Politiken des Ereignisses: Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft [1. Aufl.] 9783839419939

»Ereignisse« sind nicht in der Welt. Sie werden diskursiv formiert und medial verbreitet, sie versehen historisches Gesc

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Politiken des Ereignisses: Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft [1. Aufl.]
 9783839419939

Table of contents :
Inhalt
Politiken des Ereignisses
Einleitung
I. FORMATIONEN
Die historiografischen Strategien des Robert Harris. Eine historische Diskursanalyse in der Science Fiction des Romans Pompeji
„And so the Devil said: ‚Ok, it’s a Deal‘ “. Das Erdbeben von 2010 und die Dämonisierung der Haitianer und ihrer Geschichte
Der Spanische Bürgerkrieg als Medienereignis im NS-Film. Im Kampf gegen den Weltfeind. Deutsche Freiwillige in Spanien (1939) von Karl Ritter
Ansichten der Notwendigkeit. Ereignisse in der Pressefotografie der DDR
II. AUSHANDLUNGEN
Die Konstruktion des ersten Menschen. Das Suchen und Aufsuchen des missing link 1850-1950
Gedächtnispolitische Formierung eines Ereignisses. Die Hungersnot in der Ukraine
9/11 und das Begehren nach dem repräsentativen Bild
Phänomenologie des Eklats. Zur Politizität und Ereignishaftigkeit einschneidender Erlebnisse
III. PROGNOSEN
Katastrophische Algorithmen. Über das hochtechnische Agencement medieninduzierter Zusammenbrüche
Der Traum des Digitalen und die Möglichkeiten der Bombe
Apocalypse … later. Die fotografische Inszenierung des klimatischen tipping points
Autorinnen und Autoren

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Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Politiken des Ereignisses

2014-11-21 16-45-02 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0152382992132278|(S.

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4) TIT1993.p 382992132286

2014-11-21 16-45-02 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0152382992132278|(S.

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4) TIT1993.p 382992132286

Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.)

Politiken des Ereignisses Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft

2014-11-21 16-45-02 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0152382992132278|(S.

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4) TIT1993.p 382992132286

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2014-11-21 16-45-03 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0152382992132278|(S.

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4) TIT1993.p 382992132286

Inhalt

Politiken des Ereignisses Einleitung

Tobias Nanz und Johannes Pause | 7

I. FORMATIONEN Die historiografischen Strategien des Robert Harris Eine historische Diskursanalyse in der Science Fiction des Romans Pompeji

Alessandro Barberi | 35 „And so the Devil said: ‚Ok, it’s a Deal‘ “ Das Erdbeben von 2010 und die Dämonisierung der Haitianer und ihrer Geschichte

Raphael Hörmann | 61 Der Spanische Bürgerkrieg als Medienereignis im NS-Film Im Kampf gegen den Weltfeind. Deutsche Freiwillige in Spanien (1939) von Karl Ritter

Daniel Gethmann | 83 Ansichten der Notwendigkeit Ereignisse in der Pressefotografie der DDR

Jörg Probst | 101

II. AUSHANDLUNGEN Die Konstruktion des ersten Menschen Das Suchen und Aufsuchen des missing link 1850-1950

Ellinor Schweighöfer | 125

Gedächtnispolitische Formierung eines Ereignisses Die Hungersnot in der Ukraine

Irina Gradinari | 143 9/11 und das Begehren nach dem repräsentativen Bild

Wim Peeters | 167 Phänomenologie des Eklats Zur Politizität und Ereignishaftigkeit einschneidender Erlebnisse

Zoran Terzi | 195

III. P ROGNOSEN Katastrophische Algorithmen Über das hochtechnische Agencement medieninduzierter Zusammenbrüche

Shintaro Miyazaki | 223 Der Traum des Digitalen und die Möglichkeiten der Bombe

Marian Kaiser | 241 Apocalypse … later Die fotografische Inszenierung des klimatischen tipping points

Ulrike Heine | 269

Autorinnen und Autoren | 297

Politiken des Ereignisses Einleitung T OBIAS N ANZ UND J OHANNES P AUSE

I. S CHREIBEREIGNIS Die neue Geschichte beginnt mit einem Ereignis, das eigentlich keines mehr ist und nur an den Rändern der historischen Erzählung auftaucht. Es wird berichtet vom Tode Philipps II., von einem „herausragende[n] Ereignis“, das in seiner historischen Erzählung „noch nicht gebührend gewürdigt wurde“. Der Stellenwert jenes Ereignisses, „das in Windeseile die Meere übersprang“, wird in der Rede aber sogleich in Frage gestellt: „Bedeutete das Hinscheiden Philipps des Zauderers eine große Wende der spanischen Politik?“ Weiter wird berichtet, wie der spanische König zu Lebzeiten an seinem Schreibtisch sitzt und die „unaufhörlichen Nachrichteneingänge“ verarbeitet, also jene vielen kleinen und großen Ereignisse in seinem Reich mit der entsprechenden Aufmerksamkeit versieht. Sein Arbeitszimmer sei das „Zentrum“ des Reichs und der sorgfältig abgeschirmte „Meldekopf“. Dort könne Philipp II. Berichte lesen und „mit seiner flüchtigen Handschrift Notizen darauf schreib[en]“. Dank dieser kontinuierlich eingehenden Nachrichten auch aus dem „fernsten Horizont der Welt“ verschaffe er sich den „Gesamtüberblick“1 über sein ausgedehntes Reich, das sich von Europa bis Amerika erstreckt. Was Philipp II. allerdings nicht in den Blick ge-

1

Braudel 1998, Bd. 3, S. 451f.

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nommen habe, das seien die Geografie und das Mittelmeer, der Sonnenglast und das blaue Wasser. Der Besuch des Historikers im Palast des spanischen Königs wird im dritten Band von Fernand Braudels Mittelmeer-Trilogie verhandelt, und zwar, wie Jacques Rancière hervorgehoben hat,2 am Ende des letzten Kapitels und somit vor dem Schlusswort der großangelegten Studie zur mediterranen Welt in der Epoche Philipps II. Das Sterben des Königs sei dabei für Braudel gerade „kein großes Ereignis der Geschichte des Mittelmeerraums“, da in seinen Bänden – und dies mag gleichsam ein Postulat für die Annales sein – die „Geschichte der Biographien“ von einer „Geschichte der Strukturen“ und insbesondere in seinem Fall von einer „Geschichte geographischer Räume“3 abgelöst werde. Rancière liest diese Passagen als eine „kopernikanische Wende der Historie“, die die „Geschichte der Könige auf die des Meeres“ verlagert. Der Arbeitseinsatz des Königs und sein Sterben sei ein „Nicht-Ereignis“, dessen marginale Bedeutung Braudel dadurch hervorhebe, dass er es an den Schluss seines Werkes verbanne und ihm somit keine außerordentliche Beachtung oder Stellung zukommen lasse. „Der Tod des Königs bedeutet“, so Rancière, „daß die Könige als zentrale Gestalten und Mächte der Geschichte tot sind.“4 In Braudels Werk verlagert sich somit das Verhältnis von Struktur und Ereignis. Während in der klassischen Ereignisgeschichte den einzelnen und aneinandergereihten Ereignissen eine große Bedeutung zukam, betont der französische Historiker in seiner Abhandlung zum Mittelmeer nun unermüdlich, wie „unbedeutend Ereignisse sind und welche Grenzen den Handlungen des Menschen gesetzt sind.“5 Sein Fokus liegt auf der Geschichte der Strukturen, deren Geschwindigkeit wesentlich langsamer als die der Ereignisgeschichte ist und die sich mit den Staaten und Institutionen, dem Militär und den ökonomischen Systemen befasst.6 An den Rändern von Braudels Werk wird dabei eine Blickverschiebung von den Ereignissen in der Politik hin zu den Politiken des Ereignisses beobachtbar: Während in der Beschreibung des französischen Historikers Philipp II. jedes noch so kleine

2

Vgl. Rancière 1994, S. 21ff.

3

Braudel 1998, Bd. 3, S. 451.

4

Rancière 1994, S. 24 u. 22.

5

Burke 2004, S. 45.

6

Vgl. ebd., S. 46.

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Ereignis in seiner Schreibstube registriert, verwaltet oder schreibend auslöst, und diese Methode der Ereignisbewältigung gleichsam zum Vorbild einer medientechnisch orientierten Staatsbürokratie wird, weist Braudel durch seine radikale Neuperspektivierung der Geschichtsschreibung auf die Möglichkeit einer Politik der Historiografie selbst hin, die auf das Ereignis als eine mögliche Kategorie der Sinn- und Bedeutungskonstitution zurückgreifen kann, aber nicht muss. Geschichtsschreibung, so wird insbesondere beim Wandel eines Denkstils7 – und damit auch Schreibstils8 – deutlich, hat stets eine politische Dimension, werden durch sie doch die Wahrnehmungsraster etabliert, die historisches Geschehen beobachtbar machen und mit Sinn versehen.

II. S TRUKTUR UND E REIGNIS Obgleich der von der Annales-Schule geprägten Strukturgeschichte ein sehr großer Erfolg beschieden war und ist, sind die Ereignisse in den Geschichtswissenschaften nicht verschwunden, sondern wieder zurückgekehrt und mit neuer Bedeutung versehen worden. In der französischen und deutschen Geschichtswissenschaft wurde seit den Geschehnissen des Mai 1968 und insbesondere während der 1980er Jahre entlang der Alltagsgeschichte sowie der italienisch-französischen Mikrogeschichte eine Kritik an der Struktur-Orientierung formuliert.9 So hat sich Reinhart Koselleck darum bemüht, aus dem Gegensatz von französischer Annales und deutscher Sozialgeschichte eine Paarung zu gestalten, die sich gegenseitig bedingt und doch nicht ineinander auflösbar ist: Strukturen mögen Ereignisse sicher hervorrufen und ihren Verlauf in gewissen Grenzen bestimmen, umgekehrt aber „sind Strukturen nur greifbar im Medium von Ereignissen, in denen sich Strukturen artikulieren, die durch sie hindurchscheinen [...].“10 Ereignisse müssen zwar nicht, können aber „im Unterschied zu bloßen Gesche-

7

Vgl. Fleck 1999, S. 53ff.

8

Vgl. auch für die Effekte, die technische Medien auf solche Stile ausüben,

9

Vgl. Suter/Hettling 2001, S. 10.

Kittler 1986, S. 361. 10 Koselleck 1973, S. 565.

10 | T OBIAS N ANZ UND J OHANNES PAUSE

hen strukturverändernde Folgen“11 haben, womit sie aus der passiven strukturreproduzierenden Rolle entlassen und an Transformationsprozessen beteiligt wären. Beide stünden in einem relationalen Verhältnis zueinander, weil Handlungssequenzen nur im Horizont von Erfahrungs- und Deutungsmustern von bloßem Geschehen als „Ereignis“ unterschieden werden können. Ereignisse und Struktur sind relational, weil zur diskursiven Verarbeitung der Erfahrungen wiederum Strukturen, Sprache und Begriffe, notwendig sind.12

Das Verhältnis von Ereignis und Struktur erweist sich auf diese Weise als komplexes Bedingungsgefüge, und so erscheint es sinnvoll, es als so flexibel und wandlungsfähig wie möglich zu konzipieren. Michel Serres etwa hat im Jahr 1964 ein netzförmiges Diagramm entwickelt, das „eine feinere Annäherung als die grobschlächtigen Thesen der Ereignisgeschichte oder der globalen Gesetzmäßigkeiten“13 ermöglichen soll. Dieses Diagramm besteht aus einer Mehrzahl von Punkten, die etwa für Thesen stehen können, und Wegen, die als Verbindungslinien zwischen den Punkten dienen. Kein Punkt oder Weg im Diagramm ist privilegiert, jeder Punkt ließe sich mit einem beliebigen anderen verknüpfen, es können stets neue Verbindungen entstehen und so neue Thesen in einem Zusammenhang gestellt werden. „Der eine Weg (oder die Gesamtheit der Wege)“, so schreibt Serres, den die Theorie, die Entscheidung oder die Geschichte einschlägt – oder auch jede spezielle Entwicklung einer veränderlichen Situation –, ist unter anderen möglichen Wegen ausgewählt, wurde innerhalb einer Verteilung bestimmt, die auch zufälliger Natur sein kann.14

Ein Weg durch Serres’ Kommunikationsnetz „Penelope“ steht so für eine bestimmte Argumentation oder eine spezifische Art und Weise, Geschichte zu schreiben. Die Strukturen – die Wege zwischen den Thesen oder Punkten – sind hochgradig flexibel, können neue Verknüpfungen, Umwege oder Abkürzungen bieten. Die Voraussetzung für diese Flexibilität und diese

11 Suter/Hettling 2001, S. 25. Hervorhebung im Original. 12 Ebd., S. 26. 13 Serres 1991, S. 17. 14 Ebd., S. 11f.

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durchaus produktiven Augenblickskonstellationen ist, dass die Schnittstellen des Netzes nicht von Vermittlern oder Parasiten belagert werden, die das Modell zu strukturieren versuchen. Das würde eine ‚feindliche Übernahme‘ und damit Hierarchisierung des Netzes bedeuten, die sich etwa in einer Selektion von Nachrichten oder einseitigen Geschichtsdarstellungen niederschlagen mag. Der französische Philosoph und Wissenschaftshistoriker suchte mit dem Modell „der Historiographie ein neues Paradigma zur Verfügung zu stellen, das die Geschichte aus dem starren Kausalitätsgefüge und Korsett der logischen und zeitlichen Irreversibilität erlösen sollte.“15 Die möglichen Wege einer solchen Historiografie hat Serres im Vorwort seiner Elemente einer Geschichte der Wissenschaften ausgeführt: Weit davon entfernt, eine geradlinige Abfolge stetigen Wissenserwerbs oder eine ebensolche Sequenz plötzlicher Einschnitte, Entdeckungen, Erfindungen oder Revolutionen zu zeichnen, die eine Vergangenheit plötzlich umwälzen und in Vergessenheit stürzen, eilt die Geschichte der Wissenschaften unbeständig durch ein vielfältiges und komplexes Netz von Wegen, Straßen, Bahnen, Spuren, die sich verflechten, verdichten, kreuzen, verknoten, überlagern, oft mehrfach verzweigen. Eine Vielzahl unterschiedlicher Zeitmaße, Disziplinen, Ideen von Wissenschaft, eine Mannigfaltigkeit von Gruppen, Institutionen, Kapitalien, Menschen, die sich einig sind oder bekämpfen, von Maschinen, Gegenständen, Prognosen und unvorhergesehenen Zufällen bilden zusammen ein schwankendes Gefüge, das die vielfältige Geschichte der Wissenschaften getreu darstellt.16

Serres zielt auf eine mäandernde Geschichtsschreibung, in der sich gleichberechtigt Strukturen – Wege, Straßen und Bahnen – mit Ereignissen – Entdeckungen und Erfindungen – abwechseln und ein schwankendes Gefüge aus Mannigfaltigkeiten bilden, die vielfältige Geschichten erzählen. Innerhalb dieser Strukturen bleiben Ereignisse als zentrale Elemente erhalten, sind aufgrund ihrer konstitutiven Relationalität in ihren Bedeutungen und Konsequenzen jedoch nicht fixiert. Dies mag ein Beispiel aus Jorge Luis Borges’ Erzählung Der Garten der Pfade, die sich verzweigen illustrieren, das ein an Serres’ Ansatz erinnerndes netzartiges Gefüge möglicher Historiografien zum poetischen Prin-

15 Stingelin 2000, S. 20. 16 Serres 1998, S. 18f.

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zip erhebt. Im Zentrum der Handlung steht ein eigentümliches enzyklopädisches Geschichtswerk, das die Vergangenheit nicht als linearen Verlauf präsentiert, sondern vielmehr ein „Webmuster aus Zeiten“ entwirft, „die sich einander nähern, sich verzweigen, sich scheiden oder einander jahrhundertelang ignorieren“ können und die auf diese Weise „alle Möglichkeiten“ enthalten. Ereignisse bilden innerhalb dieses Netzes bestimmte Entitäten aus, deren Bedeutungen jedoch je nach eingeschlagenem Weg völlig anders ausfallen können: „Er las“, so beobachtet der Erzähler in der Geschichte seinen Gastgeber, mit langsamer Präzision zwei Fassungen desselben epischen Kapitels. In der ersten zieht ein Heer durch ein ödes Gebirge in die Schlacht; das Grauen der Steine und des Schattens lässt die Männer das Leben gering achten und führt sie mit Leichtigkeit zum Sieg; in der zweiten Fassung durchzieht das Heer ein Schloss, in dem ein Fest stattfindet; die strahlende Schlacht erscheint ihnen als Fortsetzung des Festes, und sie erringen den Sieg.17

Indem ein fixes Ereignis, der Sieg in der Schlacht, mit zwei völlig unterschiedlichen, flexiblen Ereignissen kombiniert wird, entstehen alternative Narrationen und Zusammenhänge, die gleichermaßen Sinn ergeben. Das Ereignis erscheint dabei gewissermaßen als „das Identische in der Vielheit“, das die unterschiedlichen Narrationen, aus denen die Geschichte besteht, miteinander verbindet.18 Borges’ Geschichtsmodell – oder Serres’ Kommunikationsnetz – weist dabei bereits deutliche Parallelen zum Rhizom auf, jenem Wurzelgeflecht, das Gilles Deleuze und Félix Guattari unter anderem als Model für eine mögliche Geschichtsschreibung angaben. Das Rhizom zeichnet sich durch Wildwuchs aus, bei dem kein Stamm oder leitendes Zentrum identifizierbar ist. Es hat „weder Anfang noch Ende“, ist ein „azentrisches, nicht hierarchisches und asignifikantes System ohne General“ und definiert sich allein „durch eine Zirkulation von Zuständen“.19 Auf diese Weise erscheint es als System, das stets im Werden ist, „das unaufhörlich entsteht und einstürzt“ und bei dem auch ein „mikroskopisch kleines Ereignis [...] das Gleichge-

17 Borges 2004, S. 88 u. 86. 18 Hölscher 2003, S. 59f. 19 Deleuze/Guattari 1997, S. 36

P OLITIKEN DES E REIGNISSES | 13

wicht der lokalen Mächte“20 umstürzen kann. Die Verbindungen von Punkt zu Punkt sind beliebig und unbeständig, es gibt „Flucht- und Deterritorialisierungslinie[n]“,21 die aus dem aktuellen Geflecht herausführen oder dessen Beschaffenheit ändern. Es greift Genealogien und Stammbäume an, die für staatliche Strukturen prägend sind, und es lässt keine Diktaturen zu, da es auf ein System setzt, in dem sich keine machtvolle Position verstetigt. So nimmt es nicht Wunder, dass das Rhizom oft als Modell für das Internet herangezogen wurde. Auch wenn die idealisierte Fassung des Internets durch die Eingriffsmöglichkeiten, die unter anderem US-amerikanischen Ministerien und Geheimdiensten zur Verfügung stehen, gründlich zerstört wurde, vermag es als verteiltes Netzwerk dennoch seine Stärken zu beweisen, wie an scheiternden Versuchen staatlicher Behörden zu studieren wäre, unliebsame Videos und Informationen im weltweiten Datennetz zu löschen. Das Internet speichert unzählige Geschichten und Gegengeschichten auf dezentralen Servern, deren rhizomatische Vernetzung nicht nur eine Löschung nahezu verunmöglicht, sondern auch die Mannigfaltigkeit der Zeiten, der unterschiedlichen Versionen und Fassungen historischen Geschehens, beständig weiter wuchern lässt.

III. E PISTEMOLOGIE

DES

E REIGNISSES

Die – hier sicher nicht umfassend entfaltete – Genealogie des Ereignisses hat von der Ereignisgeschichte über die Strukturgeschichte bis hin zu einem gleichberechtigten, aber als komplex zu denkenden Verhältnis beider Pole geführt. Das Ereignis erscheint dabei nicht mehr als positivistische Einheit oder überschätzte Marginalie der Geschichtsschreibung, sondern wird selbst als historische Wissensfigur erkennbar, mit der sich unterschiedliche Geltungsansprüche verbinden und die in unterschiedlichen Epistemen jeweils andere Funktionen erfüllen kann. Auf diese Weise rückt die Frage nach dem Zusammenhang von Wissen und Ereignis ins Zentrum der Betrachtung: Ereignisse geschehen nicht einfach, sie sind kein naturgegebener Motor der Geschichte, vielmehr erscheinen sie immer schon als diskursive Phänomene, die innerhalb der Wissensstrukturen einer Epoche eine be-

20 Deleuze/Guattari 1997, S. 35 u. 27. 21 Deleuze/Guattari 1997, S. 36.

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stimmte Funktion erfüllen oder auf spezifische Weise Bedeutung generieren. Deshalb ist das Ereignis auch ein politisches Instrument, das zu bestimmten Zwecken und mit bestimmten Absichten eingesetzt werden kann. Der endlose Strom der Ereignisse etwa, den – um auf Braudels MittelmeerWerk zurückzukommen – Philipp II. täglich registrieren muss, ist konstituierendes Element einer epistemischen Konfiguration, die nicht zufällig den König ins Zentrum stellt und so seine Bedeutung markiert – oder aber, in der Sicht Braudels, gerade auf seine Bedeutungslosigkeit verweist. Das Ereignis kann somit nicht länger als historische Wirklichkeit vor aller Erkenntnis betrachtet werden; es erscheint vielmehr als eine Kategorie der Wahrnehmung, der Sinnerzeugung und somit letztlich der Politik. Mit Jacques Rancière wäre es aus diesem Grund innerhalb der Register einer „Poetik des Wissens“ zu fassen. Rancière plädiert für eine analytische Perspektive, die sich „für die Regeln [interessiert], nach denen ein Wissen geschrieben und gelesen wird, sich als eine spezifische Rede konstituiert.“22 Solche Poetiken und Poetologien23 des Wissens folgen dem Prinzip, dass ein spezifisches Wissen in verschiedenen ästhetischen Formen unterschiedlich repräsentiert werden kann, womit die Konstruktion der Historiografie hervorgehoben und eine Absage an eine allgemeingültige Objektivität vorgebracht wäre. Diese Modelle sind verwandt mit Hayden Whites Metahistory, in der die Dramaturgien der Historiker des 19. Jahrhunderts analysiert und deren historiografische Erzählungen als sorgsam komponierte „sprachliche Fiktionen“24 ausgewiesen wurden, deren Reihung von Ereignissen und Plotstrukturen dem Leser Wissen über vergangenes Geschehen vertraut machen soll. Die Grenze zwischen der historischen Erzählung und Literatur wird somit durchlässig, was Stephen Greenblatt in seinen Shakespeareforschungen deutlich gezeigt hat:25 Auch William Shakespeares Werk ist fest im zeitgenössischen Diskurs verankert und vermag es so, ein Wissen über jene Zeit freizusetzen, das weder besser noch schlechter als die Auslegung zeitgenössischer Dokumente ist. Damit soll nicht behauptet werden, dass es keine Unterschiede zwischen wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftli-

22 Rancière 1994, S. 17. 23 Vgl. Vogl 1999, S. 14. 24 White 1991, S. 102. 25 Vgl. Greenblatt 1993.

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cher Literatur gäbe, vielmehr soll der Blick auf die Frage nach der Organisation des Wissens und insbesondere nach den ästhetischen Formen der Ereignisproduktion und -darstellung gerichtet werden, die sich innerhalb unterschiedlicher historischer Wissenssysteme feststellen lassen. Notwendig wird ein „Denken des Ereignisses in seiner ästhetischen Vermittlung“, im Zuge derer das Ereignis zugleich für immer neue Interpretationen und Deutungsmöglichkeiten geöffnet wird.26 Eine besondere Wissensfigur bleibt das Ereignis jedoch deshalb, weil es niemals ganz in den epistemischen Systemen, die es organisiert und von denen es erzeugt wird, aufzugehen scheint. Vielmehr besitzt es die irritierende Eigenschaft, dass es auch bei flächendeckender medialer Beobachtung niemals ‚direkt‘ oder unmittelbar zugänglich ist. Wie vor allem Jacques Derrida gezeigt hat, verbindet sich mit dem Begriff des Ereignisses vor allem die Vorstellung der Plötzlichkeit und Einmaligkeit, die jedoch bereits durch den das Ereignis wiederholenden Sprechakt negiert wird: Das Ereignis bleibt im Diskurs uneinholbar, da „das Sprechen als Sprechen schon aus strukturellen Gründen immer nach dem Ereignis kommt“. In sprachliche Formen gegossen, wird das Ereignis daher wiederholbar, es erhält „eine gewisse Allgemeinheit, eine gewisse Iterierbarkeit“, die die „Singularität“ des Ereignisses verfehlt.27 Nach Derrida führt die Rede vom Ereignis dazu, dass das Ereignis selbst neutralisiert wird und umgekehrt das „Ereignis nur möglich ist und nur ‚eintreten‘ kann, wenn es selbst unmöglich bleibt.“28 Gleichzeitig aber wird das Ereignis dadurch, dass es stetig reklamiert wird, überhaupt erst konstituiert: Die Rede vom Ereignis scheint gleichsam eine virtuelle Spur der vordiskursiven, aber unzugänglichen Wirklichkeit zu produzieren. Wenn das Ereignis also einerseits als ästhetische Figur erscheint, mit der bestimmte Aussagen, Geschichtsdeutungen oder gar Wissenssysteme verankert und stabilisiert werden, verweist es andererseits immer auch auf einen unverfügbaren Bereich des Nicht-Wissens

26 Richter 2005, S. 12. 27 Derrida 2003, S. 21. 28 Häusler 2013, S. 9. Nach André Michels ist das Ereignis aus diesem Grund „vorzeitlich, vorweltlich, vorbegrifflich, während sowohl Zeit, Welt, als auch Begriffe von ihm ausgehen und aus ihm hervorgehen.“ Michels 2003, S. 84.

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und somit auf die Grenzen, welche dem poetologisch und ästhetisch formierten Wissen gesetzt sind.29

IV. P OLITIKEN DES E REIGNISSES Diese Verknüpfung des Ereignisses mit dem Bereich des Nicht-Wissens ist für jede politische Ereignistheorie zentral. Mit dem Ereignis scheint einerseits eine Offenheit, eine Dynamik verbunden zu sein, die Unmögliches in Mögliches, Undenkbares in Denkbares zu verwandeln und auf diese Weise utopische Kräfte zu mobilisieren erlaubt. Für Alain Badiou etwa besitzen politisch wirksame Ereignisse das Potenzial, Situationen mit etwas anzureichern, das vorher nicht „benennbar“ war. Viele historische Geschehnisse seien zunächst „undurchsichtig“, da diese innerhalb eines „Denkrahmens“ entstünden, der entlang der noch unbenannten Ereignisse im Zerfall begriffen sei.30 Das Ereignis fungiert für Badiou somit als ein „Störfall“31, der einen epistemischen Bruch oder zumindest einen Wandel im Denksystem markiert. „Was geschah“, so Badiou, „war, wenn es auch innerhalb dieses Systems gedacht wurde, darin nicht denkbar.“ Im Ereignis gebe es immer etwas „überzählig[es]“, das auf eine „Disharmonie zwischen der Undurchsichtigkeit der Intervention und der nichtigen Durchsichtigkeit der Repräsentationen“ verweise. Aufgabe der Politik sei es nun, die noch unbenannten Ereignisse zu benennen und diese „Benennung getreu und auf lange Sicht zu stabilisieren.“32 Obgleich unplanbar und unvorhersehbar, öffnet das Ereignis so den Raum für politisches Handeln, das gezielt die Veränderung bestehender Gesellschafts- und Sichtbarkeitsordnungen bewirken kann. Neben dem Potenzial für Veränderungen besitzt das Ereignis aber auch unverkennbar stabilisierende und sinnstiftende Funktionen für Kulturen, Machtapparate und Wissenssysteme. Daniel Dayan und Elihu Katz etwa

29 Das Ereignis wäre somit möglicherweise auch im Rahmen einer Poetologie des Nicht-Wissens fruchtbar zu machen, wie sie zuletzt unter anderem in den Literaturwissenschaften diskutiert worden ist. Vgl. etwa Geisenhanslüke 2012. 30 Badiou 2010, S. 76. 31 Koch/Petersen 2011. 32 Badiou 2010, S. 76.

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haben in ihren Forschungen zu den Media Events vor allem solche Großereignisse in den Blick genommen, die die Ordnung einer Gesellschaft sichern oder wiederherstellen, und dabei nachgewiesen, dass diese entlang bestimmter Skripte in Szene gesetzt werden und deshalb sorgfältig durchgeplant und organisiert sind. So untersuchen sie Ereignisse, die sich in die Register „Contest“, „Conquest“ und „Coronation“ einordnen, und setzen sich entsprechend mit der Inszenierung von Olympischen Spielen, der Mondlandung oder einer königlichen Hochzeit auseinander.33 Plötzliche Ereignisse wie „great news events“ werden, wie Frank Bösch betont hat, in diesem methodischen Schema jedoch ausgeklammert. 34 Jean Baudrillard hat in seiner Theorie dem Begriff des Ereignisses jenen des Nicht-Ereignisses gegenübergestellt, mit dem keineswegs ein Nicht-Geschehen, eine Stasis, sondern gerade jener Eintritt eines vorhergesehenen, vorausberechneten, möglichen Ereignisses bezeichnet werden soll, den Dayan und Katz beschreiben. Bei Baudrillard wird allerdings neben den ritualisierten Fernsehereignissen noch eine ganze Reihe anderer Geschehnisse als Nicht-Ereignisse gefasst. Den Unterschied zwischen Ereignis und Nicht-Ereignis verdeutlicht Baudrillard etwa an der Differenz zwischen den Anschlägen vom 11. September und dem Irak-Krieg, der darauf folgte: Die Attacke auf das World Trade Center habe zunächst stattgefunden, in gewisser Weise ex nihilo, unvorhersehbar; erst danach erfasst[e] man seine Möglichkeit. Das ist das zeitliche Paradox, die invertierte Zeit, die das Ereignis als solches ausmacht. Ein solches Ereignis kennt keine Vorhersehbarkeit, da es dazu als möglich erachtet werden müsste, und wenn diese Vorausschau gelänge, würde es nicht stattfinden.35

Dagegen stelle der „Präventivkrieg“ eine Negation dieser inversen Struktur – oder, anders gesagt: eine Rückkehr zum schlichten „Kausalitätsprinzip“ dar: „Der [...] Irakkrieg war derart vorhergesehen, vorprogrammiert, vor-

33 Dayan/Katz 1992, S. 25 u. 9. 34 Bösch 2010, S. 7. Die Olympischen Spiele 1972 stellen dabei insofern einen interessanten Sonderfall dar, als dass hier ein ritualisiertes „media event“ zum Rahmen für ein plötzlich eintretendes „news event“ – die Geiselnahme von München – wurde. Vgl. Gajek 2013. 35 Baudrillard 2007, S. 8.

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weggenommen, vorgeschrieben und vormodelliert, dass er alle Möglichkeiten, bevor sie eintrafen, ausgeschöpft hatte. [...] Nichts von einem realen Ereignis ist mehr in ihm.“ Mittels der Nicht-Ereignisse, die den bekannten Weg vom Möglichen zum Wirklichen gehen, wird also ein Krieg gegen die Ereignisse geführt, deren Logik gerade in umgekehrter Richtung verläuft: Zuerst ereignen sie sich, und dann erst werden sie möglich gewesen sein. Der „beunruhigende[n] Befremdung“, die tatsächliche Ereignisse auslösen, tritt somit nach Baudrillard die nur scheinbar beruhigende, tatsächlich eigentlich noch viel beunruhigendere „Vertrautheit“ entgegen, die das NichtEreignis kennzeichnet. 36 Der vorliegende Band folgt der Annahme, dass diese Gegenüberstellung von subversivem, ‚offenem‘ Ereignis und stabilisierendem, ‚berechnetem‘ Nicht-Ereignis, auf der eine Vielzahl gegenwärtiger Ereignistheorien basiert, letztlich nicht ausreicht, um den Machtgefügen gegenwärtiger Gesellschaften gerecht zu werden. Denn ob das Ereignis zu Veränderungen oder zu Stabilisierungen des Bestehenden führt, ist nicht von der Plötzlichkeit seines Eintritts abhängig. Auch katastrophale gesellschaftliche „Störfälle“ setzen Momente der Reflexion frei, die zur massenmedialen und populärkulturellen Be- und Verarbeitung und somit oftmals zur Integration des Geschehens in die bestehenden Strukturen führen können.37 Darüber hinaus hat es aber vor allem den Anschein, dass das Ereignis gerade durch seine Verbindung mit dem ‚Undenkbaren‘ besonders prädestiniert ist, zu einem Werkzeug machtpolitischen Kalküls zu werden. Der Planung einer „radikal unbekannte[n] Zukunft“,38 die nicht allein aus der Exploration vergangenen Geschehens entwickelbar ist, widmen sich so nicht umsonst inzwischen breite Bereiche der Gesellschaft: Unter anderem für das Versicherungswesen wurde etwa der Einsatz der „SzenarioTechnik“ vorgeschlagen, mit der das „katastrophische Imaginäre“39 beansprucht und eine Vielzahl von möglichen Zukünften imaginiert werden soll. Diese Technik wurde in den Think Tanks des Kalten Krieges entwickelt, um Szenarien wie den Atomkrieg oder den nuklearen Winter zu durchdenken und so Handlungsoptionen in eigentlich undenkbaren Situationen aus-

36 Ebd., S. 12 u. 7. 37 Vgl. Koch/Nanz 2014, S. 94ff. 38 Opitz/Tellmann, S. 29. 39 Ebd., S. 27.

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zukundschaften. Herman Kahn, ein prominenter Vertreter des Think Tanks, hat dementsprechend die Devise „Thinking about the Unthinkable“40 ausgegeben. Im Kalten Krieg sowie nach den gänzlich unerwarteten Anschlägen des 11. Septembers in New York war und ist die Kompetenz gefragt, ein worst case-Szenerio zu imaginieren, das eigentlich undenkbar ist.41 Der „Angriff der Zukunft auf die übrige Zeit“, von dem Joseph Vogl in Anlehnung an Alexander Kluge einmal sprach, bedeutet somit, dass die „Ungewissheit“ der Zukunft „nicht einfach Gegenstand von Erwartung und Voraussicht“ ist, sondern „in die aktuelle Gegenwart hinein“ wirkt und „deren Verlauf“ diktiert, sodass sich moderne Gesellschaften immer stärker „über die Verwandlung von Gefahren in Risiken und über die Bändigung des Zufalls“ formieren.42 Entscheidender als die Frage, ob die Ereignisse den westlichen Gesellschaften möglich erschienen, bevor sie eintraten, ist somit der Umstand, dass etwa nach dem Einsturz der Türme des World Trade Centers ein völlig neuer Erwartungshorizont eingerichtet wurde, in dem künftige Ereignisse zunehmend nicht mehr als aus der Vergangenheit ableitbar erschienen. Mit ihm entstanden daher andere Szenarien, mit denen neue, auf Prävention ausgerichtete politische Maßnahmen ermöglicht wurden. Dieser Umbau der Architektur des gesellschaftlichen Möglichkeitsraums wirkt, wie aktuelle Debatten etwa über die Überwachung des Internets deutlich vor Augen führen, bis heute nach: An seiner Aushandlung nimmt eine Vielzahl konkurrierender Akteure teil, die etwa der Politik, dem Journalismus, der Wirtschaft, dem Militär oder dem Kulturbetrieb, der Literatur, dem Film und der bildenden Kunst angehören können. Die Politiken des Ereignisses, die von diesen Akteuren initiiert werden, vollziehen sich dabei als Widerstreit, als „Unvernehmen“43 im Virtuellen. Sie produzieren Wissen über die Zukunft oder weisen auf dessen Grenzen hin, sie entwerfen Szenarien oder delegitimieren und dekonstruieren diese, sie warnen vor den Folgen möglicher Ereignisse oder ziehen diese in Zweifel, oder sie suchen nach offenen Räumen, die noch nicht von den anderen Architekten der Zukunft verbaut wurden.

40 Kahn 1984. 41 Vgl. Clarke 2006, S. 22. 42 Vogl 2009, S. 105. 43 Rancière 2002.

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V. D IE M ACHT

DER

P ROGNOSTIK

Um für diese Politik des Virtuellen ein Sensorium zu entwickeln, ließe sich das Ereignis mit Gilles Deleuze als eine Figur verstehen, die zwischen aktuellen und virtuellen Welten vermittelt.44 Anhand einer Parabel aus der Theodizee von Gottfried Wilhelm Leibniz veranschaulicht Deleuze diesen Ereignisbegriff: In ihr beschwert sich Sextus Tarquinius, der vom delphischen Orakel sein Schicksal als Vergewaltiger und Mörder prophezeit bekam, im Tempel des Jupiter über die Ausweglosigkeit seiner Zukunft. Theodorus, der Oberpriester dieses Tempels, bedauert das schwere Los des Sextus und befragt die Göttin Pallas in Athen nach den Gründen dieser Härte Jupiters. Die Göttin erscheint ihm im Schlaf und führt ihn zu einer riesigen Pyramide, die nach unten geöffnet ist und eine unendliche Menge möglicher Welten enthält. Jeder Raum dieses „Palastes der Lose des Lebens“ markiert dabei eine andere Welt, in der Sextus ein anderes Schicksal erhält. In der Welt aber, die ganz oben an der Spitze der Pyramide steht, erfüllt sich der Orakelspruch, der Sextus nach Rom gehen, Verwirrung stiften, die Lukretia vergewaltigen und einsam sterben lässt.45 Die Pyramide enthält somit alle Welten, die möglich sind, sich aber – bis auf eine – nicht aktualisiert haben. In ihrer Spitze findet sich die bestmögliche aller Welten, die als einzige auch verwirklicht wird. Das Leben des Sextus wird in einer unendlichen Anzahl von Variationen durchgespielt, wobei die verschiedenen Fassungen des Etruskers zwar möglich sind, jedoch miteinander unvereinbaren, „inkompossiblen“ Welten angehören. Die Göttin erklärt nun dem erstaunten Theodorus: Jupiter hat alle Möglichkeiten vor Beginn der bestehenden Welt durchgesehen, hat alle möglichen Welten überdacht und schließlich die beste erwählt. Sextus’ Verbrechen werden von Jupiter allein deshalb hingenommen und als Teil der bestmöglichen Welt ausgewiesen, da diese die Verbannung des Schänders provozieren, wodurch die Monarchie beendet und die Römische Republik begründet wird.

44 Nach Marc Rölli ermöglicht es der von Deleuze vorgeschlagene Ereignisbegriff, das Ereignis aus der „Transzendenz unbestimmten Andersseins“ zu befreien und in ihm „Singularität und Mannigfaltigkeit“ zusammen zu denken. Vgl. Rölli 2004, S. 13 u. 32. 45 Leibniz 1996, S. 259ff.

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Das gute Regieren einer Welt, so ließe sich schlussfolgern, verlangt nach einer Verwaltung aller wirklichen und möglichen Ereignisse.46 Der Palast der Lose des Lebens lässt sich in seiner Anordnung und Funktion als eine Ars inveniendi beschreiben, da sich eine jede Frage zum Schicksal des Sextus sofort überprüfen lässt.47 Denn die verschiedenen Welten ermöglichen es, so bemerkt Athene gegenüber Theodorus, dieselbe Frage in verschiedener Weise und auf jede mögliche Art zu beantworten. Während in der Konzeption der Leibniz’schen Theodizee alle sich aktualisierenden Ereignisse vorbestimmt sind und nach der bestmöglichen aller Welten streben, an dessen Ende das Reich Gottes steht, verlor entlang verschiedener einschneidender Ereignisse – zu nennen wäre insbesondere das Erdbeben von Lissabon 1755 – Leibniz’ Gottesbeweis jedoch an Überzeugungskraft. Heute, so kommentiert Joseph Vogl das Modell weiter, hat man es „nicht mehr mit einer barocken Vielfalt möglicher Welten zu tun, sondern mit einer modernen und endlichen Welt alles Möglichen“48: Für die Moderne gehören die Gabelungen, die Divergenzen, die Inkompossibilitäten und Unstimmigkeiten zur selben „buntscheckigen Welt“.49 In dieser berufen sich Versicherungen auf Statistiken, um das Leben des Menschen und den Umlauf von Waren vorherzusagen. Es werden von der Wirtschaft, der Politik und der Polizei riesige Datenbanken angelegt, um ein Kaufverhalten zu bestimmen, einen Terroristen zu identifizieren oder mit der Rasterfahndung der Exekutive eine Virtualisierung des Wissens an die Hand zu geben, mit der sich die Wirklichkeit besser durchdringen lässt.50 Die Berechnungen der Prognostik und die „Narrative der Prävention“51 sind durch den technischen Fortschritt selbst notwendig geworden, der die Zerstörung der Welt in den Bereich des Möglichen gerückt hat; gleichzeitig haben sie die Logik der Politik nachhaltig verändert, die nun zunehmend in professionalisierten Imaginationen stattfindet, welche Gefahren vor Augen führen und Ängste schüren, neue Handlungsräume erschließen und Machtverhältnisse aushandeln oder stabilisieren können. Leibniz’

46 Vogl 2003, S. 100. 47 Vgl. Siegert 2003, S. 164. 48 Vgl. Vogl 2007, S. 74f. 49 Deleuze 2000, S. 135. 50 Vgl. Vogl 1998. 51 Horn 2014, S. 297.

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Pyramide ist heute in gewisser Hinsicht auf den Kopf gestellt: Es gibt nicht mehr die eine und bestmögliche Welt, die von einem Gott, der die Übersicht besitzt, erwählt wird; sondern es scheint eine Welt zu geben, in der alles möglich ist und die die internen Spannungen und Unstimmigkeiten aushalten muss. Indem aber das Ereignis jene epistemische Figur bleibt, die unumgänglich mit dem Nicht-Wissen verknüpft ist, und jene politische Figur, die auch das Undenkbare zu denken verspricht, kann die Pyramide niemals tatsächlich vollständig und abgeschlossen sein. Die Agenten aus Kunst, Konzernen und Staatswesen, die die verzweigten Pfade der Zukunft ebenso wie der Vergangenheit ausloten, treffen beständig auf die Grenzen des Sag-, Denk- oder Darstellbaren, und sie wenden alle ihnen zur Verfügung stehenden Energien dafür auf, über diese Grenzen hinauszudenken und weitere mögliche Welten in die Architektur der umgekehrten Pyramide zu integrieren – sei es, um die Politik der Prognostik weiter zu perfektionieren, die es erlaubt, potenzielle Störfälle vorauszusehen und zu neutralisieren, sei es, um neue Märkte zu erschließen, politische Freiräume zu öffnen oder bestehende Ordnungen zu modifizieren. Der Motor, der diese Erweiterung vorantreibt, indem er immer neues Nicht-Wissen, neue Kontrollverluste erzeugt, die neue politische Maßnahmen notwendig werden lassen, ist das Ereignis. Um dieses organisiert sich das Virtuelle als paradoxer Raum, in den sich nicht nur die „gedachten Kriege“,52 sondern auch die politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart zunehmend verlagern.

VI. Z U

DEN

B EITRÄGEN DES B ANDES

Die in diesem Band versammelten Beiträge stellen jeweils historische oder mögliche Ereignisse ins Zentrum ihrer Überlegungen, anhand derer unterschiedliche Formen von ‚Ereignispolitik‘ entfaltet werden. Unter dem Stichwort Formationen untersucht dabei eine erste Gruppe von Aufsätzen, wie Ereignisse diskursiv hergestellt und als Stabilisatoren bestimmter gesellschaftlicher Strukturen, nationaler Identitäten, Geschichtsnarrative oder anderer sinnstiftender Ordnungen eingesetzt werden. Stellte Braudel die longe durée dem Ereignis noch unvermittelbar gegenüber, wird in diesen

52 Vgl. Engell 1989.

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Analysen deutlich, dass viele historische Kontinuitätslinien über die Inszenierung von Ereignissen sichtbar gemacht, etabliert und gestützt werden. Dagegen treten im zweiten Teil Ereignisse in den Fokus, die zu herrschenden Diskursen in Widerspruch geraten, deren Bedeutung sich noch im Prozess der Aushandlung befindet oder die unvorhergesehene Wirkungen entfalten. Sie entziehen sich der Kontrolle eines einzigen Diskursträgers und wirken somit nur bedingt stabilisierend. Vielmehr öffnen sie neue Deutungs- und Möglichkeitsräume, die von verschiedenen Akteuren genutzt werden können. Ein drittes Kapitel versammelt unter dem Titel Prognosen Beiträge, die sich dezidiert mit der Logik zukünftiger Ereignisse beschäftigen, wobei es sich um potenzielle Gefährdungen handeln kann, die zum Gegenstand eines spezialisierten Wissens und einer futurologischen Politik werden, oder um völlig neue Ereignistypen, die etwa durch neue Technologien erzeugt werden und von einem Wandel des Möglichkeitsraums künden. Um sie organisiert sich eine auf Vermeidung ausgerichtete Politik, wie sie etwa für zeitgenössische Sicherheitsdiskurse charakteristisch ist und die nicht nur eine völlig neue Form von Epistemologie bedingt, sondern auch in neue Konstruktionen großer Erzählungen zurückschlagen kann. Formationen In seinem diskursanalytisch ausgerichteten Beitrag „Die historiografischen Strategien des Robert Harris“ unternimmt Alessandro Barberi zunächst eine grundlegende Reflexion des Verhältnisses von Ereignis und Diskurs. Primärer Untersuchungsgegenstand ist Robert Harris’ Roman Pompeji, der als literarische Auseinandersetzung mit dem Ausbruch des Vesuvs am 24. August 79 eine eigene historische Epistemologie entwickelt: Barberi macht in Harris Text Diskurse, Wissensformen, Institutionen und Akteure aus, welche sich von einer ausgewiesenen historischen Erzählung in der ästhetischen Form zwar unterscheiden mögen, aber ebenso verifizierbares Wissen hervorbringen. Auf diese Weise unterläuft der Roman die Grenze zwischen Science und Fiction und wirft die Frage auf, in welcher Konkurrenzbeziehung sorgsam recherchierte historische Romane zu wissenschaftlichen Abhandlungen stehen. Gleichzeitig stehen Probleme der historischen Epistemologie im Roman selbst zur Debatte, wird hier doch das zentrale Ereignis, um das sich die Handlung dreht, zum Gegenstand einer Recherche: Wie in

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einem Kriminalroman muss der Protagonist Spuren nachgehen und Zeichen richtig deuten, um nicht allein den bevorstehenden Ausbruch des Vesuvs erkennen, sondern auch dessen machtpolitische Effekte moderieren zu können. Denkbar ist die bevorstehende Katastrophe für ihn dabei nur innerhalb der Grenzen seines Wissenssystems, welches im Roman detailliert (re-) konstruiert wird. Geht es Barberi um eine Aufwertung fiktionaler Literatur gegenüber der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, so lässt Raphael Hörmann in seinem Beitrag „And so the Devil said: ‚Ok, its a Deal‘“ deutlich werden, wie stark Fiktionen und Narrative auch außerhalb von Romanen die Wahrnehmung von Geschichte prägen können. Hörmann untersucht mit der Haitianischen Sklavenrevolution von 1790 ein Ereignis, dessen katastrophale Auswirkungen sich scheinbar wie ein Fluch über 200 Jahre hinweg immer von neuem entfalten. Dabei weist er die Wirkmacht eines kolonialistisch geprägten politischen Diskurses nach, der jede Katastrophe bis zum verheerenden Erdbeben von 2010 auf das Urereignis des Sklavenaufstandes zurückführt, welcher die Kolonialmächte in Europa seinerzeit in Angst und Schrecken versetzte. Die Vertreibung der französischen Kolonialherren scheint somit den Beginn einer longue durée zu markieren, deren Ende nicht absehbar ist. Diese vermeintliche Struktur erweist sich allerdings bei genauerer Betrachtung als ein Effekt politischer Narrative, die bis heute den Aufstand gegen die Kolonialmacht als haitianischen ‚Sündenfall‘ zu inszenieren suchen. Wie eine solche narrative und ästhetische Form der Ereignisproduktion zu einem methodischen staats- und kulturpolitischen Verfahren werden kann, schildert der Beitrag „Der Spanische Bürgerkrieg als Medienereignis im NS-Film“ von Daniel Gethmann, welcher aufzeigt, wie die nationalsozialistische „Legion Condor“ und die sie begleitenden Filmemacher Ende der 1930er-Jahre den Krieg in Spanien zu einem medienpolitischen Experimentierfeld machten. Kurz vor dem Sieg der Faschisten wurde der Versuch einer sinnstiftenden filmischen Re-Inszenierung des Kriegs zu einem der zentralen Zwecke des Einsatzes selbst, der nun zunehmend nicht nur vor den, sondern für die anwesenden Kameras stattfand. Die Evidenz-Rhetorik des Films sollte dabei einem legitimatorischen und propagandistischen Einsatz des Mediums dienstbar gemacht werden, mit welchem der Bürgerkrieg zu einem zentralen Ereignis der nationalsozialistischen Mythologie aufgewertet werden sollte. Wie Gethmann zeigt, scheiterte der Prototyp dieser

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neuen Filmästhetik, der NS-Film Im Kampf gegen den Weltfeind, jedoch an dramaturgischer wie ästhetischer Einfallslosigkeit. Dennoch eröffneten die in Spanien entwickelten medialen Strategien nach Gethmann „völlig neue Möglichkeiten auf dem Feld der Konzeptualisierung von Wirklichkeit“, welche bis heute die filmische Geschichtspolitik dominieren. Wie groß auf der anderen Seite die Angst politischer Regime vor einem Kontrollverlust über die ästhetische Deutungshoheit sein kann, zeigt Jörg Probst in seinem Beitrag zur Pressefotografie der Zeitung Neues Deutschland, deren umfangreiches Archiv bislang kaum historisch erforscht wurde. Selbst bei einem vergleichsweise unspektakulären Ereignis wie dem jährlich stattfindenden Frauentag zielt die fotografische Darstellung hier auf eine exakte Reproduktion bestimmter Bildtypen, was zur Folge hat, dass die Aufnahmen des jährlich wiederkehrenden Ereignisses fast ununterscheidbar werden – und auf diese Weise allein durch ihre Serialität Stabilität zu signalisieren versuchen. Wie Probst zeigt, entspricht die strenge Kontrolle der Bildproduktion den in der DDR verbreiteten fototheoretischen Ansätzen, die auf den Ausschluss des Zufälligen und somit auf eine Entzauberung des Ereignismediums Fotografie zielten. Bildgeschichte wird nach Probst so zu einem privilegierten Zugang zur Ideengeschichte, lassen sich an ihr doch die impliziten Ordnungsvorstellungen und Repräsentationsweisen ebenso aufzeigen wie die Momente der Abweichung und des epistemischen Wandels. Fungiert das Ereignis dabei einerseits als streng kontrollierte Ordnungseinheit innerhalb einer Poetologie des Wissens, kann die Veränderung dieses Wissenssystems auch selbst als ein Ereignis gefasst werden, auf dessen Verhinderung die Ereignispolitiken häufig gerade abzielen. Aushandlungen Ein scheiternder Versuch der Herstellung historischer Kontinuität durch den politischen Einsatz eines bestimmten Ereignisses steht im Zentrum des Aufsatzes „Die Konstruktion des ersten Menschen“ von Ellinor Schweighöfer, der sich mit der Geschichte der Paläoanthropologie beschäftigt. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wird die Entwicklungsgeschichte der Menschheit nach Schweighöfer bereits in fest gefügten narrativen Mustern erzählt, die durch unterschiedliche „Fund-Ereignisse“ verifiziert und aktualisiert werden, welche ihrerseits auf das vorgeschichtliche Ereignis der Menschwerdung referieren. Die Suche nach dem missing link, der Verbindung

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zwischen Tier und Mensch, schlug sich dabei in unterschiedlichsten Ereignispolitiken nieder, die Schweighöfer in ihrem Beitrag differenziert. Besonders prominent war der Fund des sogenannten „Piltdown Menschen“ im Jahre 1912 in England, der sich allerdings später als Fälschung erwies: Dem zum Medienereignis stilisierten Sensationsfund, der dazu diente, etablierte wissenschaftliche Theorien zu stützen, folgte das Gegenereignis des Wissenschaftsskandals, das gerade jene Wahrheit des genau datier- und lokalisierbaren missing links, welche die Paläoanthropologie ereignisfähig machte, wieder zerstörte. Ein hochgradig aktuelles Beispiel konfligierender historischer Sinnund Kontinuitätsstiftungen untersucht Irina Gradinari in ihrem Beitrag „Gedächtnispolitische Formierung eines Ereignisses“, in dem sie sich der um ein halbes Jahrhundert verspäteten medialen Aufarbeitung der Hungerkatastrophe in der Ukraine der frühen 1930er-Jahre widmet. Um diese entfachte in den 1990er-Jahren, also im Zuge der Auflösung von UdSSR und Warschauer Pakt, vor allem in russischen und ukrainischen FernsehDokumentationen ein regelrechter Deutungskrieg: Unter Bezugnahme auf filmästhetische Traditionen der Holocaust-Darstellung wurde und wird der „Holodomor“ in ukrainischen Produktionen als Genozid diskursiviert und gleichzeitig mit einem neuen nationalen Selbstverständnis verkoppelt, während das Ereignis in Russland eher als tragische Katastrophe gilt. In beiden Fällen organisieren und ergänzen filmische Medien das in den 1930erJahren selbst nur spärlich dokumentierte Geschehen, betten es in sinnstiftende Narrationen ein, verleihen diesen mit authentifizierenden sowie emotionalisierenden Strategien Nachdruck und erweisen sich so als zentrale Akteure der Herstellung eines kulturellen Gedächtnisses, dessen politischen Zuschnitt der Beitrag deutlich macht. Fast wie ein Gegenstück zu der von Jörg Probst dargestellten Bild- und Ereignispolitik wirken hingegen die Fotografien der Anschläge auf das World Trade Center, die im Zentrum von Wim Peeters Aufsatz „9/11 und das Begehren nach dem repräsentativen Bild“ stehen. Die Verbindung von Alltagsszenen und Katastrophendarstellung innerhalb eines einzigen Bildes erweist sich hier als Provokation einer normalisierten Ikonografie, deren Konventionalität durch die visuelle Störung zugleich selbst sichtbar gemacht wird. Gegen die hegemoniale Macht der „Ordnungsbilder“, welche auf ästhetische Traditionen zurückgreifen und das Ereignis zugleich diskursiv anschlussfähig machen, können sich abweichende Bilder somit bewusst

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positionieren: Ereignisse sind in einen Komplex diskursiver Strukturen und ästhetischer Traditionen eingefasst, der punktuell – nämlich eben durch das „Punktum“, das nach Roland Barthes gerade das Medium der Fotografie auszeichnet53 – durchbrochen und infrage gestellt werden kann. Die Verschiebung der Darstellungsrahmen wird dabei selbst zu einem epistemischen oder ästhetischen Ereignis, das die historischen Ereignisse, die der politische Diskurs produziert, relativiert. In seinem Beitrag „Phänomenologie des Eklats“ untersucht Zoran Terzi anhand einer Fülle von Beispielen die generelle Logik solcher plötzlichen, gewollt wie ungewollt auftretenden Störungen von Ordnungen, die er auf den Begriff des Eklats bringt. Das politische Moment des Eklats liegt dabei nach Terzi, der sich in seiner Argumentation unter anderem auf den Ereignis-Begriff Badious stützt, in seinem konflikthaften, gesellschaftliche Widersprüche zum Vorschein bringenden Charakter: Im Moment des Eklats wird die symbolische Ordnung für einen Moment infrage gestellt, indem vormals Unsagbares gesagt, Unsichtbares gezeigt wird. Die „Fassungslosigkeit“, die der Eklat nach sich zieht, lässt dabei zugleich deutlich werden, welche Rituale und Verhaltensweisen vor dem Eklat die „Fassung“ selbst überhaupt erst ermöglichten. Das betrifft nicht zuletzt auch die Funktionsweisen und Routinen der beteiligten Medien, die im Moment des Eklats unterbrochen und auf diese Weise selbst kenntlich gemacht werden. Der Eklat wird nach Terzi somit zu einer „Umsturzübung“, welche die Möglichkeit der Veränderung gesellschaftlicher Ordnungsmuster gegenwärtig hält. Prognosen Ein völlig anderer Typus des unvorhersehbaren Ereignisses, der diese Dimension der politischen Aneignung nicht besitzt, sondern menschliche Akteure vielmehr geradezu entmachtet und somit auf einen radikalen Wandel des Möglichkeitsraums hindeutet, entsteht mit den digitalen Medien, deren Verarbeitungszeiten die menschliche Wahrnehmungsschwelle unterschreiten. Sie sind somit in der Lage, nicht nur überraschende, sondern auch unbemerkbare Ereignisse zu produzieren: Wie Shintaro Miyazaki in seinem Beitrag „Katastrophische Algorithmen“ argumentiert, erwachsen aus den

53 Vgl. Barthes 1989.

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Codes der digitalen Medien völlig neue Formen der Gefährdung etablierter Ordnungen. Untersucht werden der AT&T-Crash, der 1990 große Teile des US-amerikanischen Telefonnetzes unterbrach, sowie der sogenannte Flash Crash, bei dem 2010 computergesteuerte Finanztransaktionen innerhalb kürzester Zeit zu erheblichen Turbulenzen auf dem amerikanischen Finanzmarkt führten. Beide Krisen entstanden aus einer Eigenlogik der technischen Systeme heraus, die Miyazaki in seinem Beitrag detailliert entfaltet. Inwiefern dieser Wandel der Medientechnik zugleich einen fundamentalen Umbau der Architektur politischer Möglichkeitsräume bedingt, macht auch Marian Kaiser in seinem Beitrag „Der Traum des Digitalen und die Möglichkeiten der Bombe“ deutlich, welcher den digitalen Verformungen des seit der Renaissance etablierten zentralperspektivischen Dispositivs nachgeht. Indem die mathematisch-technische Ausrichtung der Welt auf einen menschlichen Betrachter im topologischen Raum des Computers gestört wird, verändert sich auch die Logik der Aktualisierung von Ereignissen, die, wie Kaiser anhand einer Analyse von James Camerons Terminator 2 argumentiert, nun von technischen Akteuren berechnet und simuliert werden. Konnte sich bei Leibniz immer nur eine mögliche Welt tatsächlich ereignen, stehen die simulierten möglichen Welten des Computers in einem Feedback-Verhältnis zur gegenwärtigen Wirklichkeit. Insbesondere das mögliche Ereignis des 20. Jahrhunderts schlechthin, der Atomkrieg, zeigt nach Kaiser somit, dass in einer computerisierten Wirklichkeit aktuelle und virtuelle Welten in einem völlig neuen, komplexen Austauschverhältnis stehen. War der Atomkrieg das paradigmatische virtuelle Ereignis des Kalten Kriegs, so stehen in der politischen Kultur heutiger Gesellschaften eine ganze Reihe weiterer möglicher Ereignisse im Fokus, die wiederum vor allem aus computergestützten Berechnungen heraus Realität gewinnen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Klimawandel zu, der eigentlich als Prozess vorgestellt, jedoch von einer Reihe von ereignishaften Umweltkatastrophen angekündigt und begleitet wird. Das zentrale Ereignis des Klimawandels ist dabei, wie Ulrike Heine in ihrem Beitrag „Apocalypse … later“ zeigt, ein mathematisches: Mit dem Begriff des tipping points wird in der Klima-Diskussion jener Augenblick bezeichnet, in dem der Klimawandel von einem kontinuierlichen in einen gefährlichen Prozess umschlägt. Der genaue Zeitpunkt dieses Augenblicks ist freilich nur näherungsweise

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zu bestimmen. Aufgrund seiner Virtualität und Abstraktheit bedarf er zudem Strategien der Visualisierung, die, wie Heine zeigt, vor allem im Medium der Fotografie umgesetzt werden. Anhand einer Analyse des multimedialen Essays Climate Change. One Planet, One Chance sowie des Kunstprojektes London Futures. Postcards from the Future weist der Beitrag nach, wie der tipping point dabei auf visueller Ebene an das „MetaNarrativ der Apokalypse“ gekoppelt wird. Der vorliegende Band ist im Anschluss an die Tagung „Politiken des Medienereignisses“ entstanden, die vom 16. bis 18. Dezember 2010 an der Justus-Liebig-Universität Gießen stattfand. Die Durchführung der Tagung ebenso wie die Drucklegung des Sammelbandes wurden durch die großzügige Unterstützung des Gießener DFG-Graduiertenkollegs „Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“ ermöglicht. Besonderer Dank gilt dem ehemaligen Sprecher des Kollegs, Herrn Prof. Frank Bösch, sowie Lars Koch, dessen ERC-Projekt „The Principle of Disruption“ eine sehr inspirierende Arbeitsatmosphäre bot, die den Abschluss des Bandes beförderte. Die Herausgeber danken zudem Frau Danai Colla für ihre Hilfe bei der Vorbereitung des Manuskripts sowie Frau Stefanie Hanneken vom Transcript-Verlag für die Sorgfalt und die große Geduld, mit der sie unser Projekt betreut hat.

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I. Formationen

Die historiografischen Strategien des Robert Harris Eine historische Diskursanalyse in der Science Fiction des Romans Pompeji A LESSANDRO B ARBERI Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte. Die französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom. Sie zitierte das alte Rom genau so wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert. WALTER BENJAMIN, ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE (THESE XIX)

I. E INLEITUNG : P OMPEJI – DES AUSBRUCHS

DAS

E REIGNIS

Tausende Häupter neigen sich nach hinten. Die Menschen lassen die mit ihren Tätigkeiten verbundenen Gegenstände und Instrumente fallen und vergessen in Sekundenschnelle, was noch einige Minuten zuvor die Ordnung

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ihres Zusammenlebens garantierte. Sie starren auf eine schmale Rauchsäule, die sich himmelwärts ausdehnt und ihnen schlagartig den Glauben an überirdische Entscheidungsträger nimmt. Eine Explosion zerschlägt ereignishaft den geregelten Lauf der göttlichen und menschlichen Dinge, indem die Erde sich zurückholt, was ihr seit ehedem gehört. Kinder fallen, Karren stürzen, alles flieht. Menschen sitzen weinend am Straßenrand, während stoische Philosophen hektisch Papyri aus den Archiven der Bibliothek retten, da die Institutionen zerbrechen. Der wohlhabendste Mann der Stadt blickt über die Menge der herumirrenden Leiber hinweg, um in der donnernden Kaskade aus Stein die gänzliche Entwertung seiner Besitztümer vorherzusehen. Steine prasseln auf die Straßen und auf den Schiffen in der Bucht von Neapel können die für das Navigieren notwendigen Operationen nicht mehr verrichtet werden. Technologien versagen und Steuermänner setzen ihre Arbeit aus. Flüchtende verstopfen die Straßen und ihre Gesichter markieren wie blutbespritzte Totenmasken die Zerstörung einer dekadenten Welt. Plinius der Ältere, Oberbefehlshaber der kampanischen Flotte, verlängert die Diskurs- und Wissensstränge seiner Naturalis historia im Blick auf den Vulkan und diktiert einem Sekretär. Sein junger Neffe wird davon in den an Tacitus gesendeten Epistolae berichten – Briefe, die den Historikerinnen und Historikern bis heute als Quelle für den Ausbruch des Vesuvs am 24. August des Jahres 79 n. u. Z. dienen. Ein singuläres Ereignis, welches das Strukturgefüge einer – wie man zu sagen beliebt – zivilisierten Gesellschaft destruierte, indem eine Gemeinschaft sich im Rahmen einer sehr, sehr kurzen Dauer naturierte. Das Zeichen /Pompeji/ eröffnet und verlängert mithin einen Erzählraum, in dem Imperien oder Reiche fallen respektive untergehen und gerade deshalb in der künftigen Welt zur Nach-Erzählung drängen.

II. V ORLÄUFER So weit einige einleitende historiografische Worte, die den weiter unten zu diskutierenden Ausbruch des Vesuvs in Pompeji betreffen.1 Davor mag in-

1

Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag, der im Rahmen einer Sommerkonferenz des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) zum

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des auf drei der Romane von Robert Harris (*1957) verwiesen sein, die der in Cambridge promovierte Literaturwissenschafter vor dem hier analysierten Pompeji publizierte: Vaterland (1992), Enigma (1995) und Aurora (1998). Romane, die sich vornehmlich dadurch von der 2003 erschienenen Arbeit unterscheiden, als sie hinsichtlich des sogenannten historischen Hintergrunds im 20. Jahrhundert und nicht in der Antike angesiedelt sind.2 Danach soll, nicht ohne eine kurze Zusammenfassung des Plots, versucht werden, entlang einer kybernet(h)ischen3 und diskursanalytischen Feldanalyse des Romans Pompeji den Nachweis zu führen, dass aus der Perspektive einer praxeologischen und hier auch historischen Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaft gegenwärtig keinerlei prinzipieller, und d.h. fundamentaler (oder gar fundamentalontologischer) Unterschied zwischen geschichtswissenschaftlicher und fiktional-belletristischer Darstellung von Historie ausgemacht werden kann. Dies gilt auch, wenn manche Formen der Schrift wie das Zitat oder die Fußnote eher in geschichtswissenschaftlichen Analysen als Wahrheitstechnologien eingesetzt werden.4 Doch ändert dies eben nichts an der Möglichkeit, sie auch in Romanen einzusetzen, wo sie auf der manifesten Ebene der Schrift die gleiche Funktion übernehmen, was auch für andere skripturale Verfahren gezeigt werden könnte. Historische Analy-

Thema Science Fiction im August 2004 gehalten wurde. Für Kritiken und Anregungen danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern. 2

Nach Pompeji publizierte Harris die ersten beiden Teile einer Cicero-Biografie, die als Trilogie angelegt ist: Imperium (2006) und Titan (2009). Darüber hinaus publizierte Harris Ghost (2007), Angst (2011) und jüngst Intrige (2013).

3

Vgl. Foerster 1993, S. 63.

4

Fußnoten und Zitate können nur der Tendenz nach als Unterscheidungsmerkmal von Wissenschaft und Fiktion angesetzt werden. Denn es existieren historische Meisterwerke, die ohne sie ausgekommen sind. Und umgekehrt existieren literarische Werke mit Anmerkungsapparat. Vgl. Kantorowicz 1980 und Wiener 1969. Zur Funktion der Fußnote in der klassischen deutschen Historiografie vgl. Grafton 1995. Zum Problem der Wahrheitstechnologien siehe Foucault 1999, S. 133-139. Grundlegend für die Frage nach den Operationen der Historiografie sind Certeau 1991 und Rancière 1994. Der Klassiker im angelsächsischen Raum ist natürlich White 1994. Der Problemhorizont zwischen Historiografie und Fiktion wurde auch eingehend in (m)einer Monografie abgehandelt: Vgl. Barberi 2000.

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sen müssen eben immer in genau jenem Maße erzählt werden, in dem ihre Erzählungen analysiert sein wollen,5 egal ob sie in die Werke von Historikerinnen und Historikern oder in Romane eingelassen sind. Romane können zumindest in Teilen verifiziert werden, wie historische Werke Falsches enthalten können und einer poetischen bzw. poetologischen Verarbeitung unterliegen.6

Abb. 1: Hitlers (und Speers) Berlin im Jahre 1964 nach Robert Harris’ Vaterland.

Und so ist schon Vaterland7 aus dem Jahre 1992 ein hervorragendes Beispiel für die Spiegelungen von historischen Fakten und Fiktionen – von res factae und res fictae –, indem hier beispielsweise der historisch positiv

5 6

Vgl. Sieder 1998, S. 145-175. Zu den Diskussionen um eine Poetik bzw. Poetologie des Wissens vgl. Vogl 1999; Bies/Gamper 2012 und Pethes 2004, S. 341-372. Ein moderner Klassiker für die Auflösung der Grenzen zwischen historischem Roman und historischem Werk ist Umberto Ecos Der Name der Rose. Vgl. dazu die Nachschrift zu Eco 1986. Dabei wird etwa klar, dass sich das wunderbare Kapitel zur Verliebtheit des Adson von Melk einer Montage mittelalterlicher (und verifizierbarer) Quellen über die Liebe verdankt. Dies wurde von Mediävistinnen und Mediävisten (und anderen Historikerinnen und Historikern) durchaus diskutiert.

7

Harris 1994.

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nachweisliche Traum der Nationalsozialisten, aus Berlin ein riesiges Germania werden zu lassen, für das Jahr 1964 als umgesetzt betrachtet wird und sich damit eine virtuelle Geschichtsschreibung ergibt, die keineswegs irreal anmutet, wenn man die manifesten architektonischen Pläne von Albert Speer bedenkt oder auf sie verwiesen wird.8 In dieser historiografischen Rahmung von Vaterland wird auch davon ausgegangen, dass die Schriften, Materialen und Quellen, welche die Shoah belegen, unter solchen faschistischen Bedingungen versteckt, gelöscht oder vernichtet und nur einige Akten der Nachwelt übermittelt wurden. Akten, um die sich nunmehr ein detektivisches Spiel entfaltet, in dem es um das symbolische bzw. ontologische Sein oder Nicht-Sein eines historischen Ereignisses – hier der Shoah – geht. Es handelt sich dabei um eine epistemische Konstellation, die auch im Rahmen der Geschichtswissenschaft eine maßgebliche ethische und wissenschaftliche Rolle spielt, wenn die Endlösung auf das Widerwärtigste von Revisionisten der Shoah in Frage gestellt wird.9 Des Weiteren verweist das in Vaterland fiktiv vor Augen geführte epistemologische Problem der historischen Übermittlung von Daten auf Diskussionen, die z.B. von Archivaren

8

Dies berührt direkt den Bereich der kontrafaktischen oder virtuellen Geschichtsschreibung, bei der von Ereignissen ausgegangen wird, die nicht eingetreten sind. So wird etwa buchstäblich durchgespielt, wie die Geschichte verlaufen wäre, wenn Jesus Christus nicht von Pontius Pilatus verurteilt worden wäre. Im Gegensatz zu anderen Sprachräumen konnte sich diese Form der Geschichtsschreibung in England auch unter dem Titel alternate history teilweise akademisieren, wofür schließlich auch Robert Harris steht. Vgl. dazu Demandt 1984 und Widmann 2009. Zur literaturgeschichtlichen Diskussion der „Referenzillusion“ des historischen Diskurses vgl. Barthes 1995, S. 417-427 und darauf aufbauend die geschichtswissenschaftliche Umsetzung bei Scott 1997, S. 5-22.

9

Vgl. dazu auch den Fall des Apothekers Jean Claude Pressac, der aus dem rechtsradikalen revisionistischen Umfeld des französischen Professors für Literaturwissenschaft Robert Faurisson stammte und nach Forschungsaufenthalten in Auschwitz eines der Standardwerke zur technischen Funktionsweise der Gaskammern verfasste: Pressac 1994. Online findet sich der Text auf Englisch unter ders., „Auschwitz. Technique and Operation of the Gas Chambers”, http://www. holocaust-history.org/auschwitz/pressac/technique-and-operation/ [Zugriff am 24.2.2013].

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geführt werden, wenn es um Fragen der Aufbewahrung bzw. Zerstörung von Dokumenten geht. Intensiver als in geschichtswissenschaftlichen oder archivarischen Darstellungen wird aber in Vaterland die machtanalytische Frage nach Löschung bzw. Speicherung bestimmter historischer Daten zum Gegenstand einer fiktiven und kontrafaktischen Analyse und mithin zu einem virtuellen Gedankenexperiment, in dem es – viel allgemeiner – um die epistemologische Problematik der Repräsentation von Vergangenheit geht.10 Und so werden die durchaus nicht fiktiven Pläne für Germania in Vaterland zum genauen Programm einer Simulation des Nazireichs im Jahre 1964, die zum Testfall der historischen Sensibilität insgesamt gerät.

Abb. 2: Die nationalsozialistische Herrschaft im Jahre 1964 nach Robert Harris’ Vaterland.

In ähnlicher Weise wendete sich Harris in Aurora11 der Geschichte der Sowjetunion zu, indem er den britischen Historiker Fluke Kelso auf ein noch nicht bekanntes Tagebuch von Stalin stoßen lässt. Es sei hier nur erwähnt, dass Harris bereits davor in einer historiografischen Arbeit, die im angelsächsischen Raum der Gattung Non/Fiction zugeordnet wird, die Kapitalisierungsmöglichkeiten von Fälschungen untersuchte. Selling Hitler12 stellt mithin ein dokumentarisches und im Grunde auch geschichtswissenschaftliches Werk dar, das die Umstände der Herstellung und des Verkaufs der weithin bekannten Hitlertagebücher des Konrad Kujau nachbuchstabierte.13 Harris’ archäologische Untersuchungen drehen sich mithin auch

10 Vgl. dazu Foucault 1994 und Ricœur 2004. Vgl. auch Ricœur 2007. 11 Harris 2000. 12 Harris 2009. 13 Vgl. zum Problemkreis der Fälschung auch Grafton 1995 und Chartier 1998.

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hier um den eigentümlichen Status der historischen Quelle, die immer genauso real ist, wie sie konstruiert werden muss.14 Das sowohl in den dokumentarischen wie fiktionalen Schriften bekundete Erkenntnisinteresse von Robert Harris lässt sich also in der Frage bündeln, wann und wie Fiktion als (diskursives) Arte-Faktum in Realität umschlägt oder als Text eine Quellenbasis und mithin eine Wirklichkeit ist. Dies führt dazu, Fiktion je schon als mögliche Wirklichkeit zu begreifen. Gleichzeitig wird umgekehrt danach gefragt, wie eine gegebene Realität aus unterschiedlichen Arten von Konstruktionen und Konventionalisierungen besteht. Fiktionen wären also insofern real, als sie in die Wirklichkeit eingreifen, und die Wirklichkeit wäre fiktiv (im Sinne des lat. fingo), weil sie auch praktisch gemacht, produziert und hergestellt wird und werden muss. Das historiografische Verhältnis von technischen Medien (Horkheimer/Adorno) und Simulationsraum bzw. von (Proto-)KybernEthik und Virtualität spitzt sich vor allem im dritten Roman von Robert Harris mediengeschichtlich zu, da Enigma15 aus dem Jahre 1995 das Moment von Codierung und Decodierung als Grundlage der erzählten sowie der eigentlich vergangenen Geschichte konzipiert und so seinerseits Geschichtsmodelle in Szene setzt, die auch in der sozial-, kultur- und medienwissenschaftlichen (respektive -geschichtlichen) Debatte diskutiert wurden und werden. Im Vergleich zum Mainstream der Geschichtswissenschaft, in dem (aktuelle) Sozial-, Kultur- und Medientechnologien als Möglichkeits- und Produktionsbedingungen nach wie vor zu wenig Berücksichtigung finden, geht zumindest in diesem Fall die Gattung des Romans buchstäblich einen wissenschaftlich entschlosseneren Weg. Denn in Enigma ist Enigma als informationstheoretische Voraussetzung des Zweiten Weltkriegs konzipiert, den sie für manche Historikerinnen und Historiker auch in der historischen Wirklichkeit entschieden hat. Enigma codiert mithin die Geschichtsdarstellung, ganz egal, ob diese nun im nicht/fiktiven Werk eines akademischen Historikers oder im fiktiven Werk eines Schriftstellers lesbar wird. Mit Enigma etabliert sich dabei auch eine historiografische Erfindungsmaschine, die ihrerseits auf der historiografisch tatsächlichen Erfindung eben dieser Ma-

14 Zum konstruktiven Charakter wissenschaftlicher Gegenstände vgl. den Kantianismus in Schmidt 1987 und die wunderbare Publikation von Searle 2011. 15 Harris 1995.

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schine beruht. Eine Maschine, die nunmehr in einem Roman vorkommen kann, der mit der Unterscheidung zwischen realem Geschichtshintergrund und fiktiver Personnage spielt: Vorbemerkung des Autors Dieser Roman spielt vor dem Hintergrund der tatsächlichen historischen Ereignisse. Die im Text zitierten Funksprüche der deutschen Marine sind allesamt authentisch. Die Personen dagegen sind rein fiktiv.16

Die epistemischen Elemente, aus denen Science und Fiction bestehen, werden so durchgängig in ihrer Abhängigkeit von „Kommunikationsmaschinen“ lesbar. Ein Begriff, den der Sozialwissenschafter Claude Lévi-Strauss zur Bündelung von strukturalen und kybernet(h)ischen Wissensformen in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts in die Diskussion eingebracht hat: Immer mehr kommen uns die sozialen Phänomene und die menschlichen Gemeinschaften wie große Kommunikationsmaschinen vor. Sei es, daß es sich um die Kommunikation der Frauen von einer sozialen Gruppe zur andern durch Prohibitionen und eheliche Vorrechte oder um die Kommunikation von Gütern und Dienstleistungen auf dem Gebiet der Wirtschaft oder um die Übertragung von Meldungen in der Sprache und viele andere Vorgänge mehr handelt, die die Intervention der Sprache voraussetzen, was ihr eine Vormachtstellung […] einräumt – jedenfalls sind wir immer mehr daran interessiert, alle sozialen Phänomene [sic! A.B.] als Phänomene der Kommunikation [sic! A.B.] anzusehen.17

Diese Funktionsweise von historiografischen Kommunikationsmaschinen wird sich auch im Vesuv-Roman von Harris fortsetzen, wenn in Pompeji beispielsweise mythologische, ökonomische oder erdkundliche Diskursfelder die Akteurinnen und Akteure in der Art von Rückkopplungsschleifen

16 Harris 1995, S. 7. 17 Jacob/Jakobson/Lévi-Strauss/L’Heritier 1973, S. 60-61.

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aufeinander verweisen und daher auch feldanalytisch untersucht werden können, egal ob sie nun real oder fiktiv sind. Dies soll im Rahmen dieses Artikels in einem zweiten Schritt und nach einer kurzen Zusammenfassung der Erzählung eingehender diskutiert werden. Danach werden einige Überlegungen zur Konstitution einer (Historischen) Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaft angestellt, um einige theoretische Erwägungen zur Politik des Ereignisses zu ermöglichen. Dabei sei vorweggenommen, dass die epistemischen Formationen von Pompeji sich mit jenen geschichtswissenschaftlichen Modellbildungen überlappen, die im Bereich sozialwissenschaftlicher Vollzüge das Terrain der Wirtschafts- und Sozialgeschichte abstecken. Dabei kann etwa an die Mentalitätsgeschichte der französischen Annales-Schule gedacht werden, die zögerlich auch im deutschsprachigen Raum – beginnend mit der Historischen Sozialwissenschaft – aufgenommen wurde.18

III. K URZE I NHALTSANGABE

DES

R OMANS

Der Wasserbaumeister Attilius wird nach dem seltsamen Verschwinden seines Vorgängers von Rom aus in die kampanische Stadt Misenum beordert, um dort ein Aquädukt zu reparieren, das die gesamte Umgebung und neun Städte mit Wasser versorgt. Der gleichmäßige Fluss der Aqua Augusta wird in diesem Sommer des Jahres 79 n. u. Z. durch verschiedene Störungen behindert, die den Beteiligten kaum erklärlich sind. Aus Angst vor der Reaktion, die dieses Versiegen bzw. Versagen bei seinem Herrn Kaiser Titus auslösen könnte, drängt der Oberbefehlshaber der römischen Westflotte, Gaius Plinius, auf schnelle Erledigung der Sache, und so vertraut er auf seinen Aquarius, der davon ausgeht, dass die Aqua Augusta in der Nähe des Vesuv gebrochen ist. Attilius macht sich mit seinen Ingenieuren auf den Weg. Für den derben und skrupellosen Ampliatus stellt das Wasser der Aqua Augusta indes mehr dar als die Überlebensgrundlage der Bevölke-

18 Vgl. einleitend Middel 1994 und Hitzer/Welskopp 2010. Diese klassischen Bestände der Sozialgeschichte lassen sich durchaus mit Kultur- und Diskursgeschichten verbinden. Vgl. Bödecker 2004 und die aktuelle Ausgabe der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG) mit dem Schwerpunkt zu Kulturgeschichte(n): vgl. ÖZG 23/2, 2012: Kulturgeschichten.

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rung. Für ihn ist es einzig und allein eine Möglichkeit, Geld und Macht zu akkumulieren, weshalb er im Einvernehmen mit Attilius Vorgänger und der korrupten Stadtregierung von Pompeji die Aqua Augusta heimlich anzapfen ließ, um das Wasser teuer zu verkaufen. Ausgerechnet seine (selbstredend überaus schöne) Tochter Corelia deckt diese Verschwörung auf und versucht Attilius von der Rückkehr nach Misenum abzuhalten. Ob dieses Wissens werden die beiden eingeschüchtert und bedroht, setzen aber ihr Bemühen um Aufdeckung fort, während die dekadente Gesellschaft Pompejis unaufhaltsam ihrem Untergang entgegeneilt. Die Störungen der üblichen Zivilisationsabläufe häufen sich mehr und mehr. Und die Lösung des Intrigenspiels fällt zwar mit dem Vulkanausbruch zusammen, interessiert jedoch kaum jemanden mehr. Plinius und Ampliatus überleben die Katastrophe nicht und die Legenden werden nur zu berichten wissen, dass zwei Liebende auf überaus wundersame Weise dem Weltuntergang entkommen sind. In dieser Art und Weise verläuft der eigentlich fiktive und in sich abgerundete Plot des Romans, der indes auf diskursanalytischem Niveau eher eine marginale Rolle einnimmt, da er synchron und damit auch diachron von verschiedenen Feldern durchzogen ist, die nun analysiert und diskutiert werden sollen.

IV. Z IRKULÄRE K AUSALITÄTEN DER K YBERN E THIK – E INE DISKURSIVE F ELDANALYSE Schon die symbolische Form des Titels Pompeji eröffnet einen paradigmatischen Streuraum, der nicht nur auf einen geografischen Ort in der Bucht von Neapel verweist, sondern eben auch auf die Singularität eines Ereignisses: den Vesuvausbruch am 24. August des Jahres 79 n. u. Z. Mit der relativ konstanten Räumlichkeit einer Stadt wird mithin von Beginn an auch der Code der Zeitlichkeit angespielt, wodurch sich schon mit der Buchstäblichkeit des Titels ein Spannungsverhältnis etabliert, das den Code eines virtuellen raumzeitlichen Realgewichts vorbereitet. Ein Code, der – sofern man die Autorfunktion /Robert Harris/ ausklammert – nur durch die nähere Bestimmung des Begriffs /Roman/ vom Fiktionalen umspielt wird. Durch dieses Pendeln zwischen Realitätsfunktion (Pompeji) und Fiktionsfunktion (Roman) setzt nun auch ein Aktualitätsbezug ein, der die Möglichkeit er-

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öffnet, in der Art einer kinematografischen Überblendung die katastrophische Geschichte der dekadenten Gesellschaft von Pompeji auf die Gegenwart zu beziehen. Deshalb wird Ampliatus auch die Züge eines Kapitalisten tragen, dessen Charaktermaske eher nicht in der Antike beheimatet ist, aber gerade durch ihr aktuelles Auftauchen ermöglicht, gegenwärtig-politologisches Wissen in Szene zu setzen, mit dem im Roman eine Kulturkritik am Empire19 der Vereinigten Staaten von Amerika ins Spiel gebracht wird. Eine derartige epistemologisch bemerkenswerte Zusammenführung, Überlappung oder Überkreuzung von unterschiedlichen Zeitschichten setzt sich dabei auch in der Vorbemerkung des Autors fort, wo aus gegenwärtiger Perspektive das Wissen um die Zeitrechnung der Römer rekapituliert wird: Vorbemerkung des Autors Die Römer unterteilten den Tag in zwölf Stunden. Die erste, hora prima, begann bei Sonnenaufgang. Die letzte, hora duodecima, endete bei Sonnenuntergang. Die Nacht wurde in acht Wachen unterteilt – Vespera, Prima fax, Concubia und Intempesta vor Mitternacht und Inclinatio, Gallicinium, Conticinium und Diluculum danach. Die Wochentage wurden nach Mond, Mars, Merkur, Jupiter, Venus, Saturn und Sonne benannt. Pompeji umfasst einen Zeitraum von vier Tagen. In der vierten Augustwoche des Jahres 79 n. Chr. ging die Sonne über dem Golf von Neapel um 06:20 auf.20

Angegeben werden nur die für diese Erzählung nötigen Einheiten (Tage, Nächte und Wochentage), die in der Folge auch die Sukzession der Erzählung durch Kapitelüberschriften lenken werden. Das fiktionale Wissen um die (römische) Zeitmessung entspricht dabei jenem Wissen, das Historike-

19 Vgl. die bemerkenswerte Verbindung des sog. Poststrukturalismus mit dem Marxismus durch Hardt/Negri 2003. 20 Harris 2003, S. 7.

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rinnen und Historiker in Proseminaren zur Chronologie durcharbeiten (müssen). Im oppositionellen Spiel von natürlichem und fruchtbarem Wasser, das vom schwefeligen und gefährlichen Magma bedroht wird, setzt sich so im Rahmen dieser zeitlichen Zeichenserie auch ein historisches und materialistisches Relais in Szene, das über Sein und Nicht-Sein je schon entschieden haben wird. Denn knapp „oberhalb“ der Weite des Meeres und der pulsierenden Enge von Magmakammern ist es in Pompeji das Wassersystem der Auqa Augusta und mithin die sozialtechnologische Trias von Verarbeitung (Produktion), Übertragung (Distribution) und Speicherung (Konsumtion), welche Natur tatsächlich zum sozialen, kulturellen und medialen Phänomen werden lässt. Mit den Medien von Brücken, Kanälen, Reservoirs und Aquädukten wird dabei der natürliche Gebrauchswert des chemischen Elements H2O allererst zum Tauschwert, weshalb an den Outputstellen des Wassersystems – also z.B. in Fischfarmen, Werkstätten oder Bädern – ein wirtschaftsgeschichtliches Schaltwerk aus Produktion, Distribution und Konsumtion angeschlossen werden kann. Damit beschäftigt sind wiederum die Charaktermasken (Marx) der Akteurinnen/Akteure und Agentinnen/Agenten, die ihren Handlungen in einer Dingwelt folgen, die – und darin liegt ein gezielter Anachronismus in Harris’ Roman – Kapitalisten und Ingenieuren ihre Stellen und Plätze nicht zuletzt nach den Regeln der komplexen Strukturen der Verwandtschaft zuweist.21 Die Strukturen und symbolischen Felder, die die Konstruktionen und Symbolisierungen dieses Romans durchziehen, eröffnen dabei einen (Handlungs-)Raum, in welchem sich der Plot ereignen kann. Denn auch der Protagonist des Romans, Attilius, ist nur ein genealogischer Abkömmling einer Baumeister- und d.h. in Rom auch einer Beamtendynastie, die ihm entlang der Gesetze von Akkumulation und Vererbung das architektonische Wissen – ganz nach Bourdieu22 – als (symbolisches) Kapital vermachte. Seine Erinnerungen verweisen auf die Schriftzeichen der Vitruvpergamente, welche seine baumeisterliche Hand je und je codieren wird: Seine Ahnen suchen den Träumenden heim und sein Begehren richtet sich auf die Tochter des grausamen Kapitalisten Ampliatus, um mit ihr Befriedigung zu suchen und

21 Vgl. dazu Lévi-Strauss 1981. 22 Vgl. Bourdieu 1983, S. 183-198.

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schlussendlich auch zu finden, wie es sich in Romanen und abgerundeten Erzählungen eben so gehört.

Abb. 3: Kampanien in Robert Harris’ Pompeji.

Das gesamte geografische Feld Kampanien lässt sich in dieser Art und Weise als zirkulär und kausal verkettete Verschaltung von Kommunikationsmaschinen deskribieren, die selbst Akteurinnen/Akteure und Agentinnen/Agenten – also personale oder humane Medien – Plätze zuordnen, wo sie Sprech-, Hör-, Seh- Riech- und Blickmaschinen ein- und ausschalten können, bzw. Liebende sich anblinzeln. Hinsichtlich diverser (Wunsch-) Maschinen, die in Pompeji eine Rolle spielen, sei dahingehend – akademisch leicht zurückhaltend – auf die ersten Sätze des Anti-Ödipus von Deleuze und Guattari verwiesen: Es funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Es atmet, wärmt, ißt. Es scheißt, es fickt. Das Es … Überall sind es Maschinen im wahrsten Sinne des Wortes: Maschinen von Maschinen, mit ihren Kupplungen und Schaltungen. Angeschlossen ist eine Organmaschine an eine Quellemaschine: der Strom, von dieser hervorgebracht, wird von jener unterbrochen. Die Brust ist eine Maschine zur Herstellung von Milch, und mit ihr verkoppelt die Mundmaschine.23

Offensiver lässt sich behaupten, dass die unterschiedlichen Schichten und Geschichten in Pompeji ausnahmslos als diskursanalytische (und d. i. sym-

23 Deleuze/Guattari 1977, S. 7.

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bolische) Zeichenfelder gefasst werden können, in denen Zeichen als Werte und Informationen zirkulieren. Eine eingehendere (sozial-, kultur- und medienwissenschaftliche) Diskursanalyse der epistemischen Elemente und Aussagen von Pompeji kann dabei eine Art von kybernet(h)ischer Verschachtelung unterschiedlicher Diskursfelder vor Augen führen, welche die Erzählung buchstäblich lenken respektive von ihr gelenkt werden. So lassen sich mindestens 15 unterschiedliche Diskursebenen bzw. -felder unterscheiden: I. Diskursfeld der Mythologie Harris (re-)konstruiert die römische Mythologie von Jupiter, Minerva, Vulkan und all den anderen Göttern Roms samt Styx und Hades. II. Diskursfeld der Astronomie Harris (re-)konstruiert mit dem astronomischen Blick von Attilius den römischen Sternenhimmel. III. Diskursfeld der Macht und der Befehlshierarchie Harris (re-)konstruiert mit den sozialen Verbindungen von Kaiser Titus, Plinius und Attilius die (militärische) Beamtenhierarchie Roms. IV. Diskursfeld des Geschmacks- und der sinnlichen Distinktion Harris (re-)konstruiert durch die Beschreibung der Tisch- und Speisekultur die kulinarische Alltagsgeschichte der Bürgerinnen und Bürger von Pompeji (z.B.: Austern, Anchovis, Oliven, Sardinen, panierte Mäuse oder Nachtigallen-Lebern). V. Diskursfeld des Begehrens und des Wunsches Harris (re-)konstruiert durch die Beziehung der schönen Corelia mit Attilius oder durch die Beschreibung von Bordellen und Prostituierten das Sexualitätsdispositiv im alten Rom (dabei etwa die Rolle von Homosexualität und Polygamie). VI. Diskursfeld des Wissenschaft Harris (re-)konstruiert u.a. durch die Diskussion der Naturalis historia von Plinius dem Älteren und der Epistolae von Plinius dem Jüngeren die faktische Quellenlage der Historikerinnen und Historiker. VII. Diskursfeld der Verwandtschaft Harris (re-)konstruiert durch die Vater-Tochter-Beziehung von Ampliatus und Corelia die Familien- und Haushaltsverhältnisse Pompejis und arbeitet auch mit einer Genealogie der römischen Kaiser (etwa mit der Nennung von Augustus und Nero).

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VIII. Diskursfeld der Ökonomie Harris (re-)konstruiert durch die eingehende Beschreibung des Wassersystems die Wirtschaft und Ökonomie einer römischen Stadt und berücksichtigt dabei u.a. das römische Münzsystem und das ökonomische Kapital von Ampliatus. IX. Diskursfeld der Architektur Harris (re-)konstruiert durch die Erwähnung von Vitruvs Schriften die architektonischen Gegebenheiten der römischen Baumeisterkunst und lässt sie in die Beschreibung von Bauwerken einfließen. X. Diskursfeld der Zoologie Harris (re-)konstruiert durch das Kapitel zur Zoologie in der Naturalis historia von Plinius dem Älteren die Tierwelt der Römerinnen und Römer. XI. Diskursfeld der Botanik Harris (re-)konstruiert durch das Kapitel zur Botanik in der Naturalis historia von Plinius dem Älteren die Pflanzenwelt der Römerinnen und Römer. XII. Diskursfeld der Urbanistik Harris (re-)konstruiert durch die Kartografie Kampaniens das Städtesystem in der Bucht von Neapolis und verknüpft es durch Straßen und Aquädukte. XIII. Diskursfeld des Wassers Harris (re-)konstruiert durch Fachliteratur zur Aqua Augusta das hydraulische und damit physikalische Wissen der alten Römerinnen und Römer. XIV. Diskursfeld der Agrikultur Harris (re-)konstruiert durch wirtschaftsgeschichtliches und landwirtschaftliches Basiswissen die geopolitischen Gegebenheiten in Pompeji. XV. Diskursfeld der Geografie Harris (re-)konstruiert durch Kartographie, Vulkanologie und dabei etwa das Wissen um Gesteinspannungen und erdgeschichtliche Gegebenheiten im Mittelmeer die longue durée von Kampanien. Die beiden äußeren Diskursfelder – also das mythologische und das geografische Diskursfeld – bilden eine kosmologische und historische Rahmung zwischen Himmel und Erde, die auch auf das Thema der KybernEthik bezogen werden kann. Denn was Heinz von Förster von jenen Philosophen,

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Epistemologen und Theoretikern sagen konnte, die heute als Kybernetiker bezeichnet werden, gilt – und darin bestätigt sich eine der hier vorgetragenen Arbeitshypothesen – auch für die Akteurinnen/Akteure bzw. personalen Medien in einem derartig im 21. Jahrhundert simulierten Pompeji, das noch den rezeptionsästhetisch und d.h. immer auch hermeneutisch konzipierten Leser mitreißt. Denn, so Heinz von Förster: […] immer stärker sahen sie (also die Kybernetiker, A. B.) sich in eine größer werdende Zirkularität eingeschlossen, in der Zirkularität ihrer Familie, der ihrer Gesellschaft und Kultur oder sogar in eine Zirkularität kosmischen Ausmaßes.24

In dieser Zirkularität der verschiedenen Erzählebenen entspricht Pompeji aber auch geschichtswissenschaftlichen Modellbildungen des 20. Jahrhunderts und d.h. den Modellen der Mentalitätsgeschichte oder der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die neben Ökonomie und Soziologie ihre epistemische Voraussetzung im Rekurs auf Wissensformen wie Geografie, Archäologie oder Geologie finden und sich so z.B. mit den Archiven der Bodenkultur verschalten. Es sei hier nur nebenher vermerkt, dass diese Konstellation des Wissens sich ihrerseits nicht unabhängig von an Marx orientierten Basis-Überbaumodellen einschreiben kann, nach denen Denkund Wissensfelder von externen Determinanten durchzogen werden. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass die mit dem Titel eröffnete geografische Episteme sich nicht nur im knallroten Einband fortsetzt – der die Spitze des Vesuv und seine Explosion auf den ersten Blick fast unsichtbar am Buchrücken platziert –, sondern auch in der kartografischen Inszenierung der Bucht von Neapel, welche die Innenseiten des Einbands ziert. So ähnlich wie in Fernand Braudels La mediterrané25 lagert sich mithin ein erdiger und durch verschiedene Wissensformen stabilisierter Bodenraum ab, der die narrative und d.h. zeichenhafte Voraussetzung bzw. Möglichkeits- oder Produktionsbedingung einer ontologisierten Natur bildet, die – poetologisch

24 Foerster 1993, S. 63. 25 Zur zirkulären Kausalität der Braudelschen Zeitschichten siehe freilich auch deren erstmalige Ausformulierung im Vorwort der drei Bände dieses Klassikers: Braudel 1994, S. 15-23. Vgl. dazu auch die zirkuläre Verbindung zwischen den verschiedenen Ebenen der historischen Dauer in Braudel 1972, S. 189-215.

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und narratologisch gesehen – erst dann zur Rahmenbedingung der Aktivitäten von Gesellschaft, Kultur und Zivilisation werden kann. Alles in allem stünde zumindest auf epistemologischem Niveau nichts der Möglichkeit entgegen, das in Harris’ Pompeji gespeicherte Wissen z.B. im Weimarer Archiv für Mediengeschichte zu publizieren, das sich im selben Erscheinungsjahr ebenfalls mit „Medien der Antike“26 beschäftigte, um dabei jedem Beitrag ein Motto des Wirtschaftshistorikers H. A. Innis zuzuordnen. Genauso leiten in Pompeji gegenwartsbezogene Auszüge aus vulkanologischen Fachzeitschriften die einzelnen Kapitel als Motti ein. Am Ende werden darüber hinaus eine ganze Reihe von Monografien zitiert, deren Autoren das Paradigma „Medien der Antike“ verlängern: So findet sich in der Danksagung von Pompeji beispielsweise ein locker zusammengestelltes Wissensarchiv, das Titel wie Pliny and the Elder Science of Technology, The Economy and Science of Pompeij oder The Roman Imperial Navy vereint.27 Und so markieren die im Rahmen dieser Danksagung erwähnten Werke in etwa jenen sozialen, kulturellen und medialen Raum, der anhand der feldspezifischen Diskursanalyse des vorliegenden Artikels erstellt wurde.

Abb. 4: Der Umschlag von Pompeji, der das Ereignis des Vesuvausbruchs darstellt.

Dies gilt mutatis mutandis auch für die innere Struktur von Plinius Naturalis historia, deren erster Band von der Astronomie, der Kosmologie und der

26 Vgl. Engell/Siegert/Vogl 2003. 27 Vgl. Harris 2003, S. 377-378.

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Kosmogonie handelt, um sich über Geographie, Anthropologie, Zoologie, Botanik und Medizin zur Metallurgie vorzuarbeiten.28 Ausgehend von einem entschlossen rationalen und d. i. erkenntniskritischen Standpunkt lässt sich so der Nachweis führen, dass fiktive Geschichten und akademische Fachliteraturen auch in der Gegenwart auf einem gemeinsamen Wissenssockel aufruhen, der in seiner Allgemeinheit die Notwendigkeit distanziert, Wissenschaft und Fiktion dogmatisch oder skeptizistisch, rationalistisch oder empiristisch zu trennen. Eine Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaft, welche die Frage nach der Wissenschaftlichkeit ihrer Vollzüge zum Ausgangs- und Endpunkt jeder Analyse macht, könnte so ihre eigene Relationalität (Mannheim) betonen und dennoch zwei Grundoperationen jeder rationalen Forschung im Sinne der (logischen) Verifizierbarkeit von Aussagen bzw. Aussagegebäuden folgen: dem Differenzieren und Integrieren, dem Analysieren des Besonderen bzw. Synthetisieren des Allgemeinen und damit – im Sinne einer Marxschen Philosophie der Praxis und einer LéviStrausschen bricolage – auch dem Auseinanderlegen und Zusammenbauen. Science und Fiction könnten so in einer Zone der „Ununterscheidbarkeit“29 von Realem und Imaginärem, einem oszillierenden Erkenntnisfeld aus praxeologisch und soziolinguistisch modellierten Wissenskräften angesiedelt werden, das sich einer fundamentalen oder ontologischen Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Fiktion widersetzt. Das synthetische Prinzip einer solchen Perspektive läge mithin darin, in den symbolischmaterialen Formen der Wissenschaft ästhetische und fiktionale Zeichenund d.h. Informationswerte im Sinne einer „Soziologie der symbolischen Formen“30 begreifen zu lernen sowie umgekehrt in den symbolischmaterialen Formen der Fiktion wissenschaftliche und reale Elemente auszumachen. Im Pendeln zwischen diesen beiden Polen ließe sich dann eine manifeste und d. i. buchstäblich signifikante Ebene empirischer Mannigfaltigkeit oder – anders formuliert – eine Häufung sinnlicher „Data“31 (Kant)

28 Vgl. Plinius der Ältere 2005. 29 Deleuze 1997, S. 350. 30 Vgl. Cassirer 1994; Bourdieu 1991. 31 Vgl. die Verwendung des Datenbegriffs in der transzendentalen Analytik der Kritik der reinen Vernunft, in deren Rahmen Kant betont, dass die Kategorien allein nicht zur Erkenntnis der Dinge zureichen und ohne die „Data der Sinn-

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ausmachen, die als Wissensformen zu bearbeiten bleiben, um die möglichst genaue Angabe der kategorialen und d h. auch medialen Möglichkeits- und d. h immer auch Produktionsbedingungen von Erfahrung im Sinne einer kommenden (Historischen) Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaft allererst anzuvisieren. Überzogenen rationalistischen und damit epistemologisch unkritischen und dogmatischen Wahrheits- und Absolutheitsansprüchen der Wissenschaft würde sich eine solche Vorgehensweise ebenso entgegensetzen wie subversiven literarischen Ausschweifungen im strömenden Begehren dekompositorischer und postmoderner Ästhetiken. Insofern handelt es sich hier im Rekurs auf Immanuel Kant, Karl Marx, George Canguilhem, Louis Althusser, Michel Foucault und Pierre Bourdieu um einen entschlossen rationalen und d.h. in diesem Fall auch aufgeklärt feldanalytischen Standpunkt, der in affirmativer Abzweckung um den gebrochenen und erkenntniskritischen Charakter des eigenen Wissens zumindest weiß, oder eben punktuell weiß, dass er nicht weiß. Im Folgenden und letzten Abschnitt soll nun noch das methodologische und theoretische Konzept einer (Historischen) Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaft anhand des Romans Pompeji erprobt werden, um dann mit einer Conclusio zum Ende zu kommen.

V. S OZIAL -,

KULTUR - UND MEDIENWISSENSCHAFTLICHE

ANALYSE

Parallel zur bereits erstellten Feldanalyse ist die Geschichtung Pompeji auch einer Herangehensweise zugänglich, die sie in fünf Schritten sozial-, kultur- und medienwissenschaftlich überprüft und dabei die Feldanalyse teilweise kreuzt.32 Dabei können fünf Fragen an den Text herangetragen werden:

lichkeit“ bloß subjektive Formen der Verstandeseinheit wären, in Kant 1998, S. 304. 32 Die theoretische Entwicklung dieser Fragestellung erfolgte im Rahmen der Forschungen zum Schwerpunktheft Historische Medienwissenschaft der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG). Vgl. das Editorial von Barberi/Pircher 2003. Der Versuch einer Einteilung verschiedener Medien in Sprachmedien, Schriftmedien, Bildmedien, Technische Medien, Massenmedien,

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• • • • •

Welche Diskurse und Wissensformen spielen in Pompeji eine Rolle? Welche Operationen und Technologien spielen in Pompeji eine Rolle? Welche Institutionen und Archive spielen in Pompeji eine Rolle? Welche Instrumente und Apparaturen spielen in Pompeji eine Rolle? Welche Akteurinnen/Akteure bzw. Agentinnen/Agenten bzw. personale/humane Medien bilden den sozialen Raum von Pompeji?33

Diese Fragen können knapp folgendermaßen beantwortet werden: I. Diskurse – Wissensformen Im Rahmen von Pompeji spielen in unterschiedlichen Feldern verschiedene Diskurse und Wissensformen eine (maßgebliche) Rolle: So z.B. Senecas naturwissenschaftliche Untersuchungen (mithin die Stoa), die Schriften von Vergil und Quintilian, Sophokles Stücke, die Naturalis historia von Plinius dem Älteren, die Epistolae von Plinius dem Jüngeren, Strabons Geographika, Vitruvs Bücher über Architektur und die von Harris aufgenommen Abhandlungen zur Vulkanologie. II. Operationen – Technologien Im Rahmen von Pompeji spielen in unterschiedlichen Feldern verschiedene Operationen und Technologien eine (maßgebliche) Rolle: So z.B. die Sozialtechnologien des Zählens, Navigierens und Zeitmessens, das topologische Markieren von Stellen, das Tauschen und Handeln oder auch Praktiken wie Anmischen von Zement, Zertrümmern von Geröll oder Einbetten von Fundamentschichten. Als Technologien werden vor allem die Rohrleitungen und Bögen des römischen Wassersystems beschrieben. III. Instrumente – Apparaturen Im Rahmen von Pompeji spielen in unterschiedlichen Feldern verschiedene Instrumente und Apparaturen (oder auch Gegenstände und Dinge) eine (maßgebliche) Rolle: So z.B. Bronzehacken, Holzschaufeln oder

Institutionelle Medien erfolgte – auch nach eingehenden Diskussionen mit Reinhard Sieder – ebenda und wurde danach noch um personale Medien erweitert in Barberi 2005, S. 61. 33 Den Begriff „humane Medien“ verdanke ich Diskussionen mit Tobias Nanz, dem hiermit herzlich gedankt sei.

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Kreiden, Belagerungsmaschinen, Rohrleitungen, ein Glockenspiel, Hacken oder Eisenräder, Fähren, Triremen oder Galeeren, BronzeKandelaber, Öllampen, Stempel oder Fackeln, aber auch Papyrusrollen, Zahlenkolonnen oder Weingläser. IV. Institutionen und Archive Im Rahmen von Pompeji spielen in unterschiedlichen Feldern verschiedene Institutionen und Archive eine (maßgebliche) Rolle: So z.B. die (öffentliche) Bibliothek von Pompeji und die (private) des Plinius, in denen u.a. Papyri und Wachstäfelchen als Informationsträger gespeichert werden. Darüber hinaus können Kneipen, Bordelle, Häfen oder Werften ebenfalls als Institutionen begriffen werden und verwendete Quellen als Archive (so werden etwa Rechnungen, Quittungen oder juristische Gutachten genannt). V. Akteurinnen/Akteure und personale Medien. Ein sozialer Raum Im Rahmen von Pompeji spielen in unterschiedlichen Feldern verschiedene Akteurinnen/Akteure und d.i. personale Medien eine (maßgebliche) Rolle, weil sie die anderen Felder bzw. Diskurse, Operationen, Instrumente und Institutionen im sozialen Raum gleichsam habituell verbinden auch wenn dieser soziale Raum fiktiv ist. Die wichtigsten Dramatis personae sind: Marcus Attilius – Baumeister, Ingenieur und Beamter Ampliatus – Millionär, Kapitalist, Bäderbesitzer Corelia – Tochter von Ampliatus und Geliebte des Attilius Plinius – Gelehrter und Oberbefehlshaber der Truppen Polites – Treuer Mann von Attilius’ Truppe, Sklave Smyrnia – Prostituierte Tiro – Wassersklave Brebix – ehemaliger Gladiator Sibylle – orakelndes Medium

VI. C ONCLUSIO Dieser Artikel versucht zu zeigen, dass auf der Ebene des Wissens kein grundlegender Unterschied zwischen einem Ereignis der Fiktion und einem

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Ereignis der Wissenschaft verzeichnet werden muss, wenngleich die Unterscheidung zwischen verifizierbarer wissenschaftlicher Darstellung und reiner Fiktion unangetastet bleibt. Fiktionen können – wie Pompeji als historischer Roman – auf breiter Ebene verifizierbares Wissen enthalten, so wie (geschichts-)wissenschaftliche Abhandlungen immer auch erzählerische und fiktive Komponenten (etwa auf der Ebene der narrativen Strukturierung) aufweisen. So ist es in Bezug auf das Ereignis des Vesuvausbruchs vorderhand gleichgültig, ob man es sich mit Plinius oder mit Robert Harris erarbeitet, wenngleich die Spezifika der jeweiligen Quellengattung (und Literatur ist immer in ihrer Eigendynamik, diskursiven Kraft und Materialität eine historische Quelle) gegeben sind. Dies gilt schon allein deshalb, weil gegenwärtig lebende Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie Historikerinnen und Historiker in ihren Beziehungen und Kontakten die gleiche soziale, kulturelle und mediale „vergangene Zukunft“34 (Koselleck) teilen. Dabei kann die eingehende diskursanalytische Auseinandersetzung mit literarischen Quellen der Gattung des historischen Romans die Sensibilität für die Grenzen von Wissenschaft und Fiktion gerade deshalb schärfen, weil alle Ereignisse – auch jene von der Geschichtswissenschaft verarbeiteten – einer poetologischen und literarischen Konstruktion bzw. Interpretation unterliegen. Robert Harris’ Pompeji eignet sich gerade deshalb für eine solche Analyse, da der Roman nicht nur ein „reales“ historisches Ereignis anvisiert, sondern auf unterschiedlichen Ebenen das Wissen der Geschichtswissenschaft in die Erzählung aufnimmt und variiert, um das Ereignis des Vesuvausbruchs mit einer fiktiven (Liebes-)Geschichte zu konfrontieren. Aber gerade durch die fiktive Aufladung des Plots sind die Leserinnen und Leser immer wieder aufgefordert nach der Grenze von Geschichte und Geschichte(n) zu fragen und werden ihrerseits in die historiografischen Strategien des Robert Harris hineingezogen, um – so wie der Autor dieses Artikels – erneut vor dem Gegensatz von Historiografie und Fiktion zu stehen. Dabei lässt die (wissenschaftliche oder fiktive) Verarbeitung eines (historischen) Ereignisses den narrativen Charakter jeder Geschichtskonstruktion erscheinen und verwickelt uns so in die zirkuläre Frage der Interpretation bzw. Rezeption des Ereignisses. Ein Ereignis, dass in seiner Kontingenz erneut beschrieben werden wird, um erneut interpretiert zu werden.

34 Koselleck 1989.

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L ITERATUR Louis Althusser, Für Marx, Frankfurt/M. 2011. Alessandro Barberi, Clio verwunde(r)t. Hayden White, Carlo Ginzburg und das Sprachproblem der Geschichte, Wien 2000. Alessandro Barberi und Wolfgang Pircher, „Editorial zu ÖZG“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 13, 2003, Heft 3: Historische Medienwissenschaft, S. 5-11. Roland Barthes, „Le discours de l’histoire“, in: ders.: Œuvre complètes. Tome II. 1966–1973, Paris 1995, S. 417-427. Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. I.2., Frankfurt/M. 1991, S. 691-704. Michael Bies und Michael Gamper (Hgg.), Literatur und Nicht-Wissen. Historische Konstellationen 1730–1930, Zürich/Berlin 2012. Hans Erich Bödecker, Begriffsgeschichte. Diskursgeschichte. Metapherngeschichte, Göttingen 2004. Pierre Bourdieu, „Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital“, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183-198. Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1991. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1992. Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien 2005. Fernand Braudel, „Die longue durée“, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Geschichte und Soziologie, Köln 1972, S. 189-215. Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. 3 Bde., Frankfurt/M. 1994. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Darmstadt 1994. Michel de Certeau, Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt/M./New York 1991. Roger Chartier, Au bord de la falaise. L’histoire entre certitudes et inquiétude, Paris 1998. Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt/M. 1992. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt/M. 1977.

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François Jacob, Roman Jakobson, Claude Lévi-Strauss und Philippe L’Heritier, „Leben und Sprechen. Eine Diskussion unter Leitung von Michel Tréguer“, in: Adelbert Reif (Hg.), Antworten der Strukturalisten, Hamburg 1973, S. 45-70. Ernst H. Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, Stuttgart 1980. Ralf Konersmann, Erstarrte Unruhe. Walter Benjamins Begriff der Geschichte, Frankfurt/M. 1991. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft, Frankfurt/M. 1989. Claude Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M. 1981. Matthias Middel, Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten, Leipzig 1994. Nicolas Pethes, „Poetik/Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers“, in: Gabriele Brandstätter und Gerhard Neumann (Hgg.), Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg 2004, S. 341-372. Plinius der Ältere, Naturalis historia, Stuttgart 2005. Jean-Claude Pressac, Die Krematorien von Auschwitz. Die Technik des Massenmordes, München 1994. Jacques Rancière, Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens, Frankfurt/M. 1994. Paul Ricœur, Gedächtnis. Geschichte. Vergessen, München 2004. Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, München 2007. Siegfried J. Schmidt (Hg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/M. 1987. Joan Wallach Scott, „Nach der Geschichte?“, in: WerkstattGeschichte 17, 1997, S. 5-22. John R. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Frankfurt/M. 2011. Reinhard Sieder, „Erzählungen analysieren. Analysen erzählen“, in: Karl R. Wernhart und Werner Zips (Hgg.), Ethnohistorie. Rekonstruktion und Kulturkritik. Eine Einführung, Wien 1998, S. 145-175. Jean Starobinski, Aktion und Reaktion. Leben und Abenteuer eines Begriffspaares, Frankfurt/M. 2003. Rolf Tiedemann, Dialektik im Stillstand. Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins, Frankfurt/M. 1983. Joseph Vogl (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999.

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Hayden White, Meta-History. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt/M. 1994. Andreas Martin Widmann, Kontrafaktische Geschichtsdarstellung. Untersuchungen an Romanen von Günter Grass, Thomas Pynchon, Thomas Brussig, Michael Kleeberg, Philip Roth und Christoph Ransmayr, Heidelberg 2009 (= Studien zur historischen Poetik 4). Oswald Wiener, Die Verbesserung Mitteleuropas, Reinbeck bei Hamburg 1969.

ABBILDUNGEN Abb. 1: Harris 1992, o. S. Abb. 2: Harris 1992, o. S. Abb. 3: Harris 2003, o. S. Abb. 4: Harris 2003, Cover.

„And so the Devil said: ‚Ok, it’s a Deal‘“ Das Erdbeben von 2010 und die Dämonisierung der Haitianer und ihrer Geschichte R APHAEL H ÖRMANN

Das Erdbeben in Haiti am 12. Januar 2010, dem wahrscheinlich mehr als hunderttausend Menschen zum Opfer fielen, wurde von vielen westlichen Kommentatoren dazu benutzt, von rassistischen Stereotypen durchsetzte Horrorgeschichten über das Land und seine Geschichte zu erzählen. Das Beben fungierte dabei oft als ein Symbol oder gar als ein Symptom für einen politisch und moralisch gescheiterten Staat, wie es etwa der deutsche Haiti-Experte Hans-Christoph Buch mit dem Titel seines Buches Haiti. Nachruf auf einen gescheiterten Staat (2010) plakativ ausdrückt. Die verheerende Naturkatastrophe, so lautete dann auch häufig die Diagnose der Kommentatoren des Erdbebens, habe als eine Art „Metonymie“ die permanente ,Katastrophe‘ augenscheinlich gemacht, die die Gegenwart und Geschichte Haitis kennzeichne:1 Das Beben sei ein Symptom für die zweihundertjährige „Abwärtsspirale“ Haitis, dessen „Geschichte eine nicht abreißende Kette von Katastrophen“ darstelle seit der Urkatastrophe der Haitianischen Revolution, als „die mit Feuer und Schwert erkämpfte Unabhängigkeit [...] zu früh“ für die dafür noch nicht reifen Ex-Sklaven gekommen sei.2 Auch die britische Journalistin Julia Llewellyn Smith betrachtet die

1

Jenson 2010, S. 102; Übersetzung R.H.

2

Buch 2010, S. 8 bzw. S. 12.

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Geschichte und Gegenwart der „nightmare republic“ als eine fortwährende Katastrophe. Bereits vor dem katastrophalen Ereignis des Bebens sei Haitis Hauptstadt so verwüstet gewesen wie nach einem Erdbeben: „as if razed by an earthquake“.3 Wie ich in diesem Beitrag zeigen werde, wurde das Ereignis des Erdbebens in einem bedeutenden Teil des westlichen Diskurses ideologisch instrumentalisiert, um jahrhundertealte rassistische Narrative heraufzubeschwören, die Haiti, seine Bewohner, seine Revolution und seine Geschichte dämonisieren und ihnen oft sogar die ‚Schuld‘ an dem Beben geben.4 Der westliche Diskurs über das Erdbeben stellt somit einen weiteren eklatanten Fall von Haiti’s Bad Press (1992) dar, wie sie Robert Lawless in seiner Studie zum westlichen Diskurs über Haiti seit dem achtzehnten Jahrhundert nachverfolgt. Er zeigt, dass ein Großteil dieses Diskurses sowohl äußerst negativ als auch von miserablerer Qualität ist; Eigenschaften, die auch auf die westliche Berichterstattung über das Erdbeben zutreffen.

H AITI ALS EIN VERFLUCHTES L AND : S ELBSTEMANZIPATION VON S KLAVEREI K OLONIALISMUS ALS E RBSÜNDE

UND

Unter allen Kommentatoren des Erdbebens erregte der einflussreiche, fundamentalistische amerikanische Fernsehprediger und Medienmogul Pat Robertson am meisten Aufsehen, als er eine ebenso sensationalistische und rassistische wie absurde Erklärung für das Erdbeben lieferte. So behauptete er in seiner Show „700 Club“ auf seinem Kanal CBN (Christian Broadcast Network) am 13. Januar 2010, einen Tag nach dem Erdbeben, dass dies ei-

3

Smith 2010. Wie Wendy Asquith kürzlich in einem Artikel über den zeitgenössischen haitianischen Künstler Mario Benjamin illustriert hat, ist das Katastrophen-Narrativ so wirkmächtig, dass auch haitianische Kunstwerke international automatisch mit Haiti als Katastrophenland in Verbindung gebracht werden. Dies führte zur absurden Situation, dass etwa Benjamins Galerie das von ihr so benannte Gemälde After Shock als eine Reaktion auf das Erdbeben präsentierte, obwohl es bereits vor dem Beben entstanden war. Vgl. Asquith 2013, S. 236ff.

4

Vgl. Dubois 2012, S. 3.

„AND SO THE DEVIL SAID: ‚OK, IT’S A DEAL” | 63

ne Manifestation einer göttlichen Strafe darstelle. Ein göttlicher Fluch verfolge Haiti, seitdem die Sklaven einen Pakt mit dem Teufel eingegangen seien, um sich von französischer Kolonialherrschaft und Sklaverei zu befreien: Kristi, something happened a long time ago in Haiti and the people might not wanna talk about it. They were under the heel of the French. Ah, you know … Napoleon the Third or whatever. And they got together and swore a pact to the devil. They said, „We will serve you if you get us free from the French.“ It’s [a] true story. And so the devil said, „OK, it’s a deal.“ They kicked the French out, you know, the Haitians revolted and got themselves free. But ever since, they have been cursed by one thing after the other, desperately poor.5

In seiner Geschichte vom göttlichen Fluch spielt Robertson auf die Haitianische Revolution an, die er sowohl dämonisiert als auch trivialisiert. Diese zählt zu den „great epics of revolutionary struggle and achievement“ der Weltgeschichte.6 Als einzige erfolgreiche Sklavenrevolution in der Geschichte, die 1794 die Abschaffung der Sklaverei im gesamten französischen Kolonialreich herbeiführte, stellt sie ein Weltereignis von herausragendem Rang dar. Trotzdem ist sie von der westlichen Historiographie lange Zeit stiefmütterlich behandelt wurden. Dies erklärt sich zum einen durch rassistische Auffassungen von der kulturellen Überlegenheit des Westens und zum anderen durch ihre Radikalität. Anders als die Amerikanische und die Französische Revolution, die die Menschenrechte auf den weißen männlichen Bürger zu beschränken suchten, stellten die schwarzen haitianischen Revolutionäre den eingeschränkten Charakter der liberalen Bürgerrechte grundlegend in Frage. In einem entscheidend modernen, zukunftsweisenden Schritt beanspruchten die Sklaven einen universalistischeren

5

Robertson 2010. Ich danke Franziska Feist und Nicole Zabylski dafür, dass sie mich in einem Referat im Januar 2010 im Rahmen meines Seminars „Cultural Representations of Caribbean Slave Revolts“ (Universität Rostock, WS 2009/10) auf Robertsons Kommentare hinwiesen.

6

James 2001, S. xviii.

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Begriff der Befreiung und der Menschenrechte jenseits von Klassen- und Rassengrenzen (wenn auch nicht von Gendergrenzen) für sich.7 Ihr Erringen der Freiheit auf revolutionärerem Wege forderte selbst Gegner der Sklaverei heraus. Denn dieser Akt der Selbstemanzipation stand dem propagandistischen Mythos entgegen, dass es der philanthropischen Bemühungen der Gegner der Sklaverei bedürfe, um die Sklaven von ihrem Joch zu erlösen. Wie Marcus Wood zeigt, konstruiert dieses „horrible gift of freedom“ die Sklaven als passive und denkbare Empfänger weißer Wohltaten und nivelliert ihren Widerstand.8 Diesem Szenario einer allmählichen Emanzipation von oben – durch die Kolonialherren – setzten die haitianischen Sklaven durch ihre revolutionären Taten das politische Faktum einer sofortigen Befreiung von unten entgegen. Die erfolgreiche Sklavenrevolution hatte Auswirkungen auf den gesamten atlantischen Raum. Sie versetzte die Plantagenwirtschaften in der atlantischen Welt in Angst und Schrecken, die einen ähnlich erfolgreichen Aufstand auf ihren Territorien fürchteten.9 Neben der Freiheit erkämpften die Ex-Sklaven in der vor der Revolution profitabelsten Kolonie in der Karibik, Saint-Domingue, auch die Unabhängigkeit von Frankreich: 1804 wurde mit Haiti einer der ersten postkolonialen Staaten gegründet, in dem nicht die europäische koloniale Elite, wie in den USA, die Macht übernahmen, sondern die afrikanischstämmigen Ex-Sklaven. Als erste wahre „révolution anti-colonialiste“, in der die schwarzen Massen in langwierigen blutigen Kämpfen die damals mächtigsten europäischen Kolonialmächte Frankreich und England besiegten, erwies sie sich nicht nur als Fanal für die koloniale Ordnung.10 Sie stellte auch tief verwurzelte Vorstellungen von der rassischen und kulturellen Überlegenheit der Europäer in Frage, wie es der Sklavereiforscher David Brion Davis pointiert ausdrückt: „The blacks turned the white cosmos upside down“.11 Diese gewaltige Herausforderung für das weiße Weltbild und dessen immer noch wirkmächtige Ideologie einer kulturellen Überlegenheit ist

7

Siehe Nesbitt 2008. Zu den Genderschranken siehe Singham 1994 und Dubois

8

Siehe Wood 2010.

9

Vgl. zur dieser ,grand peur‘ etwa Zeuske/Munford 1991.

2010.

10 Césaire 1981, S. 25. 11 Davis 2006, S. 168.

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auch den reduktionistischen und geschichtsverfälschenden Ausführungen Robertsons anzusehen. Er versucht das Erdbeben zu benutzen, um Haiti, dessen Geschichte und dessen radikale Revolution zu dämonisieren. In seinem manichäischen Weltbild stehen die rebellischen Sklaven auf der Seite Satans. Indem er die aufständischen Sklaven eines Teufelspakts beschuldigt, spielt er ihre revolutionären Leistungen weiter herunter. Ohne die diabolische Schützenhilfe wären die afrikanisch-stämmigen Sklaven nie in der Lage gewesen, ihre zivilisatorisch überlegenen europäischen Kolonialherren zu besiegen und sich von der Herrschaft Napoleons I. zu befreien (den er mit „Napoleon III, or whatever“ verwechselt), so suggeriert Robertson in seiner teuflischen Verschwörungstheorie. Mit dieser Unterstellung, dass die schwarzen Sklaven ohne die massive Unterstützung externer Kräfte unfähig zur Revolution gewesen seien, reiht er sich in eine lange Tradition von europäischen Erzählungen über die Haitianische Revolution ein, die von der Gegenwart bis zu ihren Zeitgenossen zurückreicht. So identifiziert etwa der erste britische Historiker der noch unvollendeten Revolution, der britischjamaikanische Sklavenhalter und Politiker Bryan Edwards, im Jahr 1797 die „abscheulichen Machenschaften“ („vile machinations“) der französischen Gegner des Sklavenhandels und der Sklaverei als den Auslöser der Revolution – und ruft damit damals weitverbreitete Verschwörungstheorien auf.12 Auch hält sich bis heute hartnäckig die Legende, dass die Sklavenrevolte sich aus einer aus dem Ruder gelaufenen royalistischen Verschwörung entwickelt habe; eine Erzählung, die etwa Madison Smartt Bell in seinem historischen Roman All Souls’ Rising (1995) reproduziert und damit die revolutionäre Leistung der Sklaven schmälert. Diese ‚Trivialisierung‘ der Sklavenrevolution führt der haitianischstämmige Anthropologe Michel-Rolph Trouillot als einen Beleg für seine einflussreiche These an, dass die Sklavenrevolution in Haiti vor ihrem Eintreten undenkbar gewesen sei.13 Sogar als sie tatsächlich stattfand, sei sie ein undenkbares Ereignis für die westlichen Zeitgenossen geblieben.14 Auf Pierre Bourdieus Vorstellung des impensable verweisend, behauptet er,

12 Edwards 1797, S. xx-xi. Zur weiten Verbreitung von Verschwörungstheorien im zeitgenössischen Diskurs über die Haitianische Revolution siehe Trouillot 1995, S. 91-92. 13 Vgl. Trouillot 1995, S. 96. 14 Vgl. ebd., S. 73.

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dass die Vorstellung einer Sklavenrevolution mit politischen und ontologischen Annahmen, Konzeptionen und Kategorien der Zeitgenossen unvereinbar und sie daher in ihrem Denksystem nicht vorstellbar gewesen sei.15 Man könnte somit die Haitianische Revolution im Sinne Jean Baudrillards als ein emphatisches Ereignis betrachten, das nicht nur unvorhersehbar, sondern sogar unvorstellbar gewesen sei, das die „Vorstellungskraft“ übersteigt und das „Unvorhersehbare“ und „Außergewöhnliche“ verkörpert.16 Diese Sichtweise hält jedoch einer Überprüfung der historischen Quellen nicht stand. Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, war die Vorstellung eines erfolgreichen Sklavenaufstands ein Schreckgespenst, das die karibischen Sklavengesellschaften stetig verfolgte und dem sie mit einer Mischung aus Terror, Bestrafung, Überwachung, aber auch Verdrängung zu begegnen suchten.17 Die Haitianische Revolution stellt somit aus der Sichtweise der Kolonisten und Sklavenhalter kein undenkbares Ereignis dar, sondern vielmehr eines, das nicht hätte stattfinden dürfen, ein katastrophales Ereignis für die koloniale Plantagengesellschaft. Der revolutionäre Akt der Sklaven, die Selbstbefreiung und Zerstörung der kolonialen Ordnung, ist ein unerhörtes und ungeheuerliches Ereignis, ein Fanal, das die Grenzen der bestehenden Weltordnung angreift und deren Ideologie in Frage stellt.18 Im westlichen hegemonialen Diskurs über Haiti fungiert dieses unerhörte Ereignis seither als eine unverzeihliche Tat, eine Art Todsünde der Haitianer. Dieses Narrativ, das die Selbstbefreiung von Sklaverei und Kolonialismus als Sünde ausweist, lässt sich auch bei Robertson beobachten. Trotz seiner Trivialisierung der Revolution geht es ihm um mehr, als den Vorfahren der heutigen Haitianer ihr revolutionäres Potential abzusprechen und sie als willige Werkzeuge des Teufels darzustellen. Trotz seiner Verschwörungstheorie gesteht er – ob bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt – den Sklaven eine gewisse revolutionäre Eigenleistung zu. Diese Widersprüchlichkeit spiegelt sich in der verräterischen Formulierung wider, mit der er die gesamte Revolution zusammenfasst: „They kicked the French

15 Vgl. ebd., S. 82. 16 Baudrillard 2007, S. 8. 17 Vgl. Hörmann 2010. 18 Anja Bandau benutzt den Begriff „unerhörtes Ereignis“ als eine Alternative zu Trouillots undenkbarem Ereignis. Siehe Bandau 2008.

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out, you know, the Haitians revolted and got themselves free“. Zumindest grammatikalisch sind die Haitianer die aktiven Subjekte ihrer revolutionären Aktionen. Und wie das Reflexivpronomen „themselves“ weiter andeutet, scheint es sich auch für Robertson um einen Akt der Selbstbefreiung zu handeln. Diese Selbstbefreiung der schwarzen Sklaven von ihren weißen Herren scheint für ihn per se eine diabolische Tat darzustellen, eine Rebellion gegen die göttliche wie weltliche Ordnung. Sie wird sowohl als eine religiöse als auch als eine politische Sünde betrachtet. Diese Interpretation der Haitianischen Revolution als eine Sünde ist nicht auf Robinson und den evangelikalen Diskurs beschränkt. Wie der daraufhin entlassene Gesandte der Organization of American States, Ricardo Seitenfuss, in einem Interview mit der schweizerischen Zeitschrift Le Temps im Dezember 2010 behauptete, war und ist die Selbstbefreiung Haitis in den Augen der westlichen, kolonialen und neo-kolonialen Welt eine „Erbsünde“: Seit zweihundert Jahren wechselt sich die Präsenz ausländischer Truppen mit der von Diktatoren ab. Es ist die Gewalt, die die internationalen Beziehungen mit Haiti bestimmt, und niemals der Dialog. Die Erbsünde Haitis auf der Weltbühne ist seine Befreiung. Die Haitianer begingen etwas, das im Jahr 1804 inakzeptabel war: ein Majestätsverbrechen in den Augen einer besorgten Welt. Der Westen war noch eine Welt, die von Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus gekennzeichnet war und deren Reichtum auf der Ausbeutung der eroberten Länder fußte. Deshalb hat das haitianische revolutionäre Modell die Großmächte in Angst versetzt.19

Nicht nur in der kolonialistischen Welt war die Selbstbefreiung der Sklaven ein ‚Verbrechen‘: „The inescapable truth is that ‚the world‘ never forgave Haiti for its revolution, because the slaves freed themselves.“20 Wie Seitenfuss ausführt, gilt es, diese Erbsünde der Haitianer durch andauernde, rücksichtslose Interventionen der westlichen Staaten in Haiti zu sühnen und dadurch dem politischen Freiheits- und wirtschaftlichen Autonomiestreben seiner Bewohner Einhalt zu gebieten. Auf der Ebene des Diskurses, so möchte ich behaupten, finden diese militärischen, ökonomischen und politi-

19 Seitenfuss 2010; Übersetzung R.H. 20 Mintz 2010; Hervorhebung im Original.

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schen Interventionen ihre Entsprechung in der Dämonisierung von Haiti, seiner Kultur, Geschichte und nicht zuletzt seiner Revolution. Das Narrativ der Revolution als die ursprüngliche geschichtliche Sünde Haitis, die Selbstbefreiung von Sklaverei und Kolonialismus, stellt die Urszene für die Geschichte Haitis dar, mit der fast alle folgenden Ereignisse verknüpft werden. Dieses Narrativ der ‚Urkatastrophe‘ Haitis wird bei allen weiteren geschichtlichen Ereignissen und Katastrophen reaktiviert und von neuem politisch instrumentalisiert und aktualisiert, selbst wenn zwischen der Revolution und dem späteren katastrophalen Ereignis kein ursächlicher Zusammenhang besteht. Auch Robertsons Erzählung von der Ursache des Erdbebens folgt diesem Prinzip. In seiner Sichtweise stellt der geschichtliche Akt der Selbstbefreiung eine Erbsünde dar. Wie der evangelikale Theologe Donald G. Bloesch ausführt, ist es eine „historical inevitability“, dass sich die Sünde der Vorfahren auf die folgenden Generationen fortpflanzt.21 So sei es zu erklären, dass die göttliche Bestrafung bis heute andauere und sich in Haitis extremer Armut niederschlage. Das Erdbeben scheint dabei nur die vorläufig letzte Manifestation dieses Fluches in einer Kette von katastrophalen Ereignissen zu sein. Gelöst könne der Fluch, diese gleichzeitig religiöse und geschichtliche Erbsünde, nur dadurch werden, dass die westlichen Christen für die Haitianer beten und diese „eine große Hinwendung zu Gott“ vollziehen würden.22 Das bedeutet auch, dass die Haitianer angehalten werden, sich von der afrokreolischen Religion Vodoun abzuwenden, die aus der evangelikalen Perspektive als ein diabolischer Kult gilt.23 Diesem Ziel dient auch, dass Robinson mit seinen Äußerungen zum Beben konkret um Spendengelder für seine wegen ihrer aggressiven Missionierungspolitik in Haiti umstrittene humanitäre Hilfsorganisation „Operation Blessing“ zu werben versucht (wie die eingeblendete Spendennummer belegt), um ihre Aktivitäten verstärken zu können, bei denen „anti-Vodou sentiment“ ein essentieller Teil

21 Zit. n. Parker 1989, S. 64. 22 Robertson 2010; Übersetzung R.H. 23 Siehe Desmangles/McAlister 2010, S. 71-72, Germain 2011 und Richman 2012. Im Folgenden werde ich den Begriff „Vodoun“ benutzen, um auf die Religion zu verweisen, während ich mit dem Begriff „Voodoo“ auf die verzerrenden Darstellungen im westlichen Diskurs Bezug nehme.

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der humanitären Arbeit darstellt.24 Auch aus diesem Grunde ist das Beben für ihn ein „blessing in disguise“.25 Vodoun stellt jedoch nicht nur eines der Haupthindernisse für die evangelikale Missionierungsarbeit in Haiti dar, sondern es ist – wie zahlreiche Forschungen belegen – auch ursächlich mit dem Widerstand gegen das Kolonialsystem, Sklaverei und der Haitianischen Revolution verbunden.26 Wie ich im Folgenden zeigen werde, zielt die ideologische Strategie Robertsons darauf ab, jene legendäre VodounZeremonie zu dämonisieren, von der aus – der Überlieferung zufolge – die Haitianische Revolution ihren Ausgang nahm.

D IE V ODOUN -Z EREMONIE VON B OIS -C AÏMAN : D ÄMONISIERUNGEN DER U RSZENE DER H AITIANISCHEN R EVOLUTION Mit seiner Anekdote vom Teufelspakt spielt Robertson auf ein konkretes ‚historisches‘ Ereignis an, das als Gründungsmythos Haitis in die Geschichtsschreibung eingegangen ist: die Vodoun-Zeremonie von BoisCaïman, auf der – der traditionellen Historiographie der Haitianischen Revolution zufolge – der Sklavenaufstand von 1791 beschlossen und mit einem Blutpakt besiegelt wurde. Dies war auch die Erklärung, die der Sprecher von Robertsons CBN Kanal, Chris Roslan, am folgenden Tag abgab, nachdem Robertsons Kommentare kontroverse Reaktionen ausgelöst hatten. Auf der Website der Fernsehstation schrieb Roslan, dass Robertsons Bemerkungen auf die breit diskutierte Sklavenrebellion anspielten, „led by Boukman Dutty at Bois Caiman [sic], where the slaves allegedly made a famous pact with the devil in exchange for victory over the French.“ Das Studium der „history“ und des jetzigen „horrible state of the country“, so Roslan weiter, habe „countless scholars and religious figures“ über die Jahrhunderte überzeugt, dass das Land durch diesen Pakt verflucht sei.27

24 Germain 2011, S. 257. 25 Robertson 2010. Vgl. Germain 2011 zum Zusammenhang von humanitärer Hilfe und Missionierung. 26 Siehe z.B. Dayan 1995, Geggus 2002, S. 69-80, und Laguerre 1989, S. 56-70. 27 Roslan 2010.

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Die angebliche desaströse Geschichte Haitis dient hier als Beweis für die Authentizität des angeblichen Teufelspaktes und lässt diesen von einem apokryphen zu einem ,historischen‘ Ereignis werden. Diese Argumentation des Teufelpaktes wurde nicht von Robertson erfunden, sondern sie kann auf eine lange Tradition im evangelikalen Diskurs über Haiti zurückblicken.28 Eine direkte Parallele findet sich in dem 2004 erschienenen Artikel „Government of the Devil, by the Devil, and for the Devil“ von Tom Barrett, in dem die politische Dimension dieses Narrativs sehr viel deutlicher als bei Robertson zu Tage tritt. Der Titel spielt auf Abraham Lincolns berühmte „Gettysburg Address“ an, in der dieser nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg eine politische, soziale und spirituelle Wiedergeburt der amerikanischen Nation beschwor: „that this nation, under God, shall have a new birth of freedom – and that government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth.“29 Barrett sieht die Chance einer ähnlichen Wiedergeburt für Haiti nach dem Sturz des heftig umstrittenen populistischen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide. Dieses Ereignis fand 2004 statt, genau 200 Jahre nach dem Ende der Haitianischen Revolution. Aristide versuchte unter anderem gegen die Kontrolle und Machtausübung der USA, Europas und der Weltbank auf Haiti anzugehen und es damit aus seiner neo-kolonialen Abhängigkeit zu befreien, in der es seit der Haitianischen Revolution verstrickt ist.30 Barrett dämonisiert den Befreiungstheologen Aristide als eine teuflische Gestalt: einen „Marxist maniac“, der sich nicht nur des Kommunismus bedient habe, um an die Macht zu kommen, sondern auch des Voodoos.31 Die Erhebung von Vodoun zu einer offiziellen Religion Haitis durch Aristide im Jahr 2003, den Barrett schlicht als „evil man“ bezeichnet, und die an-

28 Siehe Desmangles/McAlister 2010, S. 72. Zum Narrativ von Haiti als verfluchtem Land im evangelikalen Diskurs und zu seiner politischen Dimension vgl. Sanders 2010. 29 Lincoln 1863. 30 Zwei konträre Positionen zur Bewertung Aristides finden sich bei Hallward 2012 und Depuy 2006. Für eine Darstellung der polarisierten Positionen zu Aristide in der westlichen Presse und Politik siehe Farmer 2006, S. 385-390. 31 Barrett 2004. Zur Haiti-Befreiungstheologie und der ihr gegenüber feindlichen US-Position siehe Farmer 2006, S. 380-381, und Hallward 2012, S. 20. Zu Aristides als Befreiungstheologe siehe auch Lowy 1996, S. 125-128.

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gebliche Kinderopfer im Voodoo beweisen für ihn hinlänglich „the horribly evil nature of this ,religion‘“. Das alte Schreckgespenst von Haiti als Spiegelbild eines barbarischen Afrikas wiederbelebend, unterstellt er Aristide zudem, dass er „400 Voodoo priests from West Africa, the birthplace of the evil religion“ eingeflogen habe, um die Ausbreitung von Voodoo auf Haiti weiter zu fördern.32 Die Urszene, die Aristides diabolische Herrschaft erst ermöglichte, liegt für Barrett bereits in der Haitianischen Revolution angelegt und hier im speziellen in der Zeremonie von Bois-Caïman. Bei dieser sei jener Teufelspakt geschlossen worden, der eine 200-jährige „dämonische Tyrannei“ auf Haiti etabliert habe, die erst 2004 mit dem Fall Aristides beendet wurde: It is a matter of well-documented historical fact that the nation of Haiti was dedicated to Satan 200 years ago. On August 14, 1791, a group of houngans (voodoo priests), led by a former slave houngan named Boukman, made a pact with the Devil at a place called Bois-Caïman. All present vowed to exterminate all of the white Frenchmen on the island. They sacrificed a black pig in a voodoo ritual at which hundreds of slaves drank the pig’s blood. In this ritual, Boukman asked Satan for his help in liberating Haiti from the French. In exchange, the voodoo priests offered to give the country to Satan for 200 years and swore to serve him. On January 1, 1804, the nation of Haiti was born and thus began a new demonic tyranny.33

Was Barrat als den Ursprung einer satanischen, tyrannischen Unterdrückung dämonisiert, ist gemeinhin als die mythische Urszene der Befreiung von Sklaverei und Kolonialherrschaft in die Geschichte eingegangen. Als Gründungsmythos stellt sie sozusagen das haitianische Äquivalent zum schweizerischen Rütlischwur dar. Während jener Zeremonie, die in keiner Darstellung der Haitianischen Revolution fehlen darf, wurde der Legende nach der Sklavenaufstand von 1791 beschlossen, der den Auftakt zur Haitianischen Revolution bildete. Eine Version dieser Vodoun-Zeremonie, die im Reisebericht des haitianischen Politikers Hérard Dumesle Voyages dans le nord d’Hayti (1824) erschien, schildert auch ein Gebet der Verschwörer, in der die christliche Religion „der Weißen“ als ein Instrument der „Ver-

32 Zur Genealogie des Topos von Haiti als Afrika in der Karibik vgl. auch Lawless 1992, S. 29-38. 33 Barrett 2004.

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brechen“ und der Unterdrückung verworfen wird. Stattdessen werden die Sklaven aufgefordert, sich ihrem Gott der „Rache“ und der „Freiheit“ zuzuwenden; ein Szenario, das die Dämonisierung dieser Zeremonie durch die evangelikalen Christen noch weiter beförderte.34 Die Zeremonie ist jedoch im Gegensatz zu Barrats Behauptung alles andere als eine „gut dokumentierte Tatsache“. Aufgrund der äußerst dünnen Quellenlage bleibt es in der Forschung äußerst umstritten, ob es sich bei der Zeremonie um ein tatsächliches oder ein fiktionales Ereignis handelt. Während der Literaturwissenschaftler Leon Hoffman argumentiert, dass dieses Ereignis eine Erfindung sei, versucht der Historiker David Geggus nachzuweisen, dass es eine solche Zeremonie tatsächlich gab.35 Diese Debatte ist in meinen Augen eher müßig. Entscheidend ist nicht, ob das Ereignis stattgefunden hat, sondern welche symbolische Aufladung es erfährt. Wie Laurent Dubois betont, stellt es für die Verteidiger der Haitianischen Revolution ein Symbol für die Leistungen der Sklaven dar, „a symbol not of a specific event whose details we can pin down, but rather of the creative and political epic that both prompted and emerged from the 1791 insurrection“36. Wichtiger als der historische Status von Bois-Caïman ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die erste Erwähnung dieses Ereignisses in einem antirevolutionären Text zu finden ist, dessen Autor eine ähnliche Dämonisierung der aufständischen Sklaven verfolgt wie Robertson und Barrat. Es ist paradox, dass sich der haitianische nationale Gründungsmythos der radikalen Selbst-Emanzipation schlussendlich auf eine rassistische Erzählung stützt, die höchstwahrscheinlich zuerst von einem Feind der Rebellen als antirevolutionäre Propaganda imaginiert wurde.37 Während die

34 Zit. n. Buch 2010, S. 70. Braithwaite sieht in diesem Widerstandsakt gegen die christliche Religion als Machtinstrument eine entscheidende Leistung der Haitianischen Revolution: „God the Father, God the Son, God the White Holy Ghost: power. Haiti said no to all that“ (1971, S. xv). 35 Siehe Hoffmann 1999, S. 159-180, und Geggus 2002, S. 81-92. 36 Dubois 2004. S. 102. 37 Vgl. Hoffmann 1999, S. 159, und Dayan 1995, S. 29. Zur Debatte um den Status von Bois-Caïman vgl. Simidor et. al. 2002. Eine Analyse der vielen Zwischenversionen, derer es bedurfte, um Dalmas Erzählung in den haitianischen Nationalmythos umzuschreiben, findet sich bei Hoffmann 1999, S. 162-175.

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Zeremonie in den unmittelbar zeitgenössischen Dokumenten zum Sklavenaufstand nirgends erwähnt wird, findet sich der früheste Verweis in der 1814 posthum erschienenen Histoire de la révolution de Saint-Domingue des 1793 in die USA emigrierten Kolonisten Antoine Dalmas: Die Einzelheiten dieses Plans [für die Revolte] waren mehrere Tage vorher zwischen den Oberhäuptlingen auf der Le Normand Plantage in der Morne Rouge beschlossen worden. Bevor sie ihn ausführten, feierten sie eine Art Fest oder Opferritual inmitten eines bewaldeten und nicht bewirtschafteten Gebietes auf der Choiseul Plantage, genannt Le Caïman, wo die Neger sich in sehr großer Zahl versammelten. Ein ganzes schwarzes Schwein, umgeben von Fetischen, jeder beladen mit Opfergaben, eine bizarrer als die andere, wurde als Opfer dem allmächtigen Geist der schwarzen Rasse dargebracht: Die religiösen Zeremonien, die die Neger ausführten, während sie ihm die Kehle durchschnitten, die Gier, mit der sie sein Blut tranken, den Wert, den sie dem Besitz einiger seiner Borsten zumaßen, einer Art von Talisman, von dem sie glaubten, er mache sie unverwundbar, genügen um den Afrikaner hinreichend zu charakterisieren. Es ist nur natürlich, dass eine Kaste, die so unwissend und idiotisch ist, die grässlichsten Anschläge beginnen sollte mit den abergläubischen Riten eines widersinnigen und blutrünstigen Kultes.38

Wie Barrat hebt auch Dalmas in seiner Version der Zeremonie die diabolischen Elemente hervor – so erscheint das kollektive Trinken des Blutes als eine Parodie der christlichen Eucharistie. Er benutzt, ebenfalls wie Barrat, der Afrika als den Ursprung des diabolischen Voodoo ausmacht, das Bild des Kontinents als das Antonym von Zivilisation. Anders als den evangelikalen Christen heute geht es Dalmas in seiner Beschreibung der religiösen Zeremonie jedoch nicht darum, das Narrativ eines Paktes mit dem Teufel und eines göttlichen Fluchs zu schreiben. Dalmas stellt vielmehr die angeblich animalische Wildheit der Sklaven afrikanischer Abstammung in den Vordergrund, um die Haitianische Revolution als einen Akt ,afrikanischer‘ Barbarei zu diffamieren. Für Dalmas markiert die Zeremonie den Auftakt für die Serie ritualisierten Mordens, „die grässlichsten Anschläge“, auf die der Sklavenaufstand von 1791 reduziert wird. Diese werden in allen Einzelheiten beschrieben. So erfährt man etwa, dass „mit einer Fackel in der einen Hand und einem Dolch in der anderen“ Boukman, „dieser Neger, oh-

38 Dalmas 1814, Bd. 1, S. 117f.; Übersetzung R.H.

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ne jegliches Mitleid alle die Weißen massakrierte, welche die Flammen nicht verschlungen hatten.“ Dabei wurde sogar „seinem eigenen Herrn“ von ihm selbst – so wird impliziert – ähnlich dem Opferschwein in der Zeremonie „die Kehle durchgeschnitten [fut égorgé], während dieser in den Armen seines in Tränen aufgelösten und sterbenden Weibes lag“.39 Die ideologische Stoßrichtung von Dalmas Text geht dahin zu illustrieren, dass die barbarischen Afrikaner der Sklaverei bedürften, um ihre animalische Wildheit in Schach zu halten, sie zu zivilisieren und zu treuen und ergebenen Sklaven zu erziehen. Im Essay „Mémoire sur le rétablissement de Saint-Domingue“ innerhalb des zweiten Teils seiner Geschichte SaintDomingues plädiert Dalmas dann auch für die Wiederherstellung der verlorenen Kolonie mitsamt Sklaverei und Plantagenwirtschaft.40 Nur diese europäische Intervention könne den Rückfall Saint-Domingues in ‚afrikanische‘ Barbarei wieder aufheben: Wenn der Schwarze kein ergebener und treuer Sklave ist, wird er unweigerlich zu einem wilden und blutrünstigen Herrn: die Erfahrung hat das gezeigt. SaintDomingue, mit einem Schlag in ein neues Guinea verwandelt, ist zum Schauplatz derselben Exzesse, derselben Gräueln geworden, die seit zweitausend Jahren diesen Teil der Alten Welt verwüsten: und dieser Stand der Dinge wird anhalten, solange das afrikanische Wesen nicht gebändigt sein wird, angekettet an das Europas.41

Dalmas’ Position ähnelt derjenigen mancher Kommentatoren des Erbebens. Lawrence Harrison, der Leiter des Haiti Programms der staatlichen US Hilfsorganisation USAID während Jean-Claude „Baby Doc“ Duvaliers Diktatur war, behauptete nach dem Erdbeben ähnlich: „Haiti is Africa and Africa is Haiti.“42 Wie Dalmas sieht er in der „afrikanischen Prägung“ Haitis, unter die Voudoun als Religion ohne angeblich „ethischen Kodex“ fällt, die Hauptursache für die „anhaltende Tragödie Haitis“.43 Diese könne nur

39 Dalmas 1814, Bd. 1, S. 121; Übersetzung R.H. 40 Ebd., Bd. 2, S. 238. 41 Ebd., S. 240; Übersetzung R.H. 42 Harrison 2010. Dubois betont, dass die Unterstellung, Haiti sei ein Ort gänzlich außerhalb des Westens, in Berichten zum Erdbeben weit verbreitet ist. Dubois 2012, S. 3. 43 Harrison 1993, S. 106, und Harrison 2010; Übersetzung R.H.

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durch eine mission civilisatrice, durch die erfolgreiche Vermittlung westlicher, neoliberaler und protestantischer Werte wie „Arbeit“ und „Verdienst“ beendet werden.44 Seinen dämonisierenden „voodoo views“ von Haiti richten sich auch gegen die (utopische) Vorstellung, dass die „schwarze Republik Haiti“ eine „alternative to Judaic-Christian totalitarian democracy with its bourgeois liberal pietudes“ darstellen könne.45

„H AITI UND SEIN V OLK , EIN FÜR ALLE M AL , VON DEM F LUCH ZU BEFREIEN … “: S ARKOZYS NEOLIBERALER E XORZISMUS DES GESCHICHTLICHEN F LUCHS H AITIS Nicht nur Robertson betrachtet das Beben als „blessing in disguise“, sondern auch von anderen westlichen Kommentatoren wurde die Situation danach als Chance für einen Neubeginn angesehen. David Brooks in seinem Kommentar in der New York Times sieht nach dem Trauma des Erdbebens die Zeit gekommen, „aufdringlichen Paternalismus“ zu praktizieren. Darunter versteht er, durch führende Persönlichkeiten vor Ort „fortschrittliche Gegenkulturen“ zu schaffen, die den haitianischen Massen bourgeoise, kapitalistische westliche Werte zu vermitteln sucht: „middle-class assumptions, an achievement ethos and tough, measurable demands“.46 Wie Glyne A. Griffith feststellt, stehen hinter Brooks Vorschlägen zum einem jahrhundertealte Narrative, die die angebliche kulturelle Unterlegenheit der ,Wilden‘ als eine moralische Rechtfertigung für deren Ausbeutung anführten.47 Zum anderen sieht Brooks in einem erzwungen kapitalistischen „Kulturwandel“, der die von Voodoo bestimmte „forschrittsresistente“ Kultur Haitis durch eine westliche ersetzt, im Sinne Harrisons die Lösung für Haitis Probleme.48 Der französische Präsident scherte sich wenig um Werte und schlug gleich ein neoliberales Aufbauprogramm vor, das die Beteiligung der Haiti-

44 Harrison 2010; Übersetzung R.H. 45 Braithwaite 1971, S. xiv-xv, Hervorhebung im Original. 46 Brooks 2010. 47 Vgl. Griffith 2011, S. 287. 48 Brooks 2010 und Harrison 2006, S. 29f.

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aner noch weiter minimierte als Brooks Vision. In der Ankündigung seines Programms bediente sich Sarkozy nicht nur des Narrativs von der Geschichte Haitis als eine scheinbar nicht endende Abfolge von Katastrophen, sondern auch desjenigen eines verfluchten Landes. Sarkozy erklärte am 14. Januar 2010: „Diese Katastrophe, die auf so viele andere folgt, müssen wir als Gelegenheit benutzen, Haiti und sein Volk, ein für alle mal, von dem Fluch zu befreien, der auf ihnen seit so langer Zeit zu lasten scheint“.49 Für ihn stellt das Beben nicht nur eine weitere Manifestation des Fluches der haitianischen Geschichte dar, sondern es eröffnet gleichzeitig auch die Möglichkeit, wie „wir“ (sprich Frankreich und andere westliche Mächte) Haiti von diesem Fluch erlösen können.50 Wie für Robertson ist daher auch für Sarkozy das Beben auf zynische Weise „a blessing in disguise“, etwas, das sich im Nachhinein als Segen erweist. Für beide eröffnen sich in Haiti ungeahnte Möglichkeiten, um vom katastrophalen Ereignis zu profitieren; eine Strategie, die Naomi Klein prägnant als ,disaster capitalism‘ bezeichnet hat.51 Beide sehen – in den Worten Robertsons – die gleiche Möglichkeit eines „massive rebuilding of this country“ nach neoliberalem Muster und unter westlicher Führung.52 Anders als Robertsons „turning to God“ besteht Sarkozys Lösung jedoch nicht in einer Hinwendung zu Gott, sondern zu den wirtschaftlichen Großmächten, die auf seinen Vorschlag hin zu einer Konferenz über Haiti zusammenkommen sollten, um – „[de] reconstruire ce pays martyrisé“ – diese gepeinigte Land wieder aufzubauen, wie er es in religiöser Sprache ausdrückt.53 Im Rahmen zweier Konferenzen wurden zwar insgesamt 9,9 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau Haitis versprochen, aber gleichzeitig verfügt, dass nicht der angeblich gänzlich korrupte und unfähige haitianische Staat

49 Sarkozy 2010; Übersetzung R.H. 50 Sarkozy bedient sich hier, wie in all seinen Reden, des Pluralis Majestatis. Dennoch scheint in diesem Falle mit „nous“ nicht nur er und Frankreich, sondern auch die gesamte westliche Staatengemeinschaft gemeint zu sein. 51 Unter „disaster capitalism“ versteht Klein „orchestrated raids on the public sphere after a castastrophic event, combined with the treatment of disasters as exiciting market opportunities“ (2007, S. 6). Beispiele für ,disaster capitalism‘ in Haiti nach dem Erdbeben finden sich bei Ménard 2010, S. 49-51. 52 Robertson 2010. 53 Sarkozy 2010.

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das Geld verwalten soll. Stattdessen wurde eine von ausländischen Politikern, Vertretern der Weltbank und dem Internationalen Währungsfond dominierte, von Bill Clinton und dem haitianischen Premierminister geleitete Kommission geschaffen, die diese Aufgabe wahrnehmen sollte. „In fact, this whole conference is the takeover, the final consummation of the takeover of Haiti“, so lautete das Urteil des amerikanischen Haiti-Aktivisten Kim Yves in einem Interview mit dem TV-Kanal Democracy Now am 1. April 2010.54 Die Beschlüsse der Konferenzen verdeutlichen, dass das Ereignis des Haitianischen Erdbebens instrumentalisiert wurde, um die ununterbrochenen westlichen Interventionen in die politischen Geschicke des Landes auf absehbare Zukunft zu rechtfertigen und diese sogar noch zu intensivieren. Haitis Status als eine ,Republic of NGOs‘, eines von humanitären Organisationen und der UN kontrollierten Staates, hat sich nach dem Erdbeben noch weiter konsolidiert.55 Colin Dayan behauptet sogar, dass das Ziel hinter der sensationalistischen Berichterstattung über das Erdbeben, von „Plünderungen, Gewalt und Chaos“ die Einrichtung eines „U.S. Protektorat“ in Haiti gewesen sei.56 Wie ich in diesem Aufsatz gezeigt habe, gehen diese westlichen Interventionen auf der politischen, militärischen und sozioökonomischen Ebene einher mit Diskursen, die das Erdbeben zum Anlass nehmen, um Haiti als eine Projektionsfläche für kulturrassistische Unterstellungen zu benutzen. Weit bis in die Kolonialzeit zurückreichend, dämonisieren sie Haiti als das gänzlich Andere der westlichen Welt, „miserable, horrifying, black, ugly“, wie Noam Chomsky die Negativität dieser Diskurse auf den Punkt bringt.57 Indem Haiti außerhalb der Moderne verortet wird, wird mit der Haitianischen Revolution auch sein entscheidender Beitrag zur Formierung der transatlantischen Moderne entweder ignoriert oder selbst dämonisiert. Die ökonomische, politische und militärische Gewalt, die Haiti im Laufe der Geschichte erfahren hat, wird verdoppelt durch eine ,diskursive Gewalt‘; einen Monolog, der dieselben Narrative endlos wiederholt und nie den Dialog mit haitianischen Stimmen (ganz zu schweigen mit solchen außerhalb der traditionell pro-westlichen Elite) sucht, wie es Seitenfuss be-

54 Democracy Now 2010. 55 Ménard 2010, S. 51. 56 Dayan 2010; Übersetzung R.H. 57 Chomsky 2006, S. 15.

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tont.58 Diesen dämonisierenden Diskurs gilt es zu dekonstruieren und durch einen Dialog mit Haitianern über Haitis Geschichte, Gegenwart und Zukunft zu ersetzen. Es ist dringend notwendig, die dominanten Narrative mit neuen zu überschreiben.59

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58 Vgl. Seitenfuss 2010. 59 Siehe auch Ulysse 2012.

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Der Spanische Bürgerkrieg als Medienereignis im NS-Film Im Kampf gegen den Weltfeind. Deutsche Freiwillige in Spanien (1939) von Karl Ritter D ANIEL G ETHMANN

I. Infolge der Kämpfe im Spanischen Bürgerkrieg zwischen 1936 und 1939 starben mehr als eine halbe Million Menschen.1 Da sich der Kriegsschauplatz auszuweiten begann, als erste Formen eines sogenannten „strategischen“ Luftkriegs als Flächenbombardement von der deutschen „Legion Condor“ in Guernica und anderen Orten erprobt wurden, starb weniger als die Hälfte der Opfer auf den Schlachtfeldern des Krieges selbst. Die Ausweitung und Entgrenzung des Krieges in Spanien betraf auch die Ebene seiner literarischen und audiovisuellen Repräsentation: „it was the first war to be extensively and freely photographed for a mass audience, and marks the establishment of modern war photography as we know it.“2 Im Unterschied zu früheren Repräsentationen kriegerischer Handlungen wurden im Spanischen Bürgerkrieg erste Schritte unternommen, um das Medienbild des Krieges zu dessen Ressource zu wandeln,3 indem die Bild-

1

Vgl. zur historischen Forschung über die Opferzahlen des Spanischen Bürgerkriegs: Bernecker 2005, S. 211ff.

2

Brothers 1997, S. 2.

3

Vgl. zu dieser Entwicklung Virilio 1986; Gethmann 1998; Münkler 2002.

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berichterstattung erstmals in größerem Stil Kamera-Einstellungen in vorderster Front erprobte und dadurch auf die hohe internationale Aufmerksamkeit (Abb. 1) mit einer neuen Form visueller Kriegsberichterstattung aus den bewaffneten Einheiten heraus reagierte. Insbesondere die Filmbilder entwickelten eigene Strukturen visueller Narration, die Techniken medialer Evidenzbildung an die unterschiedlichen Diskurse einer Wahrnehmung des Krieges auf republikanischer wie nationalistischer Seite koppelten.

Abb. 1: Journalisten und Fotografen beobachten den Spanischen Bürgerkrieg.

Aus der öffentlichkeitswirksamen Berichterstattung aus diesem Krieg wurde so eine regierungstechnologische Funktion des bewegten wie des unbewegten Bildes ersichtlich, wodurch sich der zuvor noch stärker technologisch definierte Zusammenhang von Medien und Krieg – von Paul Virilio als ‚Logistik der Wahrnehmung‘ benannt – anlässlich des großen internationalen Interesses um die visuellen Darstellungen des Krieges in der Öffentlichkeit erweiterte. Insbesondere „den Massenmedien kam eine Schlüsselrolle zu.“4 Die in diesem Zusammenhang in Arbeiten über den Film im

4

Hamdorf 1991, S. 7. Ähnlich argumentiert auch Paul 2004, S. 174ff.

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Spanischen Bürgerkrieg geläufige These vom „Krieg als Kinoereignis“5 ist in der jüngeren Forschungsliteratur angesichts der unterschiedlichen visuellen Strategien der beteiligten Kriegsparteien bereits stark differenziert worden, so dass sich die Diskussion hier auf den Spanischen Bürgerkrieg als Medienereignis im NS-Film konzentriert. Der nationalsozialistischen Filmpolitik stellte sich zu diesem Krieg anlässlich der lange geheim gehaltenen Beteiligung der deutschen „Legion Condor“ eine nicht mehr nur allgemeine, legitimatorische Frage kriegerischer Handlungen unter NS-Vorzeichen, sondern es trat der Fall eines spezifischen Kriegsfilmbilderdefizits ein, was zu dem Projekt führte, den Spanischen Bürgerkrieg als Medienereignis im NS-Film neu zu fassen. Anlässlich der Bildung der „Legion Condor“ hatte der Ufa-Vorstand am 6. Oktober 1936 zunächst nur zwei Kameramänner nach Spanien entsandt. Doch die Kameraleute sammelten für eine Ende Januar 1939 kurzfristig erwünschte filmische Glorifizierung der NS-Beteiligung am Spanischen Bürgerkrieg zu wenig Material, wenngleich in den deutschen Wochenschauen durchaus von diesem Krieg berichtet wurde.6 Während aber die Internationalisierung des Krieges auf republikanischer Seite zu zahlreichen berühmten Filmen und Fotografien führte, deren eigene Ästhetik des Spanischen Bürgerkriegs als Wahrnehmungsform von der Kriegsteilnahme der Bildberichterstatter an vorderster Front abhing, kann auf nationalistischer Seite ein gewisser Bildermangel konstatiert werden.7 Ein erster längerer Film von

5

„Für den Propaganda- und Dokumentarfilm war der Spanische Bürgerkrieg das Pilotprojekt, der erste Krieg als Kinoereignis.“ Hamdorf 1991, S. 147.

6

Wochenschau-Filmmaterial aus dem Spanischen Bürgerkrieg betrifft die Ufa – Tonwoche Nr. 311, 1936; Nr. 312, 1936; Nr. 313, 1936; Nr. 314, 1936; Nr. 355, 1937; Nr. 373, 1937; Nr. 407, 1938; Nr. 411, 1938; Nr. 425, 1938; Nr. 426, 1938; Nr. 438, 1939; Nr. 439, 1939; Nr. 440, 1939; Nr. 442, 1939; Nr. 447, 1939; Nr. 448, 1939; Nr. 455, 1939; Nr. 456, 1939; Nr. 458, 1939; Nr. 460, 1939; sowie die Deulig – Tonwoche Nr. 245, 1936; Nr. 247, 1936; Nr. 256, 1936; Nr. 336, 1938; Nr. 363, 1938; Nr. 366, 1938; Nr. 368, 1939; Nr. 369, 1939; Nr. 371, 1939; sowie die Bavaria-Tonwoche Nr. 36, 1937. Vgl. Bucher 2000; Meseguer 2010.

7

Vgl. zur filmischen NS-Kriegsberichterstattung im Spanischen Bürgerkrieg Nau 1974; Hamdorf 1991; Regel 1991; Gethmann 1998, S. 107-126; Paul 2004, S. 193–202; Hoffmann 2005; vgl. zu den Filmen über den Spanischen Bürgerkrieg

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Joaquín Reig Gozalbes, der sich während des Spanischen Bürgerkriegs in Berlin aufhielt und seinen Film España Heroica (1937) aus deutschen, spanischen – auch republikanischen und sowjetischen Wochenschauaufnahmen kompilieren konnte, ist in der Filmoteca Española in Madrid in einer 85 Minuten langen Version erhalten.8 Mit den Mitteln der Kontrastmontage wird in diesem Film ein sozialer Konflikt in der spanischen Gesellschaft als Auseinandersetzung zwischen Chaos und Ordnung oder Anarchie und Katholizismus postuliert, dessen Überwindung der Film durch die Errichtung eines Führerstaates des Caudillos, wie sich Francisco Franco y Bahamonde später nennen ließ, propagierte. Doch die geheim gehaltenen deutschen Truppen der sogenannten „Legion Condor“ fanden auch in der deutschen Fassung des Films, Helden in Spanien, noch keine Erwähnung, daher brachte es der unterdessen bis auf 58 Minuten gekürzte Film im NS-Kino zu keiner weiten Verbreitung.9 Vielmehr kam wenige Tage nach seiner letzten Zulassung nach fast zwei Jahren Zensurproblemen eine NS-Version des Spanischen Bürgerkriegs heraus und hatte am 16. Juni 1939 Premiere: Im Kampf gegen den Weltfeind. Deutsche Freiwillige in Spanien von Karl Ritter. Dieser laut seinen NS-Kategorien „staatspolitisch wertvolle“, „volksbildende“ „Lehrfilm“, für den sein Regisseur bei der Berliner Premiere den „Spanien-Orden“ in Silber erhielt, gab die Richtung der weiteren Arbeit der Kameraleute im NS-Kriegsfilm vor. Wegen des weitgehend fehlenden geeigneten Bildmaterials aus dem Spanischen Bürgerkrieg entstanden einige Eigentümlichkeiten, als das NSKino den Mythos des spanischen Kriegserlebnisses nach dem Eingeständnis einer massiven deutschen Militärunterstützung für Francos Truppen in großer Eile ausformulierte: So erhielt der Filmregisseur Karl Ritter in der Nacht des 27. Januar 1939 bei einem gemeinsamen Abendessen in Berlin von Adolf Hitler den persönlichen Auftrag, einen Film über die deutsche „Legion Condor“ im Spanischen Bürgerkrieg zu drehen. Drei Tage später

in der Filmoteca Española in Madrid den kommentierten Bestandskatalog: Amo García 1996. 8

Vgl. Amo García 1996, S. 422-425. „ESPAÑA HEROICA ist der Prototyp des faschistischen Kompilationsfilms.“ Hamdorf 1991, S. 118.

9

Vgl. Drewniak 1987, S. 347.

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gab Hitler in einer Reichstagsrede erstmals die Existenz der Einheit zu.10 Karl Ritter, der bereits am 19. Oktober 1925 in die NSDAP eingetreten war, verfügte längst über ausgezeichnete Verbindungen zu hohen NSFunktionären, bevor er Anfang 1939 zu Hitlers persönlichem Beauftragten für eine umfassende filmische Authentifizierung der NS-Beteiligung am Spanischen Bürgerkrieg aufstieg.11 Ritter flog bereits einen Tag nach seiner Betrauung nach Spanien, erhielt die Verfügung über sämtliches Filmmaterial in Francos Archiven und wurde zum Zweck derart kurzfristig angeordneter Kriegsfilm-Dreharbeiten direkt in die „Legion Condor“ als deren Angehöriger aufgenommen, wodurch er als zentrale Neuerung auf dem Gebiet des Kriegsfilms mit seinem Filmteam einen uneingeschränkten Frontzugang besaß. Zunächst traf er sich in einer ersten katalanischen Fronttour mit den dortigen Befehlshabern der „Legion Condor“, die er teilweise seit seiner Militärzeit im Ersten Weltkrieg kannte, und nahm an ihren Bombardements in Katalonien mit der Kamera teil. Die Filmproduktion besaß sogar die Möglichkeit, selbst Bombenabwürfe anzuordnen.12 Ritter traf sich auf seiner weiteren Spanienreise im Februar 1939 auch mit dem Chef der NSDAP-AO in Spanisch-Marokko, Adolf P. Langenheim, und konnte so private Aufnahmen der frühen deutschen Waffenhilfe in den Film integrieren:13 Ein Emissär Francos war am 25. Juli 1936 gemeinsam mit Langenheim nach Bayreuth gekommen, um Hitler zur Festspielzeit um Waffenhilfe und logistische Unterstützung für den Umsturzversuch Francos in Spanien zu bitten. Diese wurde ab dem 29. Juli 1936 durch zwanzig Ju52 Transportflugzeuge gewährt, die eine Luftbrücke zum Transport von etwa 13.500 marokkanischen Soldaten und Angehörigen der spanischen Fremdenlegion aufs spanische Festland organisierten, um der am 17. Juli in Spaniens marokkanischen Territorien begonnenen und im Osten Spaniens erfolglosen Militärrevolte Verstärkung zu schicken. Da sich

10 Adolf Hitler erwähnte die Existenz der „Legion Condor“ zum ersten Mal am 30. Januar 1939 in einer Reichstagsrede, in der er die Teilnahme des „nationalsozialistischen Deutschlands an der Erhebung des General Franco“ zugab. Vgl. Whealey 1989, S. 161. Eine weitere Erwähnung gab es in der Reichstagssitzung vom 28. April 1939. 11 Zu Karl Ritter vgl. Gethmann 1998. 12 Vgl. dazu ausführlicher Gethmann 1998, S. 107-117. 13 Vgl. Im Kampf gegen den Weltfeind (Bundesarchiv Berlin, Abt. Filmarchiv).

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die Revolte weder in der Marine noch in der Luftwaffe Spaniens auf breiter Linie durchsetzen konnte, bestand dieser Bedarf recht plötzlich und aus Sicht der Putschisten unvorhergesehen. Die offiziellen Stellen des „Dritten Reiches“ bestätigten die deutsche Beteiligung, die sich zu einer regelrechten Militärhilfe und Intervention auswuchs,14 bis zur Reichstagssitzung am 30. Januar 1939 nicht öffentlich, sondern bemühten sich, die Kriegsbeteiligung als geheime Unternehmung zu behandeln und eine Nachrichtensperre durchzusetzen. Denn die Vereinbarung wurde wenige Tage vor Eröffnung der Olympischen Spiele in Berlin getroffen, welche im Ausland als Zeichen des deutschen Friedenswillens gewertet werden sollten. Man schloss sich offiziell den Bemühungen Frankreichs und Großbritanniens um Nichtintervention an und tagte innerhalb eines internationalen Ausschusses zu deren Überwachung, so dass die in der „Legion Condor“ eingesetzten und aus dem aktiven deutschen Militärdienst ausgeschiedenen Soldaten, deren Meldung zur „Legion Condor“ sie um einen Dienstgrad beförderte, als vermeintliche „Freiwillige“ gehandelt wurden, die mit neuen Kriegsflugzeugtypen, Piloten und Ausbildern auf der Seite Francos in den Spanischen Bürgerkrieg eingriffen. Verdeutlicht die umfassende Unterstützung der Dreharbeiten zum Film Im Kampf gegen den Weltfeind durch die höheren Kommandostäbe, dass der allgemeine Stellenwert des Mediums Film im Krieg enorm gestiegen war, so erlangte in dem Maße, wie sich die Waffe Kamera im Spanischen Bürgerkrieg als Mittel des Krieges etablierte, das Medium Film auch eine konkrete Wertschätzung als neu zu erprobendes Verfahren der nationalsozialistischen Zeitgeschichtsschreibung. Im Zusammenhang dieser medialen Dynamik gibt sich der Film Im Kampf gegen den Weltfeind als ein Versuch zu erkennen, die Geschichte des Spanischen Bürgerkrieges nachträglich und unverhohlen aus Sicht der NS-Ideologie mit den Mitteln des Films neu zu schreiben. Unter der Perspektive einer frühen filmischen Erprobung die-

14 Im Oktober 1936 entschied sich Hitler und das OKW dazu, eine Fliegereinheit, die später „Legion Condor“ genannt wurde, als eine zunächst etwa 3800 Mann umfassende Truppe samt 92 neuen Militärflugzeugen in den Spanischen Bürgerkrieg zu entsenden, wo sie ab November 1936 auf Seiten Francos kämpfte. Insgesamt wurden annährend 19.000 Soldaten vom OKW im Spanischen Bürgerkrieg eingesetzt, 27 unterschiedliche Flugzeugtypen erprobt und mindestens 593 Flugzeuge geliefert.

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ser rasch als ‚kriegswichtig‘ erkannten Form von NS-Zeitgeschichtsschreibung, die in den Kriegskompilationsfilmen während des Zweiten Weltkriegs weiter entwickelt wurde, bietet sich anhand des Filmmaterials insofern die Möglichkeit, den Konstruktionsprozess dessen, was im Nationalsozialismus als ‚historisches Bild‘ des Spanischen Bürgerkriegs überliefert werden sollte, als eine nicht länger bloß textgebundene, sondern als eine mediale Praktik zu untersuchen.15 Ihr Ziel einer revisionistischen Darstellung des Bürgerkriegsverlaufs verfolgte die Filmproduktion, indem sie den Spanischen Bürgerkrieg nachträglich als Medienereignis zu inszenieren versuchte. Wirklich durchgesetzt wurde dieses Verfahren erst mittels einer höheren Beschleunigung der medialen Berichterstattung, als sie der klassische Dokumentarfilm mit seinen Produktions- und Verleihstrukturen zu leisten imstande war. Die Wochenschau und die folgenden längeren Wochenschau-Kompilationsfilme im Zweiten Weltkrieg leisteten hierzu einen zentralen Beitrag. Im Hinblick auf die Politiken des Medienereignisses erhält somit der sich mit Karl Ritters Film Im Kampf gegen den Weltfeind abzeichnende erhöhte Stellenwert der Wochenschau, der den nationalsozialistischen Kriegsfilm Ende der 30er Jahre grundlegend wandeln sollte, eine erweiterte politisch-ideologische Bedeutung. Innerhalb dieses Prozesses bemühten sich Vorläuferfilme wie España Heroica noch darum, ihr aus unterschiedlichen Quellen stammendes Filmmaterial zur Vorführung einer vermeintlichen „historischen Wahrheit“ des Spanischen Bürgerkrieges neu zu kompilieren, während Im Kampf gegen den Weltfeind von dieser filmischen Konstruktion ihr Prinzip der Authentizität übernahm und sich in einigen – allerdings weitgehend gescheiterten – Ansätzen daran versuchte, an die Stelle eines filmischen Wahrheitsdiskurses den der vermeintlich authentischen Medienereignisse des Krieges zu setzen. Nicht länger nur die Wahrheit eines „gerechten Kriegs“ visuell zu begründen oder zu repräsentieren, kam dem Kriegsfilm fortan zu, sondern sein Stellenwert bemaß sich daran, inwiefern er in der Lage war, eine retro-

15 Mediale Historiographie analysiert neben schriftlichem Quellenmaterial auch audiovisuelle Quellen, die zur Beobachtung, wie ein Krieg beobachtet, beschrieben und dargestellt wird, wertvolle Hinweise enthalten. Insbesondere für die NS-Konstruktion eines Bildes der Zeitgeschichte ist die Kombination von Print- und audiovisuellen Medien von hoher Bedeutung. Vgl. SchülerSpringorum 2010, S. 250.

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spektive Authentifizierung kriegerischer Handlungen als auf die Gegenwart bezogenen Machteffekt zu konstruieren. Dessen hohe regierungstechnologische Relevanz kann als eine zentrale Begründung für die von Goebbels bereits im Frühjahr 1940 postulierte Gleichrangigkeit der filmischen mit der operativen Kriegsführung in den NS-Kriegsberichten gelten.16

II. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zeichnet sich eine Entwicklung ab – die heute viel deutlicher erkennbar ist –, bei der militärische Macht zunehmend in der Form von symbolischer Macht innerhalb der Strukturen unserer visuellen Kultur akkumuliert wird. Die Transformation des politischen Feldes durch Politiken des Medienereignisses ist hier insofern bereits absehbar, als sich das Ereignis als solches vom übrigen Geschehen nur durch eine Unterscheidung absetzt, die vom Beobachter getroffen wird. Wo das Setzen einer Differenz somit die Voraussetzung bildet, um ein Ereignis sozial zu konstruieren, ist diese Differenz in technischen Aufzeichnungsmedien durch die Codierung der Darstellung auch medial zu konstituieren. Eine solche mediale Konstruktion erlaubt es dann, das Ereignis durch parasoziale Interaktion des Publikums mit den Inhalten des Mediums als Medienereignis zu aktualisieren, während sie gleichzeitig verdeckt, was es formal konstruiert. Indem Medien wiederum auf ihre eigenen Aktualisierungen von Medienereignissen zurückgreifen, um sich selbst neu zu konfigurieren und zu steuern, artikulieren sich in ihren Rückkopplungsschleifen auch bestimmte Politiken des Medienereignisses, die in einem allgemeineren Sinne auf Politiken der Medien aufruhen. Andernorts haben Markus Stauff und ich argumentiert, dass Medien durch ihre Operationalität selbst durchaus politische Effekte ausüben, die nicht als reine Inhaltsanalysen einer „Politik in den Medien“, als „symbolische Politik“ oder ähnliches anschreibbar sind, sondern als Politiken der Medien durch deren bloße Medialität bereits das Feld des Politischen transformieren, auf dem sich Medien

16 „Es soll betont werden, daß der Soldat, der mit der Kamera diene, genau so viel wert sei, wie beispielsweise ein MG-Schütze.“ Joseph Goebbels auf der Ministerkonferenz im RMVP vom 25. April 1940, zit. n. Boelcke 1966, S. 330.

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somit als Akteure zu denken geben.17 Ihr Akteursstatus wirft nun die Frage auf, inwiefern durch Politiken des Medienereignisses das Feld des Politischen erneut transformiert würde. Untersucht man Medienereignisse somit unter dem Aspekt von Ereigniskonstruktionen in den Medien, so bringt in einem ersten Schritt dieser Entwicklung die mediale Produktion von Ereignissen bestimmte Koordinaten ins Spiel, die von der jeweiligen Medientechnik abhängen und die mediale Erscheinungsform der Ereignishaftigkeit selbst betreffen, indem sie die Form festlegen, in der die Wirklichkeit künftig überhaupt als potentiell ereignishaltig erkannt werden kann. In der medialen Wahrnehmung des Krieges konvergieren an diesem Punkt die militärische und die Nachrichtenlage. So notierte Niklas Luhmann hinsichtlich des Zweiten Golfkriegs Anfang der 90er Jahre: „Da der Krieg von vornherein als Medienereignis mitinszeniert war und die Parallelaktion des Filmens oder Interpretierens von Daten zugleich militärischen und nachrichtenmäßigen Zwecken diente, wäre eine Entkoppelung ohnehin mit fast totalem Informationsausfall verbunden gewesen. Für eine Zensur war daher nicht viel mehr erforderlich, als: dem chronischen Informationsbedarf der Medien Rechnung zu tragen und sie für den nötigen Fortgang der Sendungen mit Neuigkeiten zu versorgen.“18 In solchen Konstellationen definieren technische Medien spezielle visuelle Formen und diskursive Felder, innerhalb derer die Kriegsführung und damit im weiteren die Ausübung von militärischer Macht zu einem rationalen Vorgang wird. Die Medien konfigurieren damit auch die Koordinaten des Feldes, auf dem sich diese Macht konstituiert, indem sie den Raum vorgeben, innerhalb dessen durch die Konvergenz von militärischer Lage- mit medialen Zustands- und Problembeschreibungen auch die Optionen zur Ursachenforschung und Veränderungsmöglichkeiten definiert werden. Medien geben in diesem Sinne ihren Rahmen der Erkenntnis vor. Sie tun dies auch dadurch, dass sie sich darum bemühen, durch Medienereignisse eine bestimmte Form von Authentizität des Krieges zu konstruieren. Schon in der frühen Filmgeschichte wird durch symbolisch kodierte Darstellungsformen von politischen Ereignissen im Medium Film festgelegt, wie diese wahrgenommen oder vermittels virtueller sozialer Interaktion miterlebt werden. Der zu dieser Entwicklung im Kriegsfilm notwendige

17 Vgl. Gethmann/Stauff 2005. 18 Luhmann 2004, S. 22.

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exklusive und organisierte Zutritt von Kameraleuten zur Front ist bereits während der mexikanischen Revolution zwischen 1910 und 1917 – also während des Medienumbruchs vom Early Cinema zur beginnenden Filmindustrie im Ersten Weltkrieg – erreicht, als die US-Filmfirma Mutual einen Hauptakteur der Revolution, Pancho Villa, unter Vertrag nimmt, damit seinen Krieg mitfinanziert und dafür exklusiven Zutritt zum Schlachtfeld erhält.19 Die häufig erst für den Spanischen Bürgerkrieg konstatierte Form der ‚embedded correspondents‘ geht also auf vor dem Ersten Weltkrieg bereits organisierte, größere Gruppen von Berichterstattern zurück. Auf der Bildebene besitzt die Erprobung visueller Evidenzeffekte von filmischen Medienereignissen während des Spanischen Bürgerkriegs bereits einen hohen Stellenwert: So wurden mit versteckter Kamera gefilmte Aussagen des abgeschossenen Piloten eines Wasserflugzeugs der „Legion Condor“, Rudolf Rücker, der am 1. März 1938 gefangen genommen und beim Verhör gefilmt wurde, dazu eingesetzt, um eine ausländische Intervention in den Spanischen Bürgerkrieg zu verifizieren (Prisoners prove Intervention in Spain, GB 1939).20 In Reaktion auf diese sich ausprägende Wahrheitspolitik des Mediums Film führte auch der NS-Kriegsfilm Im Kampf gegen den Weltfeind in einer der wenigen Passagen des Films mit Originalton Zeugenaussagen für eine internationale Beteiligung auf republikanischer Seite an, indem Kriegsgefangene zu ihrer Herkunft verhört wurden, um eine Internationalität der Internationalen Brigaden zu verifizieren. In dieser offensichtlichen Inszenierung von vermeintlichen „Beweisen“ sollte deren Anliegen, mit den Internationalen Brigaden eine Einmischung neutraler Staaten in den Spanischen Bürgerkrieg mit filmischen Mitteln zu belegen, nicht übersehen lassen, dass sich die Sequenz im Kern als Erprobung von filmischen Evidenzpraktiken zu denken gibt.21 In ihr erprobt der NS-Film die dramaturgische Verwendung der sich etablierenden, neuen Wahrheitspolitik des Mediums Film, die als mediale Konstruktionsverfah-

19 Vgl. dazu ausführlicher Gethmann 2005. 20 Vgl. Crusells 2000. Die Bilder stammen von Ivor Montagu und sind bereits im Film Behind The Spanish Lines (1938) enthalten. Sie wurden beim Völkerbund als Anklagebeweis verwendet (Testimony of Non Intervention, GB 1938). Vgl. Hamdorf 1991, S. 97. 21 „Die ersten internationalen Gefangenen werden eingebracht.“ Im Kampf gegen den Weltfeind (1939).

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ren des Authentischen für den ideologischen Gehalt des NS-Kriegsfilms Verwendung finden. Die Frage, weshalb eine solche filmische Beweisführung überhaupt im Film enthalten ist, führt also direkt zum gestiegenen Stellenwert der Verbindung von visuellen Medien und Krieg während des Nationalsozialismus zurück.

III. Im Jahr 1945 brannten im spanischen Filmarchiv in Madrid fast alle Filmdokumente ab, die Franco mit Hitler oder Mussolini in Verbindung brachten. Das Feuer kostete einen Angestellten das Leben.22 Der von der deutschen Filmproduktionsgesellschaft UFA im Jahre 1939 vorgestellte Kompilationsfilm über den Spanischen Bürgerkrieg Im Kampf gegen den Weltfeind in der Regie von Karl Ritter blieb unversehrt. Dieser Film besteht aus drei Teilen: Er beginnt mit einer im nationalsozialistischen Sinne argumentierenden, politisch legitimatorischen „Chronik“ des Kriegsgeschehens, die von Werner Beumelburg verfasst und von Paul Hartmann gesprochen wurde. Diese enthält auch republikanisches und sowjetisches Wochenschaumaterial als visuelle Belege für die noch stark vom Ton bzw. dem gesprochenen Wort getragene filmische NS-Zeitgeschichtsschreibung des Spanischen Bürgerkriegs. Den Hauptteil bildet ein Zusammenschnitt der PropagandaKompanie-Aufnahmen von der deutsch-italienisch-spanischen Kriegsmaschine. Der dritte Teil befasst sich mit Ehrungen der Legion und ihrem Empfang am amtlicherseits so genannten „Tag der Legion Condor“, der seinen Namen durch die erste offizielle Parade dieser Truppe im Berliner Lustgarten am 6. Juni 1939 erhielt. Kernstück des Films ist der Versuch, in einem vergleichsweise kurzen Zusammenschnitt eine virtuelle, nationalistische Großoffensive auf Madrid zu inszenieren. Die Dramaturgie dieser Sequenzen hat die Aufgabe, sowohl die Relevanz der den deutschen Einsatz legitimierenden, platt ideologischen NS-Zeitgeschichtsschreibung des Filmanfangs bestätigen zu müssen, als auch das vermeintlich heroische Ende des Films als nicht enden wollende Abfolge von Paraden der „Legion Condor“ zu motivieren. Als eigentliches Medienereignis des Spanischen Bürgerkriegs bleibt so vom abendfül-

22 Vgl. Hamdorf 1992, S. 98.

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lenden Film etwas mehr als ein Drittel übrig. Dieses bildet den innovativen Teil des Films, der auf seine Weise schon die übergreifende Form eines Kompilationsfilms von in allen Wehrmachtteilen integrierten Kamerasoldaten entwirft. Während der erste Teil von Im Kampf gegen den Weltfeind noch auf einer im Off-Ton längst feststehenden „Wahrheit“ des Krieges beruht, die visuell belegt werden soll, geht es im Mittelteil um die Authentifizierung von Medienereignissen in zweifacher Hinsicht: Die Beteiligung der „Legion Condor“ am Spanischen Bürgerkrieg möchte der Film keineswegs als Geschichte einer kleineren Söldnertruppe auf Seiten Francos verstanden wissen, sondern sie realisiert sich zum einen in der Darstellung einer aufeinander abgestimmten deutschen Kriegsmaschinerie und unternimmt so zum anderen den Versuch, über das virtuelle Medienereignis einer Großoffensive eine neue und rasch ‚mythische Wehrmachttaktik bildästhetisch zu etablieren und zu begründen. Wurde nach Abzug der deutschen Truppen aus Spanien nämlich eine Erweiterung kriegstaktischer Formen konstatiert, die eine höhere militärische Effizienz und Flexibilität im Zusammenwirken der Waffengattungen als Vorbereitung des so genannten „Blitzkriegskonzepts“ beinhaltete,23 so schien diese nach einer These von Conrad Kent zunächst nicht mit einer Erneuerung der Formen einer visuellen Repräsentation des Krieges mit der photographischen Kamera zu korrespondieren.24 Doch die nachträgliche filmische Konstruktion des Spanischen Bürgerkriegs als Medienereignis des NS-Films und die dabei erprobte eigentümliche Verbindung von ReInszenierung, Dokumentar- und Kompilationsfilm stellt durchaus eine Änderung in den Verfahren der Authentifizierung von Medienereignissen dar und ist damit von hoher Aussagekraft, wenn die Geschichte der filmischen Umschreibung des Krieges zu einem Medienereignis untersucht wird: Der Spanische Bürgerkrieg kann – zumindest was die NS-Filmberichterstattung angeht – als Frühform der Kamera-Kriegsberichter in den NS-PropagandaKompanien während des Nationalsozialismus gelten, obwohl zunächst nur wenige deutsche Kamera-Soldaten tatsächlich nach Spanien entsandt wurden und die nationalspanische Kriegsfilmproduktion nur als „äußerst ärm-

23 Vgl. Whealey 1989, S. 104-108. 24 So die These von Kent 2000.

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lich“25 bezeichnet werden kann. Diese befand sich eher in ihrer eigenen „Bilderfalle“26 – wie Gerhard Paul dies einmal nannte –, denn ohne offen gelegten Einsatzbefehl konnte sich die neue Ästhetik des Krieges als Zusammenspiel aller Waffengattungen, das von der Luftwaffe dominiert wurde, zunächst nicht visuell repräsentieren. Der Film Im Kampf gegen den Weltfeind arbeitet an einem Mythos der kriegerischen Ereignisse aus Sicht der NS-Ideologie. Anstelle einer authentischen Darstellung einzelner Schlachten oder gar des Spanischen Bürgerkriegs im Allgemeinen widmet er sich eher einer virtuellen, nur im Film stattfindenden Großoffensive auf die letzten republikanischen Kräfte in Madrid Ende März 1939 als Medienereignis, die der Kommandeur der Legion Condor, Wolfram von Richthofen, in Großaufnahme auf fünf Uhr morgens terminiert. Deren einzelne Phasen: „Planung – Luftaufklärung – Aufmarsch – Angriff – Durchbruch“27 kulminieren in etwa elfminütigen Kriegs-Aufnahmen, die aus Panzern, Kampfflugzeugen und weiteren motorisierten Einheiten heraus gedreht sind. Ihre Wirkung entfalten sie aus einer Wahrnehmungsposition der Akteure, die für die späteren WochenschauKompilationsfilme des Zweiten Weltkriegs prägend werden wird. Ihre Struktur besteht in der filmischen Konstruktion eines „Mythos des Kriegserlebnisses“28 in technisierten, koordinierten und dynamisch vorwärts stürmenden Einheiten, einer vernetzt operierenden Truppe, die aus Frontperspektive geschildert wird, so dass der Eindruck entsteht, den Krieg aus Akteursperspektive zu sehen. Diese heute aus Kriegsfilmen vertraute Perspektive wurde im Spanischen Bürgerkrieg medial durchgesetzt. Allerdings weisen die Authentifizierungsstrategien über die Mythisierung einer erst

25 „La producción de la zona nacional es bastante pobre“. Arrillaga/Leira 1996, S. 71. 26 Paul 2004, S. 193. 27 Regel 1989, S. 543. 28 Speziell die Bildberichterstattung bringt durch eine rasche mediale Bearbeitung seiner Ereignisse einen Mythos des Spanischen Bürgerkriegs hervor, der nach dem Historiker George L. Mosse im Ersten Weltkrieg noch von den literarischen Berichten konstruiert wurde: „Die Realität der Kriegserlebnisse wurde zu etwas umgemünzt, das man als den Mythos des Kriegserlebnisses bezeichnen könnte, der in der Rückschau den Krieg als sinnhaftes und nachgerade heiliges Ereignis verklärte.“ Mosse 1993, S. 13.

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nachträglich offenbarten Kriegsteilnahme hinaus, sie betreffen ebenfalls einen kommenden Krieg, dessen Strategien Im Kampf gegen den Weltfeind als in Spanien bereits erprobt vorstellt. Aus dieser Perspektive erscheint der Spanische Bürgerkrieg im NS-Kino nur als bellizistisches Phänomen des Kräftemessens und als eine Verifikation wieder erlangter militärischer Stärke. Insofern richtet sich das Hauptaugenmerk des NS-Films auch weniger auf den konkreten Kriegsverlauf als vielmehr auf die eigene Kriegsmaschinerie, in der das Kino bereits seinen Platz reklamiert. Letztlich war jedoch die traditionelle, an filmischen Aufarbeitungen des Ersten Weltkriegs geschulte Regie Ritters zu keiner Zeit in der Lage, die neue Blitzkriegs-Strategie dynamisch zu visualisieren: Die Kampfhandlungen der virtuellen Großoffensive des Films verlaufen sich auf der Leinwand als müde Marschkolonnen von Pferdekarren durch Olivenhaine, schleppen sich ohne erkennbares Ziel verloren durch die Landschaft und geben so die behauptete Durchschlagskraft einer neuen NS-Kriegstaktik als offenkundiges propagandistisches Wunschdenken zu erkennen. Da auch die Tricktechnik der verwendeten Flugzeugmodelle bei einem simulierten Luftkampf, sowie die von Ritter auf seiner Spanienreise auf dem katalonischen Flughafen Garriguella gefilmten ausgebrannten Flugzeugwracks mittels handwerklich schlechter Rückprojektion von der Regie wenig sorgfältig ausgeführt sind, legt der Film seinen fake-Status ausgerechnet in seinen vermeintlich authentischen Kampfszenen offen. Selbst mit den seinerzeit erstmals gezeigten Aufnahmen automatischer Kameras aus Sturzkampfbombern, sowie den Propaganda-Kompanie-Bildern aus Akteursperspektive in den motorisierten Einheiten weiß Ritter dramaturgisch wenig anzufangen. Lässt sich daher im Film Im Kampf gegen den Weltfeind ein durchaus konkreter Anlass für Ritters folgenden Niedergang in der NS-Filmhierarchie erkennen, so artikuliert sich im Film doch auch zum ersten Mal prototypisch, wie sich durch die Dreharbeiten von soldatischen Einheiten mit ungehindertem Frontzugang und durchgesetzter Lufthoheit am Ende des Spanischen Bürgerkriegs eine neue Ereignispolitik der filmischen ReKomposition eines aktuellen Krieges als Medienereignis ausprägt. Dem Medium Film öffnen sich dabei völlig neue Möglichkeiten auf dem Feld der Konzeptualisierung von Wirklichkeit, die hier im Versuch einer Inszenierung des weniger militärstrategisch als vielmehr propagandistisch bedeutsamen „Blitzkriegs“-Konzepts zu erkennen sind. Das bedeutet schließ-

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lich, dass zu den militärischen Erfahrungen der „Legion Condor“ im Spanischen Bürgerkrieg auch gezählt werden muss, eine nachträgliche Re-Inszenierung des geführten Krieges als Medienereignis konzipiert zu haben, die in ihrer Wirksamkeit in retrospektiv authentifizierender Hinsicht auf eine Neufassung der Zeitgeschichte zielte, wie sie als Medienereignis im KinoSommer 1939 die neue militärische Kriegsführung ankündigte.

L ITERATUR Alfonso del Amo García (Hg.), Catálogo General del Cine de la Guerra Civil, Madrid 1996. Ignacio Arrillaga und Celeste Leira, „Legislación e industria cinematográfica durante la Guerra Civil“, in: Alfonso del Amo García (Hg.), Catálogo General del Cine de la Guerra Civil, Madrid 1996, S. 55-72. Walther L. Bernecker, Krieg in Spanien 1936-1939, Darmstadt 22005. Willy A. Boelcke, Kriegspropaganda 1939-41. Geheime Ministerkonferenzen im Reichspropagandaministerium, Stuttgart 1966. Caroline Brothers, War and Photography. A Cultural History, London/New York 1997. Peter Bucher, Wochenschauen und Dokumentarfilme 1895-1950 im Bundesarchiv-Filmarchiv, Bd. 8 von Findbücher zu Beständen des Bundesarchivs, Koblenz 1984 (Reprint 2000). Magí Crusells, La Guerra Civil Española. Cine y Propaganda, Barcelona 2000. Boguslaw Drewniak, Der deutsche Film 1938-1945. Ein Gesamtüberblick, Düsseldorf 1987. Daniel Gethmann, Das Narvik-Projekt. Film und Krieg, Bonn 1998. Daniel Gethmann, „Für eine Handvoll Dollar. Pancho Villa, der Filmkrieg und die mexikanische Revolution“, in: Daniel Gethmann und Markus Stauff (Hgg.), Politiken der Medien, Berlin/Zürich 2005, S. 211-230. Daniel Gethmann und Markus Stauff (Hgg.), Politiken der Medien, Berlin/Zürich 2005. Wolfgang Martin Hamdorf, Zwischen ¡NO PASARAN! und ¡ARRIBA ESPAÑA! Film und Propaganda im Spanischen Bürgerkrieg, Münster 1991.

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Wolfgang Martin Hamdorf, „Madrid – oder das Schweigen der alten Bilder“, in: Hans-Arthur Marsiske (Hg.), Zeitmaschine Kino, Marburg 1992, S. 94-115. Kay Hoffmann, „Neue Lufthoheit: Filme der Luftwaffe und Spanischer Bürgerkrieg“, in: Peter Zimmermann (Hg.), Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland, Bd. 3: „Drittes Reich“, 1933-1945, Stuttgart 2005, S. 605-614. Conrad Kent, „What the Condor Saw. Nazi Propaganda Images of the Spanish Civil War“, in: Conrad Kent, Thomas K. Wolber und Cameron M. K. Hewitt (Hgg.), The Lion and the Eagle. Interdisciplinary Essays on German-Spanish Relations over the Centuries, New York/Oxford 2000, S. 325-359. Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Wiesbaden 32004. Manuel Nicolás Meseguer, „Der Spanische Bürgerkrieg in den Kinos des Dritten Reichs“, in: Wolfgang Martin Hamdorf und Clara López Rubio (Hgg.), Fliegerträume und spanische Erde. Der Spanische Bürgerkrieg im Film, Marburg 2010, S. 93-113. George L. Mosse, Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993. Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2002. Peter Nau, „Spanischer Bürgerkrieg und Film“, in: Filmkritik 18/10, 1974, S. 441-488. Gerhard Paul, Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn u.a. 2004. Helmut Regel, „Han pasado – Sie sind durchgekommen. Der Spanische Bürgerkrieg im NS-Kino“, in: Friedrich P. Kahlenberg (Hg.), Aus der Arbeit der Archive. Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und zur Geschichte (Festschrift für Hans Booms), Boppard 1989, S. 539551. Stefanie Schüler-Springorum, Krieg und Fliegen. Die Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg, Paderborn u.a. 2010. Paul Virilio, Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung, München 1986. Robert H. Whealey, Hitler and Spain. The Nazi Role in the Spanish Civil War 1936-1939, Lexington, Ky. 1989.

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ABBILDUNG Abb. 1: L’Illustrazione italiana: rivista settimanale degli avvenimenti e per so naggi contemporanei, sopra la storia del giorno, la vita pubblica e sociale. Ausgabe vom 29. November 1936.

Ansichten der Notwendigkeit Ereignisse in der Pressefotografie der DDR J ÖRG P ROBST

D IE W ENDE

UND DER

„ ICONIC

TURN “

Wie der Marxismus-Leninismus die Ideengeschichte des Bildes prägte, ist in der Forschung bislang kaum gefragt worden. Auch oder gerade in den vergangenen zwanzig Jahren nach dem Mauerfall war für Probleme dieser Art nur sehr vereinzelt Platz.1 Fehlte der nötige historische Abstand, um in den politisch sensiblen, stets existentielle Fragen der Identität berührenden Debatten der deutschen Wiedervereinigung subtile Fragen dieser Art an den Kalten Krieg zu richten? Bedarf es überhaupt dieser Abstände und des Pathos der Distanz, um sich politischen Phänomenen und aktuellen Ereignissen als Historiker wissenschaftlich stellen zu können? Das vorläufige Ausbleiben des Interesses am politischen Bild nach 1990 ist wissenschaftsgeschichtlich aus mehrerer Hinsicht interessant und wirft ein Licht auf die asynchron verlaufende Entwicklung von Bildpraktiken, Bildpolitiken und Forschungsparadigmen. Der deutsche Einigungsprozess ist ohne Bilderstreit wohl kaum vorstellbar. In dessen Verlauf haben die zeitgleich sich entwickelnden Bildwis-

1

Vgl. Bredekamp 1997.

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senschaften jedoch nur eine beiläufige oder gar keine Rolle gespielt.2 Die Erinnerung an berühmt-berüchtigte, die ersten Rückblicke auf die DDR bestimmende Kunstausstellungen z.B. über so genannte „Auftragskunst“ ist auch eine Erinnerung daran, dass der Mitte der 1990er Jahre in Deutschland beginnende „iconic turn“ seinerzeit politisch weitgehend wirkungslos war oder zumindest dort als Korrektiv versagte, wo er besonders nötig gewesen wäre.3 Wenn es in der Nachwendezeit um die Bildgeschichte der DDR ging, wurden zumeist Streitfälle der Ästhetik daraus.4 Bildwissenschaftliche Fragen danach, was überhaupt ein Bild sei, versagte sich der „iconic turn“ zunächst, wenn es um die Bildgeschichte der DDR ging. Wäre zusammengewachsen, was zusammengehört, wenn sich die Bildwissenschaft von Anfang an für politische Bilder interessiert hätte? Vermutlich würde der Prozess der deutschen Einheit anders verlaufen sein, wenn der Bilderstreit der Nachwendezeit sich den Ideen des „iconic turn“ und der Ikonologie früher geöffnet haben würde. Vor allem aber wären wohl bestimmte, selbst zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer noch immer anhaltende Debatten um die inzwischen geisterhafte „Identität des Ostdeutschen“ längst abgeschlossen. Derartige Diskussionen verselbständigten sich auch deshalb – oder wurden gar erst dadurch erzeugt –, dass man den Bildern aus der DDR historisch wertend und als repräsentativen „Zeitzeugnissen“ begegnete. Mit dieser politischen Aufarbeitung einher ging eine Rezeptionsästhetik, die notwendig eher die mit der Bildgeschichte verbundenen Erinnerungen wecken musste, als dass über die in den Bildern selbst verborgenen Energien und Daten geredet worden wäre. Wenn einer rezeptionsästhetischen Wendung folgend der Betrachter immer schon im Bild ist, dann wurden in den 1990er Jahren die tückischen politischen Fallen der Rezeptionsästhetik deutlich, mit der sich historische Wahrnehmungsweisen und die damit verbundenen Identitäten und Persönlichkeitsprofile immer nur renovieren und verlängern lassen, eine medienspezifische Ikonologie aber nicht möglich ist.

2

So fehlt in dem für den „iconic turn“ maßgeblichen, theoretische Grundlagen der Bildforschung vereinenden Sammelband Was ist ein Bild? von Gottfried Boehm die Position der politischen Ikonographie. Vgl. Boehm 1994.

3

Vgl. Vorsteher 1997.

4

Vgl. Bothe 1999.

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E INE I DEENGESCHICHTE DES E REIGNISSES : D AS Z EITUNGSAUSSCHNITTARCHIV DES SED-Z ENTRALORGANS „N EUES D EUTSCHLAND “ Zu den Pointen dieser unvollständigen oder verzögerten Überwindung der Ästhetik durch die Bildwissenschaft in den 1990er Jahren gehört auch das Schicksal des Zeitungsausschnittarchivs des Neuen Deutschland, des Sprachrohrs der SED-Parteiführung und Staatsorgans der DDR. Die politische Ikonologie hat von dieser Sammlung bisher noch keine Kenntnis genommen – zu Unrecht, denn die noch heute in nur sehr beschränktem Umfang existierende Tageszeitung ist in ihrer Bedeutung für die Geschichte und für die politische Repräsentation in der DDR gar nicht zu überschätzen. Die vormalige millionenfache Auflagenhöhe des Neuen Deutschland, das flächendeckend massenhaft verbreitet und wie die Bild-Zeitung sogar in regional angepassten Ausgaben erschien, lässt vielleicht keine Rückschlüsse darauf zu, ob dieses Blatt mit seinen zahllosen langatmigen Verlautbarungen, Communiqués und Parteitagsbeschlüssen auch wirklich massenhaft gelesen wurde. Schon aus diesem Grund würde eine rezeptionsästhetische Deutung der Texte und Bilder des Neuen Deutschland scheitern. Mit oder ohne Leser stellt diese Parteizeitung mit allen ihren Zumutungen in Form und Inhalt – von den Leitartikeln bis hin zum Layout – jedoch die DDR so dar, wie sie die Führung der DDR sehen wollte.5 Dass mit diesem Anspruch einer Selbstdarstellung von dem Parteiorgan Neues Deutschland Informationspolitik betrieben wurde, beweist nichts so sehr wie die Tatsache, dass die Zeitung ihre eigenen, aus heutiger Sicht belanglosen und ideologisch durchsichtigen Meldungen noch einmal gesondert und thematisch geordnet in Zeitungsausschnitten sammelte. Zeitungsausschnittarchive wurden und werden von vielen Institutionen geführt, um über ihr Image in der Presse im Bild zu bleiben.6 Dass hingegen eine Tageszeitung Redakteure damit be-

5

Die Bestände befinden sich derzeit in der Obhut des Berlin-Brandenburgischen Bildungswerkes BBB e.V., einem ohne wissenschaftliche Betreuung arbeitenden arbeitsmarktpolitischen Beschäftigungsträger. Ich teile im Folgenden eigenen Erfahrungen bei der Erschließung dieser Archivalien mit.

6

Vgl. te Heesen 2006.

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schäftigt, die eben erst redigierte und freigegebene Nummer wieder auseinanderzunehmen, aus der druckfrischen Ausgabe Artikel für Artikel auszuschneiden und nach Themen geordnet chronologisch vergleichend in einem speziellen Archiv zu horten, scheint ein Sonderfall zu sein.7 Das Neue Deutschland hat diese Selbsthistorisierung und Selbstkontrolle seit seiner Gründung im Jahre 1946 betrieben und bis 1992 fortgesetzt. In diesen vierzig Jahren wuchs das als eine Art doppelte Buchführung zu verstehende Zeitungsausschnittarchiv des Neuen Deutschland auf ca. 20.000 schwere Aktenordner an. Dieser monumentale Bestand enthält nicht nur Artikel aus dem Neuen Deutschland, sondern auch Beiträge hunderter weiterer Zeitungen und Zeitschriften des In- und Auslandes. Die Sammlung zeigt demnach auch, wie unterschiedlich die sozialistische Presse und die Medien des sogenannten ‚Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebietes‘, d.h. des Westens und hier vorrangig der Bundesrepublik, über nationale und internationale Ereignisse informierten, wie gegensätzlich diese Geschehnisse in Ost und West interpretiert und kommentiert wurden, welche Augenblicke auf welcher Seite überhaupt als Ereignisse angesehen wurden und nicht zuletzt, wie die Medien selbst sich die Bälle zuspielten, als Medien wechselseitig aufeinander reagierten und die Berichterstattung des ‚Gegners‘ zum Thema machten. Auch Monographien über die geistespolitische ‚Lage‘ jenseits des ‚Eisernen Vorhangs‘ basierten auf diesem Prinzip der Zeitungsausschnittsammlung.8 Diese systematische ‚Feindbeobachtung‘, darin der bekannten agitatorischen, das ‚West-Fernsehen‘ kommentierenden DDR-Fernsehsendung Der Schwarze Kanal von Karl Eduard von Schnitzler ähnlich, wurde auf westlicher Seite meines Wissens nach ebenfalls nur von staatlichen Organisationen geleistet.9 Im Archiv des West-Berliner Tagespiegel beispielsweise ist eine solche Zeitungsausschnittsammlung als grenzüberschreitende Diskursanalyse nicht zu finden.10 Das Zeitungsausschnittarchiv des Neuen

7

Das ebenfalls vom BBB e.V. verwahrte und zeitgleich mit den Beständen des Ost-Berliner Neuen Deutschland entstandene Archiv des West-Berliner Tagesspiegel arbeitete mit einem Karteikarten-System, das auf die nach Jahrgängen gebundenen Zeitungsausgaben verwies.

8

Vgl. Nationalrat der Nationalen Front des Demokratischen Deutschland 1965.

9

Vgl. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen 1954-64.

10 Auch diese Sammlung befindet sich seit Kurzem im Besitz des BBB e.V.

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Deutschland enthält daher in einer seltenen, vielleicht einmaligen Bündelung eigener und fremder Pressemeldungen aus dem In- und Ausland eine Geschichte und Ideengeschichte des Ereignisses zwischen 1945 und 1989. Diese Sammlung bildet damit auch jene für das 20. Jahrhundert typischen, virtuellen Auseinandersetzungen ab, die mit Carl Schmitt als „Ideenkampf“11 zu apostrophieren wären und im Zeitungsausschnittarchiv des Neuen Deutschland für die Massenmedien im Kalten Krieg in hoher Auflösung erforschbar sind. Dass es sich mit der Zeitungsausschnittsammlung des Neuen Deutschland nicht nur um die Selbsthistorisierung eines bestimmten Mediums, sondern auch um eine Art Biographie oder Selbstbeschreibung der DDR handelt, ist in Bezug auf die in diesen Aktenordnern zu findenden Pressefotografien mehr als ein bloßes Wortspiel. Nach Motiven und Ereignissen chronologisch geordnet, erlaubt dieses Archiv auch die Erforschung des wörtlich zu nehmenden ‚Schaukampfes‘, den sich Ost und West im Widerstreit der Ideologien und gesellschaftlichen Systeme lieferten. Der Kalte Krieg war ein Bilderstreit, in dem es um ‚Weltbilder‘ und ‚Weltanschauungen‘ im Wortsinn ging. Die Geschichte der Pressefotografie bildet diese politischen Imagekampagnen in besonders eindrucksvoller Weise ab. Sie sind im Zeitungsausschnittarchiv des Neuen Deutschland auch losgelöst von den dazugehörigen Artikeln und Meldungen mit Gewinn zu verfolgen. Im Bezug auf das Selbstbild der DDR ermöglicht diese Bildgeschichte eine Vertiefung der oft, vielleicht zu oft geführten Debatten um ‚Auftragskunst‘, ‚sozialistischen Realismus‘ und die Ästhetik der DDR-Malerei. Schärfer noch als diese Konstruktionen der Kulturpolitik offenbaren die Pressefotografien der DDR eine politische Geschichte dieses Staates, weil sich mit der Fotografie immer auch die Autorität des Dokumentarischen verband, die es politisch anders zu steuern und zu begründen galt als die Ästhetik der schönen Künste. Mit den ideologischen Begründungen des Fotografischen in der DDR müssen sich von daher über das Ästhetische hinausgehende, grundsätzlichere ‚weltanschauliche‘ Aspekte des Sehens und der Wahrnehmung verbunden haben. Aus dieser Sicht stellen Auffälligkeiten und visuelle Charakteristika der Pressefotografien im Zeitungsausschnittarchiv des Neuen Deutschland mehr als nur den Ausdruck einer bestimmten, politisch gewollten Fotoästhetik oder gar einer wieder besseren Wissens betrie-

11 Schmitt 1950, S. 102.

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benen „politischen PR“ dar.12 In diesen Fällen handelt es sich um die Sichtbarkeit einer Theorie des Bildes, die als bindende und vermutlich konsensfähige politische Theorie zu interpretieren ist.

F RAUENTAG Kaum etwas hat meine Kollegen und mich bei der Auswertung dieser Materialien bisher so erstaunt wie die sonderbare Reproduzierbarkeit von Momenten und Ereignissen in diesen Pressefotografien des Neuen Deutschland.13 Die Aufmerksamkeit für dieses Phänomen verdankt sich der besonderen Form, in der diese Bilder in einem Archiv für Zeitungsausschnitte gesammelt werden können. Chronologisch und thematisch geordnet, finden sich in den Einzelordnern nicht nur Bilder zu ähnlichen Themen, sondern auch fotografische Dokumentationen wiederkehrender Ereignisse. Die auf diese Weise entstandenen Bild-Chronologien feststehender Feiertage in der DDR haben Tunnelblicke auf die Geschichte der DDR in kleinen Zeitraffer-Filmen entstehen lassen. Ohne diese Bildordnung würde uns eine für sich genommen reizlose und unauffällige Fotografie wie die Aufnahme Erich Honeckers während der Festveranstaltung zum Internationalen Frauentag am 8. März 1980 nicht ins Auge gefallen sein (Abb. 1). Das stark gestreckte Querformat hält den Moment der Ansprache Honeckers an die Ehrengäste fest. Das Bild zeigt den feierlichen Höhepunkt der Zeremonie, die jedes Jahr im Gebäude des ZK der SED am heutigen Schloßplatz in Berlin für verdiente und politisch zuverlässige arbeitstätige Frauen aus der gesamten DDR veranstaltet wurde. Honecker steht nicht an der Spitze, sondern wie bei einer frühneuzeitlichen Abendmahlsdarstellung in der Mitte einer langen Tafel, links und rechts von ihm haben weitere Vertreter der Partei- und Staatsführung wie Horst Sindermann und Willi Stoph Platz genommen. Die Damen an ihrer Seite sind Funktionärinnen, denen an diesem Tag eine Auszeichnung zu Teil wird und die daher in nächster Nähe zur Macht sitzen dürfen. Unmittelbar nach Honeckers Ansprache, dem sogenannten ‚Toast‘, wird sich eine dieser Damen erheben und in einer vorbereiteten Rede dem Staatsratsvorsitzenden für die Aus-

12 Fiedler/Meyen 2011. 13 Vgl. Probst 2011.

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zeichnungen und die Feier danken sowie einige anerkennende Worte über die politischen und sozialen Errungenschaften der DDR sprechen. Die Fotografie deutet auch einiges über das weitere Programm der Festveranstaltung an. Im Hintergrund ist eine Tribüne zu sehen, auf der ein größeres Orchester auf seinen Einsatz wartet. Über allem wacht eine überlebensgroße Plastik des sowjetischen Revolutionsführers Wladimir Iljitsch Lenin.

Abb. 1a: Erich Honeckers Rede zum Frauentag am 8. März 1980.

Abb. 1b: Erich Honeckers Rede zum Frauentag am 8. März 1981.

Abb. 1c: Erich Honeckers Rede zum Frauentag am 8. März 1982.

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Abb. 1d: Erich Honeckers Rede zum Frauentag am 8. März 1983.

Diesem Foto aus dem Ordner „Frauen/Frauentag“ im Zeitungsausschnittarchiv des Neuen Deutschland ist ein Bild von der Festveranstaltung zum Frauentag am 8. März 1981 nachgeordnet, das der Dokumentation der Frauentagsfeier am 8. März 1980 sehr ähnlich sieht. Die Bilder kommen sich so nahe, dass man zunächst an eine Bildsequenz glaubt, die in ein und demselben Moment aufgenommen worden ist. Auch diese Aufnahme zeigt die langgestreckte Festtafel, in deren Mitte Honecker steht und das Wort an die versammelten Ehrengäste richtet. Links und rechts von ihm sind erneut Horst Sindermann und Willi Stoph zu sehen, jeweils mit verdienten arbeitstätigen Frauen der DDR an ihrer Seite. Die Anwesenden folgen aufmerksam, fast andächtig den Ausführungen des Staatsratsvorsitzenden. Auch das Festprogramm wird wieder von einem Orchester gestaltet, einzig das etwas mehr in den Vordergrund gerückte Schlagzeug zu Füßen der Monumentalplastik Lenins lässt auf eine Erweiterung des Spektrums der musikalischen Darbietungen schließen. Weitere Fotografien vom 8. März 1982 und 1983 zeigen dasselbe Bild: die lange, von schräg links fotografierte Festtafel, in deren Mitte Erich Honecker den Toast an die anwesenden Festgäste verliest, die Sitzordnung mit den verdienten und zu dekorierenden Frauen neben Willi Stoph und Horst Sindermann, das Standbild Lenins und das wartende Orchester im Hintergrund. Alle vier Fotos wurden in einjährigem Abstand voneinander und sogar von verschiedenen Fotografen aufgenommen, und dennoch sind sich die Bilder zum Verwechseln ähnlich. Die Fotografen standen also ab 1980 immer an ein und demselben Punkt, wobei sie die Komposition voneinander übernommen haben. Der Vorgang wiederholt sich auch in den anderen Motiven dieser Bildstrecken, die jedes Jahr aus Anlass des Frauentages wäh-

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rend der Festveranstaltungen im Gebäude des ZK der SED fotografiert und am Folgetag im Neuen Deutschland in einer ganzseitigen Reportage veröffentlicht wurden.

Abb. 2a: Anstoßen zum Frauentag am 8. März 1987.

Abb. 2b: Anstoßen zum Frauentag am 8. März 1988.

Abb. 2c: Anstoßen zum Frauentag am 8. März 1989.

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Ein weiteres Bild dieser alljährlich am 9. März im Neuen Deutschland zu findenden Serie zeigt Erich Honecker beim Zuprosten im Anschluss an die Festansprachen (Abb. 2). Auch in diesem Fall haben drei verschiedene Fotografen von Jahr zu Jahr denselben Standpunkt eingenommen, um genau dieses Bild festzuhalten. Am eindrucksvollsten und auch bedrückendsten in der Gruppe dieser sich wiederholenden Fotografien ist jene Aufnahme, bei der die Kamera ihren Blick in das Publikum richtet (Abb. 3). Für die Beteiligten, die sich auf diesen Darstellungen wiedererkennen, werden die Bilder alles andere als austauschbar sein. Auch liefern Details wie das modische Chic der melancholischen Dame rechts im Vordergrund des Fotos von der Frauentagsfeier 1986 ein gewisses zeit- und kulturgeschichtliches Kolorit. Doch hier wie in den anderen über Jahre hinweg sich wiederholenden Bildern dieser Serie haben unterschiedliche Bildreporter ein und denselben Standort gewählt und ein bestimmtes Bildmuster scheinbar phantasielos und mechanisch fortgeschrieben.

Abb. 3a: Gute Unterhaltung zum Frauentag am 8. März 1982.

Abb. 3b: Gute Unterhaltung zum Frauentag am 8. März 1984.

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Abb. 3c: Gute Unterhaltung zum Frauentag am 8. März 1985.

Abb. 3d: Gute Unterhaltung zum Frauentag am 8. März 1986.

Bildfolgen dieser Art ergeben sich durch die thematische und chronologische Ordnung eines Zeitungsausschnittarchivs vermutlich nicht nur für den nachträglichen Betrachter, sondern können gerade wegen der schon seinerzeit als Archiv in eigener Sache genutzten Artikel- und Pressefotosammlung in Anlehnung an ein einmal bewährtes Bildmuster sehr bewusst entstanden sein. Es ist denkbar, dass der Redaktion des Neuen Deutschland die Ähnlichkeit und Gleichförmigkeit der Fotografien dieser Feiern nicht durch Unachtsamkeit oder gar Gleichgültigkeit einfach unterlaufen ist, sondern dass es sich bei diesen sich wiederholenden Bildmustern gerade um eine spezifische Form der Ehrung gehandelt hat. Den Feiern zum Frauentag würde aus dieser Sicht durch die formale Strenge der Fotografien eine ähnliche Feierlichkeit und politisch repräsentative Bedeutung beigemessen worden sein, wie es in der Presseberichterstattung in der Regel nur bei Dokumentationen von Staatsempfängen und ihres Protokolls zu beobachten

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ist. Eine Doppelseite aus dem Neuen Deutschland vom 7. Oktober 1989 anlässlich des 40. Jahrestages der Gründung der DDR gibt von diesem Dekorum der für bedeutende politische Ereignisse protokollarisch geforderten formalen Strenge ein anschauliches Bild (Abb. 4). Bis in das Layout hinein ist in diesem Bericht von der Begrüßung hochrangiger Staatsgäste durch Erich Honecker die Form des Formlosen befolgt worden, die Bilder verzichten auf jegliche Variation. Lediglich die Aufnahme, die Honecker mit dem rumänischen Staatspräsidenten Nicolae Ceausescu zeigt, weicht von dem durchgehenden Bildmuster ab. Eine politische Geste, die als Bruch der Konventionen der Protokollfotografie in diesem Kontext jedoch nicht gelöst und freundlich, sondern eher befremdlich und Ende 1989 vor dem Hintergrund der immer mächtiger werdenden Montagsdemonstrationen in der DDR sogar wie ein bedrohlicher Schulterschluss gegen die eigene Bevölkerung wirkt.

Abb. 4: Grüße aus aller Welt zum 40. Gründungstag der DDR am 7. Oktober 1989.

Weitere Beispiele dafür, dass die merkwürdigen Fotos der Festveranstaltungen zum Frauentag im Haus des ZK der SED in der DDR weniger als Zeichen der Gleichgültigkeit, sondern gerade als fotografische Aufmerksamkeit und gezielter bildlicher Ausdruck der Feierlichkeit gedeutet werden könnten, wären Aufnahmen von so genannten Arbeitsbesuchen ausländi-

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scher Delegationen. Auch diese Bilder finden sich in gesonderten Ordnern im Zeitungsausschnittarchiv des Neuen Deutschland, sie sind in dieser gerafften Form wie eine Art Daumenkino einsehbar und lassen in ihrer Gleichförmigkeit den Betrachter nicht los. Ähnlich wie auf den Bildern vom 8. März haben auch bei diesen Gelegenheiten unterschiedliche Fotografen stets denselben Standpunkt gesucht, um das immer gleiche Bild zu schießen, wenn der Staatsgast, hier die westdeutschen Politiker HansJochen Vogel, Wolfgang Mischnick, Helmut Schmidt und Martin Bangemann in den 1980er Jahren, mit Erich Honecker zusammen in der Sitzgruppe vor der charakteristischen hölzernen getäfelten Wand Platz genommen hat. Im September 1983 und im Juni 1988 wurde der Bundesgeschäftsführer der SPD, Peter Glotz, im Haus des Zentralkomitees der SED in OstBerlin willkommen geheißen. Die Fotos wirken so austauschbar, als hätte es nur einen Besuch gegeben. Am selben Ort mit dem charakteristischen Bücherregal im Hintergrund wurde im Mai 1986 und im Juni 1988 Kurt Biedenkopf empfangen. Auch beim Betrachten dieser beiden Fotos entsteht der Eindruck, als wäre in der DDR die Zeit stehen geblieben. Beim genaueren Bildvergleich der beiden Fotografien vermittelt lediglich das grauer werdende Haar des westdeutschen Politikers einen Eindruck von Zeit und Vergänglichkeit. Während des mehrtätigen Besuches von Bundeskanzler Helmut Schmidt im Winter 1981 in der DDR gab es in der ost- und westdeutschen Presse eine sehr ausgedehnte Bildberichterstattung. Doch nicht einmal dieser Paragone mit namhaften, sogar protokollarische Akte mit Phantasie behandelnden westlichen Fotografen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und des Stern verleitete das Neue Deutschland dazu, ästhetisch anspruchsvollere Fotografien zu schalten und von der ‚Linie‘ ihrer Bildmuster abzuweichen.14 Selbst oder gerade diese hochoffiziellen und für das Prestige der DDR in der Welt besonderes wichtigen Staatsbesuche sind mit feierlicher Strenge festgehalten worden. So wurden Schmidt und Honecker an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in ähnlicher Situation aufgenommen, doch die Bilder sind, wenn nicht kleine Differenzen in der Kleidung bestünden, auch als Filmsequenz eines einzigen Moments zu lesen (Abb. 5). Typisch sind auch die Bilder, die bei Besuchen ausländischer Staatsgäste an der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor geschossen worden sind (Abb. 6). An diesem Ort bewegten sich die Fotografen des Neuen

14 Derix 2009.

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Deutschland erst recht nicht frei, sondern nahmen ein und denselben Standpunkt ein, um die Delegation auf der Besuchertribüne wieder und wieder in das richtige Bild zu bringen. Die vorherige Festlegung des Kamerastandortes wird den Grenzsoldaten die Überwachung der Reporter und ihrer Bewegungen an diesem politisch so sensiblen Ort gewiss erleichtert haben.

Abb. 5a: Helmut Schmidt und Erich Honecker 1981.

Abb. 5b: Helmut Schmidt und Erich Honecker 1981.

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Abb. 6a: Staatsgäste an der Berliner Mauer, 1978.

Abb. 6b: Staatsgäste an der Berliner Mauer, 1981.

Abb. 6c: Staatsgäste an der Berliner Mauer, 1982.

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E INSICHT

IN DIE

N OTWENDIGKEIT

Bildvergleiche dieser protokollarischen Ereignisfotografien des „Neuen Deutschland“ mit den Dokumentationen der offiziellen Festlichkeiten zum Frauentag in Ost-Berlin können eine bestimmte Wertigkeit verdeutlichen, die das Staatsorgan der DDR diesen Momenten durch formale Strenge optisch verleihen wollte. Im internationalen Vergleich ist es aber gerade dieses Bestreben befremdend und verwundernd, eine außenpolitisch weitgehend bedeutungslose Veranstaltung mit protokollarischer Disziplin abzulichten. Festlichkeiten wie der Frauentag würden durchaus ungezwungene Schnappschüsse und humorvolle Impressionen rechtfertigen. Umgekehrt kann die Verbissenheit und Austauschbarkeit dieser Bildserien den Redakteuren des Neuen Deutschland bei der Durchsicht ihrer Zeitungsausschnittsammlung aber nicht verborgen geblieben sein. Diese selbst auf interne, nur in der DDR beachtete Feierlichkeiten übergreifende „Ordnung der Sichtbarkeit“15 lässt nach ideologischen und vielleicht sogar bild- und wissenstheoretischen Grundlagen jener nicht zufälligen, als Bildstrategie zu bezeichnenden Uniformität der Pressefotografie im Neuen Deutschland als dem offiziellen parteipolitischen Medium und Staatsorgan der DDR fragen. Die fragwürdige, aber politisch offenbar repräsentative Langeweile legitimiert den Blick in bedeutende fototheoretische Texte der DDR. Diese hängen zwar mit der Bildberichterstattung des Neuen Deutschland nicht ausdrücklich zusammen, belegen aber eine bestimmte Begrifflichkeit und Ideengeschichte der Normierung und Typisierung in der Pressefotografie der DDR. Die Texte stammen nicht einmal aus den 1980er Jahren, können in ihrer theoretischen Prägnanz und vor allem aufgrund ihres Umgangs mit den Werken der sogenannten ‚Klassiker‘ Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin aber als Bedingung der Möglichkeit für die scheinbare Blindheit der Redakteure und Fotojournalisten im Umgang mit Momenten und Augenblicken gelten. „Wir wollen diesen ‚einen Augenblick‘ richtig, d.h. dialektisch-materialistisch verstehen“, heißt es in einem dieser Texte des in Bezug auf die offizielle Pressefotografie der DDR wissenschaftsgeschichtlich noch nicht

15 Geimer 2002.

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thematisierten Fototheoretikers Berthold Beiler.16 „Es ist nicht das Einmalund-nie-wieder, in dem eine außerirdische Idee das Geschöpf verklärt,“ führt Beiler an dieser Stelle in seinem 1967 erschienenen Buch Die Gewalt des Augenblicks über den fotografischen Moment weiter aus, „sondern das sich ständig wiederholende, allerdings immer neue und immer andere Variationen findende Hervortreten des Wesens der Dinge in ihren Erscheinungen.“17 Die Passage kehrt das bekannte Diktum von Walter Benjamin über die negative, die ästhetische Substanz eines Ereignisses beschädigende Wirkung der technischen Reproduzierbarkeit auf frappierende Weise um. Ging Benjamin zufolge durch Reproduktion einem Ereignis seine Substanz verloren, war für den nicht weniger marxistisch orientierten Beiler nur das Gesetzmäßige und Wiederholbare ein Ereignis.18 „Überhaupt ist es mit der künstlerischen Freiheit ein eigen Ding“, erläutert Beiler an anderer Stelle seine Auffassung des dialektischen Bildes weiter. Mit Bezug auf den Fotografen führt er aus: Seine Freiheit ist nicht der Aufruhr gegen solche Bindungen, sondern die Einsicht in die Notwendigkeit und die damit bewusste Anwendung der Gesetze seiner Kunstgattung. […] Seine Freiheit ist die Einsicht in die großen Möglichkeiten dieser Gebundenheit, die Einsicht in die Gewalt des Augenblicks.19

Vor allem diese Passage macht deutlich, dass Beiler den von bedeutenden Bildjournalisten wie Henri Cartier-Bresson oder Erich Salomon als „fruchtbaren Augenblick“ begriffenen fotografischen Moment zu entzaubern bemüht war. Die Aversion hat dabei – für das innere Verhältnis von Bild- und Ideengeschichte im 20. Jahrhundert ein Schulbeispiel – nicht primär künstlerisch-ästhetische Gründe. Aus einem grundsätzlich differierenden Begriff der Freiheit heraus war Beiler die ungezwungen anarchische, zu Überraschungen und Offenbarungen fähige und die westliche Presseästhetik kennzeichnende Momentfotografie suspekt.20

16 Gaßner 1979. Der profunde Text unterzieht die ästhetischen und epistemologischen Grundlagen der Fototheorie Beilers einer umfassenden Kritik. 17 Beiler 1967, S. 57. 18 Vgl. Probst 2011. 19 Beiler 1967, S. 87. 20 Vgl. von Dewitz 2001.

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Was Beiler als „Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit“ vertrat, wiederholte zudem Grundlagen des Marxismus-Leninismus – Bezüge, die diese Bildtheorie als politische Theorie erscheinen lassen. In keinem anderen Text Beilers wird dieser Zusammenhang von Form und Inhalt, ja von Form als Inhalt deutlicher als in seinem frühen, weitgehend vergessenen Text über Parteilichkeit im Foto von 1957. „Die ganze menschliche Gesellschaft lässt keinen Zweifel daran, dass der Sozialismus die kommende Gesellschaftsordnung ist,“ führt Beiler in dieser als Folge von Briefen an eine Frau konzipierten Schrift aus. Wir haben also gar keine ‚freie‘ Wahl für oder gegen ihn. Denn gegen ihn, hieße gegen eine Notwendigkeit anrennen, hieße Unmögliches wollen und wäre damit nur Dummheit. Unsere Freiheit liegt vielmehr in der Einsicht in die Notwendigkeit und damit in der Parteinahme für den Sozialismus. Schon in Goethes Wort ‚… und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben‘ wird gesagt, dass man nur dann frei ist, wenn man sich auf die Seite der historischen Gesetzmäßigkeit stellt.21

Diese Argumentation setzte sich, wie die Bildgeschichte des Neuen Deutschland belegt, auch dann noch fort, als in der DDR längst vom „real existierenden Sozialismus“ gesprochen wurde.22 In Anbetracht der unüberwindlichen und den Mauerfall schon vorwegnehmenden Schuldenkrise der DDR in den 1980er Jahren war die historische Gesetzmäßigkeit des Sozialismus jedoch vollends von Bildstrategien abhängig geworden und konnte durch die normierten Pressebilder im Neuen Deutschland schließlich nur noch simuliert werden.

B ILDGESCHICHTE

ALS I DEENFORSCHUNG

Beilers Text über Freiheit als Notwendigkeit zitierte keineswegs randständige Quellen. Die an Hegel anschließende begriffliche Bestimmung entstammt interdisziplinär wirksamen Schriften des Marxismus-Leninismus wie Friedrich Engels’ Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaften (1878) oder Lenins Materialismus und Empiriokritizismus (1904). Die

21 Beiler 1959, S. 16. 22 Bahro 1977.

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hier ausgetragenen ideologischen Auseinandersetzungen mit den Naturwissenschaften, der Psychologie und Physiologie der Wahrnehmung und den Theorien des Sehens waren für die politisch maßgeblichen kunst- und bildtheoretischen Diskussionen über Realismus als ‚Widerspiegelung‘ grundlegend. Aus dieser Sichtweise leitete sich auch die wörtlich zu nehmende Frage nach dem ‚Weltbild‘ und der so genannten ‚wissenschaftlichen Weltanschauung‘ der DDR ab.23 Typisierungen und Normierungen in der Pressefotografie der DDR sind daher als bildgeschichtlich weiterführende Phänomene einer für die DDR charakteristischen und von Beiler auf die Fototheorie angewandte Idee der Freiheit als „Einsicht in die Notwendigkeit“ anzusehen. Insofern es sich mit dieser bildgeschichtlich relevanten Ideengeschichte der Freiheit auch um eine Ideengeschichte des Ereignisses und des Momentes handelt, deutet sich in der Pressefotografie der DDR eine ebenso interessante wie problematische Domestizierung des Augensinns an. In ihrer Bildrhetorik bestätigen Fotostrecken z.B. über die Festlichkeiten zum Frauentag, was André Glucksmann über die Sinnlichkeit als das erste Opfer totalitärer Regimes 1974 formuliert hatte. „Damit das Auge weder sieht, noch spricht, muss die Rede gegen den Blick eingesetzt, müssen die Ohren mit den Glockentönen des großen Morgen taub gemacht werden. Kritik,“ so Glucksmann in seinem Text über die Bedrohung der Sinnlichkeit, des Selbstsehens und damit auch des fruchtbaren Augenblicks in Diktaturen weiter, „bleibt im Schlund stecken, die Lippen bleiben verschlossen, die Hände verkrampft: Die fünf Sinne zerstören, von Sinnen machen, auf das einzig und allein die offizielle wissenschaftliche Sprache bestehen bleibe.“24 Die Annäherung, die das Zeitungsausschnittsarchiv des Neuen Deutschland an diese Ideengeschichte des Bildes als einer Art Schicksals des Sehens in der DDR erlaubt, hat Kollegen und mich dazu veranlasst, vor einigen Jahren das Archiv für Bildgeschichte und Informationspolitik ABI zu gründen. Die Arbeit möchte an die bisherigen Ergebnisse der mediengeschichtlichen Aufarbeitung der deutsch-deutschen Fotogeschichte durch eine dezidiert ikonologische Recherche anschließen.25 Das Archiv erforscht

23 Vgl. Kirchhoff 1978, Vogel 1979. 24 Glucksmann 1976, S. 133. 25 Vgl. Hartewig/Lüdtke 2004; Hartewig 2010.

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systematisch die im Zeitungsausschnittarchiv des Neuen Deutschland enthaltenen Bildbeständen, hat dazu einen Thesaurus entwickelt und eine Datenbank aufgebaut, deren Sammlung täglich wächst und die derzeit ca. 2000 Bilder in ikonologischer Verschlagwortung für die kunst- und bildgeschichtliche Forschung bereithält. Die immer auch politische Ideengeschichte des Ereignisses kann in dieser Sammlung in ihren Abweichungen und Normierungen exemplarisch nachvollzogen werden.

L ITERATUR Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Frankfurt/M. 1977. Horst Bredekamp, „Die kunsthistorische Metaphorik der politischen Ökonomie“, in: Berliner Debatte. Zeitschrift für sozialwissenschaftlichen Diskurs 1/2, 1997, S. 24-33. Berthold Beiler, Parteilichkeit im Foto, Leipzig 1959. Berthold Beiler, Die Gewalt des Augenblicks. Gedanken zur Ästhetik der Fotografie, Leipzig 1967. Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, München 1994. Rolf Bothe (Hg.), Aufstieg und Fall der Moderne, Kat. Weimar, OstfildernRuit 1999. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hg.), Pressespiegel der Sowjetzone. Aus Zeitungen und Zeitschriften hinter dem Eisernen Vorhang, Bonn 1954-64. Simone Derix, Bebilderte Politik. Staatsbesuche in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1990, Göttingen 2009. Bodo von Dewitz, Kiosk. Eine Geschichte der Fotoreportage 1839-1873, Göttingen 2001. Anke Fiedler und Michael Meyen (Hgg.), Fiktionen für das Volk. DDRZeitungen als PR-Instrument. Fallstudien zu den Zentralorganen Neues Deutschland, Junge Welt, Neue Zeit und Der Morgen, Münster 2011. Hubertus Gaßner, „Fotoästhetik und Fotopraxis in der DDR“, in: Wolfgang Kunde und Lienhard Wawrzyn (Hgg.), Eingreifende Fotografie. Geschichte, Theorie, Projekte, Berlin 1979, S. 90-125. Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/M. 2002.

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André Glucksmann, Köchin und Menschenfresser. Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager, Berlin 1976. Karin Hartewig, Wir sind im Bilde. Eine Geschichte der Deutschen in Fotos vom Kriegsende bis zur Entspannungspolitik, Bonn 2010. Karin Hartewig und Alf Lüdtke (Hgg.), Die DDR im Bild. Zum Gebrauch der Fotografie im anderen deutschen Staat, Göttingen 2004. Anke te Heesen, Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne, Frankfurt/M. 2006. Rolf Kirchhoff (Hg.), 100 Jahre ‚Anti-Dühring‘. Marxismus, Weltanschauung, Wissenschaft, Berlin 1978. Nationalrat der Nationalen Front des Demokratischen Deutschland (Hg.), Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik, Berlin 1965. Jörg Probst, „Reproduktion als Ereignis. Pressefotografie in der DDR“, in: ders. (Hg.), Reproduktion. Techniken und Ideen von der Antike bis heute, Berlin 2011, S. 230-243. Carl Schmitt, Donoso Cortés in gesamteuropäischer Interpretation. Vier Aufsätze, Köln 1950. Heinrich Vogel (Hg.), Zum marxistischen Naturbegriff. 100 Jahre ‚AntiDühring‘, Rostock 1979. Dieter Vorsteher (Hg.), Parteiauftrag: Ein neues Deutschland. Bilder, Rituale und Symbole der frühen DDR, Kat. Berlin, München 1997.

ABBILDUNGEN Abb. 1a: Erich Honecker bei der Festveranstaltung zum Internationalen Frauentag im Staatsratsgebäude der DDR, 8. März 1980, aus: Neues Deutschland, 9. März 1980, S. 3, Fotografie: Gerhard Murza. Abb. 1b: Erich Honecker bei der Festveranstaltung zum Internationalen Frauentag im Staatsratsgebäude der DDR, 8.März 1981, aus: Neues Deutschland, 9. März 1981, S. 3, Fotografie: Burkhard Lange. Abb. 1c: Erich Honecker bei der Festveranstaltung zum Internationalen Frauentag im Staatsratsgebäude der DDR, 8. März 1982, aus: Neues Deutschland, 9. März 1982, Titelseite, Fotografie: Burkhard Lange. Abb. 1d: Erich Honecker bei der Festveranstaltung zum Internationalen Frauentag im Staatsratsgebäude der DDR, 8. März 1983, aus: Neues Deutschland, 9. März 1983, S. 3, Fotografie: Axel Lenke.

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Abb. 2a: Erich Honecker und Renate Wagner bei der Festveranstaltung zum Internationalen Frauentag im Staatsratsgebäude der DDR am 8. März 1987, aus: Neues Deutschland, 9. März 1987, S. 3, Fotografie: Herbert Mittelstädt. Abb. 2b: Erich Honecker und Monika Drevs bei der Festveranstaltung zum Internationalen Frauentag im Staatsratsgebäude der DDR am 8. März 1988, aus: Neues Deutschland, 9. März 1988, S. 3, Fotografie: Gerhard Murza. Abb. 2c: Erich Honecker und Karin Möbus bei der Festveranstaltung zum Internationalen Frauentag im Staatsratsgebäude der DDR am 8. März 1989, aus: Neues Deutschland, 9. März 1989, S. 3, Fotografie: Gerhard Murza. Abb. 3a: Gäste der Festveranstaltung zum Internationalen Frauentag im Staatsratsgebäude der DDR am 8. März 1982, aus: Neues Deutschland, 9. März 1982, S. 3, Fotografie: Burkhard Lange. Abb. 3b: Gäste der Festveranstaltung zum Internationalen Frauentag im Staatsratsgebäude der DDR am 8. März 1984, aus: Neues Deutschland, 9. März 1984, S. 3, Fotografie: ungenannt. Abb. 3c: Gäste der Festveranstaltung zum Internationalen Frauentag im Staatsratsgebäude der DDR am 8. März 1985, aus: Neues Deutschland, 9. März 1985, S. 3, Fotograf ungenannt. Abb. 3d: Gäste der Festveranstaltung zum Internationalen Frauentag im Staatsratsgebäude der DDR am 8. März 1986, aus: Neues Deutschland, 9. März 1986, S. 3, Fotograf ungenannt. Abb. 4: Grüße aus aller Welt zum Nationalfeiertag, aus: Neues Deutschland, 7. Oktober 1989, S. 4-5, Fotografie: div. Abb. 5a: Helmut Schmidt und Erich Honecker im Gespräch, aus: Neues Deutschland, 12. Dezember 1981, S. 3, Fotografie: Gerhard Murza. Abb. 5b: Helmut Schmidt und Erich Honecker im Gespräch, aus: Neues Deutschland, 14. Dezember 1981, S. 3, Fotografie: Gerhard Murza. Abb. 6a: Staatsgäste der DDR am Brandenburger Tor, aus: Neues Deutschland, 28. November 1978, S. 3, Fotografie: Burkhard Lange. Abb. 6b: Staatsgäste der DDR am Brandenburger Tor, aus: Neues Deutschland, 15. Oktober 1981, S. 3, Fotografie: ungenannt. Abb. 6c: Staatsgäste der DDR am Brandenburger Tor, aus: Neues Deutschland, 22. Mai 1982, S. 3, Fotografie: ungenannt.

II. Aushandlungen

Die Konstruktion des ersten Menschen Das Suchen und Aufsuchen des missing link 1850-1950 E LLINOR S CHWEIGHÖFER

Der Körper des ersten Menschen ist über und über mit Haaren bedeckt. Während das ‚Fell‘ noch an den Affen erinnert, sind die Gesichtszüge menschlich, wenngleich für das Auge des betrachtenden Europäers sehr exotisch. Ein Wesen von Wildheit auf seinem Weg in die Zivilisation. Einen solchen oder ähnlichen Eindruck wird das kleine Mädchen „Krao“ auf seine zahlreichen Betrachter gemacht haben, denn sie wurde dem europäischen Publikum Ende des 19. Jahrhunderts als sogenanntes missing link, Bindeglied zwischen Tier und Mensch, präsentiert. Sie war damit Teil des weiterreichenden Versuchs, dem missing link, einem genuin theoretischen Konstrukt zur Verdeutlichung der hypothetischen menschlichen Abstammungslinie, eine auch in populärem Kontext breit vermittelbare bildliche oder sogar physische Gestalt zu verleihen. Insbesondere im Rahmen von ‚Völkerschauen‘1 wurden ‚exotische‘ Menschen in den verschiedensten Kontexten einem breiten Publikum zur Schau gestellt. Solche Veranstaltungen waren auch wissenschaftlich konnotiert und wurden besonders durch die sich in dieser Zeit konstituierenden Wissenschaften Ethnologie

1

Wie die einschlägige Forschung betont, ist dieser Begriff nicht ganz unproblematisch. Vgl. u.a. Dreesbach 2005. Zu Krao vgl. auch Durbach 2008 und Benninghof-Lühl 2000.

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und Anthropologie als Anschauungsmaterial herangezogen. Die ausgestellten Personen wurden untersucht, vermessen, abgebildet und ausgewertet. Denn die so als ‚exotisch‘ ausgewiesenen Menschen wurden zu dieser Zeit sowohl in physischer als auch in kultureller Hinsicht als Repräsentanten früherer Entwicklungsstufen der Menschheit angesehen und galten damit als Möglichkeit für „Studien am lebendigen Objekt“.2 Der 1838 geborene Kanadier William Leonard Hunt, der sich selbst Guillermo Antonio Farini nannte, war vom Ende der 1870er bis zum Ende der 1880er Jahre eine der führenden Personen im Zurschaustellungsgeschäft. In den frühen 1880er Jahren führte Farini eine seiner größten Attraktionen ein, ein kleines Mädchen namens Krao aus Südostasien, das er als missing link der Öffentlichkeit und der Wissenschaft präsentierte.3 Unter der Überschrift „The Wonders of Wonders“ wird zeitgenössisch für Krao geworben (Abb. 1): The usual argument against the Darwinian theory, that man and monkey had a common origin, has always been that no animal has hitherto been discovered in the transmission state between monkey and man. ‚Krao,‘ a perfect specimen of the step between man and monkey, discovered in Laos by that distinguished traveller, Carl Bock, will be on the Exhibition in the New Lecture Room, during the Afternoon and Evening. All should see her.4

In der Zeitschrift für Ethnologie, dem Organ der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, deren Mitglieder sich für ihre Forschungen gerne der auf ‚Völkerschauen‘ gebotenen Möglichkeiten bedienten, wurde der Fall Kraos kontrovers diskutiert.5 Einer der führenden Pathologen und Anthropologen seiner Zeit, Rudolf Virchow, notierte kritisch über Krao: „Sie als missing link im Sinne des Darwinismus zu bezeichnen, ist eitel Humbug.“6

2

Schwarz 2001, S. 14f., 114. Dreesbach 2005, S. 280, 296.

3

Vgl. Peacock 1999, S. 81-96.

4

Royal Aquarium Theatre, 31.3.1887. www.bl.uk/learning/images/bodies/ large4801.html [Zugriff am 15.1.2014].

5

Vgl. Schwarz 2001, S. 114, sowie Dreesbach 2005, S. 280.

6

Virchows Diskussionsbeitrag zu Bartels 1884, S. 111.

D IE K ONSTRUKTION DES ERSTEN M ENSCHEN | 127

Abb. 1: Krao. The missing link.

Virchow stieß mit dieser Meinung auf die Zustimmung einiger seiner Kollegen. So stellte „Hr. Bastian“7 fest, dass es sich zumindest im Falle Kraos bei der Studie am lebendigen Objekt um eine „für die strenge Forschung allzu sensationelle[n] Richtung modernster Naturwissenschaft (in Herbeiziehung des ‚missing link‘ auf die Anpreisungszettel, die an der Kasse verkauft werden)“ handle. Stattdessen gehe es dem Aussteller Kraos lediglich darum, Geld zu verdienen.8 Virchow folgte diesen Überlegungen vollständig, stellte jedoch fest, dass Krao „trotz alles Humbugs, der mit ihr getrie-

7

Vermutlich handelt es sich um den Ethnographen Adolf Bastian (1826-1905).

8

Vgl. Bastians Diskussionsbeitrag zu Bartels 1884, S. 112.

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ben werde, eine der interessantesten anthropologischen Erscheinungen“ sei, und er riet den Mitgliedern der Gesellschaft, die Gelegenheit, sich so ein seltenes Spektakel anzusehen, nicht zu verpassen.9 Vom wissenschaftlichen Standpunkt scheint das Betrachten und Untersuchen Kraos für Virchow also keinerlei Bedeutung in der Frage nach dem Ursprung und der Abstammung des Menschen gehabt zu haben. Einem Besuch ihrer Zurschaustellung rät er dennoch zu. Aus Lust an der Sensation? Oder zeigt sich hier vielmehr die enge Verschaltung und Verwebung von Wissenschaft und Populärkultur? Visuelle Verifikationsstrategien, vor allem das scheinbar objektive Abbilden des jeweiligen Studiengegenstandes, wurden spätestens mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu einem Mittelpunkt der naturwissenschaftlichen Arbeit.10 Fotografien, Abgüsse oder Zeichnungen von Fossilien dienten der wissenschaftlichen Argumentation zur Abstammung des Menschen als Grundlage. Diese sind somit genauso Teil des Diskurses um den Ursprung des Menschen wie die zahlreichen in populäreren Kontexten generierten Bilder. Davon ausgehend drängt sich die These auf, dass das konstruierte, aber auch in einer über Jahrhunderte, wenn nicht sogar Jahrtausende, zurückreichenden Tradition ‚gewachsene‘ Bild vom ersten Menschen der wissenschaftlichen (Re)Konstruktion stets vorgeschaltet ist. Das bedeutet nicht, dass die wie auch immer geartete Vorstellung von ‚Adam‘ etwa die Zurschaustellung Kraos in irgendeiner Weise beeinflusst haben muss, es heißt aber – zumindest für den hier diskutierten westlich-europäischen Wissensraum –, dass weder ein Zurschaustellender noch ein Betrachter denkbar ist, der nicht bereits zuvor etwa mit der biblischen Schöpfungsgeschichte in Berührung gekommen ist. Dies lässt sich vielleicht mit Foucaults „historischem Apriori“ fassen, einer „Realitätsbedingung für Aussagen“, welche „die Gesamtheit der Regeln [definiert], die eine diskursive Praxis charakterisieren“.11 Treffend könnten auch Flecks Begriffe „Uridee“ bzw. „Präidee“ sein, die beispielsweise die Darstellung des ersten Menschen, das heißt in dem Fall Adams, in der Bibel beschreiben. Demnach seien wissenschaftliche Erkenntnisse oftmals mit solchen Urideen verbunden, ohne dass es einen unmittelbaren Zusammenhang oder gar di-

9

Virchows Diskussionsbeitrag zu Bartels 1884, S. 113.

10 Vgl. Daston/Galison 2007, S. 127. 11 Foucault 1981, S. 184f.

D IE K ONSTRUKTION DES ERSTEN M ENSCHEN | 129

rekten Bezug geben müsse.12 Die Trias „Last der Tradition“, „Gewicht der Erziehung“ sowie „Wirkung der Reihenfolge des Erkennens“ seien zudem die für jedes „Erkennen“ ausschlaggebenden Faktorensysteme. Das führt nicht zuletzt zur Bedeutung des sozialen Moments bei der Entstehung von Erkenntnis,13 bei der vor allem die in der jeweiligen Disziplin tonangebenden Wissenschaftler ausschlaggebend sind: „Es gibt aber stilvolle Wirklichkeiten, die auf ernster, langer Arbeit großer Gruppen und großer Männer aufgebaut sind, in deren Sinn man lebt und für die man stirbt.“14 Diese ausschlaggebenden Personen sind auch bei der Frage nach dem menschlichen Ursprung einer der wichtigsten Faktoren bei der Generierung von Wissen. Wenngleich Virchow, wie vielen seiner Zeitgenossen, Objektivität in ihrer reinsten Form als eines der höchsten Ziele der wissenschaftlichen Arbeitsweise galt, war dennoch auch bei ihm und ihnen das Bewusstsein vorhanden, dass es niemals gänzlich erreicht werden könne, da die Person des Wissenschaftlers – samt seinem persönlichen und subjektiven Erfahrungshorizont – niemals ganz herauszuhalten sei.15 Nach der Jahrhundertwende finden sich immer weniger Untersuchungen in wissenschaftlichen Zeitschriften, die auf der Grundlage von Völkerschauen gemacht wurden. Ein Grund war die sich zunehmend verbreitende Auffassung, dass es für die Anthropologie und Ethnologie ausschlaggebend sei, ihre Studien im ursprünglichen geographischen Kontext vornehmen zu können, diese Wissenschaften also vor Ort praktiziert werden sollten.16 Das Aufsuchen des zu untersuchenden Gegenstandes gewann also immer mehr an Bedeutung, wie auch weiter unten noch gezeigt werden wird. Die große Aufmerksamkeit um Krao aber macht deutlich, als wie zentral die Personifikation des ‚ersten Menschen‘ in den verschiedensten Kontexten – wissenschaftlichen und populären – gelten muss. Es wird ein Ereignis konstruiert, das in seinem Charakter fast biblisch anmutet: die Schaffung des ersten Menschen. Bei der Analyse nach der Suche nach dem ‚ersten Menschen‘ seit dem 19. Jahrhundert kommt der Ereignisbegriff auf verschiedene Arten zum

12 Vgl. Fleck 1980, S. 35. 13 Vgl. Fleck 1983, S. 46f. 14 Ebd., S. 49. 15 Vgl. Daston/Galison 2007, S. 200. 16 Vgl. Dreesbach 2005, S. 302.

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Tragen. Dabei lässt sich sowohl nach dem ihm eigenen wissens- bzw. wissenschaftsgeschichtlichen Kontext als auch der Intensität seines Konstruktionscharakters unterscheiden. Als grundlegendes, wenngleich offensichtlich konstruiertes und niemals ganz fassbares Ereignis steht die ‚Menschwerdung‘ allen voran. Auf die Annäherung an dieses Ereignis sind alle weiteren Ereignisse ausgerichtet, wenngleich im Bewusstsein, es niemals ganz erreichen zu können. Auf der anderen Seite steht ein ‚reales‘ und dennoch konstruiertes Ereignis: populäre Inszenierungen, wie diejenigen, die Krao als ersten Menschen ausweisen. Eine weitere Kategorie sind ‚wissenschaftliche Ereignisse‘, die im Idealfall in der Auffindung des fossilen Nachweises der Menschwerdung bestehen würden. Wie auch die anderen ‚Ereignis-Typen‘ hat dieses dabei bipolaren Charakter. Auf der einen Seite wird es als das realste und substantiellste Ereignis angesehen, auf der anderen Seite unterliegt es einer ständigen Gefahr durch den vierten EreignisTyp, das ‚virtuelle wissenschaftliche Ereignis‘: Es besteht im stets möglichen Auftauchen von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, welche ein älteres Wissen als überholt markieren oder als Irrtum, Fehlinterpretation oder im äußersten Fall sogar als Fälschung herausstellen. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor liegt in der bedingten Planbarkeit und vor allem der Unvollständigkeit in der Kette der wissenschaftlichen ‚Fund-Ereignisse‘. All our knowledge of man’s slow progress during the immense stretch of time covering this development has been obtained during the last two generations; it is still of a sketchy and fragmentary kind, and we cannot hope that it will ever be complete; but already we know enough to indicate the rough outlines of some of the most important of the developmental stages, and as regards certain of the later stages to fill in various details.17

Mit diesen Worten fasste Theodore Roosevelt, 26. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und so eine der prominenteren Personen, die sich mit der Frage nach dem ersten Menschen beschäftigten, die Problematik 1916 in einem mit dem Titel „How old is Man?“ überschriebenen Artikel im National Geographic Magazine zusammen. Genau diese zwei Generationen füher, von denen Roosevelt spricht, erhielt der erste Mensch, wie ihn die Naturwissenschaft sah, seinen Namen: missing link. Dieser erste

17 Roosevelt 1916, S. 111.

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Mensch ist jedoch nicht nur erster Mensch, sondern gleichzeitig letzter Affe – die Übergangsform von Tier zu Mensch. Der dafür verwendete Begriff des „intermediate link“ kann unter anderem auf Darwins On the Origin of Species von 1859 zurückgeführt werden.18 Fragen, die sich mit der Verbindung zwischen Menschen und Affen sowie den Lücken in der fossilen Überlieferung beschäftigten, waren nicht neu; sie wurden schon lange verhandelt, bevor Origin of Species zum Standardwerk der Beschäftigung mit der menschlichen Evolution wurde. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt es dann als das ultimative Ziel der Paläoanthropologie, das missing link, das zu einem der prominentesten Topoi der Diskussion um die menschliche Evolution wurde, als Bindeglied zwischen Affe und Mensch zu finden.19 Allerdings bezeichnet der Terminus im darwinschen Sinne nicht allein den Übergang von einem affenartigen Stadium zum Menschen, sondern ganz allgemein das Bindeglied zwischen einer früheren und einer späteren Form. Darwin geht davon aus, dass alle Individuen derselben Art sowie auch alle Arten derselben Gattung – oder ebenfalls noch auf der Ebene einer höheren Klassifikation – von denselben Eltern abstammen.20 Als Folge der Annahme einer natürlichen Selektion würde dies dann bedeuten, dass es eine unbestimmte Anzahl an Zwischenformen geben müsste, die die unterschiedlichen Formen verbänden. Einen möglichen Einwand gegen diese Theorie nimmt Darwin gleich vorweg, indem er fragt: „Why do we not see these linking forms all around us? Why are not all organic beings blended together in an inextricable chaos?“21 Seine Antwort darauf ist, dass man natürlich – von einigen seltenen Ausnahmen vielleicht abgesehen – nicht erwarten dürfe, direkte Bindeglieder zwischen den aktuell existierenden Formen zu entdecken, sondern nur zwischen einer jeweils aktuellen und einer bereits ausgestorbenen Form. Denn man müsse davon ausgehen, dass nur einige wenige Arten zur selben Zeit Veränderungen durchlaufen haben und sich die Veränderungen zudem sehr langsam zeigten. Diese Feststellung werfe aber wiederum eine weitere Frage auf. Denn wenn man davon ausgehe, dass eine immense Anzahl von solch verbindenden Gliedern ver-

18 Darwin 1859, S. 29. 19 Vgl. Kjægaard 2011, S. 83. 20 Vgl. Darwin 1859, S. 461. 21 Ebd., S. 462.

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schwunden seien, und es in der Abfolge der Zeit immer jeweils auch Bindeglieder zwischen den ausgestorbenen und den noch lebenden gegeben hatte, stelle sich die Frage, warum geologische Ablagerungen nicht voll von solchen links seien und die fossile Überlieferung nicht immer Zeugnis von der Mutation und graduellen Entwicklung der Lebensformen ablege.22 Der britische Naturforscher gibt darauf eine einfache Antwort: „I can answer these questions and grave objections only on the supposition that the geological record is far more imperfect than most geologist believe.“23 Die hier nur angedeutete weitreichende wissenschaftsgeschichtliche Aufladung des Begriffes missing link hilft, den wissenschaftlichen Erwartungshorizont zu verdeutlichen, der für die beiden Ereignistypen ‚FundEreignis‘ und ‚virtuelles wissenschaftliches Ereignis‘ ausschlaggebend ist. Das Ereignis des wissenschaftlichen Fundes im Zusammenhang mit dem missing link, der Blick in die Vergangenheit, wie ihn auch Darwin skizziert hat, hat eine sehr starke örtliche Komponente. In diesem Fall kann für das Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich von einem ‚Aufsuchen‘ des Ereignisses im Sinne von ‚Finden des missing link‘ gesprochen werden. Für dieses Aufsuchen sind die Funde von Java aus den 1890er Jahren ein bekanntes, wenn nicht sogar das bekannteste Beispiel. Stein des Anstoßes war eine Theorie des deutschen Zoologen Ernst Haeckel, die das missing link auf dem mythologischen Kontinent Lemurien verortete, was letztendlich zu Eugène Dubois’ Fund des sogenannten Pithecanthropus erectus auf Java führte, der heute als Homo erectus klassifiziert wird. Der Bericht über Dubois und sein gesuchtes und gefundenes missing link wurde zu einer Meistererzählung der Paläoanthropologie, die in der Forschungsliteratur bis heute immer wieder referiert wird. Einer der führenden heutigen Paläoanthropologen in Deutschland, Friedemann Schrenk, schildert es folgendermaßen: Der junge holländische Arzt Eugène Dubois war von der Hypothese Haeckels nachhaltig beeindruckt. Mit dem Ziel, Reste dieses Affenmenschen zu entdecken, ließ er sich als Militärarzt 1887 nach Sumatra versetzen. Besessen von seiner Idee, begann er an einer Stelle in Java zu graben, die nach heutigen Vorstellungen als völlig aussichtslos gelten würde. Er grub in einem Gebiet, wo im Umkreis von Tausenden von

22 Vgl. ebd., S. 462f. 23 Ebd., S. 464.

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Kilometern noch nie zuvor auch nur die kleinsten Andeutungen von Resten eines Urmenschen gefunden wurden – und er grub auf den Zentimeter genau an der richtigen Stelle: Am Ufer des Solo-Flusses bei Trinil fand er 1891 einen Teil eines Schädeldaches und einen Zahn.24

Auch in ganz anderen Kontexten wurde diese Meistererzählung verhandelt. Drastisch drückte es beispielsweise der ‚Dritte-Reich-Anthropologe‘ Hans Weinert 1941 aus. Er entschied resolut, „[…] daß der alte Streit, ob es einmal ein missing link zwischen Affe uns Mensch gegeben hat, schon seit der Entdeckung des Pithecanthropus 1891 hinfällig geworden war, und daß die Wissenschaft es nicht notwendig hat, ‚immer noch vergeblich nach dem Zwischenglied zu suchen‘.“25 Gleichzeitig hält Weinert fest: Es wird immer ein geradezu unverständlicher Glücksfall bleiben, daß dieser Pithecanthropus, das Übergangsglied zwischen Tier und Mensch, nicht zufällig ausgegraben, sondern gesucht und dann wirklich gefunden worden ist. E. Dubois fuhr, angeregt durch Haeckels theoretische Arbeiten, absichtlich von Amsterdam nach Java, um dort […] den Affenmenschen als Übergangsglied […] zu finden. Und er fand 1891 den Pithecanthropus […].26

Dubois kann also entlang dieser Darstellungen für die Paläoanthropologie als das angesehen werden, was für die Klassische Archäologie Heinrich Schliemann ist, ein Pionier und gewissermaßen auch Glücksritter, jemand, der mit dem Ziel auszog, einen der großen Meilensteine der menschlichen Vergangenheit zu entdecken, und damit Erfolg hatte. Der Topos des „gesucht und gefunden“ kommt in den paläoanthropologischen Meistererzählungen, die die Funde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeitgenössisch verarbeiten, jedoch seltener vor: Hier findet meist der Fund den Finder. Nichtsdestotrotz steht die zentrale Figur des Entdeckers im Mittelpunkt. Diesem wird das Fossil häufig von Personen zugetragen, die bei der Erzählung im Hintergrund bleiben. Er stellt sich darauf aber ganz in den Dienst des Fundes und verficht seine Bedeutung, gleich ob Fachkollegen und breitere Öffentlichkeit enthusiastisch oder kritisch rea-

24 Schrenk 2003, S. 81. 25 Weinert 1941, S. 60. 26 Ebd., S. 52.

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gieren. An diesem Punkt, der die Aushandlung der Signifikanz des Fundes markiert, beginnt das Ereignis selbst, welches vor allem Medienereignis ist. Zwei Faktoren spielen dabei eine herausragende Rolle: Erstens wird die Autorität des Entdeckers in den Vordergrund gerückt, die nicht unbedingt mit dem eigentlichen Auffinder des Fossils identisch ist, sondern der in diesem Kontext die Person bezeichnen soll, die den Fund publik gemacht hat und deren Name in der öffentlichen Diskussion eng mit dem Fund verknüpft ist. Zweitens erlangen besonders ab der Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem die Verifikationsstrategien an Bedeutung, die von dieser, aber auch von anderen Personen in der Diskussion angewandt werden. Diese beiden Aspekte sowie Vorstellungen und Mechanismen bei der Konstruktion des ersten Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden ganz besonders an zwei Funden deutlich, die in Beziehung zueinander stehen: dem des so genannten ‚Piltdown Man‘ 1912 und dem des ‚Taung Baby‘ 1925. Der Piltdown-Fund ist ein double-event bei der Suche nach dem missing link. In ihm aktualisierte sich zum einen die Erwartung nach einem weiteren Fund in der Kette von Nachweisen frühmenschlicher Existenz und zum anderen zu einem späteren Zeitpunkt auch das omnipräsente virtuelle wissenschaftliche Ereignis, als der Fund als Fälschung enttarnt wird. Die Bedrohung durch die Widerlegung wird real, Piltdown wird zu einer EreignisKette von Konstruktion und Dekonstruktion. Ein Teil des Piltdown-Schädels sei dem Hobbypaläontologen Charles Dawson durch den Arbeiter einer Kiesgrube im englischen Sussex übergeben worden, so lautet die gängige Erzählung. Dawson suchte und fand daraufhin weitere Fragmente und schaltete den Paläontologen Arthur Smith Woodward vom Natural History Museum London ein. Die beiden organisierten eine Grabung, bei der auch der zum zuvor gefundenen Schädelfragment passende Unterkiefer zu Tage getreten sei. Weitere namhafte britische Wissenschaftler waren schnell involviert und auch in der breiteren Öffentlichkeit wurde der Schädel zur Sensation. In der Presse wurde berichtet, dass es sich bei dem Piltdown Man um den missing link oder einen der frühsten direkten Vorfahren des modernen Menschen handle.27 Als missing link wird der Fund auch bildlich inszeniert, wie etwa in einem Gemälde von John Cooke aus dem Jahr 1915 (Abb. 2). Der Maler portraitiert das Who-Is-

27 Vgl. z.B. Nature 2251, 19.12.1912, S. 438.

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Who der britischen Paläoanthropologie und benachbarter Wissenschaften hinter dem Piltdown Fund stehend. Unter anderem zeigt es den Finder Charles Dawson als einzigen Amateur unter den Wissenschaftlern, Arthur Smith Woodward und den prominenten Anatom Arthur Keith – dieser wird bildlich von den anderen Personen abgehoben, indem er als einziger im Kittel sowie im Zentrum der Personen dargestellt wird. Keith war zudem Gastgeber der auf das Jahr 1913 zurück gehenden Szenerie. Das Bild – oder zumindest die ihm zu Grunde liegende Skizze – entstand im Royal College of Surgeons in London, dem Keith angehörte.28

Abb. 2: Britische Paläoanthropologen untersuchen den Piltdown Schädel.

Vor den abgebildeten Personen befindet sich ein Tisch, auf dem die einzelnen Fragmente des Fundes mittig angeordnet sind. Links und rechts der Fragmente befinden sich weitere Schädel, bei denen es sich auf der einen Seite um mehrere Homo sapiens-Schädel und auf der anderen Seite um einen Affen-Schädel handelt. Das Übergangsglied ist also dazwischen plat-

28 Mittlerweile befindet sich das Gemälde im Sitzungssaal der Royal Geological Society, London, für das es 1932 von Charles Taylor Trenchmann erworben wurde.

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ziert. Als ein Gemälde im Gemälde ist Charles Darwin abgebildet. Die Vorlage dafür ist ein berühmtes Portrait von 1883, das von John Collier gemalt wurde, der auch familiäre Verbindungen zu Thomas Henry Huxley hatte. Darwin wacht also über der ganzen Szenerie. Die Aussage des Bildes ist klar: Darwins missing link wurde gefunden. Eines der wichtigsten Merkmale des Piltdown Schädels war das große Hirnvolumen. Der Schädel und seine Rekonstruktion trafen damit die Haupterwartung, die an den virtuellen ersten Menschen gestellt wurde, indem sie implizierten, dass die entscheidende Entwicklung vom Tier zum Menschen vor allem in der Vergrößerung des Gehirns gelegen hatte. Besonders ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in bewusster Abgrenzung von mutmaßlich anderen früheren Praktiken in der Paläontologie Wert auf die möglichst objektive Abbildung von Fossilien sowie das Zurückhalten eigener Vorstellungen und Erwartungen bei deren Rekonstruktion gelegt.29 Doch Piltdown ist eines der besten Beispiele dafür, dass dies nicht funktionierte. Im Gegenteil zeigen die Rekonstruktionen, von denen viele das Hauptmerkmal auf das mutmaßlich große Gehirn legten, dass der ‚erste Mensch‘ vom Menschen nach seinem Abbild ‚geschaffen‘ – das heißt nach seinen Erwartungen rekonstruiert wurde. Dieser Umstand und die Verknüpfung namhafter Wissenschaftler mit dem Fund beeinflussten den Möglichkeitsbereich der Einordnung und Interpretation späterer Entdeckungen sehr stark. Das galt auch für das so genannte Taung-Baby. Der fossile Kinderschädel wurde bei Steinbrucharbeiten nahe der südafrikanischen Kleinstadt Taung gefunden und 1925 durch den Johannesburger Anatomieprofessor Raymond Dart publiziert. Im Gegensatz zu Menschenaffen weist dieses Fossil, für das Dart die Bezeichnung Australopithecus africanus (südlicher Affe aus Afrika) schuf, stark verkleinerte Eckzähne auf. Zudem deutet die Eintrittstelle des Rückenmarkes in das Gehirn auf eine vertikale, statt wie bei Menschenaffen schräge, Haltung der Wirbelsäule hin, was als Indiz für den aufrechten Gang gilt. Diese Umstände legten die Klassifikation des Australopithecus als Vormensch sowie seine Verortung in der direkten Abstammungslinie des modernen Menschen, genauer gesagt im Übergangsfeld vom Affen zum Menschen, nahe. Mit wenigen Ausnahmen fand diese Hypothese unter zeitgenössischen Experten kaum Anerken-

29 Vgl. Daston/Galison 2007, S. 75.

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nung.30 Der Paläoanthropologe Ian Tattersall schrieb vor kurzem in diesem Zusammenhang: Dart was magnificently ahead of his time but, alas, his interpretations fell on deaf ears. British palaeoanthropologists, who at that time dominated their science in the English-speaking world, remained largely under the sway of the large-brained Piltdown fossil […]. In Britain in 1925, received wisdom could simply not admit that a tiny-brained fossil could represent an early member of the human lineage.31

Schließlich tritt im Falle des Piltdown Man 1953 ein Ereignis ein, das als eine Art ‚virtuelle Bedrohung‘ bei der Suche nach dem Ursprung des Menschen stets im Raum steht: Die Konstruktion bricht zusammen. Das kann als Erkennen eines Irrtums oder einer Fehlinterpretation erfolgen oder – wie im Falle Piltdowns – in seiner extremsten Ausprägung: der Aufdeckung einer Fälschung. Der US-amerikanische Anthropologe William L. Straus, Jr., beschrieb 1954 diese Aufdeckung folgendermaßen in der Zeitschrift Science: When Drs. J. S. Weiner, K. P. Oakley, and W. E. Le Gros Clark recently announced that careful study had proven the famous Piltdown skull to be compounded of both recent and fossil bones, so that it is in part a deliberate fraud, one of the greatest of all anthropological controversies came to an end. Ever since its discovery, the skull of ‚Piltdown man‘ – termed by its enthusiastic supporters the ‚dawn man‘ and the ‚earliest Englishman‘ has been a veritable bone of contention.32

Bei der Aufdeckung der Fälschung spielten die Verifikationsstrategien der Naturwissenschaft, die seit der Entdeckung des Piltdown Man über 40 Jahre zuvor verbessert worden waren, die entscheidende Rolle. Die NeuBestimmung des Fluorgehaltes der Fundstücke aus Piltdown ergab, dass die gefundene Hirnschale den selben Fluorgehalt aufwies wie Fossilien aus der selben Gegend, die dem Jungpleistozän (also einem Alter zwischen ca. 130.000 und 11.500 Jahren33) zugerechnet wurden. Währenddessen enthiel-

30 Vgl. Bromage/Schrenk 2002, S. 95 f. 31 Tattersall 2006, S. 33. 32 Straus 1954, S. 265. 33 Vgl. Storch/Welsch/Wink 2007, S. 198.

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ten der Kiefer und der Eckzahn nicht mehr als Menschen der Gegenwart. Dasselbe galt für den Stickstoffgehalt und andere untersuchte Bestandteile.34 Mikroskopische Untersuchungen zeigten zudem, dass die Abnutzungsspuren des Kiefers künstlich erzeugt worden waren. Durch Röntgen wurde festgestellt, dass sich kein sogenanntes Sekundärdentin am Zahn gebildet hatte, was durch normale Abnutzung der Fall gewesen wäre.35 Einem der sicherlich bedeutendsten Wissenschaftsskandale der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde aber nicht zuletzt ein positiver Aspekt zugesprochen. Die Zeitschrift Nature fasst es so: „The removal of the ‚apejawed Piltdown man (Eoanthropus)‘ from the fossil record thus actually clarifies the problem of human ancestry.“36 Die Möglichkeitsbedingungen für die Konstruktion des ersten Menschen waren damit nun wieder offener. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Die Konstruktion von möglichen Ereignissen liegt dem wissenschaftlichen Versuch, den Ursprung der Menschheit zu bestimmen, in der Form zu Grunde, wie er seit der Mitte des 19. Jahrhunderts stattfindet. Die Suche nach dem ersten Menschen – das heißt in diesem Fall den fossilen Kochen des ersten Menschen beziehungsweise genauer ausgedrückt dem missing link – basiert auf der Annahme, dass ein solcher existiert hat. Gleichzeitig waren sich die Suchenden aber bewusst, dass es sich dabei allenfalls um einen Näherungswert handeln könne. Das eigentliche Ziel hätte also eigentlich sein müssen, das Fossil zu finden, das in seiner Entwicklung dem ersten Menschen, oder anders gefasst: dem letzten Affen, am nächsten kam. Chronologisch betrachtet würde es aber nie möglich sein, eine geschlossene Abstammungslinie zu rekonstruieren, da so viele der realen Nachweise nicht überdauert hatten. Ein weiteres Problem war, dass jedes neue ‚Fund-Ereignis‘ die bisherigen Erkenntnisse theoretisch entwerten könnte. Zudem stand die Möglichkeit des Irrtums oder sogar der Fälschbarkeit immer als Bedrohung im Raum. Dies stellte Verifikationsstrategien in den Mittelpunkt, bei denen vor allem die Autorität des Wissenschaftlers zentral war. Die bedeutsamen ‚Fund-Ereignisse‘ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich kommunikativ zu Medienereignissen verdichteten, waren fest

34 Vgl. Nature 4387, 28.11.1953, S. 981f., 982. 35 Vgl. Straus 1954, S. 267. 36 Nature 4387, 28.11.1953, S. 981f., 981.

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in immer wiederkehrende narrative Muster eingefügt. Gleichzeitig wurden aber die hier skizzierten Möglichkeitsbereiche mitreflektiert, sowohl als Vorbedingungen der Suche wie auch als virtuelle Ereignisse und im Falle der Aktualisierung eines zuvor lediglich virtuellen Ereignisses – wie beispielsweise der Enthüllung einer Fälschung oder einem Fund, der bestehende Erkenntnisse entwertete – auch bewertend in der Retrospektive. Es handelt sich also um verschiedene bei der Generierung des Wissens um den ‚ersten Menschen‘ ausschlaggebende ‚Ereignis-Typen‘. Der erste Mensch bleibt dabei, auch wenn er sich in der Form von Fossilien immer wieder seinem Idealbild ähnlich manifestiert, stets im Bereich des Virtuellen. Die Figur des ersten Menschen blieb – auch als sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts der Fokus verstärkt von theologischen Erklärungsmustern zu naturwissenschaftlichen verschob.37 Diese ‚Vernaturwissenschaftlichung‘ bedeutete jedoch nicht, dass die Debatte nicht mehr im soziokulturellen Kontext der zeitgenössischen Gesellschaft verankert war. Ganz im Gegenteil spielten zum Beispiel rassistische und koloniale Erklärungsmuster stets eine starke Rolle. Mit dem frühen 19. Jahrhundert wurde es jedenfalls unüblich, die Genesis als wörtlichen Bericht der Erschaffung des Menschen aufzufassen. Zwar wurde die Beteiligung eines höheren Wesens bei der Erschaffung bzw. Entstehung der Welt nicht von vornherein ausgeschlossen, das Prinzip der Evolution wurde aber immer mehr zum Konkurrenten der Vorstellung einer Schöpfung durch Gott.38 Die Sicherheit und Vollständigkeit, die der Bericht der Genesis – nahm man ihn wörtlich – bot, fehlte in der Wissenschaft. Am durch naturwissenschaftliche Methoden und Überlegungen akquirierten Wissen bleibt stets das Moment des Zweifels verhaftet, es ist nie komplett und unumstößlich – so auch das Wissen um den ersten Menschen.

L ITERATUR Max Bartels, „Über den Affenmenschen und den Bärenmenschen“, in: Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie

37 Vgl. Bayertz/Gerhard/Jaeschke 2007, S. 7-15. 38 Vgl. Bowler 1987, S. 1.

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und Urgeschichte (= Beilage der Zeitschrift für Ethnologie) 16, 1884, S. 106-113. Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke, „Einleitung“, in: dies. (Hgg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Bd. 2: Der Darwinismus-Streit, Hamburg 2007, S. 7-17. Sibylle Benninghoff-Lühl, „Die Jagt nach dem Missing Link in den Verhandlungen der Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“, in: Alexander Honold und Klaus R. Scherpe (Hgg.), Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge, Beiheft 2, Bern u.a. 2000, S. 105121. Peter J. Bowler, Theories of Human Evolution. A Century of Debate 18441944, Oxford 1987. Timothy G. Bromage und Friedemann Schrenk, Adams Eltern. Expeditionen in die Welt der Frühmenschen, aufgezeichnet von Stephanie Müller, München 2002. Charles Darwin, On the Origin of Species by Means of natural Selection or the Preservation of favoured Races in the Struggle for Life, London 1859. Lorraine Daston und Peter Galison, Objektivität, Frankfurt/M. 2007. Anne Dreesbach, Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung ‚exotischer‘ Menschen in Deutschland 1870-1940, Frankfurt/M. u.a. 2005. Nadja Durbach, „The Missing Link and the hairy Belle. Krao and the Victorian Discourses of Evolution, Imperialism, and primitive Sexuality“, in: Marlene Tromp (Hg.), Victorian Freaks. The social Context of Freakery in Britain, Columbus 2008, S. 134-153. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935), hg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt/M. 1980. Ludwik Fleck, „Zur Krise der ‚Wirklichkeit‘ (1929)“, in: ders., Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, hg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt/M. 1983, S. 46-58. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981. Peter Kjægaard, „‚Hurrah for the Missing Link!‘ A History of Apes, Ancestors and a crucial Piece of Evidence“, in: Notes & Records of the Royal Society 65/1, 2011, S. 83-98. Nature. The international weekly Journal of Science. London 1869/70-.

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Shane Peacock, „Africa meets the Great Farini“, in: Bernth Lindfors (Hg.), Africans on Stage. Studies in ethnological Show Business, Bloomington u.a. 1999, S. 81-106. Theodore Roosevelt, „How old is Man?“, in: The National Geographic Magazine 29/2, 1916, S. 111-127. Friedemann Schrenk, Die Frühzeit des Menschen. Der Weg zum Homo sapiens, München 42003. Werner Michael Schwarz, Anthropologische Spektakel. Zur Schaustellung ‚exotischer‘ Menschen, Wien 1870-1910, Wien 2001. Volker Storch, Ulrich Welsch und Michael Wink, Evolutionsbiologie, Berlin u.a. ²2007. William L. Straus, „The Great Piltdown Hoax“, in: Science 119/3087, 26.02.1954, S. 265-269. Ian Tattersall, „Human Evolution in Africa“, in: Geoffrey Blundell (Hg.), Origins. The Story of the Emergence of Humans and Humanity in Africa, Kapstadt 2006, S. 16-63 Hans Weinert, Stammesgeschichte der Menschheit, Stuttgart 1941.

ABBILDUNGEN Abb. 1: Krao. The missing link. Evan. 2523. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der British Library, London. Abb. 2: John Cooke, Discussion on the Piltdown Skull, 1915. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Geological Society, London.

Gedächtnispolitische Formierung eines Ereignisses Die Hungersnot in der Ukraine I RINA G RADINARI

Wie wird ein historisches Geschehen zu einem kollektiv erinnerten Ereignis? Und was passiert, wenn es diesen Status erst mit einigen Generationen Verspätung erhält? Tatsächlich existiert eine Reihe von historischen Ereignissen, die lange Zeit nicht erinnert werden konnten und die sich bis heute noch nicht vollständig als breit anerkannte Erinnerungsereignisse etabliert haben, wie etwa der Völkermord an den Armeniern in der Türkei oder die Hungersnot in der Ukraine 1932/33. Offensichtlich bedingen die Einmaligkeit des Geschehens und das Ausmaß der Tragödie nicht selbstverständlich ihre Verankerung im kulturellen Gedächtnis. Was die beiden genannten massenhaften Verbrechen dabei grundsätzlich verbindet, ist der Umstand, dass sie aus verschiedenen Gründen nicht nur kaum dokumentiert wurden, während sie geschahen, sondern vor allem medial nicht aufgearbeitet wurden. Die audiovisuellen und literarischen Medien sind jedoch in der Lage, den Mangel an Dokumenten zu kompensieren, die fehlenden Bilder selbst zu erzeugen und dadurch dem Geschehen Sinn zu verleihen. Dafür müssen sie zunächst generelle Rahmen und Motive aushandeln, innerhalb und mit Hilfe derer das Geschehene sinnhaft erfasst werden kann. Medien verdoppeln die ‚Realität‘1 nicht nur, sondern machen sie letztlich erst intelligibel, ermöglichen etwa durch die Erfassung unterschiedlicher Ereignisse den

1

Vgl. Dayan/Katz 2002.

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Zugang zur ihr. Sie interpretieren und reflektieren das historische Geschehen nicht einfach, sondern wirken realitätssetzend. Im Falle der Hungersnot in der Ukraine, um die es im Folgenden gehen soll, verging über ein halbes Jahrhundert, bis ein Rahmen geschaffen wurde, der dieses Ereignis diskursivierbar werden ließ. Auch gegenwärtig kann sich die Hungernot immer noch nur schwer als Ereignis etablieren. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Katastrophe der im eigentlichen Sinne ereignishafte Charakter fehlt. Die Maßnahmen, die letztendlich die Hungersnot verursachten, waren schon einige Jahre zuvor initiiert worden – soweit ist sich die Forschung in der Ukraine und Russland einig. Es gibt also kein konkretes Datum des Geschehens, und auch die Orte der Hungersnot sind zahlreich. Die Täter planten kein Massensterben, gingen jedoch, um ihre Ziele zu erreichen, mit aller Härte und ohne Rücksicht auf die Folgen zu Werke. Die Ursachen reichen dabei bis in die Anfangsjahre der Sowjetunion zurück: Insgesamt erbten die Bolschewiki ein rückständiges Agrarland, das sich nach dem Ersten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg zudem in einem miserablen Zustand befand. Die ersten Jahrzehnte des sowjetischen Staates waren generell durch Not und karges Leben geprägt. Karteien für Lebensmittel wurden bis zum Ende der 1930er verwendet. Die erste Hungerswelle fällt in der UdSSR bereits in die Jahre 1921-23. Im Zuge der gewaltsam forcierten Industrialisierung setzte der Staat etwa ab 1928 einen ambitionierten Plan für Getreidelieferungen um und kollektivierte gleichzeitig das Bauerntum, um den Prozess des Anbaus und der Requirierung der Ernte unter Kontrolle zu bringen und so die höchstmögliche Effektivität zu erzielen. Diese Maßnahmen misslangen allerdings. Die gewaltsame Kollektivierung bedingte nicht nur die Zerstörung erfolgreicher privater Bauernhöfe und die Verfolgung wohlhabender Bauern (Entkulakisierung), die Mehrheit der ersten Kolchosen zeichnete sich zudem aufgrund des Mangels an technischem Gerät und agrarischem Wissen sowie infolge schlechter Organisation und ineffektiven Arbeitseinsatzes der neun Kolchosarbeiter/innen durch eine äußerst niedrige Produktivität aus. Den hier Beschäftigten wurde der Besitz genommen, und sie wurden darüber hinaus schlecht bezahlt. Die planmäßige Menge des Getreides, die die Kolchosen abliefern sollten, stieg von Jahr zu Jahr, so dass kaum Lebensmittel zur ei-

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genen Versorgung zurückblieben.2 1932/33 schließlich erreichte die Hungersnot ihren Höhenpunkt: Insgesamt hungerten in diesem Jahr etwa 55 Millionen Menschen in der Ukraine, im Nordkaukasus, in Weißrussland, Kasachstan, im Wolgagebiet, auf dem Ural, in Baschkirien, im Schwarzerde-Gebiet und in Sibirien, wobei jedoch nicht überall Menschen an der Folge der Not starben. Besonders stark waren die Ukraine, der Nordkaukasus, Kasachstan und das Wolgagebiet betroffen: Schon 1931 mussten die Kolchosen in der Ukraine und im Nordkaukasus bis zu 46% der gesamten Ernte an den Staat abgeben. Sie blieben infolgedessen ohne Essensvorräte und waren gezwungen, das Vieh zu schlachten.3 Der Tod von Millionen von Menschen wurde zwar nicht konsequent geplant, aber sehenden Auges in Kauf genommen: Als die meisten Kolchosen 1932 die vom Staat planmäßig eingeforderten Getreidemengen nicht liefern konnten, wurden der Lohn der Kolchosarbeiter/innen, der teilweise in Getreide ausgegeben wurde, und das Saatgut für das nächste Jahr beschlagnahmt. Zudem wurden den Hungernden jede Hilfe verweigert und die Hungergebiete im Nordkaukasus und der Ukraine abgesperrt, so dass die sterbenden Menschen nicht entkommen konnten. Von etwa 220.000 geflohenen ukrainischen Bauern wurden 190.000 zwangsweise nach Hause geschickt. Die übrigen bekamen hohe Gefängnis- und Lagerarbeitsstrafen, die oft auch zum Tode führten. Allein in der Ukraine zählt man je nach der Berechnung zwischen 3 und 8 Millionen Opfer.4 Trotz dieser riesigen Zahl wurde die Hungerkatastrophe von den Überlebenden nicht aufgearbeitet. Die Bolschewiki standen unter starkem Legitimationsdruck, weshalb jegliche Art von Information, die ihrem Ruf schaden konnte, verboten wurde. Die Hungersnot bzw. das Ausmaß der Katastrophe war aufgrund der Informationssperre bereits 1932/33 außerhalb der

2

Vgl. dazu die umfangreiche Dokumentation bei Kondrašin 2012.

3

Vgl. Nairmark 2010, S. 76.

4

Kuromiya schätzt, dass es in der gesamten Sowjetunion bis zu 8 Millionen Hungeropfer gab, von denen etwa 4 Millionen in der Ukraine starben (2005, S. 103). Ellman spricht von 3,2 Millionen Toten in der Ukraine (2007, S. 682). Der ukrainische Historiker Stanislav Kulickij gibt 3 bis 3,5 Millionen Menschenopfer an, die durch Hunger und Krankheiten ums Leben kamen; daraufhin sei die Fertilität zurückgegangen, was die Zahl auf 4,5 bis 4,8 Millionen erhöht habe (Yekelchyk 2007, S. 112).

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Hungergebiete nur wenigen bekannt. Bis auf die Todesurkunden und ein paar Fotos entstanden zudem kaum Dokumente, von einer sinnhaften Erfassung der Katastrophe ganz zu schweigen. So hat das Ereignis an sich keine so genannte denotative Bedeutung,5 sondern entstand als solches überhaupt erst, als verschiedene Medien auf das Geschehen Zugriff bekamen. In einem russischen Dokumentarfilm mit dem Titel Der Hunger 1932. Der zugeteilte Tod (RF 2003, R. Maksim Katuškin) werden die Überlebenden nach den Gründen für die Hungersnot gefragt – keine/r von ihnen kann eine Antwort geben. Ohne mediale Verarbeitungen, die den Deutungsrahmen dieses Ereignisses hätten aushandeln und es so überhaupt erst zu einem Ereignis hätten machen können, entstanden keine Erklärungen, die sich nachhaltig verbreiten konnten. Die ersten Informationen über die Hungersnot wurden erst in der Zeit der Perestroika bekannt, als die meisten Überlebenden schon aus dem aktiven sozialen Leben ausgeschieden waren oder kurz davor standen – gesetzt den Fall, dass sie den Zweiten Weltkrieg überlebt hatten, denn aufgrund ihrer geopolitischen Lage wurde die Ukraine zum Hauptschauplatz des Krieges in der UdSSR. Da die Aufarbeitung gerade in der Perestroika begann, in der sich die UdSSR einer kritischen Selbstrevision unterzog, wurde sie zur Grundlage einer neuen nationalen ukrainischen Identität, mit der nicht nur Kritik an der sowjetisch-sozialistischen Politik geübt wurde. Mit der Hungersnot sollte auch eine alternative, nicht-sowjetische Vergangenheit erschaffen werden, welche die neue, unabhängige Ukraine stützen und die Spaltung zwischen Osten und Westen überwinden sollte. Derzeit ist die Hungersnot in der Ukraine ein politisch stark umkämpftes Ereignis von großem nationalem Interesse. Diskutiert wird vor allem, ob sie mit dem Holocaust vergleichbar ist und ob es sich bei ihr um einen Genozid oder um einen Soziozid handelt. 6 Im Folgenden soll diese Diskursivierung der Hungersnot zu einem erinnerungspolitischen und identitätsstiftenden Ereignis genauer analysiert werden. Zunächst wird der Rahmen der gesellschaftlichen Debatten skizziert, die eine hohe politische Brisanz besitzen: Je nach politischer Orientierung wird der Genozid-Charakter der Hungersnot entweder hervorgehoben

5

Vgl. Dayan/Katz 2002.

6

Ein Überblick über die geschichtswissenschaftlichen Debatten zur Hungersnot als Genozid gegen das ukrainische Volk findet sich in Osteuropa 54/12, 2004.

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oder abgestritten, je nach Deutung befindet sich die Ukraine in einem Annäherungs- oder Entfernungskurs gegenüber Russland. Daraufhin wird die Herstellung eines kommunikativen Gedächtnisses zur Hungersnot am Beispiel dreier Dokumentarfilme diskutiert: Die ukrainische Produktion Die Hungersnot. Die Ukraine des 20. Jahrhunderts. Technologie des Genozids (UA 2005, R: Viktor Derjugin), die im Auftrag des Bildungsministeriums für den Schulunterricht gedreht wurde, stellt ein Beispiel für die ukrainische Aufarbeitung dar. Der russische Dokumentarfilm Holodomor 1933. Nicht gelernte Lektionen der Geschichte (RF 2008, R. Aleksej Denisov), der im Auftrag des Fernsehkanals Rossija entstand, ist ein Gegenentwurf zum ukrainischen Film und entlarvt diesen als eine Geschichtsfälschung. Der Hunger 1933: Der zugeteilte Tod (RF 2003, R. Maksim Katuškin) steht exemplarisch für die russische Aufarbeitung der Hungersnot, wobei er sich in seiner Ästhetik und Argumentation von ukrainischen Filmen kaum unterscheidet. Geht man in Anlehnung an Jan Assmann davon aus, dass dem kulturellen Gedächtnis erst eine Phase des kommunikativen Gedächtnisses vorausgehen muss, bei der aktuelle Ereignisse als solche aufgearbeitet und ausgehandelt werden,7 so fehlt dieser Prozess bei der Hungersnot 1932/33 vollständig. Die Medien versuchen die verspätete Aufarbeitung zu kompensieren und Elemente des kommunikativen Gedächtnisses zu entwickeln, die in die Alltagspraxis eingehen sollen und dadurch von den Ukrainer/innen als Teile der eigenen Identität aufgenommen werden können. In diesem Zusammenhang stützt sich der Beitrag auf die Überlegungen von Harald Welzer zum kommunikativen Gedächtnis.8 Medien liefern das Weltwissen, mit dem das Ereignis sinnhaft konstituiert wird, binden individuelle episodische Erinnerungen in die Geschichte einer Nation ein, aktualisieren diese in Bezug auf die Gegenwart und prägen das Publikum emotional – alles Bedingungen dafür, dass historisches Geschehen in die Alltagspraxis Eingang finden kann.

7

Vgl. Assmann 1988, S. 9-19.

8

Vgl. Welzer 2005.

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H OLODOMOR UND H OLOCAUST Die ersten Auseinandersetzungen mit der Hungersnot fanden Anfang der 1980er Jahre in den USA statt und wurden durch die Debatten um den Holocaust angetrieben. Das ukrainische Wort für Hungersnot, Holodomor (  – Hunger und  – Massensterben), weist eine zufällige Alliteration und Assonanz zu dem Begriff Holocaust auf – ein Umstand, der mit dafür verantwortlich war, dass bereits in den ersten Debatten zur Hungersnot eine generelle Übertragung der Holocaust-Ikonographie und -Narrative sowie der Art der Aufarbeitung und der Darstellung stattfand. Die Judenvernichtung, die historisch nach der Hungersnot organisiert wurde und zudem nicht unmittelbar in der Ukraine stattfand, auch wenn ein Großteil der umgebrachten Juden der UdSSR aus der Ukraine stammte, wurde somit zum Deutungsrahmen für ein historisch früheres Ereignis. Diese assoziative Verknüpfung zwischen den beiden Begriffen vollzog 1983 die in den USA lebende ukrainische Diaspora mit der dort herausgegebenen ukrainischen Wochenzeitung Ukrans’kyj tyžnevyk und mit der kurz darauf aus dem Material dieser Zeitung publizierten Broschüre Der Große Hunger: Unbekannter Holocaust.9 Um den Holocaust selbst fanden zur dieser Zeit intensive Debatten in der Öffentlichkeit der USA und Deutschlands statt, die wiederum durch die Fernsehserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss (USA/D 1978, R: Marvin J. Chomsky) eingeleitet wurden.10 Mitte der 1980er Jahre initiierten die Monographie von Robert Conquest11 und der Bericht von James Mace12 an den US-Kongress internationale Debatten um die Hungersnot als Genozid gegen das ukrainische Volk, während ukrainische Historiker/innen diese These erst im Nachhinein von ihren westlichen Kollegen/innen übernahmen.13 Bis heute wird sie jedoch durch die Mehrheit der ukrainischen Historiker/innen vertreten.14 Nach dem Zerfall der UdSSR wurde die Hungersnot geschichtswissenschaftlich wenn nicht völlig, so doch umfangreich aufgearbeitet. In der uk-

9

Kul’ic’kyj 2004, S. 69.

10 Vgl. Kaes 1987, S. 29-30. 11 Conquest 1986. 12 Mace 1988. 13 Vgl. Vasil’ev 2004, S. 165-182. 14 Vgl. Jilge 2004, S. 158.

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rainischen Wissenschaft wurden bereits im Jahr 2001 6338 Publikationen zum Thema verzeichnet,15 die sich in erster Linie mit der Aufarbeitung der Archivmaterialien und der Zeugnisse beschäftigen. Die Erinnerung an den Holocaust wurde somit bereits in der Zeit ihrer internationalen Etablierung in den 1980er Jahren zugleich dekontextualisiert und universalisiert und diente somit als Darstellungsrahmen anderer genozidaler Gewalt.16 Hinzu kam, dass in der Reformzeit der Sowjetunion eine Repräsentationskrise entstand, die sich mit dem Zerfall der UdSSR im postsowjetischen Raum radikalisierte: Bestehende sowjetische Narrative konnten die veränderten sozialen Umstände nicht mehr adäquat greifen,17 besonders im Falle der Kritik am Stalinismus, für die erst neue, reflektierte Denkmuster und Begrifflichkeiten erschaffen werden mussten. Um den Stalinismus zu kritisieren, wurde auch von einigen Historiker/innen zunehmend der Vergleich mit dem Nationalsozialismus18 bemüht, allen kritischen Debatten in Bezug auf diese Gleichsetzung zum Trotz.19 Auch die Politik hat die Hungersnot als konstitutives nationales Ereignis aufgenommen, dem die Genozidthese eine außerordentliche politische und historische Relevanz verlieh. Die Idee, die Hungersnot als zentrales nationales Erinnerungsereignis der Ukraine zu verstehen, wurde jedoch nicht von Politiker/innen oder Geschichtswissenschaftler/innen entwickelt, sondern von Schriftsteller/innen, die sich 1986 erstmals in einer informellen Gruppe trafen und die historische Hungersnot als Teil der nationalen

15 Vgl. Bur’jan/Rikun 2001. 16 Vgl. Levy/Sznaider 2001. Interessant ist dabei, dass der Schriftsteller und Kriegskorrespondent Vasilij Grossman bereits in den 1960ern die beiden Regime verglich, um den Stalinismus zu diskreditieren. In seinem Epos Leben und Schicksal zieht er zahlreiche semantische und strukturelle Parallelen zwischen den beiden Diktaturen. Der Roman wurde beschlagnahmt und erstmals während der Perestroika gedruckt. 17 Vgl. Lipoveckij 1991, S. 233. 18 Vgl. Courtois 1998, S. 11-50. 19 Vgl. Diner 2000. Diner bezweifelt letztlich den Erkenntniswert eines solchen Vergleichs, den er als Effekt der Konfrontation der größten Ideologien (Faschismus und Kommunismus) in der Zwischenzeit beider Weltkriege und des Widerstandes zwischen den kapitalistisch-westlichen und sozialistischen Diskursen im Kalten Krieg einstuft.

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Selbstvergewisserung thematisierten.20 Die literarische Zeitschrift Literaturna Ukrajina (Literarische Ukraine) wurde 1988/89 zum führenden kritischen Forum der gedächtnispolitischen Reflexion,21 das die Übernahme der Debatten über die Hungersnot in die Politik einleitete. Bis heute ist sie an der diskursiven Formation dieser Erinnerung zentral beteiligt. Den politischen und wissenschaftlichen Debatten gingen somit filmische und literarische Aufarbeitungen voraus. Erst daraufhin wird die Hungersnot auch in der Politik intensiv verarbeitet. 1990 proklamierte die Ukraine ihre Souveränität nicht zuletzt mit dem Verweis auf die Hungersnotkatastrophe. Seitdem wurden zahlreiche politische Maßnahmen getroffen, um die Hungersnot zu einem staatlichen Erinnerungsereignis zu machen: Der Errichtung mehrerer Monumente folgten die Einführung eines Gedenktages für die Opfer der Hungersnöte, die Eröffnung eines „Nationalen Memorialkomplexes“, die Organisation zahlreicher Konferenzen und Ausstellungen, die Öffnung der Archive, die Einführung eines speziellen Schulunterrichtes zu diesem Thema, eine materielle Entschädigung der Opfer sowie die Etablierung eines Forscherpreises und die Einrichtung des ukrainischen Instituts des Gedächtnisses. Präsident Viktor Jušenko bekannte sich schließlich schon bei seinem Amtsantritt zur Genozidthese, die das ukrainische Parlament zuvor offiziell bestätigt hatte, und initiierte 2006 das Gesetz „Über den Holodomor in den Jahren 1932 und 1933 in der Ukraine“, das die Hungersnot gemäß der UN-Konvention vom 9. Dezember 1948 als Genozid definierte.22 Wie stark das Thema von aktuellen politischen Diskursen geprägt wird, wird durch die wiederholte Umbenennung des Gedenktages an die Opfer der Katastrophe deutlich, die jeweils unterschiedlich stark hervorgehoben werden. Bereits im Jahr 2000 wurde der Gedenktag nach der Verordnung des Präsidenten Leonid Kuma in „Gedenktag an die Opfer der Hungersnot und politischer Repressionen“ umbenannt. 2004 wurde durch denselben Präsidenten die Hungersnot in den Plural gesetzt, so dass der Gendenktag nun den „Opfern der Hungernöte und politischer Repressionen“ gewidmet war. Der nächste Präsident, Viktor Jušenko, ließ 2007 die Formulierung

20 Vgl. Kuzio/Wilson 1994, S. 63-79. 21 Vgl. Jilge 2004. Jilge erwähnt Ivan Dra, Serhij Playnda, Ivan Dzjuba, Vasyl’ Pacharenko, Jevhen Hucalo und Oleksij Kolomiec’. 22 Vgl. Leggewie 2011, S. 130-133.

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„politische Repressionen“ streichen, um die Opfer der Hungernöte allein hervorzuheben. Die Funktion des Holodomors besteht dabei darin, eine neue, nichtsowjetische Identitätsgrundlage zu schaffen sowie die gespaltene Ukraine und somit das nationale Bewusstsein zu konsolidieren, was in den Dokumentarfilmen auch explizit thematisiert wird. Beispielweise spricht in Holodomor. Ukraïna XX stolittja. Technolohija henocydu ein älterer Mann aus der Westukraine von einem Mord an einem stellvertretenden sowjetischen Konsul, der in Galizien als Vergeltung für die Hungersnot in der Ukraine begangen wurde (II, 00:30:00). Mit dieser offensichtlich gestellten Aussage soll gezeigt werden, dass sich der damals zu Polen gehörende und somit von der Hungersnot nicht betroffene Teil der Ukraine mit dem Ostteil bereits vor dessen Annexion durch die UdSSR 1939 solidarisierte. Darüber hinaus geht es um die Betätigung, dass auf dem besetzten Territorium ethnische Ukrainer/innen wohnten. Aufgrund der historischen Entwicklung seit dem 15. Jahrhundert ist die Ukraine heute religiös, sprachlich und politisch gespalten. Die Auseinandersetzungen um die Vergangenheit in der aktuellen Ukraine nach 1991 teilen sich, grob skizziert, in zwei Lager:23 Der ukrainophone Nordwesten und der russophone Südosten legitimieren ihre kulturelle Zugehörigkeit gerade durch verschiedene Vergangenheitsdeutungen. Als zentral erscheint dabei der Zweite Weltkrieg, der hinsichtlich des Ausmaßes der Zerstörungen die Hungersnot übertraf.24 Zudem diskursivierte die sowjetische Kultur den Sieg im Zweiten Weltkrieg zu einem neuen sozialistischen Legitimationsmythos. Das zeitliche Zusammenfallen der Stalin-Diktatur mit dem Zweiten Weltkrieg sowie die Funktionalisierung des Sieges durch Stalin zur Verstärkung des Personenkults um ihn25 ergaben einen diskursiven Konnex zwischen den heroischen Erinnerungen an den Krieg und der Bagatellisierung der Verbrechen des Stalinismus.26 So wurde die Abgrenzung von der sowjetischen Vergangenheit zunächst über den Zweiten Weltkrieg versucht. Die Mehrheit in der Ostukraine orientiert sich an einer heldenhaften sowje-

23 Vgl. Kappeler 2010, S. 13-14. 24 Vgl. Jilge/Troebst 2006. 25 Vgl. Ferretti 2005, S. 45. 26 Vgl. Gudkov 2005, S. 56.

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tischen Erinnerungsversion,27 in der Westukraine ist hingegen der nationale Befreiungskampf der OUN-UPA28 (Organisation der ukrainischen Nationalisten und der von ihr ins Leben gerufenen Ukrainischen Aufstandsarmee) im Zweiten Weltkrieg entscheidend, die teilweise auf der Seite der Wehrmacht gegen die sowjetische Armee, teilweise aber auch gegen die Wehrmacht kämpfte.29 In der UdSSR wurden die Rebellen als Kollaborateure und Verräter stigmatisiert. Im Gegensatz dazu stimmt die Bevölkerung laut soziologischer Meinungsumfragen und Analysen der ukrainischen Massenmedien30 mit der Deutung der Hungersnot als einem durch die StalinDiktatur organisierten Genozid mehr (in der von der Hungersnot verschonten Westukraine) oder weniger (in der betroffenen Ostukraine) überein.31 So übernimmt die Hungersnot eine konsolidierende Funktion, die es ermöglicht, die Bevölkerung in einem nationalen Bewusstsein zu vereinigen. Zugleich verweisen die Debatten um die Hungersnot auch auf die sich wandelnden Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine. Generell bestreitet Russland die Genozidthese: Die „Entschließung des Europäischen Parlaments vom 23. August 2008 zu dem Gedenken an den Holodomor, die wissentlich herbeigeführte Hungersnot von 1932/33 in der Ukraine“ rief Proteste in der russischen Regierung hervor.32 Im Mai 2009 ordnete der Präsident Dmitrij Medwedev die Bildung einer „Kommission beim Präsidenten der Russländischen Föderation zur Verhinderung von Versuchen der Geschichtsfälschung zum Nachteil der Interessen Russlands“ an. Zuvor hatte Vladimir Putins Partei Edinaja Rossija (Einiges Russland) einen Gesetzentwurf „Zur Verhinderung der Rehabilitierung des Nationalsozialismus, der nationalsozialistischen Verbrecher und ihrer Handlanger in den neuen

27 Vgl. Sereda 2007. 28

        ( )         (). Siehe die offizielle Homepage: http://oun-upa.org.ua [Zugriff am 1.3.2014].

29 Vgl. Troebst 2013b, S. 140-141. 30 Vgl. Sereda 2007, S. 191. Anzumerken ist, dass bei Sereda die Hungersnot nur in einer Tabelle zu den negativsten historischen Ereignissen erwähnt und nicht unter den nationalen Gedenktagen geführt wird. 31 Vgl. Hrycak 2004, S. 57. 32 Troebst 2013a, S. 95-96.

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unabhängigen Staaten auf dem Gebiet der UdSSR“ in die Duma gebracht.33 Diese gesetzlichen Aktivitäten richten sich nach den Historikern Petro Burkovs’kyj und Oleksij Haran auch gegen die Ukraine, denn Russland versucht, das sowjetische Geschichtsbild weiterhin in den ehemaligen Sowjetrepubliken aufrechtzuerhalten und dadurch über die Ukraine (aber auch über Moldawien und Weißrussland) eine neue Hegemonie zu erlangen.34 Entfernt sich die Ukraine politisch von Russland und nähert sich dem Westen an, so gewinnt die Genozidthese an politscher Bedeutung. Wenn es um eine Annäherung geht, wird die Genozidthese hingegen in der Regel wieder zurückgenommen. Viktor Jušenko erklärte während seiner Präsidentschaft 2006 die Hungersnot zum Genozid; sein Nachfolger Viktor Janukovi enthielt sich allerdings, als über dieses Gesetzes abgestimmt wurde. Während seiner Präsidentschaft wies er die Genozidthese zurück. Auf der parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) bezeichnete er die Hungersnot als eine gemeinsame Tragödie der ganzen UdSSR.35 Trotz der intensiven wissenschaftlichen und politischen Erinnerungsarbeit gelingt es laut Wilfried Jilge somit nicht, eine kontinuierliche Erinnerungstradition in der Gesellschaft zu etablieren. Im Vorfeld und am Gedenktag der Hungersnot im November 2003 gab es in den Medien kaum Beiträge zum Thema.36 Auch der Tag des sowjetischen Sieges über das nationalsozialistische Deutschland verlor seine Popularität nicht. Bei der Umfrage des Razumovskij-Zentrums vom 10. April 2010 fanden diesen Feiertag im Westen nur noch 30,4%, im Süden hingegen 76,7%, im Osten 76,5% und im Zentrum 69,3% aller Befragten wichtig.37 Daher greift die Politik für die ‚Einpflanzung‘ der Erinnerung an die Hungersnot in der Öffentlichkeit seit einiger Zeit auf das Dokumentarkino zurück, das aktuelle historiographische Befunde popularisieren und narrative Strukturen für solche Memoria-Akte liefern soll, um das historische Geschehen kollektiv erinnerbar zu machen. Seit 2003 steigt die Zahl der ukrainischen Dokumentarfilme zu diesem Thema, während die letzten vorangegangenen Produktionen vom Anfang der 1990er Jahre stammen. Die Dokumentarfilme über-

33 www.regnum.ru/news/1153517.html [Zugriff 3.3.2014]. 34 Vgl. Burkovs’kyj/Haran’ 2010, S. 347-348. 35 Vgl. Leggewie 2011, S. 135-136. 36 Vgl. Jilge 2004, S. 162. 37 Vgl. Leggewie 2011, S. 136-137.

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nehmen dabei die Darstellungsstrategien der Holocaustfilme und rekurrieren mit ihrem Bildmaterial explizit auf die NS-Vernichtungslager, um sie zur Vorstellung des Terrors im Stalinismus umzufunktionalisieren und sowjetische Siegesnarrative durch eine Überbietungsstrategie der Grausamkeit zu überschreiben.

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HISTORISCHEN E REIGNIS ZUM KOMMUNIKATIVEN G EDÄCHTNIS Trotz der politischen Brisanz des Themas wurde der Holodomor somit zunächst nicht zum kollektiv erinnerten Ereignis. Die Erinnerung wurde vielmehr ‚von oben‘ installiert, was zur Folge hatte, dass sie von der Bevölkerung weder breit unterstützt noch als Grundlage der eigenen Identität angenommen wurde. Den Debatten fehlte eine Phase der Aushandlung und Herausbildung der Sinnmuster, an der die betroffene Generation noch hätte teilnehmen können. Derzeit ist jedoch zu beobachten, dass die Medien diese Aushandlung in Gang zu setzen versuchen, indem sie neue Deutungen der Historie anbieten und so die Kluft zwischen der Politik und der Bevölkerung sowie zwischen den Generationen zu überwinden, die Geschichte der aktuellen Generation nahezubringen und sie so als zentrales historisches Ereignis der eigenen Nationalgeschichte zu etablieren versuchen. Laut Harald Welzer ist für das individuelle Gedächtnis das kulturelle Wissen von konstitutiver Bedeutung. Das individuelle Gedächtnis bildet sich in der Kommunikation heraus, die auf tradierten kulturellen und symbolischen Formen basiert. Es weist daher auch eine bestimmte Organisation und Struktur auf38 und hebt hervor bzw. bewahrt, was die Kultur als wichtig oder tradierungswürdig definiert. Die Kultur liefert dabei Erzählmuster und Bilder, die die Erinnerungen kommunizierbar machen, und ermöglicht es

38 Welzer polemisiert gegen Jan Assmann, von dem er den Begriff des kommunikativen Gedächtnisses übernimmt. Assmann weist diesem Ungeformtheit, Beliebigkeit und Unorganisiertheit zu, weshalb das kommunikative Gedächtnis als Alltagsgedächtnis das kulturelle Gedächtnis voraussetzt, das sich durch Identitätskonkretheit, Rekonstruktivität, Geformtheit, Organisiertheit, Verbindlichkeit und Reflexivität auszeichnet. Diese Eigenschaften finden sich laut Welzer jedoch bereits im kommunikativen Gedächtnis.

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zugleich, die eigene Biografie in einem großen Zusammenhang zu sehen, indem sie diese mit der Geschichte des Staates verbindet. Für die Kommunikation der eigenen Erinnerungen sind in Anlehnung an Harald Welzer von der Seite des Individuums das semantische Gedächtnis (Weltwissen), das episodische Gedächtnis (Versatzstücke des individuell Erlebten), das perzeptuelle Gedächtnis (die Fähigkeit zum Wiedererkennen) sowie die Emotionen wichtig.39 Wie gerade an den Dokumentarfilmen über die Hungersnot deutlich wird, können alle vier Gedächtnisformen dabei von visuellen Medien wie dem Film geprägt und strukturiert werden: Filme liefern Informationen über das Ganze, erzählen individuelle Geschichten, arbeiten mit Wiederholungen – sind also auf Widererkennen angewiesen und stimulieren dieses zugleich – und rufen Emotionen hervor. Auf Seiten der kulturellen Kommunizierbarkeit ist zum einen die Aktualisierung der aufgerufenen Erinnerung innerhalb der Kommunikationssituation entscheidend. Mit jedem Film wird das in der Vergangenheit Erlebte in Bezug auf die Gegenwart neu strukturiert und sinnhaft erfasst. Zum anderen sind bei der Kommunikation die Kohärenz des Geschehens und die Dramatisierbarkeit des Stoffes von konstitutiver Bedeutung. Die Filme reichern die Historie dabei mit aktuellen Diskursen und einer verständlichen Bildlichkeit an, die den Sehgewohneiten des Publikums entsprechen. Sie erschaffen eine nachvollziehbare, oftmals kausallogische Geschichtsdarstellung und dramatisieren diese durch die Verarbeitung des Stoffes in verschiedenen Genres. Welzer konnte dabei nachweisen, wie prägend und funktional wichtig Filme sind, um biographische Kohärenz herzustellen und eigene Erlebnisse dramatisch in Szene zu setzen oder auszuschmücken. Die von ihm Befragten gaben verschiedene Szenen aus bekannten Kriegsfilmen als persönliche Erlebnisse wieder, die laut Welzer nach einem quasifilmischen Verfahren, der Montage, in die eigenen biographischen Erlebnisse eingefügt wurden oder diese gar überlagerten. Dadurch erhielten die Biografien einen Sinn und eine Form, welche mit den allgemeingültigen kulturellen Deutungen übereinstimmten. Den Medien kommt somit die zentrale Rolle des Deutungsrahmens für das Alltagsgedächtnis zu:

39 Welzer 2005, S. 24. In den Neurowissenschaften unterscheidet man weitere Typen (insgesamt fünf) des Gedächtnisses: Zu den genannten kommen noch das prozedurale Gedächtnis (Können-Wissen) und das Priming (eine unkontrollierbare Speicherung verschiedener Reize) hinzu.

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Die biographische Erzählung von Zeitzeugen ist sowohl in der Erlebnis- wie in der Berichtssituation nach verfügbaren Modellen geformt, die die Erfahrung lediglich mit einem so oder so nuancierten Inhalt variiert, um sie für den Erzähler selbst wie für den Zuhörer zu einer „wahren“, d.h. selbst erlebten und authentisch berichteten Geschichte zu machen. In diesem Sinne erfinden wohl mehr Geschichten ihre Erzähler als Erzähler ihre Geschichten. [...] Die Stimmigkeit und Plausibilität von Erzählungen wird dabei zunehmend daran gemessen, inwieweit sie mit dem Bildinventar in Übereinstimmung zu bringen sind, das die Medien bereitgestellt haben.40

Neben anderen Medien ermöglichen es die Dokumentarfilme also, individuellen Erinnerungen eine kulturell gültige Form zu verleihen und sie auf solche Weise kommunizierbar und tradierbar zu machen. Aufgrund ihrer angeblichen Authentizität verfügen sie über eine starke Überzeugungskraft, suggerieren sie doch stets die Evidenz des Gezeigten. Der Dokumentarfilm und die Propaganda „vertragen“ sich zudem laut Martin Loiperdinger seit dem Beginn des Dokumentarfilms immer dann besonders gut, wenn das von der Kamera gefilmte Geschehen als visueller Beweis für eine Aussage dient.41 Sowohl die russischen als auch die ukrainischen Produktionen weisen in diesem Sinne propagandistische Züge auf: Sie klagen einander an, appellieren an das Publikum, folgen einem Entlarvungsgestus und behaupten, im Gegensatz zum ideologischen Gegner allein die Wahrheit zu zeigen. Da der aktuellen Generation im Schulunterricht noch keine oder nur wenige Informationen zur Hungersnot vermittelt wurden, verbreiten die Filme vor allem aktuelles geschichtswissenschaftliches Wissen über die Hungersnot, das auf einen allgemeingültigen kulturellen Konsens hinsichtlich der Frage zielt, was die Hungersnot eigentlich ist. Wichtig ist dabei nicht die Übereinstimmung der Informationen, sondern ihre sinnhafte Darstellung. Das Publikum soll in dem Geschehen jeweils eine Bedeutung erblicken, weshalb es auffälligerweise auch keine Debatten über die NichtDarstellbarkeit oder Nicht-Diskursivierbarkeit der Hungersnot gibt. Sowohl russische als auch ukrainische Produktionen plausibilisieren die Geschichte, legen sie auf eine Deutung fest und legitimieren diese durch Statistiken, historische Bilder und Aussagen von Experten/innen. Aus dem Vergleich der Dokumentation wird allerdings gerade die mediale Konstruierbarkeit

40 Welzer 2005, S. 188-189. 41 Vgl. Loiperdinger 2001, S. 75.

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der Geschichte deutlich, werden doch die gleichen Bilder für verschiedene Argumente benutzt. Denn aufgrund des Bildermangels müssen die Dokumentationen die Evidenz des Gezeigten mühsam herstellen: Sie nutzen mehr oder weniger beliebige historische Bilder und Dokumente, die eine männliche Stimme aus dem Off – als Garant der Objektivität – begleitet, welche die Bilder entsprechend semantisiert. Beispielweise sind in den Filmen zahlreiche Züge mit Getreideladungen zu sehen, die unter verschiedenen Umständen, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten gefilmt wurden. In den ukrainischen Produktionen werden sie durch den Kommentar zu Zügen mit aus der Ukraine beschlagnahmtem Getreide. Bezüglich der ersten Gedächtniskategorie Welzers, die das „Weltwissen“ hervorhebt, wird im ukrainischen Dokumentarfilm Die Hungersnot. Die Ukraine des 20. Jahrhunderts. Technologie des Genozids von Viktor Derjugin die Hungersnot so zum stalinistischen Genozid am ukrainischen Volk, der auf verschiedene Weisen erklärt wird. Erstens steht die Hungersnot im Kontext allgemeiner Säuberungen politischer und intellektueller Eliten der Ukraine. In diesem Zusammenhang wird auch die erzwungene Russifizierung der Ukraine betont, womit die Repressionen als russische Gewalt an den Ukrainer/innen erscheinen. Im russischen Film Holodomor 1933. Nicht gelernte Lektionen der Geschichte von Aleksej Denisov wird hingegen die erzwungene Ukrainisierung hervorgehoben, die der Russifizierung vorausging. Zweitens steht der Holodomor in einer Folge anderer Verbrechen der Bolschewiki: So wird die Hungerkatastrophe nicht als historischer Bruch, sondern als Konsequenz der verbrecherischen Handlungen des Regimes dargestellt. Verdeutlicht wird dies zum Beispiel anhand dem aus der sowjetischen Mythologie bekannten Pavlik Morozov (I, 00:09:3000:10:00), der seinen Vater an die Dorfverwaltung verriet. Er wurde von den Verwandten des Vaters umgebracht, in der UdSSR jedoch posthum zu einem Exempel der Treue zur sozialistischen Ideologie stilisiert. Die ukrainische Produktion sieht diesen Vorfall als symptomatisch für die UdSSR an, in der die Söhne ihre Väter verraten und somit die Anormalität der Ordnung ausstellen, in der nicht einmal familiäre Beziehungen Bestand haben.42 In diesem Zusammenhang bekommt die Hungersnot einen Ereignis-

42 Der Fall von Pavlik Morozov ist für die UdSSR durchaus symptomatisch, allerdings anders als es in der ukrainischen Produktion dargestellt wird: Gegen jedes bessere Wissen wurde das Familien-Drama im Sinne der sozialistischen Ideolo-

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status als logische Zuspitzung anderer Gewalttaten.43 Zugleich diskreditiert der Holodomor das gesamte sowjetische System. Drittens wird behauptet, dass die Hungersnot den Holocaust an Grausamkeit übertreffe. Derjugin zeigt Bilder aus den NS-Konzentrationslagern, setzt Hitler mit Stalin und Lenin buchstäblich gleich – in einer Art Fahndungsfoto gegen Ende des Filmes – und behauptet, im KZ sei ein Überleben möglich gewesen, bei der Hungersnot hingegen nicht. Die befragten Augenzeuginnen zeigen sich zudem davon überzeugt, dass der Hunger grausamer als der Krieg gewesen sei – immerhin hatte man im Krieg eine Chance zu überleben. Die Hungersnot sei hingegen in ihrer Auswirkung total gewesen. Die Zeugin Maria Chutorjans’ka berichtet als ehemaliger Auschwitz-Häftling sogar, dass die Ernährung im Lager besser gewesen sei als in der Ukraine 1932/33 (I, 00:43:33-00:44:10). Kurz darauf folgen Bilder der KZ-Opfer, die vor dem Hintergrund dieser Aussage geradezu zu verdichteten Darstellungen des Leides am Holodomor werden und die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg so mit den Erinnerungen an die Hungersnot überlagern. Diese Strategie der Überbietung des Holocaust war insofern auch kulturpolitisch erfolgreich, als dass der genaue Wortlaut der Zeugenaussage aus dem Film in der Ausstellung „Die Hungeropfer – Der unbekannte Völkermord an den Ukrainern“ im Kölner Lew-KopelewForum im Oktober 2008 nachgelesen werden konnte: „In Ausschwitz gab man uns ein wenig Spinat und einen Bissen Brot [...]. Krieg ist schrecklich, aber eine Hungersnot ist noch schlimmer.“44 Die Ausstellung wurde unter der Obhut Katherina Jušenkos, der Ehefrau des damaligen ukrainischen Präsidenten, organisiert. Zusammenfassend wird mit dem Holodomor in Bezug auf das Weltwissen eine radikale Umdeutung der sowjetischen Ord-

gie umfunktionalisiert. Auch der Dokumentarfilm erwähnt den Fall so, als ob Morozov in der Tat seinen Vater aus Treue zur sozialistischen Ideologie verraten hätte. Vgl. Družnikov 1987. 43 Im Gegensatz zur Ukraine wird in Russland als Höhepunkt des Stalinismus nicht die Hungersnot, sondern das Jahr 1937 diskutiert, in dem die politischen Säuberungen ein davor nicht gekanntes Ausmaß erreichten. Die Hungersnot wird zur ersten Welle der politischen Repressionen und der Zwangskollektivierungen im Jahr 1933 gezählt und in der Regel nicht als Einzelereignis hervorgehoben. 44 Zit. n. Leggewie 2011, S. 130.

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nung erzielt: Diese wird durch die Umcodierung der sowjetischen Dokumentation der 1920er-30er Jahre ins Gegenteil verkehrt und gar als schlimmer als das Nazi-Regime dargestellt. Das sowjetische Geschichtsbild wird hier regelrecht zunichte gemacht. In Russland wird hingegen eine differenzierte Sichtweise angestrebt, die die sowjetische Geschichtsdarstellung korrigieren, jedoch nicht ganz verwerfen soll. Der Film Der Hunger 1932: Der zugeteilte Tod von Maksim Katuškin klagt zwar die stalinistische Politik an, stellt die Ukraine jedoch in einen allgemeineren sowjetischen Kontext: Die Ukraine ist hier eine von vielen betroffenen Republiken. Stattdessen wird betont, dass auch die Russen dem eigenen System zum Opfer fielen. Die Geschichte der ersten Jahrzehnte wird dabei als ambivalent gedeutet. Um die Sowjetunion schnell wehrhaft zu machen, gab es angeblich keinen anderen Weg, als die Industrialisierung durch die Kollektivierung anzutreiben – so jedenfalls die Aussage des Professors der Moskauer Staatsuniversität (MGU) Alexander Zinoviev. Er ist insofern eine starke Legitimationsfigur in diesem Film, als dass er selbst unter der sowjetischen Macht gelitten hat und letztendlich gezwungen wurde, die UdSSR zu verlassen. Auf diese Weise steht er für eine oppositionelle Haltung gegenüber der UdSSR. Während er die Notwendigkeit einer raschen Kollektivierung erläutert, zeigt Katuškin Flugzeuge als Symbole der Wehrhaftigkeit, aber auch als Zeichen des Strebens in den Himmel. Es handelt sich um einen Verweis auf den heroischen Fliegerkult der 1920er Jahre, der zudem durch den Einsatz pathetischer Heldenmusik verstärkt wird. Die Hungersnot wird hier zur dunklen Kehrseite der sowjetischen Errungenschaften, die aus politischer Notwendigkeit heraus entstanden sei. Der generelle Tenor der Dokumentation ist zum einen, dass es allen schlecht ging, und zum anderen, dass wiederum nicht alles schlecht war. Die Darstellung Russlands als Weltmacht schließt dabei an einen aktuellen Diskurs an, der es ermöglicht, die sowjetische Geschichte zu heroisieren. Wenn es Opfer gab, dann waren es aktiv erbrachte, sinnvolle Opfer, die dem Fortschritt dienten. Während die ukrainische Produktion auf den sinnlosen Verlust von Menschen und somit nationalen Reichtum hinweist, verleiht die russische Produktion dem Tod der Verhungerten Sinn: Diese Opfer haben dem Land zum Erfolg verholfen. Beide Filme rationalisieren dabei jedoch jeweils die Gewalt des Stalinismus, indem sie sie als entweder ethnisch oder sozial ausgerichtet darstellen.

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Das Weltwissen wird in den Produktionen dabei auf genuin filmische Art und Weise hergestellt, die sich deutlich von anderen Formen der Vergangenheitsdarstellung unterscheidet und direkt auf die Formierung eines kommunikativen Gedächtnisses zielt. In allen Dokumentationen werden verstärkt religiöse Symbole verwendet, die auf ein aktuelles Legitimationssystem in Russland und der Ukraine hinweisen, das sich auf die christliche Religion und insbesondere die Orthodoxie bezieht. Dem Gezeigten wird auf diese Weise eine gleichsam sakrale Stimmung verliehen, und die aktuelle Rückbesinnung auf den Glauben wird in ihren unterschiedlichen Dimensionen vor Augen geführt: Sie fungiert als Rückkehr zum eigenen ‚Ursprung‘, als Etablierung ‚echter‘, ‚ewiger‘ Werte, als Streben zum Geistigen und als Kontrast zum sowjetischen System und somit als ikonografische Abgrenzung von der UdSSR. Zudem bewirken die audiovisuellen Medien, dass die Geschichte Gesichter erhält und individualisiert wird. In Anlehnung an die Tradition der Darstellung des Holocaust werden auch hier Augenzeugen und -zeuginnen zur Bestätigung des Gesagten oder Gezeigten befragt45, durch welche die Epoche ein konkretes Aussehen erhält und so eine Identifikation oder Mitleid mit den – allesamt recht alten – Interviewten ermöglicht. Diese Erzählungen der Augenzeugen und -zeuginnen konkretisieren ein abstraktes, historisches Material, legitimieren es und simulieren auf diese Weise so etwas wie ein episodisches Gedächtnis. Ihre Erzählungen sind kleine Versatzstücke, die vom Schrecken des Hungers berichten. Das semantische Gedächtnis bzw. das Wissenssystem steht nach Harald Welzer in einem hierarchischen Verhältnis zum episodischen Gedächtnis: So rahmt die Geschichte der Nation in den Filmen private Erinnerungen, die wiederum Beweise für die Historie liefern. Die Dokumentarfilme bewegen sich damit zwischen dem abstrakten und dem konkreten, dem kollektiven und dem individuellen Wissen. Auf der ersten Ebene soll ein allgemeines Verständnis hergestellt werden, die zweite soll die Distanz zum Geschehen reduzieren. Außerdem verbinden die Zeugen und Zeuginnen die Vergangenheit mit der Gegenwart: Sie stehen für eine lebendige Geschichte, die noch

45 Interviews mit Augenzeuginnen wurden seit der 14-teiligen Fernsehdokumentation Das dritte Reich (BRD 1960/61, R.: Heinz Huber, Artur Müller) zur Tradition. Ihre Umsetzung variiert bis heute und weist verschiedene Funktionen auf. Vgl. Keilbach 2003.

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unter uns weilt. Dabei betont die ukrainische Produktion, dass die Überlebenden in der heutigen Ukraine im Gegensatz zur Sowjetzeit nicht bedürftig sind46: Auf dem Tisch ist immer Brot oder etwas Essbares zu sehen, an der Wand hängt oft ein Stillleben. Der Bezug zur Gegenwart ist in den ukrainischen Produktionen auch generell viel stärker ausgearbeitet als in den russischen, die eher auf die Abgeschlossenheit der Geschichte hinweisen. Der ukrainische Film widmet sich gegen Ende den kommemorativen Praktiken selbst und thematisiert explizit den Mangel an Memorial-Akten in der Gegenwart. Mit verschiedenen Argumentationen zielt Derjugin zudem auf die Einrichtung neuer Memorial-Praktiken. Der Emotionalisierung als dritter zentraler Komponente des Gedächtnisses dienen nicht nur die Interviews, sondern auch eine Reihe von anderen ästhetischen und narrativen Strategien wie etwa die Infantilisierung der Opfer. In der ukrainischen Produktion geht es hauptsächlich um Kinder, die von der Hungersnot betroffen waren, wogegen der russische Film von Denisov behauptet, dass alle Bilder und Filmsequenzen von abgemagerten Kindern in Wirklichkeit aus dem Wolgagebiet und vom Anfang der 1920er Jahre stammen. Die Kinder bei Derjugin können nicht nur dem System keinen Widerstand leisten, sondern deuten auch auf die Auslöschung der nationalen Zukunft hin. So sind am Anfang des Filmes mehrere Kinder-Szenen zu sehen, die offenbar für sehr unterschiedliche Zwecke gedreht wurden. Der Kommentator macht darauf aufmerksam, dass die meisten der Kinder die Hungersnöte und Kriege und vor allem den Bau der „hellen Zukunft“ – ein sowjetisches Mythologem – nicht überleben werden (I, 00:08:0500:08:45). Eine weitere Emotionalisierungsstrategie stellt die auratische Aufladung des Todes dar, die zugleich auch die Historie dramatisiert. Diese Strategie entfaltet sich besonders in der ukrainischen Produktion, welche die nicht vorhandenen Bilder der Toten zu kompensieren und so das Ausmaß des Holodomors zum Ausdruck zu bringen sucht. So werden zahlreiche Bilder von Toten gezeigt, und mehrmals wird darauf aufmerksam gemacht, dass alle abgebildeten Menschen bereits gestorben sind. Zudem werden ShoaBilder und Filme aus der Zeit der Blockade von Leningrad (1941-1944)

46 Die schwierige Situation der Rentner/innen in der Ukraine ist allerdings bekannt. Die meisten sind auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen, um überleben zu können.

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einmontiert, bei welcher infolge der Einkesselung der Stadt tausende Menschen verhungerten. Oft sind auch leere Häuser und leere Plätze zu sehen, die einen unwiderruflichen Verlust suggerieren, der von den russischen Produktionen wiederum geleugnet wird. Die beiden hier gegenübergestellten Filme zeigen exemplarisch, wie ein kaum dokumentiertes, viele Jahrzehnte zurückliegendes Geschehen als Medienereignis aktualisiert werden kann. Motor dieser Aktualisierung sind dabei politische Diskurse, die selbst wiederum durch Medien konturiert werden und die den Rahmen definieren, innerhalb dessen das Ereignis überhaupt erst sichtbar wird. Nicht trotz, sondern gerade wegen der politischen Kontoverse um die Deutung der Hungersnot erfüllen die Dokumentarfilme dabei wichtige Funktionen bei der Installierung eines neuen Alltagsgedächtnisses sowie einer alternativen Geschichtsschreibung. Vor allem die wiederholte Aufnahme des Themas und das Angebot vielfältiger und kontroverser, dabei freilich nationalistischer und teilweise offen xenophober Deutungen und Bilder führt dazu, dass eine „Medienereignisspirale“47 in Gang gesetzt wird, welche es ermöglicht, aktuelle Erfahrungen und Ereignisse immer von Neuem mit der Hungersnot in Verbindung zu bringen. Mit einem halben Jahrhundert Verspätung zum Skandal geworden, hat sich die Hungersnot in den letzten Jahrzehnten zu einem gedächtnispolitischen Schlachtfeld entwickelt, das gerade von jenen, die die Katastrophe selbst nicht erlebten, nicht mehr vergessen werden kann.

L ITERATUR Jan Assmann, „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“, in: Jan Assman und Tonio Hölscher (Hgg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1988, S. 9-19. L.M. Bur’jan und !.". Rikun (Hgg.), Holodomor v Ukrajini. 1932-1933. Bibliohrafi#nyj pokaž#yk (Die Hungersnot in der Ukraine. 1932-1933. Bibliographischer Überblick), Odesa/L’viv 2001. Petro Burkovs’kyj und Oleksij Haran’, „Konflikt und Kooperation. Die Ukraine und Russland: Eine Beziehungsdynamik“, in : Osteuropa 60/2-4, 2010, S. 331-349.

47 Vgl. Mertens 2006, S. 33.

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9/11 und das Begehren nach dem repräsentativen Bild W IM P EETERS

Bei katastrophalen Großereignissen aller Art entstehen Bilder, die sich in einer sich beschleunigenden Wiederholungsschleife verbreiten und zu „Welt-Bilder[n]“1 werden, und andere, die rasch verschwinden. Bilder der ersten Art haben den Charakter von „Ordnungs-Bilder[n]“. Sie eignen sich besonders dazu, alsbald mit autoritativ-rational deutenden Kommentaren versehen zu werden. Es sind „imperativ ausgestreckte Zeigefinger“2. Nehmen wir den Fall 9/11, sind sie das visuelle Rüstzeug gegen den bilderstürmerischen Frontalangriff auf eine Bildikone der USA, das World Trade Center. Der Medienverbund Ordnungsbild/Kommentar soll den Zuschauer aus dem magischen Bann der Katastrophenbilder lösen. Diese Bilder rufen auch Gegenkommentare in Form von Verschwörungstheorien hervor, die der offiziellen Deutung mit vermeintlich ebenso rationalen Erklärungen vehement widersprechen. Paradoxerweise stärken sie damit die Kraft der Ordnungsbilder. Aber es gibt noch eine zweite Art von Bildern, die hingegen die Kommentierung eines Großereignisses eher verhindert. Bilder dieser Art können nicht ohne Weiteres in Form einer Wiederholungsschleife „auf die Welt Bedeutungen projizieren“3. Es sind vielmehr Bilder, die tabuisiert

1

Großklaus 2004, S. 132.

2

Flusser 1985, S. 44.

3

Ebd., S. 41.

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werden, weil sie keine eindeutige Botschaft zulassen. Um diese Bilder wird es im ersten Teil des Aufsatzes gehen. Die kommentierte Wiederholung der Bilder, die sich durchsetzen, hat die Kraft, Erinnerungen zu verändern. Die zeitliche und räumliche Distanz zwischen Zuschauer und Bild, Ereignis und Darstellung schwindet. ‚Am 11. September 2001 saß die Welt wie gebannt vor dem Fernseher.‘ Das sagt man so. Die Tatsache, dass man ein dramatisches Großereignis abweichend von diesem ausgerichteten Zuschauerblick registriert hat, ist scheinbar tabuisiert und wird gerne aus dem Gedächtnis gelöscht. Eine wissenschaftliche Umfrage anlässlich der Explosion der Raumfähre Challenger (1986) hat dies belegt.4 Das Challenger-Unglück war wohl die erste Katastrophe, die in Echtzeit ein Massenfernsehpublikum erreicht hat, noch bevor sie vom offiziellen Kontrollzentrum völlig erfasst werden konnte. Direkt nach dem Unglück wurden Studenten in einer Untersuchung von Ulric Neisser und Nicole Harsch gefragt, was sie in dem Augenblick gemacht haben, als es passierte. Da gaben die Befragten noch individuell unterschiedliche Antworten. Fast drei Jahre später erneut gefragt, gaben die gleichen Personen an, das Ereignis live im Fernsehen miterlebt zu haben. Die persönliche Erfahrung war gelöscht worden und hatte einer verfälschten Erinnerung Platz gemacht. Dauerpräsente Bilder verdrängen die individuellen Erlebnisse und rücken die kollektiv eingebundene Verarbeitung der unvorstellbaren Ereignisse in den Vordergrund. Der Fernseher scheint bei Großereignissen gemeinschaftsbildend zu wirken.5 Wenn man der These des Literaturwissenschaftlers Manfred Schneider folgt, hat das Medium TV sich darauf spezialisiert, Ereignisse in Jetztzeit zu übertragen6 und sie als Einbruch von Kontingenz in einem stündlichen

4 5

Vgl. Neisser/Harsch 1992, S. 9-31, hier S. 25. Vgl. Sturken 1997, S. 36. Zur gemeinschaftsstiftenden Rolle der Massenmedien in der modernen Gesellschaft, vgl. Anderson 1991, S. 35ff.

6

Vgl. Schneider 1990, S. 33f. Zugegebenermaßen werden die Wartezeiten zwischen den unterschiedlichen Ereignissen im Fernsehen mit Unterhaltung gefüllt. Aber Reality-Formate wie beispielsweise Big Brother oder Temptation Island verbinden Unterhaltung mit der Provokation von Skandalereignissen. Noch klarer wird es bei YouTube. Viele Kurzbeiträge zeigen mehr oder weniger legal gefilmte Ereignisse aller Art, vom Sturz in bester Slapstickmanier bis zur Erhängung Sadam Husseins.

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Gemeinschaftsritual zu verarbeiten. Die Bilder müssen – frei nach Sigmund Freud – wiederholt, erinnert und durchgearbeitet werden, bis das kollektive Gedächtnis die Ereignisse ausreichend überformt hat.7 Für den Philosophen Martin Seel kommen nur solche Ereignisse für die gerade geschilderte ‚stellvertretende‘ Bilderinnerung in Frage, die sich nicht problemlos in den „erwartete[n] oder erwartbare[n] Gang der Dinge“ einordnen lassen. „Ereignisse sind somit Veränderungen in der natürlichen oder geschichtlichen Welt, die eine Umstellung unserer Orientierung bewirken.“8 Großereignisse erschüttern nicht nur den Erwartungshorizont, sie decken auch auf verstörende Weise die unterdrückte Unreflektiertheit unseres Alltagstreibens auf. Plötzlich müssen wir uns fragen, wofür die Türme des WTC eigentlich stehen. Das individuelle Gedächtnis kann mit Hilfe der Medienkommentare den ‚Schläfer‘-Alltag nachträglich vielleicht noch im Sinne der Allgemeinheit zensieren, die Literatur ist da unerbittlich. Sie entlarvt die uns angeblich verbindende Szene vor dem Fernseher als Illusion und setzt bewusst an der Stelle an, an der das jeweilige Ereignis und der Alltag sich nicht mehr als vermittelbar zeigen. In Franziska Gerstenbergs Erzählung Glückskekse (2004) 9 wird auf provokante Art und Weise das Klammern an den Alltag beim Betrachten der Anschläge auf das WTC vorgeführt. In Gerstenbergs Erzählung, die mit 9/11 endet, kreuzen sich das Großereignis und der Urlaubsalltag der weiblichen Hauptperson inklusive Urlaubsaffäre mit der Wirtstochter Marianna auf brutalste Art: Sie zeigten die Aufnahmen in einer Endlosschleife, die professionellen und auch die Amateurvideos, spielten dazu getragene Musik, ich drehte den Ton ab, blieb aber sitzen. Vielleicht kochte Marianna das Abendessen, sie hatte von gebratener Entenkeule gesprochen, obwohl das ein Sonntagsgericht war. Von gebratener Entenkeule in Beifußrahm hatte sie gesprochen, an einem Dienstag, mit Rotkohl und Klößen.

7

Beim Challengerunglück zum Beispiel habe sich die ‚gewöhnliche‘ Lehrerin opfern müssen, um den USA klar zu machen, dass eine allzu naive Technikgläubigkeit die eigentliche Bedrohung darstelle.

8

Seel 2003, S. 37-47, hier S. 39. Hervorhebung durch den Autor.

9

Vgl. Gerstenberg 2004, S. 82-94. Teile des Artikels überschneiden sich mit: Peeters/Mczka 2009, S. 119-132.

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Neben meinem Fuß stand die Tüte vom Frischemarkt, darin der Wein, den ich für unsere letzte Nacht gekauft hatte.10

Sobald der Ton abgeschaltet wird, rückt sofort die Banalität der Vorbereitungen für den letzten gemeinsamen Abend in den Vordergrund. Wie man das bei einem Ereignis von solchen Ausmaßen erwarten kann, informiert der Wirt seinen Gast und schaltet den Fernseher an. Ein gemeinsamer Gedächtnisort will vor dem Fernseher nicht entstehen. Der Wirt und seine Tochter lassen die Protagonistin nach einer Weile allein im Wohnzimmer zurück. Aber vorher noch stellt Marianna auf respektloseste Art die Kommentierungsbedürftigkeit des Ereignisses, das über den Urlaubsort hereingebrochen ist, heraus. Als sie hereinkommt fragt sie: Warum schreit ihr so? Sie sah zum Bildschirm, öffnete und schloss den Mund, ihre Zähne glänzten weiß. Irgendwo schlug eine Uhr, und plötzlich dachte ich, Marianna ist hässlich, ein hässlicher Fisch, ihr Mund ging auf und zu. Vielleicht lag es am flackernden Fernsehlicht, an den Menschen, die sechstausend Kilometer von uns aus geborstenen Fenstern sprangen, vom Wind durch die Luft getrieben wurden wie Fetzen von Zeitungspapier, oder daran, dass Marianna, als sie nach langer Zeit sprach, nur ein einziges Wort sagte: Cool.11

Das Großereignis besiegelt hier das Ende des Urlaubsabenteuers. Durch die harte Realität der Medienberichterstattung mitsamt inakzeptabeler Kommentierung zeigen sich der Urlaubsalltag und ihre abenteuerliche Seite nicht länger als vermittelbar. Durch Großereignisse werden kleine Ereignisse eben auch kommentierungsbedürftig. Die Literatur macht explizit, was als Provokation auch von bestimmten 9/11-Fotografien ausgeht. Nicht alle Bilder werden akzeptiert für die unwiederbringliche Zäsur, von der in fast allen deutschen Zeitungen nach dem Ereignis des 11. September 2001 die Rede war. Bestimmte Bilder wirken angesichts der ikonischen Ruinenbilder der noch nachglühenden Metallgitter des WTC wie eine Fehlleistung. Bilder, die einen Defekt im Hinblick auf ihre Repräsentativität aufweisen, tauchen als Verdrängtes nach

10 Ebd., S. 94. 11 Ebd., S. 93.

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einer Weile wieder auf und führen noch Jahre nach dem Attentat zu erhitzten Diskussionen: Welche Kommentare lässt das folgende Bild von Alex Webb zu?

Abb. 1: Alex Webb, View of Lower Manhattan from a Brooklyn Heights rooftop.

Es zeigt die idyllische Szene einer jungen Mutter auf einer sonnigen Dachterrasse. Erst auf den zweiten Blick bemerkt man, dass mit dem Hintergrund etwas nicht stimmt. Die Mutter beugt sich fürsorglich über ihr Kind in einer Babywippe, während die Rauchschwaden der Türme über der New Yorker City liegen. Die brennenden Türme im Hintergrund nehmen dem Bild seine normale Familienalbumqualität. Warum hat die Frau sich im Vordergrund einer sich abspielenden Katastrophe fotografieren lassen? Es ist, als ob der Fotograf mit der Wahl des Motivs die Ohnmacht gegenüber der Katastrophe aufzuheben suchte und auf diese Weise unbewusst zeigen wollte, „why the calamity mattered.“12 Auf dem Foto wird die junge Frau von einem länglichen Schatten verdüstert, der aussieht, als käme er von einem Turm. Nach Aussage des Magnum-Fotografen hält das Bild nicht nur eine intime Szene zwischen Mutter und Kind fest, sondern auch „a kind of

12 Friend 2006, S. 23. Hervorhebung durch Friend.

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incongruity which I often feel exists in situations of strife and which is often ignored […].“13 Mag man bei der Aufnahme der jungen Mutter noch einwenden können, dass diese Bilder vor allem zeigen, dass das Leben irgendwie immer weitergeht, ist die Szene in der Aufnahme des Magnum-Fotografen Thomas Höpker weniger einfach zu entschärfen.

Abb. 2: Thomas Hoepker, View from Brooklyn .

Die auf dem Foto dargestellten fünf jungen Leute scheinen, tief in ein Gespräch verwickelt, sorglos und gelassen, den wunderschönen Septembertag in New York zu genießen, während im Hintergrund die WTC-Türme brennen. Die Tatsache, dass Höpker, in einem Akt der Selbstzensur, das Bild vier Jahre lang unter Verschluss hielt, bevor er es zunächst in Deutschland zum ersten Male gezeigt hat,14 zeugt von einem schlechten Gewissen. Die

13 Ebd., S. 24. 14 Nachdem das Bild in einer Übersichtsausstellung über sein Werk in München gezeigt wurde und auf dem Umschlag des Katalogs erschien (Pohlmann 2005), wurde es in 15 deutschen Zeitungen gezeigt. Bemerkenswerterweise noch einmal am 29.12.2012 als Begleitbild einer FAZ-Rezension von Kilian Trotier der Tagung Politiken des Medienereignisses, in derer Rahmen dieser Text entstanden ist. In den USA erschien das Bild zunächst nur im oben zitierten Buch von David Friend. (Vgl. Höpker 2006, http://www.slate.com/id/2149675 [Zugriff am

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Aufnahme der ‚chillenden youngsters‘ in Williamsburg, Brooklyn sei nur dadurch entstanden, so gibt Höpker entschuldigend zu bedenken,15 dass er nicht zum Schauplatz vorstoßen konnte; er stand im Stau. Höpker konnte scheinbar seinem Schicksal, Beobachter „[s]tille[r] Dramen im Alltag“ (Rolf Winter)16 zu sein, sogar im Angesicht einer Katastrophe nicht entkommen. Direkt nach 9/11 wurden für eine Magnum-Publikation Bilder selektiert, die er und seine Kollegen gemacht hatten. Höpker berichtet: I chose three of my own shots that I had taken from the Manhattan Bridge but set the images from that idyllic scene in Williamsburg aside, feeling that they did not reflect at all what had transpired on that day. The picture, I felt, was ambiguous and confusing: Publishing it might distort the reality as we had felt on this historic day […].This shot didn’t »feel right« at this moment and I put it in the ›B‹ box of rejected images.17

Der Fotograf hatte Angst, dass das Bild „would stir the wrong emotions […].“18 Vielleicht erinnerte ihn das Bild an eine ikonische Aufnahme einer Szene nach einer der schlimmsten Naturkatastrophen im kollektiven Gedächtnis der USA, nämlich eine Aufnahme des Fotografen Arnold Genthe, die das Große Bebens von San Francisco im Frühling von 1906 zeigt.

15.2.2013].) Seit Frank Rich in The New York Times darüber schrieb, ist eine rege Debatte entstanden. Vgl. Rich 2006, S. 12. 15 Vgl. Höpker 2006. 16 Die Kriegsspezialisten der Agentur, Susan Meiselas und Steve McCurry, waren bereits vor Ort und konnten „die schockierenden Facetten des Pandemoniums in Downtown NY hautnah am Ground Zero für Magnum dokumentieren.“ (Schaernack 2005, S. 21.) Rolf Winter arbeitete als Texter mit Höpker für die berühmten Stern- und Kristall-Reportagen über Amerika zusammen. Vgl. Till/Pohlmann 2005, S. 7. 17 Höpker 2006. 18 Friend 2006, S. 143.

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Abb. 3: Junge Damen auf Russian Hill nach dem San Francisco-Erdbeben von 1906.

Der Bekanntheitsgrad des Fotos wurde vor allem durch die Publikation des Gedenkbuches The Earth Shook, the Sky Burned von William Bronson anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Tragödie verstärkt. Es ist Frühling, und die kokettierenden jungen Damen auf dem Aussichtspunkt haben nicht nur Augen für das Feuer, das sich allmählich durch die Stadt frisst. Es ist diese Pose, die dem historischen Datum der Aufnahme zugleich eine gespenstische, auf die Zukunft ausgerichtete Lebendigkeit gegenüber stellt.19 Auch aus der zeitlichen Distanz heraus entdeckt Höpker, dass seine Aufnahme am Ufer in Brooklyn zunehmend bedeutsamer wurde.20 Fünf Jahre nach 9/11 erregte seine Publikation starke Aufmerksamkeit und löste eine Diskussion über die Interpretation des Fotos aus:21 „It has been interpreted as yet another example of indifference or the compulsion to return to normal even though, as anyone can see, there is nothing normal about what is happening. It is the emblematic photo of our times.“22 Andere Fotos, die

19 Vgl. Barthes 1989, S. 106; Göttel/Müller-Helle 2009, S. 56f. 20 Vgl. Friend 2006, S. 143. 21 Zu der Art der Diskussion und ihrem Verlauf siehe Woodward 2006, S. D6. 22 Cohen 2006, S. A21.

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nach 9/11 von den Massenmedien dem ungeschriebenen Konsens nach tabuisiert beziehungsweise nur einmalig und danach konsequent lange Zeit nicht mehr publiziert wurden, waren Bilder von stürzenden Menschen.23 Auf den ikonoklastischen Angriff folgte ein ikonophober Reflex der sonst so bildgierigen Medien. Bilder von Personen, die offensichtlich den Freitod gewählt hatten, wurden als zu schockierend erfahren und konnten darüber hinaus das allgemeingültige Narrativ über den Heroismus des amerikanischen Volkes im Angesicht des terroristischen Anschlags nur schmälern. Zunächst wollte man bildpolitisch keine Schwäche zeigen. Erst Jahre nach den Anschlägen ist die Repräsentativität dieser Bilder überhaupt in Frage zu stellen. Zur Debatte steht, ob das markante Bild Falling Man des APFotografen Richard Drew als ‚Mahnmal‘ für die Personen, die nie geborgen wurden, dienen kann. „To me“, so Drew selbst, „he'll always remain the unknown soldier.“24 Auch das Werk des amerikanischen Künstlers Eric Fischl stieß auf vehemente Ablehnung. Mit der Bronze-Statue Tumbling Woman (2002) hatte er versucht, 9/11 in ein befreiend-universelles Bild zu überführen. Fischls Statue zeigt eine Frau im freien Fall und basiert nicht auf einem Foto, sondern wurde einem auf dem Boden rollenden Modell nachgebildet. Die Statue wurde nichtsdestotrotz als Evokation der direkten Gewalt des Einschlags aufgefasst. Nach einer Woche wurde die Ausstellung der Statue im Rockefeller Center abgebrochen.25 Aus der Sicht von Fischl hat seine

23 Das bekannteste Beispiel ist hier ohne Zweifel das Bild Falling Man vom APFotografen, Richard Drew, das in den USA nur einmal, und zwar am 12. September 2001, in unterschiedlichen Zeitungen veröffentlicht wurde (u.a. in The New York Times) und in den ersten Jahren nach dem Anschlag nie wieder: „In most American newspapers, the photograph that Richard Drew took of the Falling Man ran once and never again. Papers all over the country, from the Fort Worth Star-Telegram to the Memphis Commercial Appeal to The Denver Post, were forced to defend themselves against charges that they exploited a man’s death, stripped him of his dignity, invaded his privacy, turned tragedy into leering pornography.“ (Ursprünglich veröffentlicht in Junod 2003, http://www. esquire.com/features/ESQ0903-SEP_FALLINGMAN [Zugriff am 15.2.2013].) 24 Pompeo 2011, http://news.yahoo.com/photographer-behind-9-11-falling-man-re traces-steps-recalls-unknown-soldier.html [Zugriff am 15.2.2013]. 25 Ebd.

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Statue das Verdrängte wieder hervorgeholt: „In America we very briefly saw the leapers, jumpers, fallers. So it became harder and harder to imagine the human tragedy, and therefore Tumbling Woman in this urban environment totally threw people with its vulnerability.“26 Im Falle Höpkers und seines Picknick-Bildes handelt es sich offensichtlich um ein anderes Tabu, nämlich um die ausgestellte Unerschütterlichkeit des Menschen. Das eigene Bild erinnert Höpker an das Gemälde Landschaft mit dem Sturz des Ikarus (1558) von Pieter Bruegel dem Älteren. Die hier dargestellten Bauern bei der Arbeit auf dem Feld scheinen, parallel zu den Menschen auf dem Foto, von der Tragik des im Hintergrund verschwindenden Ereignisses beziehungsweise des sich nebenbei erfüllenden mythischen Fatums ungerührt zu sein. Bruegel zeigt, so Höpker, a beautiful Flemish landscape and way in the sky this birdlike figure, Icarus, having flown too close to the Sun, [has] caught fire and is crashing down. [Similarly,] this is bucolic and in the background something [awful] is happening. I can only speculate [but they] didn’t seem to care. It took a while for the news to sink in. It took a while to know how to react.27

Im Gegensatz zur Fotografie Höpkers lässt das Gemälde von Bruegel eine emblematische Lektüre zu: Es war zur Zeit seiner Entstehung fest in einem eindeutigen interpretatorischen Kontext der stoischen Lehre verankert. 28 Das Medium Fotografie ist im Vergleich zu beweglichen Live-Bildern zu langsam und zu statisch, um noch mit seiner Aktualität überraschen zu können. Es ist offensichtlich: Die Provokation der gezeigten Fotos liegt in

26 Rakoff 2002, http://www.newyorkartworld.com/interviews/fischl-rakoff.html [Zugriff am 15.2.2013]. 27 Friend 2006, S. 143. 28 Vgl. Hagen 2001, S. 61. Es gibt wohl Versuche, die Bilder vom Anschlag auf das WTC als apokalyptische Szene zu deuten. Der Bleiglaskünstler Marc Mulders hat ein solches Foto mit erklärter Absicht in seiner Darstellung des Letzten Gerichts in der Sint-Jans-Kathedrale in ’s-Hertogenbosch integriert (Vgl. http:// www.marcmulders.com/kunst/album/sint_janskathedraal_s_hertogenbosch [Zugriff am 16.2.2013]). Aber ohne diese Kontextualisierung funktioniert das Foto nicht. Die Tatsache, dass Muslime das gleiche Foto als Bild des Dschihads auflösen können, mag dafür ein Beleg sein.

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der Darstellung einer Alltagsszene am Schauplatz einer Katastrophe. Aber wenn man sich jetzt fragt, warum dies schockierend ist, bleibt man stumm oder wird geschwätzig. Vielleicht ist das Geheimnis dieser Bilder mit dem vergleichbar, was Roland Barthes in La chambre claire. Note sur la photographie (1980) zu fassen versucht. Als Beispiel zeigt er ein Bild des niederländischen Fotoreporters Koen Wessing, das auf den ersten Blick lediglich die Banalität eines Aufstands in Nicaragua (1979) zeigt. Das „Abenteuer“29 dieses Bildes verdankt sich laut Barthes „der gleichzeitigen Präsens zweier losgelöster Elemente: heterogen, insofern sie nicht derselben Welt zugehörten (nicht nötig, bis zum Kontrast zu gehen)“:30 in diesem Falle die erwartbaren patrouillierenden Soldaten im Vordergrund und, diese Szene skandierend,31 der Spaziergang der zwei Nonnen. Bei den 9/11-Bildern sind es Alltagsszenen, die die Katastrophe im Hintergrund schon überwunden zu haben scheinen.

Abb. 4: Koen Wessing, Nicaragua.

29 Barthes 1989, S. 31. 30 Ebd. 31 Vgl. Wolf 2002, S. 99.

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Barthes wittert hier eine „strukturelle Regel“32, die ihm hinreichend plausibel erscheint, um die beiden Elemente begrifflich fassen zu können: nämlich mit Hilfe der Begriffe punctum und studium. Punctum ist das, was über das studium, also über die konventionelle Information der Bilder hinausgeht. Ein punctum ist im Gegensatz zum studium nicht abschließend diskursivierbar oder in einen Code übersetzbar. Es ist im Bild zwar irgendwie enthalten33, aber dennoch nicht präzise benennbar, und es manifestiert sich zunächst als unbewusstes Ereignis beim Betrachter34: „Seine Bedeutung wird aber nur in der Übersetzung in den Text manifest. Der latente Inhalt liegt denn auch gar nicht im Bild.“35 Die Feststellung eines auffälligen Details oder einer Kontrastwirkung zwischen zwei Bildebenen reicht alleine nicht aus: Die Nonnen im Hintergrund konnten Barthes verdeutlichen, was in seinen „Augen das (in diesem Falle wahrhaft elementare) ‚punctum‘ war; wenn aber Bruce Gilden eine Nonne Seite an Seite mit Transvestiten photographiert (New Orleans, 1973), dann ruft dieser gewollte (um nicht zu sagen, nachdrücklich betonte) Kontrast keinerlei Wirkung bei mir hervor (höchstens Verärgerung).“36 Das eigentliche „‚punctum‘ einer Photographie“, so Barthes, „das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).“37 Die Tatsache, dass die Bilder, sogar Jahre nach dem Ereignis, nachhaltig eine Diskussion auslösen können, ist symptomatisch für den wunden Punkt, den solche Bilder berührt haben. Die Provokation der Bilder ist nicht aufgehoben, wenn der Fotograf oder die fotografierten Personen den Betrachter darüber aufklären konnten, dass der widersprüchliche Eindruck des Bildes täuscht. Sogar wenn alle Daten, die man für das studium über die Herstellung und Darstellung des Bildes zusammentragen kann, vergessen

32 Barthes 1989, S. 31. 33 Als das punctum kann ein „Detail“ fungieren, auch „wenn es paradoxerweise die ganze Photographie einnimmt […].“ (Barthes 1989, S. 55.) „[O]b es nun deutliche Konturen aufweist oder nicht, es ist immer eine Zutat: es ist das, was ich dem Photo hinzufüge und was dennoch schon da ist.“ (Ebd., S. 65.) 34 Vgl. Berg 2001, S. 242f. 35 Ebd., S. 243. 36 Barthes 1989, S. 57. 37 Ebd., S. 36. Das lateinische Wort punctum geht auf das griechische Wort Trauma zurück.

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sind und man es aus „seinem üblichen Blabla entfern[t]“,38 überdauert das verstörende punctum. Es handelt sich um einen Bildüberschuss, der sich nicht wegkommentieren lässt und auch bei wiederholtem Betrachten nicht an Aktualität verliert. Dieser Bildrest deplaziert jegliche Kommentierung.39 Neben dem häufig angeführten Detail im Bild kann es sich bei Barthes’ punctum auch um einen zeitlichen Widerspruch handeln, zwischen dem historischen Datum des Bildes, „das ist gewesen“,40 und dem im Bild gleichwertigen Zukunftsbezug, „das wird sein“. Das punctum der gezeigten Bilder verfügt über die expansive Kraft,41 hervorzurufen, dass das Wesen der Fotografie in ihrem memento-mori-Moment verortet ist.42 Diese erschütternde Kraft der Fotografie offenbart sich beim Bild von Höpker in der widersprüchlich-alltäglichen Pose der porträtierten Personen vor dem Hintergrund der Katastrophe, gerahmt von zwei Zypressen, die seit jeher mit Tod und Trauer in Verbindung gebracht werden. Vielleicht fühlt der Betrachter sich ein wenig ertappt, den Tod zu verdrängen, nicht über den alltäglichen Konsum von passierenden Ereignissen hinausgehen zu können beziehungsweise dies den Personen auf dem Bild unterstellt zu haben. Wir sind besonders empfindlich für die unintendierte Pose,43 die zeigt, wie ungern der Mensch sich im Alltag von Ereignissen größeren oder kleineren Umfangs irritieren lässt.44

38 Ebd., S. 65. 39 Für das Verhältnis von Fotografie und Kommentar: Vgl. Geimer 2009, S. 27f. 40 Barthes 1989, S. 106. 41 Vgl. ebd., S. 55. 42 Vgl. ebd., S. 106. 43 Weder die bestimmte Haltung der fotografierten Personen noch die „Technik des Operators“ machen für Barthes die Pose aus: „Ich übertrage die Unbewegtheit des Photos, das ich vor Augen habe, auf die in der Vergangenheit gemachte Aufnahme, und dieses Innehalten bildet die Pose.“ Neben dem punctum gehört die Pose für ihn wesentlich zur Natur der Fotografie (Barthes 1989, S. 88). Vgl. Fried 2005, S. 567. 44 Etwas zur Fotografie Analoges lässt sich in der Literatur erkennen. Fotografie und Literatur bilden demnach ein Archiv für Szenen, in denen der Alltag und dramatische Ereignisse aufeinander stoßen. W.G. Sebald zitiert in seinem Essayband Luftkrieg und Literatur Beispiele aus dem Zweiten Weltkrieg von Alexander Kluge und Hans Erich Nossack. (Vgl. Sebald 2001, S. 48.) Kluge fängt

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Der französische Soziologe Henri Lefebvre liefert in La vie quotidienne dans le monde moderne (Paris 1968) eine Erklärung dafür, wieso der eigene Alltag gerade bei Großereignissen so unheimlich wirkt. Lefebvre geht davon aus, dass die alles überwuchernde Stadtkultur zum Zentrum unseres Referenzsystems geworden ist. Dieses Referenzsystem ist jedoch instabil, da die Stadt keine letzte Gewissheit vermitteln kann.45 Als potenzielle Referenzhoffnungsträger bleiben nur die Erzeugnisse der höchsten oder der trivialsten Kultur, nämlich Philosophie oder Alltäglichkeit. Die Philosophie soll auf der Basis ihrer langen Tradition ein Bild des Universums und des Menschen ausarbeiten. Ohne religiösen Überbau aber hat sie keine Breitenwirkung. Macht man dagegen die Alltäglichkeit zum Referenzersatz,

seinen Bericht über die Zerbombung von Halberstadt mit der Geschichte von einer Kinofachkraft an, die, sofort nach dem Einschlag einer Sprengbombe unerschütterlich damit beginnt, „die Trümmer bis zur 14-Uhr-Vorstellung aufzuräumen“. Körperreste, die im Keller herumliegen und die durch zerrissene Heizungsrohre gekocht worden sind, legt sie in ihrer Ordnungswut vorerst in den Waschkessel in der Waschküche. (Kluge 1977, S. 35.) Auch im Bericht von Nossack wird sauber gemacht. Einige Tage nach der Zerstörung Hamburgs sieht er eine Frau die Fenster putzen „in einem Haus, das einsam und unzerstört mitten in der Trümmerwüste“ steht. „Wir glaubten, eine Verrückte zu sehen“, so erinnert er sich und beschreibt noch weitere ähnliche Erfahrungen: „Das gleiche geschah, als wir Kinder einen Vorgarten säubern und harken sahen. Das war so unbegreiflich, dass wir anderen davon erzählten, als wäre es wunder was. Und eines Tages gerieten wir in einen völlig unzerstörten Vorort. Die Leute saßen auf ihren Balkons und tranken Kaffee. Es war wie ein Film, es war eigentlich unmöglich.“ (Nossack 1972, S. 220.) Der Alltag kann sich aber auch einem positiven Großereignis gegenüberstellen. In Frank Goosens Roman Liegen Lernen (2002) lässt sich der Protagonist durch die Nachricht vom Fall der Mauer nicht davon abhalten, den zweiten Teil des Films Alien weiterzuschauen. (Vgl. Goosen 2002, S. 221.) Sven Regeners Berlin-Roman Herr Lehmann (2001) nimmt die Wende zum Anlass, danach zu fragen, warum die Protagonisten in Westberlin so krampfhaft an den Gemeinplätzen ihrer Alltagsvergegenwärtigung festhalten und das Großereignis nur beiläufig registrieren. Das statische Ost-WestSystem, das den Ausnahme-Alltag in Westberlin voller Privilegien legitimiert, bricht weg. Das ist die eigentliche Katastrophe im Roman (vgl. Regener 2001). 45 Vgl. Lefebvre 1972, S. 162f.

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wird diese bei näherer Reflexion als herausgestellte Alltäglichkeit voller unbegründeter Alltagsfetischismen unerträglich, da sie die entstandene Leerstelle im Referenzsystem eher noch hervorhebt. Dennoch gilt für die Kultur überhaupt, dass zwar die Träger der Referenz „verschwunden sind, nicht aber die Erinnerung an und das Bedürfnis nach Referenzsystemen.“46 Ein Großereignis wie 9/11 steigert dieses Bedürfnis dadurch, dass es die prekäre Alltagsnormalität durchkreuzt und diese dadurch ihrer letzten Selbstverständlichkeit beraubt. Die alltägliche Pose auf dem Bild von Höpker wird unerträglich. Droht das Alltägliche seine Selbstverständlichkeit oder Unreflektiertheit zu verlieren, dann steigt der Wert des Alltags der mit der Einbildung besetzt ist, nicht-alltäglich zu sein, wie zum Beispiel die Intimität oder das Abenteuer.47 Anhand des folgenden Bildes aus dem Jahr 2012 lässt sich diese These von Lefebvre diskutieren.

Abb. 5: Rich Lam, Vancouver Riot Kiss 2012.

Man kann sich fragen, ob das Foto genauso provozierend wirkt wie die Bilder, die am Anfang dieses Aufsatzes betrachtet wurden. Im Gegensatz zu den anderen Bildern findet hier eine direkte Vermischung statt: Das angeb-

46 Ebd., S. 164. 47 Vgl. ebd., S. 171f.

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liche Liebespärchen und die Walze der Bereitschaftspolizei teilen den gleichen Schauplatz in Vancouver. Das ‚Bestechende‘ im Sinne von Barthes48 ist hier der Anblick einer Liebesszene am Schauplatz einer Fanrandale nach dem Finalespiel eines Eishockey-Turniers der lokalen Canucks gegen die Boston Bruins. Die sich während eines Gewaltereignisses behauptende Intimität, die eigentlich keine Öffentlichkeit verträgt, stört die Sensationslust des Betrachters. Parallel aufgezeigte Videoaufnahmen und mehrere Interviews mit den Beteiligten konnten belegen, dass es sich hier keineswegs um eine erotische Szene handelt. Der australische Einwanderer Scott Jones und seine Freundin, die Studentin Alex Thomas, befanden sich, nachdem sie sich das Spiel angeschaut hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort genau zwischen den Fronten und wurden wörtlich von der Bereitschaftspolizei überrollt. Daraufhin versucht der junge Mann, seine unter Schock stehende Freundin zu beruhigen.49 Der Einbruch eines unerwarteten Ereignisses im Alltag vermag uns nach Lefebvre das trügerische Gefühl zu geben, den Kern unserer Existenz spüren zu können. Dieses trügerische Gefühl verdeckt jedoch das Kernproblem des abendländischen Menschen, den Alltag als Referenz seiner Existenz verdrängen zu müssen. Lefebvre vertritt die Position, dass die menschlichen Beziehungen ihre beruhigende Erdung verloren haben und dass nur noch auf die Rede als ihr Fundament zurückgegriffen werden kann. Die Referenzunsicherheit führt zu einer massiven und fast beliebigen Produktion von Signifikanten, die sich mit technisch reproduzierbaren Bildern vermischt. Kein Bild hat jedoch noch die Qualität, die Rede begrenzen zu können. Bilder sind nahezu auf die Sprache des Kommentars angewiesen, die aber ihrerseits auf die Bildproduktion angewiesen bleibt. Es gibt kein emblematisches Bild, das konsensfähig die entleerte Referenz vertreten könnte.50 In diesem Sinne sind die gezeigten 9/11-Bilder provozierender als das Vancouver-Riot-Kiss-Foto. Der konkret zuordenbare Sturz des Pärchens aus ihrem Liebesalltag heraus stellt die absolute Aufwertung des Alltags dar. Eine alltägliche Liebesgeste ist in dem Kontext ein nacktes Liebesabenteuer: Die Liebe zeigt sich in ihrer Verletzlichkeit und immunisiert

48 Vgl. Barthes 1989, S. 36. 49 Wittmann 2011, S. 10. 50 Lefebvre 1972, S. 166ff.

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dem Anschein nach gegen die Gewalt. Auf diese Fiktion kann man sich einigen und auch auf die Illusion des Bildes, dass die Liebe die Gewalt übersteigt. Diese Kraft des Bildes konnte auch die Imagination des Internets beflügeln. Mittels Photoshop wurde die Szene vor dem Hintergrund aller möglichen Gewaltereignisse neu inszeniert.51 Die Internetgemeinschaft feiert eine der „Funktionen“ von Bildern, die nach Maurice Blanchot darin besteht, „das formlose Nichts zu besänftigen, menschlicher zu gestalten, welches das unauslöschliche Residuum des Seins uns entgegendrängt.“52 Das „Glück des Bildes“ liegt in seiner Kraft zu täuschen: Das Vancouver-Riot-Bild verbindet sich einerseits mit der Gewalt, die aus dem Nichts kommt, und begrenzt diese Nähe zugleich. Hingegen kann uns das Bild von Höpker durch die von ihm hervorgerufene „bedrohliche Nachbarschaft eines vagen und leeren Außen“53 nicht beglücken. Vor dem Hintergrund der sinnlosen Opfer von 9/11 ist kein Platz für Versöhnung. Es bleibt nur das Warten auf kommende eindeutige Bilder, die den Alltag überblenden, zum Beispiel die Bilder vom Krieg gegen das Böse. Die Zäsur 9/11 geht auch mit einer Kampfansage an den ikonografischen Relativismus einher. Bei einem Medienereignis dieses Ausmaßes beschwören die westlichen Gesellschaften im postanalogen Zeitalter der Bildbearbeitung nach wie vor die Macht des Bildes, Repräsentativität zu beanspruchen. Der Westen hat vielleicht eine stark ausgeprägte visuelle Kultur, aber kann er sich nach 9/11 auch auf ausreichend starke Gegenbilder mit Symbolkraft für den Widerstand der New Yorker gegen den Terrorismus einigen? Das alte WTC war nie sehr beliebt, bevor es zerstört wurde. Nach 9/11 drängt sich die Frage auf, wofür die Türme in der Skyline von New York eigentlich standen. Für die amerikanische Kolumnistin Nicole Gelinas repräsentierten sie nichts weniger als das Wesen der US-Bürger: „They were us: stark capitalism, power and beauty without explanation or apology.“54 Mag diese Lesart vielleicht nicht allgemein einleuchten, ist die Sil-

51 Vgl. http://bleacherreport.com/articles/737896-the-best-vancouver-kissing-coup le-memes-on-the-internet-w-originals/page/10 [Zugriff am 15.2.2013]. 52 Blanchot 2012, S. 265. 53 Ebd. 54 Zitiert nach: Westcott 2012, http://www.guardian.co.uk/artanddesign/2004/jun/ 11/architecture.september11 [Zugriff am 15.2.2013].

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houette des alten WTC doch für viele sakrosankt geworden. Jedes Spiel mit dem Bild wird sofort zum Politikum und entsprechend zum globalen Medienereignis. Als völlig verfehlt und pietätlos wurde zum Beispiel der Entwurf zweier miteinander verbundener Türme für das neue Geschäftszentrum Yongsan Dreamhub in Seoul, den das Rotterdamer Architekturbüro MVRDV vorstellte, von Angehörigen der 9/11-Opfern rezipiert. Die Mitte des Gebäudes erinnere zu sehr an die Explosion im WTC.55 Der Entwurf wurde als billige Werbeaktion des Büros gewertet. Die Architekten behaupten hingegen, ihre Inspiration wäre eher eine Wolke gewesen, die sich um Hochhäuser legt.

Abb. 6: Entwurf Türme Seoul.

Der Vorschlag des Architekten Herbert Belton und des Bauingenieurs Ken Gardner für eine Neubau größer dimensionierter Zwillingstürme auf Ground Zero mit etwa 115 Etagen konnte sich nicht durchsetzen, obwohl der Plan von den New Yorkern stark befürwortet wurde und angeblich darüber hinaus noch preisgünstig gewesen wäre.56 Für die Projektentwickler war die Wiedererrichtung des WTC wohl zu unkalkulierbar. Würde die

55 Vgl. http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/twin-towers-in-seoul-architektenentwurf-empoert-9-11-opfer-a-803228.html [Zugriff am 15.2.2013]. 56 Westcott 2004, http://www.guardian.co.uk/artanddesign/2004/jun/11/architectur e.september11 [Zugriff am 15.3.2013].

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neue Skyline nicht als falsches Trotzsignal aufgefasst werden, und könnte sie nicht zukünftige vermögende ausländische Mieter abschrecken? Der letztendlich gewählte Entwurf von Daniel Libeskind für den höchsten Turm auf Ground Zero schien dem Bedürfnis nach einem Gegenbild weniger populistisch entgegenkommen zu wollen: Der Freedom Tower sollte mit seiner Höhe von 1776 Fuß, entsprechend dem Jahr der Unabhängigkeitserklärung der USA, dauerhaft in der Skyline von New York sichtbar machen, auf Basis welcher Gründungserzählung die Nation errichtet wurde. Auf einen Blick ist diese Zahlensymbolik jedoch nicht zu erkennen. Deshalb sollte der Turm mit seiner versetzten Spitze auch an den Arm der Freiheitsstatue erinnern.

Abb. 7: Entwurf Freedom Tower von Daniel Libeskind.

Unter Druck des Bauherrn wurde der Entwurf von Libeskind jedoch aus wirtschaftlichen Überlegungen stark geändert. Auch der Name Freedom Tower wurde aufgegeben. Der Name One World Trade Center wäre einladender für die potenzielle chinesische Kundschaft. Der neu beauftragte Architekt David Childs behielt von Libeskinds Entwurf lediglich die Zahlensymbolik von 1776 Fuß bei. Man muss sich fragen, ob Wolkenkratzer überhaupt geeignet sind, diese Rolle des Gegenbildes zu erfüllen. Sie stehen in einer Genealogie von Ge-

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bäuden, die sich eher durch Hybris als durch Stabilität auszeichnen. Sie stehen in der Nachfolge des Turms von Babel: Auch sie wollen mit der Spitze den Himmel berühren. Von der antiken Regel der Firmitas kann hier nicht mehr die Rede sein. Diese Vorschrift bezog sich nicht nur auf die Festigkeit im technischem Sinne. Nach Vitruv ist sie auch „ein semiotisches Prinzip, die Firmitas soll sich machtvoll zeigen, sie soll dem Betrachter ein steinernes Gesicht zuwenden, sie soll ihn aus der unerschütterlichen Gestalt des Gebäudes, aus dem tiefen Eingelassensein in die Erde heraus ansprechen.“57 Wolkenkratzer hingegen strahlen keine Festigkeit aus. Sie wollen uns wie die gotischen Kathedralen mit ihrer Erhabenheit für einen Glauben einnehmen, sei es an die Technik oder den Kapitalismus. Sie folgen einer Logik der „Überbietung und Täuschung“,58 welche die Skelettarchitektur ermöglicht hat. In der Erzählung Atta des amerikanischen Autors Jarett Kobek legitimiert der studierte Städteplaner Mohamed Atta den Angriff auf das WTC auch immer wieder als Architekturkritiker: „I am too Muslim for the sodomitic flights of imagination requisite for Western architecture beneath the lash of Le Corbusier. [...] I am not a Brutalist. I will not build concrete and steel abominations that haunt the sky. I will not block the sun with my arrogance.“59 Gegen den Makel der offensichtlich fehlenden Firmitas nach 9/11 versucht Childs vergeblich mit Baumaterialien ‚anzuklotzen‘. Das Fundament seines Turms ist besonders massiv. Es ragt 60 Meter in die Erde. Die Wände sind aus bis zu 60 cm dickem Stahlbeton. Die massive und teilweise bombensichere Glasfassade des Turms steht auf einem fensterlosen, 20 Etagen in die Höhe ragenden armierten Betonsockel, der durch LEDbeleuchtete Glaspaneele kaschiert wird.60 Selbstverständlich ist das Treppenhaus im Inneren als Fluchtweg besonders geschützt; die Wände sind 91

57 Schneider 2006, S. 120. Kursivierung W.P. 58 Ebd., S. 120f. Seit der Entstehung von Wolkenkratzern zitieren die Architekten explizit die Zwillingstürme der gotischen Kathedralen. Ein beeindruckendes Beispiel ist Kenzo Tanges Tokyoter City Hall, das die Architektur der Notre Dame in Paris zitiert. 59 Kobek 2011, S. 29. 60 Ouroussoff 2007, http://www.nytimes.com/2007/03/04/weekinreview/04ourouss off.html?_r=1&hp&oref=slogin [Zugriff am 15.3.2013].

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cm dick. Spötter nennen den neuen Turm wegen dieses paranoischen Versuchs, seine Verletzlichkeit zu kaschieren, Fear Tower.61 Während in Childs Entwurf die Vergänglichkeit der Turmbauten verdrängt wird, hat der Erinnerungsspezialist Libeskind, der bekanntlich das Jüdische Museum in Berlin erbaut hat, dies explizit mitbedacht. Sein Freedom Tower steht, wie alle Wolkenkratzer, für den Glauben an die Zukunft. Zugleich sollte der Turm sich einmal jährlich zurücknehmen, um die Erinnerung an die Ruinen des Vorgängerturms im richtigen Licht erscheinen zu lassen. Ursprünglich war der Turm so geplant, dass jährlich am 11. September zwischen 8.46 und 10.28 Uhr die nicht überbauten ‚Fußabdrücke’ der ehemaligen Zwillingstürme schattenfrei bleiben – das ist der Zeitraum zwischen den beiden Flugzeug-Einschläge in das WTC. (Die Lage von Childs Turm lässt dieses Schattenspiel nicht mehr zu.) Ein Projekt, das auch mit Licht an das alte WTC erinnert, wurde bereits am Ground Zero realisiert. Einmal im Jahr wird ein Lichtspektakel mit 88 Scheinwerfern inszeniert, die in der Form von zwei vertikalen Lichtsäulen die zwei Türme nachbilden.62 Die Erinnerungsinstallation ist nicht nur umstritten, weil sich tausende Vögel darin fangen, sondern zudem, da sie an die LichtdomÄsthetik von Albert Speer erinnert. Childs Turm sieht ebenfalls eine Lichtinstallation vor. Sein Turm soll nachts einen großen Lichtstrahl über den Himmel von New York werfen. Auch diese Emblematik ist nicht ohne Ironie: Es scheint historisch verbürgt zu sein, dass das Minarett, was übersetzt „Leuchtturm“ heißt, mittelalterlichen Kirchtürmen zum Vorbild diente.63 Mehr oder weniger gelungen wird reichlich aus dem emblematischen Bildarsenal des Abendlandes geschöpft, um die Leere, die der Einsturz der Türme offengelegt hat, zu verdecken. Ein Glaube muss wiederhergestellt

61 Murdoch 2005, http://www.nationalreview.com/articles/213890/what-are-we-afr aid/deroy-murdock [Zugriff am 15.3.2013]. Der Roman 1WTC (2011) von Friedrich von Borries spielt mit dieser Paranoia. In der Imagination des Autors ist im Fundament des Gebäudes ein geheimes Verhör- beziehungsweise Folterzentrum des amerikanischen Geheimdienstes geplant. 62 Vgl. http://www.creativetime.org/programs/archive/2002/tribute/main.html [Zugriff am 15.2.2013]. 63 Vgl. Schneider 2006, S. 120.

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werden. Es ist ein Spiel mit notwendigen Fiktionen oder falschen Wahrheiten, wie der Rechtshistoriker Pierre Legendre es mit den Worten des humanistischen Juristen Alciatus formuliert.64 Nach Legendre ist die Ästhetik der Inszenierung die Grundlage der menschlichen Kommunikation. Legendre gesteht ein, dass dies im durchrationalisierten christliche-industriellen Abendland keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Er sieht den Menschen als Wesen, das erst als ihn übersteigende Montage aus Körper, Bild und Wort im Stande ist, die Leere, die seiner Existenz zu Grunde liegt, zu verdecken.65 Im Abendland sind es genealogische Ordnungen, die den Erzählrahmen für diese Selbstinszenierungspraxis bieten. Es sind Erzählungen im Namen einer Figur des Dritten: Gott, Vater, Verfassung, Nation oder Freiheit. Kein Held opfert sich im Namen des wiederhergestellten Alltags. Helden spielen eine wichtige Rolle bei der Montage der Bilder der Nation. Nur sie dürfen in den USA nach bedeutenden Großereignissen die Fahne hissen, wie es drei Feuerwehrmänner vor den Trümmern des WTC stellvertretend und in Analogie zu den Helden des zweiten Weltkriegs vormachten. Das Foto des Fotografen Thomas E. Franklin geht um die Welt. Es ist die New York Times, die am 14. Oktober 2001 auf ihrer Titelseite neben dem Bild der Feuerwehrleute die berühmte Aufnahme von amerikanischen Soldaten in Siegerpose auf der Pazifikinsel Iwo Jima als ikonisches ‚Vorbild‘ zeigt. Am 11. März 2002 erscheint die Aufnahme von Thomas E. Franklin als Erinnerungsmarke für gute Zwecke.66 Die repräsentative Einordnung dieses auserwählten Gegenbildes in einer Reihe von Bildikonen des Sieges soll eine alternativlose Deutung des Ereignisses suggerieren.

64 Vgl. Legendre 2011, S. 16. 65 Legendre 2012, S. 164. 66 Vgl. http://septterror.tripod.com/firephoto.html [Zugriff am 15.2.1013], sowie dazu auch Mügge 2006, S. 24f.

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Abb. 8: Joe Rosenthal, Raising the Flag on Iwo Jima (1945).

Abb. 9: Thomas E. Franklin, Three Firefighters Raise an American Flag at Ground Zero.

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Die genealogische Inszenierung fand noch auf anderen Bühnen statt. Eine US-Fahne, die beim Einsturz der Türme vom Fahnenmast gerissen wurde, konnten Polizisten etwas weiter entfernt sicherstellen. Sie wurde daraufhin vom 5.-7. Dezember 2001 auf eine Mission der Raumfähre Endeavour mitgenommen.67 Wie die heiligen Zungen beim Pfingstwunder ist die Fahne aus dem Himmelreich zu den Menschen zurückgekehrt. Diese Fahne ist fester Bestandteil der jährlichen 9/11-Gedenkfeier am Ground Zero. Dieses Ritual soll den Glauben an die Verheißung der Türme erneuern. Die babylonische Sprachverwirrung der Kommentare ist aufgehoben. Dafür ist Jesus am Kreuz gestorben und viele in seiner Nachfolge. Diese religiöse Semantik ist unübertroffen für Ereignisse, die eine große Opferzahl und eine ebenso große Ratlosigkeit hervorrufen. Zufälligerweise wurden zwei Stahlträger zwischen den Trümmern gefunden, die sich durch die Einwirkung des Einsturzes eines der Türme in der Form eines lateinischen Kreuzes offenbarten. Die Errichtung des angeblichen Zeichens als Denkmal auf dem Ground Zero Memorial Gelände hat den Verband American Atheists dazu veranlasst, auf eine Entfernung dieses Denkmals zu klagen, es sei denn, andere religiöse und nicht-religiöse Auffassungen würden gleichwertig repräsentiert.68 Der Ausgang dieses Verfahrens wird den Streit über die Lesart der repräsentativen Gegenbilder nach 9/11 nicht verstummen lassen. Jeder Zuschauer weiß mittlerweile aber auch um die eigentliche Qualität vor allem der Fotografie, jenseits jeglicher Konstruktion das Zufällige, Ungestellte und Unbestimmbare eines Ereignisses einfangen zu können. Vielleicht sind die störenden Bilder ‚realistischer‘ als die immer wieder gezeigten Bilder, gerade weil sie eben den Stachel des Zufälligen, des „Es-istso-gewesen“69 besitzen, beziehungsweise weil sie auch bei Wiederholung nicht abstumpfend wirken. Sie konfrontieren das Abendland mit der Fragilität des eigenen Referenzsystems. Die Bilder rufen in Erinnerung, dass Fotos nicht einfach eine Emanation der Realität sind, sondern in einer Rezeptionskultur verhaftet sind, die nach wie vor von einem Begehren nach dem einen emblematischen Bild geprägt ist, das keinerlei Worte mehr bedarf.

67 Vgl. http://www.spacetoday.org/SpcShtls/Endeavour6000flags.html [Zugriff am 15.3.2013]. 68 Vgl. http://thelibertytree.me/2011/07/28/atheists-dont-want-911-memorial-cross [Zugriff am 15.3.2013]. 69 Barthes 1989, S. 87.

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ABBILDUNGEN Abb. 1: Alex Webb, View of Lower Manhattan from a Brooklyn Heights rooftop. USA, New York City. September 11, 2001. Zit. n. Friend 2006, Fotomittelteil. © Magnum. Abb. 2: Thomas Hoepker, View from Brooklyn, New York City, September 11, 2001. Zit. n. Friend 2006, Fotomittelteil. © Magnum. Abb. 3: Zit. n. Bronson 1986, S. 46. Abb. 4: Koen Wessing, Nicaragua, 1978. Zit. n. Barthes 1989, S. 32. Abb. 5: Rich Lam, Vancouver Riot Kiss 2012. © Getty Images. Abb. 6: Zit. n.: http://blog.archpaper.com/wordpress/archives/28771#more28771 [Zugriff am 1.10.2014]. © MVRDV. Abb. 7: Ground Zero Master Plan, Studio Daniel Libeskind, http://daniellibeskind.com/projects/ground-zero-master-plan/images [Zugriff am 1. 10.2014]. Abb. 8: Joe Rosenthal, Flag Raising on Iwo Jima, 23.02.1945. National Archives: http://research.archives.gov/description/520748 [Zugriff am 1. 10.2014]. Abb. 9: Thomas E. Franklin, Three Firefighters Raise an American Flag at Ground Zero. Zit. n. http://en.wikipedia.org/wiki/File:Ground_Zero_ Spirit.jpg [Zugriff am 1.10.2014]. © 2001 The Record, Bergen County, NJ.

Phänomenologie des Eklats Zur Politizität und Ereignishaftigkeit einschneidender Erlebnisse

   Im ersten Anfang: das Er-staunen. Im anderen Anfang: das Er-ahnen. MARTIN HEIDEGGER, VOM EREIGNIS

V ORHER /N ACHHER Ein Wettermoderator im Fernsehen zeigt routiniert auf die Karte im Hintergrund. Aber anstatt von Deutschland zu sprechen, entfährt ihm „Deutsches Reich“. Schnell korrigiert er sich. Ein Künstler leitet Auspuffgase in eine Synagoge und lässt Besucher mit Gasmasken durch den Gebetsraum schreiten. Die Aktion ruft empörte Reaktionen in der Presse hervor. Ein Diktator tritt auf den Balkon seines Palastes und wendet sich an die versammelte Menge. Plötzlich wird seine Rede unterbrochen, es herrscht Aufruhr ... Wir wissen, was ein Eklat ist – ob im ZDF, bei Santiago Serras Kunstaktion oder während der letzten öffentlichen Rede Nikolae Ceaucescus. Eine Panne tritt auf, ein schockierendes Erlebnis tritt ein, eine Ordnung wird gestört: Eklats bezeichnen ein unerwartetes Ereignis, das eine Zäsur oder ein öffentliches Ärgernis zur Folge hat. Das Wort assoziiert Zerstörung, Blendung oder Lautstärke: Französisch éclat bezeichnet ein plötzliches lau-

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tes Geräusch, einen Knall, einen Splitter.1 Im Englischen gibt es die Entsprechung incident (lat. incidere, von in- „zu“ und cadere „fallen“). Gemeint ist ein Zwischenfall, ein plötzliches Ereignis, wobei incident oftmals im Zusammenhang mit Gefahr oder Krieg auftaucht. Dieser polemische Aspekt ist nicht arbiträr. Selbst harmlose Eklats haben bisweilen Konsequenzen oder stellen unterschwellige Konflikte dar. Auch wenn sich der anfangs erwähnte Wettermoderator sofort korrigiert, hat er durch die versehentliche Einbeziehung einer nicht-banalen Assoziation in den banalen Medienalltag eine Bedeutungsfront eröffnet, an die man sich als Zuschauer unweigerlich begeben muss. Ein Eklat schafft eine Situation, der man sich nicht ohne weiteres entziehen kann und in der es ein klares Vorher und Nachher gibt. Einschneidende historische Ereignisse gehören ebenso dazu wie Schicksalserlebnisse, politische Skandale, familiäre Vorfälle usw. Wie an obigen Beispielen zu sehen ist, treten Eklats nicht ausschließlich als plötzliche oder lärmende Ereignisse auf. Auch eine Serie von Ereignissen oder sogar das Ausbleiben eines Ereignisses können zu einem Eklat führen – man denke z.B. an einen Popstar, der ein Konzert abbricht oder gar nicht auf der Bühne erscheint. Angesichts dieser unterschiedlichen Erscheinungsformen ist es sinnvoll, von einem Eklatspektrum auszugehen, wobei es sich bei den drei Anfangsfällen um drei Enden dieses Spektrums handeln könnte: • • •

1

einen stummen Eklat, der keine äußeren Folgen hat, aber gleichwohl Aufmerksamkeit erlangt (ein Versprecher), einen verzögerten Eklat, der durch wiederholte Rezeption und Adaption wirksam wird (ein Skandal), und einen sprechenden Eklat, den man gewöhnlich als öffentlichen Eklat bezeichnet (ein Vorfall).2

Im deutschen Sprachgebrauch lässt man entsprechend beim Lancieren einer unerwarteten Nachricht „eine Bombe platzen“. Zum Eklatbegriff vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, „Eklat“, http://www.dwds.de/?qu=eklat& view=1 [Zugriff am 11.9.2011].

2

Zum Versuch einer Typisierung vgl. Kepplinger 2005, S. 38-40. Das Spektrum ist indes nicht auf diese Enden beschränkt. Darüber hinaus finden sich z.B. spitze Eklats: kurze heftige Empörungen ohne gravierende Folgen (z.B. Zwischenrufe, technische Pannen), stumpfe Eklats: unauffällige Ereignisse mit nachhalti-

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Die Medienereignisforschung oder die Sozialwissenschaften sagen bislang wenig darüber aus, was ein eklatantes Phänomen ausmacht und wie es sich von anderen Ereignisformen unterscheidet. Karl Otto Hondrich etwa betreibt in seiner Phänomenologie des politischen Skandals (2002) keine Phänomenologie, sondern betrachtet die soziologischen Grundlagen und

ger Wirkung (so ist die oben erwähnte letzte Rede Ceaucescus auch ein Beispiel für einen stumpfen Eklat, da hier fast unmerklich die Kulisse der Macht in sich zusammenfällt), ikonische Eklats: Ereignisse, die eigentümliche Bilder hinterlassen bzw. Bilder, die Ereignisse sind (Die Geschichte des Ikonoklasmus ist hier ebenso angesprochen, wie der Bildersturm in den Ateliers der Moderne), panoramische Eklats: Ereignisse, die weitreichende gesellschaftliche Diskussionen nach sich ziehen (Der Amoklauf am Gutenberggymnasium in Erfurt am 26. April 2002 führte beispielsweise nicht nur zu lang anhaltenden Debatten über die Jugend-, Gewalt- und Medienkultur, sondern zur Änderung des Jugendschutzgesetzes, des Thüringer Schulgesetzes, sowie zur Verschärfung des Waffengesetzes; vgl. Becker 2005, Beyer 2004), kumulierte Eklats (Affären): eine Kaskade von Ereignissen offenbart den Kern des Konfliktes, Problems usw. (Mit der „Watergate-Affäre“ ist eine Kumulation von Ereignissen bezeichnet, die gravierende Auswirkungen auf das politische System der USA hatten. Während beim verzögerten Eklat (Skandal) der ursprüngliche Anlass in der darauf folgenden öffentlichen Debatte verloren gehen mag – im obigen Falle des Kunstskandals redet man über den Holocaust statt über Kunst –, ist beim kumulierten Eklat der gesamte Ereignisablauf konstituierend und Anlass), antizipierte Eklats: die bloße Ankündigung eines Ereignisses wird zum Ereignis (Die bloße Ankündigung der Intendantin der Deutschen Oper, die Aufführung von Mozarts Idomeneo aufgrund von Drohungen absetzen zu wollen, löste 2006 einen Aufschrei in der Presselandschaft aus; vgl. „Kniefall vor Terroristen“, 26. September 2006, http://www.stern.de/kultur/musik/absetzung-von-mozart-oper-kniefall -vor-terroristen-571171.html), usw. Wir ordnen hier also auch Skandale, Attentate, Amokläufe, Zwischenrufe, Pannen und vergleichbare Phänomene unter, erstens, weil es uns um einen perspektivischen Blick auf mediale Ereignisse geht, und zweitens, weil uns hier vor allem das Grundphänomen des situativen Bruchs interessiert, der diesen verschiedenen Ereignissen zugrunde liegt. Dabei können auch mehrere Ereignistypen auf ein Ereignis zutreffen: negative Eklats können auch sprechend sein, panoramische können auch stumpf sein, antizipierte können negativ sein und kumuliert auftreten usw.

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Wirkungen von politischen Skandalen als Widerspiel von Normbrüchen und -regulierungen. Er klammert also nicht das Gegebene ein, sondern setzt es voraus, d.h. er erklärt Gesellschaft mit Gesellschaftlichem. Aus phänomenologischer Sicht ist hingegen die Frage, ob Eklats öffentlich sind oder nicht, sekundär, denn es geht um eine Analyse „auf dem Fundament eines bestimmten Phänomens“ und die „Nachzeichnung der genuinen Sinndeutungen, die alles im Lichte eines konkreten Grundphänomens als Überzeugungszusammenhang erscheinen lassen“. Wir setzen hier also nicht eine Welt allgemeinen gesellschaftlichen Geschehens voraus, aus der Eklats als besondere mediale Ereignisse herausragen, sondern betrachten die Welt aus der Perspektive des Eklats, d.h. von der Warte des Ausnahmefalls, der Panne usw. Da vor allem die Kulturproduktion in neuerem Verständnis der Gesellschaftsbereich ist, in dem das Eklatante als Versuchsfeld für kommunikative Modellbildungen dient, ist die Vermutung naheliegend, dass obige Eklattypen auf Prozesse verweisen, die mit kreativen Prozessen in der Kunst vergleichbar sind. Es geht in diesem Sinne um kreative Situationen, die etwas hervorbringen, was vorher nicht da gewesen ist. Wenn dem so ist, kann man über das Verständnis von Kunstproduktion zu einem tieferen Verständnis von eklatanten Ereignissen gelangen.

I NSZENIERUNG

DES

N ICHT -I NSZENIERBAREN

Ein Eklat bewirkt die Störung einer Ordnung. Für die Künste hat sich schon früh die Frage gestellt, wie diese Störung produktiv zu nutzen ist. Der römische Rhetoriker Quintillian betont etwa, dass ein Redner auf dem Höhepunkt seiner Rede die Toga von der Schulter gleiten lassen soll, um seine Fassungslosigkeit zu artikulieren und damit die Rede eindringlicher zu gestalten.5 Bei Aristoteles sorgt ein eklatantes Ereignis für Anagnorisis und Peripetie, d.h. etwas Unerwartetes tritt ein, das zu einer Erkenntnis und ei-

3

Vgl. Hondrich 2002.

4

Rombach 1980, S. 302.

5

Das Decorum soll hier bewusst ausgesetzt werden, zugleich soll aber die Fassungslosigkeit ‚echt‘ sein. Vgl. http://penelope.uchicago.edu/Thayer/E/Roman/ Texts/Quintilian/Institutio_Oratoria/11C*.html#3 [Zugriff am 24.7.2011].

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ner Wendung in der Handlung führt.6 Viele der späteren dramaturgischen Entwürfe streben nach der Inszenierung des eigentlich nicht inszenierbaren Ausnahmefalls: des singulären Moments, der Regeln bricht und die Aussage zugunsten einer Metabotschaft transzendiert, die im eigentlichen Werk nicht enthalten ist. Vor allem im Zeitalter normativer Ästhetiken, etwa im europäischen Klassizismus, ist der Eklat daher ein effektives Mittel zur Bedeutungserzeugung. Friedrich Schillers skandalträchtige Uraufführung der Räuber im Nationaltheater Mannheim am 13. Januar 1782 kann man in dieser Hinsicht als einen sprechenden Eklat deuten, der das Protestpotenzial des Bürgertums entfesselte – sprechend vor allem in den Worten Karl Moors: „Ich fühle eine Armee in meiner Faust.“7 Karl Heinz Bohrer hat anhand einer Beschäftigung mit dem literarischen Topos der Plötzlichkeit eine verwandte Umsturzbereitschaft für das späte 19. Jahrhundert ausgemacht. Schon bei Solon und Pindar kam die Trope des Einbruchs, mit der das Göttliche den Menschen erscheint, diesem Topos recht nahe. Zwei Jahrtausende später wird Sören Kierkegaard das unvermittelte Erscheinen als Charakteristikum des Teufels auszeichnen.8 Die hier vage aufscheinende „Krise des Kontinuitätsdenkens“9 findet aber erst mit Nietzsches Umwertungsgedanken seinen operativen Ausgangspunkt, an dem sich eine Reihe von Philosophen, Künstlern und Literaten ausrichten. Schelers „produktives Denken“ hat bei Bohrer dieselbe einschneidende Plötzlichkeit wie ein Granatenbeschuss bei Ernst Jünger oder der einfahrende Hochgeschwindigkeitszug der Futuristen.10 Im theoretischen Umkreis dieser Umwertung, die stets als epochaler Wendepunkt gedacht wird, entwickelt sich auch der Carl Schmittsche Begriff des Ausnahmezustands, der für ihn das Analogon des Wunders in der Theologie dar-

6

Nach Aristoteles ist Anagnorisis neben Peripetie und Pathos ein Grundelement der komplexen Erzählung (mythos peplegménos). Er versteht sie als epistemischen Umschlagpunkt, als plötzliche Wendung von Unkenntnis zu Kenntnis, wenn z.B. Ödipus erkennt, dass er der Mörder seines Vaters ist. Aristoteles interpretiert diese dramatischen Elemente in Hinsicht auf den emotionalen Effekt der Erzählung (phobos und eleos). Vgl. Söffing 1981, S. 133-134.

7

Schiller 1962, S. 555. Vgl. Neuhaus & Holzner 2009, S. 11ff., und Noack 2008.

8

Vgl. Theunissen 2008, S. 411; Bohrer 1981, S. 47ff.

9

Bohrer 1981, S. 65f.

10 Vgl. ebd., S. 49f.

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stellt – das hic et nunc einer transzendenten Macht auf Erden, d.h. Divinität, Kreativität und Souveränität haben den Ernstfall als gemeinsamen Nenner.11 Dies alles hat nicht direkt mit Eklats, sondern eher mit der semantischen Aufladung von Situationen zu tun, in denen Eklats im Sinne einer (künstlerischen) Ausnahmetat vorzufinden sind oder zumindest angestrebt werden. Diese Augenblicksprovokationen werden vor allem in der Kunst des 20. Jahrhunderts angestrebt, um den Betrachter zur Aktion zu rufen. Nirgendwo wird dies deutlicher als in der Aussage André Bretons, der zufolge der einfachste surrealistische Akt darin bestünde, „mit einem Revolver in der Hand auf die Straße zu gehen und in die Menge zu schießen“.12 Die Kunst will Wirkung erzielen, indem sie ihre ästhetischen Modellbildungen auf das Feld des Politischen ausweitet. Bretons Metapher zielt auf die lateinische Vokabel revolvere: auf das Umwälzen, auf die revolutionäre Bereitschaft, die Modernisten aller Couleur für sich beanspruchten. Wenn bei Schmitt die Ausnahmetat des Führers das Gesetz ermöglicht, dann erschafft die Ausnahmetat des Künstlers die Kunst und mit ihr auch die Grundlage für eine neue Gesellschaft oder die Utopie eines neuen Menschen. Sobald also Kunst zur Regel wird, ist sie streng genommen keine Kunst mehr. Wenn sich etwa der Performancekünstler Chris Burden 1979 in einer nachgestellten Hinrichtung mit einem geladenen Revolver anschießen lässt, wenn Gregor Schneider 2010 einen Sterbenden in einer zeremoniellen Kunstaktion verewigen möchte oder wenn die russische Gruppe Voina (dt. Krieg) 2010 einen gigantischen Phallus auf die Litiejnyj-Hebebrücke in St. Petersburg malt, der sich samt der Brücke vor dem Amtsgebäude des russischen Geheimdienstes erhebt, so wird deutlich, dass im performativen Akt die Auslotung der Grenzen von Kunst, Politik und sozialer Realität stattfindet. Diesen Akt kennzeichnet dabei jener „heilige Ernst“ des Spiels, von dem Johan Huizinga schreibt, den Bazon Brock mit der Rede von der Erzeugung des Ernstfalls verknüpft und den Jacques Rancière mit den Wahrnehmungsbedingungen von Politik in Beziehung setzt.13

11 Vgl. Schmitt 1934, S. 49. 12 Zit. n. Buñuel 1988, S. 171f. 13 Vgl. Galperina 2010; Brock 1990 und 2002; Rancière 2006. Auch wenn er hier am Deutlichsten ist, bezieht sich der ‚performative Akt‘ nicht nur auf künstleri-

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Die künstlerische Erfahrung lehrt uns, dass ein Eklat dort möglich ist, wo es keine Vermittlung gibt, d.h. wo kein Medium existiert. Der kierkegaardsche Teufel erscheint plötzlich, weil er sich nicht ankündigen lässt. Und Schillers Theaterrevolte kündet von einer Gesellschaft, die keinerlei Verbindung zu seiner absolutistischen Gegenwart hat. Rancière zufolge wird durch derlei Akte ein gesellschaftliches Rauschen als artikuliertes Rufen wahrgenommen. Die Kunst erschafft dabei ein Medium des Protests, das es so vorher nicht gegeben hat.14 In diesem Sinne sind auch die einsamen Bilderstürme im Atelier keine Privatsache, denn Künstler sind in gleicher Weise parteiische Schaffende wie sie unparteiische Beobachter sind. So erklärt der amerikanische Maler Barnett Newman 1948 nach einem malerischen Offenbarungserlebnis alle seine vorherigen Werke für null und nichtig – ein ikonischer Eklat, durch den Newman seine künstlerische Bestimmung findet, symbolisiert im Zip, einem vertikalen Streifen, der fortan seine Malereien durchzieht. Da die Bildfindung für Newman am Anfang der Menschwerdung steht, sieht er seinen Paradigmenwechsel von darstellender zu bildender Malerei als eine objektivierte Episode allgemeiner Weltgeschichte und nicht als bloßes persönliches Anliegen.15 Das massenmediale Ereignis, das wir üblicherweise mit dem Eklat assoziieren, vollzieht nun diesen Offenbarungsvorgang in aller Öffentlichkeit. In derselben Weise, in der etwa auf der Leinwand ein Motiv oder gar die Leinwand selbst als Malgrundlage verworfen wird, wird beim öffentlichen Eklat z.B. ein Gast aus der Talkshow verwiesen, ein Sendeformat nach einem Zwischenfall umgestaltet oder gar eine politische Kehrtwende eingeleitet.16

sche Performances im engeren Sinne, sondern generell auf die „performative Wende in der Kunst“ (Mersch 2002, S. 157). 14 Medium ist hier nicht im üblichen technologisch-materialen Sinn gemeint. Ich orientiere mich vage an Vilem Flussers struktur-phänomenologischen Medienbegriff: ein Medium beschreibt einen ‚Ort‘ (hier auch: Person, Ding, Instanz usw.), an dem Kommunikation stattfindet. Vgl. Flusser 1995. 15 Vgl. Newman 1992, S. xvi ff. 16 Eklats sind in dieser Hinsicht produktiv, nicht nur wenn sie im künstlerischen Kontext stattfinden und nicht nur, wenn sie positiv konnotiert sind. Entsprechend betonen viele Theorien der Produktivität den Moment der Plötzlichkeit (vgl. Bohrer 1981, S. 50).

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Abb. 1: Giant Galactic Space Penis, Voina, 2010. Die Aktivisten bemühen eine martialische Zeichengebung, um die Korruption der heimischen oder auch internationalen politischen Kaste anzuprangern.17

E REIGNISMEDIUM

UND

M EDIENEREIGNIS

Ein Eklat ist unerwartet, erzwingt eine Konfrontation und erschafft ein neues Medium für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung. In der bisherigen Forschungsliteratur lag der Fokus hauptsächlich auf öffentlichen Medienereignissen und -skandalen, womit zumeist Formen der massenmedialen Inszenierung bezeichnet werden, während andere Ereignistypen eine unterge-

17 Vgl. auch die Aktion „Europe sucks“ 2013 in Dänemark, während der die als europäische Staatsmänner und -frauen verkleidete Akteure oralen Geschlechtsverkehr an dem Gummipenis eines Putindarstellers vollführten. Der Gruppenideologe von Voina, Alexei Plutser-Sarno, betont: „This [action] is the metaphorical art portrait of the international politics, [...] the group wanted to show the total indifference of European politicians to what is going on in Russia.“ Vgl. http://plucer.livejournal.com/266853.html [Zugriff am 23.5.2014].

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ordnete Rolle spielen.18 Dem konflikthaften Kern von Ereignissen wird selten Rechnung getragen, und es wird nicht nach Ereignistypen unterschieden, sondern in der Regel nur nach Inszenierungsriten. In der Skandalforschung geht es daher in erster Linie um die Darstellung von Mechanismen innerhalb der Mediengesellschaft.19 Karl Otto Hondrich schreibt im Hinblick auf Durckheims Modell der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Normensysteme von einer „Kultur des Normverstoßes“, die sich in den zahlreichen politischen Skandalen offenbare.20 Unter einem Skandal versteht er einen sozialen Prozess, der sich durch moralische Verfehlung hochgestellter Personen bzw. Institutionen, eine Enthüllungsgeschichte und öffentliche Empörung auszeichnet.21 Die gesellschaftliche Rolle der Kulturproduktion mit ihrer transgressiven Wirkmächtigkeit taucht aber gar nicht als Thema auf. Auch die Singularität des Ereignisses wird nicht problematisiert. Im Gegenteil: Im Vordergrund der Medienereignisforschung steht von Anfang an die öffentliche Versöhnung, das kollektive ‚Verschmelzen‘ im Ereignis: „[Media events] integrate societies in a collective heartbeat and evoke a renewal of loyalty to the society and its legitimate authority.“22 Das mag in dem thematisierten Zusammenhang zutreffen, aber der Ereignisbegriff verflacht seither zu einer Bezeichnung für eine Art allgemeinen Geschehens, das sich nur durch die Grade der medialen Ritualisierung unterscheidet. Entsprechend betonen die Inauguratoren der Medienereignisforschung, Daniel Dayan und Elihu Katz: „Media events are rituals of coming and going.“23 Und bei Hondrich heißt es: „Skandale sind Spontanveranstaltungen des Scheiterns und Lernens. Je häufiger sie sich

18 Vgl. Couldry u.a. 2010; Curran/Gurevitch 2000; Dayan/Katz 1992; Ehrat 2011; Kellner 2003; Leavy 2007; Neckel/Ebbighausen 1989; Thompson 2000; Weninger 2004; Vogel 2006. 19 Vgl. Kepplinger 2005. 20 Hondrich 2002, S.11, S. 43. 21 Vgl. ebd. S. 40, S. 59. 22 Dayan/Katz 1992, S. 9. Gleichwohl betonen die Autoren auf S. 39, dass Medienereignisse sehr wohl akute Konflikte beinhalten oder thematisieren. Sie erwähnen z.B. die Olympischen Spiele als typische Transposition eines politischen Konfliktes. Medienereignisse als solche werden jedoch nicht als inhärent ‚konflikthaft‘ interpretiert. 23 Dayan/Katz 1992, S. 119.

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wiederholen, desto mehr Erfahrungsregeln und Normen des Prozedierens bilden sie aus, kurz: Aus scheinbar zufälligen Ärgernissen werden Institutionen regelmäßigen Lernens mit einer eigenen Skandalkultur.“24 Im Eklat, wie wir ihn hier herauszeichnen, spielen indes sowohl die Inszenierung als auch die Kultivierung eine untergeordnete Rolle, weil der Eklat beides bannt: Wie oben dargestellt wurde, ist der inszenierte Eklat kein Eklat. Gerade die künstlerische Inszenierung will nicht den Eklat inszenieren, sondern die Inszenierung selbst soll Eklat sein, d.h. das Werk soll gesellschaftliche Wirklichkeit werden.25 Auch ist der Eklat nicht Bestandteil einer ‚Kultur’. Zwar hat seit Mitte der 1990er Jahre die Verwendung des Skandalbegriffs in den Massenmedien inflationär zugenommen, werden ebendort zudem zunehmend Routinen des Sensationellen gebildet (Stichwort „Dschungel-Camp“), aber es kann und wird immer wieder zum Bruch mit diesen Routinen, d.h. zu ‚Subkulturen‘ kommen, welche die vermeintlich skandalöse Inszenierung aushebeln.26 Mit dem Eklat-Begriff ist hier also etwas anderes gemeint als nur eine verstärkte Form eines Medienereignisses oder die Etikettierungen der Skandalpresse. Ein Eklat leugnet ein Kontinuum sukzessiver medialer Seinszustände, denn im eklatanten Ereignis wird die Struktur des Mediums selbst zum Thema und der Ablauf seiner Routinen ‚pathologisch‘: Eine psychologische oder gesellschaftliche Tiefenstruktur tritt zutage und macht gewohnte Abläufe zunichte. Das Medium, die mediale Situation, wird selbst zum Ereignis.

24 Hondrich 2002, S. 59. 25 Die Faszination der Kunst für das Ungewollte und Zufällige rührt von der Sehnsucht nach Objektivierung her. Es gibt in diesem Sinne nichts Objektiveres als das Scheitern einer Inszenierung, eines Werks, denn „[g]eplante Skandale gehen immer schief“ (zit. nach Wilton/Thissen 2007. Vgl. Wägenbaur 1993, S. 1-15 und 322-326). Das Unerwartete wird gesucht, das Misslingen soll echt sein, nach der künstlerischen Devise „Scheitern als Erfolg“ (Brock 1990). Das ist mit dem Stichwort von der politischen Kunst oder der ästhetischen Wirksamkeit im Grunde gemeint. Nicht die politische Etikettierung ist entscheidend, sondern die Ereignishaftigkeit eines Werkes ist es, die es ‚politisch‘ macht – das Bewirken von Tatsachen (vgl. hierzu auch Raunig 2005). 26 Vgl. Bergmann/Pölsen 2009, S. 7.

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Ein Beispiel aus der nächtlichen Quizsendung Night Loft, ausgestrahlt am 30. Januar 2008 im Privatsender ProSieben, soll dies illustrieren: Zwei Moderatorinnen stehen vor einer Showkulisse, Moderatorin 1 spricht mit einem Anrufer, der telefonisch am Gewinnspiel teilnimmt. Moderatorin 1 [zum Anrufer]: „Toby, was ist los mit Dir?“ Anrufer: „Ah, ich muss gleich arbeiten, ich bin müde.“ Moderatorin 1: „Ja aber komm, da musst Du ein bisschen enthusiastisch, und [...] yeah, Arbeit [...] Arbeit macht frei.“ (Alle kichern.)

Die Regie nimmt Moderatorin 1 aus dem Bild. Es vergehen 15 Minuten, bevor sie wieder ins Bild kommt, nun mit ernster Miene: Moderatorin 1: „Liebe Zuschauer [...] Ich habe vorhin etwas fallen lassen, was so überhaupt nicht gedacht war. [...] ich möchte mich von allem [...] einfach distanzieren, was damit in Verbindung steht. [...] Das sind diese Live-Momente, wo irgendwas rausflutscht, was man irgendwo mal aufgeschnappt hat, was einfach ein Fehler war.“

Die Moderatorin wird am nächsten Morgen entlassen.27 In der Sequenz wird deutlich, dass sich dem Augenschein nach zunächst nichts ereignet (stummer Eklat): der Smalltalk läuft ab wie in zahllosen Sendungen zuvor. Erst als die Moderatorin hinter den Kulissen von der Regie auf die Bedeutung ihrer gedankenlosen Assoziation aufmerksam gemacht wird, kehrt sich die Situation um. Arbeit-macht-frei: Drei Worte in einer Unterhaltungssendung lassen wie in einem magischen Beschwörungsritual (Simsalabim, Abrakadabra, Hokuspokus) einen ‚Geist aus der Flasche‘ in Erscheinung treten, und zwar dort, wo niemals der Verdacht einer Erscheinung gewesen ist. „Auch hier nämlich wesen Götter an“,28 lässt Heidegger Heraklit über seinen Backofen sagen, d.h. auch hier nämlich, in einer belanglosen Unterhaltungssendung, schlummert der politische daimon. Man muss es nur verstehen, ihn zu wecken.

27 Vgl. Laux 2008. 28 Heidegger 2000, S. 47.

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Dieser theologische Umschwung von Alltag zu Ernstfall macht ein eklatantes Ereignis aus, und vom Wissen des heideggerschen Vorsokratikers profitiert auch diejenige Kunst und Literatur, die sich jeglicher Form situativer Zäsur verschrieben hat. So spricht etwa André Breton in seiner paradigmatischen Erzählung Nadja von besonderen Ereignissen des Lebens, „und zwar des Lebens, wie es sich mir außerhalb seines natürlichen Ablaufs zu verstehen gibt“.29 Was ist damit gemeint? Breton kritisiert ein Lebensverständnis, das von einem bloßen Geschehen, d.h. einer sequenziellen Abfolge zwischen Geburt und Tod ausgeht. Die programmatische Figur Nadja konstituiert eine alternative Welt „der wie auf einem Klavier eingeschlagenen Akkorde, jener Blitze, die sichtbar machen, so sichtbar, als wären sie nicht noch schneller als die anderen.“30 Diese Welt der Zwischen- und Ausnahmefälle wird bei Breton zum „Prinzip [eines] totalen Umsturzes“.31 Nadja selbst wird zu einem panoramischen Ereignismotiv, das die Koordinaten der Welt umstülpt. Was also im oben diskutierten Beispiel unwillentlich ablief („NaziEklat bei PRO7“), wird in Literatur und Kunst zum modernen Formprinzip: Sich nicht überwältigen lassen von einer Situation, sondern sie aktiv herausfordern – die Geburt der Provokation aus dem Geiste des Alltäglichen. Man muss nicht erst mit der Elektro-Combo Kraftwerk über deren Autobahn (1974) fahren oder über Thomas Bernhards Heldenplatz (1988) schreiten, um dieses Handwerk des historisch Eklatanten zu verstehen. Es lassen sich entsprechend Situationen imaginieren, in denen auch der Spruch Arbeit-macht-frei eine notwendige Provokation liefert. Das mag dann ebenso geschmacklos, gedankenlos und unkünstlerisch sein wie obige Situation oder etwa Santiago Serras anfangs erwähnte ‚Gasinstallation‘, aber zumindest ist es dann politisch verhandelbar und wird nicht als vorhersehbare Provokation vom Publikum innerlich abgehakt oder wohlwollend ignoriert („Enfant terrible“).

29 Breton 1989, S. 16. 30 Ebd. 1989, S. 16-17. 31 Ebd. 1989, S. 117, Fn.

P HÄNOMENOLOGIE DES E KLATS | 207

D IE W AHRHEIT

DER

S ITUATION

Oben sprachen wir von Tiefenstruktur und suggerierten damit eine epistemische Funktion des Eklats. Welches Wissen oder welche Wahrheit tritt im Eklat aber zutage, wenn er doch in erster Linie Fassungslosigkeit erzeugt – gemäß einer Fluxus-Notiz Bazon Brocks: „Es ist keine Frage, was jetzt passiert. Es ist passiert – aber was?“.32 Die Anagnorisis sorgt nach Aristoteles für einen radikalen Umschwung der Erkenntnis eines bestimmten Sachverhalts, der sich dramatisch für die weitere Handlung auswirkt. Dieser Erkenntnisumschwung ist jedoch nicht auf diesen Sachverhalt begrenzt, sondern bezieht sich auf das Ethos eines gesamten gesellschaftlichen Gefüges. Zum besseren Verständnis dieses situativen Umschwungs müssen wir nicht die traditionelle Tragödie bemühen. Es genügt, sich an die Szene in Alfred Hitchcocks North by Northwest (1958) zu erinnern, in der die Mutter des Protagonisten Roger Thornhill im überfüllten Aufzug die anwesenden Verfolger plötzlich mit den Worten anspricht: „Gentlemen, wollen Sie wirklich meinen Sohn umbringen?“ Es herrscht ein Moment lang verdutztes Schweigen – bevor alle Anwesenden in Gelächter ausbrechen. Hier wird eine symbolische Kulisse niedergerissen, denn sowohl die Gangster als auch Roger Thornhill spielen sich und den anderen Anwesenden im Fahrstuhl etwas vor: Sie spielen nämlich, dass sich nichts abspielt, während in Wirklichkeit Thornhill liquidiert werden soll. Mrs. Thornhill beendet dieses Spiel und spricht offen die Wahrheit der Situation an.33 Ihre Aussage kommt einem psycho-politischen Eingriff gleich: Sie therapiert das Problem der mörderischen Verfolgung dadurch, dass sie es direkt anspricht, und sie thematisiert den tatsächlichen Gesamtzusammenhang, indem sie die Ideologie, d.h. die trügerische Ordnung einer vermeintlich ereignislosen Alltagsszene entlarvt. Sie entfacht also im Fahrstuhl eine Revolution, die sich im gemeinsamen Lachen aller aufhebt (Abb. 2). Diese Sequenz ist keineswegs für die Filmhandlung entscheidend und daher kein plot point oder turning point im filmdramaturgischen Sinne. Auch ist sie kein herkömmlicher Eklat. Doch macht die Szene einen wichtigen Aspekt des Eklats deutlich: eine unerwartete, direkte Konfrontation,

32 Brock 1986. 33 Man könnte hier vielleicht von einer fünften Wand des Kinos sprechen, die sich auf Beobachtungssituationen innerhalb des Films bezieht.

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die keine Auflösung haben kann, bevor eine Reaktion eintritt, die Auflösung sein will. Die Art der Reaktion ist jedoch keine notwendige Bestimmung: Im obigen Fall stellt das Lachen einen möglichen Ausweg aus einer ausweglosen Situation dar.34 In anderen Fällen kann der Ausweg Entrüstung oder Panik sein, aber auch diese Reaktionen sind keine notwendigen Bestimmungen des Eklats, sofern sie erwartbar sind. Der Eklat besteht also in der Unauflösbarkeit einer unerwarteten Konfrontation, bevor irgendetwas passiert, das die Konfrontation bannt. Die Wahrheit der Situation tritt als eklatanter Bruch einer symbolischen Ordnung zutage, der sofort nach der Wiederherstellung der Ordnung verlangt. Diese Wahrheit hat nicht unbedingt eine positive Bestimmung wie z.B. im Fall aristotelischer Anagnorisis oder Peripetie, sondern in ihr werden sich die Beteiligten durch einen situativen Bruch ex negativo als Beteiligte einer gemeinsamen Situation bewusst.

Abb. 2: Der ‚Thornhill-Effekt‘: Das gemeinsame Auflachen im filmischen Beispiel entspricht dem Moment der dialektischen Aufhebung einer Opposition (gestrichelte Linie, schwarze Punkte). Die Polemik des Eklats wendet sich gegen die oppositionelle Ordnung selbst und nicht gegen die Subjekte dieser Ordnung. Vielmehr erschafft sie die Subjekte einer neuen Ordnung.

Die Auflösung der Situation ist ontologisch unbestimmt, d.h. wir wissen nicht, was dem Ereignis adäquat wäre, da es singulär ist. Die Wahrheit einer Situation besteht hier in der Entscheidung zugunsten einer spezifischen Konsequenz, die vom Ereignis eingefordert wird und dadurch den Neuaufbau einer Situation bestimmt (Vorher/Nachher). Diese Ereignislogik findet ihre Analogie bei einer Überlegung Alain Badious, der zufolge in einem

34 Vgl. Plessner 1982, S. 185, sowie ders. 1941.

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Ereignis „eine unentscheidbare disjunktive Synthese entschieden und sein Subjekt und die Folgen der Ereignis-Aussage festgelegt [werden].“35 Aus der beschriebenen Filmszene extrahieren wir also ein bestimmtes Ablaufschema des Eklats. Man stelle sich als Metapher eine Kulisse vor, die niedergerissen wird und dabei alle Anwesenden mit etwas Neuem konfrontiert. Diese Konfrontation ist so konkret, dass sie nicht zugelassen wird: man stutzt, hält inne oder blickt weg, bevor sich irgendeine Reaktion einstellt. Illustrationen dieses Irgendeinen bieten oftmals TVLiveübertragungen, die durch einen unvorhergesehenen Vorfall in ihren Inszenierungsroutinen gestört werden.

Abb. 3: Rumänisches Staatsfernsehen, 1989.

So etwa im Falle der vom rumänischen Fernsehen live übertragenen letzten Ceaucescu-Rede im Dezember 1989 (Abb. 3), bei der es zwei maßgebliche Kameraeinstellungen gab: eine gerichtet auf die Rednertribüne, die andere gerichtet auf die versammelte Menschenmenge vor dem Präsidialpalast. Nur wenige Augenblicke nachdem sich aus der Menge Protest artikulierte,

35 Badiou/Žižek 2005, S. 41.

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der zur Unterbrechung der Rede führte, schwenkte die zweite Kamera von der Menge weg über die Dächer des Versammlungsplatzes, bis sie bei irgendeinem Gebäude halt machte (siehe Abbildung) – man könnte sagen: im Modus des Nicht-Blickens, denn der Kameramann hatte für derlei Situationen offenbar keine Routine parat. Das erste, was in solchen unkontrollierten Fällen angestrebt wird, ist das Aufrechterhalten irgendeiner Ordnung.36 Wie wir bislang sehen konnten, tritt in den meisten Eklats ein unterschwelliger Konflikt zutage, der in neuer Form verhandelt wird. Man denke hier an Thomas Vinterbergs Film Das Fest (1998), in dem Christian während eines gemeinsamen Abendessens im familiären Kreis seinem Vater Helge in einer Tischrede eine jahrelange Vergewaltigungspraxis vorwirft. Es herrscht zunächst Schweigen. Die Anwesenden scheinen Christians Ausführungen zu ignorieren, in Wirklichkeit geht es aber um das Überspielen der Konfrontation. Ein alberner Zwischenruf mit anschließendem Gelächter beendet schließlich die perplexe Situation. Das ursprüngliche Verhältnis, die familiäre Kulisse, scheint wiederhergestellt zu sein, in Wirklichkeit haben sich in diesem Moment jedoch die ethischen Koordinaten der gesamten Familie grundlegend verschoben.

R EVOLTE

DES

N ICHTS

„[D]er Windstoß des geringsten Ereignisses“, schreibt Breton, „nimmt alles mit, wenn es wirklich unvorhergesehen ist.“37 Auf alles sind wir gefasst – bis zu dem Moment, wo wir völlig fassungslos sind. Dieser Moment bestimmt die Politizität des Eklats, denn mit der Fassungslosigkeit wird auch das gesamte Umfeld dessen thematisiert, das uns vorher Fassung ermög-

36 Es sei noch ein weiteres jüngeres Beispiel genannt: Während einer öffentlichen Anhörung des Medienmoguls Rupert Murdoch in London 2011, die von CNN live übertragen wurde, erhob sich einer der anwesenden Zuschauer und warf eine Torte auf Murdoch. Es entstand ein Gerangel, woraufhin die Regie auf ein Standbild eines im selben Raum befindlichen Wandgemäldes schaltete (in beiden Fällen lief die Tonaufzeichnung weiter). Für beide Fälle – so unterschiedlich sie sein mögen – gilt: Die grundlegende Verunsicherung der Ordnung ex nihilo macht den Eklat aus. 37 Breton 1989, S. 45.

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lichte. Es wundert daher nicht, dass die Debatten um den philosophischen Ereignisbegriff, der im Raum der politischen Theorie verhandelt wird, dem hier besprochenen Eklat-Begriff sehr nahe kommen. Alain Badiou betont, dass schon die philosophische Anstrengung nicht das Denken dessen sei, was ist, „sondern dessen, was nicht ist, wie es ist: das Denken nicht der Verträge, sondern der Vertragsbrüche“.38 Vertragsbrüche sind in Verträgen nicht vorgesehen, d.h. in der Ausnahme, im Zwischenfall, zeigen sich die unerkennbaren Leerstellen einer symbolischen Ordnung, die dem Vertrag zugrunde liegt. Beim Eklat handelt es sich demgemäß um ein produktives Nichts – nicht die Kulisse, sondern das Einstürzen einer Kulisse –, das einer Situation zugrunde liegt. Von ihm gilt, was Kierkegaard über den Anlass künstlerischen Schaffens schreibt: „Eine Schöpfung ist ein Hervorbringen aus dem Nichts, der Anlaß dagegen ist das Nichts, das alles zur Erscheinung kommen läßt.“ Badiou argumentiert analog, wenn er verfügt, dass ein Ereignis ein Zusatz ist, der zu einer Situation hinzukommt, ohne etwas positiv Bestimmbares zu sein. Dieser Zusatz ist nicht aus einer Situation zu erkennen noch irgendwie aus ihr zu extrahieren.40 In anderen Worten: Ein eklatantes Ereignis ist nicht, sondern tritt auf – modus agens. Wir ahnen es nicht, und es ist im Sinne Bretons unerwartet. Daher kann es nicht auf bestehende Attribute oder auf eine Architektur der Situation zurückgeführt werden. Es ist generisch – im doppelten Sinne von eigenschaftslos (generell) und erzeugend (kreativ).41 Diese Umschreibung und die von Derrida vorgenommene para-

38 Badiou/Žižek 2005, S. 25. 39 Kierkegaard 1996, S. 274-275. 40 Für Badiou ist der Wahrheitsmoment eines Ereignisses daher stets zufallsbedingt und ohne äußeres Gesetz. Vgl. Hartle 2004; Badiou 1989, S. 21; Badiou/Riha 1997. 41 Badious Philosophie, die ebenso am Marxismus, der Mathematik, dem Existenzialismus wie dem Lacanianismus geschult ist, benutzt das von Heidegger stammende Ereignis-Denken – das Er-äugen dessen, was sich von sich her zeigt (phainomenon) – als epistemologischen Hebel. Wenn man sich etwa Heideggers Vorstellung ins Gedächtnis ruft, der zufolge das Dasein seinen Ursprung im Ereignis habe, das „Er-eignis die ursprüngliche Geschichte selbst“ und die „volle Wesung des zeit-räumlichen Abgrundes und somit der Wahrheit“ (Heidegger 2003, S. 31f.) sei, dann ist der Ereignisbegriff hier wesentlich aufgeladener als

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doxale Fortführung der Unmöglichkeit, von einem Ereignis zu sprechen, von dem man gerade spricht, stehen an einem Ende des Ereignisbegriffs, die für die Beschäftigung mit dem Eklat bedeutsam ist.42 Am anderen Ende steht, was wir oben als ein einem Medienereignis zugrunde liegendes Geschehen bezeichneten. Das ist auch mit der Eindeutschung des englischen Event-Begriffes gemeint: ein Event bezieht sich auf ein zeitlich begrenztes Geschehen, das vollends in seinen Attributen aufgeht, z.B. bei einem Sport-Event oder einem Pop-Event. Da geht es um Sport oder Pop, und wenn nur von Event die Rede ist, dann ist ein Medienereignis gemeint, das öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht. Das Ereignen erschöpft sich beim Event in seinen Attributen. Es ist ein PseudoEreignis, es hat keinen dunklen Rest, kein Noch-Nicht, keine Sollbruchstellen. Jean Baudrillard hat bekanntlich in Bezug auf Daniel Boorstin vor allem auf die Simulationsbedingungen und -technologien hingewiesen, welche diese Pseudo-Events begleiten. Er betont dabei, dass es sich beim Simulacrum nicht um eine Falsifikation der Natur, des Authentischen usw. handelt: das Simulacrum als solches ist wahr. Aus unserer Perspektive sind jedoch Pseudo-Events, Media Events oder Events gar keine Ereignisse und dahingehend nicht wahr – gerade weil sie wahr-scheinlich sind.43 Ein Ereignis ist unwahrscheinlich, und für Badiou ist es in gewisser Hinsicht sogar unmöglich – jedenfalls so lange unmöglich, bis es eintritt. Mit dem Ereignis als Bruch, als Einsturz, als Zwischenfall, als Eklat ist hier also etwas

der in der Empirie versenkte mediale Ereignisbegriff, der sich zumeist auf einen Ereignisablauf bezieht und obendrein tautologisch ist (vgl. Marchart u.a. 2003, S. 307-334 und 310). Die von Heideggers Ereignisbegriff herrührenden Beschreibungen sind paradoxal im Sinne der immer wieder auftauchenden Formel ‚verbergendes Sich-Zeigen‘ und zielen auf eine ontologische ‚Eklipse‘: das philosophische Gefühl der Höhe, das Ek-sistieren, das Herausragende des Daseins als Ereignis sui generis, d.h. als Singularität, herauszustellen Vgl. Heidegger 2008. 42 In den Worten Derridas gehört zu den Merkmalen des Ereignisses „nicht nur die Unvorhersehbarkeit und damit die Tatsache, dass es den gewöhnlichen Gang der Geschichte unterbricht, sondern auch seine absolute Singularität“ (Derrida 2003, S. 21). 43 Vgl. Boorstin 1971; Redhead 2008, S. 30.

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bezeichnet, das sich nicht mit bekannten Attributen fassen lässt (bei Badiou ist dies ein reines Ereignis).44 Badiou geht es bei der Diskussion des Politischen also nicht um allgemeine Attribuierung oder Eintragung in die Annalen der Normalität, sondern um den außerordentlichen Moment von Wahrheitsereignissen, in denen anderes als das bisher Bestehende erscheint. Der politische Moment, der in diesem Sinne ein revolutionärer und kreativer ist, und der Wahrheitsmoment, der ebenfalls ein revolutionärer und kreativer ist, kommen im Ereignis zur Deckung.45 Daher begründet Badiou seine Ereignisontologie nicht zufällig aus der Perspektive der Französischen Revolution und einer Politik der Wahrheit: Das revolutionäre Ereignis hat keinen Bezug zur bestehenden Situation, d.h. es ist zwar die Folge der historischen Situation, lässt sich aber nicht aus der Situation ableiten.46 Dieses im Prinzip völlig

44 „Das Ereignis bezieht sich auf die Dingzustände, doch als das logische Attribut dieser Zustände und völlig unterschieden von ihren physischen Qualitäten, obwohl es ihnen zustößt, sich in ihnen verkörpert oder verwirklicht.“ Deleuze 1993, S. 209. 45 Auch wenn das Ereignis ontologisch negativ determiniert ist, ist es bei Badiou ethisch positiv konnotiert. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ist daher für Badiou kein Ereignis, vor allem weil es eine Reaktion des Bestehenden darstellt. Amokläufe oder auch manche modernere Formen des Terrorismus sind ebenfalls radikal affirmativ, nicht revolutionär, sofern sie nicht nach der Aufhebung der Fremd- und Selbstausbeutung streben. In Costa Gavras Film Die Axt (2004) wird ein Terrorist der Mitte, ein liberaler Attentäter dargestellt, der mordet, damit alles beim Gleichen bleibt (vgl. Terzi 2011). Badiou (wie auch Rancière) geht es beim revolutionären Ereignis dagegen um das, was strukturell keinen Platz hat und (noch) nicht gedacht werden kann: die Wahrheit, die im Moment des situativen Umsturzes, des Schocks, unmittelbar und konkret wird und – analog zu obigen Situationen – einer Ableitung bedarf. Deshalb manifestiert sich für Badiou im Ereignis gleichermaßen der Geistesblitz, die künstlerische Intervention, die feministische Emanzipation, der Moment der Liebe, die revolutionäre Handlung wie der weltgeschichtliche Auftrag des Proletariats Vgl. Hartle 2004. 46 Man kann zwar zu Recht auf die damalige katastrophale Finanzlage des absolutistischen Systems als zentrales Moment der Revolution hinweisen, aber Finanzkrisen hat es vorher ohne revolutionäre Folgen gegeben. Vgl. Mann 1986.

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Fremdartige einer neuen Situation ist auch in jedem Eklat-Ereignis wirksam. Im größten und im kleinsten Maßstab haben wir es mit Revolten zu tun, die aus dem Nichts kommen und den politischen Dämon offenbaren. Die Schwierigkeit, politische Ereignisse vorherzusagen, liegt demnach darin, von vornherein unerkennbare Anlässe als Ursachen festzulegen, die auf vorhergehender Erfahrung und positiven Daten beruhen – der Anspruch des allwissenden Pascalschen Dämons. Das erklärt, warum Fachleute – von Wirtschaftsweisen bis hin zu politischen Analysten – in entscheidenden historischen Momenten gröbste Fehleinschätzungen abliefern.47 Der eigentliche Kern einer situativen Umwälzung – ob politisch, ob ökonomisch, ob kulturell – besteht in der Unmöglichkeit im Moment ihres historischen Eintretens. Das ist bei Badiou die „unentscheidbare disjunktive Synthese“.48 Gerade weil eine Revolution unmöglich ist, wird sie geschehen.

U MSTURZÜBUNG Aus dieser Perspektive erscheinen nun Eklatereignisse gewissermaßen als revolutionäre Vorspiele eines ‚nullten‘ Weges der Gesellschaft. In jedem der zahllosen biografischen Momente von Fassungslosigkeiten bilden sich Keime eines potenziellen gesellschaftlichen Umsturzes, wird eine Revolution im Kleinen geprobt. Selbst im banalsten und privatesten Eklat-Ereignis steht prinzipiell die Gesellschaft auf dem Spiel, deutet sich irgendwie ein Umbruch an. Das kann Modellcharakter haben wie in den erwähnten Kunstpraktiken, dient als Blaupause normativer Sanktionierung (z.B. keine unbedachten Holocaustreferenzen in einer Quizsendung) oder kann sich in einer konkreten politischen Revolte äußern (wie z.B. jüngst in den arabi-

47 Man denke etwa an den angesehenen Sicherheitsberater von Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, der Mitte 1989 noch an eine einsetzende neue Stagnationsphase des Ostblocks glaubte. Vgl. Brzezinski 1989, S. 245; Brzezinski 1976, S. 337-351; http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,615301,00.html [Zugriff am 20.5.14]. Oder man denke an die Unfähigkeit von Wirtschafts- und Finanzexperten, relevante Aussagen zur ökonomischen Entwicklung seit dem Kollabieren des weltweiten Finanzsystems 2009 zu treffen. 48 Badiou/Žižek 2005, S. 41.

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schen Staaten).49 Bei vielen vermeintlichen „Eklats“, „Skandalen“, „Affären“ usw. kann es sich aber ebenso um strategisch platzierte PseudoEreignisse handeln, um Marktsensationen, die eine Ordnung unter dem Anschein affirmieren, dass sie ausgehebelt würde.50 Ein eklatantes und damit genuin politisches Ereignis (zer)stört hingegen eine kommunikative Ordnung in toto. Erst in der Ableitung, in der Reaktion auf ein eklatantes Ereignis entsteht das vorher ausgeschlossene Dritte einer Situation, das sich im emanzipatorischen Akt aktualisiert – in der Französischen Revolution war dies anfänglich der Citoyen. Ob sich das reine Ereig-

49 Der tragische Fall des tunesischen Händlers Mohammed Bouazizi liefert für den akzidentellen Charakter des politischen Ereignisses ein aktuelles Beispiel: Nach stundenlangen Schikanen durch die lokale Polizei hatte sich der Familienvater in einer kleinen Ortschaft südlich von Tunis am 17. Dezember 2010 selbst angezündet und erlag schließlich am 4. Januar seinen Verbrennungen. Die Nachricht über das schockierende Ereignis verbreitete sich schnell in den Medien und wurde zum Anlass erster größerer Proteste gegen das Regime Ben Alis, die schließlich in der Tunesischen Revolution mündeten. Dieser Ablauf der Ereignisse ist der Grund, warum später das Time Magazin das Schicksal des Mannes mit dem Sturz des Diktators in einem Satz verknüpfen konnte: „On Jan. 14, just 10 days after Bouazizi died, Ben Ali's 23-year rule of Tunisia was over“ (Abouzeid 2011). So kommt es einer frühen politischen Fundamentalanalyse gleich, wenn Heinrich von Kleist seinerzeit zum Ereignis der Französischen Revolution schrieb, „dass es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte.“ Zit. n. Bohrer 1981, S. 21. 50 Auch mancher als politisch etikettierter Kunstaktivismus fällt darunter, der unter der Vorgabe, engagiert zu sein, ein hegemoniales Verhältnis nur bestärkt – etwa indem Subjekte sozialer Missstände als anonymisierte Objekte künstlerischen Tuns dargestellt werden und dadurch mögliches emanzipatorisches Potenzial im Kunstbild aufgehoben wird. Das kann auch für Künstler gelten, die mit besten Absichten den Anlass für ihr Projekt im sozialen Anliegen ‚veräußern‘. So mag beispielsweise der brasilianische Künstler Vik Muniz zu Recht betonen, dass sein Kunstprojekt auf der Müllkippe in Waste Land (2011) viele Beteiligte aus den Favelas von der Straße holt, die dafür auch dankbar sind. Es bleibt dennoch dabei, dass sie als Subjekte zu Objekten eines künstlerischen Projektes werden und damit ein Ereignis ausbleibt.

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nis auch politisch dahingehend bewahrheitet, dass es emanzipatorische Konsequenzen hat, ist eine andere Frage. Wie Ernst Bloch einmal sagte, war des Pudels Kern im Falle des Citoyen schließlich der Bourgeois. Im eklatanten Ereignis stülpt sich der Unterbau über den Überbau, wird Normalität pathologisch. Während im Medienereignis die Betrachter verschmelzen, schafft ein Eklat erst ein Ereignismedium, in dem sich Symptome einer latenten Normalitätskonstitution manifestieren. Der neutrale Anschein von Normalität wird als parteiische oder gestörte Konstitution erfahrbar. Was diesbezüglich in Deutschland der Umgang mit dem NS-Erbe ist, ist in den USA der Umgang mit dem Rassenthema: Die zahlreichen Eklats zeigen, dass hier nicht die Normalität herrscht, welche die liberale political correctness propagiert. Insofern ist das Vorhandensein von Eklats ein Gradmesser der Fähigkeit, mit Konflikten umzugehen und sie produktiv zu bewältigen. Aber selbst in der Utopie einer völlig harmonischen Welt würde es eklatante Ereignisse geben, welche diese Harmonie herausfordern. Man kann Eklats nicht aus der Welt schaffen, weil ‚Welt‘ immer wieder durch Ereignisse kreiert wird, die bisweilen durch arbiträre Situationen hervorgerufen werden. Manche Kunst hat diesen Aspekt mit ihrem Ernstfallbezug und ihrem revolutionären Gestus zum Programm erhoben. Kurzum: Beim Eklat stürzt etwas in sich zusammen, etwas anderes tritt dadurch zutage. Von Ereignissen allgemein im Sinne von Abläufen oder Inszenierungen zu sprechen, macht aus dieser Perspektive nur begrenzt Sinn. Von einem Ereignis lässt sich sagen, was Breton über das Schöne sagt, dass es nämlich ein Beben ist, oder gar nicht ist.51 Insofern muss man vom Eklat her, vom Bruch her denken, wenn man das Ereignis überhaupt denken will.

51 Vgl. Breton 1989, S.127.

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ABBILDUNGEN Abb. 1: Voina 2010, http://www.dw.de/image/0,,16352348_403,00.jpg [Zugriff am 4.12.2013]. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Künstlergruppe. Abb. 2: Diagramm des Autors, 2013. Abb. 3: Bildausschnitt aus: „Video of Ceausescu’s Last Speech, December 1989.“ Making the History of 1989, Item #696, http://chnm.gmu.edu/ 1989/items/show/696 [Zugriff am 4.12.2013].

III. Prognosen

Katastrophische Algorithmen Über das hochtechnische Agencement medieninduzierter Zusammenbrüche S HINTARO M IYAZAKI

Medienereignisse sind nicht nur Ereignisse, die diskursive Effekte im Fernsehen, Radio oder in Zeitungen erzeugen und im Zeitalter von Web 2.0 ebenso für Resonanzen in den sozialen Digitalmedien1 sorgen. Zu Medienereignissen gehören auch medientechnisch bedingte Effekte, die etwa von unbeabsichtigten, unvorhergesehenen Fehlern und Dysfunktionalitäten in Mediensystemen generiert wurden und gleichzeitig wirtschaftliche, emotionale und politische Auswirkungen auf Teile der Gesellschaft haben können. Die Dynamik von solchen Medienereignissen speist sich nicht aus den Inhalten eines Ereignisses, sondern aus dem technischen Ensemble von Medien selbst. Medien werden zu Akteuren,2 die nicht nur Ereignisse über Massenmedien vermitteln, sondern in ihrer Operativität Ereignisse sind. Die Medialität von Medien3 wird selbst aktiv und formiert in katastrophischen Momenten Ereignisse, die wiederum von anderen Medien diskursiv verarbeitet werden. Diese Eigendynamik hochtechnischer Mediensysteme wird im vorliegenden Beitrag anhand von zwei Beispielen aufgezeigt. Einerseits wird der Zusammenfall des US-Finanzmarktes am 6. Mai 2010 untersucht, der auch

1

Vgl. Reichert 2008.

2

Zur Akteur-Netzwerktheorie vgl. Latour 2006.

3

Vgl. Tholen 2005, S. 151.

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als Flash-Crash bekannt ist und durch ein unvorhergesehenes, dysfunktionales Zusammenspiel von softwarebasierten Akteuren im automatisierten Börsenhandel erzeugt wurde. Andererseits wird der Ausfall eines Telefonnetzes am 15. Januar 1990 analysiert. Der sogenannte AT&T-Crash blockierte für neun Stunden das ganze Telefonnetz für Ferngespräche in Nordamerika und wurde durch einen simplen Software-Fehler in den Telefonschaltzentralen hervorgebracht. Beide Beispiele sind exemplarisch für die Effektivität katastrophischer Algorithmen, die sich durch ihre Zeitlichkeit und Kopplung an materiellen Effekten auszeichnen. Algorithmen sind Abstraktionen der Quellcodes von Software respektive Verbindungen von abstrakter Logik und konkreter Kontrolle, wie dies der Literaturwissenschaftler und Medientheoretiker Bernhard Dotzler festgestellt hat.4 Sie erzeugen kontrollierte, von einer bestimmten Zeitlogik strukturierte Effekte und sind damit nicht nur physikalisch oder ästhetisch, sondern können ebenso politisch wirksam sein. Die spezifische Verschränkung von Algorithmus und Zeit wurde an anderen Stellen als algorhythmisch oder in ihrer Substantivierung als Algorhythmik bezeichnet.5 Damit ist eine Rhythmik gemeint, die zwar maschinell-algorithmisch generiert wurde und damit ihre mikrostrukturelle und -zeitliche Exaktheit suggeriert, gleichzeitig jedoch ihre Physikalität, Irregularität und Ungenauigkeit als messbare Wirkung von real existierenden elektronischen Signalen betont. Digitale Signale oszillieren im Dazwischen von abstrakt-symbolischen Programmen und real-physikalischen elektromagnetischen Spannungsprozessen, zwischen Soft- und Hardware. Digital operierende Maschinen arbeiten solange korrekt und kontrollierbar, „as long as the operation of each component produces only fluctuations within its preassigned tolerance limits[...].“6 Die Existenz von solchen minimalen Fluktuationen, die nur mit ultrapräzisen Messinstrumenten erfasst werden können, legitimiert die Rede von Rhythmen. Der Fokus soll im Folgenden auf den mikrotemporalen Operativitäten der Kommunikation und Interaktion, das heißt auf den detaillierten Abläufen liegen, die zwischen den einzelnen Elementen eines technischen En-

4

Vgl. Dotzler 1996, S. 8.

5

Vgl. Miyazaki 2009, 2011, 2013.

6

Von Neumann 1963, S. 294.

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sembles passieren. Durch diese Perspektive werden einige konkrete Aussagen über die Mikroereignisse des Flash-Crashes oder jene des AT&TCrashes möglich.

2010, F LASH C RASH Am 6. Mai 2010 fiel der Dow-Jones binnen weniger Minuten um fast 1000 Punkte, bevor sich die Kurse wieder nahezu vollständig erholten. Es wurden ungefähr 19,4 Milliarden Wertpapiere gehandelt, was dem 2,2-fachen vom Durchschnittswert des letzten Quartals von 2009 entspricht.7 Die Verkaufswerte einiger Aktien fielen innerhalb von Minuten auf einen Bruchteil ihres ursprünglichen Wertes, manche stiegen um ein Vielfaches.8 22 Wochen danach, am 30. September 2010, wurde ein offizieller 87-seitiger Bericht von der U.S. Commodity Futures Trading Commission und der U.S. Securities & Exchange Commission veröffentlicht.9 Dieser bestätigt, dass ein eindeutiger Zusammenhang zwischen diesem kurzen, aber extremen Zusammenbruch und den seit ungefähr 2005 zunehmenden Praktiken des ultraschnellen algorithmisierten Finanzhandels – High Frequency Trading oder auch AlgoTrading genannt – besteht. Mit Algorithmic Trading ist die automatisierte, computerisierte, elektronische Durchführung von Börsengeschäften gemeint, deren Anteil am gesamten Finanz- und Börsenhandels im Jahr 2011 auf ungefähr 70 Prozent geschätzt wurde. Der Vorteil gegenüber dem konventionellen Finanzhandel mit menschlichen Akteuren besteht darin, dass sowohl die Menge von Daten, die verarbeitet, als auch die Geschwindigkeit, mit der diese prozessiert werden kann, massiv gesteigert werden können. Vor allem im High Frequency Trading (HFT) wird mit maschinellen Operations- und Handelszeiten von einigen Mikrosekunden gerechnet. Besonders das Ausnutzen von statistischen oder durch technische Latenzzeiten erzeugten Preisunterschieden zwischen den jeweiligen Verträgen etwa der New York Stock Exchange (NYSE) und der Chicago Mercantile Exchange (CME), das auch als Arbit-

7

Vgl. Staffs of the CFTC and SEC 2010, S. 17.

8

Vgl. Staffs of the CFTC and SEC 2010a, S. 1ff.

9

Vgl. ebd.

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rage bezeichnet wird, ist eine gängige, extrem zeitkritische10 Praktik. Dabei werden minimale Finanzbeträge – preislich betrachtet im Cent-Bereich und zeitlich betrachtet im Mikrosekundenbereich – gewonnen, die bei massenhafter gleichzeitiger Ausführung und paralleler Iteration beträchtliche Beträge akkumulieren können. Der offizielle Bericht Findings Regarding the Market Events of May 6 konzentrierte sich vorwiegend auf die Analyse des S&P-500 Aktienmarktes an der erwähnten New York Stock Exchange (NYSE) und des E-Mini S&P500 Terminbörsenmarktes an der Chicago Mercantile Exchange (CME).11 Der 6. Mai 2010 begann bereits sehr turbulent.12 Die Aktienwerte der Kreditausfall und -austauschverträge von europäischen Staaten wie Griechenland, Portugal, Spanien, Italien und Irland stiegen, während gleichzeitig der Eurokurs sank. Durch die Nachrichten von Unruhen in Griechenland angeregt, schwankten die Aktienkurse im Allgemeinen stark, das heißt die Volatilität stieg an und damit das Risiko. Durchschnittlich betrachtet jedoch fielen die Aktienwerte, weshalb ein Verkaufsdruck einsetzte. Ab 13 Uhr wurden bei zu hoher Volatilität präventiv einprogrammierte automatische Pausen der Handelstätigkeit an der New Yorker Börse beobachtet. Diese Pau-

10 Zur Begrifflichkeit des „Zeitkritischen“ vgl. Ernst 2009. Für seine englischsprachige Rezeption vgl. Parikka 2011, S. 66ff. 11 Bei Aktienmärkten wird mit Kapitalwerten gehandelt, bei Terminbörsenmärkten jedoch mit sogenannten Futures. Beim E-Mini S&P-500 Terminbörsenmarkt in Chicago wird, verkürzt formuliert, mit dem Risiko und der Zukunft des S&P500 Aktienbörsenmarkts in New York gehandelt, wobei mit S&P-500 der Aktienmarkt der 500 größten börsennotierten US-amerikanischen Unternehmen gemeint ist. S&P steht für Standards and Poors, eine Rating-Agentur, die etwa seit den 1940er Jahren die Vorgänge der US-Finanzmärkte indexiert, das heißt durch ein technisches Medium speichert und darstellt. 12 Die Beschreibung im vorliegenden Abschnitt stützt sich einerseits auf den offiziellen Bericht vom SEC und CFTC, andererseits wurden die zahlreichen Whitepapers von der Firma Nanex herangezogen, da sie die Ergebnisse des offiziellen Berichts nicht nur teilweise ergänzen, sondern ihnen ebenso in manchen Punkten strikt widersprechen. Vgl. Staffs of the CFTC and SEC 2010a; und http://www.nanex.net/FlashCrash/OngoingResearch.html [Zugriff am 15.11. 2011].

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sen dienen dazu, mit kleinen Finanzspritzen die Liquidität des Marktes wieder aufzubauen. Mit Liquidität ist das Vermögen der Händler gemeint, möglichst schnell und möglichst viele Verträge mit hohem Geldeinsatz zu handeln. Diese präventive Maßnahme blieb jedoch ohne den gewünschten Effekt: Um 14 Uhr 30 stieg die Volatilität im S&P-500 Aktienmarkt im Vergleich zum Tagesbeginn um 22,5 Prozent an. Gleichzeitig sank die Liquidität auf der Seite der Käufer auf dem E-Mini-Terminmarkt um 55 Prozent. In dieser ungewöhnlichen Situation der hohen Volatilität und ausdünnenden Liquidität initiierte um 14 Uhr 3213 Wadell and Reed, ein mächtiger US-Markthändler, einen automatischen Verkaufs-Algorithmus, um insgesamt 75000 E-Mini-Terminverträge innerhalb von 20 Minuten zu verkaufen. Laut dem bereits erwähnten offiziellen Bericht berechnete dieser Verkaufs-Algorithmus seine Ausführungsrate im Verhältnis zum Handelsvolumen, das heißt der Menge der gerade gehandelten Verträge. Er beachtete aber weder die Geschwindigkeit, in der diese gehandelt wurden, noch die Preise der Verträge. Im Normalfall bringt dies keine Probleme mit sich, doch am 6. Mai kam es zu unerwarteten Ereignissen. Der erhöhte Verkaufsdruck wurde von einigen High Frequency Trading-Algorithmen absorbiert. Diese kauften vom Wadell and Reed-Verkaufsalgorithmus etwa 3300 Verträge, um davon aber zwischen 14 Uhr 41 und 44 etwa 2000 wieder zu verkaufen. Gleichzeitig waren andere HFT-Algorithmen am Werk und handelten insgesamt 140000 Verträge. Laut dem Unternehmen Nanex, das Software-Schnittstellen für die Echtzeit-Daten von Finanzmärkten liefert und das damit Zugriff auf die Börsen-Daten während des Zusammenbruchs hatte, lag die Schuld nicht beim Verkaufs-Algorithmus von Wadell and Reed, sondern vor allem beim komplexen algorhythmischen Zusammenspiel von hoch aggressiven HFT-Algorithmen. Diese reagierten auf seine Finanztransaktionen und erzeugten einen Ping-Pong-Effekt, indem sie alle gleichzeitig insgesamt ungefähr 2000 Verträge erwarben und sofort wieder verkauften. Dadurch kam es zu einer Überladung des Systems und damit zu Übertragungsverzögerungen der elektronisch-digitalen Signale, die den Kursverlauf darstellten.14 Die durch

13 Staffs of the CFTC and SEC 2010a, S. 2. 14 Vgl. http://www.nanex.net/ [Zugriff am 30.8.2011].

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diese Verzögerungen entstandenen Latenz-Arbitragen wurden wiederum von anderen HFT-Algorithmen ausgenutzt, welche kleinste Kursschwankungen und -verzögerungen in viel Geld umsetzen. Die Menge der gehandelten Verträge stieg damit drastisch an und provozierte weitere HFTAlgorithmen, die gemäß ihren implementierten Aktionen handelten. Die Aktien- und Terminkurse fielen noch schneller. Um 14 Uhr 45 und 28 Sekunden schließlich wurde der Handel am physikalisch-geographischen Ort des E-Mini-Terminmarktes an der Chicago Mercantile Exchange durch die einprogrammierte Stop Logic Functionality um fünf Sekunden angehalten.15 Laut dem erwähnten offiziellen Bericht verschwand der Verkaufsdruck und die Liquidität der Käufer fing an zu steigen. Nachdem der Handel um 14 Uhr 45 und 33 Sekunden weiterging, stiegen die Kurse wieder an. Der Flash-Crash weist auf die techno-politische Logik des Finanzmarktes, die nahezu vollständig durch hochtechnische Echtzeit-Informationssysteme bedingt ist.16 Doch nicht nur das: Die Frage nach einem einzigen Schuldigen erübrigt sich, denn Ursache war das hoch komplizierte Zusammenspiel von mehreren tausend maschinell-algorithmischen Softwareaktanten und einigen wenigen menschlichen Akteuren.17 Die Agentur, welche für den Flash-Crash sorgte, war über ein weites Netzwerk von vielen Akteuren verteilt. Kein einzelner Akteur, sondern das algorhythmische Zusammenspiel mehrerer Akteure im Ensemble war ausschlaggebend für die unkontrollierbare Eigendynamik der Finanzmärkte. Dieser Verbund von Netzwerk und kommunikativen Algorithmen, die in den einzelnen Knoten dieses Gefüges implementiert sind, sowie ihr Zusammenspiel über die Zeit ist

15 Vgl. Staffs of the CFTC and SEC 2010a, S. 4. 16 Vgl. Reichert 2009, S. 60. 17 Tippfehler oder andere Zuschreibungen, worin einzelne Akteure als Schuldige definiert werden, sind daher mit Vorsicht zu genießen. Bei manchen Fällen von Finanzmarktkatastrophen kann dies durchaus der Wahrheit entsprechen. Meist ist es aber, wie dargelegt, das gesamte Zusammenspiel von mehreren vernetzt agierenden Akteuren, das für die katastrophischen Effekte sorgt. In diesem Sinne ist die „Medienarchäologie des Tippfehlers“ von Ramón Reichert kritisch zu betrachten. Vgl. Reichert 2009, S. 187ff.

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als Agencement – so mein Vorschlag – zu bezeichnen.18 Im Gegensatz zum Gefüge, das ein Resultat einer Zusammenfügung ist, das durch einen außenstehenden Akteur geleistet wurde, spielt das Wort Agencement auf eine Agentur im Gefüge selbst an. Die Semantik der Agentur ist im Wort Agencement mit derjenigen des Gefüges identisch. Das heißt, das Gefüge fügt sich durch Eigendynamik autopoietisch respektive auf endogene Weise zusammen und kann sich im Laufe der Zeit stets dynamisch ändern. Die Akteur-Netzwerk-Theorie19 stellt hier ebenso einen unerwünschten Kompromiss in ihrer Begrifflichkeit dar, weil sie das Agencement bereits in zwei Glieder, nämlich den Akteur und das Netzwerk, aufteilt.20 Das folgende, zweite Beispiel wird die katastrophische Algorhythmik im spezifischen Agencement des AT&T-Ferngespräch-Telefonnetzes Anfang der 1990er Jahre verdeutlichen.

1990, AT&T C RASH Die in den frühen 1990er Jahren erfolgte massenmedial diskutierte und von den meisten BürgerInnen unterstützte Legitimierung der ersten großen Massenverhaftungen von Hackern in den USA basierte vor allem auf dem Zusammenbruch des AT&T-Ferngespräch-Telefonnetzes21 im Januar 1990. Tatsächlich waren es jedoch keine Hacker, die diesen fatalen Zusammen-

18 Agencement, zu Deutsch Gefüge, ist ein Begriff, der durch die sozialanthropologischen Arbeiten zu den Funktionsweisen der Finanzmärkte von Michel Callon, dem Mitbegründer der Akteur-Netzwerk-Theorie, bekannt wurde. Callon übernahm den Begriff wiederum von Deleuze/Guattari. Die englischsprachige Übersetzung ihres Hauptwerks Tausend Plateaus durch Brian Massumi benutzt wiederum anstatt Agencement das Wort Assemblage. Dazu Philipps 2006. Zur Verwendung des Begriffs bei Michel Callon vgl. Callon 2007, S. 319. Für den deutschsprachigen Raum vgl. Hörl 2011, S. 21. 19 Latour 2006. 20 Zu dieser Problematik selbstkritisch, ohne jedoch das Wort Agencement zu benennen, Latour 2006a. 21 AT&T steht für American Telephone & Telegraph Corporation. Die Firma hatte bis in die frühen 1980er Jahre eine Monopolstellung in Nordamerika inne.

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bruch verursachten.22 Ein kleiner Programmierfehler in der Software der 4ESS-Schaltzentralen, von denen 114 über das gesamte Gebiet der USA verteilt waren, galt als Auslöser.23 Durch eine Aktualisierung der Software im Dezember 1989 wurde ein fehlerhaft implementierter Algorithmus wirksam, der das algorhythmische Agencement der 114 4ESS-Schaltzentralen störte und neun Stunden lang aussetzte. Am Montag, den 15. Januar 1990, ungefähr um 14 Uhr 30 registrierte eine dieser 4ESS-Schaltzentralen in New York durch eine vorprogrammierte Selbstdiagnose ein unbedeutendes Problem in der Hardware. Dies war keine Seltenheit und veranlasste die Software der 4ESS-Schaltzentrale zu einem Routineprozess, bei dem Teile ihrer Elektronik abgeschaltet wurden. Die Fehlfunktion musste natürlich den anliegenden Schaltzentralen kommuniziert werden, damit sie wussten, dass die New Yorker 4ESSSchaltstation für eine kurze Zeit von vier bis sechs Sekunden pausierte, so dass keine Ferngesprächsleitungen fälschlicherweise zu ihr geschaltet wurden. Die restlichen 113 Schaltzentralen übernahmen die Verkabelung der Gespräche für diese kurze Zeit. Sobald sich die New Yorker 4ESSSchaltzentrale selbst wieder hergestellt hatte, sendete sie an alle benachbarten Schaltstationen ein elektronisches Signal, mit dem kommuniziert wurde, dass sie wieder bereit war, Gesprächsleitungen entgegenzunehmen und zu verschalten. Alle benachbarten 4ESS-Schaltzentralen aktualisierten daran anschließend ihre sogenannte Routingdaten, das sind die jeweiligen Zustandsdaten, die den Status ihrer benachbarten Stationen festhalten. Ein einfacher Fehler in der Programmierung genau dieser wichtigen Aktualisierung der Routingdaten, der durch das Softwareupdate vom Dezember 1989 in alle 114 4ESS-Schaltzentralen implementiert wurde, führte zu unberechenbaren Störungen in den Mikroprozessoren – im Fachjargon Direct Link Nodes genannt –, welche die Verkabelung der eingehenden und ausgehenden Telefongespräche kontrollierten. Die Störung des Aktualisie-

22 Zum Zusammenhang der Verhaftungen und dem Zusammenbruch des Telefonnetzes sowie ihren soziopolitischen und subkulturellen Auswirkungen siehe Sterling 1992. 23 Vgl. dazu den ausführlichen Abschnittt „AT&T Crash, 15 Jan 90: The Official Report“ von Don H. Kemp via Geoff Goodfellow in Neumann 1990, S. 11ff.; und Sterling 1992, S. 36ff.

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rungsprozesses bestand vor allem in ihrer zeitlichen Abfolge und ihrer zeitorganisatorischen Abstimmung mit anderen Softwareprozessen. Irgendwo in der Programmierung, die durch die Programmiersprache C erfolgte, stand innerhalb einer langen Do-While-Schleife eine Switch-Anweisung, wobei gleichzeitig bei einer ihrer Verzweigungen eine If-Schleife mit einer Break-Anweisung aufzufinden war.24 Eine Break-Anweisung innerhalb einer If-Schleife ist in der formalen Syntax der Programmiersprache C nicht aufgelistet. Worin die ursprüngliche Intention des Programmierers bestand und welches die konkreten erwünschten Effekte der fehlerhaften Programmierung waren, lässt sich nicht rekonstruieren, liegen doch die konkreten Zeilen des Programms nicht mehr vor. Ebenso wenig ließ sich der konkrete verantwortliche Programmierer ausfindig machen. Es lässt sich nur vermuten, dass durch das fehlerhafte Einsetzen der Break-Anweisung die Algorhythmik, das heißt die Abfolge der Breaks, der Ausbrüche aus den DoWhile- und For-Schleifen oder der Abbrüche von Switch-Anweisungen, in einer nicht intendierten zeitlichen Logik ausgeführt wurde, so dass die gesamte Zeitplanung der Programmausführung, ihre Algorhythmik, gestört wurde. Der Fehler wurde als solcher nicht erkannt, weil Programme logischerweise nicht verifizieren, ob sie genau das prozessieren, was ihre Programmierer einprogrammiert haben. Das fehlerhafte Programm, das jedoch einwandfrei lief, wurde auffällig, als innerhalb von einer Hundertstelsekunde zwei eingehende Zugriffe25 hintereinander detektiert wurden, was die bereits gestörte Zeitplanung des Teilprogramms endgültig aus seinem Rhythmus brachte. Das algorhythmische Zusammenspiel der signalverarbeitenden Elektronik begann sich zu verschieben und zu vermischen, was sofort von ihren präventiv einprogrammierten Überwachungsalgorithmen registriert wurde und die Selbstausschaltung eines Direct Link NodeProzessors bewirkte. Um den vollständigen Ausfall zu vermeiden, waren in einer 4ESSSchaltzentrale jedoch nicht nur eine, sondern zwei von solchen Halbleiterprozessoren eingebaut. Die Ingenieure dieser Zentralen waren sich dem-

24 Vgl. Neumann 1990, S. 13. 25 Entweder von Anrufen oder anderen Aktualisierungs- oder Kommunikationssignalen benachbarter Schaltzentrale; darin sind sich die Experten uneinig. Vgl. Neumann 1990, S. 11f.

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nach der Möglichkeit von Störungen durchaus bewusst, doch ihre präventive Maßnahme reichte nicht aus. Schnell fiel der alternative Direct Link Node-Prozessor aus, was zum kompletten Ausfall der betroffenen Schaltzentrale führte. Hier kam nun das gesamte Agencement des Telefonnetzwerks ins Spiel. Der komplette Ausfall einer Schaltzentrale musste nämlich den benachbarten Schaltzentralen kommuniziert werden, damit diese ihre Routingdaten aktualisieren konnten. Dadurch entstanden unerwünschte Kettenreaktionen, denn nun wurden weitere Schaltzentralen fehleranfällig, weil die Fehler in der Zeitsteuerung genau während den Aktualisierungen der Routingdaten stattfanden. Die Störung breitete sich dadurch über das gesamte Netzwerk aus. Doch nicht nur das: Das Ganze wurde durch einen Makrorhythmus mit einer Pause von vier bis sechs Sekunden umrahmt, die für die Selbstaus- und Wiedereinschaltung einer Schaltzentrale benötigt wurde. Die Störung wiederholte sich in einem scheinbar ewigen, ritornellartigen Algorhythmus. Ohne Eingriff von außen wurde sowohl auf der Makroebene der An- und Ausschaltungen der Zentralen als auch auf der Mikroebene der fehlerhaften Algorithmen immer wieder dieselbe zeitliche Abfolge prozessiert und per Feedback-Schleife ausgelöst. Die Lösung dieses Problems dauerte neun Stunden, während derer in ganz Nordamerika keine Ferngespräche geführt werden konnten. Der AT&T-Crash von 1990 wurde durch sein Ausmaß und seine Unheimlichkeit aufgrund des völlig automatischen Ablaufs zum exemplarischen Vorfall für die fatale Abhängigkeit der modernen Kommunikation von der digital-elektronischen Nachrichtentechnik. Das Geschick26 des Telefonnetzes war sein reibungsloses, zeit-operatives Funktionieren. Einmal außer Kontrolle, erzeugte seine Schicklichkeit nur noch ein katastrophisches Ungeschick.

26 Zum Begriffs des Geschicks bei Martin Heidegger und zum Zusammenhang mit seiner Begrifflichkeit des Ereignisses vgl. Heidegger 2007, S. 24. Dazu ebenso Sandbothe 2003, S. 89.

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ALGORHYTHMISCHE AGENCEMENTS Ein algorhythmisches Agencement ist topologisch betrachtet ein distributives, nicht-zentriertes Netzwerk.27 Zeitlich-prozessual betrachtet lässt es sich nur durch eine detaillierte Analyse der jeweils spezifischen Algorhythmik an den jeweils spezifischen, physikalisch-realen Topoi – den Knotenpunkten – im Netzwerk erfassen. Die Größe der Selektion des Untersuchungsbereichs erfolgt einerseits räumlich, das heißt es können nur einzelne Signalquellen sowie mehrere oder ganze Systeme, die sich wiederum zu größeren Gruppen oder ganzen Super-Gefügen zusammenfassen lassen, untersucht werden. Andererseits lässt sich die Zeit, in der die Prozesse im zu untersuchenden Agencement ablaufen, auf Mikro- oder Millisekunden eingrenzen, aber ebenso auf Minuten, Stunden, Tage oder sogar Jahre ausdehnen. Die hier erfolgten Detailanalysen bezogen sich dabei in beiden Fällen auf den Bereich von Millisekunden, Sekunden und Minuten. Tiefergehende Messungen, welche die Algorhythmik nahezu mikrologisch auflösbar machen, sind aufgrund einfacher techno-politischer Hürden nicht möglich: Zum einen lassen sich die Börsendaten nur schwer direkt erfassen und speichern; zum anderen sind die meisten Algorithmen des Hochfrequenzhandels proprietär, das heißt urheberrechtlich geschützt und damit geheim. Beim AT&T-Crash kam die Schwierigkeit hinzu, dass der Zusammenbruch bereits vor mehr als zwanzig Jahren stattfand und die meisten Daten dazu bereits unauffindbar waren oder absichtlich gelöscht wurden. Eine genuin mikrologische Medienarchäologie von algorhythmischen Agencements lässt sich meist nur im Bereich von gut dokumentierten Mediengefügen durchführen, die durch Kommunikationsprotokolle wie GSM oder Ethernet definiert sind.28 Wolfgang Ernst beschreibt die dazu nötige medientheoretische Methodik als eine Art „epistemologisches Reverse-Engineering“,29 wobei nicht nur Menschen, sondern ebenso Maschinen und Medien selbst zu aktiven Archäologen der Medien werden. Medienereignisse unter hoch-

27 Zu Netzwerkkulturen und ihren Medienpolitiken vgl. die hervorragende Einführung von Terranova 2004. Darin S. 3 zur Untrennbarkeit von Netzwerkphysik und -politik. 28 Eine Analyse von GSM (Mobilfunk) erfolgte in Miyazaki 2011. 29 Ernst 2011, S. 239.

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technischen Bedingungen können nur noch mit Hilfe von weiteren Medien, etwa Messmedien und -instrumenten begreifbar gemacht werden. Im signaltechnischen Bereich von digitalen Kommunikationsmedien bedeutet dies, dass nicht nur diagrammatische, auf Diagramme basierende Zugriffe30 auf die Netzwerke von Mediengefügen, sondern gleichzeitig algorhythmische Analysen der zeitlichen Prozesse virulent werden. Im Kontext des AT&T-Crashes schrieb einer der beteiligten Ingenieure: To troubleshoot the problem, AT&T engineers first tried an array of standard procedures to reestablish the integrity of the signaling network. In the past, these have been more than adequate to regain call processing. In this case, they proved inadequate. So we knew very early on we had a problem we'd never seen before. At the same time, we were looking at the pattern of error messages and trying to understand what they were telling us about this condition.31

Die katastrophischen Rhythmen und Zeitmuster der Fehlermeldungen mussten von den Ingenieuren erst wieder aus der automatischen, maschinell-algorithmischen Feedback-Schleife isoliert und durch detaillierte Analysen ihrer dynamischen Organisationsweisen begriffen werden. Eine Studie der zeitprozessualen Abhängigkeiten und Agenturen sowohl im Agencement des gesamten AT&T-Telefonnetzes als auch innerhalb der Mikroschaltkreise der einzelnen 4ESS-Schaltzentralen, das heißt eine Studie ihrer Algorhythmik, war Bedingung dafür. In den 20 Jahren zwischen 1990 und 2010 kam es zu einer merklichen Verstärkung der Effektivität algorithmischer Katastrophen. Gab es beim Zusammenbruch des AT&T-Telefonnetzwerks für Ferngespräche noch keine oder eher wenig unmittelbar finanzielle Auswirkungen, vermischten sich beim Flash-Crash auf drastische Weise Kommunikationsströme mit Finanzströmen, was dann als rasanter Kursfall oder -anstieg zu entsprechenden Verlusten oder Profiten führte. Der AT&T-Crash wurde noch intentional von Ingenieuren durch die jeweils in allen 114 4ESS-Schaltzentralen einzeln durchgeführte Initiierung von Software-Wiederherstellungsprozessen beendet. Der Flash-Crash hingegen wurde durch einen eingebau-

30 Zum Thema Diagrammatik vgl. Krämer 2005, S. 38ff. 31 Neumann 1990, S. 11.

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ten Automatismus gestoppt. Bezüglich der Geschwindigkeit und der Dauer gibt es ebenso erhebliche Unterschiede. Der AT&T-Crash dauerte neun Stunden, der Flash-Crash ungefähr 15 Minuten. Waren die Akteure beim AT&T-Crash homogen gruppiert, so zeichneten sich die Beteiligten beim Flash-Crash durch zahlreiche, heterogene Strategien, Algorithmen, Finanzbeträge und Kontexte aus. Insgesamt lässt sich eine Radikalisierung der Schwierigkeit einer korrekten Analyse solcher komplexen Ereignisse beobachten. Trotz der Emphase der technisch-materiellen Faktizität von Medienereignissen kann die „monströse Ereignishaftigkeit“32 von katastrophischen Zusammenbrüchen nur durch Miteinbezug von abstrakt-symbolischer Technomathematik, etwa der nonlinearen Dynamik, in komplexen Systemen verstanden werden.33 Der Philosoph und Ex-programmierer Manuel DeLanda verwendet etwa Begriffe wie Katalyse34 und Phasenraum,35 wenn es um die Beschreibung komplexer Agencements geht. In den Tausend Plateaus von Deleuze/Guattari geht es unter anderem um eine „Physik der Meuten, Turbulenzen, Katastrophen und Epidemien […]“.36 Bei vielen katastrophischen Prozessen spielen irreversible Prozesse eine wichtige Rolle, bei denen Zeit nicht mehr wie bei einfachen physikalischen Modellen umkehrbar ist, sondern signifikant operativ, das heißt ebenso kritisch wird. In der technomathematischen Beschreibungssprache wird das kleine t für Zeit zu einem Großen T.37 Mikroskopische Ordnungen gehen mit makroskopischem Chaos einher, was ebenso für algorhythmische Agencements gilt, die neben biologisch-organischen und physikalisch-chemischen Gefügen als weitere Kategorie komplexer Systeme kulturwissenschaftlich zu kultivieren wären.

32 Vogl 2010, S. 143. 33 In Bezug auf Finanzmärkte ebd., S. 141ff., und Reichert 2009, S. 36ff. Für einen allgemeinen Einblick in die Theorie komplexer Systeme vgl. Prigogine 1992 und Diebner 2001. 34 DeLanda 2006, S. 20. 35 Ebd., S. 29. 36 Deleuze/Guattari 1992, S. 678. 37 Vgl. Rheinberger 1990, S. 131, und Prigogine 1992, S. 240.

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Medieninduzierte Zusammenbrüche sind nur mit zeitlichem Abstand verstehbar. Sie zeigen für einen kurzen Augenblick die Effektivität von ansonsten immateriellen Geldströmen oder unsichtbaren Kommunikationsnetzwerken. Hochkomplexe Mediensysteme wie der Finanzmarkt oder das Telefonnetz bleiben für den normalen Bürger nur in Momenten massenmedialer Berichterstattung anlässlich einer Störung oder eines Unfalls erfahrbar. Ein derartiger Verbund von Medientechnologien erscheint in solchen Momenten als launenhaftes, unberechenbares Agencement, das scheinbar durch eine starke Schicksal- und Ereignishaftigkeit konstituiert ist. Einmal durch die Passage der Zeit gegangen, lassen sich solche Katastrophen jedoch, wenn genügend Daten vorhanden sind und die wichtigsten Fehler im System erkannt wurden, in technomathematischen Modellen vereinfachen und damit verhindern. Dies geschieht jedoch immer nur post factum. Mediale Präemptionen hinken den Ereignissen somit immerzu hinterher. Hier zeichnet sich die Fatalität von algorhythmischen Medientechnologien ab. Ihr Agencement befindet sich in einer ewigen différance38 und rhythmisiert, verschiebt und transformiert sich ständig in neue Zustände und ist uns damit immer einen Schritt voraus.

L ITERATUR Michel Callon, „What does it mean to say that economics is performative?“, in: Donald MacKenzie, Fabian Muniesa und Lucia Siu (Hgg.), Do economists make markets? On the performativity of economics, New Jersey 2007, S. 311-354. Manuel DeLanda, A New Philosophy of Society. Assemblage Theory and Social Complexity, London/New York 2006. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992. Jacques Derrida, „Die différance“, in: ders., Randgänge der Philosophie, hg. von Peter Engelmann, Wien 1988, S. 29-52. Hans H. Diebner, Studium generale zur Komplexität, Tübingen 2001.

38 Derrida 1988.

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K ATASTROPHISCHE A LGORITHMEN

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Der Traum des Digitalen und die Möglichkeiten der Bombe M ARIAN K AISER Maybe is my favourite word And how I prefer its stochastic definition Like that in a Markov chain Much the same way I prefer Voltaire’s God D. KAUFMAN, MAYBE

Mögliche Ereignisse finden in Medien statt. Mögliche Ereignisse sind Medienereignisse. Eine Geschichte ihrer jeweiligen Möglichkeit und der von ihnen aufgeworfenen Möglichkeiten lässt sich entsprechend anhand von Geschichten ihrer Medien erzählen – als historische Variabilität1 dessen, was in einer bestimmten Situation unter bestimmten medialen Bedingungen als Ereignis möglich wird. Damit sind solche Medienereignisse und – geschichten immer auch an Episteme – oder historische Möglichkeitsräume

1

Als ‚historische Variabilität‘ soll hier, mit Michel Serres, die je ebenso unterschiedliche wie bestimmte Formierung eines unbestimmten „Tohuwabohu“ verstanden werden: eine „Wölkung“ von Kontingenzen, die zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort und unter bestimmten Bedingungen von bestimmenden Kräften und Techniken als je unterschiedliche Formation je anders verteilt und angeschlossen werden und das Ereignis derart überhaupt sichtbar und sagbar werden lassen. Vgl. Deleuze 1986, S. 56ff; Serres 1993, S. 7.

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– gebunden, in denen neue Medien auftauchen und deren Lage zugleich von Medien mitbestimmt wird.2 Eine medienhistorische Diskursanalyse fragt daher eher nach Möglichkeitsräumen von Geschichte als nach ihrer Wirklichkeit, genauer gesagt, nach den Möglichkeiten der Geschichte wie nach einer Geschichte dieser Möglichkeiten.3 Mit den Mitteln einer solchen Analyse soll im Folgenden von zwei Träumen gesprochen werden. Zum einen von Gottfried Wilhelm Leibniz’ 1710 aufgeschriebenem Traum des Theodorus4 und seinen zentralperspektivischen Vorstellungen infinitesimaler, möglicher Wirklichkeiten sowie zum anderen vom ersten in Bild und Ton digital entworfenen Traum der Filmgeschichte aus dem Jahr 1991: Sarah Connors Visionen vom möglichen Ende des Menschen durch die Atombombe und den Computer in James Camerons Terminator 2: Judgment Day. Beide Träume finden in Medien statt, die in ihnen Statt finden, und beide visionieren über mögliche Ereignisse. Die Träume der Medien, so scheint es, träumen ihre eigenen Möglichkeitsbedingungen und erzählen dabei von gänzlich verschiedenen Theorien, Techniken und Politiken des Möglichen; zwischen ihnen soll ein berühmter Fliesenboden hin- und herführen. Auf diesem Umweg kann schließlich ein Wissen des digitalen Filmtraums um die spezifische mediale Verfasstheit eines stets zukünftigen und immer möglichen, aber außerhalb seiner Medien niemals wirklich gewordenen globalen Atomkriegs aufscheinen. Denn der digitale Film zeigt Be-

2

Vgl. zum Problem des Überschlags von epistemischem Ding und Episteme Rheinberger 2001, S. 24 u. 202; in Bezug auf die Atombombe als epistemisches Ding und Diskursanalyse als Kontingenzkalkulation Hagen 2002, o.P.; zum Begriff der ‚Episteme‘ Foucault 1974 und zur Lagebestimmung der Medien Kittler 1986.

3

Zur historischen Diskursanalyse als Theorie des Möglichen hier eine mögliche Geschichte: Georges Canguilhem habe in einem so doppeldeutigen wie unauffälligen Satz auf die Frage eines Journalisten, ob das, was Monsieur Foucault da so erzähle, wirklich so sei, geantwortet: „Wenn das wirklich so wäre, dann wüssten wir das.“ Als Soundmitschnitt des ungedruckten, zweiten Teils einer Kulturgeschichte der Kulturwissenschaften nachzuhören unter: http://unmarked scapes.net/ [dirty discourse reengineering]: Speech, as it were, has become immortal.

4

Vgl. Leibniz 1996, S. 261.

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dingungen, deren Teil er ist: Er erzählt von (und in) den Rückkopplungsschlaufen digitaler Simulationsmodelle von einer gemeinsamen Geschichte des Computers und der Atombombe. Er zeigt das mögliche Ereignis eines globalen Atomkriegs, der zuallererst in digitalen Rechenmaschinen herund schließlich im digitalen Film als zivilem Nachfolger dieser Maschinen darstellbar wurde, ohne sich außerhalb dieser Medien je zu aktualisieren (aber nicht ohne radikale Effekte außerhalb dieser Medien zu zeitigen). Es gilt also auf einigen Umwegen von einem Ereignis zu schreiben, von dem vielleicht nur auf Umwegen geschrieben werden kann,5 drehen sich die das Ereignis umkreisenden Möglichkeiten doch gerade um sein NichtEreignen.6 In den Worten einer Band mit dem thematisch vielleicht passenden Namen Einstürzende Neubauten: „Was ist, ist, was nicht ist, ist möglich.“7

1. M ÖGLICHE E REIGNISSE Horaz, vor knaben, in Eutin! wie würde der Römer zu dem eräugnis lächeln. JOHANN HEINRICH VOSS

„Eräugnen, ereugnen, ereignen“.8 Bereits das ‚Eräugnis‘ des Grimmschen Wörterbuchs verweist in Wort und Sinn auf einen grundsätzlich prozesshaften und ästhetischen Charakter. Die deutsche Sprache kennt das Ereignis

5

Wie vielleicht von allen Ereignissen. Vgl.: Derrida 2003, S. 7.

6

Das Mögliche, von dem hier gehandelt wird, hat eine eigene und volle Existenz, die nicht lediglich als Abglanz des verwirklichten Ereignisses entsteht, sich lediglich ‚realisiert‘ und bereits vor dieser Verwirklichung auf selbige hin gänzlich entworfen ist. Es steht damit der Sphäre nah, die Gilles Deleuze mit dem Begriff des „Virtuellen“ gefasst hat. Deleuze 1992, S. 269.

7

Einstürzende Neubauten, „Was ist ist“, Our Choice/Mute Records, Berlin 1996.

8

Mit Dank an Dominik Michael Hagel und dem Deutschen Wörterbuch entnommen: „ERÄUGNEN, ereugnen, ereignen, contingere, accidere, steht nur reflexiv und bedeutet eigentlich erscheinen, sich offenbaren“. Vgl. Grimm 1862, Lemma „Eraeugnen“. Hier zit. n. http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=eraeug nen [Zugriff am 23.9.2011].

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zunächst nur reflexiv, als ein sich Ereignendes, dem noch nicht die Feststellungen sprachlicher Substantivierung und Objektivierung widerfahren sind.9 Es bezeichnet einen Prozess des Erscheinens in der reflexiven Form des sich Offenbaren und trägt ein Sinnesorgan im Namen. An die Sinnlichkeit des Auges angeschlossen, erscheint es in einem Diskurs der Wahrnehmung oder aisthesis und ist dem „Blickhaften“ und dem Ästhetischen verbunden.10 Noch die das Ereignis umkreisenden, lateinischen Übersetzungen des Deutschen Wörterbuchs verweisen auf diese prozessual-ästhetische Qualität: contingere und accidere sind seine lateinischen Referenten. In Vernachlässigung der Spuren der Kontingenz, des Falls und des Unfalls, die sich hier mitsprechen, soll vor allem auf das accidere als das Fallende und „Ins-Auge-Fallende“11 und damit auf das Ästhetische des Ereignisses hingewiesen werden. Das Ereignis wird nicht nur ästhetisch dargestellt, es wird ästhetisch hergestellt, ist konstitutiv mit der Ästhetik seines Erscheinens verbunden. Anstatt es vor allem auf seine Zeitlichkeit und zumeist ‚Plötzlichkeit‘12 hin zu denken, soll im Folgenden versucht werden, es von seiner Her- und Darstellung, von seinen Medien und seiner Ästhetik herzuleiten. Wie das Ereignis, so ist auch das Mögliche grundsätzlich an die Medien und die Ästhetik seiner Her- und Darstellung gebunden. Gilles Deleuze hat bemerkt, dass sich im ausgehenden 17. Jahrhundert das Denken des Möglichen grundsätzlich ändert. Agent und Schwellengestalt dieses neuen Denkens ist für Deleuze Gottfried Wilhelm Leibniz, die Schrift dieses Denkens die Leibnizsche Theodizee, insbesondere die Skizze eines traumhaften Palasts der Lose des Lebens und die darin enthaltene Theorie der besten aller möglichen Welten.13 In dieser Geschichte kommt der Königssohn Sextus Tarquinius nach Delphi und befragt das Orakel über seine Zukunft. Er erhält die Antwort, dass er ein Ungeheuer sein, die Lucretia schänden und

9

Grundsätzlicher, nämlich als eine Theorie der Sprache als Ereignis in Anschluss an Jorge Luis Borges, nachzulesen bei Deleuze/Guattari 1996, S. 27ff., oder Vogl 2007, S. 70.

10 Vgl. Heidegger 1994, S. 122 und Heidegger 2009, Kapitel V. 11 Heidegger 1994, S. 122. 12 Zu den Theorien des plötzlichen Ereignisses vgl. unter vielen anderen so unterschiedliche wie Derrida 2003 oder Dayan/Katz 1992. 13 Leibniz 1996, S. 263f; Deleuze 1996, S. 99-136.

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fernab der Heimat unglücklich sterben wird. Offensichtlich unzufrieden mit der Auskunft, beschwert sich Sextus bei den Göttern, wie es sein könne, dass er seine Zukunft nicht zu ändern vermag, da sie eben vorhergesehen und -gesagt ist, und zugleich schuldig an den kommenden Ereignissen sein soll. Der Oberpriester des Jupitertempels, Theodorus, lauscht dem Gespräch und fragt sich und seinen Gott nach der Logik, die solch offenbarer Ungerechtigkeit unterliegt. Jupiter verweist den Theodorus zur Aufklärung an seine Tochter Athene. In ihrem Tempel schläft der Hohepriester ein und träumt von einer unendlichen und dennoch überblickbaren Pyramide, dem Palast der Lose des Lebens. Träumend wird er durch verschiedene, voneinander getrennte Zellen des Palasts geführt, wobei er in jedem Gemach eine andere mögliche Welt mit einem anderen möglichen Sextus Tarquinius erblickt, die in sich schlüssig oder „kompossibel“ – aber mit den anderen möglichen Wirklichkeiten wie mit der schließlich aktualisierten Wirklichkeit an der Spitze der Pyramide selbst unvereinbar oder „inkompossibel“ sind.14 Der Leibnizsche Text parzelliert und trennt Möglichkeiten, die in einer einzigen, gemeinsamen Welt unvereinbar wären. Er entwirft eine infinitesimale Mathematik des Möglichen, in der alle Möglichkeiten in ebenso viele verschiedene Welten unendlich unterteilt sind. Hierdurch könne man sich nun „eine geregelte Folge von Welten vorstellen“; „so viele man nur will“, in einer Pyramide, die „eine Spitze, aber keine Basis“ hat und „ins Endlose“ fortwächst.15 In der Spitze der Pyramide ist die von Jupiter „aus der Region der Möglichkeiten in die Region der wirklichen Wesen“ überführte, bestmögliche Welt platziert.16 Alle Ereignisse erscheinen in ihr als bestens geordnet, hoch anschlussfähig und aufeinander abgestimmt. Es geht hier um eine Theorie der besten und sich daher zu Recht verwirklichenden, möglichen Welt, die auf der Spitze einer nach unten unendlich offenen Pyramide ebenfalls möglicher, aber miteinander unvereinbarer Welten thront. Die möglichen Welten sind klar voneinander geschieden und entfalten sich in einer Geometrie, die das unkontrollierte Wuchern der Möglichkeiten in nur einer Welt bannt, während die wirkliche Welt als

14 Der Begriff des Kompossiblen/Inkompossiblen ist übernommen von Deleuze 1996, S.103. 15 Leibniz 1996, S. 261ff. 16 Leibniz 1996, S. 267.

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größtmöglicher Zusammenhang entsteht. So trennt die Anordnung in der Pyramide die nur möglichen Wirklichkeiten von der einen, sich tatsächlich aktualisierenden Möglichkeit der Wirklichkeit an der Spitze der Pyramide, verleiht ihnen eine klare Hierarchie und schöpft derart aus anfänglich fragwürdigem Zirkelschluss eine infinitesimale und also göttliche Weisheit und Geometrie.17 Es gibt, so scheint es, andere mögliche Wirklichkeiten, aber keine wirkliche Möglichkeit der Veränderung des Fatums. Die philosophische Organisation von Zukünften ist dabei auch eine politische, bedeutet der größtmögliche Zusammenhang in der ‚bestmöglichen Welt‘ schließlich doch nichts weniger als den politischen Zusammenhang Roms, nämlich die Gründung der Republik, deren Gründungsmythos eben die Schändung der Lucretia ist.18 Bernhard Siegert hat darauf hingewiesen, dass es einem solchermaßen Daten verarbeitenden und Zukunft berechnenden Gottesbeweis nicht mehr um eine Unendlichkeit Gottes, sondern um die Universalität eines Datenspeichers geht.19 Theodorus erträumt und Athene verwaltet eine Informationsmaschine, die als Universalarchiv alle möglichen Welten, alle möglichen Menschen, Dinge und Handlungen enthält und zugleich als absolut perfekte Repräsentationsmaschine alle Ereignisse lebensecht und in einem Blick erfahrbar darstellt.20 Denn sobald die Göttin den Theodorus in eines der Gemächer des Möglichen führt, entsteht „eine Welt“: Theodorus übersah sein ganzes Leben wie mit einem Blick und wie bei einer Theatervorstellung. In dem Gemach lag ein großes, geschriebenes Buch; Theodorus

17 Der ‚größtmögliche Zusammenhang‘ in der ‚best-möglichen Welt‘ bedeutet schließlich nichts weniger als die Gründung des Römischen Reiches. Die mathematische Organisation von Zukünften ist auch eine politische. 18 Diesseits ihrer Bilderrätsel entwirft die Geschichte einen Möglichkeitsraum, an dessen Aktualisierung und politisch-ökonomischer Verwirklichung sie handfest mitarbeitet. Joseph Vogl hat entsprechend die Leibnizsche Politik des Möglichen als Lösung „eines der epochalen Probleme um 1700, […] das des Zufalls und der kontingenten Zukünfte“, beschrieben und durch dessen Schriften hindurch bis in eine „kameralistische“ Praxis und Effizienzlogik hinein verfolgt. Vgl. Vogl 2003. 19 Vgl. Siegert 2003, S. 158. 20 Vgl. ebd.

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konnte sich nicht der Frage enthalten, was das bedeute. Es ist die Geschichte der Welt, der wir eben jetzt einen Besuch machen, gab ihm die Göttin zu verstehen: es ist das Buch ihrer Schicksale. Du hast auf der Stirn des Sextus eine Zahl gesehen, suche in dem Buch die damit bezeichnete Stelle […] Lege den Finger auf welche Zeile dir beliebt, fuhr Pallas fort, und du wirst das, was diese im großen und ganzen angibt, tatsächlich in allen seinen Einzelheiten vor dir sehen.21

Die Techniken der Herstellung der Leibnizschen Theorie des Möglichen schreiben sich wortwörtlich in ihre Darstellung möglicher Welten ein. Laut der medientechnischen Übersetzung Bernhard Siegerts operiert hier ein „optisch-textuell-numerischer Medienverbund“, der eine „Aktualisierung der Repräsentation in Form eines ‚Vor-Augen-Stellens‘ oder ‚Mit-eigenenAugen-Sehens‘ als Evidenzformel mit einem „symbolischen Speichermedium, dem Buch [koppelt], in dem die komplette Beschreibung der Welt enthalten ist. Die Konversion von Schrift in Bild ist hierbei organisiert über einen numerischen Adressoperator ‚Zahl‘ auf der Stirn des Sextus.“22 Theodorus träumt die medientechnischen Möglichkeitsbedingungen der erträumten Theorie des Möglichen. Sie erweist sich als an ein bestimmtes historisches Ensemble von Schrift, Bild und Zahl gebunden: die Schrift des Buches zu Zeiten der Typographie, das Bild des Theaters zu Zeiten der Zentralperspektive sowie die Zahlen der analytischen Geometrie.23 Wie das Ereignis, so hängt auch das, was als Möglichkeit sagbar, imaginierbar und berechenbar wird, grundsätzlich am historischen Stand der Medien seiner Her- und an den Ästhetiken seiner Darstellung.

2. P ERSPEKTIVISCHE M ÖGLICHKEITEN Aber was ist das für eine Theatervorstellung, in der man ‚wie mit einem Blick ein ganzes Leben übersehen kann‘? Als Voraussetzung für einen Über-Blick, der mit einem Mal erfasst, was eine mögliche Welt ‚im großen und ganzen angibt‘, erkennt Siegert die zentralperspektivische Konstruktion des Sehens, „wie sie bühnentechnisch seit dem 16. Jahrhundert, appa-

21 Leibniz 1996, S. 265 (Hervorhebungen M. K.). 22 Siegert 2003, S. 158. 23 Vgl. ebd., S. 166.

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rattechnisch durch die Camera Obscura implementiert worden war.“24 Leibniz’ Theatervorstellung wird so Teil einer „längeren Geschichte“25 der Setzung eines historisch und medientechnisch bestimmten Beobachtersubjekts: Spätestens seit René Descartes die Analogie von Camera Obscura und menschlichem Auge in einem Experimentalaufbau implementierte,26 der ein durchlöchertes Ochsenauge an die Stelle der Glaslinse setzte, war die Zentralperspektive Brunelleschis auch zum Agenten einer Philosophie des Subjekts geworden.27 Ein von den Techniken und dem Wissen um die Zentralperspektive gesetztes Subjekt der Beobachtung betrachtet in Descartes’ Experimentalanordnung sein eigenes Sehen, wie es sein eigenes Denken zu beobachten vermag.

Abb. 1: Links: Die ‚natürliche‘ Wahrnehmung auf der Netzhaut. Rechts: Die ‚mathematische Wahrnehmung der Zentralperspektive.

Bereits Erwin Panofsky hat auf die Künstlichkeit und Medialität dieses Entwurfs eines Beobachters in der Setzung einer zentralen Perspektive hin-

24 In Braunschweig, wo Leibniz schreibt, wurde bereits im Jahr 1690 ein neues Opernhaus nach dem Konzept der neuen zentralperspektivischen Guckkastenbühne gebaut, in dem zudem Bühnenkulissen mit Hilfe der Camera Obscura projiziert wurden. Vgl. hierzu Siegert 2003, S.161. 25 Ebd. 26 Vgl. Descartes 1954, S. 90. 27 Vgl. Crary 1991. Bernard Siegert erkennt im Ochsenauge des „zyklopischen“ Versuchsaufbaus nicht weniger als den ausdehnungslosen Punkt der res cogitans der Descartschen Philosophie. Siegert 2003, S. 163.

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gewiesen. Panofsky beschreibt die Perspektive als „symbolische Form“, die von mathematischen und künstlerischen Mitteln hergestellt würde und nichts mit einer im starken Sinne „menschlichen“ Perspektive des „Netzhautbildes“ zu tun hätte.28

Abb. 2: Das geflieste Raster der Zentralperspektive.

Die Zentralperspektive sei eine „kühne Abstraktion von der Wirklichkeit“, wobei Wirklichkeit bei ihm einen physiologischen, subjektiven Seheindruck meint.29 Panofsky setzt eine ‚Wirklichkeit‘ der Nerven gegen die Perspektive der Mathematik und beschreibt einen – im visuellen wie abstrakten Sinne – ‚Wissensraum‘, der zentralperspektivische Abbildungen und Bauten umgibt. Als eines der berühmtesten Bespiele für die Zentralperspekti-

28 Panofsky 1974, S. 103. 29 Panofsky übersieht hierbei die epistemische Grundlage seiner eigenen Beobachtungsposition: Die Physiologie, die hier Aussagen über eine ‚wirkliche‘ Perspektive zu treffen erlaubt, ist offensichtlich selbst wiederum Teil einer Wissensformation, die, wenn es um Fragen der Wahrnehmung geht, im 20. Jahrhundert eben mit Nerven argumentiert.

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vierung des Blicks nennt er hierbei die „Fliesenböden“,30 in die Filippo Brunelleschi, erstmalig im Jahr 1421 in der Basilica di San Lorenzo di Firenze seine neuartige Konzeption der Linearperspektive in Architektur einschrieb. Betrachtet man den karierten Fliesenboden, so fällt auf, dass er schlicht die linearperspektivischen Rasterungen der Skizzen, die ihm zu Grunde liegen, in Innenausstattung übersetzt. Die Fliesenböden erscheinen als ein InsBild-Treten des „schachbrettmäßigen Grundquadrats“31 der Zentralperspektive: Die medientechnischen und mathematischen Bedingungen drängen sich ins Bild ihrer Darstellung und werden als Möglichkeitsbedingungen des zentralperspektivischen Sehens selbst sichtbar. Panofsky bezeichnet den hier vorgestellten historischen und medientechnischen Zusammenhang als Überwindung des mittelalterlichen Darstel-

Abb. 3: Das zentralperspektivische Raster des Fliesenbodens.

30 Panofsky 1974, S. 117ff. 31 Panofsky 1974, S. 117.

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lungsprinzips und erklärt: „Was vielleicht noch wichtiger [an der Zentralperspektive] ist ist [sic!], dass die Distanzen und die Maße der auf dem Raster angeordneten Figuren und Körper innerhalb des ihnen vorgängigen Raums sich nun ablesen lassen.“32 Objekte auf dem „Schachbrett“33 der Linearperspektive verhalten sich eben wie Figuren auf einem Schachbrett: Ihre Position, ihre Distanzen und Maße sind von einem Raster bestimmt, das sie einsetzt und das den Objekten vorausgeht. Zugleich wird von der Zentralperspektive ein ebenso zentraler wie imaginärer Punkt außerhalb des Bildes gesetzt, der eine Position bezeichnet, an die das Subjekt der Beobachtung gesetzt wird. Die Beziehung zwischen beiden ist relational und unauflösbar innerhalb des von ihr vorgegebenen Raums.34 Die Zentralperspektive erscheint als Möglichkeitsbedingung einer historisch bestimmten Darstellungslogik, die Objekte und Subjekte auf gänzlich neue Art verortet und sie innerhalb eines modernen „Systemraums“35 vorstellbar werden lässt. Am Grunde ihrer Implementierung stehen Techniken: operationale Medienverbünde aus Camera Obscura, Bildrastern, Papieren, Stiften und Händen.36

3. U NMÖGLICHE P ERSPEKTIVEN Terminator 2: Judgment Day stellt uns ein halbes Jahrtausend später einen gänzlich anderen Fliesenboden vor Augen und lässt uns fragen, was dieser über die Technologien seiner Her- und Darstellung und über die auf ihm verteilten Objekte und Subjekte mitteilt. Er zeigt uns den dynamisierten Blick der Computer Graphic Imagery (CGI), nicht der Camera Obscura

32 Ebd. 33 Panofsky 1974, S. 159. 34 Panofsky zieht die Verbindung zwischen Zentralperspektive und Cartesischem Cogito oder Kantschem Subjekt im Rahmen einer umfassenden „Objektivierung des Subjektiven“. Panofsky 1974, S. 123. 35 Panofsky 1974, S. 117. 36 Laut dem japanischen Kunsthistoriker Shigeru Tsuji hat Filippo Brunelleschi die Camera Obscura als Projektionsapparat zum zentralperspektivischen Zeichnen verwendet. Tsuji 1990, S. 276.

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Abb. 4: Unsere eigene Frage als Gestalt eines Fliesenbodens: Das dynamische Raster des digitalen Films simuliert Zentralperspektiven, an die er sich nicht zu halten hat, entortet ihre Objekte und ent- und ersetzt ihre Subjekte.

oder des Films, zumindest nicht, bevor er in der wohl größten filmtechnischen Revolution seit Erfindung des Tonfilms zum digitalen Film wird. Nach wie vor gilt, dass optische Medien zentralperspektivisch aufnehmen und wiedergeben. Die Szene öffnet entsprechend auf ein lehrbuchhaft linearperspektivisches Bild. Dieses ohnehin bewegte Filmbild wird mit Hilfe der für Terminator 2 entwickelten CGI37 zweifach verzeitlicht und dynami-

37 Eine ausführliche Beschreibung der für Terminator 2 entwickelten CGI wird von George Lucas und den Programmierern und Ingenieuren von ILM in dem Fernsehfilm Industrial Light & Magic: Creating the Impossible (Leslie Iwerks, 2010) gegeben.

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siert.38 Zeichnet man einen schwarz-weißen Boden auf Zelluloid auf und lässt den Film als die Rolle ablaufen, die seit 100 Jahren als Kunst der Bewegung gefeiert wird, so sieht man einen unbewegten schwarz-weißen Boden. Der „Fliesenboden“ oder das „Schachbrettmuster“,39 dessen Geschichte Panofsky von Byzanz bis nach Florenz verfolgt, steht hier allerdings nicht mehr als Grundlegung statischen, zentralperspektivischen Denkens und Schauens, sondern ruft im Verweis auf die Geschichte der Kunst ebenso das Raster seiner 3D-Programme auf. Motivisch wird der fugenlose Fliesenboden zu einer Differenzfolge aus schwarz und weiß, 0 und 1, Strom und Nicht-Strom, aus der nun die erste komplett digitale ‚menschliche‘ Hauptfigur der Kinogeschichte40 ersteht, im ersten in Bild und Ton41 vollständig digitalen Spielfilm. Ein gänzlich anderes Unmenschlich-Werden und unmenschliches Werden, das im Verweis auf Luis Buñuels berühmtes zerschnittenes Auge aus Un chien andalou (1929) – und dem damit angezeigten Bruch mit alten Wahrnehmungs-

38 Es geschieht ein eigenartiges Ineinanderfalten der Dauer und Bewegung des 3D-Objekts/Subjekts mit dem des tatsächlich abgefilmten Materials. 39 Panofsky 1974, S. 121. 40 „Terminator 2 was the first movie with multiple morphing effects and simulated natural human motion and realistic movements for a major CG character. It was the first film to use ‚personal‘ computers to create its special effects. The lethal, liquid-metal, chrome T-1000 cyborg terminator was the first computer graphicgenerated main character to be used in a film. […] The liquifying-solidifying robot's humanoid texture was layered onto a CG model to create the effect.“ Tim Dirks, „Film Milestones in Visual and Special Effects“, http://www.filmsite.org/ visualeffects14.html [Zugriff am 23.9.2011]. 41 „The next step was to change to digital storage of the soundtrack. The first movie presented in multichannel digital sound was Terminator 2: Judgment Day in May 1991. The format used was called Cinema Digital Sound (CDS), developed by Kodak. Although a technological success, it failed commercially, and had mechanical problems which manifested in audio defects. Perhaps its most significant developmental flaw was the complete replacement of the optical analog track with the encoded digital data, thus relying solely on the CDS system to deliver the movie soundtrack.“ Peter Castle: „Theatre Sound“, http://unimovies. uow.edu.au/sound/sound.html [Zugriff am 23.9.2011].

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gewohnheiten – den Blick des Menschen durchbohrt und den Schauspielerkörper ersetzt. Es proklamiert die neuen technisch implementierten Möglichkeiten des Sehens in einer kalten, konzentrierten Feier des Digitalen. Der Zuschauer sieht, was er sieht: Er wohnt dem Ent-Setzen des Blicks42 und dem Ersetzen des Schauspielers durch die Digitaltechnik bei.

Abb. 5: Grundraster eines gängigen 3-D-Programms.

Nachdem aus einer Over-Shoulder-Perspektive die Position des Zuschauers mit derjenigen der digitalen Filmgestalt assoziiert wird, wirft der Zuschauer aus einer seit Leon Battista Alberti, Brunelleschi und der Camera Obscura in zahllosen bewegten und unbewegten Bildern etablierten Perspektive einen Blick auf den Schauspielerkörper. Der Schauspieler wird hierbei durch ein heißes Getränk, das er vorsichtig hält und trinken will sowie durch das Jucken der Nase und die Lust auf Bier mit den Anzeichen nichtmaschineller, menschlicher Körperreaktionen ausgezeichnet. Die Perspektive öffnet als klassisch zentralperspektivische Flucht auf den Raum und sein Raster hin, jedoch nur um im nächsten Augenblick vorzuführen, dass 3D-Programme sich nicht länger um zentralperspektivische Darstellungstreue bemühen müssen, weil sie Zentralperspektiven ebenso mühelos simulieren wie ein Verziehen des gesamten Raums mitsamt seiner Fluchtpunkte und Objekte. Bewegte 3D-Objekte werden in bewegte Bilder integriert und verhalten sich komplett unabhängig vom linearen Bildraster und seinen

42 Der Begriff des Ent-Setzens des Beobachter ist in seiner Doppelbedeutung von Manuel Köppen entlehnt. Vgl. Köppen 2005.

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Vorgaben. Das Objekt ist nicht mehr an das Raster der Zentralperspektive gebunden, sondern an ein Raster, das alle Perspektiven simuliert und sich zudem von der dargestellten Materialität endgültig verabschiedet hat. Bereits 1859 hatte der Photograph Oliver Wendell Holmes in Anbetracht der Kameratechnik jubiliert: „Die Form ist in Zukunft von der Materie getrennt. Man gebe uns ein paar Negative eines sehenswerten Gegenstands, aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen – mehr brauchen wir nicht. Man reiße dann das Objekt ab oder zünde es an, wenn man will.“43 Einer Überlegung Friedrich Kittlers folgend, träumt Wendell Holmes von einer Möglichkeit, Daten ohne jede Materie zu speichern, zu verarbeiten und zu übertragen, mit anderen Worten, von reiner Information, die den materiellen Referenten nach der Aufnahme unnötig macht.44 Hier wird die Entkopplung dessen, was Wendell „Form“ und „Materie“ nennt, radikalisiert: Es bedarf keiner aufzunehmenden „Materie“, denn das Objekt wird nicht photographiert, also abgebildet (es gibt kein ursprüngliches und kann damit kein Ab-bild geben), es wird simuliert. Der digitale Film führt die Überflüssigkeit materieller Referenz als seine eigene, technische Möglichkeit vor. Anders gesagt: Er führt die Anwesenheit einer Abwesenheit materieller Referenz vor Augen. Und dennoch, so ließe sich einwenden, sitzt der Zuschauer einem Oberflächeneffekt auf, denn die Aufnahme funktioniert selbstverständlich immer noch innerhalb eines zentralperspektivischen Raums. Allerdings verweist dieser Oberflächeneffekt auf eine sehr reale Veränderung der Raumkonzeption durch die Möglichkeiten der Digitaltechnik: Computer prozessieren nicht im Euklidischen Raum der Darstellung. Die 3D-Programme sind Auswüchse einer Hardware, die nicht länger an die Darstellungsbedingungen einer Geometrie zweidimensionaler euklidischer Ebenen oder dreidimensionaler Euklidischer Körper oder Räume mitsamt der ihnen entsprechenden Kongruenzabbildungen gebunden sind. Es sind Programme, die auch andere Geometrien und Perspektiven erzeugen und als dynamisiertes Bewegtbild veranschaulichen können – Programme, in denen Mannigfaltigkeit darstellbar wird, verstanden als Qualität eines hier ins Bewegtbild geholten mathematischen, genauer gesagt: topologischen Raums, der dem euklidischen Raum gleicht, diesem jedoch nicht entsprechen muss. Dieser nicht-euklidische Raum ist mit den Möglichkei-

43 Zit. n. Kittler 2002, S. 39. 44 Vgl. ebd.

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ten der Computertechnologie nicht nur berechenbar und symbolisch darstellbar,45 sondern zeitigt Effekte im Imaginären des Bildes. Das statische 2D-Raster der Zentralperspektive wird zum dynamisierten Raster von 3DProgrammen, die beliebige, in anderen Medien unmögliche Raumvorstellungen simulieren. Das in ihm ent-ortete und bewegte Objekt hebt und senkt sich dabei in topologischer Mannigfaltigkeit – es verhält sich gänzlich unabhängig von klaren Vorgaben statischer Räume und lässt sich durch jeden beliebigen Raum bewegen. Es krümmt sich entsprechend eines gekrümmten Raums, dessen Koordinaten keine stabile Formen kennen und sich nicht um eine physikalische ‚Wirklichkeit‘ kümmern.46 Ein gänzlich

45 1854 hält Riemann in Göttingen den Vortrag „Über die Hypothesen, die der Geometrie zugrunde liegen“. Es handelt sich um eine mathematische Diskursanalyse, die die Möglichkeitsbedingungen der Euklidischen Geometrie verzeichnet: Ein Raum, dessen Maßverhältnisse dadurch bestimmt sind, dass 1. ihr „Krümmungsmass in jedem Punkte in drei Flächenrichtungen = 0 ist“, dass 2. „das Krümmungsmaß allenthalben constant ist“, und dass 3. die Länge der Linien innerhalb dieses Raums „unabhängig von Ort und Richtung“ angenommen werden. Die Euklidische Geometrie setzt als ihr ebenso Notwendiges wie Unbewusstes eine spezifische Raumkonzeption voraus, die mit der Einsicht in ihre Axiome in Frage steht und andere Räume und damit andere Geometrien vorstellbar macht. In einem anderem als dem Euklidischen Raum wäre demnach denkbar (und vielleicht auch sichtbar), dass die kürzesten Strecken zwischen unterschiedlichen Punkten nicht zwingend Geradenstücke, sondern gekrümmte Kurven sein können – und dass die Winkelsumme von Dreiecken kleiner sein kann als 180 Grad. Den notwendigen Maßstab für stetige Mannigfaltigkeiten (im Gegensatz zu quanitifizierbaren, diskreten Mannigfaltigkeiten) bestimmt Riemann im Übrigen als eine Sache des „Messens“, die ein „Mittel“ als Matrix erfordert, vor und auf dem Verhältnisse definiert werden können. Zugespitzt für die hier geführte Argumentation: Der Raum entsteht als ein historisch variables Mittel oder Medium, das sich zwischen Euklid und Riemann grundlegend verändert hat. Im digitalen Film schlagen sich solche theoretischen Raumvorstellungen schließlich über den Umweg ihrer technischen Implementierung im Imaginären des Bildes nieder. Vgl. hierzu Riemann 1990, S. 304. 46 Vgl. hierzu Bornschlegell 2007, S. 168: „Körper neu denken bedeutet, das bewegte Objekt, nicht die statische, festgefügte Form denken.“

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anderer als der Leibniz’sche Raum des Wissens informiert die Fiktionen des digitalen Films und dynamisiert das statische ‚Schachbrett‘ und die festgefügten Objekte der klassisch-perspektivischen Darstellung. Doch Terminator 2 ist nicht nur ein Kinofilm, der das filmische Betrachten zu Zeiten digitaler Medien betrachtbar werden lässt, sondern auch jener Film, der die Lichtpulse der Tonfilmrolle erstmalig komplett durch digitale Strompulse ersetzt. Nach der digitalen Ent-Setzung des menschlichen Blicks inszeniert Terminator 2 die Ersetzung der Stimme im Übergang der Soundtechnik ins Digitale als Durchbohrung des menschlichen Sprechorgans.47

Abb. 6: Zwei Maschinen unterhalten sich am Telefon in menschlichen Stimmen über verstorbene Menschen und Hunde.

Ausgestellte Gewalttätigkeit des Einbruchs einer neuen Ästhetik und Technologie: Durchbohrte Augen und unmögliche Blicke, zerschnittene Münder und tote, also unmenschliche Stimmen, zerstörte Körper und ihre digitale Simulation und Ersetzung. Die neue Digitaltechnik erzählt nicht länger Geschichten vom Menschen, sondern Geschichten von seinem Ende. Die Fiktionen und Träume einer Medientechnik, die den Menschen einsetzen, sind hier Fiktionen und Träumen gewichen, in denen der Mensch entsetzt unter-

47 Allerdings nicht ohne daran zu erinnern, dass auch die klassischen Monster der Analogtechnik des Tonfilms bereits in der Lage waren, menschliche Stimmen auf Tonband zu reproduzierbarem Sound zu degradieren. Um selbst Tote noch reden zu lassen, muss zur Entkörperlichung der Stimme im Übertragungsmedium Tele- oder Mikrofon lediglich ein Speichermedium hinzukommen.

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geht. Er wird ersetzt von Technologien, die ihn ununterscheidbar simulieren, die Menschheit schließlich infiltrieren und abschaffen. Der fast unzerstörbare Bösewicht des ersten Teils der Terminator-Reihe, dessen Gefahr für den Menschen in der Robustheit seines massiven und noch mit StopTrick-Animationen ruckelnd bewegten Stahlskeletts lag, dieses Industrialisierungsmonster aus den Zeiten, als die Techniken des Films noch eben dieser Industrialisierung entstammten, wird in Terminator 2 zur Figur der perfekten Simulation und der absoluten Verflüssigung des Materiellen in digitalen Medien. Wie die Technologie, die ihn her- und darstellt, kann dieser neue Feind des Menschen alles und vor allem jeden simulieren. Ein Monster, das die klassischen Mythen und romantischen Träume einer Ununterscheidbarkeit von Mensch und Maschine nach ihrer technischen Realisierung im Turing-Test nun im digitalen Film wiederkehren lässt – und noch um die Sphäre der Dinge und Objekte erweitert. So muss schließlich gefragt werden, was der erste in Ton und Sound komplett im PC48 überarbeitete Kino-Film über die eigenen digitalen Möglichkeitsbedingungen zu berichten weiß – womit wiederum über den Computer und schließlich über die Atombombe zu reden sein wird.

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Atombombenexplosionen können (und konnten) aus der Distanz gefilmt und betrachtet werden, ihr Lichtblitz aus der Nähe nicht. Terminator 2 führt uns eine mögliche Atomexplosion vor, die so erst im digitalen Film herund darstellbar wird.49 Rechenzeiten weit unterhalb jeder menschlichen Wahrnehmungsschwelle heben einen Lichtblitz, der jedes Kamera- oder Menschenauge verbrennen würde, in 25 Filmbildern unterhalb jeder menschlichen Wahrnehmungsschwelle über die selbige und künden also

48 Tatsächlich war Terminator 2 ebenfalls der erste Film, der in einem Rechnerpark aus handelsüblichen PCs entstand. Nacherzählt und veranschaulicht in der bereits erwähnten TV-Produktion Industrial Light & Magic: Creating the Impossible. 49 Die Szene wurde mit explodierenden Miniaturen und Puppen nachgebaut und dann digital überarbeitet. Die nicht nachbearbeiteten Bilder sind ebenfalls in Creating the Impossible zu sehen; die Differenz spricht hier für sich.

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von Möglichkeiten, die nicht länger im menschlichen Ermessen liegen:50 Wir befinden uns am Ende der obigen Szene im Zentrum einer atomaren Explosion und in der Position unmöglicher Zeugenschaft. Wie laut den zuvor zitierten Beschreibungen der Photographie dem entwirklichten Objekt durch Medientechniken Gewalt angetan wird – Brennen wir es nieder! –, so widerfährt hier dem Darstellungsobjekt Mensch eine ihn oder sie grundsätzlich bedrohende und entmaterialisierende Gewalt. Erneut in den Worten Friedrich Kittlers: „[R]eine Information“ wird zum Korrelat „reine[r] Destruktion.“51 Sarah Connor fliegt in Fetzen und mit ihr die Menschheit. Da ist allerdings nicht ganz richtig, denn Sarah Connor träumt, dass sie in Fetzen fliegt. Der Atomkrieg ist ein im Computer mögliches und darstellbares Ereignis, dass in der narrativen Form des visionären Traums verhandelt wird. Er ist darüber hinaus ein mögliches Ereignis, das über den gesamten Film hinweg niemals eintritt, aber die gesamte Handlung des Films antreibt. Sarah Connor versucht einen Atomkrieg zu verhindern, der die Grundlage der gesamten Geschichte und Narration ist, die der Film zeigt. Die Handlung des Films findet in der Zwischenzeit eines stets möglichen, in der Zukunft immer schon notwendig wirklich gewesenen,52 aber im Verlauf des Films niemals vergegenwärtigten Ereignisses statt. Anders als bei Leibniz geht es hier nicht um eine Vielzahl voneinander unabhängiger Welten, deren beste und damit als Zukunft feststehende den größten geordneten

50 67 Milliardstel Sekunden dauert das Ereignis einer Atomexplosion. Ihre für menschliche Augen radikale Nicht-Wahrnehmbarkeit wird als mögliches Ereignis in technischen Medien simuliert, die ebenfalls unterhalb menschlicher Wahrnehmungsschwellen operieren. Medien sind Technologien des menschlich Unsichtbaren, die dennoch gerade darauf abzielen, dieses Unsichtbare über die von ihnen unterlaufenen Wahrnehmungsschwellen und damit in die menschliche Wahrnehmung zu holen. Jules Mareys Chronophotographie von Pferdebeinen wäre ein frühes Beispiel für diese grundsätzliche Operation der Medien, die man mit Walter Benjamin als ‚Optisch Unbewusstes‘ bezeichnen könnte. 51 Kittler 2002, S. 39. 52 Ohne den postapokalyptischen Kampf zwischen Menschen und Maschinen wäre zunächst nie irgendjemand oder irgendetwas zur Veränderung der Zukunft in die Vergangenheit zurückgeschickt worden.

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Abb. 7: She saw it coming: Sarah Connors prophetischer Traum eines möglichen Atomkriegs.

Zusammenhang aufweist. In Terminator findet alles innerhalb der Möglichkeiten und Wirklichkeiten einer Welt statt, wobei Partikel einer vergangenen Wirklichkeit plötzlich in neuen Zusammenhängen den Raum der möglichen Zukunft verändern. Jede Intervention ist Teil einer Politik des Möglichen, die auf das Wirkliche zurückwirkt; jede Handlung entwirft eine neue Zukunft und damit Gegenwart und Vergangenheit. In den visionären Worten des Vaters von John Connor im Traum seiner Mutter heißt das: „Remember your sentence, Sarah: The future is not set.“ Anders als bei Leibniz, bei dem das Schicksal der jeweiligen Welten präzise und unveränderlich bestimmt ist, erzählen die Fiktionen der digitalen Filmtechnik von einem rückgekoppelten System, in dem Berechnungen der Jetzt-Zeit im Entwurf auf eine Zukunft Handlungen motivieren, die wiederum Modulationen zukünftiger Ereignisse bewirken. Jene künftigen Ereignisse wirken wieder auf die Strategien und Kalkulationen der Jetzt-

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Zeit und sogar auf die Wirklichkeit der Vergangenheit zurück und lassen das ganze System mit all seinen wirklichen Möglichkeiten und möglichen Wirklichkeiten in sich schwingen. Die Linearität der Zeit wird dabei als Serie kleinster diskreter Ereignisse vorgestellt, die ununterbrochen Differenzen setzen und auf sich zurückgebogen ein geschlossenes System zirkulierender Zeitlichkeit installieren. Aufgehoben ist diese zirkulierende Zeitlogik in der Empfängnis John Connors und eines Mikrochips, in deren Funktion und dessen Funktionieren die Virtualität des zukünftigen Ereignisses motivisch verkörpert wird: J.C., der Mann mit den sprechenden Initialen, der Erlöser John Connor, dessen unmögliche Geburt die Geschichte ermöglicht, hat im ersten Teil einen Zeitreisenden zu seiner Mutter geschickt, der durch diesen Sprung in die Vergangenheit sein Vater werden wird – eine wahrlich wunderliche Empfängnis und Schöpfung aus dem Nichts. Sein motivisches Gegenstück ist der Mikrochip, der am Ende des zweiten Teils erst die technischen Möglichkeitsbedingungen des Computersystems schafft, für dessen Verhinderung er zuvor stand, war er doch in der Schrottpresse zurückgeblieben, mit der Sarah Connor das schwerfällige und eben doch nur fast unzerstörbare Industrialisierungsmonster des ersten Teils schließlich doch zerstörte. Eine paranoide Formel, die eine als paranoid weggesperrte Sarah Connor sich fragen lässt: War all das, was zuvor passiert ist, Teil einer Kalkulation, die in der Vortäuschung göttlicher Empfängnis und in der Narration christlicher Religionen die Bedingungen der Geschichte und der Apokalypse erst erschaffen hat? Und wenn der Computer, der mir die Kampfmaschinen aus der Zukunft schickt, auf der technischen Grundlage eines Terminator-Mikrochips gebaut wird, der bei meinem Kampf gegen die künftige Herrschaft eben dieses Supercomputers verschont geblieben ist, war dann alles Teil einer noch umfassenderen Kalkulation und Politik einer Zukunft, die erst durch meinen Widerstand möglich wurde? So stellt sich die Frage, ob hier J.C. oder der Mikrochip aus Nichts etwas schaffen, ob ein Wunder oder die Differenz zwischen 0 und 1 empfangen wird, ob Gott das Schicksal oder Technik die Zukunft des Menschen bestimmt. Mit anderen Worten ließe sich fragen, welcher große Andere den Raum der Möglichkeiten bestimmt. Die Antwort darauf gibt im dritten Teil zunächst der schließlich realisierte Atomkrieg, bevor die Erlösungsphantasien des vierten sich in einer apokalyptischen Endzeit doch wieder für den Christengott entscheiden. Die Berechnung und Beherrschung der Möglichkeiten der Zukunft verlangen

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anscheinend das Anwesen eines Gottessohns oder die Kalkulationen von Computern.53 Es geht nicht länger um Entscheidungen, zwischen denen Welten liegen. Die infinitesimalen möglichen Ereignisse der Leibnizschen Pyramide laufen in Serie geschaltet, auf sich zurückgebogen, im Kreis. Stellt Leibniz’ Text die sich realisierende Möglichkeit in einer feststehenden, schließlich eintretenden Zukunft vor, so wird in Terminator die Möglichkeit der Zukunft, der Vergangenheit und der Gegenwart innerhalb eines rückgekoppelten, zirkulären Systems in jedem Ereignis neu entschieden. Die Möglichkeiten der Wirklichkeit werden nicht in ebenso viele Welten, sondern in nur eine, in sich geschlossene, zirkulierende Welt verpackt, in der die Sphären des Wirklichen und des Möglichen ununterbrochen ineinander fallen und einen untrennbaren Zusammenhang erzeugen. Eine klare, lineare Zeitlichkeit wird suspendiert (das mögliche Ereignis ist nicht notwendig ein zukünftiges, sondern ein zugleich immer schon vergangenes und niemals gegenwärtiges), seine Möglichkeitsbedingungen finden auf einer Ebene mit seiner Wirklichkeit statt. Kein Zeitpfeil und keine Kausalität verweisen mehr auf die ‚Verwirklichung‘ eines zuvor Möglichen. Der Ent-Ortung seines digitalen Objekts (wir sehen eine Explosion, die niemals abzufilmen war) entspricht die Ent-Zeitlichung des dargestellten Ereignisses (wir betrachten einen zugleich zukünftigen und vergangenen, möglichen und wirklich gewesenen Atomkrieg). Every day is Judgment Day. Entgegen dem Leibnizschen Versuch der hierarchisierenden Einhegung eines unkontrollierten Wucherns der Möglichkeiten regiert dabei eine Logik der Regulation. Wirklichkeit und Möglichkeit werden innerhalb einer Welt ständig ineinander verrechnet und oszillieren in jedem kleinsten Ereignis, wodurch aus anfänglich fragwürdigen Plotanschlüssen ein geschlossenes, rückgekoppeltes System entsteht, das schließlich göttliche Weisheit oder teuflische Berechnung als hochkomplexe Kalkulation auswirft. Ziel der regulativen Eingriffe des menschenfeindlichen Super-Computers ist entsprechend die finale Reduktion der unendlichen Möglichkeiten des Systems auf eine letzte, tödliche. Die innerhalb dieses Systems aufgehobene Geschichte lässt dabei wissen, dass der Mensch 1. im Zusammenspiel von

53 Zum Begriff des „Großen Anderen“ vgl. Lacan 1987. Zu psychoanalytischer Begrifflichkeit und Theorie als „lichtscheues Kind der kybernetischen Wissenschaft“, die den Anstoß für die hiesige Argumentation lieferte, vgl. Bitsch 2001.

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Computer und Atombombe ausgelöscht wird und, 2. die Berechnung möglicher Ereignisse inzwischen eine Sache von Computern und ihrer Simulationsmodelle ist, die 3. als rückgekoppelte Systeme ablaufen.

5. D IE M ÖGLICHKEITEN DER B OMBE UND DIE S IMULATION DER W IRKLICHKEIT Tatsächlich kreuzt sich die Geschichte einer Kernwaffe, die (außerhalb von Tests) nie eingesetzt wurde, aber ihre zerstörerischen Möglichkeiten endgültig auf apokalyptische Dimensionen aufblies, mit der Erfindung des Computers. Wolfgang Hagen argumentiert in seinen Überlegungen zur „Camouflage der Kybernetik“ und zur „Entstehung des Computers aus dem Kalkül der Bombe“,54 dass ein gemeinsames historisches Ereignis die Möglichkeitsbedingungen für die inzwischen als PC bekannte Von-NeumannArchitektur und die Wasserstoffbombe schuf. Zwei voneinander unabhängige Forschungsfelder fielen in der Vermittlung durch den Mathematiker John von Neumann ineinander: die Atombombenforschung und die zur Luftabwehr benötigte Rechenplanung.55 Neumann glaubte als Mathematiker des Manhattan-Projects festgestellt zu haben, dass die erforderlichen Rechenleistungen für die neue Bombe wohl nur mit den ersten rein elektronischen Rechenmaschinen zur Berechnung von Geschütz-Richttabellen zu leisten seien, die John Presper Eckert und John Mauchly bereits 1942 in ihrem Paper The Use of High Speed Vacuum Tube Devices for Calculations skizziert hatten. Das Problem, das Eckert und Mauchly zunächst lösen mussten, bestand darin, dass eine Flak immer in die Zukunft schießt, die Berechnungen möglicher Flugbahnen oder Zukünfte des abzuschießenden Gegners daher in Feedback-Schleifen ablaufen, die von Flakhelfern vor allem Rechengeschwindigkeit verlangen. Eckert und Mauchly planten eine Maschine, die Geschwindigkeit und Flugbahn eines Projektils zur Grundlage der Berechnung seiner künftigen Position machen sollte, um dann zu überprüfen, wo das Projektil kurz darauf tatsächlich war und die mögliche Fehlerdifferenz wieder einzuspeisen. Schritt für Schritt näherten sie sich so rückgekoppelt und diskret einer anti-

54 Hagen 2000; Hagen 2002. 55 Vgl. Hagen 2002, o.P.

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zipierten, möglichen Wirklichkeit. Es galt also, ein rückgekoppeltes System prozessieren zu lassen, das aus den unendlichen Möglichkeiten einer nie feststehenden Zukunft (das visierte Flugzeug könnte nach links oder rechts fliegen, sinken oder steigen) die Möglichkeiten der Wirklichkeit bis auf eine letzte, entscheidende hin reduzierte. Diskursfiguren, so scheint es, verlaufen quer durch Geschichte und Geschichten ihrer Medien. Aus der Übertragung von Mauchlys und Eckerts Paper über rückgekoppelte Simulationsmodelle und den in ihm vorgeschlagenen High Speed Vacuum Tubes auf Probleme der Kernfusion resultierte historisch sowohl die Möglichkeit der Konstruktion einer Wasserstoffbombe, die die 830fache Zerstörungskraft der tatsächlich eingesetzten Atombomben des Zweiten Weltkriegs haben sollte, als auch der Entwurf des EDVAC, des ersten Computers, der auf der Basis einfacher FlipFlop-Schaltungen mittels normaler Radioröhren lief. John von Neumanns „First draft of a Report on the EDVAC“, den er kurze Zeit später veröffentlichte beschrieb schließlich den Architekturgrundriss der PCs, in denen globale Atomkriege, die damals möglich wurden, rund 50 Jahre später im digitalen Film darstellbar geworden sind. Und es waren eben diese Computerarchitekturen (aber das wäre ein Text, der mit dem Film War Games von John Badham beginnen sollte), die fortan das nun mögliche Ereignis Atomkrieg in ihren Simulationen des Wirklichen prozessieren ließen:56 Die Politik des Möglichen ist zu Zeiten digitaler Technik, wie Terminator 2 so beeindruckend veranschaulicht, eine

56 Um kurz aktuell zu werden: In den letzten Jahren veröffentlichte Berechnungen versuchen die Auswirkungen nuklearer Katastrophen mit dem anderen großen (und inzwischen ähnlich apokalyptisch aufgeladenen) Anwendungsfeld digitaler Simulationen zu verknüpfen: Owen Toon von der University of Colorado hat unter dem Titel „Atmospheric effects and societal consequences of regional scale nuclear conflicts and acts of individual nuclear terrorism” bereits 2006 die möglichen globalklimatischen Folgen eines regionalen Atomkonflikts zwischen Israel und dem Iran (oder eines nuklearen terroristischen Anschlags) ‚vorhergesagt‘. Vgl. Toon u.a. 2006. Entsprechend ist der zum derzeitigen Zeitpunkt schnellste ‚Supercomputer‘ mit dem unfallgewöhnten Namen ‚Roadrunner‘ jüngst von IBM und den Los Alamos National Labs eben zur Berechnung von Atombombenexplosionen und Klimamodellen entwickelt worden.

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Politik des Feedbacks, der grundsätzlichen Logik des Computers als kybernetischem System selbst.57 Terminator 2 verweist auf den Computer und die Atombombe und damit auf die großen Fiktionen vom Ende des Menschen im 20. Jahrhundert. Er führt seine eigenen epistemischen und medientechnischen Gründe als neue Digitaltechnik vor, an deren Abgrund eben der Computer und die Atombombe liegen. Die Geschichte der Digitaltechnologie, die den Film produziert und die uns das Bild eines Atomkriegs zeigen kann, der niemals stattgefunden hat und niemals abzufilmen war, erzählt dabei von den Simulationen möglicher Ereignisse und Zukünfte in seriell und diskret operierenden, rückgekoppelten Systemen. Die Militärgeschichte solcher Systeme ist als Fiktion in eine Unterhaltungselektronik eingegangen, die Kriegsgeschichten von solchen Systemen erzählt. Der Atomkrieg ist ein mögliches Ereignis und Medienereignis par excellence. Die Möglichkeiten seiner Herund Darstellung sind ohne die digitalen Medien, in denen sie stattfinden, undenkbar. Er blieb ein mögliches Ereignis, das immer nur und immer wieder innerhalb der Möglichkeiten der Medientechnik stattfand – in digitalen Simulationen, die ihn unzählige Male durchspielten und eine grundsätzliche Politik des Möglichen technisch implementierten, ebenso wie in digitalen Fiktionen, in denen er darstellbar wurde, ohne je abbildbar gewesen zu sein. Er erreichte niemals die Hitze atomarer Explosionen und blieb ein sogenannter Kalter Krieg, dessen virtuelle Kalkulationen dennoch nachhaltige Effekte im 20. Jahrhundert zeitigten.

57 Eine Logik, die sich nicht nur für den sogenannt „Kalten Krieg“ nachweisen lässt: QRT hat in einer treffenden Analyse die widersinnige These Baudrillards, dass es keinen Irakkrieg gegeben hätte, dahingehend korrigiert, dass es sich um die Aktualisierung eines zuvor virtuell in den Medien des Kriegs durchgespielten Kriegs handele. Entgegen den Behauptungen Baudrillards wäre somit nicht eine Simulation der Politik zu erkennen, aber eine Politik der Simulation als avancierte Regierungstechnik unter hochtechnischen Bedingungen. QRT 1999, S. 93.

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F ILME Industrial Light & Magic: Creating the Impossible (USA 2010, R: Leslie Iwerks). Terminator 2: Judgement Day (USA 1991, R: James Cameron).

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ABBILDUNGEN Abb 1, 3: Zit. n. Panofsky 1974, S. 103 und 159. Abb 2: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Einblick_LH2_San_Lo renzo_Florenz.jpg [Zugriff am 1.10.2014]. Creative Commons. Abb 4, 6, 7: Filmstills aus Terminator 2: Judgement Day (USA 1991, R: James Cameron). Abb 5: Screenshot des Programms Houdini, Side Effects Software.

Apocalypse ... later Die fotografische Inszenierung des klimatischen tipping points U LRIKE H EINE

K URZFASSUNG Der tipping point ist ein im globalen Klimawandel-Diskurs viel verwendetes Schlagwort. Als Metapher für einen drohenden plötzlichen und weitreichenden Umbruch des Klimasystems ermöglicht der tipping point die Dramatisierung des zeitlich und lokal zerdehnten Phänomens des Klimawandels. Für die naturwissenschaftliche Erforschung des Klimawandels vage und vieldeutig, ist das Konzept, folgt man Kommunikationsforschern, in der medialen Vermittlung des Klimawandels enorm populär. Der Grund hierfür, so die These des vorliegenden Aufsatzes, ist die Anschlussfähigkeit des tipping points an das Meta-Narrativ der Apokalypse. Der Gebrauch von fotografischen Bildern bei der Ausgestaltung des tipping points als mögliche klimatische Super-Katastrophe soll die Möglichkeit seines Eintritts bekräftigen. Der vorliegende Aufsatz untersucht zwei sehr unterschiedliche Beispiele für diese Erzählung von der klimatischen Endzeit.

P ROLOG Wohnsilos in einer verschneiten Industrielandschaft. Eine Menschengruppe, die vor heftigen Regenfällen auf einem Grasstreifen Zuflucht sucht.

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Wallende Rauchschwaden aus Industrieschornsteinen. Ein über die Ufer getretenes Flussbett. Ein Arbeiter in Schutzkleidung und Gasmaske auf einer düsteren Mülldeponie. Verendete Kühe auf einer Weide unter strahlendblauem Himmel. Eine abgeholzte Waldfläche. Der zerkratzte Schriftzug „Emergency“ auf einer Heckscheibe mit Blick auf eine staubige Landstraße. „Climate change will not announce itself as an apocalyptic event.“ Eine grobkörnige filmische Aufsicht auf eine Flusslandschaft, die sich unter tiefhängenden Gewitterwolken in ein dichtbewaldetes Tal erstreckt. „Climate change is a silent war that has already begun.“ Die erhabene Aufsicht weicht dem Blick aus Augenhöhe und nächster Nähe auf den schlammigen Fluss im Tal. Eine handgezeichnete animierte Graphik greift das Fließen des Flusses auf. Sie zeigt die globale Erwärmung als die Kopplung des exponentiellen Anstiegs der mittleren globalen Temperatur mit dem Kohlenstoffgehalt in der Atmosphäre. „What is the impact of climate change?“ Es folgt ein Katalog inskribierter1 Fotografien: „Floods generated by dramatic rainfalls“ – „Water and food shortage in vulnerable areas.“ – „Changes in the mating and migration times of birds.“ – „The retreat of glaciers and sea-ice.“ – „An increase in coral bleaching due to rising water temperatures.“ „The temperature changes of the last 40 years predict an uncontrollable future in 2050.“ Eine Infographik weist die Erwärmung um 2 Grad als kritische Schwelle zum „dangerous climate change“ aus. In einem schnellen, aggressiven Zusammenschnitt werden urbanes Leben, Verkehr, Konsum und industrielles Wachstum als Ursachen vor Augen geführt. „Emergency“, rosa, vinyl scratch, blutrot. „Start“. Grün. „Stop“. Rot. „Without a reduction of our current CO2 emissions, we’ll reach a point of no return.“ Die Welt nach diesem Punkt ist geprägt von dramatischen Veränderungen der physischen Umwelt und von desaströsen Lebensbedingungen für einen Großteil der Menschheit. Am Ende sinkt Prometheus inmitten einer Wüstenlandschaft auf die Knie, um sich seiner Vernichtung zu beugen.

1

Textfragmente (einzelne Wörter, Wortgruppen oder Sätze) sind hier in die Fotografien „eingelassen“, d.h. sie sind fester Bestandteil derselben. Entgegen des metaphorischen Gebrauchs des Wortes „Inskription“ durch postmoderne Theoretiker ist der Begriff hier pragmatisch gedacht und abgeleitet von der lateinischen Wurzel „inscriptio“ (dt.: Beschriftung, Inschrift).

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Diese knapp zweiminütige Eingangssequenz des multimedialen Essays Climate Change. One Planet, One Chance,2 der aus 200 Fotografien, Schautafeln und Zwischentiteln zusammengesetzt und filmisch animiert wurde, illustriert ein zentrales Konzept der medialen Vermittlung des Klimawandels – den tipping point (dt.: Kipppunkt).3 Mit diesem Begriff wird der Übergang von einem graduellen zu einem „gefährlichen Klimawandel“ beschrieben: Nach dem Erreichen einer kritischen Schwelle wird eine Kette von Prozessen ausgelöst, die zu tiefgreifenden Veränderungen im komplexen globalen Klimasystem führen können.4 Die von den Bildredakteuren des Essays gewählte Inszenierung führt eindrucksvoll vor Augen, warum das Konzept so enorm erfolgreich ist. Anhand des Kipppunktes lässt sich der Klimawandel als Krise erzählen. In einem Spannungsfeld aus wissenschaftlicher Simulation, Bildern einer Katastrophenberichterstattung und dystopischer Fiktionalisierung wird die durch den Klimawandel bedingte Auslöschung der menschlichen Existenz dar- und vorstellbar gemacht.

T IPPING POINT , T URNING P OINT , P OINT OF NO RETURN Zu einem Begriff in aller Munde wurde der tipping point durch den USamerikanischen Publizisten Malcolm Gladwell, der im Jahr 2000 das populärwissenschaftliche Buch The Tipping point. How Little Things Can Make

2

Vgl. Magnum in Motion, Climate Change. One Planet, One Chance, http://in motion.magnumphotos.com/essay/one-planet-one-chance [Zugriff am 13.5. 2013].

3

Ein Anliegen des Aufsatzes ist es, den tipping point als wesentliches Konzept der transnationalen Klimawandel-Debatte zu diskutieren. Im Folgenden wird deshalb der englische Begriff benutzt.

4

Das Konzept des „gefährlichen Klimawandels“ (engl.: dangerous climate change), welches sich wesentlich auf Vorstellungen von Irreversibilität und Plötzlichkeit stützt, wurde vom Intergovernmental Panel on Climate Change in dessen Zweiten Sachstandsbericht von 1995 lanciert. Vgl. Intergovernmental Panel on Climate Change 1995.

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a Big Difference veröffentlichte.5 Basierend auf soziologischen Studien der 1970er und 1980er Jahre6 beschreibt Gladwell in seinem Buch die Entstehung gesellschaftlicher Trends. Dabei definiert er den tipping point als Punkt, an dem sich die Virulenz eines Trends verdeutlicht und der daher als „the moment of critical mass, the threshold, the boiling point“7 beschrieben werden kann. Nur kurze Zeit nach Veröffentlichung von Gladwells Buch entwickelte sich der tipping point auch innerhalb der öffentlichen Debatte um den Klimawandel zu einem neuralgischen Begriff. In einer breit angelegten Studie8 identifizieren die Kommunikationswissenschaftler Chris Russill und Zoe Nyssa den dominanten Gebrauch des Begriffs im Zusammenhang mit dem Klimawandel in den britischen Medien ab 2002 und in den US-amerikanischen Medien ab 2003. Als ein Resultat ihrer Analyse formulieren Russill und Nyssa die These, dass die umfangreiche wissenschaftliche Beschäftigung mit dem klimatischen tipping point dem Trend des Konzepts innerhalb der Medienberichterstattung nachgängig war.9 Dennoch waren, folgt man der Argumentation der beiden Autoren, zwei Wissenschaftler wesentliche Motoren für die Etablierung des tipping points als Schlagwort in der öffentlichen Diskussion des Klimawandels.10 So prophezeite der USamerikanische Klimatologe James Hansen in einer Rede vor der amerikanischen geophysikalischen Union im Dezember 2005, dass sich die Menschheit vor dem unmittelbaren Erreichen eines „climate system tipping point beyond which there is no redemption“ befinde.11 Joachim Schellnhuber, der Leiter des deutschen Klimafolgenforschungszentrums in Potsdam (PIK),

5

Gladwell 2002.

6

Gladwell nennt als Quellen soziologische Grundlagenwerke, u.a. Schelling 1971 und Granovetter 1978. Siehe dazu auch Gladwell 2002, „Endnotes“, S. 282.

7

Ebd., S. 12.

8

Der Studie liegt eine quantitative Stichwortsuche in Artikeln der Presseberichterstattung, in wissenschaftlichen Aufsätzen und politischen Papieren zugrunde. Vgl. Russill/ Nyssa 2009, S. 336-344.

9

Als Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Diskussion klimatischer Kippelemente identifizieren die Autoren ein Paper von Lindsay und Zhang (Lindsay/Zhang 2005, S. 4879-4894). Vgl. Russill/Nyssa 2009, S. 340.

10 Vgl. Russill/ Nyssa 2009, S. 340. 11 Hansen 2005, S. 8.

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diskutierte mögliche klimatische Kipppunkte bereits in Vorträgen ab 200012 und ließ diesen eine substantielle Erforschung des Phänomens ab 2005 im Rahmen des Projekts TUMBLE am Institut für Klimafolgenforschung folgen. In diesem Projekt wird, wie es sich mittlerweile in der Klimaforschung durchgesetzt hat, statt eines singulären Ereignisses eine Anzahl möglicher klimatischer Kipppunkte und -elemente angenommen und anhand komplexer Forschungsfragen betrachtet.13 Mit Blick auf die Forschungsdiskussion insgesamt bleiben die Fragen nach der zeitlichen Fixierung ebenso wie nach der (Ir)reversibilität der an diesen Schwellen ausgelösten Prozesse offen.14Für die Festlegung von klimapolitischen Zielen und Maßgaben ist die Vorstellung von klimatischen Kipppunkten maßgeblich. Prominentes Beispiel hierfür ist die Formulierung des sogenannten „2-Grad-Ziels“. Dieses Programm sieht eine – mit politischen Mitteln zu erreichende – Begrenzung der erhöhten globalen Durchschnittstemperatur auf 2°C im Vergleich zu vorindustriellen Werten vor, um das potentielle Risiko einer „gefährliche(n) anthropogenen Störung des Klimasystems“ zu verhindern.15 Diese Störung wird u.a. als „Anschalten von Kippelementen“ definiert, welche bei „Aktivierung zu ökologischen ‚Großunfällen‘“16 führen können. Innerhalb der europäischen Klimapolitik bereits seit Mitte der 1990er Jahre diskutiert,

12 Vgl. das Interview mit Joachim Schellnhuber und Timothy Lenton auf „ScienceWatch“, vgl. http://archive.sciencewatch.com/dr/nhp/2009/09julnhp/09juln hpLentET/ [Zugriff am 10.5.2013]. 13 So zum Beispiel: „Is the West Antarctic ice sheet stable under global warming?“ oder „How could Greenland Ice Sheet melting affect stability of Antarctic ice sheet and thermohaline circulation?“ O.A., „TUMBLE: The tipping question“, http://www.pik-potsdam.de/research/earth-system-analysis/projects/flagships/tu mble/index_html?set_language=en [Zugriff am 24.4.2012]. 14 Zu diesem Schluss kommt die Wissenschaftsjournalistin Gabrielle Walker, die unterschiedliche Forschungspositionen zu einem konkreten tipping point (Abschmelzen des nordatlantisches Eisschildes) mit Blick auf einen Forschungskonsens diskutiert. Vgl. Walker 2006, S. 802-805. 15 WBGU 2009. Das Risiko der „gefährlichen Störung des Klimasystems“ wurde in diesem Wortlaut bereits 1991 im Artikel 2 des „Rahmenübereinkommen(s) der Vereinten Nationen über Klimaänderungen“ formuliert. Vgl. http://unfccc. int/resource/docs/convkp/convger.pdf [Zugriff am 10.5.2013]. 16 Ebd.

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wurde das Programm als verbindliche Regulation auf dem Klimagipfel von Cancun im Jahr 2010 ratifiziert.17 Auch der klimapolitisch proaktive Gesinnungswandel der britischen Regierung ab 2005 war mit der Einführung der Schlagwörter „tipping point“ und „dangerous climate change“ (dt.: gefährlicher Klimawandel) in die politische Rhetorik in Großbritannien verbunden.18 In der Nachfolge richteten zahlreiche klimaaktivistische NGOs ihre Kampagnen an der Idee des tipping points aus: So übernahm Greenpeace International das 2-Grad-Ziel für seine Kampagnen in Europa und Nordamerika.19 Bei der Analyse des tipping-point-Trends in der Presseberichterstattung übersehen Russill und Nyssa jedoch einen wichtigen Einflussfaktor: die enorm effektvolle und viel rezipierte Fiktionalisierung der Idee des klimatischen tipping points durch den Film The Day After Tomorrow, der im Mai 2004 seine weltweite Premiere erlebte. Der Blockbuster greift die Vorstellung eines plötzlichen Zusammenbruchs des Klimasystems im Zusammenhang mit dem Stillstand der thermohalinen Zirkulation im Nordatlantik auf. Die globale Erwärmung führt zu einem Abschmelzen der Polarkappen, die eine rapide Abkühlung der mittleren Meerestemperatur nach sich zieht. Dargestellt als weltumspannende Kette von Naturkatastrophen, gipfelt diese Verschiebung im Einbruch einer kleinen Eiszeit. Als Ergebnis dreht sich die Axiologie der globalen Nord-Süd-Scheide um und die überlebenden Bewohner der Nordhalbkugel suchen Zuflucht im Süden. Mit dem Überschreiten des tipping points20 wird eine Wende eingeläutet, die Teile des Planeten unbewohnbar macht und das soziale Weltgefüge grundsätzlich verändert.

17 Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung (WBGU), zu dessen Mitgliedern auch Joachim Schellnhuber gehört, gilt als wesentlicher Initiator der Programmatik. 18 Vgl. Hulme 2006. 19 Vgl. die Homepage von Greenpeace International, „Climate Solutions“, http:// www.greenpeace.org/international/en/campaigns/climate-change/solutions [Zugriff am 31.7.2013]. 20 Für die filmische Darstellung des tipping points in den ersten Minuten des Films hat sich der Regisseur Roland Emmerich von einem tatsächlichen Ereignis inspirieren lassen: Dem endgültigen Abbruch des Larsen-B-Shelf von der Antarktischen Halbinsel im Februar 2002.

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Die Beispiele zeigen, dass die Popularität, welche das tipping-pointKonzept innerhalb des öffentlichen Diskurses um den Klimawandel erfahren hat, nur nachgeordnet mit seiner Validität als wissenschaftliches Konzept innerhalb der Klimaforschung in Verbindung gebracht werden kann. Die Gründe für die Attraktivität des Konzepts sind vielmehr in den allgemeinen symbolischen und narratologischen Qualitäten des tipping points zu suchen. Malcolm Gladwell prägte den Begriff als Metapher, deren Kraft sich daraus zieht, dass sie ein allgemeingültiges Prinzip zu erklären scheint. Diese Allgemeingültigkeit zeigt sich an der Varianz von Bildern, mit denen das Prinzip tipping point gedacht wird – etwa die Murmel, die auf dem Scheitel eines zu zwei Seiten abfallenden Berges sitzt, die balancierende Wippe oder das kippelnde Wasserglas.21 Diese symbolischen Analogien fassen den tipping point als „Diskontinuitätsmoment“,22 auf den eine Entwicklung hinsteuert und von dem sich eine anders geartete Entwicklung wegbewegt.23 Er ist der Scheidepunkt zwischen zwei antagonistischen Zuständen: Ein lineares System, beispielsweise, wird nach dem tipping point zu einem nicht-linearen, ein sicherer Zustand zu einem unsicheren und reversible, steuerbare Prozesse werden zu chaotischen Systemen. In diesen symbolischen Bildern des tipping points deutet sich eine Reduktion auf seine strukturelle Funktion als turning point an: „... der entscheidende Moment oder Wendepunkt, an dem die ansteigende Handlung (rising action) umschlägt in die Auflösung (falling action).“24 Als turning point hat der tipping point eine wichtige diskursive Funktion innerhalb der Vermittlung des Klimawandels. Er ermöglicht die Darstellung des Klimawandels als Krise.25 Zum einen gestattet er, eingebettet in das umfassendere Konzept

21 Die hier aufgezählten Analogien sind die häufigsten Ergebnisse von BilderSuchläufen im Internet. 22 Vgl. Buell 2010, S. 18. 23 Gladwell definiert den tipping point als „critical threshold at which a tiny perturbation can qualitatively alter the state or development of a system“. Gladwell 2002, S. 18. 24 Nünning 2007, S. 50. 25 Nünning definiert Krisen als „narrative [...] Transformationen“, die „aus einem Geschehen zunächst ein Ereignis, dann eine Geschichte und schließlich eine bestimmte Geschichte bzw. ein spezifisches Erzählmuster“ machen. Vgl. ebd., S. 60.

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des „gefährlichen Klimawandels“,26 die narrative Dramatisierung des graduellen und inkrementellen Phänomens. Zum anderen kann der Prozess des Klimawandels anhand des tipping points als Ereignis formuliert und stilisiert werden, denn dieser beschreibt einen konkret bestimmbaren (d.h. statistisch errechenbaren) Punkt innerhalb der Entwicklung des globalen Klimawandels. Der tipping point ermöglicht somit die Entfaltung perzeptiver Maßstäbe des Klimawandels. Die zeitliche Konkretisierung und die narrative Dramatisierung, die mit dem tipping point verbunden sind, begegnen der „eigentümliche[n] Informationsqualität“ des Klimawandels: Sie überbrücken die zeitliche und lokale Zerdehntheit von Ursachen und Konsequenzen des Klimawandels und helfen bei der Übersetzung abstrakter wissenschaftlicher Ergebnisse in „eine Geschichte, die die allgemeine Lebenserfahrung und Lebenswelt ansprechen kann.“27 Der tipping point als zeitliche Konkretisierung ermöglicht das Erstellen von Zeitplänen und daran gekoppelten konkreten Handlungsrahmen. Beide Faktoren sind grundlegend für die Erstellung politischer Programme und klimaaktivistischer Kampagnen. Die dramatische Kraft des tipping points als turning point, von der man sich eine wirkungsvolle Übersetzung erhofft, strukturiert viele mediale Inszenierungen von Aufrufen zu einem klimabewussten Handeln. Ein eindrückliches Beispiel für einen medial inszenierten Handlungsaufruf ist der multimediale Essay28 Climate Change. One Planet, One Chance. Der vorliegende Aufsatz begann mit einer Nacherzählung der tipping-point-Sequenz, die das emotionale Kernstück des Essays bildet.

26 Siehe Fußnote 4. 27 Leggewie/Welzer 2010, S. 34. 28 Das Format des multimedialen Essays gehört in den recht jungen Bereich des „Multimedial Storytelling“. Grundlegend werden hier unterschiedliche visuelle Medien – wie Foto- und Videographie – mit auditiven und textuellen Fragmenten gekoppelt. Die Entwicklung dieses Formats steht in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des Online-Journalismus, der generellen Verfügbarkeit der nötigen Produktionstechnik und der immanenten Suche nach innovativen und authentischen Erzählmodi.

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C LIMATE C HANGE . O NE P LANET , O NE C HANCE Der insgesamt ca. 8-minütige Essay wurde 2008 als Teil der Ausstellung Nine Planets Wanted produziert. Die Ausstellung begleitete eine Konferenz des United Nations Development Programm (UNDP), auf der der Human Development Report 2007/200829 vorgestellt und Fragen des Klimawandels in Verbindung mit sozialer Gerechtigkeit diskutiert wurden. Der multimediale Essay, der hauptsächlich aus Fotografien aus dem Archiv der Fotoagentur Magnum Photos und animierten Graphiken besteht, wurde als visueller Stimulus auf mehreren Bildschirmen im Ausstellungsraum gezeigt.30 Ausstellung und Essay hatten die Aufgabe, die Empfehlungen des Berichts an eine breitere Öffentlichkeit zu vermitteln.31 Grundlage für die Empfehlungen ist die Überzeugung der Autoren, dass ein gefährlicher Klimawandel droht, der sich an unterschiedlichen tipping points entfaltet.32 Das Narrativ des Essays, das unmittelbar aus den Inhalten des Human Development Report generiert wurde, entfaltet sich über den Text, der in Zwischentiteln und Inskriptionen eingeblendet wird. Naturkatastrophen mit schwerwiegenden humanitären Folgen werden dabei als Symptome und

29 In vier Kapiteln stellt dieser die Symptome und Ursachen (I), prognostizierte Folgen (II), Strategien der Mitigation (III) und Adaption (IV) vor. Vgl. Watkins 2007. 30 Die Ausstellung wurde von der New Yorker Design-Agentur Zago LLC im Auftrag des UNDP entworfen und umgesetzt. Zago trat an Magnum mit der Bitte um fotografisches Illustrationsmaterial heran. Aufgrund von bildrechtlichen Bestimmungen entschied man sich gemeinschaftlich für die Form der multimedialen Präsentation. Weitere Gründe für die Entscheidung für einen multimedialen Essay waren die Wiederverwertbarkeit in anderen Kontexten nach Abschluss der Ausstellung sowie die Promotion des neu gegründeten Multimedia-Studios Magnum in Motion. Vgl. Interview mit Adrian Kelternborn, 3. Oktober 2011, New York City. 31 Im Anschluss an die Konferenz wurde der Essay auf der Online-Plattform von Magnum Photos in gekürzter und voller Länge veröffentlicht. Vgl. Magnum Photographers, Climate Change. One Planet, One Chance, http://inmotion. magnumphotos.com/essay/one-planet-one-chance [Zugriff am 13.5.2013]. 32 Das Kapitel 1.1 skizziert den „dangerous climate change“ anhand von „five human development ‚tipping points‘“. Vgl. Watkins 2008, S. 26-31.

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Konsequenzen, der ausufernde Kohlenstoffdioxid-Ausstoß der Industriegesellschaften als ihre Ursache vermittelt. Sequenzen von fotografischen Bildern sind animierte Statistiken und Diagramme mit den Ergebnissen des Berichts voran- oder nachgestellt. Die Kernbotschaft lautet, dass die globale Erwärmung – verursacht durch den Emissionsausstoß in den Industrieländern der nördlichen Hemisphäre – fatale Auswirkungen auf die Bewohner von Entwicklungs- und Schwellenländer haben wird.33 Als Lösung wird eine umfassende technologische Revolution in den Industrieländern präsentiert, die auf transnationalen politischen Grundlagenentscheidungen beruht und eine erhebliche Reduzierung der Emissionen ermöglicht. Eingebettet sind diese Entscheidungen ‚von oben‘ in eine von buddhistischen Ideen inspirierte holistische Weltanschauung: Glockenklänge begleiten Bilder von buddhistischen Mönchen, spielenden Kindern und intakten Naturlandschaften. Immer wieder wird das Kreismotiv als Symbol für den Planeten Erde, aber auch für den ununterbrochenen Kreislauf des Lebens in Szene gesetzt. Die „große Transformation“34 – der kulturelle Wandel, der zur Vermeidung des Klimawandels nötig ist – ist für die Autoren des Essays ein Zusammenspiel aus rationalen Entscheidungen und der Rückkehr zu einer defensiven und anti-materialistischen Lebensweise. Der in der Einleitung beschriebenen drastischen Hinführung folgt die Inszenierung des tipping points. Der schnell geschalteten Fotoreihe der Konsumgesellschaft als Verursacher folgt die Nahaufnahme eines An- und Aus-Knopfs („Start“, „Stop“; Abb. 1): Sirenengeheul setzt ein. Das Symbolbild wird von einer letzten Warnung abgelöst: „Without a reduction of our current CO2 emissions, we’ll reach a point of no return“. Dieser Zwischentitel rahmt die nachfolgende Bildsequenz als Ausblick in mögliche

33 Dieser Problemkomplex wird in der transnationalen Diskussion der Folgen und Auswirkungen des Klimawandels mit dem Begriff der „Adaptation Apartheid“ beschrieben. Vgl. Watkins 2007, S. 13. 34 Der Begriff „Great Transformation“ wird vor allen Dingen im europäischen Raum gebraucht, um den politisch initiierten Mentalitäts- und Kulturwandel als großangelegtes gesellschaftliches Projekt zu definieren. So fand im Juni 2009 eine von der Mercator-Stiftung und dem Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen initiierte Tagung mit diesem Titel statt. Vgl. Stiftung Mercator, KWI Essen, „The Great Transformation“, http://www.greattransformation.eu/ [Zugriff am 13.5.2013].

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Zukünfte nach dem tipping point. Was die Fotografien jedoch eigentlich zeigen, sind Dokumentationen vergangener Katastrophen: Es sind Bilder der Ölkrise in Kuwait, von Flüchtlingscamps in Pakistan, von Slums in Indien, von Hungerkrisen in Afrika, von einer Dürre in New Mexiko und von Plünderungen in New Orleans in der Nachfolge von Hurrikan Katrina. Dem Betrachter des Essays werden diese konkreten Bildinformationen vorenthalten – sie ergeben sich erst durch weitere Recherche im Magnum-Archiv. Die Tonspur, in der sich unter anderem Brandgeräusche, Gewitterstürme und ein kehliges Grollen mischen, unterstützt eine Konnotation, die in all den Fotografien angelegt zu sein scheint: Sie erzeugt eine Atmosphäre des Katastrophischen und Unheilvollen. Dafür kommen zwei visuelle Topoi zum Einsatz. Die Bilder zeigen entweder Variationen des leeren, post-desaströsen Raums, der lediglich in Spuren von der vormaligen Existenz menschlicher Zivilisation zeugt. Die zweite Variation ist der chaotische Raum, der gezeichnet ist von Destruktion. Der Mensch, hier noch existent, aber hungernd, mit Atemschutz oder nackt und hilflos, versucht in diesem prekären Lebensraum lediglich zu überleben. Der absoluten Katastrophe folgt der absolute „aftermath“,35 der post-katastrophische Zustand, in dem alle Ordnung und Zeitlichkeit ausgehebelt ist. Der tipping point wird mit diesen Topoi als drohende zivilisationsfeindliche Krise inszeniert. Mit dem Gebrauch fotojournalistischer Dokumentationen von konkreten vergangenen Ereignissen sollen in dem Essay vage Visionen für eine Zukunft ab 2050 formuliert werden. Die Vergangenheit wird versinnbildlicht anhand der Ausgangspunkte der Messkurven als Indikatoren der globalen Erwärmung. Die Zukunft ist eine Verlängerung dieser Kurve, deren Verlauf über den Punkt der Gegenwart hinaus berechnet wird und welche den prognostizierten tipping point hervorhebt. Was die Statistiken in ihrer diagrammatischen Abstraktheit nicht erfassen können, übernehmen die Bildsequenzen: Sie verknüpfen singuläre Ereignisse miteinander, verdichten diese zu einem nicht mehr zu entkoppelnden Ereignisnetz und formulieren die Vision einer globalen Superkatastrophe. Der gefährliche Klimawandel wird zur Klimakatastrophe, die sich durch ihre Viel-

35 Der englische Begriff des „aftermath“ lässt sich als „Folgezeit“, „Nachwirkung“, aber auch „Späternte“ übersetzen. Im Englischen hat sich der Begriff als sprachliches Bild für die Beschreibung von Situationen etabliert, die traumatischen Ereignissen folgen.

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schichtigkeit und Unsteuerbarkeit auszeichnet und mit Chaos und anschließender Leere droht. Der Essay stützt sich somit auf fotografische Dokumentationen vergangener Katastrophen als Vorboten eines „Worst-Case Scenarios“. So formuliert Eva Horn, dass „die großen Desaster [...] im Blick einer Erkenntnis der Zukunft nicht mehr einfach historische Tragödien, sondern Bausteine für die imaginäre Konstruktion einer schlimmsten anzunehmenden Katastrophe“36 sind.

Abb. 1: Still aus Climate Change. One Planet, One Chance.

Während der Film, für den Eva Horn diese allgemeine Formulierung trifft, per se das Medium dieses „katastrophische[n] Imaginären“37 zu sein scheint, in dem Vergangenheit und Zukunft im fiktionalen Raum miteinander verschmelzen, steht das Medium der Dokumentarfotografie, aus dem der Essay Climate Change. One Planet, One Chance seine Kraft zieht, vor einem grundsätzlichen Problem. Eine Fotografie bildet ab, was sich zu einem bestimmten Zeitpunkt vor der Kamera befunden hat. Nur in diesem Zeitbezug kann sie als wahrhaftiges Dokument funktionieren. Durch die kontextuelle Rahmung werden die Fotografien im Essay aber als Zukunfts-

36 Horn 2009, S. 93. 37 Vgl. Tellmann/Opitz 2009, S. 31, zitiert nach Horn 2009, S. 93.

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visionen präsentiert. Um diese Aporie für den Betrachter aufzulösen, setzen die Autoren eine Reihe von Evidenzeffekten38 ein. Die augenscheinlichste Strategie ist dabei die Kopplung unterschiedlicher Bildformen. Im Zentrum steht dabei die enge Verknüpfung von fotojournalistischen Bildern mit diagrammatischen Infographiken. Als wesentliches Element der Wissenschaftskommunikation, aber auch der Wissensproduktion suggerieren letztere, wie Astrid E. Schwarz bemerkt, ein „Evidenzerlebnis im ersten Blick“. Im durch die Graphik produzierten homogenen Koordinatenraum könne eine lückenlose Entwicklungsreihe angenommen werden.39 Aufgeladen werden die Graphiken zusätzlich mit dem Effekt des animierten Handgezeichneten. Der gesamte Essay lebt von einem schnellen Wechsel visuell, textuell und auditiv vermittelter Informationen. Die Video-Fragmente sind gezielt als „Moment[e] der Störung“40 gesetzt, die den Strom der Standbilder unterbrechen, von denen zahlreiche im sogenannten „Ken-Burns-Effekt“41 animiert sind, und die mit der simulierten Ästhetik von hastig aufgenommenen Handkamerabildern eine eigentümliche Aura des Authentischen erzeugen. Dennoch scheint die Positionierung von Bild und Text im Essay diese mediale Inszenierung zu unterlaufen. Die Evidenz von Bildern versteht sich, so Helmut Lethen, selten von selbst. Sie bedarf eines zusätzlichen „Akt[es] der Beglaubigung“.42 Die Zwischentitel und Inskriptionen43 im Essay, die strukturell diese Aufgabe als Bildlegenden übernehmen könnten, erklären das Dargestellte aber nicht auf die von Lethen formulierte Weise, sondern belegen die Bilder mit zusätzlichen Konnotationen, die sich zum Teil über die denotative Bedeutungen schieben.44 Aus ihren Kontexten und

38 Helmut Lethen beschreibt diese als „Verfahren, die den Schein des Durchblicks erzeugen“. Lethen 2006, S. 68. 39 Schwarz 2003, S. 22f. 40 Lethen 2006, S. 69. 41 Der „Ken-Burns-Effekt“, benannt nach einem amerikanischen Dokumentarfilmer, beschreibt das langsame Zoomen in Standbilder. Für diesen Hinweis und andere enorm hilfreiche Bemerkungen danke ich Birgit Schneider. 42 Lethen 2006, S. 69. 43 Für eine Definition des Begriffs „Inskription“ siehe Fußnote 1. 44 Die Begriffe der Denotation und Konnotation werden hier in Anlehnung an die Begriffsbestimmungen bei Roland Barthes gebraucht. Barthes unterscheidet mit

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von ihren ursprünglichen Bildtiteln45 gelöst, werden die Fotografien zu austauschbaren stock images.46 Unter dem schweifenden Blick des Betrachters löst sich die Komplexität der Einzelbilder in einem filmischen Bildrauschen auf. Den Höhepunkt dieses Bildrauschens bildet die Inszenierung des tipping points, der mit einer einzelnen Fotografie47 (Abb. 1) gefasst wird. In Nahaufnahme zeigt das Bild zwei gleichgroße Knöpfe: einen grünen mit der Aufschrift „Start“ und einen roten mit der Aufschrift „Stop“. Der Abrieb der Schrift und Schmutzspuren zeugen vom häufigen Gebrauch dieser Knöpfe, die vermutlich Teil einer manuell bedienbaren Maschine sind. Wie die oben genannten symbolischen Analogien, ist auch dieses Bild eine reduktionistische Visualisierung48 des tipping points. Lediglich die Idee, dass der tipping point zwei antagonistische Zustände voneinander trennt, wird mit diesem Bild erfasst. Im Zusammenhang der vor- und nachgeschalteten Bildsequenzen wird mit „Start“ der Status quo, d.h. die Konsumgesellschaft und der graduelle Klimawandel verbunden. „Stop“ ist mit dem Ende dieses gefühlten Normalzustands und dem Eintreten des katastrophischen Klimawandels („point of no return“) verbunden. In der Zusammenschau wird deutlich, dass das Bild hier noch einen weiteren Kipppunkt beschreibt: die Entscheidung für das Fortführen des Status quo der bisherigen Entwicklung („Start“) oder gegen diese und für die individuelle und kollektive CO2-Reduktion („Stop“). Im Essay vermischt sich die für den Klimawandeldiskurs charakteristische, aber auch problematische rhetorische Doppelbedeutung des Begriffs tipping point, der sowohl als Konzept

den beiden Begriffen vorsprachliche und sprachlich eingegebene Bedeutungen, vgl. Barthes 1990, S. 11-27, hier besonders S. 11-14. 45 Die Bildtitel können, ausgehend von der Internetpräsenz des Essays, im Archiv von Magnum Photos recherchiert werden. Siehe Fußnote 2. 46 Sogenannte stock images werden ohne konkreten Anlass produziert. Über Datenbanken vertrieben, sollen sie in möglichst vielen Kontexten Anwendung finden. Vgl. Ullrich 2008, S. 51-61. 47 Das Bild wurde ursprünglich von dem Fotografen Martin Parr im Rahmen seines fotokünstlerischen Projekts Common Sense produziert. Der originale Bildtitel lautet: Start and Stop. Vgl. http://www.magnumphotos.com/C.aspx?VP3 =SearchResult_VPage&VBID=2K1HZOR31VKS2 [Zugriff am 14.5.2013]. 48 Zum Begriff der Visualisierung siehe o.A. 2008, S. 132-135.

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der Klimawissenschaft, um die physischen Veränderungen zu beschreiben, und als auch als Chiffre für den kollektiven Gesinnungswandel hin zu einer emissionsarmen Lebensweise verwendet wird.

L ONDON F UTURES . P OSTCARDS

FROM THE

F UTURE

Auch die britischen Digitalkünstler Robert Graves und Didier Madoc-Jones verlassen sich für die Inszenierung des klimatischen tipping points in ihrem Projekt London Futures. Postcards from the Future auf die vielbeschworene Kraft fotografischer Bilder. Seit 2008 haben sie unter diesem Titel sechzehn computergenerierte Bilder produziert, die berühmte Ansichten der britischen Hauptstadt nach dem kritischen tipping point zeigen. Graves und Madoc-Jones visualisieren dabei nicht ein großes kohärentes Szenario, sondern stellen vielmehr unterschiedliche mögliche Zukünfte nebeneinander.

Abb. 2: „Skating at Tower Bridge“, Ausstellung London Futures.

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Abb. 3: Installationsansicht aus der Ausstellung London Futures.

Der Einbruch einer kleinen Eiszeit49 ermöglicht das Schlittschuhlaufen auf der zugefrorenen Themse (Abb. 2). Der unerträglich gewordenen Hitze Südeuropas entflohen, bevölkern Klimaflüchtlinge die neu errichteten Camps rund um den Buckingham Palast und Trafalgar Square. Die sich nach Nordeuropa verschiebende subtropische Klimazone ermöglicht Reisanbau auf dem Parliament Square. Nach dem Ausgehen fossiler Brennstoffe wird die britische Hauptstadt mit Atomkraft aus einem Atomkraftwerk in den Kew Gardens versorgt. Die Royal Mall ist gesäumt von Windkrafträdern. Die Bilder wurden von Oktober 2010 bis März 2011 in der Ausstellung London Futures. Postcards from the Futures im Museum of London gezeigt (Abb. 3).

49 „Kleine Eiszeit“ ist eine von Klimahistorikern geprägte Bezeichnung für eine Kälteperiode in Nordeuropa, die vom 15. bis ins 19. Jahrhundert andauerte. Bei der Rekonstruktion dieser klimatischen Anomalie wurden u.a. auch Bildwerke der Zeit zu Rate gezogen, so prominent Pieter Bruegels d.Ä. Gemälde „Jäger im Schnee“ (1565), das ebenfalls eine Aufsicht auf einen zugefrorenen See mit Schlittschuhläufern zeigt. Vgl. u.a. die Umschlagabbildung von Behringer 2011.

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In einem abgedunkelten Ausstellungsbereich wurden vierzehn Bilder der Serie in Lichtkästen präsentiert und von erläuternden Bildtexten begleitet. 50 Zum Aushängeschild der Ausstellung entwickelte sich das Bild London as Venice (Abb. 4). Es nahm nicht nur innerhalb der Ausstellung einen prominenten Platz ein, sondern wurde auch in den Presseberichten zur Ausstellung häufig reproduziert.51

Abb. 4: „London as Venice“, Ausstellung London Futures.

Das Bild zeigt die überflutete City of Westminster im abendlichen Zwielicht. Aus einer flachen Vogelschau öffnet sich der Blick auf die Houses of Parliament mit Big Ben im unmittelbaren Vordergrund. Erst auf den zweiten Blick wird der Betrachter der Wassermassen gewahr, in die sich die

50 Während die Bildtitel von Graves und Madoc-Jones gewählt wurden, stammen die Bilderklärungen von den Kuratorinnen der Ausstellung. Vgl. Interview mit Didier Madoc-Jones vom 2. März 2011, London, UK. 51 So u.a. in der Januar-Ausgabe des Londoner Stadtmagazins Time Out London, wo das Bild unter der Überschrift „Apocalypse London – What would you do if the worst DID happen?“ abgedruckt wurde. Vgl. Time Out London, 1. Oktober 2010, Cover.

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langen Abendschatten der Gebäude schlagen. Im Museum informiert die mehrzeilige Bilderläuterung,52 dass die Stadt an der Themse infolge des klimatisch bedingten Anstiegs des Meeresspiegels unbewohnbar geworden sei. Eine sechs Meter hohe Flutwelle habe die Staudämme des Flusses zum Einsturz gebracht. London as Venice ist eine eindrucksvolle Variante des fotografischen Topos des „aftermath“, der in den letzten drei Jahrzehnten zum Gegenstand der „late photography“ wurde.53 Das katastrophische Ereignis hat dabei immer schon stattgefunden. Fotografisch erfasst werden lediglich die Spuren des Ereignisses. Die Bilder werden zu statischen Dokumenten einer „evaluierenden Forensik“.54 David Campany sieht die „late photography“, der sowohl Fotojournalisten als auch Fotokünstler nachgehen, in Opposition zu den am Ereignis orientierten filmischen Medienbildern. Die inszenierte „Vergangenheit“ (engl.: pastness) der „aftermath“-Fotografien berühre, so Campany weiter, eine „nostalgische Idee“ des Fotodiskurses: die besondere Verbindung zwischen fotografischem Standbild und Erinnerung. Campany sieht den Grund für diesen (Irr)glauben in der „Stummheit“ der Bilder, die einen enormen Raum für mögliche Kontexte und Assoziationen aufmachen.55 Durch die Wahl der bildgestalterischen Mittel scheint London as Venice ein weites Feld für Assoziationen und Referenzen zu eröffnen. Mit der Luftperspektive haben Graves und Madoc-Jones einen prägnanten und mehrdeutigen Darstellungsmodus gewählt. In der Fotografiegeschichte hat sich dieser Darstellungsmodus sowohl für die wissenschaftliche Dokumentation, als auch für die ästhetisierende Landschafsbetrachtung etabliert.

52 Die originale Bildunterschrift lautete: „London has become uninhabitable. Every year spring tides surge through the Thames Barrier, making London the new Venice. But whereas the city of gondolas has come to terms with water, London is overwhelmed. This image shows the impact of 6-metre flooding, the level required to breach the Thames Barrier.“ Anlässlich der „Rio+20“-Konferenz (Juli 2013) haben Graves und Madoc-Jones ihre Serie um einige Bilder erweitert und in diesem Zuge auch die Bilderklärungen der London Futures-Serie überarbeitet. Madoc-Jones/Graves, „Postcards from the Future. Wish You Were Here?“, http://www.postcardsfromthefuture.co.uk/ [Zugriff am 31.7.2013]. 53 Campany 2003, S. 123-132. 54 Ebd., S. 124. 55 Vgl. Campany 2003, S. 123-132.

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In dem von Graves und Madoc-Jones generierten Bild verbindet sich der Blick des neugierigen Touristen auf eine von Menschenhand geformte Stadt im Zwielicht mit der erschütterten Inaugenscheinnahme des Ausmaßes einer Katastrophe. Der Blick auf die überflutete Stadt ist dabei ein bekannter Topos: er beflügelt nicht nur dystopische Fiktionen,56 sondern hat sich auch zu einer generischen Ikone der Katastrophenberichterstattung entwickelt.57 Der Titel des Bildes, London as Venice, verdoppelt die grundsätzliche Spannung des Bildes. Venedig wird hier als mehrdeutiges Gleichnis gesetzt. Die weltbekannte Stadt, die ihre touristische Attraktivität aus dem exotischen Leben am Wasser zieht, ist akut vom steigenden Meeresspiegel bedroht. Die Bilder der Serie London Futures stiften ein ambivalentes Spiel zwischen medial vermittelter Erinnerung und generierter Zukunftsvision, um Fragen nach den Handlungsmöglichkeiten in der Gegenwart zu entwerfen. Im Kern der Serie steht die Visualisierung des Futur II, dessen Unbestimmtheit, so Peter Bexte, in „der modalen Doppeldeutigkeit von ‚werden‘ liegt.“58 Graves und Madoc-Jones haben mit ihren Bildern jene „Foto[s] aus der Zukunft“59 geschaffen, wie sie sich Herbert G. Wells’ zeitreisender Protagonist schon 1895 gewünscht hat, um seine Erfahrung glaubwürdig vermitteln zu können und für die Gegenwart sinnhaft zu machen. Die Überzeugungsleistung dieser Zukunftsbilder hängt dabei wesentlich von der Qualität ihrer fotorealistischen Illusion ab. Hält diese dem sorgfältigen Lesen durch den Betrachter stand, entfaltet sich eine zweite Spannung zwischen der konstruierten Authentizität des Gezeigten und der technischen Virtualität des computergenerierten Bildes. Statt der exakten Visualisierung

56 2007 wurde der Science-Fiction-Film Flood im britischen Fernsehen ausgestrahlt. Unter Einsatz von computergenerierten Szenen wird hier die Überflutung des Zentrums von London durch eine Sturmflut erzählt. Der Film enthält zahlreiche Luftansichten bekannter Plätze und Sehenswürdigkeiten der Stadt. 57 Beispiele aus der Frühzeit des Fotojournalismus finden sich mit der Dokumentation der Überflutung des Mississippi im Archiv der Farm Security Administration. In jüngerer Zeit wurde das Sujet unter anderem in der Berichterstattung zum Hurrikan Katrina (Herbst 2005) aktualisiert. Zahlreiche Beispiele hierfür finden sich in Maklansky 2006. 58 Bexte 1992, S. 713. 59 Ebd., S. 715.

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oder Illustration wissenschaftlicher Ergebnisse geht es den beiden Autoren der Serie darum, diese Spannung innerhalb des Bildes und mit visuellen Mitteln zu erzeugen. Mit der Technik der Montage von fotografischen Grundlagen und digitalen Modellen im Standbild60 sehen sich Graves und Madoc-Jones in einer Traditionslinie mit Künstlern wie John Heartfield, Ed Ruscha und Buckminster Fuller, die die Fotomontage als Mittel der Gesellschaftskritik und zur Ausgestaltung utopischer Fantasien benutzten. London Futures, so die beiden Künstler, ist in Opposition zu katastrophischen Newsbildern und spektakulärem Hollywoodkino angelegt: „We want to tell different stories [...] to make people think.“61 Innerhalb der Ausstellung im Museum of London wurden die Bilder mit zahlreichen Konnotationen aufgeladen. Neben den Bildtiteln und Bilderläuterungen wurden Einführungstexte und Kommentare von Klimaexperten in das Display der Ausstellung integriert. Interessant ist dabei die von den Kuratoren vorgenommene Reflektion der Bilder auf einer Metaebene. So trägt die Ausstellung den Untertitel „Images that frame the climate change debate in a way that everyone can understand“.62 Im erweiterten Konzepttext schreibt die Kuratorin der Ausstellung, Kathy Ross: „This is both an imageled and an ideas-led exhibition. Visitors will engage with the ideas through the quality and interest of the images.“63 Der offen formulierte didaktische Anspruch der Ausstellung, der sich in den zahlreichen Textbeigaben niederschlägt, trägt zwar zu einer reflexiven Bildpraxis bei, degradiert sie aber zugleich zur Illustration klimawissenschaftlicher Szenarien. Ihre eigentliche Aufgabe, den Betrachter in einen erweiterten ambivalenten Reflektions-

60 1990 etablierten Graves und Madoc-Jones diese Visualisierungstechnik „with a vision to reinvent the grand tradition of architectural illustration and modelmaking“, Madoc-Jones/Graves, „GMJ“, http://www.gmj.co.uk/#pageType=men u&subMenu=ABOUT&subSection=ABOUT&selectID=0 [Zugriff am 15.5. 2013]. 61 Interview mit Didier Madoc-Jones, 2. März 2011, London. 62 Dieser Untertitel war für die Dauer der Ausstellung auf der Eingangsseite der Projekt-Homepage nachzulesen, wurde aber im Zuge der Umstrukturierung der Webseite entfernt. Madoc-Jones/Graves, „Postcards from the Future. Wish You Were Here?“, http://www.postcardsfromthefuture.co.uk/ [Zugriff am 31.7. 2013]. 63 Ross 2010, unpaginiert.

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und Assoziationsprozess zu setzen, entfalten die Bilder von Graves und Madoc-Jones außerhalb des Ausstellungsraums. Die statt eines Ausstellungskatalogs produzierten Postkarten ermöglichen den Anschluss an alltägliche Bildwelten und -praktiken der Betrachter. Durch die Dekontextualisierung obliegt die Interpretation der Postkarten gänzlich dem Eindruck und Willen des Betrachters. Als mobiler Bildträger vermischen diese sich im Alltagsgebrauch mit anderen Bildern und können so produktive Irritationseffekte erzeugen.

APOCALYPSE ... LATER – D ER TIPPING POINT ALS N ICHT -E REIGNIS Der Begriff tipping point wurde in den Klimawandel-Diskurs von Akteuren eingeführt, die die Qualität des Begriffs als wirkmächtige und anschlussfähige Metapher64 für die öffentliche Vermittlung des Klimawandels erkannten. So schreibt James Hansen: ‚Tipping point‘, although objectionable to some scientists, conveys aspects of climate change that have been an impediment to public appreciation of the urgency of addressing human-caused global warming.65

Das von Hansen erwähnte „Hindernis“ liegt in der eigentümlichen Informationsqualität des Klimawandels begründet, die seine Vermittlung per se problematisch machen. Während das Konzept des tipping points aus Sicht vieler Klimawissenschaftler fragwürdig bleibt, hat die Metapher eine wichtige diskursive Funktion innerhalb der öffentlichen Diskussion des Klimawandels eingenommen. Ihr Gebrauch wird hier mit dem Glauben an ihre narratologische Qualität und konkrete Ereignishaftigkeit verbunden. Von

64 Zur Bedeutung von Metaphern bei der Überführung wissenschaftlicher Themen in den öffentlichen Diskurs vgl. Haraway 1976. 65 Zitiert nach Russill/Nyssa, S. 341. Das Zitat entstammt einer schriftlichen Antwort Hansens auf die Frage eines Reviewers nach der Validität des tippingpoint-Konzepts für eine erste Version des Aufsatzes von Hansen u.a. 2007, S. 2287-2312.

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beiden Qualitäten erhofft man sich die ästhetische Veranschaulichung des Klimawandels und seine Deutung als dringendes und relevantes Problem. Wie unterschiedlich die Anschauung des Klimawandels anhand des tipping-point-Konzeptes gedacht werden kann, hat die Analyse der beiden Projekte gezeigt. Beide Projekte teilen den Glauben an die Bedeutung des fotografischen Bildes als evidenzstiftend und wahrnehmungsnah. Die Analyse der Projekte offenbart, dass sich der tipping point innerhalb der medialen Vermittlung des Klimawandels zu einem enorm komplexen Konzept entwickelt hat. Weder ist seine zeitliche Struktur einfach, noch seine rhetorische Funktion eindeutig. Das Ziel von expliziten und didaktischen Handlungsaufrufen wie Climate Change. One Planet, One Chance, aber auch von weniger expliziten Diskussions- und Reflexionsanregungen wie London Futures, ist die Prävention des Ereignisses des tipping points. Rhetorisch – visuell und textuell – wird dessen Eintreten simuliert und damit ein virtueller Handlungsraum eröffnet. Dieser virtuelle Raum wird in beiden analysierten Beispielen auf sehr unterschiedliche Weise konstruiert. Im Essay wird er durch die ReKontextualisierung von Medienbildern zwischen den tatsächlichen Ereignissen vergangener Umweltkatastrophen und -krisen sowie einer durch textuelle Konnotation und Inszenierung gestifteten Vorstellung des tipping points als virtueller Super-Katastrophe entfaltet, die, gemäß der fotografischen Logik, nur als Kette singulärer Katastrophen dargestellt werden kann. Die statistischen Daten, die hier das eigentliche mit dem simulierten Ereignis verknüpfen, haben die Aufgabe, dessen Virtualität in eine Wahrscheinlichkeit umzucodieren. Der Essay basiert auf der Inszenierung des gefährlichen Klimawandels als Prozess, bei dem der tipping point als Höhepunkt und zugleich als drohender „point of no return“ dargestellt wird. Die Zeitform ist hier das Futur I: „We will reach a point of no return.“ In London Futures wurde der tipping point bereits überschritten. Robert Graves und Didier Madoc-Jones nutzen die Möglichkeiten der Computer Generated Imagery, um sehr unterschiedliche (größtenteils einander ausschließende) Visionen möglicher Welten nach dem tipping point zu stiften. Statt der weltumspannenden Flut ort- und zeitloser stock images produzierten die beiden Londoner Digitalkünstler eine Serie von Einzelbildern, die die Zukunftsvisionen lokal verankern. Der tipping point wurde dabei radikal in die Vergangenheit verlegt. Die perzeptive Ambivalenz, die von den Autoren intendiert war, liegt in der Offenheit des „aftermath“-Topos be-

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gründet. Die Zeitform ist hier das Futur II, dem Peter Bexte per se die Symbolisierung eines „katastrophischen Zeitgefühls“ zuschreibt: „What if the worst did happen?“66 Beide Beispiele arbeiten mit „Techniken des Voraus-Sehens und Vorher-Sagens“67, um den klimatischen tipping point als „Nicht-Ereignis“68 im Sinne Jean Baudrillards zu produzieren. Sie präfigurieren das Ereignis des plötzlichen Zusammenbruchs des globalen Klimasystems. Indem sie den tipping point vordenken, annullieren sie dessen radikalen Charakter als plötzlichen Einbruch des Unerwarteten. Damit reflektieren die Autoren der Projekte die eingebaute Virtualität, die dem klimatischen Kipppunkt als Konzept der Verständigung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft inhärent ist: Der tipping point ist eine simulierte Größe, gewonnen aus Daten der Vergangenheit. Gewinnt er als Vision Glaubwürdigkeit in der Gegenwart und führt zu entsprechenden Handlungen, muss er mit der sich verändernden Gegenwart als unmittelbare Vergangenheit neu simuliert werden. Er wird zu einem virtuellen Phänomen, das in einem Feedback-Loop immer weiter in die mittelbare Zukunft geschoben wird. Der tipping point symbolisiert somit die Vergegenwärtigung der zukünftigen Gefahr. Seine diskursive Funktion aber liegt in deren Abwendung. In dieser Struktur liegt die Parallelität zum Mythos der Apokalypse69, deren erzählte Zeitlichkeit in der Zukunft liegen muss, um relevant für das gegenwärtige Handeln zu werden.70 Die Kritik an der medialen Inszenierung des klimatischen tipping points bezieht sich vor allen Dingen auf die „apokalyptische Rede von Chaos und Katastrophe“71, in die dieser eingebunden wird. Die Kritiker, oftmals Naturwissenschaftler, die sich mit dem Klimawandel beschäftigen, laufen dabei in Kant’schen Trajektorien, der die apokalyptische Rede als „ästhetische Vorstellungsart“ schon 1796 zutiefst verurteilt, da sie sich „der Bilder, Analogien und Stimmen [bedient,] wo

66 Überschrift einer Ausgabe der Zeitschrift Time Out London, vgl. Fußnote 51. 67 Horn 2009, S. 91. 68 Baudrillard 2007, S. 7f. 69 Hier wird von der säkularisierten Form der Apokalypse-Erzählung, wie sie sich Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt hat, ausgegangen. Vgl. Böhme 1989, S. 926. 70 Vgl. Skrimshire 2010, S. 3. 71 Hulme 2006.

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[es] sinnlichempirische Anschauung erfordert, und der divinatorischen Vision, wo Begriffsarbeit von Nöten sei“.72 Dennoch ist der Klimawandel ein inhärentes Wahrnehmungsproblem, welches die geforderte sinnlichempirische Anschauung verhindert. In der narrativen Ausgestaltung von Worst-Case-Szenarien liegt die Möglichkeit, das temporale Problem zu lösen: „Das Ende zu imaginieren ermöglicht dabei eine Erkenntnis, die nur durch eine temporale Konstruktion zustande kommt: Ich stelle mir vor, vom Ende her auf die Gegenwart zurückzuschauen. Was vom Jetzt aus prophetische Spekulation war, ordnet sich in der fiktiven Retrospektive zu einer klaren Verkettung von Ursachen.“73 Am Ende sind apokalyptische Szenarien eine Form der Ermächtigung: Sie ermöglichen uns durch den Blick in die Zukunft eine Reflektion der Gegenwart. Mit der visuellen Inszenierung der tipping points, wie sie in diesem Aufsatz exemplarisch an zwei Beispielen untersucht wurde, wird dieser Blick geübt. Ob dieser Blick entlang einer „negative, depressive and reactionary trajectory“74 verläuft, oder im Sinne einer „Theologie der Hoffnung“75 gelingt, hängt von der Überzeugungskraft der Inszenierung ab.

L ITERATUR Roland Barthes, „Die Fotografie als Botschaft“, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinne. Kritische Essays III, Frankfurt/M. 1990, S. 11-27. Jean Baudrillard, Das Ereignis, Weimar 2007. Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2011.

72 Diese Paraphrase, übernommen von Hartmut Böhme, fasst die Ausführungen Kants in dessen 1796 erschienener Schrift „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ treffend zusammen. Vgl. Böhme 1989, S. 16. 73 Horn 2009, S. 95. 74 Hulme 2006. 75 Böhme 1989, S. 17.

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Peter Bexte, „Das Futur II von Jean Paul, Friedrich Nietzsche, Herbert G. Wells, Egon Friedell“, in: Thomas Gey (Hg.), Die deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Germanistentag 1992 (Fachtagung der Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer), Berlin 1992, S. 703-720. Hartmut Böhme, „Vergangenheit und Gegenwart der Apokalypse“, in: Johannes Cremerius u.a. (Hgg.), Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Untergangsphantasien, Würzburg 1989, S. 9-26. Frederick Buell, „A Short History of Environmental Apocalypse“, in: Stefan Skrimshire (Hg.), Future Ethics. Climate Change and Apocalyptic Imagination, London 2010, S. 13-36. David Campany, „Safety in Numbness: Some remarks on problems of ‚Late Photography‘“, in: David Green (Hg.), Where is the Photograph?, Maidstone u.a. 2003, S. 123-132. Malcolm Gladwell, The Tipping Point. How Little Things can Make a Big Difference, Boston 2002. Mark Granovetter, „Threshold Models of Collective Behaviour“, in: American Journal of Sociology 83, 1978, S. 1420-1443. James E. Hansen u.a., „Dangerous human-made interference with climate. A GISS modelE study“, in: Atmospheric Chemistry & Physics 7, 2007, S. 2287-2312. Donna Jeanne Haraway, Crystals, fabrics, and fields. Metaphors of organicism in twentieth-century developmental biology, New Haven 1976. Eva Horn, „Der Anfang vom Ende. Worst-Case-Szenarien und die Aporien der Voraussicht“, in: Lorenz Engell, Bernhard Siegert und Joseph Vogl (Hgg.), Archiv für Mediengeschichte, Bd. 9: Gefahrensinn, München 2009, S. 91-100. Mike Hulme, „Chaotic World of Climate Truth“, in: BBC News, 4.11.2006, http://news.bbc.co.uk/2/hi/6115644.stm [Zugriff am 8.5.2013]. Intergovernmental Panel on Climate Change, Climate change 1995: IPCC second assessment. A report of the Intergovernmental Panel on Climate Change, 1995. Claus Leggewie und Harald Welzer, Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, Bonn 2010. Helmut Lethen, „Der Stoff der Evidenz“, in: Michael Cuntz, Barbara Nitsche und Isaell Otto (Hgg.), Die Listen der Evidenz, Köln 2006, S. 55-85.

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R.W. Lindsay und J. Zhang, „The thinning of Arctic sea ice, 1988-2003. Have we passed a tipping point?“, in: Journal of Climate 18, 2005, S. 4879-4894. Didier Madoc-Jones und Robert Graves, „GMJ“, http://www.gmj.co.uk/# pageType=menu&subMenu=ABOUT&subSection=ABOUT&selectID =0 [Zugriff am 15.5.2013]. Didier Madoc-Jones und Robert Graves, „Postcards from the Future. Wish You Were Here?“, http://www.postcardsfromthefuture.co.uk/ [Zugriff am 31.7.2013]. Magnum Photographers, „Climate Change. One Planet, One Chance“, 7:55, http://inmotion.magnumphotos.com/essay/one-planet-one-chance [Zugriff am 13.5.2013]. Steven Maklansky, Katrina Exposed. A Photographic Reckoning, New Orleans 2006. Ansgar Nünning, „Grundzüge einer Narratologie der Krise: Wie aus einer Situation ein Plot und eine Krise (konstruiert) werden“, in: Henning Grunwald und Manfred Pfister (Hgg.), Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen und Diskursstrategien, München u.a. 2007, S. 48-71. O.A., „TUMBLE: The tipping question“, http://www.pik-potsdam.de/resear ch/earth-system-analysis/projects/flagships/tumble/index_html?set_lang uage=en [Zugriff am 24.4.2012]. O.A., „Sichtbarmachung/Visualisierung“, in: Vera Dünkel, Horst Bredekamp und Birgit Schneider (Hgg.), Das technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte naturwissenschaftlicher Bilder, Berlin 2008, S. 132-135. Chris Russill und Zoe Nyssa, „The tipping point trend in climate change communication“, in: Global Environmental Change 19, 2009, S. 336344. Thomas Schelling, „Dynamic Models of Segregation“, in: Journal of Mathematical Sociology 1, 1971, S. 143-186. Astrid E. Schwarz, „Die Ökologie des Sees im Diagramm“, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 1, 2003, S. 6474. Stefan Skrimshire, „Introduction“, in: ders. (Hg.), Future Ethics. Climate Change and Apocalyptic Imagination, London 2010, S. 290. Stiftung Mercator und KWI Essen, „The Great Transformation“, http://www.greattransformation.eu/ [Zugriff am 13.5.2013].

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Ute Tellmann und Sven Opitz, „Katastrophale Szenarien. Gegenwärtige Zukunft in Recht und Ökonomie“, in: Leon Hempel, Susanne Krasmann und Ulrich Bröckling (Hgg.), Sichtbarkeitsregime. Überwachung, Sicherheit und Privatheit im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2009, S. 27-52. Wolfgang Ullrich, „Bilder zum Vergessen. Die globalisierte Industrie der ‚Stock Photography‘“, in: Elke Grittmann, Irene Neverla und Ilona Ammann (Hgg.), Global, lokal, digital - Fotojournalismus heute, Köln 2008, S. 51-61. Gabrielle Walker, „The tipping point of the iceberg. Could climate change run away with itself?“, in: Nature 44, 2006, S. 802-805. Kevin Watkins, Human Development Report 2007/2008. Fighting climate change: Human solidarity in a divided world, Basingstoke/New York 2007.

ABBILDUNGEN Abb. 1: Still aus Climate Change. One Planet, One Chance (00:01:32), Magnum in Motion, 2008 (Fotografie: Martin Parr: GB. England, aus der Serie Common Sense, 2006), http://inmotion.magnumphotos.com/ essay/one-planet-one-chance [Zugriff am 28.5.2014]. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Magnum Photos. Abb. 2: GMJ (Robert Graves und Didier Madoc-Jones, Hintergrundfotografie: Jason Hawkes), „Skating at Tower Bridge“, 2010, http://www. postcardsfromthefuture.com/ [Zugriff am 28.5.2014]. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autoren. Abb. 3: Alan Williams, Installationsansicht der Ausstellung London Futures – Postcards from the Future, 1. Oktober 2010 bis 6. März 2011, Museum of London. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Abb. 4: GMJ (Robert Graves und Didier Madoc-Jones; Hintergrundfotografie: Jason Hawkes), „London as Venice“, 2010, http://www.postcards fromthefuture.com [Zugriff am 28.5.2014]. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autoren.

Autorinnen und Autoren

Alessandro Barberi ist Chefredakteur der Medienimpulse und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien. Er studierte Geschichte mit Fächerkombination (Philosophie und Literaturwissenschaft) an der Universität Wien. Seine Dissertation erschien unter dem Titel Clio verwunde(r)t. Hayden White, Carlo Ginzburg und das Sprachproblem in der Geschichte im Jahr 2000 ebenfalls in Wien. Seine Homepage findet sich unter http://www.barberi.at. Daniel Gethmann ist Assistant Professor am Institut für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften an der Technischen Universität Graz. Er wurde mit der Arbeit Das Narvik-Projekt. Film und Krieg (erschienen in Bonn, 1998) promoviert und forscht derzeit insbesondere zur auditiven Kultur, kulturwissenschaftlichen Architekturforschung, Medientheorie und zur Geschichte und Theorie der Kulturtechniken. Zu seinen jüngsten Publikationen zählt Die Enden des Kabels. Kleine Mediengeschichte der Übertragung (Berlin 2014, zus. mit Florian Sprenger). Irina Gradinari ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität Berlin. Nach ihrem Studium an der Universität Odessa wurde sie 2010 an der Universität Trier mit einer Arbeit zum Thema Genre, Gender und Lustmord. Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa (erschienen 2011 in Bielefeld) promoviert. In ihrem aktuellen Forschungsprojekt beschäftigt sie sich aus gedächtnistheoretischer Perspektive mit west- und ostdeutschen sowie russischen Filmen über den Zweiten Weltkrieg. Im Erscheinen ist ihr Band Wissensraum Film (Wiesbaden 2014, zus. mit Dorit Müller und Johannes Pause).

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Ulrike Heine ist Doktorandin am Graduiertenkolleg Transnationale Medienereignisse an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Im Rahmen ihres Dissertationsprojekts forscht und veröffentlicht sie zur fotografischen Darstellung des Klimawandels. Als freie Kuratorin und kuratorische Assistentin hat sie zahlreiche Ausstellungsprojekte verwirklicht. Raphael Hörmann ist Marie Curie Intra-European Fellow in der School of Language, Literature and International Studies an der University of Central Lancashire in Preston. Er promovierte an der Komparatistik an der University of Glasgow mit der Arbeit Writing the Revolution: Radical German and English Literature, 1819-1848/49 (erschienen 2011 in Zürich/Berlin). Derzeit forscht er zur Politik von Horrornarrativen über die Haitianische Revolution. Marian Kaiser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Bildende Künste Dresden und freier Filmautor. Nach einem Studium der Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft und Südostasienstudien in Berlin promoviert er an der JLU Gießen zu Szenen der Überkreuzung von Kultur und Wahnsinn zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Derzeit interessiert er sich für das Konzept einer ,kleinen Wissenschaft‘ sowie für Modelle, Medien und Techniken spekulativen Denkens im Rahmen einer Medienepistemologie zeitgenössischer Ontologien. Shintaro Miyazaki ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Institut Experimentelle Design- und Medienkulturen der Hochschule für Gestaltung und Kunst, Fachhochschule Nordwestschweiz. Er wurde 2012 mit der Arbeit Algorhythmisiert: Eine Medienarchäologie digitaler Signale und (un)erhörter Zeiteffekte (erschienen 2013 in Berlin) an der HumboldtUniversität zu Berlin promoviert und interessiert sich aktuell vor allem für die Mediengeschichte der Datenverarbeitung in den Wissenschaften ab 1960 und Forschungsprozesse mit (medien)epistemischen Werkzeugen im Eigenbau.

A UTORINNEN

UND

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Tobias Nanz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des ERC-Projekts „The Principle of Disruption“ an der Technischen Universität Dresden. Er wurde mit der Arbeit Grenzverkehr. Eine Mediengeschichte der Diplomatie (erschienen 2010 in Zürich/Berlin) an der Fakultät Medien der BauhausUniversität Weimar promoviert und befasst sich derzeit mit einer Geschichte des Roten Telefons. Johannes Pause ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des ERC-Projekts „The Principle of Disruption“ an der Technischen Universität Dresden. Er wurde an der Freien Universität Berlin mit der Arbeit Texturen der Zeit. Zum Wandel ästhetischer Zeitkonzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (erschienen 2012 in Köln) promoviert. Sein aktueller Forschungsschwerpunkt ist das politische Kino der 1960er bis 2000er Jahre. Wim Peeters ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft an der FernUniversität Hagen. 2008 promovierte er an der Universität Leiden mit der Arbeit Recht auf Geschwätz. Geltung und Darstellung von Rede in der Moderne (erschienen 2014 in Paderborn). Aktuelles Forschungsinteresse: Der Kommentar (in) der Literatur und Narrative des Ratgebens. Jörg Probst ist Koordinator der interdisziplinären Forschungs- und Lehrplattform Portal Ideengeschichte an der Philipps-Universität Marburg. Er promoviert über die Bild- und Ideengeschichte des Konkreten am Beispiel wissenschaftlicher Zeichnungen im 19. Jahrhundert. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen auf der Kunstgeschichte des Dokumentarischen und der Ideengeschichte der Bildwissenschaft. Aktuelle Publikationen: Beton. Material und Idee im Kirchenbau (Hg., zus. mit Thomas Erne) Marburg 2014, Die 1990er Jahre als Beginn. Bilder und Ideen einer Umbruchszeit (Hg., zus. mit Steffen Henne) Marburg 2013 Ellinor Schweighöfer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Kolleg des Forschungskollegs Humanwissenschaften in Bad Homburg. Zuvor war sie Doktorandin am Graduiertenkolleg Transnationale Medienereignisse der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihr Promotionsvorhaben beschäftigt sich mit der Diskussion des menschlichen Ursprungs seit Mitte des 19. Jahrhunderts.

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Zoran Terzi studierte Bildende Kunst in New York, bevor er am Lehrstuhl für nicht-normative Ästhetik in Wuppertal bei Bazon Brock promoviert wurde. Ein zentraler Forschungsschwerpunkt ist das Zusammenspiel von Politik und Ästhetik, sowie die kritische Auseinandersetzung mit Identität, Nation, Erinnerungskultur u.a. im Rahmen einer politischen Phänomenologie. Er unterrichtete an der Leuphana und an der Humboldt Universität und unternahm zahlreiche Forschungsaufenthalte im In- und Ausland. Seine Monographie Kunst des Nationalismus (Berlin 2007) beschäftigt sich mit der Kultursemiotik des Krieges.

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Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Februar 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

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3) ANZ1993.p 383509885826

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

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