenminister Kissinger praktiziert wurde. Diese Politik war das Gegenstück zum "Idealismus" und wurde "Realismus" genannt - wohl eine Reaktion auf die idealistische Emphase und Verirrung, wie sie sich im Vietnam-Krieg als ihrem Höhepunkt manifestiert hatte. Im Gegensatz zum Idealismus ging der "Realismus" von der machtpolitisch nicht zu leugnenden und daher auch notwendigerweise zu akzeptierenden Existenz mehrerer weltpolitischer Zentren aus, die man nicht aus moralischen Gründen wegdefinieren oder gar eliminieren könne, auch wenn sie zutiefst nach amerikanischen Werten undemokratisch und abzulehnen seien. Man müsse mit ihnen leben, auch wenn man sie nicht mag - das war die Quintessenz Kissingers, die er im Rückzug aus Vietnam und in mehreren

Vereinigte Staaten

169

Kooperationsabkommen mit der verfemten Sowjetunion (u.a. Rüstungsbegrenzungsabkommen) realisierte. Das paßte in eine Zeit der amerikanischen Niederlage in Südostasien, daß man sich derart machtpolitisch zurückzog und sogar das gänzlich andere zumindest zu respektieren lernte. In der Guam-Doktrin, die Präsident Nixon 1973 auf dieser Insel im Pazifik verkündete, wurde sogar ein gewisser weltpolitischer Rückzug ("desengagement") der U S A Grundlage der neuen amerikanischen Politik: J e d e Region (Europa, Südostasien vor allem) müßte vermehrt sich selbst militärisch und politisch verteidigen lernen. Die U S A seien nicht mehr der Weltpolizist, der allen nur möglichen Regimen beispringe. U m den Unterschied zur vormaligen Kennedy-Strategie zu verdeutlichen: Kennedy anerkannte ähnlich wie Kissinger zwar auch den machtpolitischen status quo, forcierte aber zugleich - idealistisch - die gesellschaftspolitische und ideologische Auseinandersetzung mit dem Gegenpart. Bei Kissingers und Nixons Realismus fehlte jedoch dieser zweite Teil der Doppelstrategie, statt dessen wollte man die U d S S R und auch die Volksrepublik China machtpolitisch einbinden, mit ihnen von gleich zu gleich reden, ein Gleichgewichtssystem wie in der Metternich-Zeit aufbauen, um so - unter stiller Dominanz der U S A - die U d S S R und China gegeneinander auszuspielen. Die innenpolitischen Verhältnisse der kommunistischen Staaten interessierten Kissinger und Nixon wenig, eher umgekehrt: man setzte auf die kommunistischen Eliten und unterstützte diese sogar (nicht die Oppositionsbewegungen), denn die Funktionsweise des internationalen Gleichgewichtssystems, vom dem sie Frieden erhofften, war von der Stabilität der jeweiligen in der Macht befindlichen Eliten abhängig. Innenpolitische Anarchie (z.B. infolge von oppositionellen Machtübernahmen im Ostblock) würde nur destabilisierend wirken und nur den außenpolitischen Frieden gefährden. D a ß diese realistische Theorie nicht nur falsch war, steht hier nicht zur Frage; aber es muß klar sein, daß sich diese Außenpolitik angesichts der Traditionen der politischen Kultur in den U S A nicht lange halten konnte (und wohl eher aus der Notlage der Niederlage im Vietnam-Krieg erklärlich ist). Wie die Ursache der zeitweiligen Akzeptanz dieser Theorie des Realismus, nämlich der Vietnam-Krieg, durchaus unamerikanisch war, so war auch die Reaktion, nämlich dieser Realismus, unamerikanisch. W e g e n seiner anti-idealistischen Stoßrichtung war der Realismus in der amerikanischen Innenpolitik nicht lange tragfähig. Er war zu europäisch, so wie sein Außenminister Kissinger deutschstämmig ist - und mobilisierte so alle Ressentiments der Amerikaner gegen das europäische Gleichgewichtsdenken und gegen europäische, zumal deutsche Macht- und Realpolitik, die als unmoralisch und zynisch (Kooperation mit dem bösen Kommunismus!) betrachtet wurde. Der Realismus war ein Konzept für die Notsituation, um aus dem Vietnam-Krieg wieder herauszukommen, und als das gelungen war, konnte der Mohr auch wieder gehen. Die Nachfolge-Präsidenten von Nixon (Carter und Reagan und auch Bush), waren wieder ganz und gar "idealistisch" gesonnen - zum Leidwesen der eher realistisch denkenden

170

Vereinigte

Staaten

europäischen Verbündeten, insbesondere von Bundeskanzler H. Schmidt, der wie auch sein Nachfolger Kohl an einer weiteren Zusammenarbeit mit der für Deutschland nahen Sowjetunion und erst mit der DDR interessiert sein mußte. Die Amerikaner (besonders vehement Carter) gingen wieder von der Unteilbarkeit der Moral aus, diese müsse weltweit gegenüber allen hochgehalten werden. Wenn etwas böse ist, dann ist es überall böse - und nicht da mehr und da weniger. Präsident Carter setzte zwar zunächst die Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion fort; aber deren militärischen Interventionen in Afrika und schließlich 1979 die offensive, brüsk völkerrechtswidrige Invasion Afghanistans durch 100.000 Sowjet-Soldaten entzogen dieser Entspannungspolitik den Boden. Zudem hatte Carter von Anfang an diese Entspannungs- mit einer Menschenrechtspolitik verbunden; Machtpolitik sollte moralisch ergänzt werden, indem Carter öffentlich gegenüber dem Ostblock und auch gegenüber den lateinamerikanischen Diktaturen z.B. auf einer strikten Beachtung der Menschenrechte bestand. Das konnte er zwar mit dem "Hinterhof' der USA, Lateinamerika, machen, und hier bewirkte er auch erhebliche Demokratisierungsprozesse in den 80er Jahren. Aber nicht mit der UdSSR: sie ließ die Beziehungen zunehmend erfrieren, ging in Richtung eines erneuten Kalten Krieges (dann vor allem unter Reagan in der zweiten Hälfte der 80er Jahre); und verhärtete innenpolitisch, in keiner Weise auf Menschenrechtsforderungen eingehend. Man erreichte eher das Gegenteil des Intendierten - ein paradoxer Effekt! Um Demokratie und Menschenrechte zu fördern, drängte Carter- wie gesagt - die lateinamerikanischen Diktatoren auf Liberalisierung mit der Folge, daß diese Staaten in den 80er und 90er Jahre zur Demokratie zurückkehrten. Ende der 70er Jahre unterstützte man den Diktator von Nicaragua, Somoza, nicht mehr, so daß dort die linksorientierten Guerillas, die Sandinisten, die Macht übernahmen. Und die nur sehr zögerliche Unterstützung des prowestlichen Schahs von Persien 1979 - wegen dessen Menschenrechtsverletzungen - brachte den USA nur das vehement antiamerikanische und sicherlich nicht mehr menschenrechtsorientierte Regime des Ajatollah Khomeini ein. Daß mit einem derartigen Idealismus, mit der Einforderung der Menschenrechte auch gegenüber dem Kommunismus, die Grundlagen einer Kooperation mit der UdSSR und die Entspannungspolitik überhaupt zerstört wurden, war Anfang der 80er Jahre, zum Ende der Ära Carter offensichtlich, als Präsident Reagan die Kooperation mit dem "Reich des Bösen" - wie er die UdSSR bezeichnete - beendete und in guter idealistischer Tradition eine konfrontative Aufrüstungspolitik gegen den moralischen Feind in die Wege leitete, die diesen machtpolitisch und wirtschaftlich in die Knie zwingen sollte: totrüsten. Allem ersten Anschein zuwider hatte er damit auch Erfolg, nicht nur, weil die Aufrüstungspolitik als solche erfolgreich gewesen war, sondern auch, weil

Vereinigte Staaten

171

die Sowjetunion aufgrund einer mangelnden wirtschaftlichen Produktivität mittlerweile innerlich derart geschwächt war, daß sie seit Mitte der 80er Jahre unter dem neuen KP-Chef Gorbatschow zu solchen Reformen gezwungen war, die letztlich zu Beginn der 90er Jahre die Preisgabe des kommunistischen Systems überhaupt mit sich brachten. (Dabei sollte nebenbei vermerkt werden, daß Reagans Weltpolitik nicht nur idealistisch war, sondern - latent - auch isolationistisch: Denn das Reagansche SDI-Aufrüstungsprogramm sah ja eine Weltraum-Glocke von AbwehrSatelliten um die U S A herum vor, das alle eindringenden Raketen abfangen sollte, ehe sie überhaupt amerikanischen Boden erreichen könnten. Wie eine Insel wären dann die Vereinigten Staaten geschützt gewesen, so d a ß z.B. eine Verteidigung durch amerikanische Truppen in Übersee, in Westeuropa oder sonstwo nicht notwendig gewesen wäre. Das sah vor allem die Bundesrepublik Deutschland als Gefahr, und war daher offen und latent gegen SDI.) Ob sich die Strategie in diese Richtung entwickelt hätte, ist schwer zu sagen, da die Nachfolger von Reagan das SDI-Programm stark eingeschränkt haben.) Der Untergang der U d S S R 1991 führte dann zu einer eindeutigen weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Dominanz der USA, die jedoch nur sehr zögerlich von der US-Administration wahrgenommen wurde und wird. Eine von den U S A maßgeblich geleitete UN-Armee vertrieb zwar 1991 den irakischen Aggressor wieder aus Kuwait; man hatte ja schon in der Carter-Doktrin von 1980 den ölreichen Nahen Osten zu einer für die U S A sensiblen Region erklärt. Aber schon in den verschiedenen Bürgerkriegen in Schwarz-Afrika intervenierte man kaum, zumal die Intervention in Somalia 1992 zu einem die U S A demütigenden Desaster führte und nichts bewirkte. Serbien bombardierte man 1994 erst als ultima ratio, als offensichtlich wurde, d a ß die Europäische Union wegen innerer Differenzen nicht zu einer außenpolitischen Aktion in der Lage war. Und Rußland droht nur zu einem kostenträchtigen Klotz am Bein zu werden, den sich die stark verschuldeten Vereinigten Staaten nicht mehr leisten können. Israel unterstützt man vor allem auch wegen der starken jüdischen Lobby in den U S A - und als einzig zuverlässiger Partner im Nahen Osten. Die drohende Chaotisierung der Weltpolitik, wie sie in den Nachfolgestaaten der U d S S R , in Jugoslawien, in Schwarzafrika, in einigen arabischen Staaten, in Afghanistan manifest wird, scheint die Amerikaner sich eher wieder dem Isolationismus zuzuneigen lassen - bei einem Idealismus lediglich in der Rhetorik. Die offizielle Außenpolitik bleibt jedoch beim Kurs des - allerdings - begrenzten Weltengagements, wie er u.a. in der N A T O und in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ( O S Z E ) z u m Ausdruck kommt. Auf jeden Fall will man ein Überengagement wie in den 60er Jahren vermeiden. Der amerikanische Historiker P . Kennedy hat in einer in den U S A viel diskutierten Untersuchung aufzuzeigen versucht, d a ß

172

Vereinigte

Staaten

in der Geschichte Großmächte stets dann untergingen, wenn sie sich militärisch und politisch zu weit ausgedehnt hatten. Das wirkte warnend. Wirtschaftlicher "Idealismus" Wirtschaftlich gelang es der nach 1945 politisch, militärisch und wirtschaftlich gänzlich vorherrschenden USA, einen Weltmarkt zu errichten, wie sie ihn sich in freihändlerisch-idealistischer Tradition immer gewünscht hatte. Sie garantierte - vermittels von ihr indirekt gesteuerter, weltwirtschaftlichen Kontrollinstitutionen wie der Welthandelsorganisation (ITO, GATT, WTO) oder dem Internationalen Währungsfonds (IWF) - den freien Welthandel, zu ihrem Vorteil, aber auch zum Vorteil all derer, die an ihm partizipierten. Und sie konnte es erstmals in der westlichen Welt auch realpolitisch durchsetzen. Man hatte aus den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit gelernt, daß die wachsenden Protektionismen den Welthandel behinderten und damit das Wohlstandsniveau aller erheblich verringerten. Auch war man sich nun bewußt, daß die dominante Macht eine weltwirtschaftliche und weltpolitische Verpflichtung habe, für einen freien Welthandel zu sorgen oder ihn gar zu erzwingen, um eine Anarchie wie in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu verhindern, als sich die USA - wie geschildert - zurückgezogen hatten. Natürlich sicherte man derart über ökonomische Vorherrschaft auch seinen politischen Einfluß, aber es kommt hier auf die objektiv positiven Effekte einer rasanten Steigerung des Welthandels an, die unbestritten sind. Bis Mitte der 70er Jahre kam es zu dieser beispiellosen Welthandelsexpansion. Und es zeigte sich, daß die derart bewirkte, enge ökonomische Interdependenz im nordatlantischen Raum ( + Japan) nicht nur den Wohlstand vermehrte, sondern auch den Frieden in diesem Raum langfristig strukturell sicherte, wie es die ökonomische Freihandelslehre seit A. Smith und in seiner Nachfolge auch der Idealismus gelehrt hatte. Die zweite Form der US-Außenbeziehungen, das wirtschaftliche informal empire, hat sich damit als die zentrale Einflußform der Zukunft erwiesen, während der erst genannte, militärische Aspekt, zumal nach Untergang der UdSSR 1991 zunehmend relativiert wird. Das Vietnam-Desaster war eine untypische Verirrung. Wirtschaftsnationen denken nicht militärisch-territorial, sondern wirtschaftlich-funktional. Das Territoriale (und dessen Vermehrung durch militärische Expansion) mag für Agrar- und Feudalgesellschaften wichtig sein, die durch mehr Grund und Boden auch mehr an Nahrungsmitteln produzieren können, was für sie angesichts des Fehlens industrieller Produktion wichtig ist. Industrien können sich demgegenüber auf engstem Raum ballen: Extremstes Beispiel ist z.B. Hongkong mit Fabriken in Hochhäusern - übereinander "gestapelt". D.h. hier wird Krieg um Territorien funktionslos. Die ggf. notwendigen Rohstoffe kann man ja viel einfacher durch Import beziehen.

Vereinigte

Staaten

173

Aber selbst der Begriff des informal empire ist fraglich geworden, denn es gibt eine innere Widersprüchlichkeit der amerikanischen Außenwirtschaftspolitik: Einerseits förderte sie durch Kapitalexport z.B. die wirtschaftliche Entwicklung des zerstörten Nachkriegseuropas (und auch der Dritten Welt, zumindest der sog. teilindustrialisierten Schwellenländer) - und schuf so auch politische Abhängigkeiten zu ihren Gunsten. Sie förderte sogar den wirtschaftlichen (und damit längerfristig auch politischen) Zusammenschluß der Staaten Westeuropas, um einen für den US-Export günstigen, großen Markt zu schaffen. Andererseits bewirkte sie aber so auch eine ökonomische Prosperität dieser Gebiete, die so ihre (ursprünglich politische) Abhängigkeit überwanden und nun als gleichberechtigte Partner den USA gegenüberstehen. Die Idee der Gleichheit, wie sie den Liberalismus prägt, setzt sich so auch außenpolitisch und weltwirtschaftlich durch - zumindest im Verhältnis USA - Europa - Japan - vielleicht auch den großen Staaten Lateinamerikas. Die USA sind weiterhin die große Weltmacht des Freihandels, die zwar seit den Krisen der 70er Jahre auch protektionistische Elemente enthält - aber doch sehr begrenzt: Die U S A wollen oft nur Zollsenkungen anderer Staaten erreichen, indem sie selbst Zölle einführen, um sie - als Verhandlungsmasse - im Gegenzug gegen Zollsenkungen der anderen wieder abzubauen. Und auch bei den Krisen der globalisierten Finanz- und Kapitalmärkte (darauf ist die sog. Globalisierung beschränkt!) nimmt die amerikanische Zentralbank eine verantwortungsvollere Haltung ein als z.B. die Deutsche Bundesbank, die sich verweigert, die Zinsen zu senken, um eine Weltwirtschaftskrise infolge Deflation zu verhindern. Die Welt der Zukunft wird wahrscheinlich auf der einen Seite ein lockerer, aber sich selbst koordinierender Zusammenschluß (z.B. in Form des Internationalen Währungsfonds) zwischen gleichberechtigten, relativ autonomen Teilsystemen des internationalen Systems sein, letztlich ohne Hierarchie; z.B. zwischen E U und USA und Japan; und auf der anderen Seite eine zunehmende Zahl von Staaten, die aus der Weltpolitik und aus der Weltwirtschaft desintegriert sind oder sich zunehmend desintegrieren: Schwarzafrika, Teile des arabischen Raumes, die südlichen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, Teile von Lateinamerika. Die mit diesen Staaten anwachsenden Hunger-, Chaos- und Kriegsprobleme werden die Fragen sein, die die Außenpolitiken im 21. Jahrhundert beschäftigen werden. Und es wird nicht mehr der Vorwurf sein, daß sich die Industriestaaten zu sehr in die Angelegenheiten der "3. Welt" engagiert hätten (der Imperialismus-Vorwurf), sondern umgekehrt werden die Hungernden und Leidenden der Zukunft dermal einst an ihren Küsten stehen und jedem amerikanischen Kriegsschiff nachweinen, das ihr Land nicht militärisch besetzt. Denn das haben wird doch wohl mittlerweile gelernt: Die Tatsache, daß die USA 1945 Japan und Westdeutschland militärisch besetzten und gesellschaftspolitisch gänzlich umkrempelten, hat mit dazu beigetragen, daß gerade diese nachfaschistischen

174

Vereinigte Staaten

Staaten politisch und ökonomisch derart in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prosperierten. Schade um den Irak, daß die amerikanischen Truppen 1991 nicht bis Bagdad vormarschiert sind! Schade auch um Ostdeutschland, das nicht in den Genuß einer liberalen Besatzungsmacht kam, sondern durch die sowjetische Besatzungsmacht eher "asiatisiert" wurde mit Folgen bis heute dahingehend, d a ß dort der althergebrachte, russische Zentralismus und die dementsprechende Autoritätshörigkeit verinnerlicht wurde - mit all den Folgen einer wirtschaftlichen Unterentwicklung, da wagnisorientierte Pionierunternehmer fehlen: Man erwartet halt alles in sowjetischer Tradition vom Staat - von Westdeutschland und dessen Finanzen. D a ß die U S A vor allem in diesem System die politische und wirtschaftliche Dominanz haben, ist offensichtlich (obwohl sie sich zuweilen auch nur schwer durchsetzen können und zuweilen auch scheitern und manchmal auch nicht wollen); aber lieber in einem liberalen Imperium leben, das Freiheit gewährt, als in einem militärisch und ideologisch und hierarchisch integrierten Imperium (wie dem vormaligen Ostblock). Außerdem wissen wir mittlerweile, daß nur zentrale Mächte das Abgleiten der Weltpolitik in Anarchie, in Krieg verhindern können, nur sie können Ordnung schaffen, und mögliche Aggressoren präventiv abzuschrecken. (Daß die U S A zuweilen auch grausame Diktaturen unterstützt oder gar ins Amt gebracht haben, man denke nur an die Militär-Junta in Griechenland von 1967 bis 1975 oder in Chile unter Pinochet seit 1973 bis Ende der 80er Jahre, soll hier nicht bestritten werden, aber - so glaube ich - das ist nicht typisch für die amerikanische Außenpolitik, wenn man daran denkt, daß die U S A und Großbritannien längere Zeit die einzigen Staaten waren, die gegen die Faschismen im 2. Weltkrieg kämpften; daß sie in der Nachkriegszeit in ihren Besatzungsgebieten Demokratien etablierten; und daß - nicht zuletzt - ihr Kampf gegen den Kommunismus demokratisch motiviert war. Auch die amerikanis c h e Blockade gegen Kuba richtet sich gegen eine Diktatur, deren ökonomis c h e Segnungen auch nicht so groß sind, wie Apologeten behaupten. Das wird oft vergessen)

Schlußwort Insgesamt gesehen ist der oft von marxistischer und revisionistischer ("linker") Seite geäußerte Vorwurf, die U S A seien imperialistisch, verfehlt, selbst ein informal empire konnte sich - wie aufgezeigt - nur begrenzt halten. D a z u sei abschließend noch einmal folgendes zusammenfassend gesagt: Die Vereinigten Staaten traten nur widerwillig in die beiden Weltkriege ein. Weil sie aus einem antikolonialen Befreiungskampf gegen England entstanden sind, waren und sind sie auch antikolonial eingestellt bis heute: Trotz aller Kriegspartnerschaft zwischen Großbritannien und den U S A im Kampf gegen Nazi-Deutschland gab es doch latent erhebliche Differenzen, u.a. in

Vereinigte Staaten

175

der Kolonialfrage, in der die Vereinigten Staaten auf eine Beendigung der Kolonialherrschaft auch der Briten drangen. Und die ökonomische Penetranz seitens der U S A führt - wie gezeigt - auch zur langfristigen, politischen und wirtschaftlichen Emanzipation der vorerst ökonomisch Abhängigen. Man kann nun einwenden, daß die U S A hier nur deshalb so agierten, weil sie die Kolonialmächte beerben wollten. Es ist auch offensichtlich, daß die U S A in den vormaligen Einflußzonen der Briten und Franzosen oder anderer Kolonialmächte (Niederlande) z.T. bis heute dominant wurden (Naher Osten, Pakistan, Südostasien, Lateinamerika). Es gab auch offene koloniale Aktionen der USA, z.B. die faktische Besetzung Süd-Vietnams von 1963 bis 1973. Aber der Fall "Vietnam" ist eher eine Ausnahme und nicht typisch für die amerikanische Außenpolitik. Und man kann nun wirklich heute nicht behaupten, daß Südostasien z.B. in einem Vasallenverhältnis zu den Vereinigten Staaten stünden. Auf eine Formel gebracht: Die innenpolitische Liberalität der USA bei gleichzeitig hohem moralischen Standards realisiert sich außenpolitisch als Export von Demokratie, als Freihandel und als (zuweilen) weltweiter Menschenrechtspolitik (vor allem gegen die kleineren Staaten). Innen- und Außenpolitik bilden bei den U S A eine Einheit. Wir leben gegenwärtig in einem amerikanischen Zeitalter, da wir die weltweit akzeptierten gesellschaftlichen Werte der U S A als Ausdruck eines modernen Liberalismus akzeptieren - sei es explizit gewollt und intellektuell reflektiert oder sei es eher alltagspraktisch beim Besuch von McDonalds oder beim Tragen der durchaus praktischen Jeans. Allerdings gibt es auch irrationale und antidemokratische Gegenwehr zu dieser amerikanischen Kulturdominanz, insbesondere in Form des islamischen Fundamentalismus und bei linken Intellektuellen Frankreichs. (Dazu mehr im Kapitel zum Nahost-Konflikt.) U.a. auch wegen dieser Gegenwehr werden die U S A wohl in Zukunft keine Weltordnungspolitik mehr betreiben oder Weltpolizist sein wollen. Denn der große Feind von früher fehlt. Zwar wird die militärische und wirtschaftliche Übermacht und Innovationskraft bestehen bleiben (und man wendet sie zuweilen auch durchaus machtpolitisch-realistisch, nicht nur "idealistisch"demokratieorientiert an, so als man 1991 nicht den irakischen Diktatur stürzte, sondern sein Regime als Gegengewicht zum ebenso gefährlichen Iran aufrechterhielt.) Überwiegend wird man jedoch weiterhin idealistisch agieren: Demokratieexport/ förderung, Freihandel, eine Weltwirtschaft mit mehreren gleichberechtigten Zentren, die von den Vereinigten Staaten durchaus akzeptiert werden. God bless America!

176

Vereinigte Staaten

Literatur: H. G. Dahms, Grundzüge der Geschichte der Vereinigten Staaten, Darmstadt 1991 H. R. Guggisberg, Geschichte der USA, Stuttgart u.a. 1976 D.A. Horowitz, Kalter Krieg, Berlin 1969 D. Junker, Der unteilbare Weltmarkt, Das ökonomische Interesse in der Außenpolitik der USA 1933 -1941, Stuttgart 1975 D. Junker, Von der Weltmacht zur Supermacht, Amerikanische Außenpolitik im 20. Jahrhundert, Mannheim 1995 H.-U. Wehler, Grundzüge der amerikanischen Außenpolitik 1750 - 1900, Frankfurt a.M. 1984

Lateinamerika

177

Lateinamerika: Eroberer ohne Land Vorgeschichte Seit dem späten Mittelalter bemächtigte sich der Europäer eines eigentümlichen Dranges nach Weltöffnung, Weltausweitung, Welteroberung. Rußland befreite sich im 15. Jahrhundert von der mongolischen Fremdherrschaft. Die Niederlande befreiten sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von der spanischen Vorherrschaft und bauten ein weltweites Handelsimperium auf. Deutschland und England befreiten sich von der Vorherrschaft des Papstes. Und Spanien sowie Portugal expandierten - nach der Befreiung von der arabisch-islamischen Herrschaft - überseeisch in Gefilde jenseits des Atlantik. Warum kam es zu diesem allgemeinen Aufbruch? Das abendländische Europa war immer ein Kontinent in Expansion gewesen, allerdings je Zeit in unterschiedlichen Graden. In Europa verband sich das expansive Erbe des Römischen Reiches mit dem dynamischen Charakter des Christentums, das z.B. im Gegensatz zum Judentum, zum Hinduismus und zum Konfuzianismus missioniert. Dieses ideologische Gemisch vermengte sich stets mit machtpolitischen und ökonomischen Motiven. Die Kreuzzüge vom 11. bis zum 13. Jahrhundert waren ein prägnanter Ausdruck dieser Bewegung. Zuvor hatte es bereit seit Karl dem Großen die deutsche Ostexpansion gegeben. Spanien kämpfte durch das gesamte Mittelalter hindurch gegen die arabischer Besatzer, bis zur gänzlichen Vertreibung des Islam von der iberischen Halbinsel. Der explosionsartige Aufbruch zu Beginn der Moderne in Nordeuropa, insbesondere in England und in Holland, ist jedoch - über das Geschilderte hinaus - Folge eines allgemeinen Individualisierungsprozesses, wie er sich u.a. auch in der Reformation Luthers niederschlug: Kaiser und Papst hatten sich über Jahrhunderte wechselseitig derart bekämpft, daß sie erheblich an Legitimationskraft einbüßten. In diesem ideologischen Vakuum bildeten sich neue Kräfte, die autonom waren und nur begrenzt von den größeren, staatlichen und sonstigen Einheiten abhängig waren: die Städte und das sich in ihnen bildende Bürgertum; autonome(re) Dichter und Wissenschaftler wie Dante oder Leonardo da Vinci; das freie, kirchlich und päpstlich nicht gebundene Gewissen eines Luther oder im Protestantismus überhaupt. Diese freieren Individuen - wenn dieser Begriff hier erlaubt ist - ließen die kollektiven, z.B. ständischen Bindungen der Vergangenheit hinter sich und vermochten nun jenseits dieser Beschränkungen Energien freizusetzen, die die Moderne bis heute mit ihrem weltweiten Kapitalismus und ihrer alles durchdringenden Wissenschaft und Technik prägen.

178

Lateinamerika

D a v o n zu unterscheiden ist die spanische und portugiesische Expansion nach Südamerikas. Sie war - mit negativen sozioökonomischen Konsequenz e n bis heute - noch weitgehend mittelalterlich - im Unterschied zu dem geschilderten Individualisierungsprozeß; sie war letztlich eine interkontinentale, transatlantische Verlängerung der reconquista, des Kampfes der spanis c h e n Könige gegen den Islam, gegen Heiden (von denen es in Lateinamerika zur Genüge gibt). Das ist die eine Wurzel. Die andere (mittelalterliche) Wurzel liegt in Folgeproblemen sozialen Wandels, hier der Obsoleszenz, der gesamtgesellschaftlichen Entbehrlichkeit einer bestimmten Schicht, nämlich d e s Rittertums. E s waren die spanischen Ritter, Helden und Abenteurer, die die großen Steppen brauchten, um ihre Macht demonstrieren zu können. In Spanien war das nicht mehr möglich, oder nur noch in der pervertiertironischen Form eines Don Quichote. Das zentralisierende Königtum hatte Ritter des Feudalsystems funktionslos werden lassen. Der Kampf gegen den Islam war vorerst beendet. Was machen mit den Überflüssigen? In den europäischen Staaten wurde dieses Problem unterschiedlich gelöst: In England transformierte sich der Adel zur Gentry, der niedere Adel verband sich mit Kaufleuten und Bürgern, und begann, sich später wirtschaftlich-industriell zu betätigen. Hier war der Übergang zum Kapitalismus gegeben - sicherlich die sozialhistorisch fruchtbarste Lösung. In Preußen wurden die Adligen Landräte oder Offiziere. In Frankreich wurde er zunächst am Hofe zu Versailles konzentriert, um dann um so einfacher von der Französischen Revolution en masse geköpft z u werden. In Rußland wurden die Adeligen später umgebracht, unter Lenin, ohne daß sie (zumindest der Landadel) zuvor in den G e n u ß luxuriösen Hoflebens gekommen wären - sicherlich die insgesamt unangenehmste Lösung. Die Spanier schickten ihre Ritter - und damit in gewissem Maße das Mittelalter mit seinen Strukturen überhaupt - in ihre amerikanischen Kolonien, bzw. diese Kolonien wurden von diesen Rittern erobert, als einem großen Kreuzzug gegen das Heidentum. Auf den großen Ebenen des südlichen Amerikas war solches Rittertum noch möglich. Anders als die Expansion Englands war die spanische Expansion damit nach rückwärts gerichtet. Äußerer Anlaß der kolonialen Expansion nach Westen war zunächst einmal die Sperrung der Handelswege nach Indien und China durch die Herrschaft der Türken im östlichen Mittelmeer, was besonders augenscheinlich wurde mit der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453. Kolumbus suchte daher einen W e g nach Indien von Westen her und entdeckte hierbei den amerikanischen Kontinent (was ihm nicht bewußt war). Die, die ihm folgten, errichteten in Lateinamerika eine Gesellschaft, die einerseits geprägt war von einer mittelalterlich-ritterlichen Struktur, die sich

Lateinamerika

179

hier noch einmal so recht ausleben konnte, und auf der anderen Seite vom frohabsolutistischen, spanischen Staates, der für seine Zeit mit seiner hierarchisierten Verwaltung durchaus modern war. (Die Kombination von Mittelalter und Bürokratie führte jedoch langfristig zu einer die bestehenden Gesellschaftsstrukturen konservierenden Konstellation). Ausdruck hierfür ist das königliche Kloster-Schloß El Escorial in der Nähe von Madrid, mit seiner strengen, quadratischen, abgezirkelten, monumentalen Architektur, die alles natürliche Leben - dunkel und düster - in die Vorgaben des königlichen Planes einzuzwängen trachtet. Beide Elemente (das Ritterliche und das Zentralistisch-Bürokratische) sind bis heute - wenn auch natürlich vielfach historisch gebrochen - typisch für die politische Kultur und auch für Politik und Außenpolitik lateinamerikanischer Staaten. Das soll im folgenden historisch expliziert werden (wobei - trotz aller Differenzen - von der kulturell-sprachlich-religiösen Einheit Lateinamerikas ausgegangen wird).

Die Kolonialzeit Kolumbus war noch in königlichem Auftrag unterwegs, aber bereits 1495 erlaubte die kastilische Krone ihren Untertanen die freie Ausreise in die neuen Gebiete. Das ist der Beginn einer Siedlungsbewegung nach Übersee, die nicht über die staatlichen Handelskolonien, sondern - drückt man es modern aus - privat ablief. Es sind diese Siedler, die Amerika mit teilweise grausamen Methoden und Konsequenzen erobern. Diese Siedlungskolonisation der Ritter und Abenteurer drohte das königliche Macht- und Herrschaftsmonopol in Frage zu stellen, das ohnehin durch die Entfernung zum Mutterland schwach war. Daher wurde 1503 die Casa de la Contratación in Sevilla gegründet, eine königliche Oberbehörde zur Kontrolle allen Personen- und Warenverkehrs mit der Kolonie. Sevilla wird zudem Monopolhafen für den interkontinentalen Handel. Ebenso bedeutend als Steuerungsinstanz war der Indienrat in Madrid. Hiermit ist ganz zu Beginn der spanischen Kolonisation deren Doppelstruktur bereits grundgelegt: einerseits ein gewisses abenteuerndes Haudegentum von organisierten, auf Beute ausgehenden, von der Krone legitimierten Banden, wie es bereits aus der spanischen Geschichte und dem ständigen Kampf gegen die Moslems bekannt war (nicht zufällig gab es in Spanien die erste, moderne Guerillabewegung, nämlich im Kampf gegen die napoleonische Besetzung, und das Phänomen der Guerilla ist ja bis heute ein Kennzeichen lateinamerikanischer Staaten).

180

Lateinamerika

Andererseits (und deshalb) wurde von Madrid aus eine bürokratischzentraliserter Apparat geschaffen, wobei die staatlichen Regulierungsbestrebungen z.T. nur Anspruch blieben - bis heute. Z.B. wurden die vom Kaiser und König in Madrid 1542 festgeschriebenen Mindestrechte für die Indianer fast ganz von den Siedlern vor Ort ignoriert, sie führten sogar zu einem Aufstand gegen Madrid, der nur dadurch eingedämmt werden konnte, daß 1546 auch formell ein Großteil der Bestimmungen zurückgenommen wurde. Das konnte die Bürokratie kaum zurückschrauben (erst der Import von Sklaven aus Afrika reduzierte die Ausbeutung der Indianer). Andererseits gelang es der Krone vom fernen Madrid aber doch, gewisse zukünftige Entwicklungen zu verbauen (teilweise mit soziopolitisch fatalen Konsequenzen). So konnte sie einem Feudalsystem in Lateinamerika lange Zeit erfolgreich entgegenwirken, das die monarchische Machtstellung relativiert hätte. Statt dessen wurde ein Verwaltungsapparat unter (von oben auswechselbaren) Vizekönige und Gouverneure geschaffen, vererbbare Privilegien wurden nach Möglichkeit vermieden (was aber auf Dauer nicht gelang). Auch bürgerlich-gewerbliche Kräfte wurden durch die allpräsente Bürokratie lange Zeit erstickt, denn Spanien sah in den Kolonien nur ein großes Rohstofflager, das es auszubeuten gelte. Es kam in den großen, östlichen Hafenstädten vorerst nur zu einem Handelsbürgertum (kein investierendes Bürgertum, wenig Handwerk und Verarbeitung). (Daß die Silberzufuhr nach Spanien durch Geldüberhang dort allerdings nur ständige Inflation bewirkte und die Industrialisierung dadurch erschwert hat - man konnte mit dem Silber ja im Ausland kaufen -, ist eines der paradoxen Effekte der Wirtschaftsgeschichte, zumal das Silber in die großen niederländischen und italienischen Finanz- und Handelszentren der Zeit abfloß und so eher im Norden Europas die gewerbliche Produktion ankurbelte.) Der spanische Zentralstaat hat zwar lange Zeit das Entstehen eines Bürgertums zumindest verzögert, aber das Entstehen eines quasi-feudalen System auf die Dauer nicht verhindern können. Es gab zwar keinen formellen Adel, aber durch faktische Landnahme konnten sich einige privilegieren und Großgrundbesitz aneignen, den sog. Latifundien (Haciendas), die bis ins 20. Jahrhundert hinein Wirtschaft und Politik lateinamerikanischer Staaten bestimmten. Der Großgrundbesitzer war im Prozeß der Modernisierung ein bremsendes Moment, da "Agrariern" nur begrenzt an Industrialisierung und Demokratisierung gelegen ist. Denn beide Prozesse würde ihre autokratische Stellung auf dem Lande gefährden: sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht (Industrie verdrängt die Bedeutung der Landwirtschaft, wie die Entwicklung der Industriestaaten zeigt) als auch in politischer Hinsicht, denn Industrie führt zu Menschenballungen in der Stadt, nicht auf dem Lande, und das städtische Proletariat fordert - zusammen mit dem Bürgertum - freie Wahlen, die die politische Einflußnahme des Großgrundbesitzes zumindest erschweren.

Lateinamerika

181

Was aus dieser gesellschaftspolitischen Konstellation übrigblieb, war ein unheilvolles Gemisch aus rudimentärem (Handels-)Bürgertum, hypertrophierter Bürokratie und agrarischem Großgrundbesitz. Lange Zeit konnte sich daher keine Koalition innovativer Schichten und Gruppen bilden, die wie in westeuropäischen Staaten oder wie in Japan seit 1870 die industrielle Entwicklung voranbrachten. Erst seit Beginn des Jahrhunderts, mit dem Industrialisierungschub in dessen erster Hälfte und auch mit der Entstehung von Parteien und Verbänden sowie insbesondere infolge der Verschuldungskrise der 1970er und 1980er Jahre, gibt es hier Verschiebungen zugunsten einer zivil-bürgerlichen Entwicklung. Dazu später mehr.

Das indianische Erbe Die weitgehend anarchischen und brutalen Eroberungen der Anfangszeit (die ähnlichen, von der Krone beauftragten, früheren Beutezügen gegen die spanischen Mauren entsprachen) führten zu einem starken Rückgang bei der indianischen Urbevölkerung - einerseits durch die Eroberungskriege, aber auch durch eingeschleppte Epidemien sowie durch ökonomische Ausbeutung. Die unterentwickelten Indianerkulturen auf dem Niveau von Naturvölkern in Nordamerika und im heutigen Brasilien überlebten die Invasionen nicht, während die zentralisierten Grollreiche der Inkas, Maya und Azteken widerstandsfähiger waren. Sie gingen zwar angesichts des spanischen Ansturms unter, weil man ihnen ihre Spitze nahm und weil sich gegen sie ein Teil der von ihnen unterworfenen Völker wandte. Aber kulturell-sozial blieben doch indianische Gesellschaftsstrukturen erhalten, die heute noch bei der indianischen Bevölkerung z.B. in Peru und Bolivien präsent sind. Z.T. haben sie sich eigentümlich mit der katholischen Religion vermischt, im 18. Jahrhundert gab es sogar noch ein lang anhaltende, organisierte Revolte der Indianer im heutigen Peru. Die Großreiche der Azteken und Inkas wurden von den Spaniern zerstört, allerdings bestand vom Großreich der Mayas, wie wir es aus den großen Tempelbauten kennen, bei Ankunft der europäischen Eroberer nur noch ein Rest auf der Halbinsel Yucatan. Das indianische Erbe wird heute auch offiziell von einige lateinamerikanischen Staaten als Bestandteil ihrer politischen Kultur betrachtet, z.B. in Mexiko. Das ist jedoch weitgehend Ideologie (im Sinne eines falschen Bewußtseins, wenn nicht sogar einer staatlich geförderten Lüge); die indianische Tradition manifestiert sich eher im Widerstand z.B. südmexikanischer Indianer (in Chiapas) gegen die kreolisch dominierte Politik Mexikos. (Kreolen = in Lateinamerika geborene Spanier).

182

Lateinamerika

Der Prozeß der Emanzipation von Spanien Schon im 18. Jahrhundert begannen sich die zuvor bürokratisch und merkantilistisch regulierten Beziehungen zwischen Mutterland und überseeischen Kolonien zu lockern. Das hatte mehrere Ursachen: Kreolische Schichten und immer mehr Weiße wurden in Lateinamerika geboren - strebte nach mehr Eigenständigkeit, was zunächst einmal nicht unbedingt mit Unabhängigkeit gleichzusetzen ist. Die Ideen der Aufklärung begannen auch hier zu wirken. Es entwickelte sich ein eigenes, kreolisches Selbstbewußtsein, das sich explizit von den ihnen gegenüber oft arroganten Spaniern abgrenzte. Dieser Prozeß ging einher mit analogen Liberalisierungen im spanischen Königreich, das nach den Erbfolgekriegen von den Bourbonen - meist rationalistisch aufgeklärten und reformwilligen Königen - beherrscht wurde. Diese Liberalisierung hatte zwei Gesichter: a) Angesichts der finanziellen und ökonomischen Krise des Landes leiteten die Bourbonen eine administrative und wirtschaftspolitische Reform in die Wege, um die Wirtschaftskraft zu heben. Zu diesem Zweck wurde der Handel Spanien - Lateinamerika liberalisiert, was einen erheblichen Aufschwung bewirkte; allerdings langfristig das (spanische) Bürgertum schwächte, das sich lediglich als Händler nach außen wandte und durch diese Außenorientierung den Kampf für eine bürgerlich-industrielle Gesellschaft in Spanien selbst hintanstellte. Die Liberalisierung führte vorderhand zu einer allgemeinen Wohlstandssteigerung in den Kolonien, die mit zum Streben nach Eigenständigkeit beitrug. Aber dieser Wohlstand war nur auf den ersten Blick gesund. Hier kommen wir nun auf den zweiten Aspekt zu sprechen: b) Denn der interkontinentale Handel war asymmetrisch: Die Kolonien mußten im Sinne Merkantilismus vor allem Rohstoffe und wenig verarbeitete Produkte liefern; das sollte mit einer Straffung und erhöhten Durchsetzungsfähigkeit des bürokratischen Apparates erreicht werden. Diese Maßnahmen des Mutterlandes wurden in Lateinamerika abgelehnt, weil sie einerseits die Kolonien in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung beschränkten und weil sie andererseits, insbesondere was die modernisierenden Reformen betraf (z.B. Verbot des Jesuitenordens) von den Konservativen Lateinamerikas ausgesprochen skeptisch betrachtet wurden. Hier wird nochmals die bereits früh angelegte Ambivalenz der bald folgenden, lateinamerikanischen Unabhängigkeitsprozesses gegenüber Spanien deutlich, einer Unabhängigkeit, die die Elite nicht wollte, denn sie war kreolischspanischstämmig und wußte von der legitimierende Kraft der Krone; die sie aber auch wegen der Reformen aus Spanien nicht ausschloß. Wegen dieser Ambivalenz wäre es wohl auch nicht ohne Napoleon zur Unabhängigkeit gekommen, denn große Teile der herrschenden Schicht waren mit dem gesellschaftspolitischen status quo durchaus einverstanden.

Lateinamerika

183

1808 wurde Spanien von Napoleon besetzt, es fehlte nun eine von den Spaniern auch in Lateinamerika als legitim anerkannte Regierung und monarchische Spitze. Statt dessen bildeten sich in Spanien und in Lateinamerika Juntas, die - im Widerstand gegen Napoleon - die Regierungsgewalt auszuüben trachteten. Eine Loslösung von der bourbonischen Monarchie war dabei sehr umstritten, denn Aufstandsbewegungen gegen das spanische Königreich, wie sie nun nach 1808 allgegenwärtig in Südamerika ausbrachen, drohten auch die Machtbasis der kreolischen Oberschichten zu bedrohen (wie es sich in der folgenden, anarchischen P h a s e auch z u m Teil bestätigt finden sollte). Ein Moment der Unabhängigkeitsbewegung war dann aber die Wiedereinführung der liberalen Verfassung 1820 in Spanien, was die Kreolen um ihre Privilegien fürchten ließ. Zugespitzt formuliert: Der P r o z e ß der außenpolitischen Unabhängigkeit Lateinamerika wandte sich nicht nur gegen Spanien, sondern auch gegen Westeuropas Liberalismus und Demokratie überhaupt. Nation und Demokratie bilden in Lateinamerika keine Einheit. Dadurch wurden und werden sowohl die Demokratie als auch die Nation geschwächt. Das Ergebnis ist paradox: Die Unterentwicklung Lateinamerikas, potenziert durch die Unterentwicklung Spaniens, wurde durch den Emanzipationsprozeß konserviert, wenn nicht sogar forciert. Der Unabhängigkeitsprozeß verlief in Südamerika daher nur halbherzig, im Gegensatz z u m radikalen, gesellschaftsrevolutionären Bruch in Frankreich z.B.; die sozialen Strukturen wurden kaum verändert und in der folgenden Zeit der Anarchie sogar eher noch im traditionellen Sinne verfestigt. In dieser Ambivalenz zwischen Kolonialreich und Unabhängigkeit waren e s dann schließlich zwei große Heerführer, die - begleitet von indianischen und Unterschichten-Aufständen - die Unabhängigkeit von Spanien seit ungefähr 1822 militärisch erzwangen: Simon Bolivar und Jose de S a n Martin. Damit wurde jedoch nur das Ideal des abenteuernden Haudegen aus der Frühphas e der Eroberung revitalisiert - und das des Caudillo, wie er nun im 19. Jahrhundert dominant in Erscheinung treten sollte. (Nur in Brasilien verlief die Entwicklung anders, die Monarchie blieb bis 1889 an der Macht und ersparte dem Land die anarchische Phase, in die nun das restliche Lateinamerika fiel).

Der Caudillo Seit 1820 begannen sich die Staaten Lateinamerikas zu formieren, allerdings oft nur mit effektiver Herrschaftsausübung im größeren Umfeld der Hauptstadt, so z.B. im späteren Argentinien. Der Großteil des Landes wurde von regionalen Heer- oder besser Bandenführern (Caudillos) faktisch beherrscht. Die mit ihnen verbundenen, großagrarischen Interessen wollten

184

Lateinamerika

sich nicht den Interessen der Hauptstadt unterwerfen, in der d a s liberale Handels-Bürgertum den Ton angab. Caudillos - Nachfahren der Ritter - waren die einzigen, die in diesen Zeiten der Anarchie und erst rudimentär entwickelter Staatlichkeit zu Ordnungselementen wurden - einer Ordnung, die allerdings durch die Art dieser Herrschaft bereits den Keim der Anarchie in sich trug. Denn die Ordnung war im wesentlichen abhängig von den Führungsqualitäten und dem Durchsetzungsvermögen dieses einen Caudillo, und wenn diese nachließen, so drohte das C h a o s erneut. Das in dieser Form nur in Lateinamerika bekannte Phänomen des Caudillismo ist auch nur vor dem Hintergrund der Gesellschaftsstruktur dieses Kontinents verständlich: der Caudillo ist Teil des autokratischen Systems, wie es von der Einheit: Hacienda und dem patrón repräsentiert wird. Der Caudillo war quasi das politische und militärische Pendant zum patrón und arbeitete meist eng mit diesem zusammen. Der patrón war der patriarchalis c h e Herr des gutsartigen Komplexes, den wir "Hacienda" nennen; diese Funktion umfaßte wirtschaftliche, soziale und auch private Angelegenheiten der Einwohner der Hacienda. Waldmann definiert "Caudillismo (als) einen Typus autoritärer Machtausübung, die nicht institutionell verankert ist, sondern primär auf persönlichen Führungsqualitäten beruht." (P. Waldmann, Unabhängigkeitsbewegung und Bürgerkrieg, in: Lateinamerika, Bonn 1990, S. 9) Er setzte die Tradition der Eroberer fort. Er entsprach auch dem spanischen Männlichkeitsideal, wie er bis heute z.B. in den Stierkämpfen z u m Ausdruck kommt: der einsame Reiter, der - begleitet von einer Schar ebenso wild entschlossener Anhänger - durch die Weiten der Steppen eilt, um gegen eine Welt von Feinden zu kämpfen.

Exkurs Das bis heute virulente caudillo-ldeal trug mit zur Instabilität der Demokratie in Lateinamerika bei. Es gehörte lange Zeit zur Normalität, daß das Militär putschte. Und manche Parteivorsitzende und Präsidenten fühlen sich bis heute als eine Art von caudillo, als charismatische Führer, die um sich Anhänger (Klientel) schaffe, für das sie wie ein Vater sorgen und das sie beschützen - bis zur Patronage und bis zur Korruption. Parteien sind in Lateinamerika weniger ideologisch ausgerichtet, als auf solche Klientel - in und zwischen den Parteien. Auf dem Teil-Kontinent ist es immer noch wichtiger, nicht, wie im Kapitalismus Gewinn zu akkumulieren, sondern die Zahl der Freunde: Viel Freund, viel Ehr - durchaus auch im quantitativen Sinne.

Lateinamerika

185

Phase der Staatenbilduna im 19. Jahrhundert Die Staatenbildung begann vor allem mit der Schaffung einer professionalisierten Berufsarmee, was militaristische Prägung dieser Gesellschaften förderte. (Militarismus = Gestaltung wesentlicher politischer und sozialer Bereiche einer Gesellschaft nach militärischen Prinzipien auch über den engeren militärischen Kreis hinaus). Denn aus den Bürgerkriegen und Kämpfen der caudillos ging meist ein Diktator hervor, der das Land integrieren konnte, und dieser Diktator war allein aus Gründen des Selbsterhaltes am Aufbau einer funktionsfähigen Armee interessiert. Diese ursprünglich staatskonstitutierende Bedeutung des Militärs mag mit zu den ständigen militärischen Interventionen und Putschen im 20. Jahrhundert mit beigetragen haben. Die Stabilität der Staaten litt allerdings - neben inneren Wirren - unter dem starkem ökonomischen Einfluß Großbritanniens und später der USA, die auch zahlreich militärisch sowie politisch intervenierten. Die wirtschaftliche Durchdringung von außen erschwerten ein eigenständiges Wachstum und eine langfristig ausgewogene Entwicklung wie z.B. in Großbritannien oder in den USA. (Allerdings bestand diese Gefahr im Deutschen Bund nach 1815 angesichts der überlegenen englischen Konkurrenz auch, nur daß hier das Bürgertum bereits stark genug war, um sich dagegen zu wehren, u.a. durch den Zollverein von 1833.) Es bildeten sich in den Staaten zunächst so etwas wie Honoratiorendemokratien heraus. Soziale Basis war die Mittelschicht in den Hauptstädten: Kaufleute, Ärzte, Rechtsanwälte und die z.T. und zeitweise in der Stadt wohnenden Großgrundbesitzer. Mit dem Entstehen eines Proletariats und von Gewerkschaften sowie von Arbeiterparteien wandelte sich dieses Honoratiorensystem seit Beginn des 20. Jahrhunderts in ein konkurrenzorientiertes Parteiensystem meist mit zwei großen Parteiblöcken, die um die Macht rangen, durchaus bereits in freien Wahlen: im 19. Jahrhundert Konservative gegen Liberale (diese antiklerikal), im 20. Jahrhundert die Bürgerlichen (oft als christdemokratische Parteien) gegen die Arbeiterparteien. Die in Lateinamerika durchweg starken Präsidenten (Präsidialrepubliken wie in U S A ) hatten oft die Aufgabe, vermittelnd zwischen diesen Blöcken zu wirken. Allerdings blieben die hehren und mit viel Pathos verkündigten Verfassungen oft nur Papier. Einher gingen diese politischen Änderungen mit einer zunehmenden Industrialisierung auch im verarbeitenden Bereich, die nun nicht mehr nur export, sondern auch binnenmarktorientiert war. Dieser Trend wurde verstärkt durch die beiden Weltkriege, die die Exporte nach Europa fast zum Erliegen brachten. Die Industrialisierung führte zu einem Erstarken der Arbeiterparteien und zu "linken" Bewegungen, wie wir sie in der Form des Peronismus noch kennen lernen werden. Das "Land" verlor relativ an Bedeutung, die großen und größer werdenden Hauptstädte wurden nun eindeutig zu den

186

Lateinamerika

Zentren der Politik. In einigen Staaten kam es zu einer auch familialen Verbindung von agrarischer und städtischer Elite. Die städtischen Eliten waren allerdings weiterhin eher durch den tertiären Sektor bestimmt (Lehrer, Ärzte, Kaufleute), weniger durch Unternehmer. Tertiäre Eliten zeichnen sich dadurch aus, daß sie vom Staat leben und daher ihn auszubeuten trachten ("Staatsklasse"). Sie leben von einer Art von Rente, die nur reproduktiv ist, nicht produktiv. Kapitalistische Unternehmer sind demgegenüber produktiv und investiv tätig, sie beuten höchstens ihre Arbeiter aus. Die neuen Schichten verlangten nach demokratischer Teilhabe, die ihnen im Verlaufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch gewährt wurde. Es gab also bis in die 20er Jahre hinein durchaus Ansätze zu einer demokratischen Entwicklung in Lateinamerika - zumindest in einigen Staaten.

Diktaturen und deren Scheitern: Das Wiederaufleben des Caudillo? In einer Reihe von lateinamerikanischen Staaten kam es als Folge der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahren zu diktatorischen Regimen, die - mit demokratischen Zwischenphasen - letztlich bis Ende der 70er Jahre dieses Jahrhunderts andauerten. Erklärt werden kann das Entstehen dieser Diktaturen Phase mit ähnlichen Ursachen wie die Diktaturen in Mittel-, Süd- und Osteuropa im Verlaufe der 20er und 30er Jahre, nämlich mit den Destabilisierungen infolge der Wirtschaftskrise und den wenig entwickelten, demokratischen Traditionen, die im Gegensatz zu den alten Demokratien Großbritanniens und der USA - die erheblichen, krisenbedingten Konflikte nicht im Rahmen eines funktionierenden Parteiensystems zu verarbeiten vermochten. Daß dabei auch die caudillo-Tradition mitwirkte, liegt nahe, wenn auch der caudillo des 19. Jahrhunderts in Gestus und Verhalten nicht mit dem des 20. Jahrhunderts zu vergleichen ist. Aber Tradition wirkt unabhängig von der Form, dadurch aber nicht weniger intensiv, vielleicht sogar durch eine gewisse Mythisierung in der "Zweitversion" stärker als das Original. (Z.B. griff die Französische Revolution von 1789 auf antikische, wahrscheinlich gänzlich mißverstandene Vorbilder zurück, mit erheblichen Konsequenzen.) Daß diese Diktaturen dann im Gegensatz zu Europa über 1945 fortbestanden, liegt an der schlichten und einfachen Tatsache, daß sie keinen Krieg verloren hatten, vielmehr zur gewinnenden Anti-Hitler-Koalition gehörten und Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen wurden. Die USA stützen die Diktaturen vor allem in den 60er Jahren. Zuweilen wandten sie sich gegen sie (so Präsident Carter Ende der 70er oder Roosevelt/Truman zeitweise gegen Peron, siehe unten). Zuweilen kamen sie auch mit indirekter oder auch offener Hilfe der Vereinigten Staaten an die Macht (seit 1973 Pinochet im Chile der 1970er/80er Jahre). Aber das zentrale Problem waren weniger die Interventionen der USA, sondern deren relatives Desinteresse gegenüber Lateinamerika: Lateinamerika war nicht kommuni-

Lateinamerika

187

stisch oder sonstwie bedroht (abgesehen von Castro, s.u.), auch wenn das immer wieder propagandistisch behauptet wurde. Sicherheitspolitisch war der Subkontinent bedeutungslos, so daß man ihn in den USA eher dem nicht nur segensreichen Wirken von US-Multis überließ. Gegenüber dem bedrohten Westeuropa und Japan hatten man im Gegensatz hierzu ein klares gesellschaftspolitisches Reformkonzept, das diese Gesellschaften zu deren Vorteil demokratisierte und ökonomisch modernisierte. Es gab auch keinen Anlaß für Interventionen auswärtiger Mächte wie in Europa, da die lateinamerikanischen Diktatoren nicht wie der europäische Nationalsozialismus oder japanische Faschismus außenpolitisch aggressiv waren. Sie unterschieden sich ohnehin in vielfältiger Hinsicht von faschistischen Systemen und erst Recht vom Nationalsozialismus. Diese diktatorischen Regime dürfen jedoch nicht vergessen lassen, daß in anderen Staaten des Kontinents, z.B. in Kolumbien, der traditionelle, oligarchische Elitenkonsens (zwischen Stadt/ Bürgertum und Land/ Agrararistokratie) in (schein-)demokratischen Formen erhalten blieb, wahrscheinlich deshalb, weil die Arbeiterbewegung hier noch nicht so stark war. Die beide Elitefraktionen wechselten sich von Legislaturperiode zu Legislaturperiode in der Machtausübung ab - unabhängig von den Wahlergebnissen. Auch das Regierungssystem der Institutionalisierten Revolution in Mexiko unter der Dominanz der PRI-Partei ist nicht einfach als "diktatorisch" zu klassifizieren. Dazu mehr unten.

Verschuldunqkrise und Liberalisierung: Ausweg aus der Krise Zwar gab es in Brasilien und - bedingt - in Argentinien und auch in Chile in den 50er und 60er Jahre demokratisch gewählte Präsidentschaften, ihre Instabilität erwies sich jedoch mit den Militärputschen in fast allen amerikanischen Staaten seit Mitte der 60er Jahre, die das Erbe der Militärdiktaturen seit den 30er Jahren fortsetzten. Diese Militärdiktaturen schienen - so ihre Ideologie - zunächst durchaus erfolgreich, sie legitimierten sich über erstaunliche Wachstumsraten des Bruttosozialproduktes (teil- und zeitweise über 10 Prozent je Jahr, vor allem in der erste Hälfte der 70er Jahre). Sie rechtfertigten die Ausschaltung demokratischer Prozesse mit einer technokratischen Ideologie der Herrschaft durch Sachverständige. (Der Positivismus eines Auguste Comte ist auch heute noch in Lateinamerika präsent; es gibt sogar positivistische Kirchen). Die erneute Weltwirtschaftskrise seit 1975ff. brach ihnen daher auch das politische Genick, die Regime erwiesen sich der Propaganda zuwider als nicht effektiv; und es kam in den 80er Jahren zu einer allgemeinen Redemokratisierung, die nun dauerhafter zu sein scheint, da nun internationale Akteure, insbesondere der Internationale Währungsfonds und hinter ihm die

188

Lateinamerika

USA, diesen Prozeß positiv, auch in ökonomischer Hinsicht, begleiten. (Nur in Peru besteht heute ein diktatorisches Regime). Der auf den ersten Blick nicht ersichtliche Zusammenhang von Internationalem Währungsfonds und Demokratisierung ist wie folgt begründet: Die Wirtschaftsstrategie des Kontinents hieß seit der Weltwirtschaftskrise Importsubstitution. Da man kaum noch nach Europa exportieren und von dort importieren konnte - die Weltwirtschaftskrise, die um sich greifenden Protektionismen und dann der Zweite Weltkrieg ließ die Märkte zusammenbrechen -, begann man, die erforderlichen Produkte in den Staaten selbst herzustellen, die Einfuhren durch Eigenproduktion zu ersetzen (Importe zu "substituieren"). Dadurch begann ein intensiver, binnenwirtschaftlicher Produktionszyklus, der die Teilindustrialisierung eines Großteils der lateinamerikanischen Länder bewirkte und bis in die 70er Jahre hineinreichte. Die zeitweiligen Erfolge dieser Strategie können jedoch die Probleme nicht verdecken: Sie bestehen in einem außenwirtschaftlichen Schutz der neuen Industrien durch hohe Zölle, die zwar - so die Theorie - junge Industrien evt. angesichts übermächtiger ausländischer Konkurrenz erst überlebensfähig machen, bei "ausgereiften" Industrien jedoch nur einen "Schlafkissen'-Effekt hervorrufen: Derart gut geschützt, kann man sich auf dem Erreichten ausruhen und Innovationen, die ja immer anstrengen, unterlassen. Auf die Dauer veralteten diese Industrien und wurden international wettbewerbsunfähig. Das war und ist auch deshalb problematisch, weil die Exportfähigkeit dieser Industrien zurückging. Dadurch gingen auch die Deviseneinnahmen zurück, so daß nicht mehr genügend Importe getätigt werden konnten. Importe von Rohstoffen und von hochtechnologischen Produkten braucht man jedoch für jede Industrialisierung, auch für die im Rahmen der Importsubstitution. Die Folge: Man führte auf Pump ein, mit der Folge einer erheblichen Verschuldungskrise der Staaten Lateinamerikas. Allein Mexiko hatte Mitte der 80er Jahre 100 Milliarden Dollar Auslandschulden. Das war die eine Fehlentwicklung infolge dieser Strategie. Die andere Seite bestand darin, daß die Protektion der jeweiligen nationalen Wirtschaft nur in enger Kooperation von nationaler Wirtschaft und nationalem Staat möglich war. Nur der Staat verfügt über die administrativen Instrumente außenwirtschaftlicher Abwehr (Zölle, Kontingente, usw.). Dieses wechselseitige Geflecht förderte wiederum die Bürokratisierung und auch die Korruption, so daß ein klientelistisch und korporatistisch verwobener staatlich-industrieller Komplex entstand, in dem sich die beiden Hinkenden (schwacher Staat und eine nicht wettbewerbsfähige Industrie) wechselseitig stützten, so aber auch nicht stärker wurden, eher umgekehrt. Gefördert wurde dies durch den allgemeinen Trend zu einer Überbürokratisierung dieser Staaten und zu einem Aufblähen des (administrativen) Dienstleistungssek-

Lateinamerika

189

tors (bei wenig produktiver Industrie), in den die Klientelketten ihre Anhänger zur materiellen Versorgung unterbringen. Die Verschuldungskrise zeigte, daß das kein dauerhafter Zustand sein konnte. Von innen her schienen sich diese Gesellschaften jedoch kaum reformieren zu können, dazu waren die Verflechtung von Bürokratie und Wirtschaft zu eng, das hatten auch sowohl die demokratischen als auch die diversen diktatorischen Experimente gezeigt, auch die demokratischen, weil sich hier z.T. die Einzel- Interessen noch weitaus freizügiger entfalten konnten. An dieser Stelle wird nun der Internationale Währungsfonds bedeutend, denn er ist die zwischenstaatliche Instanz, die verschuldeten Staaten durch (weitere) Kredite helfen kann, um sie vor der gänzlichen Zahlungsunfähigkeit und damit vor dem wirtschaftlichen Kollaps zu bewahren. Der IWF vergibt allerdings nur Kredite gegen Auflagen, wie ja auch jede sonstige Bank Kredite nur vergibt, wenn sie sich vorher der Kreditwürdigkeit des Kreditnehmers versichert hat, und wenn es hier Zweifel gibt, werden Sicherheiten verlangt: Hypotheken auf Grundstücke und sonstiges Vermögen, Bürgschaften von Kreditwürdigen oder des Staates, usw. Gegenüber Staaten verlangt der IWF als Sicherheit bestimmte innerstaatliche und binnenwirtschaftliche Reformmaßnahmen, die eine nochmalige Auslandsverschuldung strukturell, d.h. auf Dauer verhindern sollen. Dazu gehören: Erhöhung der Exporte und Verringerung der Importe (um Devisen zum Schuldenabbau zu verdienen), Abwertung der Währungen, um den Export zu steigern; Effektivierung der wirtschaftlichen Produktion; usw. Das ist jedoch nur dann gesichert, wenn sich der Staat aus der Wirtschaft zurückzieht und diese nach betriebs- und marktwirtschaftlichen und nicht mehr nach protektionistischen Kriterien geführt wird. Das heißt: Privatisierung und Liberalisierung der Wirtschaft sowie Einschränkung der staatlichen Macht. Mit dem Zurechtstutzen des staatlichen Dienstleistungssektors wird auch den Klientelketten die materielle Basis entzogen, es kommt zu einem evt. freien Wettbewerb der Parteien und zu einer offenen Konkurrenz in der Wirtschaft, was - so die Hoffnung - Demokratie und wettbewerbsfähigen Export erleichtert. A m Beispiel Mexikos hat sich diese These als richtig erwiesen. Denn der so geschaffene, gesellschaftliche Freiraum ist zugleich auch der Raum, in dem sich zivilgesellschaftlich ein freies, industrielles Bürgertum herausbilden kann, das - wie in Westeuropa - Demokratie trägt. Daraus ergebt sich vielleicht eine Zukunft für Lateinamerika, die jenseits von Caudillo, Diktatur und Überbürokratisierung liegt - und eine Außenpolitik hervorbringt, die auf ökonomische Interdependenz und damit Frieden setzt, statt auf Haudegentum. Die Paradoxie dieser Strategie ist, daß ein caudillo klientelistische CaudilloBeziehungen aufbricht. Denn der IWF und die hinter ihm stehenden USA werden in Lateinamerika eher als caudillos gesehen und nicht als außenpo-

190

Lateinamerika

litische Partner. Letztlich sehen sich die Eliten lateinamerikanischer Staaten als Teil einer Klientel-Kette, die ihre Spitze in Washington hat (wo auch der IWF sitzt) und der man sich verpflichtet fühlt (weil dieser einen beschützt und auch Kredite bereitstellt). U.a. so läßt sich die erstaunliche Folgsamkeit gegenüber dem IWF erklären: man schimpft zwar auf ihn - nach außen hin folgt ihm aber nur zu willig, weil die lateinamerikanischen Eliten zu gut wissen, daß nur strukturelle Reformen im Inneren diesen Gesellschaften helfen können. Und sie glauben, daß das nur mit externen Anstößen zu realisieren ist.

Diktaturen in lateinamerikanischen Staaten (Auswahl) Das gesamte 19. Jahrhundert war mehr oder weniger von autoritären Regimen gekennzeichnet. 1891/4 1948 1944 1930 - 1 9 4 5 1927 - 1 9 3 1 1940 - 1 9 4 4 seit 1959 1930 - 1 9 6 0 1829/9 1864/71 1937 - 1 9 3 9 1930-1945 1948/1979 1948-1958 1954-1966 1950-1986 1961-68 1972-76 1964-1988 1976-1982 1973-1984 1982

Diktatur Peixotos in Brasilien Militärputsch in Venezuela Militärputsch in Argentinien, 1945 bis 1955 Diktatur Perons Diktatur Vargas in Brasilien Diktatur Ibanez in Chile Diktatur Batista, auch 1952 - 1959 Diktatur Castros auf Kuba Diktatur Trujillo in der Dominikanischen Republik Diktatur des Präsidenten Santa Cruz Diktatur von General Mariano Melgaejo in Bolivien Militärputsch in Bolivien Diktatur von Vargas in Brasilien Militärputsch in El Salvador Militärregierung in Venezuela Militärregierung in Guatemala Militärregierung und Diktatur Duvalier in Haiti, danach C h a o s Wechsel Militärs - Politiker in Ekuador Militärdiktatur in Ekuador Militärdiktatur in Brasilien Militärdiktatur in Argentinien Militärdiktatur in Uruguay Putsch in Guatemala

Anmerkungen: Der Begriff der Diktatur wird hier im weitesten Sinne als Gegentyp zur parlamentarischen Demokratie verwandt. Die Übersicht stellt nur eine Auswahl dar: Oft sind die Grenzen zwischen zivilen und militärischen Regimen fließend, z.B. die Herrschaft von Militärs

Lateinamerika

191

aus der Kulisse über politische Strohmänner (vor allem in den mittelamerikanischen Kleinstaaten, die nicht umsonst zuweilen "Bananenrepubliken" genannt werden, auch wegen des großen Einflusses us-amerikanischer Multis). Generell kann gesagt werden: daß diese mittelamerikanischen Staaten und der große Teil der südamerikanischen Staaten von den 60er bis Ende der 80er Jahre diktatorisch von Militärs regiert wurden. Seitdem ist eine allgemeine Redemokratisierung zu verzeichnen.

Politische Kultur und Außenpolitik in Lateinamerika: ein Überblick Politische Kultur

Außenpolitik

Bürokratisierung

Legalismus

anarchische Eroberung

außenpolitische Caudillos

Caudillos

Orientierung auf USA und IWF; Guerilla-Außenpolitik

Klientelismus

außenpolitische Patronagen; Interventionen der USA

Lateinamerika - Amerika insgesamt - ist wohl der friedlichste Kontinent (im Gegensatz zum Bürgerkriegs-Kontinent Schwarzafrika; im Gegensatz zum Ursprungs-Kontinent der Weltkriege: Europa; und in Asien sind zumindest Japan sowie islamische Staaten als Kriegsverursacher zu nennen): Es gibt in Lateinamerika nur wenige zwischenstaatliche Kriege (siehe Kasten), und Bürgerkriege sind seit der Stabilisierung der neuen Staaten gegen Ende des 19. Jahrhunderts kaum zu verzeichnen. Allerdings gibt es eine lange Tradition des Guerilla-Kampfes, die wir oben schon im Zusammenhang mit dem Phänomen des Caudillos erörtert haben. Dafür gab es um so mehr Diktaturen. Und hiermit hängt vielleicht zusammen - darauf wird noch näher einzugehen sein -, daß es eine Reihe von FastKriegen gibt, von zwischenstaatlichen Spannungen; von kleinen Kriegen, die aber so schnell wieder beendet werden wie sie begonnen wurden - letztlich militärische Auseinandersetzungen, deren rationalen Sinne man nur schwer nachvollziehen kann. Es sind Kriege als außenpolitische Guerilla-Aktionen: kurz zuschlagen, um sich dann ebenso schnell wieder zurückzuziehen.

Lateinamerika

192 Kriege in Lateinamerika 1825/28 1851/2 1865/70

1828 + und 1839 1879

1932-1935 1932-1934 1938

Brasilianischer Krieg gegen Argentinien um den Besitz Uruguays, Niederlage Brasiliens, Unabhängigkeit Uruguays Brasilien unterstützt die Liberalen Argentiniens militärisch Brasilien, Argentinien, Uruguay im Krieg gegen Paraguay (einer der wenigen Vernichtungskriege Lateinamerikas, die aufgrund der Hartnäckigkeit des paraguayanischen Diktators zu einer fast gänzlichen Ausrottung der Bevölkerung Paraguays führt. Krieg Boliviens mit Peru und Chile Salpeterkrieg Bolivien + Peru im Krieg mit Chile, Chile gewinnt, Bolivien verliert den territorialen Zugang zum Pazifik (u.a. mit wichtigen Salpeter-Vorkommen) Chaco-Krieg Bolivien - Paraguay, Niederlage Boliviens Grenzkonflikt Peru-Kolumbien Grenzkonflikte Peru - Ekuador, auch später noch

Nach 1945 gab es eher zwischenstaatliche Konflikte und Dispute, keine Kriege im traditionellen Sinne, höchstens sog. (kurzfristige) Operetten-Krieg, (siehe unten) Vor allem kam es im 19. Jahrhundert zu Kriegen, als sich die Staaten Lateinamerikas erst noch territorial formieren mußten. Schindler führt diesbezüglich für die Zeit nach 1945 an: "Internationale Ebene * Chilenisch-sowjetischer Streit um die Ehefrauen von Botschaftsangehörigen (1946 - 49) * Der Konflikt um die 200-Seemeilenzone zwischen Peru, Ecuador und den U S A (1969-74) * Umstrittene Gebietsansprüche in der Antarktis zwischen Großbritannien, Argentinien und Chile (1956 - 1959) * Der Falkland/-Malwinen-Konflikt (seit 1965) * Der Kampf um die Unabhängigkeit Britisch-Guyanas (1953 -1966)

Zwischenstaatliche Ebene * Offene Grenzfragen zwischen Chile und Argentinien (1902 - 1994) * Der Streit um das Asyl von Haya de la Torre in der kolumbianischen Botschaft in Lima

Lateinamerika

193

* Der kolumbianisch-venezolanische Disput um die Monjes-Inseln (seit 1952) * Der Konflikt um das Amazonasgebiet zwischen Ecuador und Peru (seit 1953) * Der Disput zwischen Chile und Argentinien um den Beagle-Kanal ( 1 9 5 8 - 85) * Der Konflikt zwischen Bolivien und Chile um die Wasserableitungen des Laucaflusses (21. März 1962 - 1964) * Der Grenzstreit um den Paranafluß zwischen Brasilien und Paraguay (1962 - Mitte der 80er Jahre passiv beigelegt) * Der Konflikt zwischen Venezuela und Guyana um das Grenzgebiet des Essequibo (seit 1962, Mitte der 90er Jahre passiv beigelegt) * Der Disput um den bolivianischen Meereszugang zwischen Bolivien, Chile und Peru (seit 1964) * Der Grenzstreit am Rio de la Plata zwischen Argentinien und Uruguay. (1969-1973)" (H. Schindler. Konflikte in Südamerika, Münster 1998, S. 202)

Guerilla-Kämpfe, Bürgerkriege u.dgl. in Lateinamerika 1780/81 Aufstand der Indianer unter Tupac Amaru im heutigen Bolivien und Peru (als dem Gebiet des ehemaligen Inka-Reiches); überhaupt zahllose Aufstände gegen die spanischen Kolonialherren seitens der Kreolen, der Indianer und der schwarzen Sklaven 1813/15 Indianeraufstand unter Pumagua 1822 Aufstand in Potosi 1892 Indianischer Aufstand in Bolivien 1896 Aufstand der Jaguncos in Brasilien (Bahia) 1927 Indianeraufstände und Studentenrebellionen in Bolivien 1948 Kommunistische Unruhen in Kolumbien 1947/8 allgemeine Aufstände, auch der Indianer, in Bolivien - 1952 antifeudale Revolution in Bolivien

Schindler listet für die Zeit nach 1945 folgende, interne Konflikte auf: " *Die bolivianische Revolution (21. Juli 1946 - 1 2 . April 1952) *Der Bürgerkrieg und Machtkämpfe in Paraguay (1. Phase: Januar bis August 1947; 2. Phase: 1958 - 1 9 6 0 ) *Der Umsturzversuch der APRA in Peru (Frühjahr 1948 - 4.0kt. 1948) *Der Bürgerkrieg in Kolumbien (1958 - 1 9 5 8 ) *Die Guerilla in Venezuela (1960 - 1 9 6 9 ) *Die kolumbianische Guerilla und der Kampf gegen die

194

Lateinamerika

Drogenkartelle (seit 1961) *Che Guevara in Bolivien (23.3.1967 - Nov. 1967) *Die Tupamaros in Uruguay (1964 -1974) *Die Montoneros in Argentinien (1969 - 77) •Regimekrisen in Chile (1970 -1973) *Der Leuchtende Pfad in Peru (seit 1980) *lnterne Konflikte in Surinam (1986 -1992, 1994 ff.)." (Schindler, a.a.O., S. 202) Mehr als 60 Prozent der Konflikte sind interne Konflikte.

Anmerkungen: Die Konflikte sind nur z.T. zeitlich genau zuzuordnen; 1940er/Anfang 50er gab es Bürgerkriege in Paraguay und in Kolumbien, in den 60er und 70er Jahren Guerilla in Venezuela, Bolivien (Che Guevara) Uruguay (Tupamaro), in Argentinien (Montoneros), in Kolumbien (M-19), danach auch in Peru ("Leuchtender Pfad"). Ende er 80er, zu Beginn der 90er Jahre haben sich z.T. die Guerilla-Bewegungen wieder in das formelle Parteiensystem integriert und nahmen an Wahlen teil. Resümee: Wenig Kriege, viele Bürgerkriege und viele Diktaturen.

Ehe wir auf die Guerilla-Kriege eingehen, die vor dem Hintergrund der politischen Kultur besonders interessieren, noch einiges zu der Frage, warum es so wenige Kriege im "europäischen" Sinne gab. Ich vermute - und mehr als plausible Vermutungen können bei so komplexen Zusammenhängen nicht gewagt werden -, daß das mit der inneren Schwäche lateinamerikanischer Staaten zusammenhängt. Sie sind nur ansatzweise Nationen im westeuropäischen Sinne, mit Bevölkerungen, die sich z.T. nicht mit ihren politischen Gemeinwesen identifizieren und sie dadurch sozialpsychologisch schwächen. Man identifiziert sich bis heute immer eher noch partikularistisch mit einem Klientel, seinem Clan. Parteien mit programmatischer Ausrichtung sind wenig ausgebildet (auch wenn sie alle ideologische Etikette tragen: Christ-/Sozialdemokraten usw.), so daß stabile Organisations- und Artikulationsformen in der Politik fehlen. Die mangelnde Strukturiertheit der Politik erklärt auch die zahlreichen Militärputsche. Dieser schwache Staat kann auch nicht auf starke Ökonomien zurückgreifen, die ihm große Kriege erlauben würde. Also läßt man es. Zweite Ursache könnte die Dominanz der U S A sein, die durch ständiges Intervenieren für Frieden sorgten. Die U S A (und im letzten Jahrhundert Großbritannien) waren auch in dieser Hinsicht so etwas wie eine Art von internationalem Caudillo, der die Staatenanarchie überwindet.

Lateinamerika

195

Der schwache Staat in Lateinamerika, der den großen Krieg nur schwerlich führen kann, macht allerdings auf der anderen Seite den Guerilla-Krieg verständlich: Denn gerade schwache Staaten bedürfen eines Mehr an Legitimation seitens der Bevölkerung, als z.B. die englische Monarchie, die seit Jahrhunderten besteht sowie sich bewährt hat und auch von Lady Dies nicht beschädigt werden kann - allem Gerede auch in Großbritannien zuwider. Diese Legitimation kann sich Politik in Lateinamerika nur begrenzt durch Leistung verschaffen (z.B. durch ein Sozialversicherungssystem ä la Bismarck), da hierzu die wirtschaftliche Basis fehlt. Auch außenpolitisch fehlt so recht der Feind, gegen den man sich einen könnte, denn die USA sind zu groß, um glaubwürdig gegen sie ankämpfen zu können. Auch kulturellsprachlich-religiös ist Lateinamerika sehr einheitlich. Und das gewisse Dominanzstreben des großen Brasilien reicht nicht für außenpolitisches Aggressionsstreben, zumal es von Argentinien auszugleichen versucht wurde. So bleibt als Legitimationsgrundlage oft nur die große symbolische Aktion, die revolutionäre Rede vom Balkon herunter, die charismatische Erleuchtung der Massen durch den "Führer" (der aber im Gegenteil zum deutschen "Führer" schwach ist). Ehe die Wissenschaft den Begriff der "symbolischen Politik" erfand, wurde sie in Lateinamerika schon seit Jahrzehnten praktiziert, als eine Politik, die will, aber nicht kann: die mit großer Gestik und Rhetorik ankündigt, aber nur wenig ausführt - und zwar strukturell bedingt, durch die relative Schwäche dieser Staatswesen. (Erst mit den Steuerungsproblemen europäischer Politik z.B. gegenüber der wachsenden Arbeitslosigkeit gewann "symbolische Politik" auch in unseren politischen Systemen an Bedeutung.) Und eine Form dieser symbolischen Aktionen ist der außenpolitische Guerilla-Krieg (polemisch könnte man auch vom Operetten-Krieg sprechen). Darauf wird unten in den Länder-Fallstudien noch näher eingegangen. Das große außenpolitische und militärische, aber punktuelle und befristete Engagement. Das erklärt zwar nicht alles, aber doch einiges. Ein gutes Beispiel für außenpolitisch-symbolische Politik, für große Rhetorik bei geringer Wirkung, ist die Kuba-Politik der lateinamerikanischen Staaten: Zwar folgte man den USA, Kuba untere Castro aus der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) auszuschließen, aber weitergehenden Forderungen Washingtons verweigerte man sich; Mexiko unterhält sogar bis heute diplomatische Beziehungen zu Castros Kuba. Man lehnte Castro zwar ab, aber im Stillen sympathisierte man auch mit ihm, der es wagte, den USA die Stirn zu bieten (so wie man es gerne selber machen würde, sich aber nicht traute.)

196

Lateinamerika

Fallbeispiele caudillistischer Außenpolitik Zur Erinnerung: Caudillos in der Innen- und Außenpolitik sind solche Politiker und Militärs, die - vor dem Hintergrund eines schwachen Staaten - kompensatorisch und zur Selbstlegitimierung ihre (vermeintliche) Stärke in der Außenpolitik unter Beweis zu stellen versuchen, aber nur kurz und punktuell - wie eine Guerilla zustoßend -, weil man sich doch andererseits der eigenen S c h w ä c h e angesichts des abgelehnten (im Stillen aber bewunderten) Kolosses U S A voll bewußt ist (dies jedoch wiederum nicht öffentlich eingestehen kann). Charakteristikum des Caudillo ist die schnelle, entschiedene Tat, nicht der geduldige Prozeß. (Er ist daher gänzlich für die Demokratie ungeeignet.)

Castro Schon legendär ist der Ursprung der Revolution Castros: Nach gescheiterten Umsturzversuchen gegen die Batista-Diktatur (1952 - 1959) landete er mit einer Handvoll entschlossener Kämpfer auf der Insel, die 1959 das blutige Regime durch dreijährigen Guerilla-Krieg, mit Streiks und sozialen Unruhen derart erschütterten, daß Castro die Macht übernehmen konnte. Zunächst zielte er auf ein sozialdemokratisch-gemäßigtes Entwicklungskonzept. Jedoch führten die Verstaatlichungen amerikanischen Eigentums und eine gewisse Annäherung an die U d S S R zu einem bis heute andauernden Konflikt zwischen den U S A und Kuba, der seinen ersten Höhepunkt in der (versuchten, aber verhinderten) Stationierung von sowjetischen Raketen auf K u b a 1962 fand. 1960 wurde ein Handelsembargo gegen Kuba verhängt. Anfang 1961 hatten die Vereinigten Staaten bereits die diplomatischen Beziehungen zu Kuba abgebrochen, im April des Jahres 1964 wird das Land aus der Organisation Amerikanischer Staaten ausgeschlossen. Erstaunlich ist nun zunächst - und letztlich nur caudillistisch zu erklären -, d a ß Castro trotz des erheblichen und existenzgefährdenden Fast-Krieges mit den U S A dennoch eine Außenpolitik gegenüber der U d S S R betriebt, die Unabhängigkeit zu wahren versucht. Denn er läßt sich nicht auf die Moskauer Vorgaben ein, ggf. über Bündnisse mit bürgerlichen Kräften einen langfristigen W e g zum Sozialismus zu begehen - Schritt für Schritt (sowjetis c h e Volksfrontstrategie) -, sondern er w i l l mit einem großen Akt, in 1 Schritt, quasi voluntaristisch (durch das reine Wollen), den Sozialismus erzwingen. Die große Tat des ebenso großen Caudillo, der im gesamten Lateinamerika mit Guerilla-Aktionen die Bauern zum Aufstand anstiftet und die Gesellschaften vom Lande kommend, in die Städte übergreifend revolutioniert. Daher sympathisierte Castro auch noch in den 60er Jahren - Moskau zuwider - mit Mao Tse-tung, der ja ähnlich voluntaristisch-guerillaartig verfuhr -

Lateinamerika

197

noch bis zur sog. Kulturrevolution Ende der 60er Jahre (siehe Kapitel China). In der Wirtschaftspolitik setzte Castro bis Ende der 60er Jahre auf moralische Appelle zur Steigerung der Produktion: durch die Kraft des Willens wollte man die Zuckerproduktion auf ein Mal überdurchschnittlich steigern (was natürlich mißlang). Die Sowjetunion betonte demgegenüber immer eher die Bedeutung materieller Anreize sowie in begrenztem Maße marktwirtschaftlicher Elemente im Rahmen des Plansozialismus. Zu Beginn der 70er Jahre mußte Castro zwar dieses Löcken wider den sowjetischen Stachel aufgeben - zu abhängig, vor allem ökonomisch, war Kuba von der U d S S R -, aber in der Außenpolitik gab es seit 1975 wieder ein caudillistisches Aktionsfeld - und zwar dieses Mal in Abstimmung mit der Führung der UdSSR: In der zweiten Hälfte der 70er Jahre (die ost-westlicheEntpannungseuphorie der ersten Jahrzehnthälfte begann abzuflauen) intervenierte Castro mit kleinen, aber effektiven kubanischen Truppeneinheiten in Angola und in Äthiopien, um die dortigen, kommunistischen Revolutionsregierungen zu unterstützen. Mit der Verschuldungskrise und dem Untergang der U d S S R mußte aber auch Castro allen Caudillismo aufgeben; in den 90ern ging es letztlich nur noch ums schlichte Überleben zu kämpfen, mit gewissen ökonomischen Liberalisierungen (freie Bauernmärkte, privates Kleingewerbe), mit der Ermöglichung von vermehrter Auswanderung, mit einem allgemeinen außenpolitischen Rückzug, usw.

Operetten-Kriege zwischen Peru und Ekuador 1941 besetzte Peru rd. 200.000 qkm von Ekuador, 1942 wurde dieser völkerrechtswidrige Akt durch das Protokoll von Rio de Janeiro scheinlegalisiert. Hierüber kam es immer wieder zu Grenzkonflikten zwischen beiden Staaten, zumal die Grenzziehung im genannten Protokoll nicht genau ist. Der letzte Konflikt ereignete sich im Januar 1995, der wie die anderen nur wenige Tage dauerte; meist fanden die militärischen Auseinandersetzungen im Januar statt, in diesem Monat wurde das Rio-Protokoll unterschrieben - ein Hinweis auf den symbolischen Charakter der kleinen Kriege. Denn wirtschaftliche Motive sind sehr unwahrscheinlich: es gibt keine Rohstoffe in dem Gebiet, wie oft vermutet wird. (vgl. E. Lamm/J. Roth, Der peruanisch-ecuadorianische Grenzkonflikt, KAS-AI 2/1995, S. 77-86) Wer hat nun 1995 angefangen? Da Ekuador in jeder Hinsicht kleiner ist und auch hier keine wahltaktischen Motive vorliegen, kommt nur Peru als Aggressor in Betracht. Und zwar werden hier wahltaktische Interessen des peruanischen Präsidenten Fujimori angenommen, dessen Macht auf der Rückendeckung durch das Militär beruht.

198

Lateinamerika

Mexikos Schattenboxen gegen die USA Mexiko ist in mehrfacher Hinsicht innen- und außenpolitisch im Vergleich zu den meisten anderen lateinamerikanischen Staaten außergewöhnlich: Es ist - so wie nur noch Peru - das Land von zwar untergegangenen, aber hoch entwickelten, indianischen Zivilisationen, auf die sich das nationale Selbstbewußtsein auch heute noch bezieht - zumindest in der Ideologie. Es ist das einzige Land Lateinamerikas, das erhebliche territoriale Verluste zu verzeichnen hat - und zwar in den Kriegen mit den USA im 19. Jahrhundert, durch die vor allem Texas und Kalifornien an den nördlichen Nachbarn verloren gingen, (siehe Kapitel USA) Dazu kommt eine starke außenwirtschaftliche Abhängigkeit von den USA. Das schuf einen stets präsenten, manifesten oder latenten Antiamerikanismus, oder genauer formuliert: AntiYankeeismus, auch wenn man sich der Unterlegenheit gegenüber dem nördlichen Nachbarn bewußt ist (und auch wenn man die Prosperität und Stärke der USA im Stillen bewundert). Mexiko ist wohl die einzige größere südamerikanische Nation, die bis ins 20. Jahrhundert hinein unter bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen zu leiden hatte, wobei allerdings der (europäisch besetzte) Begriff des Bürgerkrieges irreführend ist. Es gab noch keine klar formierten Klassen, Bürgertum, Adel oder Arbeiterklasse, sondern nur mehr oder wenige lockere Gruppierungen aus bestimmten Schichte und Regionen, die sich zu größeren oder kleineren Banden unter Caudillos zusammenschlössen, um ihre partikularen Interessen bewaffnet durchzusetzen. Das war so in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das war so im Kampf gegen den aus Österreich stammenden Kaiser Maximilian von Mexiko, den Frankreich zu installieren trachtete (1867-1872), der aber schnell gestürzt wurde (übrigens die einzige europäische Intervention in Lateinamerika seit der Unabhängigkeit der Staaten, was Mexiko von den anderen südamerikanischen Staaten auch auszeichnet). Ebenfalls im Unterschied zu diesen wurde in Mexiko die formelle Herrschaft der caudillos in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht überwunden; bzw. nur in der spezifischen Form, daß der beste caudillo zum Präsidenten wurde (Diaz 1876 - 1910). Dieser regierte auf der Basis der vormaligen caudillos, die ins Regierungssystem integriert wurden. Das brachte zwar langjährige Stabilität, zumal ausländisches Kapital für wirtschaftliche Prosperität sorgte. Das erklärt aber auch, daß das System 1910 relativ schnell wieder in einem Banden- und Bürgerkrieg zerbrach, der zehn Jahre währte. Erst gegen Ende der 20er Jahre konnten die Verhältnisse im Lande wieder stabilisiert werden, indem eine faktische Einheitspartei 1929 geschaffen wurde, die sich vor allem dadurch auszeichnete - auch im Unterschied zum sonstigen Lateinamerika -, daß sie die wesentlichen Großinteressen der mexikanischen Gesellschaft korporatistisch integrierte: Bauern, Armee, Arbeiterschaft, Staatsbürokratie.

Lateinamerika

199

Der Präsident der Republik war (und ist im gewissen M a ß e bis heute) die Spitze dieses Systems, das er im Gleichgewicht zu halten versucht, wobei er allerdings durchaus Akzente in Richtung der einen oder anderen Großgruppe zu setzen vermag. Der Präsident Mexikos muß in diesem System, das verschiedenste Gruppen und Schichten in einer schwierigen Balance zu integrieren hat, stark sein oder zumindest stark erscheinen. Innenpolitisch ist ein Beweis der Stärke nur schwer möglich, weil es vielfältige Vetogruppen gibt, die Änderungen und Reformen verhindern. Der Präsident hat Rücksichten zu nehmen. Einfacher ist es schon in der Außenpolitik, denn es kommt hier z.B. immer an, das allgemein geteilte Feindbild, die USA, ins Spiel zu bringen. Das eint die Nation. Mittlerweile hat sich sogar eine stille Partnerschaft zwischen Washington und Mexiko entwickelt, daß die Vereinigten Staaten das antiamerikanischrhetorische Auftrumpfen der Mexikaner nicht ganz ernst nehmen und es dulden. S o war der Weiterbestand der diplomatischen Beziehungen auch z u m K u b a eines Castro mit Washington diskret vereinbart worden, auch wenn die U S A und das sonstige Lateinamerika weiterhin ihre BlockadePolitik gegenüber dem zunehmend marxistischer werdenden Kuba verfolgten. Zumal nach der Emphase nur selten Aktionen folgen: Die U S A sind z u übermächtig, als d a ß sich Mexiko hier viel erlauben könnte. Selbst das mexikanische ö l betrachten die U S A als eine Sicherheitsfrage im usamerikanischen Interesse. Sie verhinderten sogar den Beitritt Mexikos zur Organisation erdölfördernder Staaten ( O P E C ) . Und mit in die U S A einsickernder, mexikanischer Migration zu drohen - wie es einige mexikanische Politiker gegenüber Nordamerika tun -, ist eine nur langfristig wirkende Waffe, wenn überhaupt, denn die Farmer der usamerikanischen Südstaaten sind an billigen Arbeitskräften aus Südamerika interessiert. Angesichts der Unterlegenheit Mexikos war und ist die Außenpolitik Mexikos insgesamt und auf Dauer eher defensiv und auf Ausgleich bedacht. Das innen- und außenpolitisch offensive Vorgehen von Präsident Cardenas (1934 - 1940) (gesellschaftspolitische Reformen, Verstaatlichung von U S Konzernen) war nur möglich, weil der us-amerikanische Präsident Roosevelt sich mit seiner "Politik der guten Partnerschaft" gegenüber Lateinamerika defensiv verhielt und überhaupt seinen Blick auf die aggressiven, faschistischen Mächte Europas gerichtet hatte. Das war eine Ausnahme. Typisch war die antiamerikanische Rhetorik. Denn die mexikanischen Präsidenten waren weitgehend innenpolitisch orientiert: das politische System und damit auch die Position des jeweiligen Präsidenten wurde und wird durch hohe Wachstumsraten auch im industriellen Sektor gestärkt. Mexiko entwickelte sich durch die bereits oben ge-

200

Lateinamerika

schilderte, wirtschaftspolitische Strategie der Importsubstitution zu einem teilindustrialisierten Schwellenland, das bereits auch weiterverarbeitete Produkte zu einem Drittel der Gesamtexporte auszuführen in der Lage ist. Lange Zeit gingen bis über 70 Prozent der Exporte in die USA, und da ist es aus innen- und wirtschaftspolitischen Gründen nicht ratsam, allzu aggressiv gegenüber den Vereinigten Staaten aufzutreten. Bedingt durch die oben analysierte Sackgasse, in die diese Strategie der Importsubstitution führte, und auch bedingt durch die langjährige, monopolistische Herrschaft der Partei der Institutionalisierten Revolution kam es in Mexiko gegen Ende der 60er Jahre zu einer Legitimationskrise, die vor allem in der blutig niedergeschlagenen Studentenrebellion von 1968 öffentlichkeitswirksam zum Ausdruck kam. Diese innenpolitische Krise brachte eine offensivere Außenpolitik mit sich. Ihr Repräsentant war Echeverría Alvarez, Staatspräsident von 1970 bis 1976. Er war Promotor der UN-Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Völker, mit der er - gemeinsam mit der 3.-Welt/OstblockMehrheit in den Vereinten Nationen - auf Konfrontationskurs gegenüber den "kapitalistischen" Industrieländern ging. Auch wurden - mit Akzentsetzung gegen die USA - die Handelsbeziehungen nach Westeuropa ausgebaut. Gleichermaßen war die Gründung des lateinamerikanischen Integrationsgebildes SELA Zeichen für diese Entwicklungsländer-Orientierung - einer der zahlreichen, gesamtlateinamerikanischen Integrationsversuche, die wegen der starken wirtschaftlichen Entwicklungsgefälle zwischen den großen und kleinen Staaten des südlichen Teilkontinents ohne Erfolg blieben. (Erst bilaterale Freihandels-Integrationsgebilde der 90er Jahre, wie z.B. das zwischen Argentinien, Uruguay und Brasilien, scheinen als Folge der Verschuldungskrise und der dadurch verursachten allgemeinen, binnen- und weltwirtschaftlichen Liberalisierung zu reüssieren.) Im außenpolitischen "Aktivismus"(Fanger) von Staatspräsident Echeverría schlägt sich eine Art von negativem Caudillismo nieder: Nicht man selber ist schuld an negativen Entwicklungen - dazu ist man viel zu autoritätshörig, um auf sich etwas zurückzuführen - der große Andere ist der verantwortliche. Und weltwirtschaftlich sind das - so auch die Sicht von Echeverría und auch der nicht zufällig in Lateinamerika entstandenen Dependenztheorie - der Weltmarkt und die Weltwirtschaft, angeführt von den Vereinigten Staaten von Amerika. Der antiamerikanische Caudillismo von Echeverría war wieder typisch groß in der Form (besonders ausgeprägt durch den offen zur Schau gestellten, autoritären machismo dieses Präsidenten) und passiv in der faktischen Wirkung: Denn bei allem Anti-Yankeeismus tangierte der mexikanische Präsident nie den Kernbereich us-amerikanischer Interessen (was Washington sehr wohl wahrnahm). Mexiko trat nicht dem Erdölpreiskartell OPEC bei, was die USA und die westliche Welt angesichts der starken Erdölpreisstei-

Lateinamerika

201

gerungen infolge des Nahost-Krieges von 1973 sicherlich als Affront empfunden hätten. Auch der Blockfreien-Bewegung trat Mexiko nicht bei. So war es nicht überraschend, daß sich der Nachfolger im Präsidenten-Amt, Lopez Portillo, bereits wieder US-freundlicher gab, zumal sich Mitte der 70er Jahre bereits die dann voll in den 80er ausbrechende Wirtschaftskrise zeigte. Mit Portillo wurde bereits embryonal offenbar, daß Mexiko seinen innenund außenwirtschaftlichen Probleme nur mit den USA lösen konnte - und nicht gegen sie (auch wenn dies zeitweilig immer wieder von nationalistischen Ressentiments auf beiden Seiten unterbrochen wurde). Mit der Verschuldungskrise des Landes in den 80er und 90er Jahren (insbesondere gegenüber US-amerikanischen Banken) in Höhe von rd. 100 Mrd. US-Dollar brachte eine Art von positivem Caudillismo mit sich: Mexiko gehörte zu den Musterschülern der USA und des Internationalen Währungsfonds, der dessen Auflagen (Liberalisierung der Wirtschaft, Entstaatlichung, Forcierung der Exporte) besonders rigoros erfüllte, so daß Mexiko sogar 20 Mrd. Dollar der Schulden erlassen wurden: Man folgte den internationalen Caudillos, von denen man Hilfe erwartete, aufs Wort. 1992 trat man auch der nordamerikanischen Freihandelszone mit Kanada und den USA bei, obwohl darunter, durch die eindringenden nordamerikanischen Produkte die nicht weltmarktfähigen, kleineren Industrien und auch eine Teil der armen Bevölkerung durch Arbeitslosigkeit leiden würde. Es kam daher auch anläßlich der Unterzeichnung des NAFTA-Vertrages 1992 zu einem langwierigen Indianer-Aufstand in Chiapas (Südmexiko) unter dem legendären Caudillo Commandante Marcos. Aber die mexikanische Elite, insbesondere deren aufgeklärter-moderner Teil (den sog. tecnicos) hatte erkannt, daß nur eine Überwindung der klientelistischen, innovationshemmenden Strukturen des Landes dessen Reformfähigkeit und langfristiges Wirtschaftswachstum ermöglicht. Und das wollten sie mit Hilfe der USA und des IWF durchsetzen. Das bedeutete aber auch neben der Liberalisierung der Wirtschaft, die die Klientel ketten vor allem im Staatssektor erschütterte, eine Demokratisierung des Landes, wie sie dann in den 90er Jahren erfolgte. Nun gingen sogar zuvor unantastbare Gewerkschaftsführer ins Gefängnis, in einer verstärkt liberalisierten Gesellschaft melden sich auch kritische Kräfte zu Wort. Zwar wird der Präsident immer noch von der PRI gestellt, aber nun nur noch mit gerade einmal 50 Prozent, bei einer erheblich gestärkten Opposition von links und rechts, die in einigen Bundesstaaten die Regierung trägt und deren Präsidentschaftskandidat evt. bereits die nächsten Wahlen gewinnt.

Exkurs: außenpolitischer Legalismus Die allgegenwärtige Bürokratie in Lateinamerika setzt sich außenpolitisch fort in einem starken Regulierungswillen der Regierungen auch in den inter-

202

Lateinamerika

nationalen Beziehungen, deren Effekt allerdings gering ist. Das soll hier als Legalismus bezeichnet werden. Man meint, mit Völkerrecht Politik machen zu können (was natürlich nur begrenzt geht und wohl z.T. auch nur rhetorisch-symbolisch gemeint ist. Internationale Politik ist immer noch Machtund notfalls militärisch fundierte Sicherheitspolitik). Dieser Legalismus manifestiert sich unter anderem in den ständigen Bemühungen, Zusammenschlüsse der Staaten des Kontinents zu erreichen. Schon der Befreier von Spanien, Simon Bolivar, versuchte Lateinamerika zu einen; 1826 wurde von ihm der erste amerikanische Kongreß nach Panama einberufen, dem weitere folgten. Seit Jahrhundertbeginn beteiligen sich auch die USA an den Integrationsversuchen. Ständige Sekretariate und ein "Wirtschaftsbüro der Amerikanischen Republiken" wurden geschaffen. Instanzen zur Streitbeilegung werden eingerichtet. 1948 wird die politische, auch militärische Kooperation zusammen mit den USA im Rahmen der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) organisiert. Lateinamerika hat eine relativ enge Kooperationsdichte (bilateral, regional und multilateral) insbesondere auf personaler Grundlage, indem sich die Präsidenten der Republiken oder deren Minister ständig treffen. Das vermag sicher einiges an Konflikten zu reduzieren, auch wenn die Integrationsdichte der Europäischen Union bei weitem nicht erreicht wird. Insbesondere gibt es keine supranationalen Instanzen, die die einzelstaatlichen Souveränitäten einschränken würden (wie in der EU). Es ist das alte spanisch-lateinamerikanische Phänomen der schwachstarken Politik, die diese Schwäche durch viel Rhetorik und durch Legalismus ausgleichen will. Mexiko z.B. hat ein fein gewobenes Netz völkerrechtlicher Normen entwickelt, um seine Souveränität zu schützen und um - so seit den 1970er Jahren - die internationale Staatenwelt zu ordnen. Allerdings sind die effektiven Regulierungswirkungen dieser Maßnahmen recht gering, was insbesondere an die erwähnte UN-Charta von 1975 deutlich wurde, die weitgehend Papier blieb. Denn deren Ziele, u.a. internationale Kontrollen der Weltwirtschaft und ökonomische Umverteilungen zwischen Nord und Süd, waren zu ambitiös, um gegen die Macht der Industriestaaten realisiert werden zu können. Fanger führt einige Doktrinen an, die die mexikanische Außenpolitik bestimmten (U. Fanger, Mittelmacht auf Zeit, Mexiko in der internationalen Politik, in: D. Briesemeister / K. Zimmermann (Hrsg.), Mexiko heute, Frankfurt/M. 1992, S. 8 7 - 112) Die Carranza-Doktrin von 1918 verbot Interventionen in die Angelegenheiten anderer Staaten. Das ist heute rechtliches Gemeingut der Völkergemeinschaft, wodurch aber natürlich faktisch wirtschaftliche und politische Interventionen z.B. der USA in Chile 1973 nicht verhindert werden konnten. Nach der Estrada-Doktrin (1930) sollen neue Regierungen unabhängig von ihrer Legitimität oder de-facto-Existenz anerkannt werden, um die Frage der Anerkennung nicht als Mittel der Druckausübung zu mißbrauchen - eine Doktrin, die nur begrenzt akzeptiert und auch von Mexiko selbst gebrochen wur-

Lateinamerika

203

de (Nicht-Anerkennung des Franco- und Pinochet-Regimes in Spanien 1939 und Chile 1973). Die Cardenas-Doktrin von 1939 ermöglichte Verstaatlichungen auch ausländischen Besitzes nach den jeweilig nationalen Gesetzen. (Cardenas hatte ja 1938 die amerikanischen ölkonzerne in Mexiko nationalisiert.) Völkerrechtlich gesehen sind Verstaatlichungen aber nur bei Entschädigungsleistungen erlaubt.

Argentinien Anhand der argentinischen Außenpolitik zeigen sich die beiden Varianten caudillistischer Außenbeziehungen, nämlich die Groß-Rhetorik bei faktischer außenpolitischer Impotenz sowie auch die Form des begrenzten KleinKrieges, quasi eine Art von Guerilla, aber von Staats wegen. Als Grundsatz gilt: Je mehr Argentinien vom Ausland abhängig wurde, um so caudillistischer wurde sie. Argentinien war seit Ende des 19. Jahrhunderts ökonomisch - und damit auch politisch - stark vom Ausland abhängig, indem seine Agrarprodukte nach Europa, vorrangig nach Großbritannien, exportiert wurden. Das war solange nicht problematisch, solange das Land durch den Exportboom profitierte. Als aber mit der Weltwirtschaftskrise 1930 ff. und dem Zusammenbruch der Märkte der Export zum Problem wurde und Arbeitslosigkeit sowie wirtschaftliche Unterentwicklung verursachte, wurde die außenwirtschaftliche und außenpolitische Abhängigkeit zum Gegenstand nationalistischer Agitation. Bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Kleinstaaten) scheint übermäßige und offensichtlich einseitige, außenpolitische Abhängigkeit nur schwer erträglich zu sein, da sie wie beim Individuum das Selbstbewußtsein, die Identität, oder pathetisch: die Würde beeinträchtigt. Es kommt zu einer G e genwehr. Und zum Kampf des Don Quixote gegen Windmühlen. "Peron (argentinischer Präsident von 1946-1955, J.B.) bemühte sich sehr, der Welt ein politisch und wirtschaftlich unabhängiges Argentinien vorzustellen, dessen Souveränität unantastbar war und das sogar eine prägende Ausstrahlung auf die lateinamerikanischen Nachbarnationen ausübte. Seine Beteuerungen konnten aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich Argentinien, wenn überhaupt, dann nur vorübergehend unter seiner politischen Führung dem bestimmenden Einfluß ausländischer Mächte und Interessen entziehen konnte und daß es a m Ende seiner Regierung kaum weniger abhängig von außerhalb der nationalen Machtsphäre befindlichen Entscheidungszentren war als zu ihrem Beginn ... In den Wirtschaftsprozessen kam die Umweltbestimmtheit des nationalen Binnengeschehens besonders augenfällig zum Ausdruck. Weniger deutlich greifbar, aber deshalb kaum weniger schwerwiegend, dürften sich die internationalen Machtverschiebungen in der Sphäre des nationalen Selbstverständnisses niedergeschlagen und den Verlauf

204

Lateinamerika

der Identitätskrise beeinflußt haben." (P. Waldmann, Der Peronismus 1943 1955, Hamburg 1974, S. 62, 71/2) Die hier angesprochene außenpolitische Legitimitätskrise Argentiniens (infolge wachsender außenpolitischer Abhängigkeit) wurde von Peron (und einigen seiner Nachfolger) rhetorisch aufzufangen versucht, aber nach 1945 waren die Vereinigten Staaten - offensichtlich - zu der Weltmacht aufgestiegen, die auch nicht mehr durch Großbritannien in ihrem Gewicht ausgeglichen werden konnte, auch nicht durch die U d S S R , mit der der antikommunistische Peron jedoch ein Bündnis ablehnte (auch wenn er 1946 diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion aufnahm), so d a ß sein kämpferischer Gestus gegen sie etwas Künstliches an sich hatte. Meist mußte Peron auch in seinem Widerstand gegen die Vereinigten Staaten nachgeben: trotz seiner gewissen ideologischen Nähe zu Mussolini mußte er auf amerikanischen Druck hin doch in den Krieg gegen die Achsenmächte eintreten. Und wirtschaftsnationalistische Maßnahmen Perons (u.a. Verstaatlichungen, Einrichtung einer staatlichen Nationalbank) wurden von den U S A mit Sanktionen beantwortet, sie konnten nicht lange verfolgt werden. Deklamatorische Ablehnung ging seit Anfang der 50er Jahre mit faktischer Annäherung an die U S A (Kredit von ihr!) einher, die mit der wirtschaftspolitischen Liberalisierung im Innern konform ging - einer Politik, die nur begrenzt glaubwürdig durchzuführen war, denn die äußere machtpolitisch S c h w ä c h e des peronistischen Argentiniens wurde irgendwann einmal offenbar. Vielleicht ist das ein Grund für die nur begrenzte Überlebensfähigkeit und -dauer post-caudillistischer Regime. 1955 wurde Peron vom Militär gestürzt, aus dem er hervorgegangen war. E s war eine Außenpolitik der Schein-Emphase, so wie auch die Innenpolitik Perons nicht faschistisch war (Gott sei gedankt!): Er fühlte sich zwar als Führer durchaus im mussolinischen Sinne; aber die argentinische Gesellschaft war historisch zu liberal und z u widerspenstig, als daß sie sich einem solchen "Führer" voll unterworfen hätte. Als eine vielleicht letzte Aktion post-caudillistischer Außenpolitik ist der Überfall argentinischer Truppen auf die im britischen Besitz befindliche Inselgruppe der Falklands/Malvinans zu betrachten. Die Inseln, die weit im Atlantik liegen und daher nicht als "Küsteninseln" Argentinien bezeichnet werden können, waren in früheren Zeiten unter der Kontrolle verschiedener Nationen, gehören aber seit rd. 170 Jahren faktisch und nach einem solchen Zeitraum auch völkerrechtlich legitimiert zu Großbritannien. Argentinien beanspruchte diese Inseln jedoch stets für sich, und vermochte hiermit auch stets in der Bevölkerung nationalistische Ressentiments zu mobilisieren, zumal es sich hier um eine außeramerikanische Macht handelt, die - der Monroe-Doktrin ("Amerika den Amerikanern!") zuwider - amerikanisches Territorium für sich in Anspruch nahm. Daran änderte auch nichts die ansonsten zu verzeichnende Bewunderung der Argentinier für England, das im 19. Jahrhundert mit zur nationalen Emanzipation der lateinamerikanischen Staaten von der spanischen Kolo-

Lateinamerika

205

nialmacht mit beigetragen hatte und in der Folgezeit erheblich auch in Argentinien investiert und mit ihm Handel getrieben hatte (Fleisch gegen verarbeitete Industrieprodukte). Lange Zeit wurde zwischen Großbritannien und Argentinien über die Zukunft der Insel verhandelt - ohne Ergebnis, da das prinzipielle Problem nicht gelöst werden konnte, daß nämlich die 2000 auf der Inselgruppe lebenden Engländer weiterhin der britischen Krone unterstehen wollten. Das Scheitern oder zumindest sich Hinziehen der Verhandlungen war jedoch nicht die Ursache für den argentinischen Angriff auf die Falklands, Ursache war vielmehr die innen- und gesellschaftspolitische Krise, in die die 1976 etablierte Militärdiktatur Argentiniens geraten war. Auch auf britischer Seite gab es solche innenpolitische Motivationen (bevorstehende Wahlen).

Der gegenwärtige Präsident Argentiniens, Menem, hat - obwohl der peronistischen Bewegung entstammend und obwohl einen anderen äußeren Anschein erweckend - allem außenpolitischen Caudillismo entsagt: er definiert sein Land als Staat der Ersten Welt, quasi in einem Boot mit den U S A sitzend. 1991 trat Argentinien aus der Blockfreien-Bewegung aus. E s nahm a m amerikanischen Krieg gegen den Irak 1991 teil. Menem machte sogar Konzessionen in der Malvinas-Frage. Mit Brasilien, dem alten Konkurrenten, wurde eine Freihandelszone vereinbart. Die Entwicklung eigener Mittelstrekkenraketen wurde aufgegeben. Die amerikanische Embargo-Politik gegenüber Kuba wird nicht mehr explizit verurteilt. Argentinien unterstützte - anderen lateinamerikanischen Staaten zuwider - auch die US-Intervention auf Haiti. Insgesamt beteiligt sich das Land zunehmend an UN-Aktionen, (vgl. D. Nolte/N. Werz, Hrsg., Argentinien, Frankfurt/Main 1996)

206

Lateinamerika

Genealogie und Klassifikation des (außenpolitischen) Caudillismio Ursachen: schwacher Staat

Caudillismo

\ Ausformungen des Caudillo: Militarismus Radikalpolitiker Charismatiker

"Guerilla"Krieg

Folgen: "Die Große Tat"

t

RevolutionsRhetorik

Ursachen: Legitimationsschwäche von Politik

J.D. Peron, Botschaft an die Arbeiteram 1. Mai 1944 "Wir arbeiten für alle Argentinier" "Schon als ich im Dezember vorigen Jahres die Leitung des Arbeits- und Fürsorgeministeriums übernahm, mit dessen Hilfe der argentinische Staat die Erfüllung seiner sozialen Pflichten intensivieren will, richtete ich das Wort an alle Arbeiter in der Überzeugung, sie würden das Vorhaben der Regierung mit dem den Massen eigenen außerordentlichen Gespür voll unterstützen. Damals beging ich nicht den Fehler, ein Programm der schnellen Lösungen vorzutragen, denn ich war sicher, daß die Verfolgung eines hohen sozialen Ziels den Weg aufzeigen und Möglichkeiten für Errungenschaften und Reformen eröffnen würde. Ich glaube, Forderungen ruft man, wie Revolutionen, nicht erst aus, sondern man erfüllt sie. Immer haben wir die Handelnden den Theoretikern vorgezogen, weil unser festes Leitbild, nach dem wir unser staatliches Handeln ausrichten, das der Erfüllung ist. Ich bin ihm treu geblieben, weil ich finde, daß handeln besser ist als reden, und in die Tat umsetzen besser ist als Versprechen. Kein Datum ist besser geeignet als der erste Mai - Symbol der gerechten Hoffnungen des Arbeiters und der glühenden Huldigung an die edle Würde aller menschlichen Arbeit -, um anzukündigen, daß wir uns an diesem Tag bereits in der Etappe der umfassenden Verwirklichungen befinden, um unser

Lateinamerika

207

wesentliches und hochgestelltes Ziel, die allgemeine Wohlfahrt und soziale Solidarität, zu erreichen. Genau fünf Monate sind seit jenem Augenblick vergangen, der den Ausgangspunkt für eine neue Ära in der Politik und der sozialen Gerechtigkeit Argentiniens markierte, und dies war und ist einer der unumstößlichen Programmpunkte der gegenwärtigen Regierung und er wird es bleiben. Denn niemand, absolut niemand kann ernsthaft den zutiefst sozialen Sinn der Junirevolution verkennen. Die Ursachen, die sie auslösten, und der Geist, der sie trägt, stammen aus der gleichen unleugbaren argentinischen Wirklichkeit. Nicht aus Ehrgeiz hat die Armee damals die Kasernen verlassen. Der Schrei von der Straße, aus den Werkstätten und von den Feldern drang zu ihnen, pochte an ihre Türen und forderte Gerechtigkeit. Herr und Marine - lebendige Teile der unteilbaren nationalen Einheit - reagierten patriotisch. Sie verließen die Stille ihrer Lager. Sie traten auf die Straße, und das Volk selbst, das sie anspornt und ihnen zujubelt, führt ihren Marsch an. Angesichts der politischen und sozialen Wirklichkeit hätten wir eine gleichgültige Haltung in jener Stunde weder vor unserem Gewissen noch vor der Geschichte rechtfertigen können. Ein übergeordneter Wunsch nach Gerechtigkeit war der Motor für die siegreiche Revolution. Mit der Entschiedenheit und der Energie von Soldaten stellen wir uns dem Problem; ich betone diesen Umstand, weil ich meine, daß die Lösung sozialer Probleme nicht ein Privileg einzelner Individuen oder Schichten ist, sondern alle Argentinier angeht. ... Wir streben nach der Einheit aller Argentinier, deshalb wollen wir über argentinisches Kapital verfügen, das im Einklang mit der Arbeit die Grundlage unserer industriellen Macht und der kollektiven Wohlfahrt darstellen soll. Wir kämpfen darum, daß diese Arbeit mit dem ihr zukommenden Respekt betrachtet wird, daß wir alle den Wunsch und den Willen in uns spüren, uns durch Arbeit auszuzeichnen, ... Diejenigen Völker sind uns ein Vorbild, die diese materiellen Werte durch geistige Werte ergänzen und sie dem Besitzstand der Nation einverleiben, damit das Land darüber verfügen kann, wenn menschliche oder höhere Gewalt äußerste Kraftanstrengung erfordert, um das Vaterland zu retten ... Diese unsere Arbeit für die Gerechtigkeit, die wir ohne Pause unermüdlich und mit dem einzigen Ehrgeiz leisten, zur Größe des Vaterlandes beizutragen, bringt uns große Befriedigung ... Aus allen Ecken des Landes kommen sie und erwecken das Vertrauen eines enttäuschten Volkes, das wieder an soziale Gerechtigkeit zu glauben beginnt und zum erstenmal das Hochgefühl spürt, daß es angehört wird, daß es sich als Argentinier fühlen kann. An diesem klassischen Tag der Arbeiter verspreche ich im Namen der Regierung, daß dieses Vertrauen nicht enttäuscht werden wird. Neue Errungenschaften werden diesem Gedenktag einen noch patriotischeren und argentinischeren Sinn verleihen."

208

Lateinamerika

Der Falkland/Malvinas-Konflikt Ein gutes Beispiel für einen wesentlich innenpolitisch motivierten Krieg ist der zwischen Argentinien und Großbritannien im Jahre 1982 um die Falkland/Malvinas-lnseln im Atlantik, die - nach wechselndem Besitz zuvor - seit 1832 faktisch im britischen Besitz sind, seit einer Zeit also, als der argentinische Staat noch gar nicht völkerrechtlich allgemein anerkannt war und auch nur z.T. territorial voll im heutigen Sinne bestand. Aber hier interessieren nicht völkerrechtliche Fragen, wem nun die Inseln gehören (die Inselbewohner wollen bis heute bei Großbritannien bleiben), hier interessiert nur die Frage, warum die argentinischen Militärs gerade 1982 überfallartig die Inseln besetzten (nachdem sich zuvor argentinisch-britische Verhandlungen im Rahmen der Vereinten Nationen ergebnis- und endlos hingezogen hatten). Die Eroberung der Inseln war wohl - das ist unbestritten - innenpolitisch bedingt, denn die Militärs bekamen - trotz brutalsten Durchgreifens - weder die Wirtschaft noch die innenpolitische Opposition in den Griff, so daß sie von diesem Scheitern durch einen außenpolitischen Erfolg ablenken wollten. Als jedoch die Inseln von den Engländern zurückerobert wurden, war damit auch - trotz allgemeiner, anfänglicher, nationalistischer Emphase - der letzte Kredit der Militärs verspielt. Sie mußten endgültig zurücktreten und demokratischen Politikern Platz machen.

Ein letztes Beispiel Der letzte große, inneramerikanische Krieg in Lateinamerika, nämlich der zwischen Bolivien und Paraguay, wurde 1932 von dem "... last of the traditional caudillo politicians of the beginning of the Century ..." vom Zaune gebrochen wurde. (H. S. Klein 1971: Parties and political Change in Bolivia 1880 - 1952, London, S. 127) Dieser Großgrundbesitzer namens Salamanca war 1931 zum Präsidenten von Bolivien ernannt worden, weil er als über den Parteien stehend galt und über ein stark entwickeltes System persönlicher Beziehungen verfügte, (vgl. im folgenden: M. Herzig 1996, Der ChacoKrieg zwischen Bolivien und Paraguay 1932 - 1935, Frankfurt/M., S. 91 ff.) Er war rhetorisch begabt, agierte populistisch und mobilisierte gerne nationalistische Stimmungen. Angesichts wachsender innenpolitischer Konflikte und ökonomischer Krisenerscheinungen eskalierte er - da er die Konflikte nicht lösen konnte (schwacher Staat) - 1932 bewußt den Konflikt mit Paraguay zu einer offenen militärischen Auseinandersetzung - gegen den Rat der bolivianischen Militärs, die später "losschlagen" wollten. Der Konflikt ging um den Meereszugang des Binnenstaates Boliviens, den dieser über Paraguay oder zumindest über den Rio Paraguay zu erreichen hoffte. Das war die scheinrationale Erklärung oder Begründung, scheinrational, weil objektiv gesehen gar keine zusätzlichen Transportkapazitäten benötigt wurden, da die bestehenden nicht einmal ausgelastet waren. Daß Öl das Motiv war, wird

Lateinamerika

209

auch eher als unwahrscheinlich angesehen. Herzig kommt in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, daß die zentrale Ursache des Krieges in der Innenpolitik von Bolivien zu suchen sei, nämlich im Versuch der Zinnoligarchie, innere Krisen durch aufgeputschten Nationalismus in den Hintergrund zu drängen. Das entspricht der Sozialimperialismus-Theorie, wie sie u.a. von dem Historiker H.-U. Wehler entwickelt wurde. Dieser theoriegechichtliche Verweis verdeutlicht, daß der Chaco-Krieg nicht einzig "caudillistisch" zu deuten ist. Aber das ein Krieg nahezu ohne außenpolitischen Grund ausbrechen kann, ist nur in einem sozialpsychologischen Klima des Militarismus möglich, Militarismus verstanden als die allgemeine Durchdringung der gesamten Gesellschaft mit militärischen Prinzipien. Und die lateinamerikanische Version des Militarismus ist der Caudillismo.

Literatur: H. M. Bailey, 1969, Lateinamerika: Von den Kolonialreichen zu autonomen Republiken, München W. B. Berg, 1995, Lateinamerika, Darmstadt D. Boris, 1996, Mexiko im Umbruch, Darmstadt H. J. Burchardt, 1996, Kuba, Der lange Abschied von einem Mythos, Stuttgart D. Briestenmeister (1992), Brasilien heute - Politik - Wirtschaft - Kultur, Frankfurt/M. U. Guthunz (Hrsg.), 1995, Lateinamerika zwischen Europa und den USA, Frankfurt/Main R. Konetzke, 1983, Lateinamerika - Entdeckung, Eroberung, Kolonisation, Köln W. Reinhard, 1996, Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart W. I. Robinson, 1996, Promoting Polyarchy, Cambridge J. Thesing (Hrsg.), 1994, Politische Kultur in Lateinamerika, Mainz

210

Naher Osten

Der Nahost-Konflikt: clash of civilizations? Der Konflikt zwischen Juden in Palästina, bzw. seit 1948 dem Staat der Israeli auf der einen Seite und der arabisch-islamischen Welt, insbesondere den Palästinensern auf der anderen Seite ist ein Konflikt der Neuzeit. Sein Beginn ist sogar relativ genau zu bestimmen, nämlich um 1900 mit dem Aufkommen eines jüdischen und eines arabischen Nationalismus. Er ist zugleich ein exemplarischer Fall für die enge Verbindung von politischer Kultur und Außenpolitik. Hätte das Osmanische Reich der Türken, das auch Palästina und den Nahen Osten und andere, ethnisch sehr heterogene Gebiete umfaßte, weiterbestanden, so wäre es wahrscheinlich nicht zu diesem Konflikt gekommen; der Islam war trotz seiner schnellen Erfolge seit dem 7. Jahrhundert tolerant gegenüber Christen und Juden, die nicht unbedingt mit Feuer und Schwert missioniert wurden und weiter ihrem Glauben anhängen durften, auch wenn sie politisch und wirtschaftlich nicht gleichgestellt wurden. So wie wohl auch die Österreich-ungarische Monarchie die ethnischen Konflikte z.B. zwischen den Völkern des vormaligen Jugoslawiens vermieden hätte. Aber das ist wohl die Illusion eines stillen Monarchisten, der dieser Staatsform wegen ihres inter-, wenn nicht sogar supranationalen Charakters nachtrauert, sich dabei aber voll bewußt ist, daß sie im demokratischen Zeitalter nicht mehr realisierbar ist - sieht man von so glorreichen Vorbildern wie der Commonwealth-Staatenwelt unter Ihrer Majestät, Königin Elisabeth ab. Auch der König von Belgien ist die einzige Klammer dieses Staates, der von sinnlosen ethnischen oder wenn man so will: tribalen Konflikten zwischen Wallonen und Flamen zur Auflösung getrieben zu werden droht. Um dann noch größere Konflikte zu erzeugen. Also: Diese alten Vielvölkerreiche, die wir erst heutzutage nach vielen Kriegen wieder über Integrationen wie die Europäische Union zu erreichen versuchen, waren einerseits sehr vielfältig gestaltet, allein schon wegen ihres großen territorialen Umfangs. (Das Osmanische Reich umfaßte lange Zeit die Küsten des gesamten östlichen und südlichen Mittelmeeres inklusive erheblicher Teile der Hinterländer). Das erschwerte einerseits eine gewisse Zentralisierung, die unteren Einheiten waren relativ autonom (und das war die Chance der unterschiedlichsten ethnischen Einheiten; andererseits war jedoch zum Bestand dieser Reiche ein gewisses Maß an Zentralisierung vonnöten, u.a. um eine Armee zur gemeinsamen Verteidigung aufrechtzuerhalten, aber auch (so insbesondere bei den Osmanen), um über sozialpolitische Umverteilungen für jeden ein Mindestmaß an sozialer Sicherung zu gewährleisten (früher Quasi-Wohlfahrtsstaat). Die innere Widersprüchlichkeit zwischen dezentralen Autonomien und gewissen, wenn auch begrenzten Zentralisierungsnotwendigkeiten wird überwunden durch ein Tributsystem "nach oben", das allerdings nicht wie im

Naher Osten

211

Westen Europas von einer feudalen Schicht getragen wurde, sondern eher von einer Art Beamtenschaft, die für die ihnen zugewiesenen, nicht erblichen Ämter in den Provinzen z.T. jährlich zahlen mußten. Die unteren Einheiten blieben nur solange frei, wie sie zur Finanzierung der obersten Einheit beitrugen (zumal Grund und Boden stets im Besitz des Sultans waren). (Dieses tributäre System verhinderte natürlich wirtschaftliche Entwicklung und Initiative, da jedes ökonomische Mehr tributär "nach oben" abgeschöpft wurde ein Grund für die Unterentwicklung der Region bis heute.) Die militärische Verteidigung übernahm auch nicht ein Feudaladel, sondern bestimmte Sklaven- oder ethnische Söldnertruppen in Abhängigkeit zum Sultan, wie z.B. den Türken, die jedoch durch diese ihre Funktion mit der Zeit derartigen Einfluß im islamischen Raum gewannen, daß sie die Macht an sich reißen und das Osmanische Reich auf islamischer Grundlage gründen konnten. Das Osmanische Reich ermöglichte lange Zeit ein friedliches Zusammenleben unterschiedlichster Volksgruppen, denn es war nicht ideologisch integriert, wie die heutigen Nationalstaaten (meist vermittels des Bekenntnisses zur Verfassung), es war vielmehr personal integriert, über die Spitze im Sultan. Und diese Identifikation war jeden Untereinheit relativ leicht möglich, welcher Religion oder welcher Rasse oder welcher ethnischen Herkunft auch immer. (Nur die Sekte der Christen hatte im Römischen Reich wegen ihres Dogmatismus und wegen mangelnder Toleranz Schwierigkeiten damit.) Allerdings geriet dieses System ins Wanken, als z.B. westeuropäische Kaufleute seit der frühen Neuzeit die Tributzahlungen zu untergraben und einen Teil davon auf ihre Konten umzuleiten vermochten. Das war ein Teil des Prozesses, der spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu einem lang sich hinziehenden Siechen und schließlichen Untergang des Osmanischen Reiches mit beitrug. Diese "Osmanisierung" wurde auch dadurch gefördert, daß sich seit der Neuzeit die Handelszentren vom Mittelmeer in den Atlantik zu verlagern begannen. Der Nahe Osten - das wurde spätestens um 1900 offenbar, obwohl Istanbul und Kairo weiterhin blühende Städte waren - von größerem Glanz als Berlin - geriet zudem seit Jahrhundertbeginn in einen wirtschaftlichen Nachteil gegenüber dem industrialisierten Europa, das ihn daher auch - nach dem Untergang des Osmanischen Reiches 1918 - vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges (und darüber hinaus) faktisch eroberte (wenn auch als Völkerbundsmandat oder Protektorat drapiert). Denn die arabischen Ökonomien waren traditionellerweise von Handel und Beduinen geprägt, was ihre Schwäche gegenüber dem industrialisierten Europa und Amerika bedingte. Man spricht geradezu von einer Beduinisierung dieser Wirtschaften infolge der arabischen Eroberungen. D.h. das wirtschaftliche

212

Naher Osten

Potential war in den wenigen städtischen Ballungen (z.T. Oasen) konzentriert, umgeben von unfruchtbaren Gebieten bis Wüsten. Man lebte vom Handel und von der handwerklichen sowie kleingewerblichen Produktion. Größere Investitionen (Voraussetzung einer kapitalistischen oder zumindest industriellen Entwicklung) wurden allerdings nicht gewagt, weil stets mit der Gefahr von Überfällen aus den umgebenden Wüsten und Bergen (Beduinen, nomadisierende Räubergesellschaften) gerechnet werden mußte, die evt. Produktionsanlagen u.dgl. hätten zerstören können. Wie ein Schock wirkte auch lange Zeit der mongolische Überfall auf den Irak und andere vorderasiatische Staaten im 13. Jahrhundert, der z.B. bis heute das vormals ausdifferenzierte Bewässerungssystem in Mesopotamien zerstörte. Ein weiterer Faktor, der mit zum Untergang des Osmanischen Reiches führte, waren die weltweit aufkommenden Nationalismen von ethnischen Einheiten, die sich zuvor mit diesem Status einer "ethnischen Einheit" zufrieden gegeben hatten. Daß diese Nationalismen aufkamen (dann - bezogen auf unser Thema insbesondere im arabischen und im jüdischen Nationalismus), hat die vielfältigsten Ursachen: - Die Französische Revolution - und Napoleon intervenierte 1798/99 in Ägypten - brachte nicht nur die Idee der Demokratie, sondern auch die der Nation hervor - beides eng zusammenhängend. Denn Demokratie kann man nur realisieren, wenn man die Grenzen festlegt, wer mitbestimmen, mitwählen darf und wer nicht: Man ist also dazu gezwungen, festzulegen, wer Deutscher ist, wer Franzose, usw. - Weiterhin: Daß jeder sich für seine Demokratie interessiert, ist nicht selbstverständlich. Es bedarf hierzu einer Erziehung, einer Sozialisation, einer Motivierung. Denn zuvor identifizierten sich die Menschen meist nur mit ihren Verhältnissen vor Ort, oder nur mit ihrem Stamm oder Clan oder ihrer Großfamilie. - Zur Identifikation mit der Nation bedurfte es starker, ideologischer Anstrengungen, um die Bedeutung der Nation besonders hervorzustreichen: Die Nation mußte als etwas Besonderes dargestellt werden, und das geht am besten dadurch, daß behauptet wird, sie sei vor allem besser als anderen Nationen. Diese Ideen wurden von einer Reihe von Schriftstellern und Dichtern entwickelt und verbreitet. Der Nationalismus war geboren. - Natürlich kann man die Nation und den Nationalismus auch rational rechtfertigen: Er trug zur Bildung größerer Territorien mit bei, z.B. in Deutschland und in Italien - wichtig für die neue, sich herausbildende Wirtschaftsform des (kapitalistischen) Industrialismus mit ihrer profitablen Massenproduktion, die eben nur bei großen Räumen möglich ist. - Auch dienten die Nation, die Nationswerdung und der Nationalismus oft als Abwehrinstrument gegen übermächtige Herrschaftszentren, die die abgelegenen und unterentwickelten Gebiete ausbeute(te)n - so lange Zeit die Funktion des Nationalismus im Baskenland gegen den Madrider Zentralismus.

Naher Osten

213

Ob riation building geschichtsnotwendig war und ist, ist eine schwierige Frage; aber zumindest kann gesagt werden, d a ß die Form, in der sie zumeist realisiert wurde, nicht erforderlich war. Denn daß heute z.B. alle Franzosen französisch sprechen, war ein z.T. gewaltsamer Prozeß der staatlicherseits erzwungenen Durchsetzung dieser Hochsprache. Zur Zeit der Französischen Revolution sprach noch die Hälfte der "Franzosen" eine andere Sprache als Französisch - und zwar nicht nur Dialekte des Französischen, sondern andere Sprachen. Hier hätte der Vereinheitlichungsprozeß sicherlich mit mehr Toleranz vonstatten gehen können. Auch die U S A sind ja doch sehr vielfältig - und dennoch eine funktionierende Demokratie und Nation (wenn auch eher personal über die Person des Präsidenten und weniger über Ideologien integriert. Die Verfassung ist jedoch unbestrittene Grundlage.) S e i ' s drum! Im Nahen Osten wurde das Osmanische Reich auch durch den arabischen Nationalismus zerstört, der dann in Konflikt mit dem jüdischen Nationalismus geriet. Diese allumfassenden Nationalismen vereinen in sich sowohl die Außen- als auch Innenpolitik der jeweiligen Staaten: Sie sind integrale, ideologische Totalitäten, zumal in unserem Fall zumindest im arabischen Nationalismus auch religiös fundiert. Sie sind d i e politische Kultur des jeweiligen Gemeinwesens. Der W e g dieser Nationalismen soll im folgenden nachgezeichnet werden. Jahrhundertelang hatten Juden und Araber - zumal beide semitischer Abstammung sind - friedlich zusammengelebt. Der Islam hatte ihnen Toleranz gewährt (wenn auch nicht eine gleiche Rechtsstellung), denn Elemente des Judentums (und auch des Christentums) kommen in der Lehre Mohammeds vor. Alle drei Religionen (Judentum, Christenheit, Islam) sind monotheistisch. Allerdings wurde ein Großteil der Juden nach der zweiten Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer 70 n.Chr. in alle Welt vertrieben. Diesem jahrhundertelangen Exil der Juden, die zu Händlern, Kaufleuten und Schriftgelehrten wurden und aus ihrer jeweilig gesellschaftlichen Randposition in ihren neuen Gesellschaften ungeahnte Kräfte entwickelten, steht eine imperiale Expansion des arabischen Islam seit Mitte des 7. nachchristlichen Jahrhunderts gegenüber, die bis nach Spanien und Indien reichte (und indirekt bis Indonesien). Die islamischen Regime zeigen ein doppeltes Gesicht: einerseits entwickelte sich eine hohe kulturelle Blüte, andererseits kam e s zu einem lang sich hinziehenden ökonomischen Verfall - besonders seit 1900 im Vergleich z u Europa und Nordamerika, wie oben erwähnt. Die kulturelle Blüte des arabischen Raumes um 9. und 10. Jahrhundert insbesondere in Bagdad unter persischen Dynastien hängt einerseits mit der Zentralisierung eines großen Raumes zusammen, wodurch erhebliche fi-

214

Naher Osten

nanzielle Mittel im Zentrum akkumuliert werden konnten; andererseits durch die Kontakte mit den hochentwickelten Kulturen in Byzanz und in Indien und in den Gebieten, die sie erobert hatten. Der Islam kennt die Trennung von Religion und Politik nicht, wie das Christentum. Eine Aufklärung in Europa, die gerade dies leistete, gab es im arabischen Raum nicht. Zwar sind heutzutage eine Reihe von arabischen Staaten sehr weit säkularisiert (z.B. Ägypten), doch dagegen erhebt sich eine vehemente, fundamentalistische Gegenwehr. Die islamische Mission ist eine Pflicht im Sinne des Heiligen Krieges, der zwar nicht unbedingt militärisch interpretiert werden muß, aber so interpretiert werden kann und so interpretiert wurde. Dies verband sich seit dem 19. Jahrhundert mit einem aufwachenden, arabischen Nationalismus. Arabischer Nationalismus ist ebenso wie der jüdische Zionismus Lebensform, umfassende politische Kultur, die auch die Außenbeziehungen mitbestimmt. Ein jüdischer Nationalismus in Form des Zionismus entstand erst Ende des 19. Jahrhunderts - als Folge der allgemeinen Judenemanzipation in den meisten europäischen Staaten, die nun die antijüdischen Pogrome vor allem im Osteuropa und Rußland der Zeit in einem anderen Licht erscheinen ließen. (Denn diese Pogrome gab es immer, vor allem im "christlichen" Europa. Der Antisemitismus ist eine europäische "Erfindung"!) Aber vor dem Hintergrund, daß durch die liberale Bewegung den Juden als Religionsgemeinschaft und als Individuen die gleichen Rechte wie den Bürgern anderer Religion auch rechtsverbindlich zuerkannt wurden, erschienen der Antisemitismus eines Wiener Bürgermeisters Luegger oder die Dreyfus-Affäre in Frankreich und das allgemeine, antijüdische Alltags-Ressentiments um so schlimmer. Damit soll der Antisemitismus von damals nicht verharmlost werden, aber er war doch begrenzt (und das, was in Auschwitz passieren sollte, konnte keiner damals auch nur ahnen). Die Juden hätten statt des Zionismus auch weiterhin auf eine Integration in die europäischen Gesellschaften setzen können - und die meisten taten es auch, zumal die Eliten in großen Teilen nicht antisemitisch waren. Die Voraussetzungen waren nicht die schlechtesten, zumal ja der jüdische Offizier Dreyfus nach einem langen Kampf rehabilitiert wurde und aus der Haft entlassen werden mußte. Eine normative Beurteilung wäre hier jedoch unangemessen, denn ex post, angesichts des kommenden "Dritten Reiches" war der Zionismus als politische Bewegung, in Palästina erneut einen eigenen ( j ü d i s c h e n ) Staat zu gründen, durchaus gerechtfertigt. Daß es aber trotz der relativen Liberalisierung der Verhältnisse für die westeuropäischen Juden zum Zionismus kam, ist auf den allgemeinen, nationalistischen Geist der Zeit zurückfinden: Jedes staatenlose (oder einem anderen Staat zugeordnete) Volk schien seinen Staat suchen und auch finden zu

Naher Osten

215

wollen, die Italiener, die Ungarn, die Deutschen, später die Serben, dann 1918 die Tschechen usw. Und auch die Juden, wobei diese jedoch noch nicht auf dem Territorium wohnten, das sie als Staat beanspruchten, und das einigende Element nicht die Sprache, sondern die hergebrachte Religion war. Ihr Staat - so der Begründer des Zionismus, Th. Herzl - sollte das Urland der Judenheit, Palästina sein (nachdem er das auch erwogene Argentinien verworfen hatte. Herzl war also kein Dogmatiker und erst Recht kein religiöser Fundamentalist). Zur begrifflichen Klärung ist für mich der Zionismus daher eine nationalistische Bewegung (was in keiner Weise wertend gemeint sein soll). In mehreren Wellen begann nun ein (kleiner) Teil der Juden in das zunächst osmanisch beherrschte und dann britisch verwaltete Palästina, der vormaligen Heimat der Juden, einzuwandern - letztlich ein weltgeschichtlich "normaler" Vorgang, denn die gesamte Weltgeschichte bestand aus solchen Wanderungen hin und quer. Bis 1929 wanderten nur rd. 120.000 Juden nach Palästina aus (fast 3 Millionen dagegen in die USA), und erst durch das "3. Reich" schwoll die die Zuwanderung an, bis die Briten sie seit 1936 angesichts erheblicher arabischer Proteste unterbrachen. Nun wird oft behauptet, die Juden hätten die Palästinenser verdrängt, ihnen Land geraubt usw. Das Land wurde jedoch zum überwiegend Teil von den jüdischen Einwanderern käuflich erworben, z.T. mußte für das gleiche Land mehrmals gezahlt werden, und der heutige Bevölkerungsbestand von fast 6 Millionen Einwohnern des Staates Israel (davon 1 Millionen arabische Staatsbürger) beweist, daß das Land nicht nur auf die arabischen Einwohner um die Jahrhundertwende hätte beschränkt werden müssen: Bei systematischer Ackerwirtschaft (womit die einwandernden Juden begannen) und auch bei einer gewissen Industrialisierung bietet es Raum und Einkommen für weitaus mehr. In den letzten 50 Jahren hat sich die Bevölkerung verzehnfacht. Auch in diesem kleinen Territorium können viele Menschen leben und gut leben. Die Juden verwandelten Wüste in fruchtbare Äcker und begannen, das Land wieder zu bewalden. Beide Seiten hätten in den 30er Jahren gut kooperieren können, wenn dazu der Wille da gewesen wäre. Das zentrale Problem ist jedoch, daß hier zwei unterschiedliche Kulturen auf einanderstießen: einerseits die vergleichsweise unterentwickelte arabischislamische Kultur z.T. nomadisierender Beduinen, z.T. feudal abhängiger, traditionell arbeitender, wenig alphabetisierter Bauern, und andererseits die hoch entwickelte, europäisch geprägte Kultur der Juden, bzw. der Israeli. Daß dabei die unterentwickelte Kultur unterliegt - wie immer und überall -, ist nicht der überlegenen Kultur schuldhaft zuzuschreiben, sondern ein Prozeß, der seit Jahrtausenden vonstatten geht. Die einzige Frage, die hier zu stellen erlaubt werden kann, ist die, wie man den Prozeß des Fortschritts für die unterlegene Kultur human gestalten

216

Naher Osten

kann, wie die unterentwickelte Gesellschaft verträglich auf das Niveau der höher entwickelten zu führen ist. D a ß hier vom "Westen" viel gesündigt wurde, z.B. beim Massenmord an den Indianern oder bei der Versklavung von rd. 12 Millionen Schwarzen (in 4 0 0 Jahren Kolonialgeschichte), ist unbestritten. D a s ändert aber nichts an der Notwendigkeit der Entwicklung.

Th. Herzl z u m Zionismus in: Der Judenstaat "Die Welt widerhallt vom Geschrei gegen die Juden, und das weckt den eingeschlummerten Gedanken auf.... Die Jewish Company ist z u m Teil nach dem Vorbilde der großen Landnahmegesellschaften gedacht (für die Ansiedlung europäischer Juden in Palästina, J.B.) - . . . Nur steht ihr nicht die Ausübung von Hoheitsrechten zu, und sie hat nicht allein koloniale Aufgaben. ... Allmählich wird die Company in den anfänglich primitiven Niederlassungen Industriesachen zu erzeugen beginnen. ... Unsere Leute sollen in Gruppen miteinander auswandern. ... Der Staat entsteht durch den Daseinskampf eines Volkes. In diesem Kampfe ist es nicht möglich, erst auf umständliche Weise einen ordentlichen Auftrag einzuholen. Ja, es würde jede Unternehmung für die Gesamtheit von vorneherein scheitern, wenn man zuvor einen regelrechten Mehrheitsbeschluß erzielen wollte. ... Ich halte die demokratische Monarchie und die aristokratische Republik für die feinsten Formen des Staates. ... Die Demokratie ohne das nützliche Gegengewicht eines Monarchen ist maßlos. ... Wir werden ... theokratische Velleitäten unserer Geistlichen gar nicht aufkommen lassen. Wir werden sie in ihren Tempeln festzuhalten wissen, wie wir unser Berufsheer in den Kasernen festhalten werden. ...".

D a ß es nicht zu einer jüdisch-arabischen Kooperation trotz Ansätzen kam, lag auch an der britischen Besatzungsmacht, die nach dem Prinzip des "Teile und herrsche!" verfuhr und auf beide Nationalismen setzte und sie gegeneinander ausspielte. So versprachen sie den Juden einerseits in der berühmten Balfour-Deklaration von 1917 eine "Heimstatt" in Palästina (keinen Staat!) (auch mit d e m Zweck verkündet, um den Eintritt der U S A in den Ersten Weltkrieg gegen die Achsenmächte, u.a. auch das Osmanische Reich, zu beschleunigen.) Und gegenüber den Arabern erweckten die Briten den Eindruck, ihnen nach dem Ersten Weltkrieg die Unabhängigkeit zu geben (was dann nicht geschah). Die Filme über "Lawrence of Arabia" sind ja bekannt. Der arabische Nationalismus, der sich in den 20er und 30er Jahren in einer Reihe von Aufständen von Palästinensern manifestierte, wurde nur in Teilen von den jeweiligen, arabischen Eliten mitgetragen, da diese sich eher - zur Stabilisierung ihrer Macht - mit den Kolonialmächten arrangierten (so z.B. in Ägypten bis 1952/54, als der arabische Nationalist und Sozialist Nasser die Macht erputschte und die noch aus dem Osmanischen Reich stammende, probritische Monarchie beseitigte).

Naher Osten

217

Die Antwort der Araber war eine Mischung - aus Abwehr der Einwanderung, aber darüber hinaus auch - aus religiösem Kampf gegen die Andersgläubigen, und seit den 50er Jahren zunehmend - aus antiwestlicher und antikapitalistischer Abwehr (der Sozialismus ging um im Nahen Osten - als die antikoloniale Ideologie par excellence, denn der Westen als Kolonialmacht war kapitalistisch - so die einfache Logik, - der kommunistische Ostblock aber ohne Kolonien und daher propagandisch im Vorteil). Dazu kam ein originärer Nationalismus der gerade erst voll unabhängig gewordenen Staaten des Nahen Ostens: Syriens, Jordaniens, des Irak usw.. Dieser Nationallsmus verband sich oft mit dem arabischen Einheitsgedanken v o m Irak bis nach Marokko: dem Panarabismus, wie er vom ägyptischen Präsidenten Nasser oder auch von der Baath-Partei, die heute Im Irak und in Syrien herrscht, symbolisiert wurde und wird.) Ideologische Schlagkaft gewann dieser Gedanke durch die traditionelle Idee des Heiligen Krieges. Vertieft wurde der Konflikt dadurch, daß die Sowjetunion die links-arabischen und palästinensischen Kräfte militärisch und politisch unterstützte, während sich die Vereinigten Staaten für Israel und die konservativen arabischen Staaten (Saudi-Arabien, Jordanien, Ägypten seit den 70er Jahren, Marokko) engagierten. Noch weiter verschärft wurde der Konflikt durch die Machtübernahme einer religiös fundamentalistischen, strikt antiwestlichen Geistlichkeit im Iran 1979. Dies sowie die Enttäuschung über die ausgebliebenen Versprechungen sowohl des östlichen Sozialismus als auch des westlichen Kapitalismus radikalisierten Teile der Palästinensischen Widerstandsorganisation (PLO) immer mehr, so daß deren Präsident, Arafat, immer mehr Schwierigkeiten hat, seinen zu Beginn der 90er Jahre eingeschlagenen Kurs des Ausgleichs mit Israel in der eigenen Organisation durchzusetzen. N a c h dem Zweiten Weltkrieg und vor allem nach dem Abzug der Briten 1948 prallten die beiden Nationalismen (und Lebensformen) in mehreren Kriegen aufeinander. Mit der Gründung des Staates Israel durch die Vereinten Nationen 1948 (bei Zustimmung sowohl der U S A als auch der U d S S R ) begannen die arabischen Nachbarstaaten einen Angriffskrieg gegen den jungen Staat und gegen dessen noch kaum aufgebaute Armee, die allerdings auf "erprobte", jüdische Terrorgruppen zurückgreifen konnte (u.a. eine, die vom späteren Ministerpräsidenten Begin geleitet wurde.) Der arabisch-israelische Krieg endete mit einem eindeutigen Sieg der Israeli, die z u d e m ihr nach UN-Teilungsplan unzusammenhängendes Gebiet (quasi ein Flickerlteppich ohne Struktur) als Folge des Krieges "arrondieren" konnten - z u einem einheitlichen Gebiet von der Südgrenze des Libanon bis Elat a m Roten Meer zusammenfügen konnten - mit einer engen Landzunge von Tel Aviv nach Jerusalem, das vorerst (bis 1967) zwischen Israel und Jordanien geteilt blieb - ebenso wie die sog. Westbank, das Gebiet westlich des

218

Naher Osten

Jordan, quasi um das Tote Meer herum, weiterhin zu Jordanien gehörte (auch bis zum Krieg von 1967). Als Folge des Krieges fanden Vertreibungen palästinensischer Bewohner aus Israel statt, z.T. flohen diese auch aus Furcht vor dem Krieg und drohenden Terrorakten. Sie leben z.T. bis heute in Lagern, insbesondere im Libanon, als Flüchtlinge in einer Reihe von arabischen Staaten, im GazaStreifen und auf den Westbanks. Die israelischen Annektionen von 1948 waren zwar völkerrechtswidrig, nimmt man die Beschlüsse der Vereinten Nationen, den sog. Teilungsplan, zum rechtlichen Maßstab. Aber diese juristische Frage ist sekundär, bedenkt man die weitere Entwicklung. Einerseits entwickelte sich Israel zu einem säkularen, demokratischen Staat. Die Zahl der orthodoxen Juden vor allem in Jerusalem, die diesen Staat und den Säkularismus ablehnen, nimmt zwar zu, man sieht sie im Straßenbild mit in ihrer traditionellen, schwarzen Kleidung und ihren Bärten, sie sind durch ihr religiöse Partei auch meist in der Regierung vertreten und angesichts knapper Mehrheitsverhältnisse als Zünglein an der Waage einflußreich. Aber das ist nur ein Teil des Landes: Israel ist die einzige, säkulare Demokratie im Nahen Osten mit einem funktionierenden Parteien- und Verbandsystem, mit einer florierenden Agrarwirtschaft und einem wachsenden Industriesektor (Chemie, Edelsteinverarbeitung, Textilien, Lederwaren, Waffen usw.) Der Zionismus ist die offizielle Staatsideologie, d.h. Juden aus aller Welt sollen in Israel ihre Heimstatt finden können, sie sind automatisch israelische Staatsbürger, wenn sie einwandern. Nach dem Untergang des Kommunismus sind so mehrere Hunderttausende osteuropäische und russische Einwanderer in den Staat gekommen, Andererseits erlebte die arabische Welt eine Niederlage nach der anderen und zwar nicht nur außenpolitisch, sondern auch militärisch und - was am empfindlichsten ist - im Selbstwertgefühl (was die oben bereits erwähnte Radikalisierung forcierte). Zwar wurde der britisch-französisch-israelische Interventionskrieg von 1956 durch ein Machtwort der USA und der UN gestoppt, die Interventionsmächte zum Rückzug gezwungen; die drei Mächte hatten die Verstaatlichung des Suez-Kanals durch den ägyptischen Präsidenten Nasser (und die Behinderung der Schiffahrt im Kanal) zum Anlaß genommen, Ägypten wieder in quasi-koloniale Botmäßigkeit zu zwingen, mußten sich jedoch - wie gesagt zurückziehen, weil die USA - traditionell antikolonial gesonnen - das Ägypten unter dem frühen Nasser nicht gänzlich verprellen und in das Lager des Ostblocks treiben wollte. Der Krieg von 1967 ist jedoch als Triumph der Israeli zu verzeichnen, als sie - provoziert durch eine ägyptische Blockade der Zufahrt über das Rote Meer

Naher Osten

219

- zu einem Präventivschlag ausholten und die syrischen Golan-Höhen, die jordanischen Westbanks (und Ost-Jerusalem) sowie den Sinai eroberten. Ungefähr zwei Millionen Araber lebten damit zusätzlich unter Besatzung der Israeli. (Ob Nasser wirklich 1967 einen über Drohungen und die Blockade hinausgehenden Angriff auf Israel plante, ist ungewiß, angesichts der militärischen und ökonomischen Machtverhältnisse und der eindeutigen Unterstützung der USA für Israel auch eher unwahrscheinlich.) Das dadurch schwer erschütterte Selbstbewußtsein des arabischen Nationalismus konnte 1973 z.T. wieder restauriert werden, als der ägyptische Präsident Sadat - zusammen mit Jordanien und Syrien - Israel überraschend angriff, den Suez-Kanal überquerte und zeitweilig auch Teile der SinaiHalbinsel zurückerobern konnte. Der Krieg endete jedoch - aufgrund des israelischen Zurückschlagens und dessen Vormarsch bis in die Vororte von Kairo - auf der Basis des status quo ante, d.h. ohne territoriale Änderungen, weil die beiden Supermächte USA und die UdSSR auf der Seite ihrer jeweiligen Bündnispartner intervenierten: Die USA hielten Israel vor einem weiteren Vormarsch in Richtung ägyptischer Hauptstadt zurück, und die UdSSR zwangen Ägypten zu einem Waffenstillstand (indem sie weitere Waffenlieferungen verweigerten, was dann im Anschluß zur Abwendung Ägyptens von der Sowjetunion und zur Zuwendung zu den USA führte.) Beide Supermächten befürchteten, daß sie durch eine Niederlage der einen oder anderen Nahost-Seite gezwungen worden wären, direkt im Kriegsraum präsent zu werden, wodurch der Krieg offen internationalisiert worden wäre und zu einem Zusammenstoß der Supermächte selbst hätte führen können. Das galt es zu verhindern und es wurde auch verhindert. Obwohl der ägyptische Angriff auf den Sinai über den Suez-Kanal hinweg zu nichts führte und sogar rückgängig gemacht wurde, ermöglichte doch der ägyptische Prestigezuwachs eines zunächst erfolgreichen Angriffs dem Präsidenten Sadat (der eher prowestlich orientiert war), auf Israel zuzugehen, um einen Friedensvertrag zwischen beiden Staaten zu verwirklichen. So reiste Sadat 1977 nach Jerusalem, um vor der Knesset, dem israelischen Parlament, eine Rede zu halten, die einen Friedensprozeß einleitete, der im März 1979 zu einem israelisch-ägyptischen Friedensvertrag führte. Ägypten erklärte den Kriegszustand mit Israel als beendet, anerkannte den Staat Israel in seiner staatlichen Existenz (die arabische Welt hatte ja Israel 1948 völkerrechtlich nicht anerkannt) und erhielt dafür die 1967 von Israel eroberten Gebiete zurück, den Sinai. Motive für die Kompromißbereitschaft Sadats waren innere Unruhen (Hungeraufstände) und die von ihm allgemein angestrebte Öffnung des Landes zum Westen hin, von dem man wirtschaftliche Unterstützung erwartete. (Die UdSSR konnte nur Waffen liefern, und das - wie erwähnt - nur begrenzt; effektive Entwicklungshilfe war nicht zu erwarten.) Daß der konservative israelische Ministerpräsident Begin, der außenpolitisch noch rigoroser als die vormalige Regierung der Arbeiterpartei vorging, dem Friedensvertrag mit Ägypten zustimmte, war vor allem darin

220

Naher Osten

begründet, daß er mit ihm die arabische Welt auseinanderdividieren konnte: Israel konnte nun - so sollte sich zeigen - mit jedem seiner Nachbarn einzeln und insbesondere zu israelischen Bedingungen einen Friedensvertrag abschließen, 1994 mit Jordanien und im gleichen Jahr selbst mit den Palästinensern. Nur Syrien unter Präsident Assad verweigerte sich bisher, da er zunächst abwarten will, ob diese Strategie separater Friedensabkommen erfolgreich sein wird und da er nur zu geringen Konzessionen in der Frage der israelisch besetzten Golan-Höhen im Südwesten Syriens ist. Bei all diesen Abkommen erreichte Israel immer wieder, daß die für die Existenz des Staates Israel zentrale Frage, nämlich der staatlichen Existenz der Palästinenser, ausgeklammert wurde. Selbst die dann 1994 erfolgende und mit der PLO vereinbarte sukzessive Überweisung von Gebieten im GazaStreifen und auf den Westbanks geht so vonstatten, daß Israel stets die letzte Kontrolle behält, auch wenn z.B. in Jericho und im Gaza-Streifen die Polizei der Palästinensischen Nationalbehörde unter Präsident Arafat zuständig ist. An dieser Frage der letztlichen Verfügungsgewalt scheitern auch gegenwärtig die weiteren Friedensverhandlungen zwischen Arafat und dem konservativen israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu vom Likud-Block. Die Frage der Palästinenser wurde bereits im Friedensvertrag mit Ägypten von 1979 bewußt ausgeklammert. Für diesen Friedensschluß wurde Ägypten daher für zehn Jahre aus der Arabischen Liga ausgechlossen, Präsident Sadat mußte letztlich dafür mit seinem Leben zahlen: Er wurde von arabischen Fundamentalisten aus der eigenen Armee bei einer Parade ermordet. Denn allgemein - auch z.B. seitens des Königshauses von Saudi-Arabien (das ja konservativ-fundamentalistisch orientiert ist) - wurde der Friedensvertrag mit Israel als Verrat an der arabisch-islamischen Sache betrachtet. Hieran wird deutlich, daß die Frage des Ausgleichs mit Israel nicht nur eine Frage der Außenpolitik im engeren Sinne ist. Es ist auch eine Frage der inneren arabischen Identität. Es ist die Frage, wie sich die arabische Welt definiert und selbst sieht: als religiös bestimmt, in welchem Maße? (und damit potentiell auch anti-jüdisch); oder als sich modernisierende Staaten im Sinne einer Verwestlichung (wie z.B. in der allerdings nicht-arabischen, aber doch islamischen Türkei vorexerziert, wenn auch bei Widerständen). Damit wären Annäherungen an das europäisch-westlich geprägte Israel möglich; oder als sozialistisch orientierte Gesellschaften wie seinerzeit unter Präsident Nasser, womit aber auch wieder ideologische Gräben zu Israel und dem Westen überhaupt aufgerissen werden würden. (Die zuletzt genannte Alternative ist mit dem Untergang des Kommunismus allerdings unwahrscheinlich geworden.) Ähnliche Fragen der politischen Kultur stellen sich auch für die Außenpolitik Israels: 1995 wurde der israelische Ministerpräsident Rabin von einem jüdischen Fanatiker ermordet, als er weitere jüdische Siedlungen auf "biblischem Gebiet" an die Palästinenser übergeben wollte, bzw. bereits übereig-

Naher Osten

221

net hatte. Dem überwiegend säkularen Israel ist die Preisgabe des "biblischen Gebiets" kein religiöses Problem, höchstens ein sicherheits- und militärpolitisches. (Aber das läßt sich rational lösen, durch neutrale Zonen u.dgl.) Wenn aber - wie es gegenwärtig zu scheint - der konservative LikudMinisterpräsident Netanjahu aus koalitionspolitischen Gründen einer Mehrheitsbeschaffung im Parlament auf die Unterstützung der kleinen, religiösen Parteien angewiesen ist, so ist der Friedensprozeß sehr gefährdet, wenn religiöse Forderungen in Israel mit den fundamentalistischen Forderungen aus dem Lager der Palästinenser (z.B. seitens der Hamas) konfrontiert werden. Dann verhindert die Gegensätzlichkeit der politischen Kulturen einen außenpolitischen Annäherungs- und Ausgleichsprozeß. (Auch wenn die politische Kultur Israels nicht einheitlich ist, so gibt es doch einen zionistischen Konsens, der darin besteht, einen Staat für jüdische Einwanderer zu schaffen, bzw. aufrechtzuerhalten - ein Staat mit einer Pluralität von Kulturen - , durchaus auch nicht religiös, sondern säkular und demokratisch, wie schon von Herzl konzipiert, ein Staat mit Einwanderern von Marokko bis nach Rußland; aber in diesem einen Punkt, eine Zuflucht für die Juden zu sichern, eins.) Das Problem gegenwärtig (und auch bezogen auf die Vergangenheit) liegt vor allem aber auch in der machtpolitischen Dominanz Israels, zumal unterstützt von den USA und der Wirtschaftskraft der amerikanischen Juden. Das erregt immer wieder die Ressentiments der Araber, zumal Israel zuweilen diese Macht mißbraucht. Israel gelang es aufgrund seiner Überlegenheit, die arabischen Staaten auseinander zu dividieren: Ägypten wurde durch einen Friedensvertrag gebunden (und durch erhebliche amerikanische Wirtschaftshilfe). Das jordanische Königreich war ohnehin im Stillen stets nie so anti-israelisch wie die Rhetorik erscheinen ließ; denn Israel und Jordanien haben einen gemeinsamen Feind, nämlich die Palästinenser (König Hussein von Jordanien stützt sich vor allem auf die Beduinen in den weiten Steppen- und WüstenGebieten östlich des Jordans.) Und die Palästinenser in den Westbanks versuchten ihn 1973 zu stürzen (weshalb der König gerne 1987 auf die Westbanks als Teil des jordanischen Staates zugunsten der PLO verzichtete). Der Libanon ging im Bürgerkrieg unter und ist heute faktisch von Syrien beherrscht. Nur Syrien ist weiterhin ein Staat, der nicht mit Israel kooperieren will (durch den Untergang seines Hauptverbündeten, der UdSSR, jedoch erheblich geschwächt wurde.) Das zwar islamisch-konservative SaudiArabien, das kulturell die westliche Zivilisation ablehnt, und die ähnlich strukturierten ölscheichtümer am Persischen Golf waren und sind ohnehin trotz der antiwestlichen Gesellschaftspolitik im Innern - außen- und militärpolitisch auf die USA ausgerichtet, bzw. von diesen zur Verteidigung ihrer großen, aber bevölkerungsarmen Territorien abhängig, wie nicht zuletzt 1991 das Eingreifen der USA zur Befreiung Kuwaits von den irakischen Besatzern gezeigt hat. Auch der Irak ist durch die Niederlage im genannten

222

Naher Osten

Zweiten Golfkrieg geschwächt und in der arabischen Welt weitgehend isoliert; usw. usf. Das ungelöste Problem des Nahen Ostens ist bis heute die Frage der Palästinenser, die ja unbestritten Opfer der israelischen Staatsgründung sind, z.T. vor dieser flohen, z.T. aber auch vertrieben wurden, auch wenn eine Kooperation möglich gewesen wäre (so wie es ja heutzutage rd. 1 Million Palästinenser mohammedanischer und christlicher Religion gibt, die israelische Staatsbürger mit allen Rechten sind und die auch nicht gerne dem Staat der Palästinenser angehören würden, weil das für sie ein Verlust an wirtschaftlichen und politischen Freiheiten bedeuten würde). Diese Frage ist nicht nur eine Frage, wie man diesem z.T. vertriebenen Volk eine staatliche Heimstatt geben kann. Diese ungelöste Frage ist auch ein sozialpsychologisches Problem der arabischen Selbstdefinition - und zwar nicht nur - wie bereits diskutiert - bezogen auf die inneren Verhältnisse dieser arabischen Staaten, sondern auch bezogen auf ihre Außenpolitik, ihren Umgang mit den Palästinensern, die ja von den arabischen Eliten nicht nur geliebt werden. Es geht hier auch um die Frage, wie arabische Staaten mit ihrer jeweiligen palästinensischen Minderheit umgehen, inwieweit sie sich demokratisch entwickeln oder nicht, aber auch: inwieweit sich diese Palästinenser zu integrieren bereit sind. (Dahinter steckt natürlich die These, wenn im Nah-Ost-Raum allüberall demokratische Verhältnisse Platz greifen würden, ein Frieden eher zu erreichen wäre: Denn eine kritische Öffentlichkeit erschwert Kriege.) Aber so sieht es in den arabischen Staaten nicht aus: Zwar waren die Palästinenser, repräsentiert durch ihre Organisation der PLO, und ihr Kampf gegen Israel bis zu zum Ende der 70er Jahre der ideologische und nationalistische Fixpunkt vieler Araber, in dem sie sich einig fühlen konnten, auch wenn ansonsten die Konflikte und z.T. sogar Kriege zwischen den linken oder konservativen, prowestlichen oder proöstlichen arabischen Staaten zahlreich waren und sind. Allerdings war die Politik der (konservativen) arabischen Eliten wegen des z.T. revolutionären Potentials der in mehreren Staaten zerstreut lebenden Palästinenser oft in Wirklichkeit anti-palästinensisch. Daß Präsident Sadat die Frage dieses Volkes beim Friedensvertrag mit Israel von 1979 einfach ausklammerte, wurde schon erwähnt. König Hussein vertrieb 1972 einen Großteil der Palästinenser aus seinem Königreich, als diese einen Staatsstreich versuchten. Die dann inkl. ihrer Führung in den Libanon geflüchteten Palästinenser zerstörten dort zunächst das diffizile christlich-moslemische Gleichgewicht des alten Handelsstaates, was dazu führte, daß ein Bürgerkrieg ausbrach und die christlichen Milizen die Palästinenser zu zerstören suchten, die sich daraufhin weiter radikalisierten. Anfang der 80er Jahre, 1982 - 1985, wurden im Süden des Libanons zudem fundamentalistische Palästinenser durch eine Invasion Israels eingedämmt (seitdem hält Israel den südlichen Streifen des Libanons besetzt), Assads Syrien vertrieb die Palästinenser-Führung unter Arafat nach Tunesien, von wo sie erst 1993/94 in das Westjordan-Land und in den

Naher Osten

223

Gaza-Streifen zurückkehren konnten, nachdem sie mit Israel die Osloer Abkommen abgeschlossen hatte: In diesen Abkommen ging Arafat - nun in der arabischen Welt weitgehend isoliert: er hatte 1991 den allgemein verfemten Diktator des Irak, Saddam Hussein, unterstützt - darauf ein, daß er einen zukünftigen Palästinenser-Staat auf Westjordanien (auf das König Hussein mittlerweile verzichtet hatte) und den Gaza-Streifen beschränkte; bei Anerkennung des Staates Israel (der zuvor ja in seiner Existenz nicht anerkannt und bekämpft wurde) und bei Offenlassen der Frage, welchen völkerrechtlichen Status dieser Palästinenser-Staat dereinst mal haben wird (Autonomie unter israelischer Kontrolle? volle Souveränität? usw.) Auch der Status Jerusalems wurde nicht geklärt. Immerhin hatte das israelische Parlament die gesamte Stadt zum ewigen Bestandteil des Staates erklärt. Arafat war zu diesen Konzessionen gezwungen, weil auch sein internationaler Hauptbündnispartner, die UdSSR, untergegangen war. Auch hatte sich erwiesen, daß die Intifada, der Widerstand der palästinensischen Jugend im Westjordanland gegen die Israelis, trotz seiner jahrelangen Dauer letztlich im Leeren verlief und die Israeli nicht zum Nachgeben veranlassen konnte. Ein Teil der arabischen Bevölkerung reagierte darauf jedoch fundamentalistisch und vor allem antiamerikanisch - die Bevölkerung identifiziert sich weitgehend mit dem Schicksal der Palästinenser - oft auch gegen die Eliten des eigenen Landes, was die machtpolitische Brisanz des PalästinenserProblems offenbart. Der irakische Diktator Saddam Hussein versteht gerade diese antiisraelischen und propalästinensischen Emotionen zu mobilisieren und zwar gegen die konservativen (monarchischen) Eliten des Nahen Ostens, denen er zu große Nähe zu den U S A (und damit indirekt auch z u Israel) vorwirft. Wie definiert die arabische politische Kultur die Palästinenser-Frage? Das wird mit entscheidend sein für den Weg zu ihrer Lösung. Wird sie weiterhin nationalistisch oder als Kampf gegen den Westen überhaupt oder als fundamentalistisch-religiöse Auseinandersetzung mit einer anderen Religion definiert, sind die Chancen zu einer Einigung gering. Wie sich die arabische öffentliche Meinung entwickeln wird, hängt auch davon ab, wie Israel diese Frage definieren wird. (Arafat ist - wenn auch gegen erhebliche Widerstände in der eigenen Organisation - zu Kompromissen bereit. Aber keiner weiß, was nach Arafat kommen wird.) Die Frage der Palästinenser ist nämlich nur zu lösen, wenn auch Israel die Frage seiner staatlichen Selbstdefinition, die seiner politischen Kultur klärt: ein gegenwärtiges Hindernis in der Annäherung zwischen Palästinensern und Israeli sind u.a. die jüdischen Siedlungen in den Westbanks und ein religiöser, jüdischer Fanatismus, der diese Gebiete als ur-israelisches Siedlungsgebiet betrachtet und auf es auf keinen Fall nicht verzichten will. Die Frage ist also: Inwieweit definiert sich Israel als religiöser Staat, oder bleibt es (wie von Herzl konzipiert) säkular, religiös indifferent, zwar als zio-

224

Naher Osten

nistischer Zufluchtsort für alle Juden, wo immer sie seien; aber territorial nicht bestimmt durch irgendwelche biblischen Gesichtspunkte (wie es gewisse jüdische Gruppen sehen), sondern höchsten durch sicherheits- und militärpolitische Erwägungen, die z.B. militärische Stützpunkte Israels auf den Westbanks erfordern, ansonsten jedoch durchaus einen palästinensischen Staat mit voller Souveränität erlauben würden. (Für die Modalitäten im einzelnen gilt es dann phantasievolle Kompromisse zu erarbeiten: z.B. eine Internationalisierung Jerusalems unter Mandatschaft der UN, weil diese Stadt Zentrum aller drei großen, monotheistischen Religionen ist; evt. eine militärische Neutralisierung bestimmter Zonen im palästinensischen und israelischen Staat - zum wechselseitigen Schutz; elektronische und Satelliten-Überwachung; eine Freihandelszone im gesamten Nahen Osten, damit die unterentwickelten arabischen Staaten sowohl von der Wirtschaftskraft Israels als auch von der Wirtschaftshilfe des Westens profitieren können; denn volle Mägen machen zufrieden und friedlich und verjagen revolutionäre Gedanken; letztlich die Einleitung eines Prozesses wie in Europa (EU), der durch wirtschaftliche und politische Interdependenz Grenzen und nationale Unterschiede unbedeutend werden läßt, so wie auch heutzutage die Unterscheidung von Katholiken und Protestanten irrelevant geworden ist, obwohl beide Seiten vor 300 Jahren noch einen 30-jährigen Krieg um diese Frage führten. Voraussetzung einer derart pragmatischen Lösung ist - wie gesagt - eine spezifische Definition von politische Kultur auf beiden Seiten in einem nichtfundamentalistischen Sinne. Ob dies gelingen wird, hängt von den nationalen Diskursen und den internationalen Rahmenbedingungen ab: In Israel einer offenen, eingelebten Demokratie - stehen die Chancen nicht schlecht, daß sich die übergroße säkulare Mehrheit durchsetzt: Letztlich funktioniert ja eine Demokratie nicht nach fundamentalistischen Prinzipien, sondern nur nach denen des Säkularismus. Denn wenn eine Partei behauptet, sie allein besäße die absolute Wahrheit, sind demokratische Kompromisse nicht mehr möglich. Wie sich das in den arabischen Staaten entwickeln wird, ist schwer abzuschätzen. Wie oben bereits erwähnt, kennt der Islam nicht die Trennung von Politik und Religion wie das Christentum. (Und die Verbindung von AlltagsPolitik und Religion ist die Definition für Fundamentalismus, so daß auch in den USA z.B. seitens bestimmter evangelischer Sekten fundamentalistische Bestrebungen zu verzeichnen sind. Daß Religion die ethischen Grundlagen von Politik bestimmen kann und ggf. sogar soll, ist unbestritten und in diesem Sinne nicht als fundamentalistisch zu bezeichnen.) Das heißt nun nicht notwendigerweise, es könne nur Fundamentalismus im Islam geben. Die säkulare Türkei und auch das moderne Ägypten z.B. sind Gegenbeispiele. Aber andererseits gibt es das seit 1979 fundamentalistische Persien unter der Herrschaft islamischer Geistlicher, auch wenn hier mittler-

Naher Osten

225

weile Liberalisierungsbestrebungen festzustellen sind. Und auch SaudiArabien ist konservativ-fundamentalistisch. Das zentrale Problem ist es, daß in vielen arabischen Gesellschaften offene Diskurse nicht erlaubt sind, bzw. die Bevölkerung durch jahrhundertelange Unterdrückung darauf nicht eingestellt ist; daß vielmehr umgekehrt Diktatoren die fundamentalistischen und antiisraelischen Ressentiments ihrer Bevölkerung bewußt durch Medien provozieren und manipulieren, um das politische System durch ein formidables Feindbild zu stabilisieren. Die ökonomische Misere vieler dieser Staaten - trotz Erdölpreissteigerungen seit 1973 und die ausgebliebenen Segnungen, wie man sie von einer Industrialisierung und Verwestlichung oder auch vom Sozialismus erhofft hatte, sind ebenso ein günstiger Nährboden für Fundamentalismen aller Art. Gleichermaßen trägt aus der Sicht vieler Araber die ungeschickte und einseitige Politik der USA im Nahen Osten zu einem allgemein akzeptierten Antiamerikanismus bei, denn den Vereinigten Staaten wird vorgeworfen, eine unter Ministerpräsident Netanyahu in Teilen imperiale Außenpolitik zu decken, während sie mit unerbittlicher Rigorosität an der wirtschaftlichen und sonstigen UN-Blockade gegen den Irak - infolge des Zweiten Golfkrieges 1990/91 - festhalte, obwohl diese gerade die irakische Bevölkerung treffe. Grundlegend ist - auch für die anderen, in dieser Publikation dargestellten Regionen - die Frage: Wie und unter welchen Bedingungen ändern sich politische Kulturen? Oder bleiben sie im wesentlichen konstant und vermögen sich nur in Randbereichen zu ändern? Die Analysen dieser Veröffentlichung zeigen, daß vieles für die Konstanz-These spricht. Aber das ist nur die halbe Wahrheit! Politische Kulturen müssen reagieren auf sich ändernde Umweltverhältnisse und ihren evt. konstanten Wesenskern dem anpassen. Daß sich wie aufgezeigt die politische Kultur Deutschlands z.B. von einem Hypermilitarismus zum faktischen Pazifismus gewandelt hat, ist offensichtlich, allerdings strömen beide Verhaltensweisen aus dem gleichen Motiv einer traditionellen Politikferne. Wie sieht das nun diesbezüglich im Nahen Osten aus? Was ist das, was die politische Kultur Israels zentral ausmacht; was ist das, was man nicht wegdefinieren kann, ohne daß man die politische Kultur als solche aufgäbe? Ich behaupte: bezogen auf Israel ist es der Zionismus, der durchaus mit einem Säkularismus einhergehen kann. (Eine Reihe von Kibbuzim z.B. ist vollkommen antireligiös.) Kernpunkt ist, daß nach Auschwitz den Juden in aller Welt für immer eine Zuflucht gesichert werden kann. Diese Zuflucht liegt im fruchtbaren Westen des heutigen Israel, nicht oder nur begrenzt in den Wüsten und Steppen des Westjordanlands. Und wie uns Hongkong oder die Niederlande lehren, können selbst auf engstem Raum Millionen Menschen leben.

226

Naher Osten

W a s ist der Kern der politischen Kultur der arabischen Staaten? Insbesondere auch der Palästinenser? Im Gegensatz zum Zionismus ist für diese Politik religiös fundiert. Politik und Religion sind nicht zu trennen. Politik hat eine dienende Funktion gegenüber dem Islam. Aber die Ausprägungen dieses Grundsatzes sind durchaus unterschiedlich, bis zum Säkularismus der Türkei seit Ata Türk. Erinnert werden darf auch an die Toleranz des frühen Islam gegen die in ihren Staaten lebenden Juden und Christen. Einer Koexistenz zwischen einem jüdischen und einem palästinensischen Staat im Nahen Osten steht also nichts im Wege, wenn sich beide Seiten auf ihre zentralen Interessen beschränken. Es bleibt nur zu hoffen, daß dieser Prozeß des Wandels einer politischen Kultur nicht durch Schock und Katastrophe wie 1945 in Deutschland erfolgt, sondern durch friedliches Lernen infolge gemeinsamer und freier Diskurse, die Aufklärung ermöglichen.

Literatur: U. Haarmann (Hrsg.), Geschichte der arabischen Welt, München 1987 Das Vermächtnis des Islams, Zürich/München 1980 W . Hollstein, Kein Frieden um Israel, Frankfurt/M. 1972 X. de Planhol, Kulturgeographische Grundlagen der islamischen Geschichte, Zürich/München 1975

Schwarz-Afrika

227

Staatenwelt ohne Struktur : Schwarz-Afrika?

Es war einmal, daß sich unsere Vorfahren angesichts eines dramatischen Klimasturzes in der heutigen südlichen Sahara und im östlichen Schwarzafrika entscheiden mußten: sterben wir aus, oder mutieren wir zurück zum heutigen Zpo-Affen, oder machen wir uns auf die Socken und wandern in die Gebiete aus, die fruchtbar sind und ein Überleben ermöglichen. Alle drei Alternativen wurden gewählt. Die erfolgreichste Variante war der Mensch, der aufgrund seiner Wanderfähigkeit und eines Mindestmaßes von Intelligenz sich nun die Umwelt aussuchte, bzw. sie zu gestalten trachtete, die ihm am bekömmlichsten war. Die Afrikaner wanderten mehrmals derart aus (zum ersten Mal wohl rd. 1000000 v.Chr.) und ihre Nachfahren bildeten einerseits in anderen Kontinenten jene Hochkulturen, die wir bis heute bewundern. Zum anderen und später (um 4000 v.Chr.) - so kann vermutet werden - wanderten sie auch aus in Richtung Ägypten einerseits und das Nigergebiet bis nach Südafrika hin andererseits, wo sie dann um 1600 n.Chr. mit den Holländern zusammentrafen. Die Kulturen im Norden, nördlich der Sahara, insbesondere Ägypten, wurden zu Hochkulturen, die die anderen Kulturen des Mittelraumes (insbesondere die Griechen) befruchteten und von diesen befruchtet wurden. Während die Gebiete südlich der Sahara durch diese nahezu undurchdringliche Wüste von der kulturellen Entwicklung im Norden abgeschnitten blieben. (Wegen dieser Trennung und wegen der islamischen Sonderentwicklung Nordafrikas wird dieser Teilkontinent gesondert im Kapitel "Nahost" behandelt). Was die Emigranten zurücklassen mußten und was ja auch Grund ihrer "Ausreise" war, war und ist Schwarzafrika, das bis heute trotz aller vordergründigen Urwald-Üppigkeit und trotz allen (mineralischen) Rohstoffreichtums von der Natur (agrarisch) benachteiligt und in der gesellschaftlichen Entwicklung durch die Kärglichkeit der Natur stark beeinträchtigt ist. Urwald bietet keinen ackerbaufähigen Boden, im Norden und im Süden des Kontinents, an beiden Rändern des Urwaldes, ziehen sich große Wüsten hin, die kaum Leben ermöglichen, geschweige denn Gesellschaftsbildung über Nomadismus hinaus. Die großen Flüsse sind kaum schiffbar. Die Küsten "sind unwirtlich". (P. Bertaux, Afrika, Frankfurt a.M. 1966, S. 17) Entweder gibt es zu viel oder zu wenig Flüssigkeit. Die Winde sind ungünstig. "Alles in allem: kein gastliches Land und kein angenehmes Klima; und damit ein erbitterter Kampf ums Dasein. Das Tier ist des Menschen Feind; Insekten sind gefährlicher als Raubtiere ... Die Existenz ist täglich gefährdet ... So kommt es auch, daß die Afrikaner dazu neigen, ihre Umwelt eher durch Magie als durch organisierte Arbeit zu bändigen." (ebd. S. 19)

228

Schwarz-Afrika

Sicherlich, es gab auch hochkulturelle Entwicklungen in Afrika, insbesondere seit der Zeit, als der Islam mit seinen wissenschaftlichen und zivilisatoris c h e n Leistungen vom Norden auch in das mittlere Afrika vordrang. Es soll nicht das Vorurteil von Hegel hier reproduziert werden, als sei Afrika ein Kontinent ohne Geschichte gewesen. Timbuktu, Benin, Mali, Songhai u.a. gehörten zu den legendären Städten und Königreichen, die eine hochentwickelte Kultur hervorbrachten. E s waren Städte, die vom transsaharischen Handel vor allem mit Gold. Elfenbein und S a l z lebten, und es ist nun die Frage z u beantworten, ob sich a u s solchen Städten über ihre punktuelle Handelsblüte hinaus dauerhafte, differenzierte Gesellschaften entwickeln konnten. In dieser Hinsicht ist es symptomatisch und entwicklungsgeschichtlich im negativen Sinne folgenreich, daß der Handel ungleich war: die Afrikaner lieferten Rohstoffe: Gold, Salz, Früchte, Baumwolle, während die Europäer und Nordafrikaner diese Waren mit verarbeiteten Produkten (Tuchen, Fertigwaren u.dgl.) tauschten. Das förderte keine Anreize zur eigenständigen gewerblichen Produktion in Schwarzafrika (obwohl es diese natürlich auch gab: Bergwerke, Metallverarbeitung, wenn a u c h nicht bestimmend). Damit fehlten Voraussetzungen für eine "moderne" Entwicklung im europäischen Sinne (von der ich behaupten möchte, d a ß sie in der Form der Industrialisierung das Leben aller Menschen, gleichgültig wo, erleichtern könnten). Zumindest kann man sagen, daß solche Händlerkulturen sehr abhängig waren von äußeren Entwicklungen. Eine Unterbrechung der Handelswege, kriegerische Auseinandersetzungen, Wegfall der Kunden - und die Nomaden- und Räubergesellschaften der Sahara lebten vom Überfall auf die Karawanen - all dies konnte das Ende der Handelsstadt bedeuten, s o wie auch die Handelsstädte der Renaissance in Oberitalien langsam untergingen, als der W e g nach Osten von den siegreichen Osmanen unterbrochen wurde. Hier entwickelten sich auch erst spät modernen Industrialisierungsformen, ähnlich wie im Handelsstaat Niederlande. Z w a r können auch Agrar- und Industriegesellschaften von solchen äußeren Bedingungen erheblich tangiert werden, aber nicht in dem Maße. Denn vor allem das Zusammenspiel von Landwirtschaft auf der einen Seite und Stadt/Gewerbe/Handel/Industrie auf der anderen Seite, die sich wechselseitig beliefern können (der Bauer beliefert Stadt und Industrie mit Nahrungsmitteln, die Industrie liefert umgekehrt Maschinen, Dünger usw. ans Land) und somit einen zumindest in Teilen autarken, selbstgenügsamen Binnenmarkt bilden, ist die Voraussetzung der modernen Entwicklung. Ein solcher Binnenmarkt entsteht aber nur schwerlich um die insularen, afrikanischen Handelsstädte herum. Deshalb sind Handeisstaaten - historisch gesehen - eine Sackgasse, auch w e n n hier nicht geleugnet werden soll, daß der Sklavenhandel seit rd. 1500 und die dadurch bewirkte partielle Entvölkerung der Gebiete Afrikas mit zum Untergang beitrugen, jedoch nicht dessen Ursache war. Denn Handels-

Schwarz-Afrika

229

Staaten leben letztlich parasitär von der Entwicklung und vom Bedarf woanders: Sie versorgten Europa mit Gold und Rohstoffen. Als sich die Goldreserven erschöpften, zerfiel die Scheinblüte dieser Reiche. Diese Reiche (Ghana; Mali, Songhai) vor allem im westlichen und mittleren Afrika gingen daher auch alle bereits vor der kolonialen Eroberung zugrunde. Vielleicht ist sind solche Handelsreiche erst heutzutage möglich. Das einzige afrikanische Reich, das erhebliches Entwicklungs- und Modernisierungspotential besaß, nämlich das der Aschanti im heutigen Ghana und in Teilen von Togo und der Elfenbeinküste, ist von den Briten 1901 zerstört worden. Die Aschanti verfügten bereits über eine funktionierende Bürokratie, eine breite Handwerkerschaft sowie über ausgedehnte Handelsbeziehungen. Vielleicht hätten sie sich zu einem modernen Staat entwickeln können, und in diesem Fall zumindest hat der Kolonialismus schwere Schuld auf sich geladen (wenn hier eine moralische Kategorie überhaupt angebracht ist). Andererseits soll nicht übersehen werden, daß diese kolonialen Eroberungen ungefähr seit 1850 zum großen Teil in Afrika erst solche politische Gebilde zu schaffen versuchten, die zumindest die Voraussetzungen und auch die materielle Infrastruktur (Eisenbahn z.B. institutionalisiertes Schulwesen) für nation-building boten. Afrika war und ist weitgehend dörflich-agrarisch geprägt, sieht man von den westlich geprägten Monopolen und vielleicht einigen Provinzstädten ab. Diesem dörflichen Afrika entstammt der bis heute virulente Mythos der "regulierten Anarchie" (Sigrist), einer sich selbst regulierenden, kaum hierarchisch aufgebauten, modern ausgedrückt: basisdemokratischen Gesellschaft, die allerdings über verinnerlichte Regeln und verinnerlichte Autoritäten funktioniert. Afrikanische Mentalitäten und Gesellschaften sind durch kleinere, ethnische Einheiten, insbesondere durch den Stamm bis heute bestimmt. (Größere Gebilden benötigen eine funktionierende Bürokratie, deren Ausbildung durch die lange fehlende Tradition von Schriftlichkeit und deren finanziell-ökonomische Basis durch die geringe Produktivität der Wirtschaft erschwert wurde.) Ethnische Einheiten sind durch den Bezug der Gesellschaftsmitglieder auf einen realen oder fiktiven "Stammvater", auf einen gemeinsamen, (geglaubten) biologischen Ursprung gekennzeichnet. Im Unterschied zum moderner Staat, der durch gemeinsame Regeln und die Zustimmung der Bürger zu ihm konstituiert wird. Diese abstrakten Konstitutionsprinzipien ermöglichen demographisch und/oder territorial große Gebilde, während der biologische Bezug die soziale Einheit naturgemäß beschränkt und auch wenig sozial differenziert, wenig arbeitsteilig (da recht klein), da auch die natürlichgeographischen Rahmenbedingungen nicht mehr erlauben. D.h. aber auch: größere staatliche Einheiten sind faktisch bis in die Gegenwart nur rudimentär entstanden. Wenn man z.B. einen Afrikaner aus Togo fragt, was er sei, so antwortet er: Ewe (ein Stamm). Erst dann folgt, er sei auch Togolese

230

Schwarz-Afrika

(wobei die Ewe auch in den Nachbarstaaten Togos wohnen - potentiell Urs a c h e zahlreicher Konflikte - national und international.) Daher war das Ergebnis der westlich-europäischen ersuche, moderne Staaten zu schaffen, paradox; wie bei so vielen gut oder nicht gut gemeinten Planungen erreichte man das Gegenteil des Intendierten: Die Ansätze moderner Staatlichkeit verbanden sich mit den traditionellen tribalen Elementen zur "Staatsklasse" (Elsenhans): bestimmte Stämme eines Staates okkupieren - bei Ausschluß anderer Stämme - den Staatsapparat, der über Steuern und die Rohstoffeinnahmen verfügt, um mehr oder weniger diese Steuereinnahmen (u.a. aus Rohstoffexporten) für ihre eigenen Zwecke zu verwenden, bzw. - so die geschicktere Variante z.B. der Elfenbeinküste - politisch loyale Klientelgruppen durch Finanzzuweisungen und Korruption an sich zu binden oder diese Loyalität erst so zu erzeugen. Z w a r gibt es Ansätze, die Stammeskonflikte in transethnische Strukturen von Parteien und Wirtschaftsinteressen zu transformieren, dieser P r o z e ß ist jedoch sehr unterschiedlich vorangeschritten, bzw. ist immer wieder von Rückfällen in vormalige Stammeskonflikte bedroht. Sozialpsychologisch hat dieses partikularistisch-ethnische Bewußtsein sein Pendant im allgegenwärtigen Aberglauben an Geister und sonstige animistis c h e Wesen. Animismus ist eine frühe Form der Religion, wenn Menschen an die geistige Belebtheit der Dinge glauben. Bestes Beispiel ist die Fee, die im Baume wohnt und dem vorbeireitenden Prinzen zulächelt, um in den deutschen Märchenschatz zu greifen. Alle Missionsversuche des Christentum und des Islam prallen an dieser religiösen Überlieferung ab, sie blieben äußere Fassade. Wie in Lateinamerika wird der Animismus in die Hochreligion integriert oder bleibt gänzlich separat. Hiermit verbunden ist der Glauben an Hexerei. Naturkatastrophen werden auf menschliches Fehlverhalten zurückgeführt, und dies kann nur gesühnt werden durch Tieropfer. Animismus ist ein Hindernis für die Entwicklung zu größeren Einheiten, da er partikulär ist, begrenzt ist in seinem Bezug, während z.B. das Christentum für alle Menschen Gültigkeit beansprucht. Denn die (animistischen) Vorfahren sind weiterhin vor Ort als Ahnen gegenwärtig, das Alte und familial Hergebrachte verlangt Respekt. Tradition wird somit geheiligt (während z.B. J e s u s dagegen sogar u.U. zum Trennen von der Familie aufforderte). Die Heiligtümer und heiligen Gefilde wurden von Priesterinnen und Priestern verwaltet. Sie verfügten auch über medizinische Kenntnisse, was ihre Macht erhöhte. Alles bewirkt eine stete Vergangenheitsorientierung und droht Innovation zu ersticken. Die ethnisch heterogene Struktur der Staaten Afrikas führte seit der Unabhängigkeit zu ständigen Konflikten: die Ibos in Ost-Nigeria gegen die anderen Ethnien des Landes (Bürgerkrieg von 1967 bis 1970), auf der Insel Mauritius lebt eine Mehrheit von Hindu-Indern zusammen mit Kreolen und sowie (französisch-stämmigen) Weißen und Moslems. In der Republik Süd-

Schwarz-Afrika

231

afrika koexistieren Schwarze (die in sich nochmals ethnisch gespalten sind) mit Weißen, die aus Holland und England eingewanderten und dort seit Jahrhunderten leben. In Zimbabwe steht sich eine Shona-Mehrheit den Stämmen des Matabelelandes gegenüber. In Sambia die Bemba im Norden und die Tonga im Süden. In Äthiopien gibt es mehr als 100 Sprachgruppen, so daß als allgemein akzeptiertes Verständigungsmedium nur das Englisch oder das Amharische der dominanten Ethnie übrigbleibt.

Binnen-Konflikte und außenpolitische Konflikte in Schwarz-Afrika (südlich der Sahara) (ohne Kolonialkriege) seit der Unabhängigkeit (Auswahl) seit 1955

"Bürgerkrieg" des islamischen Nordens gegen den christlich-anamistischen Süden im Sudan

1960-1964

Bürgerkrieg im Kongo (mit ausländischen und UNOInterventionen) (Abspaltung des rohstoffreichen Katangas)

seit 1961

Eritrea gegen Äthiopien und umgekehrt (seit 1998)

1963-1964

und immer wieder danach (insbesondere in 90er Jahren) Krieg Somalia - Äthiopien um den Ogaden, der ethnisch zu Somalia gehört

1963-1967

Somalische Guerilla gegen kenianische Regierungstruppen

1964-1967

Guerilla-Kämpfe in Kongo-Kinshasa

seit 1966

Südtschadische Einheiten gegen den islamischen Norden (der von Libyen unterstützt wird) (MilitärInterventionen der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich)

1967-1970 Abspaltung Biafras von Nigeria: erbitterter (ethnischer) Bürgerkrieg 1970

Bürgerkrieg in Guinea (unter Beteiligung von portugiesischem Kolonialmilitär)

1971-1972

Krieg Uganda - Tansania, Guerilla-Kämpfe

1976-1994

Krieg/Guerilla Südafrika - nördliche Nachbarstaaten (Kampf gegen die rassistische Republik Südafrika)

1977 ff., 90er Jahre

Guerilla-Kämpfe und Bürgerkrieg in Zaire

232 80er Jahre

Schwarz-Afrika Bürgerkrieg in Uganda

1978 80er Jahre Südafrikanische Truppen gegen nördliche Nachbarn; Guerilla gegen Republik Südafrika 1981

Bürgerkrieg in Gambia

1985

Krieg Mali - Burkina Faso um ölgebiete

Mit den 90er Jahren kam es - z.T. durch Demokratisierungsversuche - geradezu zu einer Explosion von Bürgerkriegen und Militärputschen: Somalia, Liberia, Kongo, Burundi und Ruanda, Tschad, Angola, Sudan, Äthiopien usw. usf.

Gefördert wurden die ethnischen Konflikte oft durch Interventionen der G r o ß - und ehemaligen Kolonialmächte: USA, U d S S R , Frankreich, China, weniger Großbritannien, die aus Gründen der machtpolitischen Konkurrenz jeweils auf eine der Seiten setzten, um das afrikanische Land nicht in den Einflußbereich des weltpolitischen Feindes abgleiten zu sehen. In Rhodesien wurde z.B. Robert Mugabe, der jetzige Präsident, bis zur Unabhängigkeit des Landes, während des Guerilla-Krieges von der Volksrepublik China finanziell und militärisch unterstützt, während Nkomo, der die andere Widerstandsbewegung gegen das Regime der weißen Ölpflanzer führte, der Sowjetunion nahe stand. Solche Beziehungen dürfen jedoch nicht unbedingt als Abhängigkeit von der Großmacht interpretiert werden, oft instrumentalisieren die Afrikaner vielmehr umgekehrt die Großmächte zur Durchsetzung ihrer Interessen. Präsident Mugabe distanzierte sich z.B. nach der Unabhängigkeit vom kommunistischen Lager und fuhr innenpolitisch einen gemäßigten Kurs. Denn Ursache der Kriege und Konflikte in Afrika sind nicht von außen in den Kontinent getragen, sondern originär afrikanisch, wie die Zeit nach dem "Abzug" der Supermächte U d S S R und U S A seit Beginn der 90er Jahre zeigt.

Schwarz-Afrika

233

Muster ethnisch-sozialer Konflikte nach "cleavages"

Interessen/Ziele der ETHNIE

Macht |

Soziale P o s i t i o n \ _ im Staat Hoch (= Nähe zur Staatsklasse)

Monopolisierung von Herrschaft und Status quo Expansion

Niedrig a) marginalisiert

Regimewechsel Bessere Integration

Kultur Hl

Einkommen 1!

Hegenomie Missionierung

Verteidigung von Privilegien Zentralisierung von Reichtum

Zugang zu öffentlichen Ämtern und

-

Abwehr von kultureller Überfremdung

Ressourcen (Land)

b) peripherisiert

Machtbeteiligung Sezession

Höhere Verteilungsgerechtigkeit

Verteidigung von Autonomie

Abwehr von Staatsintervention

nach:R. Tetzlaff/ C. Peters/ R. Wegemund, Politisierte Ethnizität - eine unterschätzte Realität im nachkolonialen Afrika, in: Afrik Spectruum 26(1), 1991, S . 5 - 2 7 , S. 6

234

Sch warz-Afrika

Oft werden die innerstaatlichen ethnischen Spannungen durch Militärdiktaturen oder Einparteienregime unter Kontrolle gehalten (allerdings auch geschürt, wenn sich das Regime mit einer Ethnie identifiziert und die anderen diskriminiert). Erodiert allerdings diese Kontrolle, kommt es oft zu grausamen Massakern und Massenmorden: Burundi, Ruanda, Liberia, Somalia. Der Verfall von Staatlichkeit hatte in Somalia seit Beginn der 1990er Jahre sogar eine Regression nicht mehr nur auf Stammesstrukturen zur Folge; was an Organisationsmacht übrig blieb, waren lange Zeit in den 90er Jahren Bandenstrukturen, die bestimmte Regionen oder Stadtteile mit Waffengewalt "regierten". Daran konnte auch die Intervention der UN, bzw. der USA nichts ändern, bzw. sie scheiterte an der Unkontrollierbarkeit dieser ClanStrukturen, die ja faktisch Anarchie bedeuteten. Somalia ist an sich ethnisch homogen - einer der wenigen afrikanischen Staaten -, aber ein Teil der Somalis lebt in Äthiopien, im Ogaden - Folge der italienischen Kolonialpolitik, die einen Teil der Kolonie Somalia - nämlich den Ogaden - Äthiopien "zugeschlagen" hat. Auch in Nord-Kenia lebt ein Teil der Somalis. (Das führte zu ethnisch verursachten, zwischenstaatlichen Kriegen.) Nach dem Sturz des äthiopischen Kaisers Haile Selassie kam es in dem Land zu einem Bürgerkrieg, den die Somalis 1977 ausnutzten, in den Ogaden einzumarschieren. 1978 mußten sie sich jedoch zurückziehen, da die UdSSR nun Äthiopien unterstützte und nicht mehr Somalia. Kritische Entwicklungstheorien führen die Konflikte in Afrika auf die koloniale Vergangenheit zurück. Das ist jedoch differenziert zu betrachten. Denn mit Beginn der 60er Jahres des 20. Jahrhunderts wurden die französischen und britischen Kolonien im Westen und Osten Afrikas zwar sukzessive unabhängig. In den 80er Jahren erlangten die letzten Kolonien und Quasi-Kolonien, Rhodesien und Namibia, die politische Souveränität. In den 90er Jahren übernahm die schwarze Mehrheit auch die Macht in der zuvor burischenglisch dominierten Republik Südafrika. Aber erst mit der Unabhängigkeit brachen die ethnischen Konflikte aus. Das vermittelnde und autoritativrepressive Wirken der Kolonialmächte war weggefallen. Und die neuen politischen Strukturen vermochten die Konflikte nicht aufzufangen, wurden teilweise eher in ihnen instrumentalisiert; der parlamentarisch-europäische Mechanismus Regierung - Opposition funktioniert nicht, da er in Afrika nicht entlang ideologischer (z.B. Liberalismus - Sozialismus) Linien verläuft, sondern entlang ethnischer Konfliktlinien, und zwar so, daß die jeweilige Minderheit befürchten muß, von der Mehrheit insgesamt "ausgebootet" zu werden. (Es gibt kein Vertrauen in die Funktionsweise demokratischer Herrschaftsmechanismen und kein Vertrauen in die Stabilität von Gewaltenteilung, die auch Minderheiten schützt.) So daß die Minderheit quasi zum Putsch gegen die Mehrheit neigt (um sich durchzusetzen), die wiederum angesichts eines evt. zu erwartenden Putsches - möglichst viel an sich zu reißen und ins Ausland zu transferieren trachtet ("Kleptokratie"), solange sie noch an der Macht ist. Die Mehrheit traut der Minderheit nicht, und die Minderheit nicht der Mehrheit, Bürgerkrieg ist daher stets latent präsent.

Schwarz-Afrika

235

Weiterhin wird kritisch eingewandt, die Kolonialmächte hätten die staatlichen Grenzen ungeachtet der ethnischen Zusammenhänge gezogen. Das ist jedoch nur z.T. korrekt: Denn hätten die Kolonialmächte bei der Staatengründung alle ethnischen Strukturen berücksichtigt, wären gar keine Staaten entstanden. Selbst kleine Staaten in Afrika bestehen heute noch oft aus mehr als 100 ethnischen Einheiten mit unterschiedlichen Sprachen. Es ist daher nur zu verständlich, daß die Organisation Afrikanischer Einheit (OAU) 1963 als einer ihrer ersten außenpolitischen Beschlüsse entschied, die Grenzen in Afrika sollten nicht mehr geändert werden dürften. Denn Grenzänderungen entlang ethnischer Grenzlinien hätte den Zerfall vieler afrikanischer Staaten bedeutet. An diesem Grundsatz hielt die OAU bis heute fest - bis auf wenige Ausnahmen (z.B. die Abtrennung Eritreas von Äthiopien). Es war einer der wenigen Grundsätze der OAU, die unumstritten war und ist - neben dem langjährigen, gemeinsamen Kampf gegen die rassistische Republik Südafrika, der auch alle Staaten Afrikas einte. Ansonsten hatte und hat man sehr unterschiedliche Interessen. Afrika ist weit weg von einer Integrationsdichte wie in Westeuropa - die regionalen, vor allem wirtschaftlichen Integrationsgebilde (Freihandelszonen, gemeinsame Projekte) wie in West-, Süd oder Ostafrika sind eher labil; die Ostafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ist wieder zerfallen. Ohnehin sind die Staaten untereinander wenig ökonomisch verflochten, eher ist man auf die Wirtschaften der Industriestaaten orientiert. Die Währungen der meisten vormals französischen Kolonien sind immer noch an den Franc gebunden und werden von der französischen Zentralbank kontrolliert. Wirtschaftskrisen der notbedingte, grenzüberschreitende Wanderungen von Arbeitskräften lassen die Integrationen schnell auseinanderbrechen. Zuweilen wird heutzutage in der Wissenschaft argumentiert, ethnische Zuordnungen von Menschen seien nur "Konstruktionen", die politisch von interessierten Seiten instrumentalisiert würden. Das ist richtig und falsch zugleich: Natürlich sind die meisten menschlichen Gebilde und Organisationen "Konstruktionen" oder "Projekte", wie man heutzutage zu sagen beliebt. Natürlich haben "wir" sie "gemacht" - wer sonst? - und wir können sie natürlich auch ändern, was zuweilen geschieht. Man nennt das dann Revolution. Das alles ist eine Banalität - und so schon von Hegel formuliert worden - vor 200 Jahren. Sprache ist natürlich vom Menschen in seiner historischen Entwicklung herausgebildet worden und ändert sich ständig weiter durch ihn. Keiner hat je behauptet, sie sei genetisch-biologisch verankert. Ähnliches gilt für Ethnien. Aber in dieser ihrer selbstverständlichen Akzeptanz seitens der Menschen sind sie natürlich "objektiv" und für den Einzelnen nur schwer zu ändern: Wer will schon in Deutschland dagegen kämpfen, daß er deutsch spricht (oder sprechen muß)? Auch das könnte man ändern, aber diese "Konstruktion" ist so manifest von Geburt an, daß sie nicht zu bezweifeln ist - und bis

236

Schwarz-Afrika

auf einige, abstruse Wissenschaftler und deren Theorien auch nicht bezweifelt wird.

Auswirkungen auf die Außenpolitik Die Überschrift dieses Kapitels "Afrika ohne Außenpolitik?" ist natürlich provozierend gemeint und daher auch mit einem Entwarnung signalisierenden Fragezeichen versehen. Aber ein Kern Wahrheit ist doch getroffen. Dazu nun im einzelnen, zur Erläuterung muß aber weiter ausgeholt werden: Um die afrikanische Außen- und internationale Politik adäquat einordnen zu können, soll hier zunächst eine historisch fundierte Skala internationaler Systemen entwickelt werden. Die (extremen) Pole der Skala - nur selten historisch realisiert - werden einerseits gebildet von einem Staatensystem vollkommener Anarchie ("jeder Staat gegen jeden", ohne gemeinsame Regelungen und Institutionen) und andererseits von einem Staatensystem vollkommener Integration, wobei aber schon gar nicht mehr von einem "Staatensystem" gesprochen werden kann, weil hier quasi-innenpolitische Verhältnisse erreicht wurden: mit Überwindung der nationalstaatlichen Souveränität; mit gemeinsamer, allgemein akzeptierter Gerichtsbarkeit zur Streitbeilegung; mit einem gemeinsamen Parlament für die vormals getrennten Staaten usw. Die Europäische Union nähert sich diesem Zustand. Ähnlich ist die Gründung des Deutschen Reiches 1870/1 aus den vormals souveränen und nunmehrigen Teilstaaten zu beurteilen.

Skala internationaler Systeme * vollkommene Anarchie (z.B. ein System, in dem jeder Staat über Atombomben verfügt und zumindest militärischpolitisch souverän ist) * Staatensystem mit wechselnden Koalitionen * Staatensystem mit stabilen Koalitionen * Staatensystem mit einer dominanten Hegemonialmacht (bis hin zur Imperienbildung) * Wirtschafts- und Währungsunion (d.h. Gebilde mit einer engen wirtschaftlichen Verflechtung, als evt. Basis eines politischen Zusammenschlusses) * vollkommene Integration (z.B. auf dem Weg dorthin: Europäische Union)

Schwarz-Afrika

237

Vergessen werden darf aber auch nicht ein Stadium "vor" dieser Skala, nämlich ein Staatensystem, dessen Elemente, nämlich die Staaten, zu verfallen drohen. Das Problem haben wir in Afrika, in dem Staaten z.B. wie gegenwärtig der Kongo oder Somalia als eigenständige Akteure der Außenpolitik ausfallen, weil sie innerlich zerrissen sind und dadurch eher Opfer anderer Mächte werden, die diese inneren (meist ethnischen) Konflikte zu ihren Gunsten instrumentalisieren. Um mit den "höheren" Formen der internationalen Systeme zu beginnen: Es gibt in Afrika so gut wie keine stabilen und längerfristig dauerhaften internationalen, wirtschaftlichen und politischen Integrationsgebilde. Die ostafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft aus Uganda, Kenia und Tansania zerfiel spätestens mit den politischen Differenzen, als Idi Amins diktatorische Herrschaft in Uganda immer brutaler wurde. Die wirtschaftliche Kooperation der Staaten im südlichen Afrika wird schwieriger, seitdem es zu machtpolitischen Rivalitäten zwischen den beiden Vormächten des Raumes kommt: zwischen der Republik Südafrika unter Mandela und Zimbabwe unter Mugabe. Die diversen Integrationen zwischen Staaten im westlichen, frankophon geprägten Afrika sind letztlich nur von den Interessen Frankreichs abhängig, das zwar lange Zeit eine Währungsunion zwischen diesen Staaten förderte ("Franc-Zone"); aber nun sich vermehrt auf die Europäische Union orientiert, mit ihrer eigenen Währung, dem Euro, der spezifische Beziehungen zu Afrika erschwert. Auch die Organisation für Afrikanische Einheit, die OAU, ist keine die Einheit Afrikas repräsentierende Organisation. Sie verwaltet gerade mal den status quo, d.h. die Beibehaltung der Staaten in der territorialen Formation, wie sie gegeben sind, um einen Zerfall des Kontinents in eine Vielzahl ethnischer Einheiten zu vermeiden - mehr aber auch nicht. Früher gab es noch den gemeinsamen Kampf gegen das weiß-rassistische Südafrika - und notfalls gegen den Imperialismus und überhaupt gegen die USA. Aber mit der schwarzen Machtübernahme in der Republik Südafrika und mit dem Abebben des Ost-West-Konfliktes sind diese Klischees passé. Auch gibt es in Afrika nur begrenzt dauerhafte, hegemonial bestimmte Staatensysteme, wie z.B. in Nordamerika mit den USA als Zentrum oder in Lateinamerika mit Brasilien und/oder Argentinien. Zwar dominiert die Republik Südafrika durch ihre ökonomische und militärische Macht in gewissem Maße den Süden des Kontinents, aber Konkurrent ist hier Zimbabwe, das mittlerweile z.B. auch als Ordnungs- und Interventionsmacht im bürgerkriegszerrissenen Kongo der Gegenwart auftritt, während sich der südafrikanische Präsident Mandela auf (gescheiterte) Vermittlungsversuche beschränkt. Mit dem bevölkerungsreichen Nigeria wäre eine solche Vormacht, die durchaus auch international stabilisierend wirken könnte, evt. gegeben, und

238

Schwarz-Afrika

das Land strebte das zunächst nach der Unabhängigkeit in den 60er Jahren auch an. Das war jedoch illusorisch, da sich Nigeria dann durch den BiafraKrieg selbst schwächte und da zudem Frankreich als ehemalige Kolonialmacht stets als Machtkonkurrent präsent ist: Durch Militär- und Wirtschaftsabkommen bindet Paris bis heute die (französischsprachigen und französisch sozialisierten) Eliten des frankophonen Afrikas, der z.T. kleinen Staaten am Atlantik, sowie Zentralafrikas an sich, und diese Eliten sind dazu auch bereit, da "notfalls" nur französische Truppen diesen Eliten bei inneren Unruhen z u helfen in der Lage und willens sind. Ohnehin können am ehesten noch die ehemaligen Kolonialmächte (und ihre Dominanz vor Ort bis heute) längerfristige, internationale Strukturen zwischen afrikanischen Staaten schaffen. In Afrika gibt es natürlich auch zwischenstaatliche Koalitionen von einiger Dauer: man denke nur an die jahrzehntelange, gemeinsame Frontstellung gegen das rassistische Südafrika (auch wenn einige, wie z.B. die Elfenbeinküste, faktisch ausscherten und mit Pretoria kooperierten); oder an die Spaltung der O A U der 60er Jahre in Staaten, die mit den vormaligen Kolonialmächten kooperieren wollten, und solchen, die dies strikt ablehnten (und eher mit der U d S S R zusammenarbeiteten.) Aber es ist symptomatisch, d a ß beide Konfliktlinien heute nicht mehr von Bedeutung sind. Bedingt durch den Untergang des südafrikanischen Rassismus und durch das Ende des OstWest-Konfliktes, was manche Ressentiments gegen den "kapitalistischen" Westen schwinden ließ. Für Afrika typisch sind die häufig und schnell wechselnden Staatenkoalitionen, letztlich die Labilität des internationalen Systems in Afrika insgesamt, und dahingehend ist es mit dem europäischen Staatensystem des 18. Jahrhunderts vergleichbar, als z.B. Rußland von heute auf morgen bei einem Zarenwechsel auch die Fronten wechselte und aus dem Krieg gegen Preußen ausschied. A u c h in Afrika ist solches festzustellen: 1977 gab Somalia das Bündnis mit der Sowjetunion auf; viele afrikanische Staaten balancierten in den letzten 30 Jahren zwischen den U S A , Europa, der U d S S R und der Volksrepublik China - diese gegeneinander ausspielend, um jeweils bessere Konditionen für sich und die Wirtschaftshilfe z u erreichen. Der Sudan wechselte vom westlichen ins islamistische Lager. Ein kleines, aber hoch organisiertes Volk wie das der Tutsi vermag gegenwärtig von Burundi und Ruanda aus - mit Unterstützung der U S A und Ugandas - gesamt Ostafrika und den Kongo zu destabilisieren, so daß nur eine große Staaten-Koalition südafrikanischer Staaten unter der Führung von Mugabe den kongolesischen Präsidenten Kabila an der (bröckelnden) Macht halten konnten. Die Staaten sind weder ideologisch noch wirtschaftlich so verflochten und verbunden, d a ß sich daraus längerfristige, zwischenstaatliche Bindungen ergeben würden. (Meist sind die Bindungen zur kolonialen "Muttermacht" sogar stärker als die innerafrikanischen.)

Sch warz-Afrika

239

Um diesen Sachverhalt abstrakter zu fassen: Es gibt in Schwarzafrika nur eine rudimentäre, internationale Gesellschaftsbildung; kaum feste Strukturen, die bestimmten Staaten oder Staatengruppen dauerhafte Rollen zuweisen, in stabile Konstellationen binden. Solche Rollenstrukturen sind z.B. eindeutig für das europäische Staatensystem der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts festzustellen: das Zusammengehen der konservativen Kaiserreiche Mittel- und Osteuropas: Deutschlands, Österreich-Ungarns, Rußlands; die deutsch-französische Gegnerschaft; Großbritannien als externer Staat, der jedoch eine Macht-Dominanz auf dem "Kontinent" - von wem auch immer - verhindern will (1914, 1939!). Afrika ist - wenn man so will - eher noch 18. und nicht 19. Jahrhundert. (Und in dieser Hinsicht auch nicht mit dem heutigen Asien zu vergleichen, das zwar auch kaum über internationale Strukturen verfügt, jedoch sind die Teilelemente, wie Indien und China, in sich ruhend, quasi Systeme für sich.) (siehe näheres dort)

Resümee: Afrikanische Gesellschafts- und Außenpolitik ist ethnisch bestimmt. Zwischenstaatliche Kriege - relativ selten - brechen aus, weil Ethnien über die jeweilige Grenze reichen. Oder es kommt zu Abspaltungen einzelner Ethnien zu neuen Staaten (Biafra, Eritrea). Meistens sind jedoch Implosionen dieser Staaten zu verzeichnen, ethnische Bürgerkriege, die Außenpolitik z.T. unmöglich machen. Auf der internationalen Ebene ist man daher faktisch nicht präsent. Schwarzafrika ist nur mit 1 - 2 Prozent am Welthandel beteiligt. Wichtiger sind eher die Militärbündnisse mit Frankreich, das bestimmte Eliten in seinen ehemaligen Kolonien auch mit Truppen zu unterstützen bereit ist (z.B. Tschad, Elfenbeinküste, Togo). Im Vergleich hierzu sind die innerafrikanische Koalitionen und Bündnisse zwischen den einzelnen Staaten sekundär - und auch nur sehr zeitweilig. Die Differenzen der 60er Jahre, ob und inwieweit man mit den ehemaligen Kolonialmächte weiter kooperieren soll, sind längst verflogen angesichts der Tatsache, daß man mittlerweile eher um westliches Kapital buhlt und Angst hat, von der Ersten Welt entweder vergessen oder in ihrem Sinne instrumentalisiert wird.

Literatur: F. Ansprenger, Politische Geschichte Afrikas im 20. Jahrhundert, München 1992 Afrika-Jahrbücher, Opladen, mehrere Jahrgänge P. Bertaux, Afrika, Frankfurt a.M. 1966

240

Schwarz-Afrika

A. Buchholz/ M. Geiling (Hrsg.), Afrika den Afrikanern, Frankfurt a.M. 1980 B. Davidson, Afrika, Stämme, Staaten, Königreiche, Hamburg 1972 R. Hofeier / V. Matthies (Hrsg.), Vergessene Kriege in Afrika, Göttingen 1992 W. Micheler, Weißbuch Afrika, Bonn 1991 W. Micheler, Afrika, W e g e in die Zukunft, Aachen 1995 St. Wright (Hrsg.), African Foreign Policies, Boulder, Col. 1998

Indien

241

Indien: Gott und Gewalt

Buddha: Alles wähnen Das hab' ich gehört. Zu einer Zeit weilte der Erhabene bei Savatthi, im Siegerwalde , im Garten Anathapindikos. Dort nun wandte sich der Erhabene an die Mönche: "Ihr Mönche!" - "Erlauchter!" antworteten da jene Mönche dem Erhabenen aufmerksam. Der Erhabene sprach also: "Wie allem Wähnen gewehrt wird, Mönche, das will ich euch weisen: höret es und achtet wohl auf meine Rede." "Ja, o Herr!" antworteten da jene Mönche dem Erhabenen aufmerksam. Der Erhabene sprach also: "Dem Kenner, ihr Mönche, dem Kundigen verheiße ich Wahnversiegung, keinem Unbekannten, keinem Unkundigen. Was soll aber, Mönche, gekannt, was erkundet sein zur Wahnversiegung? Gründliche Achtsamkeit und seichte Achtsamkeit. Seichte Achtsamkeit, ihr Mönche, zeitigt neues Wähnen und läßt das alte erstarken, gründliche Achtsamkeit, ihr Mönche, läßt neues Wähnen nicht aufkommen und zerstört das alte. "Es gibt, Mönche, ein Wähnen, das wissend überwunden werden muß. Es gibt ein Wähnen, das wehrend überwunden werden muß. Es gibt ein Wähnen, das pflegend überwunden werden muß. Es gibt ein Wähnen, das duldend überwunden werden muß. Es gibt ein Wähnen, das fliehend überwunden werden muß. Es gibt ein Wähnen, das wirkend überwunden werden muß. "Was ist das aber, ihr Mönche, für ein Wähnen, das wissend überwunden werden muß? Da hat einer, ihr Mönche, nichts erfahren, ist ein gewöhnlicher Mensch, ohne Sinn für das Heilige, der heiligen Lehre unkundig, der heiligen Lehre unzulänglich, ohne Sinn für das Edle, der Lehre der Edlen unkundig, der Lehre der Edlen unzugänglich und erkennt nicht was der Achtsamkeit wert ist und erkennt nicht was der Achtsamkeit unwert ist. Ohne Kenntnis der würdigen Dinge, ohne Kenntnis der unwürdigen Dinge achtet er auf das Unwürdige und nicht auf das Würdige. Was ist aber, ihr Mönche, das Unwürdige, das er würdigt? Durch dessen Würdigung, ihr Mönche, neuer Wunscheswahn gezeitigt wird und alter erstarkt, neuer Irrwahn gezeitigt wird und alter erstarkt, neuer Daseinswahn gezeitigt wird und alter erstarkt, neuer Irrwahn gezeitigt wird und alter erstarkt, das ist das Unwürdige, das er würdigt. ... "Was ist aber, ihr Mönche, für ein Wähnen, das wehrend überwunden werden muß? Da wahrt sich, ihr Mönche, ein Mönch Besonnenheit als gründliche Wehr und Waffe des Gesichts. Denn ließ er, ihr Mönche, sein Gesicht wehrlos gewähren, so käme verstörendes, sehrendes Wähnen über ihn; doch das wehrlich gewahrte Gesicht hält das verstörende, sehrende Wähnen von ihm ab. Besonnenheit wahrt er sich als gründliche Wehr und Waffe des Gehörs. Denn ließ er, ihr Mönche, sein Gehör wehrlos gewähren, so

242

Indien

käme verstörendes, sehrendes Wähnen über ihn; doch das wehrlich gewahrte Gehör hält das verstörende, sehrende Wähnen von ihm ab. ... Hat nun, ihr Mönche, ein Mönch, das Wähnen, das wissend überwunden werden muß, wissend überwunden ... das Wähnen, das duldend überwunden werden muß, duldend überwunden ... so nennt man ihn, Mönche, einen Mönch, der gegen alles Wähnen gefeit ist. Abgeschnitten hat er den Lebensdurst, weggeworfen die Fessel, durch vollständige Dünkeleroberung ein Ende gemacht dem Leiden."

Nur, wer Indien erlebt hat, versteht diesen Text in seiner Tiefe: Wer unter einem Bodhi-Baum, auf einem kleinen Hügel stehend, in die Weite einer rötlich schimmernden Ebene schaut, unter der heißen, drückenden Mittagssonne des August, der muß wahrnehmen, wie ihm die umgebende Wirklichkeit entgleitet, wie sie unwirklich wird, wie die Luft unter der Hitze zu Flimmern beginnt, der Horizont sich auflöst, die Sträucher zu brennen scheinen. Der versteht, was Buddha in seiner Rede an die Mönche meinte: Die Welt ist unbedeutend, sie vergeht, sie ist Leiden, das durch innere Disziplinierung des Einzelnen überwunden werden kann, um in einen Zustand jenseits der Welt und jenseits von Weltlichkeit überhaupt überzugehen. Das ist das Ziel, wenn hier überhaupt noch von einem zielbewußten Wollen gesprochen werden kann. Denn das Wollen und Begehren soll ja gerade überwunden werden, da es ja nur wieder zu neuem Leiden führt, denn das menschliche Wollen kann nie befriedigt werden. Wer sich kurz danach durch die Straßen Kalkuttas kämpft, wird schockartig aus solch weltflüchtigen Träumen vertrieben: die Straßen sind übervoll mit Lastern, Autos, Rikschas, Fahrrädern, dazwischen Fußgänger, darüber Brücken, seitwärts Kanäle - alles mit- und vor allem gegeneinander. An den menschenwogenden Straßenrändern kauern Bettler, verhungerte Knochengestalten, manche schlafen, oder sind sie schon ... ? - das Leben ein ständiger, darwinistischer Überlebenskampf, den nur der überlebt, der mächtig und kraftvoll ist. Das ist der zweite Aspekt der Kultur Indiens. Der Buddhismus ist heute in Indien faktisch nicht mehr präsent, er ist nach Japan, China und Südostasien "ausgewandert". Aber sein Ursprung, sein geistig-geistlicher Mutterboden, der Hinduismus, der ihm natürlich ähnlich ist, prägt Indien bis heute - und zwar in einer ähnlichen Art und Weise der Weltverleugnung wie der Buddhismus - nur das dies Buddha radikaler formuliert hat - radikaler dahingehend, daß er den geschilderten, darwinistischen Machtaspekt, wie er in der hinduistischen Kultur durchaus gegeben ist, eliminiert. Der Hinduismus in seinen vielfältigen Facetten bestimmt heutzutage Kultur und politischen Kultur Indiens. Selbst marxistisch denkende Inder sind von ihm beeinflußt: die geschichtsphilosophische Eschatologie Marxens wird z.B. transformiert in eine Art Heilsweg ("vada") zur Erlö-

Indien

243

sungfmoksha") hin. (vgl. Einleitung, in: H.-J. Klimkeit, Hrsg., Der politische Hinduismus, Wiesbaden 1981, S. 14). Der Marxismus wird indisiert.

Grundgedanke des Hinduismus, wie er bereits in den frühen Schriften bestimmt wurde, ist die Einheit des Göttlichen mit der Seele des Menschen. Daraus können nun zwei Konsequenzen gezogen werden: 1. Überwindung der Welt durch Identifikation mit dem Göttlichen, Befreiung von den Leiden der Welt (wie bei Buddha), Askese oder 2. Vergöttlichung der Welt, Auflösung der Götter in die Welt. Hier ist der Begriff des dharma zu nennen, der entfernt mit dem antiken Begriff der Teleologie verwandt ist: Alles Sein hat seine letztlich von den Göttern vorgegebene Bestimmung: die Sonne gibt es, um dem Menschen zu leuchten und die Natur kräftig wachsen zu lassen; Sinn des Schusters ist es, Schuhe herzustellen, und Sinn der Frau ist es, Kinder zu gebären. Auch der sozialen und politischen Ordnung liegt ein kosmischer Sinn zugrunde, der u.a. die Schichtung und Klassen/Kasteneinteilung einer Gesellschaft legitimiert. Befolgung der dharma-Regeln bedeutet zugleich Weg zum Heil und Befreiung aus den Schicksalszwängen des Seins - nicht abstrakt, sondern als konkrete Verhaltensanforderung im Alltag, die man zu befolgen hat - durch gute Werke, nicht durch Erkenntnis (wie im Buddhismus) oder durch Liebe zu Gott (wie im Christentum). Das dharma-gerechte Handeln bedeutet im gesellschaftlichen Alltag ein Leben gemäß den Standes- und Kastenvorschriften, wie sie seit altersher überliefert wurden. Wer nicht demgemäß handelt, wer "böse" ist (obwohl dieser europäische Begriff viel zu westlich und individualistisch ist), wird - durch die allgemeinen Schicksalsverkettungen - in einem späteren Leben durch die Wiedergeburt in einer niedrigeren Kaste "bestraft". Das standesgemäße Handeln zeigt sich auch in der Beachtung der Sitten ritueller Reinheit. Denn das dharma wird durchaus auch als materielle Substanz verstanden, so daß z.B. der körperliche Kontakt mit einer niedrigeren Kaste negativ auf die Schicksalverkettungen bis in weitere Leben hinein wirken kann. Verfehlung des Lebenszwecks kommt also nicht nur von der Sünde im Sinne moralischer Verfehlung (so das Christentum), sondern auch und vor allem durch schlichte, körperliche Berührung. Im Hinduismus ist die Stellung der Götter eher zweitrangig im Vergleich zum dharma, da auch die Götter nicht die Schicksalswirkungen und Handlungsverkettungen des dharma aufheben oder unterbrechen können. Den Schicksalsverkettungen, die sich in den Wiedergeburten manifestieren, entrinnt man nur durch dharma-gerechtes Handeln. Das Denken in Kastentheorien wirkt sich natürlich auf die Politik aus, wenn auch nicht auf die Außenpolitik. Denn im Gegensatz zu China, das die hierarchische, innere Gesellschaftstruktur auch analogisierend auf die äußeren Beziehungen überträgt, sind für das indische Denken die Beziehungen zum

244

Indien

äußeren, außenpolitischen Anderen nach der einfachen Dichotomie "Freund - Feind" gestaltet. Denn unter politischen Aspekten ist das Gemeinwesen, das Königreich oder die (Adels-)Republik in hinduistischer Sicht auch eine Art von dharmadurchwirkten Kosmos, in dem alles seinem Platz und sein Gleichgewicht haben muß. Und zur Politik gehört auch Machtausübung. Das ist auch heute noch so, wenn auch natürlich modifiziert. Damit hängt ein schon früh in der altindischen Literatur zu verzeichnender, eigentümlicher, machtpolitischer Zynismus zusammen, so wenn empfohlen wird, daß man seine Feinde durch Giftgase beim Gebet im Tempel umbringen soll. Denn das dharma des Fürsten wird darin gesehen, sein Volk vor Feinden und sonstigen Bedrohungen machtpolitisch zu schützen, am besten mit indirekter Ausübung von Einfluß (z.B. Geheimdienste), notfalls aber auch mit Krieg und Gewaltanwendung zu schützen. Macht, wie sie nun mal als Bestandteil und unvermeidliches Instrument von Politik gegeben ist, wird als eine seinsmäßige Verdichtung von dharma verstanden; wo Macht ist, ist auch viel dharma. Und diese Macht ziehe quasi die Moralität an, d.h. die Macht bestimmt die Moral des politischen Handelns, Macht ist dominant, nicht Moral, denn bei einer Dominanz der Moral würde man machtpolitisch untergehen - eine Umkehrung westlicher Vorstellungen von Gewaltenteilung, nach der Macht durch öffentlich geäußerte Moral und Kritik kontrolliert und begrenzt werden muß. Politische Chiffre ist hier, daß die Welt eigentlich chaotisch sei und nur der Staat Ordnung zu schaffen vermöge - im Rahmen seiner Grenzen -, denn außerhalb dessen wütet das Chaos weiter, gegen das alle politischen Mittel erlaubt seien. In dieser Sicht ist der Feind meines Feindes mein Freund - unabhängig von allen Fragen der Moral. Vor dem Hintergrund einer solchen Gedankenwelt wird es verständlich, daß sich der Hinduismus dieses Jahrhunderts - und insbesondere der der Gegenwart (Hindu-Partei, s.u.) - mit nationalistischen Strömungen verband. Der Hinduismus ist heue nicht nur traditionell immer noch und wieder stärker präsent, indem er das Kastenwesen rechtfertigt; er wird auch - unabhängig hiervon - von durchaus westlich beeinflußten Intellektuellen getragen, die ihn jedoch deistisch oder pantheistisch reformulieren, wie es in der europäischen Aufklärung vorgezeichnet wurde. D.h. das dharma wird als Weltprinzip verstanden. Ende des letzten Jahrhunderts entwickelte sich ein HinduNationalbewußtsein - in Abgrenzung zur britischen Herrschaft und zum islamischen Element der indischen Gesellschaft. Bei einigen Repräsentanten ist jedoch auch eine eigentümliche Bejahung der britischen Herrschaft festzustellen. Das ist Ausfluß der dem Hinduismus eigenen Bejahung von Macht als solcher (wenn sie sich durchzusetzen vermag), und daß die Briten Macht erfolgreich weltweit ausübten, ist wohl nicht zu bestreiten. Das verband sich gleichzeitig mit der Überzeugung, daß Indien die älteste Kultur der Weltge-

Indien

245

schichte habe und damit durchaus vorbildhaft für die anderen wirken könne. Auf die in der indischen Geschichte grundgelegte, letztlich mystisch hergeleitete Ordnung gelte es auch in der Gegenwart zu rekurrieren. Teilweise ging der Nationalismus soweit, daß er den Gedanken der Reinheit der Klasse auch auf die Reinheit der Nation übertrug, womit potentiell alles "Fremdartige" (Moslems vor allem) aus der Nation herausdefiniert wurden. Die Hindu-Nationalisten der Gegenwart, die gegenwärtig die Regierung stellen, die Welt mit (erneuten) Atomtests erschüttern und die in den 70er Jahren in der Jana Sangh Partei auftraten, akzeptieren nicht die politische und kulturell bedingte Teilung des indischen Kontinents, der für sie eine von Gott und der Geographie, von theos und geos gestiftete Einheit darstellt trotz aller religiösen Differenzen zwischen Moslems und Hindus. Dazu später noch mehr. Damit soll jedoch die "buddhistische"-machtasketische Komponente des Hinduismus nicht vergessen werden: denn diese vor allem von M. Gandhi vertretene Version des Hinduismus hatte auch außenpolitische Wirkungen (vor allem im Befreiungskampf gegen die Briten, der seit den 1920er Jahren von ihm geführt wurde, aber auch danach, siehe im folgenden). Gandhi gab der Nationalbewegung zur Befreiung Indiens von britischer Herrschaft eine andere Wende: Er sah politische, außenpolitische und wirtschaftliche Freiheit nicht als primäre Folge der Ausübung von Macht, sondern als Ausdruck der inneren Freiheit des Menschen, wie sie im hinduistischen Begriff der Erlösung (von der Welt) vorgedacht war. Freiheit als Freiheit von der Welt (nicht westlich: in der Welt) ist erreichbar durch Askese, durch Verzicht, auch Askese von Gewalt (= Gewaltlosigkeit). Dieser Rückgriff auf die hinduistische Tradition ermöglichte erst den Zuspruch, den Gandhi bei den Massen fand. Vor diesem Hintergrund rief er zum gewaltlosen Widerstand auf, zur Arbeitsverweigerung, zur Eigenproduktion (und damit zum Verzicht auf westliche Güter, was natürlich den Briten nicht recht sein konnte); usw. Allerdings stieß er damit auf Unverständnis in Teilen bei den Moslems - und auch bei den Hindu-Nationalisten, einer dieser Nationalisten brachte ihn 1947 um. Allen Hoffnungen Gandhis zuwider brach dann mit der Unabhängigkeit Indiens im Jahre 1947 eine Orgie von Gewalt aus: Vertreibung und Ermordung der Moslems und der Hindus, gewaltsame Eingliederung der Fürstentümer des Subkontinents in die neue Republik Indien, usw. Allerdings war die Außenpolitik des ersten Premiers, Nehru, friedlich, neutralistisch, weder dem westlichen noch dem kommunistischen Lager zuneigend. Indien war in seiner gesamten Geschichte nie expansiv, wie z.B. das christliche Abendland Lateinamerika eroberte. (Es gab nur kulturelle Diffusionen des Hinduismus nach China/Japan, Südostasien und Indonesien, durch Händler, nicht durch Krieger.)

246

Indien

Merkmale der politischen Kultur Indiens in ihrem Verhältnis zur Außenpolitik politische Kultur

Außenpolitik

dharma in seiner Doppelform: Frieden durch Normangepaßtheit/ dharma als Verdichtung von Macht

Außenpolitik in zwei Aspekten: Pazifismus/Neutralismus Aggression

Trennung von Religion und Politik, Entfesselung des Politischen

außenpolitischer Machiavellismus

Kastensystem als Koexistenz des Unterschiedlichen

außenpolitische Koexistenz

Hindu-Selbstbewußtsein

Hindu-Nationalismus

Außenpolitik und politische Kultur in Geschichte und Gegenwart Die indische Geschichte ist von diesem Doppelaspekt geprägt: einerseits Machtpolitik, andererseits Beispiele von schon früh entwickelter, religiös begründeter Politik-Askese. Natürlich war auch die Geschichte Indiens wie in aller Welt eine Geschichte von Krieg und Kampf. Es waren Feudalstaaten auf dem südasiatischen Subkontinent, die in ständigem Konflikt um lebensnotwendigen Grund und Boden lagen - eine endlose Geschichte, die erst in der Neuzeit ihr Ende fand - durch die Briten, die das Riesengebiet zum ersten Mal dauerhaft und infrastrukturell einigten.. Diese Geschichte der Machtkämpfe spiegelt sich in dem oben erwähnten, machiavellistischen Aspekt der politischen Kultur wieder. Das hängt wohl auch damit zusammen, daß Indien immer wieder Opfer von Völkerwanderungen und Eroberungen wurde, wobei die Eroberer jeweils als (höchste) Kaste schnell gesamtgesellschaftlich integriert wurden (ähnlich wie die Integrationsleistungen in China). Um 1500 v. Chr. wanderten die Arier ein. Die Herrschaft der Perser und Griechen seit 500 v.Chr. betraf nur Teile von Indien. Ab 700 n. Chr. erobern und durchdringen die Araber vor allem Nordindien und islamisieren es in Teilen. Dem folgen um und nach der Jahrtausendwende türkische sowie afghanische Invasionen von unterschiedlicher Dauer. Die Mongolen waren eine ständige Gefahr. Der Mongole Baber besiegte und eroberte um 1500 das Delhi-Reich, zeitgleich begannen mit den Portugiesen die ersten Gründungen von europäischen Handelskolonien an den Küsten, die von den einheimischen Fürsten (zunächst) begrüßt wurden. Die mit Baber errichtete Dynastie der Großmo-

Indien

247

guls fühlte sich durch die Europäer nicht bedroht. (Das kam erst später, als die Briten seit 1800 große Teile des Territoriums einnahmen). In diesen Eroberungswellen sind damit an nächster und letzter Stelle die Briten seit dem 19. Jahrhundert zu nennen. Der europäische Imperialismus ist also für die indische Geschichte nichts Neues, nur in einer Hinsicht, daß er nämlich mit der Eroberung auch zugleich die Keime der Rebellion gegen sie mit sich brachte. Es ist nämlich ein Unterschied, ob eine (parlamentarische) Demokratie ein Land erobert oder ein autokratisches System. Denn die Demokratie vermittelt mit der Eroberung auch zugleich den Weg der Befreiung von ihr, nämlich die demokratischen Werte von Freiheit und Gleichheit aller Menschen, die der indischen Kastengesellschaft fremd waren. Aber schon früh gab es auch den anderen Aspekt, den der Machtaskese. Das erste indische Großreich, das fast das gesamt heutige Indien umfaßte, nämlich das der Maurya-Dynastie, war unter seinem König Aschoka ein Friedensreich des religiösen Ausgleichs - unter dem Zeichen des Buddhismus. Noch heute kann man in dessen Hauptstadt Tempel aller Religionen bewundern. Im einen weiteren Sinn ist unter diesem Aspekt auch die friedliche kulturelle Expansion der indischen Kultur nach Südostasien zu subsumieren, konkret: die Ausbreitung des Bhuddismus und Hinduismus in diesen Raum vor allem - neben Missionaren und wandernden Mönchen - durch die Vermittlungstätigkeit von Händlern. (Die neue Religion des Bhuddismus mit ihren Gleichheitsidealen wurde vor allem von den Unterschichten gerne akzeptiert.) Die Zeit der kolonialen Beherrschung Indiens ungefähr seit 1800 ist für unsere Analyseperspektive nur beschränkt aussagekräftig. Immerhin ist die Art des Widerstandskampfes symptomatisch für einen Aspekt der politischen Kultur Indiens. Interessant für unsere Untersuchung ist erst die Zeit seit der Unabhängigkeit 1947, als Indien wieder autonom Außenpolitik betreiben konnte. In der gegenwärtigen Innen- und Außenpolitik Indiens schürzen sich die beiden Aspekte der politischen Kultur: Dabei ist eine Frage zentral: wer ist "schuld" an den ständigen Konflikten und Kriegen zwischen Indien und Pakistan, die die Politik auf dem Subkontinent bestimmen? Zunächst einmal: "Schuld" ist natürlich die falsche Kategorie, da die Suche nach dem "Schuldigen" nur gerade die Konflikte verlängert, die man mit der Angabe der Schuldursache angeblich zu lösen trachtet. Weiterhin: Politik sollte man nicht moralisieren, denn sie läuft nach Interessen ab, die - in Grenzen und bei Beachtung auch der anderen Interessen - legitim sind. Konflikte und gewaltsame Auseinandersetzungen entstehen dann, wenn Interessen expansiv werden, d.h. die anderen Interessen nicht mehr zu berücksichtigen bereit sind. Das ist nicht eine Frage des individuellen Gewissens, sondern der Dynamik von Politik und der hinter ihr stehenden Massen, die oft natio-

248

Indien

nalistisch oder religiös aufgeheizt und damit auch von vernünftigen und aufgeklärten Eliten kaum noch zu beeinflussen sind. Als ersten Schritt zur Beantwortung der Frage, ob nun - bezogen auf die ständigen Konflikte Indien-Pakistan - der Islam oder der indische Hinduismus strukturell aggressiv sind (im Sinne der oben entwickelten, nichtmoralisierenden Argumentationslinie), ist auf die Frage der Trennung des indischen Subkontinents in den islamischen Staat Pakistan und in das weitgehend hinduistische Indien einzugehen, wie sie mit Datum der Befreiung von der britischen Herrschaft im Jahre 1947 vollzogen wurde. Es ist festzuhalten, daß diese Trennung und ihre Realisierung dem gesamtindischen Interesse widersprach, wie es vom indischen Nationalkongreß unter Gandhi und Nehru repräsentiert wurde. Daß das dann entstehende Indien dem dennoch zustimmte, ist als Konzession zu bewerten, vor allem auch, weil dieses Indien weitaus stärker war und ist - demographisch, wirtschaftlich und militärisch. Das zeigt ein bloßer Blick auf die Karte von damals, denn Pakistan war in einen (insgesamt kleineren) West- und Ostteil separiert worden. Daß es dann zu grausamen Vertreibungen und Massakern der Bevölkerungen auf beiden Seiten kam, ist - so zynisch es klingen mag - der Logik der Entwicklung zuzuschreiben. Gründet man faktisch - mit britischer Duldung, wenn nicht gar Förderung - zwei Staaten auf ethnisch-religiöser Grundlage, soll man sich nicht wundern, daß dann gewaltsame Aktionen gegen die jeweiligen Minderheiten vorkommen. "Vorkommen" klingt verharmlosend: es war hunderttausendfacher Mord. Der bis heute fortbestehende Konfliktgegenstand im pakistanisch-indischen Verhältnis war und ist die Kashmir-Frage. In dem nord-westlichen Fürstentum herrschte bis zur Unabhängigkeit ein hinduistischer Maharadscha über eine überwiegend moslemische Bevölkerung. Ein schwieriges Problem, das letztlich nur gemäß den Normen des Völkerrechts beurteilt und - wenn überhaupt - gelöst werden kann. Denn das Völkerrecht stellt ein - desillusioniertes - Minimum an Verhaltensregeln zwischen Staaten dar. Vom Sachverhalt her ist festzustellen: Pakistan schickte zur "Befreiung" Kashmirs Freischärler in das Land, was wohl als völkerrechtswidrig zu bezeichnen ist, es widersprach der Souveränität des Landes. In Reaktion darauf bat der immerhin wenn vielleicht auch nicht legitime, so doch legale (und das zählt rechtlich) Fürst Indien um Hilfe gegen die Guerilla, die diese jedoch nur dann gewähren wollte, wenn Kashmir sich verpflichtete, der Indischen Union beizutreten. Das ist zumindest nicht völkerrechtswidrig. Auf die diesbezügliche Aufforderung des Fürsten von Kashmir hin besetzte Indien Kashmir. Ein westlicher Teil des Landes wurde von Pakistan besetzt, dem Willen des Souveräns von Kashmir allerdings zuwider. Daß Pakistan in dieser Frage weitaus aggressiver agiert als Indien, zeigt der erste Krieg zwischen beiden Ländern 1965 um die Kashmir-Frage, als Paki-

Indien

249

stan Indien überraschend angriff, jedoch geschlagen wurde. Pakistan ist seit seiner Gründung ein undemokratischer Staat, der durch das Militär und durch die Bürokratie zusammengehalten wurde. Es gab lange Perioden einer Militärdiktatur, das Militärische war dem Politischen nicht untergeordnet (anders als in Indien), so daß Politik oft unter dem Aspekt militärischer "Lösungen" betrieben wurde. Die schwache Integration des pakistanischen Staates bei ethnischen Differenzen - auch der Islam ist nur ein begrenzter Legitimationskitt - führte zum bekannten Phänomen der außengeleiteten Projektion: Der Feind Indien muß herhalten, um die Nation Pakistan vermeintlich zusammenzuschweißen. Den Nationalismus, der uns Europäern mittlerweile gänzlich fremd ist, sah man erst kürzlich in johlenden Massen auf den Straßen Pakistans, als es die Zündung von Atomsprengköpfen zu "feiern" galt - in Reaktion auf analoge Atomversuche Indiens zuvor. Die globale Außenpolitik Indiens der 50er und 60er Jahre verfolgte einen schon fast naiv zu bezeichnenden Neutralismus zwischen Ost und West, zwischen "Kapitalismus" und "Kommunismus". Das ging noch über den chinesischen Isolationismus hinaus, der zumindest eine internationale Hierarchie mit Über- und Unterordnung kannte. "Indien ist seit ältester Zeit sehr auf sich selbst bezogen gewesen." (Rothermund, a.a.O., S. 95) Das Meer und der Himalaya waren und sind für den Subkontinent die Grenze, und es hat niemals militärische Eroberungen indischer Fürsten über diesen Raum hinaus gegeben - warum auch? Indien ist kulturell und sozial so vielfältig in sich selbst, daß es des Äußerem nicht bedarf. Dieses historische Erbe wirkt sich bis heute dahingehend aus, daß der Verteidigungshaushalt mit nur 4 Prozent Anteil am Bruttosozialprodukt einen für Entwicklungsländer vergleichsweise niedrigen Stellenwert hat. (vgl. D. Rothermund, Staat und Gesellschaft in Indien, Mannheim u.a. 1993, S. 47) Ohnehin ist die indische Armee noch in britischer Tradition sehr zivilisiert und - Ergebnis der diesbezüglichen Bemühungen Nehrus - integraler Bestandteil der Demokratie. Die Politik hatte immer Vorrang vor dem Militär, es gab und gibt keinen Militarismus. Indien wird nicht über das Militär integriert. Diese nachrangige Rolle des Militärischen hängt natürlich auch mit der neutralistischen Einstellung von Nehru zusammen. Er hielt Asien für einen international befriedeten Raum, so daß für ihn geradezu eine Welt zusammenbrach, als Indien 1962 von der Volksrepublik China angegriffen wurde.(Es ging um Grenzstreitigkeiten im Himalaya.) Er glaubte sich China, ebenfalls lange Opfer des Kolonialismus, in antiimperialistischer Solidarität verbunden. Nun stand er wehrlos den chinesischen Truppen gegenüber, und es kam nur deshalb zu keinem Desaster, weil sich die Chinesen relativ schnell wieder zurückzogen. Erst danach kam es zu einer erheblichen Aufrüstung, u.a. zu einer Verdoppelung des Personalbestandes des Heeres auf 1 Millionen Soldaten.

250

Indien

Nach dem Pakistan-Krieg von 1965 entwickelte sich Indien zu einer Hegemonialmacht im südasiatischen Raum, die militärisch und politisch von der Sowjetunion unterstützt wurde. Personell spiegelte sich dieser Politikwechsel in der Person des Ministerpräsidenten wieder: von Nehru zu seiner Tochter Gandhi, die weitaus machtbewußter handelte. Zu dieser Änderung hatten auch die Politik der Vereinigten Staaten geführt, indem sie den neutralistischen Kurs Nehrus in den 50er Jahren zwischen den Blöcken von Ost und West ("Politik der Bündnisfreiheit") als faktische Parteinahme für den Kommunismus interpretierten (was natürlich nicht stimmte). So treibt man natürlich dann die derart Beschuldigten erst recht in die Arme der UdSSR, von der man sie gerade abhalten wollte. Noch verheerender war die amerikanische Unterstützung für Pakistan, was Indien als gegen sich gerichtet betrachten mußte. Weiterhin entfremdeten sich die USA und die Vereinigten Staaten in den 60er Jahren durch die amerikanische Intervention in Vietnam, da Indien das als Schlag gegen die 3. Welt insgesamt - und damit auch gegen sich empfand. Der zweite indisch-pakistanische Krieg von 1971 zeigt Indien nun zwar weitaus selbstbewußter und auch handfest unter Premier I. Gandhi machtpolitisch agierend, aber nicht aggressiv im engeren Sinne: Denn die Ursache des erneuten Konfliktes beider Staaten lag im Nationalismus und in der Unabhängigkeitsbestrebung des bis dahin zu Pakistan gehörenden OstPakistan (das heutige Bangladesh), das vom "Mutter"staat Westpakistan durch die gesamte Breite Indiens getrennt war. Als das westpakistanische Militär die Abtrennung Ostpakistans gewaltsam verhindern wollte, erklärte sich dieses für unabhängig. Diese Unabhängigkeit wurde Ende 1971 durch eine schnelle indische Intervention verwirklicht. Das steigerte natürlich die Macht Indiens auf dem Subkontinent - und darüber hinaus. Seitdem betreibt Indien eine offene Dominanzpolitik in diesem Raum (eine Dominanz, die es aber natürlicherweise von seiner Größe her innehat), bis zu Interventionen auf Sri Lanka im Auftrage der dortigen Regierung, um die dortige Widerstandsbewegung der Tamilen einzudämmen (was aber fehlschlug). Aber als aggresiv ist auch das nicht zu bezeichnen. Daß Indien nur begrenzt seine außenpolitische Dominanz ausnützt, liegt wohl auch daran, daß es eine Demokratie mit funktionierender Öffentlichkeit und unabhängigen Gerichten ist. Selbst die diktatorische Phase unter I. Gandhi von 1975 bis 1979 wurde in freien Wahlen überwunden. Indien hat eine lange Tradition der friedlichen Koexistenz des Unterschiedlichen (wenn auch in Kastenform), was heute mit zur Stabilität einer pluralen Demokratie beiträgt. Die Außenpolitik des Landes ist eher ein machtpolitisch bewußtes Taktieren als Machtpolitik selbst. Beispiel Afghanistan-Invasion 1979/80 der UdSSR: Diese lag einerseits in gewissem Maße durchaus in indischem Interesse, da

Indien

251

dadurch, durch die unmittelbare Präsenz sowjetischer Truppen an der pakistanisch-afghanischen Grenze, der "Feind" Pakistan geschwächt wurde. (Der Nachbar wurde auch die durch die paschtunischen Flüchtlinge aus Afghanistan destabilisiert, da sie das innerethnische Gleichgewicht Pakistans aus dem Lot zu bringen drohten.) Andererseits konnte Indien aber auch nicht an einer machtpolitischen Vorherrschaft der UdSSR gelegen sein, da das die Unabhängigkeit des Landes und Subkontinents In Frage gestellt hätte. So taktierte man zwischen beiden Positionen - mal mehr zu einen, mal mehr zur anderen Richtung neigend. Aber es zeichnen sich - wie schon angedeutet - erhebliche Änderungen ab, vor allem in der Form des Hindu-Nationalismus. Wie ist er zu erklären? Wie in jedem Demokratisierungs- und Industrialisierungprozeß, scheint dieser in seinen Frühphasen mit Nationalismus verbunden zu sein. Das sehr heterogene Land muß geeint werden, und das ist nur durch eine gemeinsame, nationale Identifikation möglich. Dazu kommt die erwähnte machiavellistische Tradition. Dazu hat mit beigetragen, daß die Kongreß-Partei durch lange Herrschaft, durch Korruption und durch den Machtmißbrauch unter den Nehru/GandhiPremiers (alle aus einer Familie stammend) an Integrationskraft verloren hat, so daß sie nun in der Opposition sitzt (auch wenn er in Zeiten seiner Dominanz nie mehr als 45 Prozent der Stimmen erhalten hatte, durch das Mehrheitswahlsystem dann jedoch über mehr als die Hälfte der Parlamentssitze verfügte, bis zu Zwei-Drittel-Mehrheiten). Welcher der beiden Aspekte der politischen Kultur Indiens in Zukunft die Außenpolitik bestimmen wird, kann gegenwärtig nicht gesagt werden, zu viele unabhängig voneinander wirkende, nationale und internationale Faktoren spielen hier hinein.

Literatur: J. Gonda, Die Religionen Indiens, 2 Bde., Stuttgart 1960 und 1963 H.-J. Klimkeit, Der politische Hinduismus, Wiesbaden 1981 W. v. Pochhammer, Indiens Weg zur Nation, Bremen 1973 D. Rothermund, Staat und Gesellschaft in Indien, Mannheim u.a. 1993 H. Scharfe, Untersuchungen zur Staatslehre des Kautilya, Wiesbaden 1968 O. Wolff, Indiens Beitrag zum neuen Menschenbild, Hamburg 1957

252

Schlußwort

Schlußwort: Gottes Garten der Kulturen - frei nach Herder Was hat uns nun das Ganze gebracht? Wenn es ein rein akademisches Glasperlenspiel bleibt, ist alles wohl unnütz. Was tun also? Zunächst einmal: Als "empirisches" Ergebnis ist festzuhalten, daß alle hier untersuchten Kulturen nicht expansiv sind, oder genauer: nicht mehr expansiv sind. Einzige Ausnahme: der Islam, der sich gegenwärtig - angesichts seines außenpolitischen und wirtschaftlichen Scheiterns - fundamentalistisch aufheizt, auch wenn das die Orientalisten an unseren Universitäten verharmlosen. Aber ansonsten: China und Indien ruhen in sich; Japan hat jeglichem (militärischen) Imperialismus abgeschworen; Deutschland - ein wenig dekadent löst sich in Europa auf; England ist eine abgeklärte Macht, die sich wie ein alter Mensch seiner imperialen Abenteuer erinnert; Frankreich ist nur noch in der Rhetorik Großmacht - ansonsten ein EU-Staat unter anderen; die USA waren schon immer lieber isolationistisch als imperial (was sie auch waren und heute auch noch manchmal sind); Lateinamerika beschränkte sich immer auf seinen Kontinent; und in Schwarzafrika bringt man sich höchstens untereinander um. Allem Gerede zuwider ist also eine friedliche Koexistenz der Kulturen in der Zukunft eher wahrscheinlich als ein Zusammenstoß. Die nächste Frage ist nur: wie gehen wir mit diesem historisch-empirischen Sachverhalt normativ um? Akzeptieren wir die Vielfalt der Kulturen? Natürlich, der liebe Gott hat die Menschen in ihrer Vielfalt geschaffen, damit es ihm und ihnen nicht langweilig wird. Wer will hier richten? Hier findet auch alle "Globalisierung" ihre Grenze: sie beschränkt sich ohnehin im wesentlichen auf den Finanz-, Kapital-, Produkt- und Investitionsbereich - also auf technische Bereiche im engeren Sinne. Lessings Parabel der Gleichberechtigung aller Religionen sollte mittlerweile - trotz Päpsten - zur Selbstverständlichkeit geworden sein. Aber gibt es gewisse allgemeine Normen, an der wir die Kulturen messen? Es gibt gewisse Normen, die allen Kulturen gemeinsam sind: das sind vor allem Verbote des Mordes, des Diebstahles und des Angriffskrieges sowie eine gewisse, regionsspezifische wirtschaftliche und soziale Mindestsicherung. Auch beanspruchen alle Regierungen heutzutage - auf dem gegenwärtig erreichten Niveau des allgemeinen Rechtsbewußtseins - in irgendeiner Weise, auf der Zustimmung des Volkes zu beruhen. An diesen Normen kann man politische Systeme durchaus messen, auch wenn sie recht dürftig scheinen. Aber sie stellen schon so etwas wie eine Menschenrechtskultur dar. Wenn dieses Mindestmaß an Normen nicht erfüllt ist, ist die Weltgemeinschaft (UN, andere Staaten) durchaus berechtigt, zugunsten der Betroffenen zu intervenieren - und zwar nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (ähnlich wie es die Satzung der Vereinten Nationen vorsieht): Gespräche auf Regierungsebene, (wirtschaftliche Sanktionen), und - z.B. bei

Schlußwort

253

Massenmord wie im ehemaligen Jugoslawien - auch militärisches Eingreifen. Was ist nun aber, wenn Staaten politisch nicht so organisiert sind wie in (West-)Europa oder in (Nord-)Amerika? Natürlich sind mir persönlich die demokratisch-parlamentarischen Systeme am liebsten; aber man kann sie nicht wahllos allüberall, unabhängig von den sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen einführen oder vorschreiben. Wenn es z.B. keine funktionierende Öffentlichkeit gibt und kein freies Bürgertum, ist Demokratie auf Sand gebaut, wie die vielen afrikanischen Beispiele zeigen. Z.B. kann bei erheblichen links- und rechtsextremistischen und terroristischen Tendenzen in einer Gesellschaft eine semi-autoritäre Regierung (wie z.B. im Frankreich der 5. Republik) durchaus angebracht sein. Aber es gibt eine Bedingung: Es muß eine gewisse Responsivitität zwischen Regierung und Bevölkerung vorhanden sein, wie immer man das politische System auch ansonsten organisiert. D.h. die Regierung muß sich auf die Interessen in der Gesellschaft mehr oder weniger ausrichten. Sie darf sich nicht dagegen abschotten (obwohl gerade autoritäre Regierungen sicherlich dazu neigen). Das kann ggf. auch in einem Einparteiensystem wie in einigen afrikanischen Staaten garantiert sein. Uganda ist gegenwärtig ein interessantes Experiment. Wir könnten schon zufrieden sein, wenn wir Krieg, Hunger und Massenmorde vermeiden.

Atlas der Kulturen der Welt Ost D o m * ^

Ehemals kommunistisch

-0.3

\

w^t-OeuBdiand

Protestantisches Europa'^ \ /

-0.2

Überleben, Absicherung der Grundbedürfnisse

Lebensqualität, subjektives Wohlbefinden

Aus: „Schwedenisierung" der Welt Wertesysteme in globaler Perspektive, in: WZB-Mitteilungen 81 - Sept. 1998, S. 5-8, hier: S. 7