Politik und Praktische Philosophie: Gedenkrede auf Wilhelm Hennis [1 ed.] 9783428542918, 9783428142910

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Politik und Praktische Philosophie: Gedenkrede auf Wilhelm Hennis [1 ed.]
 9783428542918, 9783428142910

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 76

HEINRICH MEIER

Politik und Praktische Philosophie Gedenkrede auf Wilhelm Hennis

Duncker & Humblot · Berlin

HEINRICH MEIER

Politik und Praktische Philosophie

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 76

Politik und Praktische Philosophie Gedenkrede auf Wilhelm Hennis

Von

Heinrich Meier

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-14291-0 (Print) ISBN 978-3-428-54291-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-84291-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Veröffentlichung gibt die Rede wieder, die ich am 28. Juni 2013 bei der Akademischen Gedenkfeier für Wilhelm Hennis in der Aula der AlbertLudwigs-Universität Freiburg hielt. Mit der Feier ehrte die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg einen herausragenden Lehrer und Wissenschaftler, der ihr über fünfundvierzig Jahre als Professor für Politische Wissenschaft und als Emeritus angehörte. Eine um etwa die Hälfte gekürzte Fassung der Rede erschien am 21. August 2013 unter der von der Redaktion gewählten Überschrift Einsicht und Leidenschaft auf der Seite „Geisteswissenschaften“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Politik und Praktische Philosophie wird hier unverändert, ohne Streichungen oder Zusätze, abgedruckt, so wie ich die Gedenkrede auf Wilhelm Hennis in Freiburg hielt. Die beiden nicht näher nachgewiesenen Zitate entstammen einem Konvolut von mehr als einhundertfünfzig Briefen, die Hennis im Laufe von fast vier Jahrzehnten an mich schrieb. Meine Wertschätzung für Wilhelm Hennis brachte ich zu seinen Lebzeiten durch die Widmung der Schrift Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff des Politischen“. Zu einem Dialog unter Abwesenden zu seinem 65. Geburtstag im Jahr 1988 und die Widmung der Erweiterten Neuausgabe des Buches zu seinem 75. Geburtstag im Jahr 1998 öffentlich zum Ausdruck. Die dritte Ausgabe,

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Vorwort

die im März 2013 erschienen ist, trägt die Widmung: In memoriam Wilhelm Hennis 1923 – 2012. München, den 10. November 2013 Heinrich Meier

Politik und Praktische Philosophie Wilhelm Hennis sprach nicht oft vom Glück. Von Einsicht und Leidenschaft gewiß. Davon, daß nichts für den Menschen als Menschen etwas wert sei, was er nicht mit Leidenschaft tun kann, immer wieder. Von der Sorge eindringlich. Von der Tapferkeit und vom Standhalten. Aber vom Glück? Es gibt einen markanten Fall. Auf ein halbes Jahrhundert politischen Handelns und ungezählter publizistischer Interventionen zurückblickend, denen es an Leidenschaft nicht mangelte, bekennt Hennis im November 1998, „wirkliches Glück“ habe er „immer nur beim Abschluß einer anständigen wissenschaftlichen Arbeit empfunden“.1 Das Bekenntnis liefert einen persönlichen Kommentar zu einer Schlüsselstelle der Rede Politikwissenschaft als Beruf, die er neun Monate zuvor in der Aula der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hielt: „Die alten großen Quellen des Enthusiasmus, der doch wohl das Beste am Menschen ist, der Gottesglaube und der Patriotismus, die Liebe zum Vaterland, sind weitgehend versiegt. Auch die Universität als Institution kann keine Leidenschaft mehr entzünden. Aber eines bleibt uns: die Wissenschaft, eine sich philosophisch [verstehende], das heißt frei machend[e], nicht utilitarisch oder positivistisch definierte Wissenschaft, kann noch immer ein neu quellender Fluß der Begeisterung sein.“2 Politikwissenschaft als Disziplin. Zum Weg der politischen Wissenschaft nach 1945. Wilhelm Hennis im Gespräch mit Gangolf Hübinger. Neue Politische Literatur, Jg. 44 (1999), S. 374. 1

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Das späte Bekenntnis ist der Fluchtpunkt meines Versuchs, Wilhelm Hennis zu verstehen. Er selbst hat dafür gehalten, daß es „auch dem Politikwissenschaftler“ möglich sein sollte, „in Herz und Seele der Menschen hineinzuschauen“.3 Ich bin kein Politikwissenschaftler. Aber ich hatte das Glück, diesen großen Mann über fast vier Jahrzehnte in der Nähe zu erleben, aus der Ferne zu sehen, mich mit ihm vielfältig auszutauschen und über den Wissenschaftler, den Bürger, den Menschen nachzudenken, der er war. Politik und praktische Philosophie sind die beiden Begriffe, unter denen Hennis antrat. Er machte sie zum Titel des einzigen Buches, das er als Buch schrieb, das nicht aus Vorträgen hervorging oder aus Aufsätzen zusammengestellt wurde, und das er viermal, in allen Phasen seiner Laufbahn als Hochschullehrer vorlegte: 1959 als Habilitationsschrift für das Fach Politische Wissenschaft an der Universität Frankfurt; 1963 als Professor an der Universität Hamburg in der von ihm und Hans Maier herausgegebenen Reihe Politica; 1977 ein zweites Mal als selbständige Veröffentlichung, jetzt um neuere Arbeiten erweitert, auf dem Höhepunkt seiner Wirksamkeit als Professor an der Universität Freiburg; 2000 schließlich als Emeritus im Rahmen seiner gesammelten Schriften zum politischen Denken. Politik und praktische Philosophie gehörte nicht nur „zu den entscheidenden Politikwissenschaft als Beruf. „Erzählte Erfahrung“ eines Fünfundsiebzigjährigen. Vortrag, gehalten am 5. Februar 1998 in der Aula der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, S. 26. Wiederabgedruckt in: Regieren im modernen Staat. Politikwissenschaftliche Abhandlungen I. Tübingen 1999, S. 412. 3 Max Weber und Thukydides. Nachträge zur Biographie des Werks. Tübingen 2003, S. 170. 2

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Programmschriften der nach 1945 neubegründeten deutschen Politikwissenschaft“, wie auf dem Umschlag der zweiten Auflage zu lesen steht. Es war zuallererst ein Werk der „Selbstverständigung“ des Autors, wie das Vorwort von 1977 festhält und Hennis in den letzten beiden Lebensjahrzehnten mehrfach bekräftigt hat. Tatsächlich handelte es sich bis zur späten Selbstauslegung im Spiegel der Max Weber-Interpretation um den für ihn wichtigsten Versuch, seine Position innerhalb des Dreiecks Bürger, Wissenschaftler, Mensch zu bestimmen. Der Untertitel Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft gibt den historischen Anlaß und den unmittelbaren Zweck des Buches an: Es ging um die Wiederherstellung der politischen Wissenschaft nach deren Auflösung. Die von Hennis diagnostizierte Auflösung und die von ihm intendierte Wiederherstellung betraf die politische Wissenschaft als praktische Wissenschaft. Unter einer praktischen Wissenschaft verstand Hennis 1959 und wird er bis ans Ende seines Lebens eine Wissenschaft verstehen, die Handelnde sowohl zu ihrem Gegenstand als auch zu ihrem Adressaten hat. Die emphatisch praktische Wissenschaft zielt auf Wirksamkeit. Sie soll die Handelnden nicht nur in ihrem Handeln leiten, sondern auch zum Handeln bewegen. Zumindest gilt dies für die politische Wissenschaft, die als praktische eine öffentliche Wissenschaft ist. Sie stellt sich in den Umkreis der Gesichtspunkte und Zwecke der Bürger, an die sie sich wendet. Sie nimmt deren Meinungen, Leidenschaften und Interessen auf, um sie zu prüfen, aufzuklären und der Beratung zugänglich zu machen. Sie setzt die bürgerliche Deliberation mit ihren Mitteln fort und speist ihre Resultate und Argumente wieder in sie ein. Sie begleitet die Entwicklung des Gemeinwesens nicht nur beobachtend oder distanziert betrachtend, sondern

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nimmt selbst an der Auseinandersetzung über dessen Kurs teil, in Kommentar und Kritik Stellung beziehend, Gefahren benennend und zum Einsatz für die Res publica ermutigend. Um dies angemessen tun zu können, muß die Verfassung des Gemeinwesens, der tatsächliche Zustand, in dem es sich befindet, und die Kräfte, die in ihm wirksam sind, ins Zentrum ihres Interesses rücken. Sie muß die Ordnung seiner Institutionen eingehend untersuchen und ihr Augenmerk auf die besonderen Umstände richten, die die Möglichkeiten des politischen Handelns bestimmen. Sie muß nicht zuletzt historisch informiert sein, um ihre Einsicht in die Bedeutung der maßgeblichen Potenzen und begrenzenden Circumstantien auf die konkrete Lage anwenden zu können und zu einem tragfähigen Urteil zu gelangen. Denn als praktische bewährt sich die politische Wissenschaft im verantwortlichen Urteil. Sie bedarf wesentlich der Urteilskraft, und sie dient im Falle des Gelingens der Erziehung der politischen Urteilskraft. Die praktische Wissenschaft scheint den Wissenschaftler mit dem Bürger im Wichtigsten in Einklang zu bringen. Nicht nur teilen beide die Sorge um das Wohl des Gemeinwesens, beide sprechen dem Handeln den unbedingten Primat zu. Das Plädoyer für die Rekonstruktion der politischen als praktische Wissenschaft machte die Habilitationsschrift von 1959 zur gültigen Programmschrift, wenn nicht für das Fach, so doch für die Wissenschaft, die Hennis sich im nächsten halben Jahrhundert leidenschaftlich angelegen sein ließ und die er weithin sichtbar öffentlich vertrat. Arbeiten wie Amtsgedanke und Demokratiebegriff, Rat und Beratung im modernen Staat, Motive des Bürgersinns, Aufgaben einer modernen Regierungslehre oder Zum Begriff und Problem des politischen Stils füllten die knapp umrissene praktische Wis-

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senschaft bald mit konkretem Gehalt. 1968, zu Beginn seines Freiburger Ordinariats, legte Hennis die Aufsätze und Vorträge, die seine inzwischen unverwechselbare Position in der deutschen Politikwissenschaft markierten, in seinem zweiten Buch vor. Der Titel, den er für die Sammlung wählte, Politik als praktische Wissenschaft, erneuerte den programmatischen Anspruch. Dem Anspruch der praktischen Wissenschaft, den er sich in seinem Buch von 1959 gleichsam auf den Leib geschrieben hatte, genügte Hennis als Wissenschaftler und als Bürger, und in Übereinstimmung mit der grundsätzlichen Ausrichtung der praktischen Wissenschaft tat er dies ohne scharfe Trennung der beiden Personae. Die Kritik, die der Bürger Hennis an der Amtsführung von Ludwig Erhard als Bundeskanzler übt, artikuliert der Wissenschaftler Hennis 1964 in einer konzisen Studie mit dem Titel Richtlinienkompetenz und Regierungstechnik. Auf Willy Brandts Forderung, die großen gesellschaftlichen Lebensbereiche zu demokratisieren, antwortet er 1970 mit der ideengeschichtlich ausholenden Publikation Demokratisierung. Zu einem problematischen Begriff. Auch die scharfen Angriffe auf Helmut Kohl, die zunächst dem Kanzler, dann dessen Erbe gelten, werden von der Leidenschaft des Bürgers wie der des Wissenschaftlers befeuert. Sie werden nicht nur in ungezählten Zeitungsartikeln und Interviews vorgetragen, sondern finden ihren Niederschlag ebenso in Untersuchungen zu tieferliegenden Fehlentwicklungen des Parteienstaats. Mit der späten Parteienkritik knüpft Hennis noch einmal an die Regierungslehre an, der in den 60er und der ersten Hälfte der 70er Jahre sein besonderes Interesse gegolten, in der er die ihm am meisten entsprechende Form der praktischen Wissenschaft gefunden und entwickelt hatte.

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Die Habilitationsschrift war die Programmschrift für Hennis’ praktische Wissenschaft. Doch in ihrem Titel ist nicht von praktischer Wissenschaft, sondern von praktischer Philosophie die Rede. Dieser Umstand verlangt unsere Aufmerksamkeit, meine und Ihre, wenn Sie mir bei dem Unterfangen, Wilhelm Hennis zu verstehen, folgen wollen. Warum tritt Hennis unter der Flagge Politik und praktische Philosophie an? Darauf gibt es eine praktisch-politische und eine mit ihr eng verschwisterte praktisch-persönliche Antwort. Mit der Berufung auf die praktische Philosophie suchte Hennis die wiederherzustellende politische Wissenschaft der Kraft und des Rückhalts einer ehrwürdigen Tradition zu versichern. Tatsächlich sollte sie in der beinahe altehrwürdigsten Tradition verankert werden, die erreichbar war, denn Hennis berief sich nicht auf die praktische Philosophie Hegels oder Kants, sondern auf die Philosophia practica der Aristoteliker, die der Disziplin der Politik ihren Ort im Verbund mit der Ethik und der Ökonomik zuwies. Angesichts des „Problems der deutschen Staatsanschauung“, das Hennis in einem seiner frühen Vorträge herausgestellt hatte, vergewisserte er sich bei einer mehr als zweitausend Jahre zurückreichenden europäischen Überlieferung. Im Rückgang auf Aristoteles bot er gegen Anstaltsstaat, Machtfixierung und Sozialtechnologie die Sozialfreundschaft der Bürger, die Ausrichtung an der Klugheit und die Erziehung zu den politischen Tugenden auf. Die Anknüpfung an die praktische Philosophie war das programmatische Antidot gegen die Traditionsvergessenheit des Faches, der er dessen Auflösung in Einzelforschung, das Ausweichen vor den zentralen Fragen, die zunehmende Verflachung in positivistischer Empirie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zuschrieb. Die Berufung auf die praktische Phi-

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losophie sollte anzeigen, daß die politische Wissenschaft die Fragen nach dem Zweck der Herrschaft, nach dem guten Leben, nach dem Gemeinwohl wieder in den Mittelpunkt zu stellen hatte. Zugleich ist der Begriff Chiffre einer persönlichen Neuorientierung, eines Unternehmens der Selbsterziehung. Den entscheidenden Anstoß zu diesem Unternehmen gab Leo Strauss, der auf der ersten Seite von Politik und praktische Philosophie als erster lebender Autor aufgerufen wird. Hennis hatte ihn 1952 in Chicago besucht. 1997 schrieb er mir im Rückblick auf die Begegnung mit Strauss, es hätte für ihn in den 50er Jahren „eigentlich nahe gelegen, daß ich in der Linie Weber, Smend, Erich Kaufmann einerseits, Otto Kirchheimer und Franz Neumann andererseits gleich auf ‚Government‘ oder ‚Regierungslehre‘ zugesteuert wäre. Es war Strauss als Person und ‚Naturrecht und Geschichte‘, die mir zunächst ein ‚Collegium Philosophicum‘ mit dem Ergebnis ‚Politik und praktische Philosophie‘ abforderten. So las ich mich in jenen Jahren durch den Kanon von Aristoteles bis Tocqueville durch … Ganz wesentlich durch Strauss ist mir doch auch ein wenig ‚philosophische‘ Frageradikalität eingeimpft worden.“ In einem anderen Brief spricht er von dem unvergleichlichen Eindruck, den die geistige Kraft „dieses Zaubermenschen“ auf ihn machte. Strauss war neben Jürgen Habermas und Bertrand de Jouvenel einer von drei Autoren, von denen Hennis in der Reihe Politica nicht nur ein, sondern zwei Bücher publizierte: 1963 die Übersetzung Über Tyrannis mit dem großen Dialog, den Strauss und Alexandre Kojève über die Politik der Philosophen miteinander führten, und 1965 die Erstveröffentlichung des deutschen Originals von Hobbes’ politische Wissenschaft, das 30 Jahre zuvor kein deutscher Verlag herauszubringen bereit gewesen war. Es

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war auch Hennis, der mit Carl Friedrich von Weizsäcker und Wolfgang Wieland die Initiative ergriff, Strauss 1965 für ein Semester als Professor der Philosophie an der Universität Hamburg nach Deutschland zurückzubringen. Ein Vorhaben, das schließlich an Strauss’ fragilem Gesundheitszustand scheiterte. Der philosophische Stachel, den die Begegnung mit Strauss hinterließ, oder der starke Impuls, den er aus ihr empfing, sich mit dem philosophischen „Kanon“ zu befassen, wirkte darin fort, daß Hennis dem Begriff der praktischen Philosophie in der Habilitationsschrift den Vorzug vor dem der praktischen Wissenschaft gab. Angesichts des Eindrucks, den Strauss in jener Zeit auf Hennis machte, ist indes die Differenz zu Strauss, die die Wahl des Titels anzeigt, noch kennzeichnender und für uns aufschlußreicher. Denn Strauss spricht nicht von praktischer Philosophie, einer Bereichsphilosophie, sondern von Politischer Philosophie, ein Begriff, den er, abweichend von der Tradition, in die philosophische Diskussion einführte und der aufs Ganze geht. Praktische Philosophie oder Politische Philosophie – daß es sich hier nicht um geringfügige Akzentverschiebungen oder nachrangige Subtilitäten handelte, war Hennis bewußt. Über Jahrzehnte sollte es ein nicht unwichtiger Teil seiner öffentlichen Existenz sein, als Hüter der Begriffe seine Stimme zu erheben. Daß die Politische Philosophie wesentlich der Begründung und Verteidigung der Philosophie und der Selbsterkenntnis des Philosophen dient, mochte Hennis auf sich beruhen lassen, da er sich als Bürger und Wissenschaftler, nicht als Philosoph verstand. Daß die Politische Philosophie sich in eins damit auf eine denkbar grundsätzliche Auseinandersetzung, auf die Kritik von Politik, Moral und Religion konzentriert, entsprach aber gewiß nicht seinem Pro-

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gramm. Hennis’ Wahl der praktischen Philosophie als frühem Leitbegriff gewinnt deutlichere Konturen im Kontrast, in Rücksicht auf die Konzeption, von der er sich absetzt. Nicht anders steht es mit dem „Kanon“ von Aristoteles bis Tocqueville, der vier der wichtigsten Dialogpartner von Strauss ausspart: am einen Ende Platon und Xenophon, am anderen Nietzsche und Heidegger. Nietzsche wird er ein halbes Menschenalter später als Anreger Max Webers für sich entdecken. Praktische, nicht Politische Philosophie – darin stimmte Hennis mit einer breitgefächerten Strömung überein, die in der Geistesgeschichte der Bundesrepublik Deutschland tiefe Spuren hinterlassen hat. Die akademischen Schulen von Joachim Ritter in Münster und von Hans-Georg Gadamer in Heidelberg ragten in ihr hervor, und ihre repräsentative Darstellung fand sie in zwei umfangreichen Bänden, die Manfred Riedel 1972 – 1974 unter dem Titel Rehabilitierung der praktischen Philosophie herausgab. Hennis steuerte zu der Sammlung keinen Aufsatz mehr bei. Aber er war einer der ersten, die sich die spät proklamierte Rehabilitierung zu eigen gemacht hatten, und zweifellos ihr bedeutendster Fürsprecher in der deutschen Politikwissenschaft. Die unterschiedlichen Ansätze der Rehabilitierung der Praktischen Philosophie trafen sich in der Bezugnahme auf Aristoteles, wenngleich der Münsteraner Aristoteles mit Hegel historisch überboten wurde, der Heidelberger im Horizont Heideggers zu stehen kam und Hennis mit der scharfen Wendung der Praxis gegen die Theorie Aristoteles in der wichtigsten Rücksicht Edmund Burke anverwandelte. Gemeinsam blieb ihnen der Verweis ethischer Fragen an den Phronimos bzw. der Versuch, unmittelbar an die Sittlichkeit der Lebenswelt und die Vernünftigkeit der bestehenden Institutionen anzuschließen. Was sie ver-

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band, war das Bestreben, die politische Ordnung zu kräftigen, die Bürger vor dem Einfluß moderner Sophistik zu schützen, den Common sense gegen die Angriffe von Ideologen zu verteidigen. Von Anfang an sahen sie sich geeint in der Abwehr des Szientismus. Hennis trat für diesen Kernbestand der zeitgenössischen Praktischen Philosophie mit dem Mut, mit dem Ernst und mit dem Einfallsreichtum ein, die ihn als Bürger, Mensch und Wissenschaftler auszeichneten. Die Habilitationsschrift war eine unerschrockene Kampfansage an den Szientismus. Gegen einen Methodenanspruch und eine Exaktheitsforderung, die sich am Vorbild der Naturwissenschaften orientieren, versuchte sie – Gadamers Wahrheit und Methode lag noch nicht vor –, die Topik, die rhetorische Lehre von den Gesichtspunkten und Argumenten, die für die angemessene Beurteilung einer Sache oder die fruchtbare Verhandlung einer Streitfrage in der Deliberation durchzugehen sind, in Stellung zu bringen, um die Zuständigkeit der Wissenschaft für die wirklichen Streitfragen zu retten. Die Kritik des Szientismus zieht sich durch das ganze Œuvre, so wie die Apologie des Common sense und die Ausrichtung an der Klugheit des Staatsmanns zu seinen Konstanten zählen. Die Bemühungen zur Topik hat Hennis dagegen nicht weitergeführt, sei es, daß er sie für wenig aussichtsreich, sei es, daß er sie für unnötig hielt. Möglicherweise erschien ihm im nachhinein schon der frühe Ansatz als zu „theoretisch“, d. h. als ein zu großes Zugeständnis an die Erwartung einer Art Grundlegung. Tatsächlich verstärkten sich seine Vorbehalte gegen alle „Theorie“ bis zur Aversion. Sie trennte ihn von den anderen Fürsprechern der Praktischen Philosophie. Kaum einer wäre etwa so weit gegangen, die Frage nach der Moral mit der Antwort zu bescheiden, die Moral sei das,

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was sich von selbst versteht. Hier war der Wissenschaftler um den Preis seines Verstummens mit dem Bürger in Einklang gebracht. Die durchgängige Ausrichtung am Bürger und mithin die ständige Rücksicht auf das politische Gemeinwesen gehört zu Hennis’ Signatur innerhalb der Praktischen Philosophie. Er war deren politischster, politisch engagiertester und politisch präsentester, Proponent. Es entsprach seinem Naturell wie seinem Selbstverständnis als praktischer Wissenschaftler, daß er die Kernpositionen der ihrem theoretischen Zuschnitt nach defensiven Strömung offensiv vertrat, zu den Forderungen des Tages pointiert Stellung beziehend, mit wacher Aufmerksamkeit für frühzeitig sich abzeichnende Fehlentwicklungen in der Ordnung der Institutionen und mit einer besonderen Witterung für Gefahren in den Veränderungen des Meinungsklimas, die er an unbedacht verwendeten Redeweisen wie an strategisch eingesetzten Begriffen aufzuzeigen wußte. Seine Warnung vor der „deutschen Unruhe“ in den 60er Jahren, seine Kritik der „mißverstandenen Demokratie“, sein Eintreten für die in Fächer gegliederte Universität und der Kampf gegen ihre Ideologisierung sind hier zu nennen. Desgleichen die mit Peter Graf Kielmannsegg und Ulrich Matz vorgelegten Untersuchungen der 70er Jahre zur „Regierbarkeit“. Als Hennis die Einladung annahm, auf der „Legitimationsprobleme politischer Systeme“ überschriebenen Jahrestagung der Vereinigung für politische Wissenschaft in Duisburg im Oktober 1975 den Eröffnungsvortrag zu halten, ergriff er die Gelegenheit, dem, was er als die Sophistik der Zeit verstand, die Stirn zu bieten, innerhalb des eigenen Faches, doch der Beachtung einer weit dar-

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über hinausreichenden Öffentlichkeit gewiß. Der Legitimitäts-Vortrag von 1975 brachte den Wissenschaftler und den Bürger noch einmal zusammen, wie es der Programmschrift von 1959 entsprach. Der Wissenschaftler und der Bürger redeten mit einer Stimme. Hennis erklärte ausdrücklich, die Legitimität der Herrschaft als eine historische Kategorie „gegen alle wissenschaftlichen Versuche der Umfunktionierung verteidigen“ und ebendamit dem „Ausstellen des Totenscheines für die Form freiheitlich-demokratisch-legitimer Herrschaft, wie sie die Neuzeit entwickelt hat“, wehren zu wollen.4 Wissenschaftlich erreichte der Vortrag seinen Höhepunkt in der Erläuterung dreier maßgeblicher Legitimationsfaktoren, die Hennis in Anlehnung an seinen Lehrer Rudolf Smend unterschied, einer Trias, in der der Legitimierung durch persönliche Autorität die Führung zukam, gefolgt von der Legitimierung kraft der zu leistenden Aufgabe und der Legitimierung durch Strukturen, die die Herrschaft begrenzen und Zustimmung sichern. Politisch hatte das Referat, unabhängig von der erschließenden Kraft seines Beitrags zur „Systematik der Legitimationsfaktoren“, den Sinn, die Delegitimierung der politischen Herrschaft durch Wissenschaft, das Ausspielen materialer gegen formale Gehalte der Legitimität, den Krisenalarmismus der intellektuellen Debatte zurückzuweisen. Das Gemeinwesen war vor „Theorie“ zu schützen. Daß Habermas in seinem Korreferat nicht die Positionen vortrug, die Hennis nach dem zwei Jahre zuvor erschienen und damals großes Aufsehen erregenden Buch Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus erwartet hatte, tat Legitimität. Zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, in: Politikwissenschaft als politisches Denken. Politikwissenschaftliche Abhandlungen II. Tübingen 2000, S. 288 – 289. 4

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dem keinen Abbruch. Ich kann darauf nicht näher eingehen. Nachdem der Rauch des Duisburger Aufeinandertreffens lange verweht ist, will ich indes anmerken, daß im Licht der Schriften, die die beiden Wissenschaftler in den Jahrzehnten danach vorgelegt haben, Hennis und Habermas mehr verbindet, als ihnen in den scharfen politischen Auseinandersetzungen der 70er Jahre vor Augen gestanden haben mag und manchem Beobachter bis heute vor Augen steht. Ich beschränke mich auf den wichtigsten Punkt, der unmittelbar zu meinem Thema gehört: den unbedingten Primat der praktischen Vernunft, bei Habermas im Rückgang auf Kant, und die Gemeinsamkeiten, die sich in Rücksicht auf die Haltung zu Moral und Religion für beide daraus ergeben. Ein integrierender Bestandteil von Hennis’ Position innerhalb der Praktischen Philosophie ist schließlich seine scharfe Kritik des Glaubens an die technische Machbarkeit. Früh wies er auf Friedrich Wagners Werk Die Wissenschaft und die gefährdete Welt von 1962 hin, und er war einer der ersten, die Das Prinzip Verantwortung allenthalben empfahlen. Hennis hatte während der Zeit seiner Theodor Heuss Gastprofessur an der New School for Social Research in New York 1977 – 1978 als Zimmernachbar von Hans Jonas die Endphase der Entstehung des späteren Bestsellers miterlebt und Jonas unmittelbar nach Erscheinen des Buches 1979 an die Universität Freiburg eingeladen. Er sah in Jonas einen Mitstreiter gegen das, was ihm als äußerster Ausdruck menschlicher Hybris erschien: „Verantwortung“ für Folgen übernehmen zu wollen, die alles menschliche Maß übersteigen und tatsächlich durch niemanden zu verantworten sind. Lange bevor der erste Sarkophag von Tschernobyl errichtet werden mußte, galt Hennis’ Sorge lebensgefährlichen Särgen auf und Behältern mit

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strahlendem Material unter der Erde, die für unvorstellbare Zeiträume zu verwahren bzw. zu bewachen wären. Die Ent-Sorgung war der harte Kern, der seinen Widerstand gegen die Nukleartechnologie auf den Plan rief und ihn nicht nur im nahegelegenen Wyhl entschieden Partei ergreifen ließ. Der Bogen spannt sich dabei in einer für den praktischen Wissenschaftler Hennis charakteristischen Weite vom politischen Votum in Artikeln oder Fernseh- und Rundfunkgesprächen über die Anregung zu Hasso Hofmanns großem Rechtsgutachten von 1981, der 400 Seiten starken Monographie Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, bis zur Beschäftigung des Spätwerks mit der Sorge in Faust II und dem Vorhaben, eine Kritik der poietischen oder projektierenden Vernunft zu schreiben. Hennis hat diese Kritik nicht geschrieben, aber eine knappe Skizze dazu in seinem Aufsatz Die Vernunft Goyas und das Projekt der Moderne geliefert. Der Leser, der sieht, was Hennis Goyas Capricho 43 abgewinnt, kann sich ein Bild machen, weshalb ich von Mut, Ernst und Einfallsreichtum gesprochen habe. Auf die Frage im Proustschen Fragebogen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach seiner Lieblingsbeschäftigung antwortete Hennis: „Mir etwas einfallen zu lassen.“ Anfang der 80er Jahre beginnt für Wilhelm Hennis etwas Neues. Das Œuvre konzentriert sich mit einer Eindringlichkeit und Beharrlichkeit auf einen Denker, die in Erstaunen setzen. Nicht über Nacht, doch aufs Ganze gesehen kommt es zu einem Bruch in der praktischen Wissenschaft, wie Hennis sie bisher übte. Am Ende steht die erklärte Abkehr von der Philosophie. Man kann die Wendung, die Hennis im nächsten Vierteljahrhundert vollzieht, eine heroische heißen. Ich möchte sie eine glückliche nennen.

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Wer Hennis in den 70er Jahren kannte, hätte kaum für möglich gehalten, daß der Meister der bündigen Rede und des dichten Aufsatzes, der eine Sache anpackte, um sie abzuschließen und sich der nächsten zuzuwenden, daß der öffentliche Professor, der zu großer Form auflief, wenn er sich durch ein aktuelles Ereignis oder eine brisante Entwicklung unmittelbar gefordert sah, daß dieser unruhige Geist, der den überraschenden Vorstoß liebte und um Ideen, Skizzen, Pläne nie verlegen war, sich für mehr als zwei Dekaden dem Werk eines Mannes verschreiben würde. Daß es, wenn überhaupt, das Werk von Max Weber sein könnte, war schon weniger unwahrscheinlich. Denn Hennis hatte sich in seinen Schriften seit langem mit Weber befaßt. Die Bezugnahmen waren zu einem Gutteil kritisch, was er später auf den Einfluß seines Göttinger Mentors und den Eindruck zurückführte, den die Weber-Kritik in Natural Right and History auf ihn gemacht hatte, eine Kritik, von der er sich abwenden, die er aber immer in seinem Rücken behalten sollte. Im Duisburger Legitimitäts-Vortrag ist die Weber-Kritik prominent, und in den Seminaren, die der Vorbereitung des Vortrags dienten, war sie noch weit schärfer ausgefallen. Aus New York zurückgekehrt, beginnt Hennis, Weber neu zu lesen. Er liest ihn mit anderen Augen und entdeckt einen anderen Weber. Ein, zwei, vielleicht drei Aufsätze, um die neue Lesart vorzustellen und die frühere Sicht zu berichtigen – das Kapitel wäre zu schließen, könnte man meinen. Doch Hennis wird Dutzende von Aufsätzen und Artikeln schreiben, die am Ende drei eigene Bände zu Weber füllen und beinahe die Hälfte seines wissenschaftlichen Œuvre ausmachen. Auf dem Weg dahin vertieft er sich nicht nur in die Tausende Seiten umfassenden Schriften und Korrespondenzen Webers.

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Er unternimmt ausgedehnte Forschungen zum Umfeld und zur Genesis von Webers Werk. Er wird zum Philologen, zum Historiker, zum Biographen, besucht Archive, kümmert sich um entlegene Einzelheiten, folgt verwischten Spuren. Für Weber wird sogar Nietzsche aus dem politischen „Giftschrank“ geholt, in dem er bis Anfang der 80er Jahre verschlossen war, und beschert Hennis jetzt, wie er bekennt, „das stärkste intellektuelle Erlebnis seit Jahrzehnten“. Wie ist diese späte Liebe zu Max Weber zu verstehen? Hennis sieht in Weber, was er selbst im Herzen trägt. Mit dem Motto, das er der ersten Präsentation des neuen, seines Weber voranstellt, weist Hennis auf die Geistesverwandtschaft hin, deren er jenseits der Lebensmitte gewahr wird. Sie ist die Grundlage der symbiotischen Beziehung, die das Spätwerk mit dem Werk Webers eingeht, und die Voraussetzung, daß die Weber-Auslegung für Hennis zum Medium der Wahl seiner Selbstbestimmung und Selbsterklärung werden kann. Die Lebensführung, die er als das einheitsstiftende Thema Webers erkennt, war bereits ein zentrales Thema der Habilitationsschrift, die, wie wir gesehen haben, die Frage nach dem guten Leben herausstellte. Auch der Begriff „Lebensführung“ kommt in ihr wiederholt vor. In der Tat macht Hennis Weber jetzt ausdrücklich zum Repräsentanten ebender praktischen Wissenschaft, die er 1959 zu restituieren suchte und in der Weber damals kein Ort eingeräumt wurde. Hennis erhebt Weber zum „letzten Klassiker“, was bedeutet, daß die Konzentration auf ihn als das Ende der großen Tradition die Verhandlung der Tradition einbegreift und für Hennis faktisch an deren Stelle zu treten vermag: Ein moderner Autor, der gleichsam in sich, in seiner Person und seinem Werk, versammelt, was jene Tradition uns zu sagen hat. Mit dem Vorzug, daß er

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im Unterschied zu seinen Vorgängern weithin über unsere Wirklichkeit spricht oder, um die von Hennis besonders geschätzte Formulierung aufzugreifen, „die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart“ zu verstehen sucht. Der modernste Klassiker, der uns ganz nah ist oder nah sein sollte, ist zugleich höchst unzeitgemäß. Denn seit Jahrzehnten wird er weltweit als Klassiker der soziologischen Theorie rezipiert, eine Rezeption, welche die Fragestellung in Vergessenheit geraten ließ, die Weber leitete, und welche ihm das Thema nahm, das uns angeht. So wird der Kampf um die Tradition der praktischen Wissenschaft für Hennis zu einem Kampf um Weber. In diesem Kampf kann er seinen wichtigsten Intuitionen folgen. Er knüpft an früher erworbenes Wissen und lange Erfahrung an. Was ihn seit einem Vierteljahrhundert bewegte, schießt zusammen: die Kritik des Szientismus, die Zurückweisung der Theorie, die Opposition gegen die herrschende Sophistik. Wenn Weber zum Kristallisationskern alles dessen wird, was Hennis umtreibt, ist das Agonale ein wichtiges Moment. Webers Kampf um die praktische Wissenschaft, wie Hennis ihn versteht, bietet ein Gegenstück zum eigenen Kampf, und in Webers Streit mit der politischen Klasse seiner Zeit kann Hennis unschwer den Streit wiedererkennen, den er selbst führt. Doch das Agonale ist nicht das wichtigste Moment. Am wichtigsten wird Weber für Hennis um der Verbindung von „Einsicht und Leidenschaft“ willen, die er in sich spürt, nach der er strebt und die er in Weber wie in keinem anderen wiederfindet, mit dessen Schriften er sich in seinem Leben genauer befaßt hat. Weber wird für ihn die Verkörperung von Einsicht und Leidenschaft. Das vor allem macht ihn zur Identifikationsfigur. Es begründet seinen Rang als Erzieher, in den

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Hennis ihn mit seiner Auslegung für die Gegenwart und für zukünftige Generationen einsetzt. Die drei Aufsatzsammlungen, Max Webers Fragestellung, Max Webers Wissenschaft vom Menschen, Max Weber und Thukydides von 1987, 1996 und 2003, durch die Hennis seinen Namen mit dem Webers verbunden hat, sind in diesem Sinne Teil eines gemeinsamen Werks der Erziehung. Die Einsicht und Leidenschaft, von der Hennis, den Titel eines Buches von Gerhard Krüger über Platons Symposion aufgreifend und sich aneignend, spricht, verweist nicht mehr auf den philosophischen Eros und die Erkenntnis des besten Lebens, sondern gewinnt ihre konkrete Gestalt in Webers Vorbild von Nüchternheit und Augenmaß, von Einsatz und Hingabe. Gegen den Platonischen Aufschwung zu den ewigen Problemen und alles, was ihm als Erdenflucht erscheint, setzt Hennis das Ausharren in der entzauberten Welt und die Webersche Beschäftigung mit den Problemen der modernen Kultur. „Einsicht und Leidenschaft“ wird zur Formel einer letzten Apologie des tätigen Lebens, für das Hennis von Anbeginn an mit Entschiedenheit Partei nahm. Platon hatte ihn nie versucht, und bei den Philosophen, die ihn in den 50er Jahren beeindruckten, von Aristoteles bis Strauss, blieb ihm die Kritik des politischen Lebens immer fremd und fern. Er schätzte den Citoyen de Genève, nicht den Promeneur Solitaire. Soviel zu dem, was sich bis zuletzt durchhält. Was sich ändert, ist der Zugang, ist die Behandlung der Vita activa. Wurde der praktischen Wissenschaft zuvor die Erörterung der Zwecke als vornehmste Aufgabe zugesprochen, so geht es jetzt um das Aufzeigen letzter Haltungen. Die Lebensführung ist das Thema, aber die Zwecke, an denen sich die richtige Lebensführung aus-

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richten kann und bemessen soll, wandern in die Randbedingungen. Sie werden den historischen Voraussetzungen zugeschlagen, wo nicht zu einer Sache der Erinnerung. Im Gegenzug liegt die Betonung auf der Härte der Wahl, auf der Tapferkeit, die die Ausgesetztheit dem Redlichen abverlangt. In einem seiner leidenschaftlichsten und hellsichtigsten Aufsätze zu Weber erklärt Hennis, der „Sinn der Wertfreiheit“ des Wissenschaftlers bestehe „einzig darin, den Problemen selbst, dem Kampf der ‚Götter‘ unbeirrt und unbewehrt ins Antlitz schauen zu können – so daß der einzelne in voller Verantwortung wählen kann und wählen muß“.5 In Hennis’ Einkehr bei Weber kommt eine Aporie der Praktischen Philosophie zum Ausdruck, die zu dieser Einkehr wesentlich beigetragen hat: Der Verweis an den Phronimos verliert seine orientierende Kraft, wenn keine Übereinstimmung mehr herrscht, wer als Verkörperung der Phronesis überhaupt in Betracht kommt, wenn die Moral nicht länger als das gelten kann, was sich im Grunde von selbst versteht, wenn die Lebensführung angesichts einander unversöhnlich widerstreitender Alternativen zutiefst fragwürdig wird. Als Hennis sich in Politik und praktische Philosophie mit der Tradition befaßte, tat er dies prospektiv, um für eine praktische Wissenschaft Raum zu schaffen, die die zentralen Fragen des Bürgers und des Menschen zu ihren Fragen und den Streit über sie zu ihrer Sache machen sollte. Wenn er sich zwei Jahrzehnte danach abermals der Tradition zuwendet, um Weber als ihren späten Repräsentanten zu zeigen, ist der Akzent retrospektiv. Die Aufmerksamkeit gehört dem praktischen Wissen5 Der Sinn der Wertfreiheit, in: Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Tübingen 1996, S. 171.

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schaftler, doch der Zugang ist historisch. Hennis sagt von Weber, Lebensführung sei bei ihm „gebunden an eine Welt, die noch durch Stände bestimmt wird“, er stehe „am Rande der alten und der neuen Welt“.6 Ein Klassiker wird geborgen, aber der Bergung wohnt das Wissen des Verlusts, des Schwindens der Bestände inne. Der Klassiker stellt keinen Aufbruch in Aussicht. Er mahnt den Bürger zum Standhalten. Für den Wissenschaftler und Menschen bedeutet die schließliche Entdeckung des Klassikers gleichwohl eine glückliche Wendung. Die Entdeckung führt zu einer wahren Bereicherung und Vertiefung seines Lebens. Ohne eine solche intensiv empfundene Bereicherung und Vertiefung hätte Hennis nicht ein Vierteljahrhundert in der Gesellschaft Webers verbracht. Im Studium Webers erlebt er eindrücklicher als je zuvor die Freude des Verstehens, oder präziser gesprochen: die Freude, die mit dem Bewußtsein einhergeht, im Verstehen Fortschritte zu machen, die Erfahrung, bei nicht nachlassender Anstrengung am gleichen Ort ungeahnte Schätze heben, bei unverminderter Wachheit demselben Gegenstand immer neue Seiten abgewinnen zu können. Die Auseinandersetzung mit dem Denken Webers und mit der Sache, auf die das Denken sich bezieht, bewirkt eine Vertiefung, die an ihr selbst wichtiger wird als alle im einzelnen vorzeigbaren Resultate. Das Glück der Erkenntnis erweist sich als wichtiger denn der Ertrag, der ihr für das Handeln beschieden oder nicht beschieden sein mag. Am Ende sind die Aktivitäten des Erkennens und Verstehens wichtiger als die Zwecke des aktiven Lebens, in deren Dienst sie zur Entfaltung kommen. Und ein Letztes: In der ernsten Beschäftigung mit Weber begegnet Hennis einem 6

Politikwissenschaft als Disziplin, S. 376 – 377.

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Lehrer, der für ihn nicht so sehr durch seine Lehren als durch das, worauf er die eigene Aufmerksamkeit lenkt, wichtig wird. Das ist großen Lehrern gemeinsam. Wilhelm Hennis war einer von ihnen.

Über den Autor Heinrich Meier, geboren 1953 in Freiburg i. Br., studierte Philosophie, Politische Wissenschaft und Soziologie in Freiburg i. Br. Promotion 1985. Seit demselben Jahr leitet er die Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München. Seit 1999 lehrt er als Honorarprofessor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und seit 2008 als ständiger Visiting Professor am Committee on Social Thought der University of Chicago. Er war Georges Lurcy Professor der University of Chicago (2000) und Gastprofessor am Boston College (2003). 2005 wurde er mit der Leibniz-Medaille der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet und 2011 zum Ehrensenator der Humboldt-Universität zu Berlin ernannt. Buchveröffentlichungen: Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’inégalité / Diskurs über die Ungleichheit. Kritische Edition mit deutscher Übersetzung und ausführlichem Kommentar, Paderborn 1984, 6. Aufl. 2008. Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff des Politischen“. Zu einem Dialog unter Abwesenden, Stuttgart 1988, 3., durchgesehene und erweiterte Aufl. 2013 (französisch 1990, japanisch 1993, amerikanisch 1995, chinesisch 2002, spanisch 2008, italienisch 2011, russisch 2012). Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, Stuttgart / Weimar 1994, 4., durchgesehene Aufl. 2012 (amerikanisch 1998, chinesisch 2004, italienisch 2013, französisch 2013). Die Denkbewegung von Leo Strauss. Die Geschichte der Philoso-

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Über den Autor

phie und die Intention des Philosophen, Stuttgart / Weimar 1996 (chinesisch 2002, amerikanisch 2006, französisch 2006, spanisch 2006). Warum Politische Philosophie? Stuttgart / Weimar 2000, 2. Aufl. 2001 (chinesisch 2001, amerikanisch 2002, französisch 2006, spanisch 2006, japanisch 2010). Das theologisch-politische Problem. Zum Thema von Leo Strauss, Stuttgart / Weimar 2003 (chinesisch 2004, französisch 2006, spanisch 2006, japanisch 2010). „Les rêveries du Promeneur Solitaire“. Rousseau über das philosophische Leben, München 2005, 2. Aufl. 2008 (chinesisch 2006, japanisch 2008, amerikanisch 2010, französisch 2010). Was ist Politische Theologie? – What Is Political Theology? München 2006 (italienisch 2000, chinesisch 2002, polnisch 2003, französisch 2008, spanisch 2008). Leo Strauss and the TheologicoPolitical Problem, Cambridge, Mass. 2006, 7. Aufl. 2008. Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus „Rêveries“ in zwei Büchern, München 2011 (chinesisch 2013). Politische Philosophie und die Herausforderung der Offenbarungsreligion, München 2013 (chinesisch 2014). Er ist Herausgeber der Gesammelten Schriften von Leo Strauss, Stuttgart / Weimar 1996 ff. (bisher 3 Bände).