Poetische Selbstautorisierung in der Frühen Neuzeit: Denkvoraussetzungen und Modelle 9783110686609, 9783110686531

Using the example of Italian, French, Catalan and German authors from the fourteenth to the seventeenth centuries, this

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Poetische Selbstautorisierung in der Frühen Neuzeit: Denkvoraussetzungen und Modelle
 9783110686609, 9783110686531

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
. . . ritornerò poeta . . . Einleitende Überlegungen zu Herausbildung und Funktion poetischer Selbstautorisierung bei Dante und Petrarca
Petrarcas cantio cum auctoritate (Canzoniere LXX)
Petrarcas Trionfi als Versuch poetischer Selbstermächtigung gegen Dante
Autorität und Nachfolge: Zur enzyklopädischen Dichtung post Dantem (Fazio degli Uberti, Federico Frezzi, Giovanni Gherardi da Prato)
Der Historiograph als ‚acteur‘: Strategien der Selbstlegitimierung und Selbstautorisierung bei Jean Froissart
Novation und Autorität: Indizien poetischer Selbstautorisierung im Werk Hugos von Montfort
Vom Franziskanermönch zum Universalgelehrten: Selbstautorisierung bei François Rabelais
«Sono io che parlo [. . .] / De voce umana m’ha la doglia privo»: Autorisierung im Schmerz bei Panfilo Sasso
Expansive Sodalität und singuläre Individualität als Autorisierungsstrategien bei Louise Labé
Idee der Lyrik und Poetik der Lust: Der autocommento von Torquato Tassos rime amorose als Instrument der Selbstkanonisierung
Selbstautorisierung auf der barocken Bühne: Auktoriale Figurationen bei Francesc Fontanella

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Poetische Selbstautorisierung in der Frühen Neuzeit

Poetische Selbstautorisierung in der Frühen Neuzeit Denkvoraussetzungen und Modelle Herausgegeben von David Nelting und Rosemary Snelling-Gőgh

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung

ISBN 978-3-11-068653-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-068660-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-068674-6 Library of Congress Control Number: 2020942825 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: Gemäldeausschnitt: János Gőgh: Mennyei babérkoszorú/Himmlischer Lorbeer (2019) © Rosemary Snelling-Gőgh Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis David Nelting . . . ritornerò poeta . . . Einleitende Überlegungen zu Herausbildung und Funktion poetischer Selbstautorisierung bei Dante und Petrarca Andreas Kablitz Petrarcas cantio cum auctoritate (Canzoniere LXX)

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Bernhard Huss Petrarcas Trionfi als Versuch poetischer Selbstermächtigung gegen Dante 85 Florian Mehltretter Autorität und Nachfolge: Zur enzyklopädischen Dichtung post Dantem (Fazio degli Uberti, Federico Frezzi, Giovanni Gherardi da Prato) 121 Michael Schwarze Der Historiograph als ‚acteur‘: Strategien der Selbstlegitimierung und Selbstautorisierung bei Jean Froissart 141 Lena Oetjens Novation und Autorität: Indizien poetischer Selbstautorisierung im Werk Hugos von Montfort 163 Lars Schneider Vom Franziskanermönch zum Universalgelehrten: Selbstautorisierung bei François Rabelais 203 Folke Gernert «Sono io che parlo [. . .] / De voce umana m’ha la doglia privo»: Autorisierung im Schmerz bei Panfilo Sasso 219 Rosemary Snelling-Gőgh Expansive Sodalität und singuläre Individualität als Autorisierungsstrategien bei Louise Labé 243

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Inhaltsverzeichnis

Gerhard Regn Idee der Lyrik und Poetik der Lust: Der autocommento von Torquato Tassos rime amorose als Instrument der Selbstkanonisierung 277 Josep Solervicens Selbstautorisierung auf der barocken Bühne: Auktoriale Figurationen bei Francesc Fontanella 305

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. . . ritornerò poeta . . . Einleitende Überlegungen zu Herausbildung und Funktion poetischer Selbstautorisierung bei Dante und Petrarca

0 In der frühneuzeitlichen Nachahmungspoetik ist die Autorität eines Textes oder eines Werks Gegenstand vielfältiger Diskussionen in Kommentaren, Ausgaben, Dialogen usw. Diese Tatsache ist wohlbekannt: poetische Autorität ist nicht gegeben, sondern Effekt aktiver, teils dialogischer, teils assertorischer Zuschreibungen. Bekannt ist auch, dass von der mittelalterlichen Tradition des accessus an aufwärts die Durchsetzungskraft, die Autorität eines Textes nicht zuletzt von der Konstruktion von Autorfiguren als Verkörperungen der in den betreffenden Werken enthaltenen moralischen, philosophischen oder historischen Werte und Lehren (doctrina) abhängt. Hierzu hat insbesondere die neuere Forschung eine Reihe schlagender Beispiele – insbesondere die für das Verständnis des umanesimo volgare1 kruziale Autorisierung Petrarcas – untersucht.2 Ein bislang weniger behandeltes Verfahren der Zuschreibung poetischer Autorität stellt freilich das Feld der dichterischen Selbstinszenierung dar. Damit ist gemeint, dass zahlreiche Dichter versuchen, sich selbst in ihren eigenen Texten als lebensweltliche, moralisch handelnde und dichterisch produktive Persönlichkeiten ihren Leserinnen und Lesern zu empfehlen, sich selbst als gegenwärtige und künftige Autoritäten in Anschlag zu bringen. Während ein accessus, ein Kommentar oder eine Akademievorlesung aus der Außenperspektive Dichterpersönlichkeiten als Autoritäten sozusagen «herzustellen» trachten, hat man es hier damit zu tun, dass Dichter bereits in ihren eigenen Texten ein auktoriales Selbst modellieren, welches die eigene dichterische Leistung präsent machen soll.

1 Zu dem Problemfeld des umanesimo volgare cf. wegweisend Toffanin (1965). 2 Cf. z.B. Kablitz (1999a, 127–157); Huss/Neumann/Regn (2004); Regn (2004a); Mehltretter (2009); Busjan (2012). Anmerkung: Die nachstehenden Zeilen greifen teilweise bereits andernorts im Rahmen des von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Projekts «Singularisierung – Sodalisierung. Poetische Selbstautorisierung in der italienischen und französischen Literatur der Frühen Neuzeit» formulierte Überlegungen auf (Nelting 2011, 188–215; 2014, 1–24; 2015a, 359–376; 2015b, 74–95). https://doi.org/10.1515/9783110686609-001

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Systematisch lassen sich solche vormodernen Selbstinszenierungen von Dichtern als Autorpersönlichkeiten im eigenen Text grob auf zwei Funktionen ausrichten. Erstens kann die Selbstinszenierung als Autorpersönlichkeit in Situationen eines äußeren Drucks, dem sich der Autor stellen muss, rechtfertigenden Charakter haben – zu denken wäre etwa an lebensweltlichen Rechtfertigungsdruck in Hinblick auf moralische Positionen oder an poetologischen Druck in Hinblick auf Gattungsverstöße oder -neuerungen. Selbstinszenierungen dienen in solchen Fällen zunächst der Selbstlegitimierung. Zweitens kann eine Selbstinszenierung als machtvolle Autorfigur selbstautorisierende Funktionen haben. Selbstautorisierungen durch Selbstinszenierung können dabei, dies dürfte auf der Hand liegen, auf vorgeordnete Selbstlegitimierungen aufsatteln oder, falls Selbstlegitimierungen nicht erforderlich sind (oder als nicht nötig erscheinen sollen), unmittelbares Ziel der dichterischen Selbstinszenierung sein. In jedem Fall aber stellen dichterische Selbstinszenierungen zur Selbstautorisierung eine grundsätzliche Herausforderung regelpoetischen Autoritätsdenkens dar, denn wenn sich ein Dichter selbst als Autorität der gegenwärtigen und zukünftigen Nachahmung inthronisiert oder zumindest zu inthronisieren versucht, dann setzt er ein ganz wesentliches Geltungsargument der imitatio veterum außer Kraft: die Anciennität des Vorbilds, das ehrwürdige Alter der Autorität, die vetustas von Werken, Autoren oder Gattungen, welche bekanntermaßen sowohl im mittelalterlichen als auch im frühneuzeitlich humanistischen Denken ein ganz wesentliches Geltungsargument darstellt. Ausgeglichen werden muss dieses Geltungsdefizit, mit dem der ,neue‘ Autor gegenüber den etablierten ,Alten‘ stets zu kämpfen hat, durch machtvolle Selbstdarstellungen als binnenfiktionale oder auch paratextuelle figurae auctoris, welche in der beeindruckenden Präsenz des produktiven Selbst die mangelnde Anciennität überspielen. Dabei ergänzen sich idealerweise moralische und rhetorisch-poetische Exzellenz in einem lebendigen und umfassend geltungsstarken Persönlichkeitsbild, welches die außergewöhnliche Qualität des eigenen Werks in höchstem Maße evident machen soll. Morphologisch sind dabei zwei gegenstrebige Dispositive der Autorisierung zu beobachten: einerseits kann sich der Autor ,singularisieren‘, d.h. er kann sich als einzigartige Dichterpersönlichkeit in Szene setzen, andererseits kann er sich auch ,sodalisieren‘, d.h. er kann sich als Teil einer größeren Gemeinschaft3 ausstellen, welche sich sowohl auf Zeitgenossen als auch auf vergangene Autoritäten beziehen kann, und auf

3 Nicht gemeint ist hier Sodalisierung im Sinn kulturhistorisch konkreter Handlungsräume oder Austauschbeziehungen (wie sie etwa für das Cinquecento z.B. Hendrix/Procacciolo 2008 behandeln); vielmehr geht es mir um die diskursive Darstellung von Sodalisierung als einem wichtigen Dispositiv der Herstellung von Geltung.

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diese Weise selbst Geltung beanspruchen. In der Praxis ergänzen sich beide Dispositive vielfach: Autoren schließen an historische Formen dichterischer Gemeinschaft an (an dieser Stelle ist dann auch eine Verkoppelung der eigenen dichterischen Produktivität mit vorgängigen Autoritätsmodellen möglich) und inszenieren sich sodann als singuläre Ausnahmegestalten, in denen vorgängige Traditionen im Sinne uneinholbarer superatio kulminieren, und die als solche ,neue‘ Autoritäten für Zeitgenossen und Nachwelt darstellen. Wie sich diese Verfahren der Selbstautorisierung durch auktoriale Selbstinszenierung in einer für vormoderne Wandelphänomene typischen ,alt‘-,neu‘-Verschränkung4 unter einem Anknüpfen an ,alte‘ Normbestände und einem gleichzeitigen Ausstellen der eigenen, bewunderungs- und nachahmungswürdigen ,Neuheit‘ im frühen Trecento herausbilden, möchte ich nun im Folgenden im Sinne einer knappen programmatischen Einführung in Problemstellung und Relevanz des vorliegenden Bandes schlaglichtartig zu beleuchten versuchen.

1 Alastair Minnis hat in seiner wichtigen Studie zur Medieval Theory of Authorship gezeigt, wie sich im Lauf mittelalterlicher Konzeptualisierung von Autorschaft zunehmend ein Fokus auf die Weltlichkeit, auf die Historizität des auctor herausbildet.5 Der weltliche Autor avanciert zu einer wichtigen Größe; seine

4 Ich verweise an dieser Stelle auf Fragestellung und Projektarbeit der laufenden DFG-FOR 2305 (Diskursivierungen von Neuem. Tradition und Novation in Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit). Diese Forschungsgruppe befasst sich mit den relationalen Verhältnissen von ,alt‘ und ,neu‘ bzw. von ,Tradition‘ und ,Novation‘ in Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die titelgebenden ,Diskursivierungen von Neuem‘ sollen jenseits schroffer Alt-Neu-Dichotomien oder einseitiger Fortschrittsteleologien als dynamische Verschränkungen verstanden werden. Der Begriff der ,Diskursivierung‘ zielt auf den Prozesscharakter der Vertextung von ,Neuem‘, wobei das ,Neue‘ sowohl Resultate binnenliterarischer Prozesse des Wandels als auch die literarische Bearbeitung von ,Neuem‘ aus anderen diskursiven Ordnungen meint, d.h. von extraliterarischem ,Neuem‘. Dabei kommt es vielfach, so eine zentrale These, weniger zu für die Moderne eher typischen scharfen Abgrenzungen, sondern weithin zu Hybridisierungen von ,alt‘ und ,neu‘. Auch meine nachfolgenden Überlegungen zur poetischen Selbstautorisierung sind in Teilen aus diesem Problemrahmen heraus argumentiert. 5 Diese Entwicklung begann zunächst bei den ,Autoren‘ der Heiligen Schrift. Im frühen 13. Jh. bildeten sich kontroverse Meinungen um den Status des göttlichen auctor (in Absetzung) zu den Termini scriptor, compilator, collector heraus, vor allem, um die Authentizität eines heiligen Textes zu gewährleisten und die Apokryphen von der Heiligen Schrift zu trennen. Dieses Interesse

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Person wird zunehmend wichtig für das Verständnis und für die Autorität eines Werks. Minnis verweist hier insbesondere auf die accessus ad auctores.6 Dabei gilt im mittelalterlichen Diskurshorizont grundsätzlich, dass sich das kulturelle Renommee eines auctor weniger aus seinen Fähigkeiten zur elokutionellen Stilisierung speist als vielmehr aus der in seinen Schriften vermittelten doctrina, welche letztlich die Stabilität eines textus7 garantiert und auctoritas für die Nachwelt verbürgt. Dantes Convivio bezeugt dies in seiner Theorie und Praxis der Textauslegung und in seinem Verständnis eines «autore» als «persona degna d‘esser creduta e obedita».8 Im Convivio autorisiert Dante die Dichtung bekanntermaßen dadurch, dass sie als menzogna eine allegorisch verborgene veritade transportiere, die Speisen des Gastmahls sollen dabei von der obscuritas seiner eigenen Canzonen zur wahrheitshaltigen sententia, zum lehrhaften

am diesseitigen ,Autor‘ des Textes schafft in Verbindung mit der aristotelischen Kategorienlehre die Voraussetzungen für die Konzeptualisierung einer weltlichen Autorfigur: «The theory of efficient causalitiy enabled the human auctores of Scripture to acquire a new dignity» (Minnis 1988, 39). Des Weiteren entwickelte sich in Bezug auf die causa formalis (besonders die forma tractandi) ein neues – von der alten jüdischen Kommentartradition – angefachtes Interesse am sensus litteralis und damit auch an der individuellen literarischen Disposition des Autors, der «literary activity» (Minnis 1988, 94). 6 Die zunehmende Fokussierung auf die intentio auctoris bzw. die «moral activity» (Minnis 1988, 103) des Autors führen zur Ausbildung der vita auctoris im Rahmen des accessusSchema, das sich am Aristotelischen Prolog orientiert. Die causa efficiens, die sowohl den moralischen Wert des Autors erörtert als auch seine Fehler und Sünden herausstellt, nimmt einen immer größeren Stellenwert ein und führt den Autor, nachgerade als «antecedent of the production of humanistic lives of the poets» (Minnis 1988, 113) in ein zunehmend ,persönliches‘ Verhältnis zum Leser: «the auctor is becoming the reader’s respected friend» (Minnis 1988, 7). 7 Zum mittelalterlichen Wortverständnis von ,Text‘ als eine der glosa würdige, autoritative Verschriftlichung mündlichen Wissens, die ihren Autor zur Autorität macht, cf. Müller (1992, 251–282). 8 Cf. Convivio IV,vi,3–5, wo Dante den Autor über lateinische und griechische Etyma durch eine grammatische und durch eine doktrinal-didaktische Funktion definiert, die dabei insofern in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, als erst die doktrinale Dimension der Autorschaft den Autor zur Autorität macht: «È dunque da sapere che ,autoritade‘ non è altro che ,atto d’autore‘. Questo vocabulo, cioè ,autore‘ [. . .] può discendere da due principii: l’uno si è d’uno verbo molto lasciato da l’uso in gramatica, che significa tanto quanto ,legare parole‘, cioè ,auieo‘. [. . .] L’altro principio, onde ,autore‘ discende, [. . .] è uno vocabulo greco che dice ,autentin‘, che tanto vale in latino quanto ,degno di fede e d’obedienza‘. E così ,autore‘, quince derivato, si prende per ogni persona degna d’essere creduta e obedita. E da questo viene questo vocabulo del quale al presente si tratta, cioè ,autoritade‘; per che si può vedere che ,autoritade‘ vale tanto quanto ,atto degno di fede e d’obedienza‘» (Hier und fortan zitiert nach Alighieri 1996/1998/2004).

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Sinn führen.9 Insofern hat man es mit einem auch in seinen unterschiedlichen Facettierungen im Grundsatz hierarchisch geordneten Modell10 zu tun: höchster auctor mit höchster auctoritas ist und bleibt der Bibelautor als scriba Dei und Vermittler absoluter Wahrheit; auch weltliche Autoren beziehen ihre Autorität durch den Anschluss an doktrinale Wahrheitsrede. Die Reputation eines Autors als Autorität hängt letztlich von seiner Nähe zum primum verum ab. Formalästhetische Gesichtspunkte spielen außerhalb des Feldes stilistischer exercitatio für den «mittelalterlichen Kanon»11 kaum eine Rolle: Dichtung als fiktionaler und weltlich sinnlicher Diskurs ist dem Hl. Thomas zufolge «infima inter omnes doctrinas».12 Die Vermittlung von doctrina kann nämlich von der

9 Im Convivio legitimiert Dante den Kommentar eigener Texte dadurch, dass er aus ihnen eine in der Lüge der Fiktion verborgene doctrina allegorisch herausarbeitet. Die Argumente, die Dante für die Rede über sich selbst liefert, speisen sich aus christlichen Vorbildern: «grandissima utilitade» und «dottrina» (Convivio I,ii,14) soll der Leser erhalten, ganz wie nach der Lektüre des Kirchenvaters Augustinus. Dabei kommt es zur Engführung der poetischen Selbstautorisierung mit Verfahren theologischer Allegorese, wie der Titel des Selbstkommentars im Rekurs auf Ambrosius bereits andeutet («Scriptura divina convivium sapientiae est» (Ambrosius von Mailand, De off., in: PL, vol. 16, 1880, I, 32, Sp. 75). Die göttliche Speise, das «pane» (Convivio I,i,14, in Anlehnung an das «Himmelsbrot» in Ps 87,24 bzw. das «Brot vom Himmel» in Weish 16,20) soll den Text gleichsam erhellen («sarà la luce») und von der «oscuritade» zur wahren «sentenza» (Convivio I,i,15) führen. Die sentenza kann hier gleichermaßen allgemein als dritte Stufe scholastischer lectio verstanden werden (littera – sensus – sententia) wie sie auch als Verweis auf die doktrinal autoritativen Sententiae des «Magister Sententiarum» des Petrus Lombardus gelesen werden kann. Die Auslegung selbst verläuft nach dem Schema einer «allegorica esposizione » (Convivio I,i,18). Obwohl Dante die «allegoria dei teologi» von der «allegoria dei poeti» scheidet, den Literalsinn letzterer als «bella menzogna» (Convivio II,i,3) ausweist und selbst dem «modo de li poeti» (Convivio II,i,4) zu folgen gedenkt, wählt er für den moralischen und anagogischen Sinn Beispiele aus der Heiligen Schrift und vermischt so die beiden Verfahren. Zu den Spannungsmomenten, die sich aus Dantes Verschränkung von dichterischer Fiktion und heilsgeschichtlicher Wahrheitsrede ergeben, cf. grundsätzlich Kablitz (2001, 17–57); Regn (2009, 365–385). 10 Die epochenspezifische Hierarchisierung von religiösem und poetischem Diskurs behandelt am Beispiel Dantes und Petrarcas Hempfer (2009, 183–221). 11 Cf. in diesem Zusammenhang nach wie vor Curtius (1993, 269–271). 12 So Thomas’ Formulierung im 9. Artikel der ersten Quaestio der Summa theologica, wo die Frage diskutiert wird, ob sich die Heilige Schrift der bildlichen Redeweise bedienen dürfe. Er kontrastiert einerseits die Dichtung («poetica»), die «infima inter omnes doctrinas» ohne wahrheitshaltigen Literalsinn Metaphern in Hinblick auf eine dem Menschen vergnügliche Bildgebung verwende («repraesentatio enim naturaliter homini delectabilis est»), und andererseits die Heilige Schrift, welche «propter necessitatem et utilitatem» deshalb «sub similitudine» spreche, um die Menschen «per sensibilia ad intelligibilia» zu führen. Damit nutzt die Heilige Schrift das Verfahren bildlicher Redegestaltung, gründet dies aber auf einen grundsätzlich überlegenen Wahrheitssinn (Thomas von Aquin 1933, I 1,9).

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christlichen Spätantike an im Sinne einer sancta simplicitas auf elokutionellen Schmuck und sinnliche delectatio gut verzichten.13 Dies gilt nicht nur für einen Autor wie Hieronymus, der nach dem raptus, in dem ihm Christus erscheint und vorwirft, Ciceronianer und nicht Christ zu sein,14 eine radikale Abwendung von der Rhetorik vollzogen hatte und Büßer wurde, sondern selbst für einen Augustinus, der bekanntlich über einen ausgeprägten Sinn für Sprachkunst verfügte. Zwar lobt Augustinus Cicero als weltlichen Weisheitslehrer, verwirft aber in den Confessiones (3, 4–5) die eloquentia grundsätzlich als Lust an menschlicher Eitelkeit und als Hindernis für den Zugang zur Wahrheit.15 Mit der ,nominalistischen Wende‘ im Trecento kommt indes erhebliche Bewegung in diese Situation. An die Stelle einer analogistischen und allegorischen Interpretation des Diesseits rückt ein Kontingenzbewusstsein, das seinen vielleicht deutlichsten Ausdruck im Zerfall jenes mittelalterlichen veriloquium nominis gefunden hat, das noch in der Symbolkraft von Dantes Beatrice prominent zum Tragen kommt. In Hinblick auf die frühneuzeitliche imitatio bedeutet dies einige Veränderungen. Zunächst einmal bedeutet dies, dass die rhetorische Durchformung der eigenen Rede zur Bedingung ihres Erfolgs wird. Wenn Wahrheit nicht mehr universell gegeben ist, dann bleibt uns nur noch die Wahrscheinlichkeit, und um in die Kontingenz des zwar Plausiblen, aber ontologisch eben nur unsicher Wahren Ordnung zu bringen, müssen die Entwürfe von Wahrheit immer wieder ausgehandelt werden. Das geschieht mit Sprache, mit rhetorischem Stil. Mit anderen Worten: der Autor avanciert zur Autorität nicht nur durch Vermittlung von doctrina, sondern auch – immer mehr – durch seine formalästhetische, seine elokutionelle Kompetenz, auf welche die doctrina zu ihrer Durchsetzung zunehmend 13 Zu Hieronymus’ Konzept einer simplicitas, in der elokutionelle Einfachheit seelische Reinheit vermittelt, cf. Epistolae 57, 12: «Venerationi mihi semper fuit non verbosa rusticitas, sed sancta simplicitas. Qui in sermone imitari se dicit Apostolus, prius imitetur virtutes in vita illorum, in quibus loquendi simplicitatem excusabat sanctimoniae magnitudo» (Hieronymus in: PL, vol. 22, 1845, Sp. 579). Zu der Fortwirkung dieser Stelle im christlichen Mittelalter cf. Leclercq (1960). 14 Cf. Ep. 22, 30: «Cum subito raptus in spiritu, ad tribunal judicis pertrahor; ubi tantum luminis, et tantum erat ex circumstantium claritate fulgoris, ut projectus in terram, sursum aspicere non auderem. Interrogatus de conditione, Christianum me esse respondi. Et ille qui praesidebat: Mentiris, ait, Ciceronianus es, non Christianus [. . .]. Clamare tamen coepi, et ejulans dicere: Miserere mei, Domine, miserere mei. Haec vox inter flagella resonabat. Tandem ad praesidentis genua provoluti qui astabant, precabantur, ut veniam tribueret adolescentiae, et errori locum poenitentiae commodaret, exacturus deinde cruciatum, si Gentilium litterarum librosa liquando legissem» (PL, vol. 22, 1845, Sp. 416). 15 Cf. Conf. 3. IV-V: «Inter hos ego enbecilla tunc aetate descebam libros eloquentiae, in qua eminere cupiebam fine damnabili et ventoso per gaudia vanitatis humanae [. . .]» (Augustinus 1877, Sp. 685–686).

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angewiesen ist. Dabei bedeutet diese Verschiebung der Begründung von Autorität von der doctrina hin zu einer Kompetenz in dem Bereich von Stil, von elocutio und ornatus nicht, wie man auf den ersten Blick denken könnte, auch eine radikale Desubstantialisierung in dem Sinne, dass es nur noch um Wörter ginge und nicht mehr um Dinge. Ganz im Gegenteil ist die frühneuzeitliche Sprach- und Literaturdebatte zutiefst moralphilosophisch getönt, weil sie Ciceros bekannte Verbindung von eloquentia und sapientia und virtus16 bzw. Quintilians Nexus von bonitas und eloquentia17 grundsätzlich, und zwar vom Trecento an, mitführt. Dies lässt 16 In der römischen Antike seit Cato dem Älteren galt die Überzeugung des «vir bonus dicendi peritus» (Zeugnisse bei L. Annaeus Seneca Maior, Oratorum et rhetorum sententiae, divisiones, colores, 1989, 1,9; Quintilianus, Inst. or., vol. 2, 12,1,1), dem auf sein Sachwissen die Worte von selbst folgten: «rem tene, verba sequntur» (Cato senior, Libri ad M. filium, Frg. 16, zitiert in: Suerbaum 1989, 410). Neben der «rerum sapientia» (Cicero, De inv. 1,20), die auch in Ciceros rhetorischen Schriften hierarchisch ganz oben positioniert ist, tritt der Aspekt der «bonitas» oder auch «probitas» (cf. Cicero, De inv. 3,55) eng verbunden mit der «sapientia» (Cicero, De inv. 1,1; Cicero, De or. 3,56) bzw. «virtus» (cf. Cicero, De inv. 1,1) in den Vordergrund und wird vertieft. Grosso modo gilt Cicero die Philosophie als Lehrmeisterin «recte faciendi et bene dicendi» (Cicero, De inv. 3,57), welche Fähigkeiten man dann generell «sapientia» nannte: «Hanc, inquam, cogitandi pronuntiandique rationem vimque dicendi veteres Graeci sapientiam nominabant» (Cicero, De inv. 3,56). Denken, Sprechen und Handeln und das damit verbundene Wissen um Richtig und Falsch kennzeichnen die «sapientia» als moralphilosophische Kategorie. Redekunst und Philosophie bedingen einander, eine Trennung der beiden führe zu einem «discidium [. . .] linguae et cordis» (Cicero, De or. 3,61), das auf Sokrates zurückzuführen sei. Ohne Philosophie kann es demnach keinen guten Redner geben: «sine philosophia non posse effici quem quaerimus eloquentem» (Cicero, De or. 4,14). Für den Staatsmann Cicero bleibt die Rhetorik und damit auch die «sapientia» allerdings vor allem politisch wichtig, als Grundpfeiler der guten Wirkung auf die «res publica». Gleich zu Beginn seines Jugendwerkes De inventione hält Cicero fest, «sapientiam sine eloquentia parum prodesse civitatibus, eloquentiam vero sine sapientia nimium obesse plerumque, prodesse numquam» (Cicero, De inv. 1,1). Derjenige, der die Rede einsetzt, um dem Staat zu nützen, ist ein «utilissimus atque amicissimus civis» (Cicero, De. inv. 1,1). Der Begriff der virtus unterstreicht dies noch: «summa virtus et summa virtute amplificata auctoritas et, [. . .] eloquentia» (Cicero, De. inv. 1,5). Die gleichen Gedanken finden sich in De oratore: der gute Redner, der sich durch «moderatione et sapientia» auszeichnet, ist «amicis utilitati et rei publicae emolumento» (Cicero, De or. 1,34). 17 Quintilian greift die moralischen Qualitäten des Redners wieder auf und konstatiert zu Beginn seiner Institutio oratoria, der perfekte Redner könne nur ein vir bonus sein, bei dem es weniger auf die Beherrschung der ars retorica als vielmehr auf charakterliche Tugend ankäme: «Oratorem autem instituimus illum perfectum, qui esse nisi vir bonus non potest, ideoque non dicendi modo eximiam in eo facultatem sed omnis animi virtutes exigimus» (Quintilianus, Inst. or. 1,9). In einem Verweis auf Cicero (De or. 3,56–57.) stellt auch er die Verbindung von Rhetorik und Philosophie (in der Praxis) heraus: «fueruntque haec, ut Cicero apertissime colligit, quemadmodum iuncta natura, sic officio quoque copulata, ut idem sapientes atque eloquentes haberentur» (Quintilianus, Inst. or. 1,13). Die sittlichen und moralischen Postulate ähneln denen des Cicero, gehen aber über diese noch hinaus (cf. Petersmann 1997, 322), wenn

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sich in aller Deutlichkeit etwa in Petrarcas De remediis utriusque fortuna18 oder De sui ipsius et multorum ignorantia nachlesen, wo Petrarca eloquentia und sapientia aus der Position eines erklärtermaßen ciceronianischen Christen aneinander koppelt.19 In diesem Sinne ist es die Dichtung, die als fiktionale Rede

er der stoischen Definition, wie sie von Cicero in ähnlicher Weise bekannt ist: «rhetoricen esse bene dicendi scientiam» (Quintilianus, Inst. or. 2,15,34) noch hinzufügt: «Nam et orationis omnes virtutes semel complectitur et protinus etiam mores oratoris, cum bene dicere non possit nisi bonus» (Quintilianus, Inst. or. 2,15,34). Im 12. Buch kommt Quintilian auf die Bedeutung des Nexus von Rhetorik und Philosophie zurück, vereindringlicht die Formel des nullus orator nisi vir bonus (Quintilianus, Inst. or. 12,1,3) und erklärt dann den moralischen Scheideweg zwischen Gut und Böse näher: Der gute Redner müsse sich für das Gute, das honestum entscheiden und den schlechten Weg meiden, anderenfalls könne er weder intelligentia, noch prudentia (Quintilianus, Inst. or. 12,1,3–5.) agieren. Die Ausführungen gipfeln schließlich in der Formulierung «Non igitur umquam malus idem homo et perfectus orator» (Quintilianus, Inst. or. 12,1,9), um schließlich auf die nötigen philosophischen Studien des Redners überzugehen und mit Hinweisen auf seine Altersbeschäftigung abzuschließen. 18 In seinem Abschnitt «De eloquentia» formuliert ratio dem Dialogpartner gaudium gegenüber, der «orator» als «eloquentie magister» könne nichts anderes als ein «vir bonus» sein. Weiter: «Id quod queris bonorum est, non omnium quidem, sed paucissimorum, ita ut mali omnes huius laudis exortes sint, ad quam scilicet animi bona quibus carent, virtus ac sapientia, requiruntur. Quod ut sic esse non intelligas, dicam. Sed memineris duarum, de quibus loquor, rerum : diffinitiones in mentem redeant, quarum altera Catonis, Ciceronis est altera. Ille ait : ,Orator est vir bonus dicendi peritus‘ ; iste autem, ,nichil est‘, inquit, ,aliud eloquentia nisi copiose loquens sapientia‘. Ex his vides ad oratoris atque eloquentiae essentiam et bonitatem et sapientiam exigi nec tamen sufficere, nisi et perita adsit et copia» (Petrarca 2013, 74). Zu anderen Passus bei Petrarca und zu wichtigen Stationen dieser Auffassung im Quattrocento cf. Seigel (1968). – Entgegen stehen dieser Position auf den ersten Blick Petrarcas Vorwürfe gegenüber Cicero in dem berühmten Brief Fam. XXIV, 3, wo Petrarca Cicero entgegenhält, dieser habe sich nicht an seine eigenen Tugendgrundsätze gehalten. Hier scheint mir freilich Petrarca, wie Fam. XXIV, 4 es dann deutlich macht, das Prinzip der Verbindung von orator und philosophus nicht grundsätzlich am Beispiel Ciceros in Frage zu stellen; vielmehr bemängelt er punktuelle Verfehlungen im menschlichen Leben des Redners, welche sich angesichts der durch den orator und philosophus Cicero verkörperten hohen moralischen Standards umso bestürzender für dessen Verehrer Petrarca ausnehmen. So gesehen scheint mir Petrarcas (etwa in der syntaktischen Fügung des Briefs nachdrücklich ausgestellte und scheinbar ‚authentische‘) Aufgebrachtheit seine entschiedene Ausrichtung an dem Denkmodell einer notwendigen Verbindung von sapientia und eloquentia letztlich nur zu bestätigen. 19 Auf die Kritik einiger «Freunde», er sei ein «sine literis vir bonus» (Petrarca 1993, 26) reagiert Petrarca mit ebendiesem Traktat, in dem er präzise seine «anthropologische Wissenskonzeption formuliert, welche auf eine Zentralstellung der Moralphilosophie hinausläuft» (Regn 2004b, 66). Auf der augustinischen Formel «Pietas est sapientia» (Petrarca 1993, 32) baut Petrarcas Bild des tugendhaften Menschen auf, der nicht im aristotelischen Sinne «aristotelica [. . .] in lege» (Petrarca 1993, 22) gebildet, «doctus», sei – dies berge die Gefahr der Dummheit und des Hochmuts «instrumenta dementie, cunctis fere superbie» (Petrarca 1993, 20) –, sondern

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des Möglichen20 eine ganz neue Wertigkeit erlangt und auch eine neue praktische Relevanz diesseits mittelalterlicher Allegorese, wenn sie moralphilosophische Substanz in die elocutio integriert, welche die Rolle ihres Autors stark aufwertet. Virtus und bonitas sind als begriffliche Abstraktionen moralischen Verhaltens und Wesens auf der Ebene ihrer Konkretion außerhalb eines denkenden und handelnden Menschen und in unserem Zusammenhang mithin eines Autors undenkbar. Der auf Geltung und Autorität bedachte Autor tritt so als kreative Verkörperung eines moralphilosophisch grundierten Stils in die Öffentlichkeit, und nicht mehr als Medium einer ihm vorgängigen doctrina.

2 Wie kaum ein anderer hat der von der Forschung vielfach als Begründer der literarischen Renaissance veranschlagte und von G. Regn prägnant als «Diskursivitätsbegründer» (Regn 2000, 129) im Sinne Foucaults bezeichnete Francesco Petrarca dieses Projekt verfolgt. Bei Petrarca ist es, und das ist mir wichtig, der Autor als biographisches Selbst, den man in seinen textuellen, seinen fiktionalen Stilisierungen wahrnehmen soll. Das versucht Petrarca uns auf Schritt und Tritt in seinen Texten deutlich zu machen. Petrarca spricht ständig über sich, und wenn er das tut, dann meint er ein biographisches Selbst, das weder mit einem romantischen Ausdrucks-Ich noch mit einem spezifisch modernen ,lyrischen Ich‘ zu verwechseln ist und das in der diskursiven Konstruktion von Individualität, Innerlichkeit und persönlicher Lebensführung eine starke fiktionsexterne Referentialität herzustellen bemüht ist.21 In diesem Zusammenhang inszeniert

Weisheit in der Gotteserkenntnis suchen müsse. Petrarcas Kritiker koppeln die Redegabe von der Weisheit ab, wobei erstere auch Ungebildeten, wie Petrarca einer sei, eignen könne, so gestehen sie ihm zu, ein «persuasor[em] satis efficax[-cem]» (Petrarca 1993, 26) zu sein, dem jedoch jegliche Wissenschaftlichkeit («scientia») in der Rede fehle. Polemisch bezeichnet Petrarca dieses Weisheits- bzw. Wissenskonzept seiner Kritiker als «philosophantis infantia et perplexa balbuties» (Petrarca 1993, 14) und mit Cicero als «sapientia oscitans» (Cicero, De or. 2,33,144). Dem Sprichwort «Multum eloquentiae, parum sapientiae» (Petrarca 1993, 26) begegnet Petrarca mit völligem Unverständnis «Quod qualiter fieri possit, nec intelligo», «nam quo pacto omnium ignaro stilus excellens sit [. . .]?» (Petrarca 1993, 26) und erinnert in Rückgriff auf Cato an das geläufige Ideal des römischen Redners, wobei er seinen modellhaften orator insofern christlich grundiert, als die Tugend zum gottgegebenen Geschenk wird. 20 Ich denke bei der Wortwahl an die Fruchtbarmachung des Möglichkeitsbegriffs im Rahmen der Fiktionalitätsdiskussion durch Kablitz (2003, 251–273). 21 Die Forschung hat von Hugo Friedrich bis Andreas Kablitz bereits deutlich gemacht, dass sich bei Petrarca das Wesen des Menschen über seine Repräsentation definiert und Selbster-

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Petrarca sich immer wieder als singuläre Ausnahmefigur, als eine machtvolle Persönlichkeit, die als renovator litterarum gegen das finstere Mittelalter – diese Bildgebung stammt ja bekanntlich von Petrarca – eine neue Zeit einläutet. Dies geschieht durch programmatische Textpassagen wie die Vision des Ennius im neunten Buch der Africa, wo Homer eine einzigartige Restitution antiker Kunst durch den einsamen und lorbeerbekränzten Florentiner Franciscus weissagt;22 und zweifellos gipfelt Petrarcas Singularisierung der eigenen Person und Autorschaft in der Geste der österlich kulturerneuernden Lorbeerkrönung im Jahr 1341 und der bei diesem Anlass ausformulierten Selbstdarstellung in der Collatio laureationis. In dieser Rede angelegentlich seiner Lorbeerkrönung bezeichnet Petrarca seine Erneuerungsleistung als Wunder, als «miraculus» (Collatio 6.1)23, und inthronisiert sich als «dux» in ausdrücklicher Erwartung zahlreicher Nachahmer: «[. . .] me in tam laborioso et michi quidem periculoso calle ducem prebere non expavi, multos posthac, ut arbitror, securotos» (Collatio 8.2). Aber auch in der Bildgebung und in der poetischen Performativität seiner volkssprachlichen Dichtung verfolgt Petrarca dieses Ziel. Von besonderem Belang ist in diesem Zusammenhang etwa das 34. Sonett, das programmatische Einleitungsgedicht der prima silloge von 1342.24 In diesem Sonett stilisiert sich Petrarca über das auktoriale Selbst des Liebenden und Dichters als einzigartige Kreativkraft, die sich auf Augenhöhe mit Apoll als dem, so in der Collatio laureationis, «poetarum deus» (Collatio 11.15) bewegt und auf diese Weise alle anderen, vergangenen und gegenwärtigen Autoren und Autoritäten bzw. möglichen Konkurrenten weit überragt. Es lohnt sich, diesen Text im vollen Wortlaut anzuschauen: Apollo, s’anchor vive il bel desio che t’infiammava a le thesaliche onde,

forschung und Selbstdarstellung, Selbstanalyse und Selbstinszenierung nicht voneinander abhebbar sind. Cf. dazu beispielsweise Stierle (2003); Regn (2004b, 33–77); Regn (2004c, 493–539). Andreas Kablitz hat jüngst noch unterstrichen, wie im Gegensatz zu einer Konzeption des «Lyrischen Ichs», wie es aus bestimmten historischen und epistemischen Voraussetzungen heraus Margarete Susman letztlich gegen die romantische Ausdrucksästhetik ins Feld geführt hat, bei Petrarca «referentielle Semantik und artistische Meisterschaft [. . .] unbedingt zusammen gehören» und der Canzoniere die «Selbstdarstellung seines Autos» leistet (Kablitz 2008, 41). Hugo Friedrich spricht davon, dass das «Ich der Lauraliebe [. . .] Petrarca selbst [ist], und zwar Petrarca als geistige Gestalt, als der gleiche, der auch in den lateinischen Schriften und in den Briefen über sich selbst spricht» (Friedrich 1964, 163). 22 Dazu im Detail Brownlee (2006, 93–113). 23 Hier und fortan zitiert nach Petrarca (21977). 24 Cf. zu der Eröffnungsposition des Sonetts in der prima raccolta von 1336–38 und in der prima silloge von 1342 Marco Santagatas Resümee des Forschungsstandes in seiner Ausgabe des Canzoniere (Petrarca 72012, CCVI; CCX; 186–187.).

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et se non ài l’amate chiome bionde, volgendo gli anni, già poste in oblio: dal pigro gielo et dal tempo aspro et rio, che dura quanto ‘l tuo viso s’asconde, difendi or l’onorata et sacra fronde, ove tu prima, et poi fu’ invescato io; et per vertù de l’amorosa speme, che ti sostenne ne la vita acerba, di queste impressïon’ l’aere disgombra; sì vedrem poi per meraviglia inseme seder la donna nostra sopra l’erba, et far de le sue braccia a se stessa ombra. (Petrarca 72012, 186)

Was geschieht hier? Im Verlauf des Sonetts modelliert sich das als ‚Petrarca‘ zu verstehende Ich des Dichters und des Liebenden des Canzoniere als epochaler Neuerer von nachgerade übermenschlich singulärer Gestaltungskraft: Nach einer Anrufung Apolls, in der es darum geht, dass der Musagetes die finstere Zeit frostiger Erstarrung, gemeint ist allegorice das scholastische Mittelalter,25 verjagen und die Sonne wieder zum Leuchten bringen möge, werden die Figuren Dafne und Laura zur Deckung gebracht. Damit wird nicht nur die in Vers 8 markierte zeitliche Sukzession von Apoll und dem Sprecher des Gedichts durch die Verschmelzung der Damen in die Gleichzeitigkeit überführt. Auch wird Apoll als – so Petrarca ja in seiner oben erwähnten Collatio laureationis – «poetarum deus» (Collatio 11.15) mit dem Sprecher und auctor des Gedichts überblendet. Dies geschieht nicht plötzlich, sondern vollzieht sich im Prozess der Rede und damit besonders eindrücklich. Während in den ersten drei Strophen Apoll angesprochen und zur Verteidigung der sacra fronde, des weltlichen Ruhm verkörpernden Lorbeers, sollizitiert wird, so stellt das zweite Terzett durch die Verwendung der ersten Person Plural eine auffällige Nähe zwischen dem «deus poetarum» und dem Sprecher her. Diese Nähe wird sodann durch die Wendung der «donna nostra» in Vers 13 noch einmal verstärkt, wenn im Schlussbild des Sonetts die apollinische Daphne mit jener petrarkischen Laura überblendet wird, welche die laurea des auktorialen Selbst paronomastisch aufruft und, wie man aus Petrarcas Secretum meum weiß (Secr. III, 30–32)26, seinen

25 Zur epochalen Prägung des Motivs der Dunkelheit bei Petrarca, das sich hier aus der Verbergung des Phoebus Apoll ergibt und konsequent um die Frostmetaphorik erweitert wird, cf. grundsätzlich Mommsen (1942, 226–242). 26 Cf. Petrarca (2004).

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dichterischen Ruhm allegorice bedeutet. Nachdrücklicher und in der Bildgebung nachhaltiger kann sich das auktoriale Selbst als singuläre Kreativkraft kaum inthronisieren. Gleichsam auf Augenhöhe mit dem «poetarum deus» ragt das auktoriale Selbst singulär weit über alle anderen vergangenen und gegenwärtigen Autoritäten hinaus. Petrarcas Selbstautorisierung setzt gleichwohl nicht nur auf derartige Singularisierungen, sondern auch auf Sodalisierungen, auf die Verschränkung des Selbstentwurfs mit Anderen. Vor allem in seinen Briefen inszeniert sich Petrarca als Teil einer größeren Denk- und Handlungsgemeinschaft, einer humanistischen Sodalität. Dabei entsteht das Bild des Autors als «Genie der Freundschaft», wie es Karlheinz Stierle einmal genannt hat (Stierle 1998, 9). Bereits über die Adressaten der Epistolae familiares oder, genauer gesagt, Familiarium rerum libri wird in Anlehnung an antike Vorbilder – neben Senecas Lucilius-Briefen nennt die Forschung vor allem die ciceronianischen Atticus-, Brutus- und Quintus-Briefe27 – eine vertrauliche Gesprächsgemeinschaft konstruiert. Zu dieser – teilweise offenkundig fingierten – Gemeinschaft gehören neben Giovanni Colonna etwa Benvenuto da Imola, Giovanni Boccaccio, Dionigi da Borgo San Sepolcro, Andrea Dandolo, Robert von Sizilien, Socrates, Livius, Seneca, Vergil, Horaz, Homer und Cicero. Die sehr persönlichen Anreden der Adressaten, welche in den Briefen grundsätzlich «familiariter» (Fam. XXIV, 1)28 angesprochen und energisch präsent gemacht werden, schaffen das Bild einer lebendigen Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist zwar offenkundig stilisiert, stellt aber gleichzeitig einen wichtigen Bestandteil von Petrarcas Autorschaft und Autorität dar. Im Medium der Schrift inszeniert Petrarca eine Vertrautheit, welche über die historische Distanz hinweg Bestand hat, wenn er etwa «seinem Cicero» («Ciceroni suo», Fam. XXIV, 4) gegenüber bemerkt, dass er ihn aus seinen Schriften so kenne, als ob er mit ihm zusammen gelebt hätte.29 In dieser transhistorischen Vergegenwärtigung liegt übrigens ebenso wie in der großen Zahl der Adressaten ein erheblicher Unterschied zu den antiken Modellen Senecas und Ciceros, die sich auf einzelne Adressaten der jeweils historischen Gegenwart beschränken. Auch in Ovids Epistuale ex Ponto findet sich zwar eine Mehrzahl von Adressaten, diese aber entstammen ausschließlich der Lebensgegenwart des Briefstellers. Und selbst für ein in Hinblick auf dichterische Sodalisierung wichtiges antikes Muster

27 Cf. das Nachwort von Neumann in Petrarca (1999, 295–342); Penzenstadler (2006, 105–148). 28 Hier und fortan zitiert nach Petrarca (1999). 29 «[. . .] te, si ex libris animum tuum novi, quem nosse michi non aliter quam si tecum vixissem videor, [. . .]»; (Fam. XXIV, 4).

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wie Ovids Inszenierung einer produktiven Dichtergemeinschaft in den Tristia (IV,10,41–56)30 gilt, dass die dort entworfene Gemeinschaft mit anderen Autoren die eigene Lebensgeschichte nicht überschreitet: Ovids Elegie erklärt zwar den persönlichen Austausch mit Properz, Bassus, Horaz und anderen «iure sodalicii» als Grundlage seines poetischen Könnens, aber auch hier wird das Erlebnis einer Dichtergemeinschaft allein unter Zeitgenossen erinnert. Petrarca dagegen lässt eine dichterische Sodalität durch die Fiktion einer Dialogsituation über die Jahrhunderte des «medium tempus» als Zeitalter des Verfalls31 hinweg Gestalt gewinnen. Petrarcas transhistorisch ausgreifende Vergemeinschaftlichung ist insofern historisch eine auffällige Variation antiker Vorlagen. Funktional ist sie in Hinblick auf eine ganzheitliche und in ihrer Lebendigkeit umfassend wirksame Selbstautorisierung das notwendige Komplement der Singularisierung. Mit der Stilisierung des Autors als ernstzunehmendem Wortführer in dem durch die briefliche Schreibweise implizit vielstimmigen Dialog der Autoritäten signalisiert die Vergemeinschaftlichung auch die überindividuell tragende Rolle des auktorialen Selbst und damit letztlich in der Pragmatik der (fingierten) Kommunikationssituation bereits die Anerkennung der Autorität des Autors.

30 «temporis illius colui fovique poëtas, / quodque aderant vates, rebar adesse deos. / saepe suas volucres legit mihi grandior aevo, / quaeque nocet serpens, quae iuvat herba, Macer. / saepe suos solitus recitare Propertius ignes / iure sodalicii, quo mihi iunctus erat. / Ponticus heroo, Bassus quoque clarius iambis / dulcia convictus membra fuere mei. / et tenuit nostras numerosus Horatius aures, / dum ferit Ausonia carmina culta lyra. / Vergilium vidi tantum: nec avara Tibullo / tempus amicitiae fata dedere meae. / successor fuit hic tibi, Galle, Propertius illi; / quartus ab his serie temporibus ipse fui. / utque ego maiores, sic me coluere minores, / notaque non tarde facta Thalia mea est». «Dichter, die damals lebten, verehrt’ich, für Dichter entbrannt’ ich: soviel Sänger, soviel Götter vermeint’ ich zu sehn. Oft hat Macer, der älter als ich, sein Gedicht mir gelesen über die Schlangen, ihr Gift, Vögel und heilendes Kraut. Oftmals trug mir Propertius vor seine Liebesgedichte nach Kameradschaftsbrauch, wie er mit mir ihn verband. Ponticus, groß im heroischen Versmaß, Bassus, berühmt durch Jamben, waren im Kreis meiner Gefährten mir lieb. Reich an Formen, entzückte Horatius unsere Ohren, der im ausonischen Ton sang sein vollendetes Lied. Sehn nur konnt’ ich Vergil; auch ließ das geizige Schicksal keine Zeit dem Tibull, Freundschaft zu pflegen mit mir. Gallus, er kam nach dir, Propertius kam nach Tibullus, und, in der Folge der Zeit, schloß ich als vierter mich an. Und wie den Älteren ich, erwiesen mir Jüngere Ehre, und beizeiten schon ward meine Thalia bekannt» (zitiert nach: Ovid 1990). 31 Cf. z.B. Petrarca in seiner Epistula metrica XXI (III, 33): «Vivo, sed indignans, quod nos in tristia fatum / secula dilatos peioribus intulit annos. / Aut prius aut multo, decuit, post tempora nasci; / nam fuit aut fortassis erit felicius evum; / in medium sordes, in nostrum turpia tempus / confluxisse vides [. . .]» (zitiert nach: Petrarca 1976).

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3 Die gewaltige Prägekraft Petrarcas für die nachfolgende Renaissanceliteratur ließe sich anhand zahlreicher Beispiele untermauern. Ich greife an dieser Stelle nur einen Autor, fast schon willkürlich, heraus: Joachim Du Bellay. Die Publikation von Du Bellays L’Olive im Jahr 1549 ist eines der bekanntlich wichtigsten Ereignisse der französischen Literaturgeschichte, stellt die Olive doch die erste nach italienischem Vorbild durchkomponierte Gedichtsammlung in französischer Sprache dar. Für unsere Zwecke reicht es, einen Blick in Du Bellays Vorwort zur Olive zu werfen. Das Problem individueller Autorität ist von Anfang an Gegenstand des Vorworts. Bereits mit dem ersten Satz seiner Vorrede rückt Du Bellay das eigene Selbst als Individuum mit einem «propre naturel» in den Blick, zu dem ein biographisches Profil gehört, das von der «enfance» über die «adolescence» in das Jetzt des gefestigten Hofmanns reicht. Von Anfang an rückt Du Bellay seine «naturelle inclination» für die «belles lettres» in unseren Blick, seine Dichtung ist eine Angelegenheit individueller Präsenz und durch eine eigenständige «naturelle invention» bestimmt: «Je ne me suis beaucoup travaillé en mes ecriz de ressembler aultre que moymesmes» (Du Bellay 2007, 236). Nicht von ungefähr kann man für das Personalpronomen je in dem kurzen Vorwort 94 Verwendungen verzeichnen, und die Selbstbezug und Verfügungsmacht anzeigenden Possessivpronomina mon, ma, mes finden sich an immerhin 30 Stellen. Die Erneuerung der französischen Dichtkunst vollzieht sich freilich nicht nur in Bezug auf die singulär anmutende Individualität der Autorfigur, sondern auch im imitativen Rückbezug auf Antike und rinascimentales Italien: «Voulant donques enrichir nostre vulgaire d’une nouvelle, ou plutost ancienne renouvelée poësie, je m’adonnay à l’immitation des anciens Latins et des poëtes Italiens, dont j’ai entendu ce que m’en a peu apprendre la communication familiere de mes amis» (Du Bellay 2007, 230). In der Formulierung dieses Projekts wird bereits deutlich, wie eng Du Bellay sich am Vorbild Petrarcas orientiert, wenn er nach einer Ausstellung seiner persönlichen Verhältnisse und Befindlichkeiten nicht nur den Rückbezug auf die Antike in Anschlag bringt, sondern auch seine Integration in eine humanistische Gemeinschaft, die in dem vorstehenden Zitat durch die petrarkisch gefärbte «communication familiere de mes amis» aufgerufen wird. Diese Gemeinschaftlichkeit wird im weiteren Verlauf des Vorworts durch den Verweis auf die «plus familiers amis» erneut aufgebracht;32 ausdrücklich genannt werden Jacques Peletier und Pierre de Ronsard. Weiter heißt es: «[. . .] je

32 Cf. Du Bellay (2007, 231): «Or, [. . .] voulant satisfaire à l’instante requeste de mes plus familiers amis, je m’osay bien avanturer de mettre en lumiere mes petites poësies: après toutesfois

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me suis volontiers appliqué à nostre poësie: excité et de mon propre naturel, et par l’exemple de plusieurs gentiz espritz françois, mesmes de ma profession, qui ne dedaignent point manier et l’épée et la plume» (Du Bellay 2007, 229). Auf engstem Raum oszilliert Du Bellays Selbstautorisierung so zwischen Singularisierung und Sodalisierung, wobei Du Bellay durch die Verbindung der Lexeme «épée» und «plume» deutlich macht, dass es ihm um eine ebenso humanistisch gelehrte wir höfisch aktive Vergemeinschaftlichung geht. Sowohl das auktoriale Selbst als auch die Gemeinschaft werden dabei aggressiv von den Rhétoriqueurs abgegrenzt: Du Bellay beschreibt die «rethoriqueurs françoys» als «ineptes rimasseurs» und sich selbst als renovator litterarum erster Güte, den sowohl der «esprit que la Nature m’a donné» als auch érudition sowie gentilesse auszeichnen und der überdies mit einer geradezu einschüchternd robusten Vitalität auf den Plan tritt: «[. . .] je ne rapporteroy jamais favorable jugement de nos rethoriqueurs françoys, tant pour les raisons assez nouvelles [. . .] introduites par moy en notre vulgaire, que pour avoir [. . .] hurté un peu trop rudement à la porte des noz ineptes rimasseurs» (Du Bellay 2007, 232). Bis hierhin ergeben sich klare morphologische, intentionale und funktionale Überschneidungen zu Petrarcas komplementärem Einsatz von Singularisierung und Vergemeinschaftlichung. Zum Ausgleich der kraftvollen Singularisierung des auktorialen Selbst betreibt Du Bellay eine nicht weniger nachdrückliche Sodalisierung. In diesem Zusammenhang möchte ich abschließend noch ein Detail der Vorrede in den Blick nehmen, das den konzeptuellen Kern von Du Bellays Selbstautorisierung in aller Deutlichkeit herausstellt. Auf den wiederholten lexikalischen Verweis (,familier‘) auf Petrarcas Epistolae familiares habe ich bereits hingewiesen. Deutlicher wird dieser Bezug auf Petrarca freilich noch dadurch, dass Du Bellay die Vorrede, sein «petit advertissment au lecteur», zweimal als «epistre» bezeichnet (Du Bellay 2007, 232, 239), den vorliegenden Paratext also auch durch den Gattungsbegriff der epistre an das petrarkische Modell auktorialer Vergemeinschaftlichung im Brief anschließt. Und ganz wie der Petrarca der Familiares zitiert auch Du Bellay zur Untermauerung persönlicher Belange rekurrent und wörtlich einschlägige antike Autoren, genauer: Cicero, Diodorus Siculus, Ovid sowie mehrfach Vergil und Horaz, wobei er schließlich in einer aufschlussreichen Pointe Petrarca in eine Linie mit Vergil, Ovid und Horaz einreiht (cf. Du Bellay 2007, 235–236.). Über diese allgemeine Ausrichtung Du Bellays an Schreibweisen des petrarkischen Briefs hinaus scheint mir von besonderem Belang in Hinblick auf eine Amplifikation des petrarkischen Modells zu

les avoir communiquées à ceux que je pensoy bien estre clervoyans en telles choses, singulierement à Pierre de Ronsard [. . .]».

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sein, dass Du Bellay in seiner als «epistre» deklarierten Vorrede eine Vertrautheit nicht nur mit seinen «familiers amis» erklärt, sondern auch mit dem Leser herzustellen bestrebt ist, der ja Adressat des Vorworts ist. Du Bellay übernimmt an dieser Stelle zunächst von Petrarca das Verfahren, textintern eine Vergemeinschaftlichung durch die Vertrautheit mit eben den «familiers amis» auszustellen, variiert Petrarca aber insofern, dass er einen individuell unspezifischen Leser als Adressat der Vorrede einsetzt und damit in die Sodalität aufnimmt. Immer wieder wird der Leser angesprochen und so eine vertrauliche Dialogsituation hergestellt – neunmal wird er als «lecteur» apostrophiert, zweimal schließlich, und zwar bei der vorletzten und bei der letzten Anrede des Lesers, als «amy lecteur» (Du Bellay 2007, 238, 240), womit das Ziel klar benannt ist: Alle zu Briefpartnern gemachten Leser sollen Freunde des Autors werden. In dieser Sodalisierung mit dem Leser dehnt Du Bellay die petrarkische Vergemeinschaftlichung potentiell stark aus: auf alle seine Leserinnen und Leser. Man sieht: das petrarkische Modell einer auktorialen Selbstautorisierung, die aus dem Zusammenspiel von Singularisierung und Sodalisierung ihre Wirkung bezieht, wird von Du Bellay aktualisiert, verdichtet und amplifiziert. Auch wenn sich Du Bellay in seiner dichterischen Praxis und literarischen Programmatik teils eklatant vom italienischen Petrarkismus abzusetzen und eine ,neue‘ französische Literatur zu inthronisieren trachtet, so nutzt doch auch er im Feld poetischer Selbstautorisierung entschieden die von Petrarca geprägten Dispositive auktorialer Selbstinszenierung.

4 Nun könnte ich es damit im Rahmen einer exemplarischen Skizze zur Einführung in einen offenkundig spezifisch frühneuzeitlichen Problemzusammenhang sein Bewenden haben lassen. Dass die Frage nach der poetischen Selbstautorisierung, wie im Ansatz bereits zu sehen war, ausgehend von Petrarcas Selbststilisierung auch eine (in der diachronen Literaturwissenschaft letztlich «unvermeidliche»33) Epochenfrage mitführt, drängt sich nachgerade auf, und ebenso erscheint es naheliegend, den einschlägigen ,Diskursivitätsbegründer‘ Petrarca an den Beginn einer spezifisch nachmittelalterlichen Form starker poetischer Selbstautorisierung zu stellen. Während freilich Petrarcas Bestreben erkennbar darauf gerichtet ist, hier eine möglichst schroffe Abgrenzung vorzunehmen und den eigenen Standpunkt einer renovatio antiker Kultur als bewundernswert singulär und ,neu‘ auszuweisen, lässt zumindest der Blick auf seine Verfahren poe33 Cf. dazu Hempfer (2017).

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tischer Selbstautorisierung die von Petrarca selbst postulierte epochale Grenze verschwimmen. Petrarcas Selbstautorisierung ist nämlich nicht so different ,neu‘, wie Petrarca sich und sein Werk stilisieren möchte, sondern mit bereits vorgängigen – und zwar nicht mit den von ihm selbst angeführten antiken, sondern mit nachantik-mittelalterlichen – Mustern verschränkt. Und an dieser Stelle kommt Dante ins Spiel. Die Verknüpfung von Singularisierung und Sodalisierung im Dienst umfassend wirksamer dichterischer Selbstautorisierung schließt bei Petrarca nämlich ebenso propositional verschwiegen wie morphologisch und funktional unleugbar an seinen ,mittelalterlichen‘ Antagonisten Dante an, an seinen maestro negato, wie Marco Santagata die Beziehung Petrarcas zu Dante einst schön auf den Punkt gebracht hat.34 Nicht von ungefähr begegnet – wenngleich theoretisch nicht ausgebaut – der Begriff der «self-authorization» bereits in Peter S. Hawkins großem Dantebuch.35 Bei dem ,mittelalterlichen‘ Dante scheinen sich mir, wie ich im Folgenden anzeigen möchte, nicht nur bereits Morphologien der Selbstautorisierung herauszubilden, die mit Petrarca zum Standard frühneuzeitlicher Literatur avancieren, sondern es scheint mir damit verbunden auch bereits Einiges in Hinblick auf den kulturellen Stellenwert von Dichter und Dichtung insgesamt zu geschehen. Dantes Selbstinszenierung als Autor und Autorität erscheint mir insofern doppelt interessant. Erstens gibt sie prägnant Aufschluss über Dantes Poetik, und zweitens zeigt sich, dass die Epochenschwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, von Dante zu Petrarca, keineswegs als der scharfe Bruch, als den Petrarca sie selbst etwa in der Collatio laureationis perspektiviert, angemessen zu verstehen ist, sondern eher als Übergänglichkeit, als eine Transformationsdynamik, in der das ,Neue‘ dem offensiv nihilierten ,Alten‘ mehr verdankt, als es zunächst den Anschein haben soll. Dies möchte ich nun noch anschneiden; ich werde mich dabei auf poietische Erscheinungsformen Dantes in seiner Commedia beschränken. Zunächst ist auffällig, dass Dante im Gegensatz zu anderen mittelalterlichen Jenseitsvisionen in der Commedia in seiner integralen Körperlichkeit auftritt (cf. Segre 1990, 25–48; Dinzelbacher 1981). Dantes berühmter Vers «Io non Enëa, io non Paulo sono» (Inf. II, 32)36 macht dies selbstbewusst deutlich: zwar weist er in affektierter Bescheidenheit den Vergleich mit Aeneas und Paulus zunächst zurück, der Textverlauf aber macht umgehend deutlich, dass er die Traditionslinie körperlicher Jenseitsreise aufnimmt (wobei Paulus sich nicht einmal sicher ist, ob er «mit dem Leib oder ohne den Leib» entrückt wurde, 34 So der Titel des ersten Kapitels von Santagata (1990, 23–51). 35 Hawkins (1999, 35). 36 Hier und im Folgenden unter Angabe der üblichen Sigle im Fließtext zitiert nach Alighieri (1991/1994/1997).

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2 Kor 12,1–4) und auf eine fulminante Überbietung zuführt. Als weltlicher Mensch zeigt Dante in den Jenseitsreichen zahlreiche körperliche Reaktionen auf das Erlebte37 und wird auch als lebendiger Mensch von den Bewohnern des Jenseits wahrgenommen und erkannt. Zum Beispiel sieht Bonagiunta in der berühmten Szene in Purgatorio XXIV Dante vor sich, «io veggio colui che fore trasse le nove rime» (Purg. XXIV, 49–50.) ruft er ja aus, und er wiederholt das Lexem kurz darauf in den bekannten Versen: «O frate, issa vegg’io il nodo che’l notaro e Guittone e me ritenne di qua dal dolce stil novo ch’io odo!» (Purg. XXIV, 55–57). Das ist bekannt, aber es ist eben auch wichtig, denn hier tritt Dante als eine Figur auf, die ihre Autorität als Autor den Lesern gegenüber anschaulich macht, sie körperlich präsent macht. Wir sollen gleichsam Dante vor uns sehen; der Text ist unmittelbar an die Erfahrung und an die Wiedergabe, an das Sprechen eines Menschen von dieser Welt gebunden, an den Menschen Dante, so wie er sich uns gegenüber in seinen Selbststilisierungen in der Commedia – und auch schon in der Vita nova – darstellt. In der Bonagiunta-Passage versucht zwar Bonagiunta eine familiäre Nähe zu Dante herzustellen, wenn er ihn mit «o frate» anredet. Aber letzten Endes führt diese Passage keine Gemeinschaft vor, sondern die Einzigartigkeit Dantes, seine uneinholbare poetische Exzellenz. Bonagiunta bleibt «di qua» von Dantes dolce stil novo, wie er unmissverständlich zugibt. Kurzum: Dante als von Gott Auserwählter, als viaggiatore, als poeta und als autore ist eine singuläre Figur. Sein Projekt ist einzigartig. Insofern gewinnt auch die Formel des «Io non Enëa, io non Paulo sono» über die zunächst scheinbar bescheidene Abwehr hinaus weiteren Sinn: Dante ist in der Tat weder mit Aeneas noch mit Paulus gleichzustellen, sondern eine einzigartige, auserwählte Ausnahmefigur, der als christlicher Jenseitswanderer nicht nur Aeneas Unterweltsfahrt heilsgeschichtlich überholt und erfüllt, sondern hinter dessen Erfahrung und Werk sich auch Paulus’ knapper Hinweis auf seine «Erscheinungen und Offenbarungen» (2 Kor 12,1) wie eine Randnotiz christlicher Gotteserfahrung ausnimmt. Dante allein ist es, der in Inferno I den mühsamen Weg beschreitet, welcher der ganzen Welt den Weg ins Heil weisen soll, und in Inferno II bekräftigt er dies im Eingang – nicht von ungefähr im dritten Vers – mit der Formel des io sol uno,38 und die-

37 Ich erinnere nur an die einschlägig vielleicht berühmteste Stelle, wenn Dante angelegentlich des Berichts, den Francesca in Inferno V von ihrer ehebrecherischen Beziehung zu Paolo gibt, seine körperliche Reaktion als solche benennt: «io venni men così com’io morisse, / e caddi come corpo morto cade» (Inf. V, 141–142). 38 Cf. Inf. II, 1–6: «Lo giorno se n’andava e l’aere bruno / toglieva li animai che sono in terra / da le fatiche loro; e io sol uno / m’apparecchiava a sostener la guerra / sì del cammino e sì de la pietate, / che ritrarrà la mente che non erra».

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ses Selbstbild wird die gesamte Commedia hin aufrecht erhalten. Die individuelle und performative Singularität Dantes ist absolut. Im Gegensatz zu Petrarca, der in seiner Collatio laureationis sich als Führer, als dux (cf. oben S. 10, Collatio 8.2), für seine, wie er ausdrücklich sagt, zahlreichen Nachfolger empfiehlt, hat Dante keinerlei Nachahmer im Sinn. Er ist gleichsam ein einzigartiges Monument seiner selbst. Dennoch lohnt es sich, in der Commedia auch Formen der Sodalisierung zu verfolgen. Die gibt es nämlich auch, und gerade diese scheinen mir sehr aufschlussreich für das Verständnis des Werks insgesamt. Gerade in den Momenten also, in denen Dante sich als Autor in einer Gemeinschaft mit anderen Autoren inszeniert, wird Dantes Selbstverständnis und das poetische Programm, das er mit der Commedia verfolgt, sehr deutlich vorgeführt, ja evident gemacht. Mit anderen Worten: nicht nur bei Petrarca und seinen Nachfolgern, auch schon bei Dante ist insbesondere die Figuration des Autors innerhalb der eigenen Fiktion von allergrößter Programmatik für die betreffende Poetik. Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang allem voran Dantes Aufnahme in die Gemeinschaft der besten antiken Dichter. Im berühmten vierten Gesang des Inferno hat Dante hart an der Grenze zur Häresie (cf. Iannucci 1993, 19–39, bes. 19–22) entgegen der theologischen Lehrmeinung nicht nur die ungetauften Kinder und die Väter aus dem Alten Testament in den Limbus versetzt, sondern auch herausragende Figuren der heidnischen Antike, unter ihnen besonders prominent ihre kanonischen Dichter. Dante setzt hier mit Homer, Horaz, Ovid, Lukan und dem diese vier überstrahlenden Vergil vergegenwärtigend eine Dichtergemeinschaft ins Bild, deren Mitglieder dem Jenseitswanderer bereits aus größerem Abstand als ruhmreiche Persönlichkeiten erscheinen. Schon von weitem wird Dante klar, dass sich in dem vorausliegenden Bereich aufgrund von symbolkräftig besseren Lichtverhältnissen «onorevole gente» befinden muss.39 Interessiert fragt Dante seinen Führer Vergil: ,O tu ch’onori scїenzїa e arte, questi chi son c’hanno cotanta onranza, che dal modo de li altri diparte?‘ E quelli a me: ,L’onrata nominanza che di lor suona sù ne la tua vita, grazia acquista in ciel che sì li avanza.‘ Intanto voce fu per me udita:

39 «Non era lunga ancor la nostra via / di qua dal sonno, quand’io vidi un fuoco / ch’emisperio di tenebre vincìa. Di lungi v’eravamo ancora un poco, / ma non sì, ch’io non discernessi in parte / ch’orrevol gente possedea quel loco» (Inf. IV, 67–72).

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,Onorate l’altissimo poeta: l’ombra sua torna, ch’era dipartita.‘ Poi che la voce fu restata e queta, vidi quattro grand’ombre a noi venire: sembianz’avevan né trista né lieta. Lo buon maestro cominciò a dire: ,Mira colui con quella spada in mano, che vien dinanzi ai tre sì come sire: quelli è Omero, poeta sovrano; l’altro è Orazio satiro che vene; Ovidio è ‘l terzo, e l’ultimo Lucano. Però che ciascun meco si convene nel nome che sonò la voce sola, fannomi onore, e di ciò fanno bene.‘ Così vid’i’ adunar la bella scola di quel segnor de l’altissimo canto che sovra gli altri com’aquila vola. Da ch’ebber ragionato insieme alquanto, volsersi a me con salutevol cenno, e ‘l mio maestro sorrise di tanto; e più d’onore ancora assai mi fenno, ch’e’sì mi fecer de la loro schiera, sì ch’io fui sesto tra cotanto senno. (Inf. IV, 73–102)

Mit diesem Passus, der sich auffällig platziert gerade in der Mitte des vierten Gesangs befindet, ist eine lebendige, historisch übergreifende Gemeinschaft Dantes mit den exzellentesten Dichtern der Antike hergestellt, mit der, so Curtius, «geweihten Korporation» (Curtius 1993, 371) der bella scola. Dies geschieht in einem ziemlich gravitätischen Stil, der auf Imperativ, Anapher und Wiederholung setzt, wobei das Lexem onore in Varianten insgesamt fünfmal vorkommt und so für einen Effekt einschlägiger Bedeutsamkeit sorgt.40 Demonstrativ rückt Dante seine Dichtung im volgare in die ehrwürdige Tradition antiken Dichtens, indem er, so Amilcare Iannucci, im Sinne einer «autodefinizione poetica» (Iannucci 1993, 24) seine wichtigsten antiken Vorbilder nennt. Mehr noch: dass Dante auf

40 Dass onore im Zusammenhang mit dem Auftreten antiker Dichter gehäuft gebraucht wird, ist wenig verwunderlich, gehört doch honos zu einem der ältesten römisch (republikanischen) Wertbegriffe. Im Gegensatz zu gloria, welche als doppelseitiger Begriff vom Anerkennenden abhängig ist (Cicero: «gloria est frequens de aliquo fama cum laude», De inv. 166), impliziert honos stärker den messbaren, ‚objektiven‘ Wert der Tugendhaftigkeit des Geehrten. Lexikalisch besonders hervorgehoben erscheint daher an dieser Stelle nicht nur die ‚Gegenseitigkeit‘ der Ehre (zwischen antiken Dichtern und Dante), sondern auch der objektive Wert des Dichters, welcher unabhängig von der Anerkennung einer Menge auf überzeitliche Autorität verweist. Cf. genauer Drexler (1967, 446–467).

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Augenhöhe an die antiken Autoritäten anschließt und von diesen als Ihresgleichen geschätzt wird, autorisiert und nobilitiert sein Projekt volkssprachlicher Dichtung, und dies nicht nur in der Situation, sondern auch auf der Ebene ihrer sprachlichen Vermittlung. Wenn nämlich Dantes Aufnahme in die bella scola als onore gefasst wird, verschränkt sich Dantes Selbstinszenierung sprachmateriell mit dem Ansehen Vergils, welcher zuvor mit dem Lexem verbunden («onorate l’altissimo poeta», Inf. I, 80; «fannomi onore», Inf. I, 93) und bereits eingangs der Commedia von Dante als «de li altri poeti onore e lume» (Inf. I, 82) bezeichnet wurde. Die Aufnahme in die bella scola führt freilich nicht nur Dantes Traditionsbewusstsein und die Tauglichkeit seiner volkssprachlichen Dichtung nach Maßstab der antiken Autoritäten vor Augen, sondern auch die Überlegenheit des Autors Dante über seine Zeitgenossen. In Inf. II, 105 hatte Lucia im Lichte göttlicher Gnade Dante als den Dichter der Beatrice von der volgare schiera seiner Zeitgenossen abgesondert und so bereits mit der Aura der Einzigartigkeit versehen.41 Hier im vierten Gesang nun unterstreicht «sí mi fecer de la loro schiera» als sprachliche Inszenierung einer Handlung in gesteigerter Form Dantes außerordentlichen Anspruch in Abgrenzung von seinen Zeitgenossen durch die Vergemeinschaftlichung mit der schiera der Alten, und eben nicht anderen zeitgenössischen Dichtern. Auf die Distanzierung von der volgare schiera folgt also die aktive Aufnahme in die Gemeinschaft der elitären schiera antiker Autoritäten, womit sich Dantes Anspruch auf eine unter seinen Zeitgenossen singuläre «zeitlose Autorität» (Curtius 1993, 28)42 erfüllt: die Gemeinschaft mit den antiken Autoritäten begründet Dantes herausragende, einzigartige Position unter seinen Zeitgenossen. Sodalisierung und Singularisierung ergänzen sich somit auf nachhaltige Weise, wobei das Prinzip der Singularisierung freilich nicht nur auf Dantes Positionierung unter den Dichtern seiner Zeit zielt, sondern auch innerhalb der Vergemeinschaftlichung mit der bella scola wiederum zum Tragen kommt. Dante zieht nicht nur gleich mit den paganen Dichterautoritäten, insonderheit mit dem altissimo poeta Vergil, sondern platziert sich innerhalb der bella scola seinerseits auch auf eine herausragende Weise. Der Schlusspunkt der 41 Beatrice berichtet in Inf. II, 103ss. von ihrem Auftrag: «Disse [Lucia]: - Beatrice, loda di Dio vera, / ché non soccorri quei che t’amò tanto, / ch’uscì per te de la volgare schiera?» Cf. zu diesem Passus mit Blick auf Dantes poetische Selbstlegitimierung zuletzt die Einlassungen von Kablitz (2013, 178–188). Auch im Convivio (I, 1, 10) setzt Dante sich vom ,Volk‘ ab («fuggito de la pastura del vulgo»). 42 Cf. hierzu resümierend Iannucci (2000, 175–176.): «It must be stressed that the meeting with the poets contains a double act of inclusion. As Dante, the pilgrim-poet is being welcomed into the bella scola at the narrative level, Dante the poet is incorporating the works of the classical authors into his own poem. [. . .] Through association with the poets of ‚timeless authority‘ Dante transfers that authority to himself».

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Passage betont nämlich eine Sukzession: aufgenommen wird Dante in die Schar der kanonischen Dichterautoren als letzter einer Reihe, als «sesto tra cotanto senno». Dies macht Zweierlei deutlich: erstens erscheint Dante gleichsam als Zielpunkt der antiken Dichtkunst, in dessen Kunst sich das poetische Vermögen der antiken Autoren verdichtet.43 Dante summiert und aktualisiert mit seiner Autorschaft die formalästhetische Kompetenz der größten poetischen Autoritäten; damit wird er in einer als solche durch die Erscheinung der antiken Autoren in Szene gesetzten langen Traditionslinie zu einer neuen und einzigartigen Autorität, in der sich die vorgängigen Kompetenzen verbinden und erfüllen. Zweitens deutet sich in dieser Position auch eine Erfüllung nicht nur im poetischen Sinne an, sondern auch im heilsgeschichtlichen Verständnis. Als Letzter der bella scola wird Dante, so die bekanntlich bibelexegetische Textlogik der Commedia, heilsgeschichtlich gesehen der Erste sein. Dies bezieht sich zunächst darauf, dass Dante als christlicher Dichter die antik profane Tradition im Sinne einer interpretatio christiana der einschlägig dichterischen Stilverfahren grundsätzlich christlich anagogisch ausstattet und bereits auf der Ebene des Literalsinns die Tradition so mit ontologisch höherem, christlich wahrem Status fortschreibt.44 Auch im weiteren Textverlauf belässt es Dante nicht bei dieser, innerhalb der Situation von Inf. IV bereits offenkundigen Perspektive heilsgeschichtlicher Erfüllung antiker Dichtkunst durch Dante im Zeitalter christlicher Gnade. Wie wir wissen, mündet diese Perspektive einer christlichen Autorschaft im irdischen Paradies am Ausgang des Purgatorio darin, dass Dante sich in die Prozession aus Christus, der Kirche und den Autoren des Alten und des Neuen Testamentes einreiht und demonstrativ zum scriba Dei wird, zu einem Autor, der an die biblischen Autoren anschließt. Dies geschieht gleichsam performativ-szenisch durch das konkrete Eintreten Dantes in die Prozession, und es geschieht auf diskursiver Ebene dadurch, dass Dante zahlreiche Zitate45 der Offenbarung des Johannes einbaut und so an das letzte Buch der Heiligen Schrift anschließt, die biblische

43 Dantes poietische Aktualisierung der «classics» beleuchtet allgemein Brownlee (1993, 100–119). Im Speziellen behandeln Dantes Aneignung der Autoritäten der bella scola die in Iannuccis wichtigem Band (1993) versammelten Beiträge von Giorgio Brugnoli, Claudia Villa, Michelangelo Picone, Violetta de Angelis, Zygmunt G. Baránski und Robert Hollander. 44 Zu der «typologischen Erfüllung» der antiken Tradition durch Dante cf. Picone (1996, 51–73); zum Problem des anagogischen Literalsinns cf. pointiert Kablitz (1999b, 356): «Die Jenseitsreise der Commedia verwandelt die Ordnung der allegorischen Poetik in eine narrative Figur zurück. Sie macht den sensus anagogicus zum Literalsinn einer Geschichte, welche die Anschauung jenseitiger Wirklichkeit zum Inhalt hat». 45 Die ventiquattro seniori und die quattro animali der Prozession in Purg. XXIX (82–93) verweisen engstens und ausdrücklich auf die Apokalypse («Und rings um den Thron standen vierundzwanzig Throne und auf den Thronen saßen vierundzwanzig Älteste in weißen Gewändern

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Offenbarungsrede quasi fortsetzt. Dabei bezieht er übrigens Johannes’ Wahrnehmung ziemlich selbstbewusst auf sich selbst als wahrnehmenden und berichtenden Autor, und in diesem Zusammenhang betreibt er auch eine ausdrückliche und programmatische Sodalisierung mit dem Autor des letzten Buches der Heiligen Schrift, denn dieser ist, so Dantes Sicht, «meco».46 Auch Beatrice bringt die Ersetzung der poetischen durch die quasi biblische Autorschaft auf den Punkt, wenn sie in Purg. XXXII und XXXIII festhält, Dantes Aufgabe sei von nun an notare und scrivere,47 wenn Beatrice also Dante ausdrücklich zum scriba Dei macht, der als solcher von nun an im allgemein christlichen Sinn die «bella scuola della poesia» hinter sich lassen soll, und der im konkreten Textbezug hier wiederum in der Nachfolge des Apokalyptikers steht, dem ja am Anfang und am Ende seiner Offenbarung (Offb 1,11; 21,5) von Christus erklärt wird, er solle aufschreiben, was er sieht, und es an die Gemeinden schicken, ganz wie Dante, dem Beatrice bedeutet, er solle zum Wohl der irdischen Welt aufschreiben, was er sieht: «[. . .] in pro del mondo che mal vive / al carro tieni or gli occhi, e quel che vedi, / ritornato di là, fa che tu scrive» (Purg. XXXII, 103–105). Darauf möchte ich aber an dieser Stelle gar nicht näher eingehen, sondern ich möchte vielmehr wieder zurückkehren zu Dantes Sodalisierung im Limbo und fragen, was im vierten Gesang nach Dantes Eintritt in die Gemeinschaft der bella scuola weltlicher Dichtung zunächst weiter geschieht. Mit Dantes Aufnahme in die bella scuola geht eine massive Aufwertung des Dichters und der Dichtung als Medium der Aneignung und Vermittlung von Wissen einher. Für Dante ist, wie sich an Inf. IV zeigen lässt, die poesia ganz im Gegensatz zu der scholastischen Auffassung von der Dichtung als infima inter omnes doctrinas ein Medium für den Zugang zu Wissen und Wahrheit von allererstem Rang. Nach Dantes Aufnahme in die bella scola nämlich kommt wieder Bewegung in die Reise: die nunmehr sechs kanonischen Dichterautoritäten schreiten weiter in das Licht und kommen am Fuß des in fast vierzig Versen

und mit goldenen Kränzen auf dem Haupt» (Offb 4,4); «Und vor dem Thron war etwas wie ein gläsernes Meer, gleich Kristall. Und in der Mitte, rings um den Thron, waren vier Lebewesen voller Augen, vorn und hinten» (Offb 4,6). 46 Dies ist der Fall in Purg. XXIX, wo Dante die Erscheinung der vier Evangelistensymbole nicht weiter beschreibt, sondern auf deren Beschreibung bei Ezechiel verweist und dabei bemerkt, dass allein ihre Federn sich von Ezechiel unterscheiden und ihrer Beschreibung durch Johannes entsprechen. Pikant ist dabei, dass Dante diesen Sachverhalt mit «Giovanni è meco» (XXIX, 105) fasst, also in der syntaktischen Fügung nicht seine Wahrnehmung in die Tradition Johannes’ stellt, sondern umgekehrt sich selbst in den Vordergrund rückt: Johannes bestätigt Dante, und nicht umgekehrt. 47 Cf. Purg. XXXII, 104–105 und Purg. XXXIII, 52–57.

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inszenierten48 «nobile castello» der irdischen Weisheit an, das in der Danteforschung als solches breitest behandelt worden ist.49 Das nobile castello ist jener Ort, in dem Dante die Vertreter vorchristlicher moralischer Vorbildhaftigkeit und vor- bzw. nichtchristlicher philosophischer und naturwissenschaftlicher Weisheit versammelt hat; mit «grande autorità» (Inf. IV, 113) erscheinen dort nachgerade enzyklopädisch «spiriti magni» (Inf. IV, 119) von Hektor, Äneas, Cäsar und Lukrezia über Aristoteles, Socrates, Platon und Demokrit bis hin zu Seneca, Euklid, Ptolemäus, Hippokrates, Galen und Averroes. Über die komplexe Reihung dieser Autoritäten ließe sich vieles sagen; darum ist es mir an dieser Stelle aber nicht zu tun; vielmehr geht es mir um den schlichten, aber wichtigen Bezug des nobile castello zu Dantes Aufnahme in die bella scola in der Syntagmatik des vierten Gesangs. Das nobile castello als Ort eines autoritativen Weltwissens, als privilegierter «luogo della sapienza» (Consoli 1970, 865) ist von einem Wasserlauf, einem «bel fiumicello» (Inf. IV, 108), umgeben, den die sechs Dichter – die bellezza ist schließlich im Wortsinn ihr Terrain – völlig mühelos überwinden, «questo passammo come terra dura» (Inf. IV, 109). Dante und die antiken Dichter treten ein und gelangen an einen gleichsam paradiesischen Ort, auf einen «prato di fresca verdura» (Inf. IV, 110). Und jetzt geschieht etwas Auffälliges: während Dante zuvor in der Gesellschaft der Dichter insbesondere die in ihrer Lautlichkeit poetisch gestaltende Stimme in der Sinneswahrnehmung hervorgehoben hatte, so ist es mit dem Eintritt ins nobile castello der im weltlichen Sinn weisen spiriti magni der Gesichtssinn, welcher die Wahrnehmung dominiert. Nun ist das ,Sehen‘ in der Commedia bekanntermaßen durchweg von großer Rekurrenz 48 «Venimmo al piè d’un nobile castello, / sette volte cerchiato d’alte mura, / difeso intorno d’un bel fiumicello. / Questo passammo come terra dura; / per sette porte intrai con questi savi: / giungemmo in prato di fresca verdura. / Genti v’eran con occhi tardi e gravi, / di grande autorità ne’ lor sembianti: / parlavan rado, con voci soavi. / Traemmoci così da l’un de’ canti, / in loco aperto, luminoso e alto, / sì che veder si potien tutti quanti. / Colà diritto, sovra ‘l verde smalto, / mi fuor mostrati li spiriti magni, / che del vedere in me stesso m’essalto. / I’ vidi Eletra con molti compagni, / tra’ quai conobbi Ettor ed Enea, / Cesare armato con li occhi grifagni. / Vidi Cammilla e la Pantasilea; / da l’altra parte vidi ‘l re Latino / che con Lavina sua figlia sedea. / Vidi quel Bruto che cacciò Tarquino, / Lucrezia, Iulia, Marzïa e Corniglia; / e solo, in parte, vidi ‘l Saladino. / Poi ch’innalzai un poco più le ciglia, / vidi ‘l maestro di color che sanno / seder tra filosofica famiglia. / Tutti lo miran, tutti onor li fanno: / quivi vid’ ïo Socrate e Platone, / che ‘nnanzi a li altri più presso li stanno; / Democrito che ‘l mondo a caso pone, / Dïogenès, Anassagora e Tale, / Empedoclès, Eraclito e Zenone; / e vidi il buono accoglitor del quale, / Dïascoride dico; e vidi Orfeo, / Tulïo e Lino e Seneca morale; / Euclide geomètra e Tolomeo, / Ipocràte, Avicenna e Galïeno, / Averoìs, che ‘l gran comento feo» (Inf. IV, 106–144). 49 Cf. resümierend Consoli (1970, 864–866).

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und Bedeutung – das doppelte «vedrai» Vergils in Inf. I macht dies von Anfang an deutlich –;50 gleichwohl lässt sich an dieser Stelle meinem Eindruck nach eine besondere quantitative und qualitative Relevanz des Sehens beobachten. Dies betrifft zunächst einmal die spiriti magni des nobile castello selbst, von denen es bei ihrem ersten Anblick heißt: «Genti v’eran con occhi tardi e gravi / di grande autorità ne’lor sembianti» (Inf. IV, 112–113). Diese Fokussierung auf den Gesichtssinn betrifft in der unmittelbaren Folge auch Dante und seine Begleiter, die nun weniger hören («parlavan rado», Inf. IV, 114), heißt es von den weisen Bewohnern des castello) als vielmehr sehen. Die Funktion dieser veränderten Sinneswahrnehmung liegt nicht nur in der innerhalb des Gesangs recht exklusiven Zurichtung stimmlich-sprachlicher oder besser: sinnlich-elokutioneller Kompetenz auf den Kreis der Dichter, sondern meinem Eindruck nach vor allem auch darin, die Erfahrung der Begegnung Dantes und seiner Dichterfreunde mit dem philosophischen, moralischen, mathematischen, medizinischen Wissen des nobile castello als Erkenntnis sprachmateriell effektvoll in Szene zu setzen. Die Lesart des ,Sehens‘ als ,Erkennens‘, als ein videre per essentiam, als ,Einsicht‘ der anima sensitiva und intellectiva51 wird lexikalisch nachdrücklich unterstützt: in den 33 Versen (112–144) der Beschreibung der Bewohner des nobile castello findet sich das Lexem vedere elfmal, flankiert und damit sprachmateriell eindeutig semantisiert von einem «mostrare» und einem «conoscere» (Inf. IV, 119 resp. 122). In der Räumlichkeit von Inf. IV, in der Bewegung des Jenseitsreisenden in dieser Räumlichkeit und mit dem Wechsel von der Privilegierung der dichterischen Stimme hin zum Sehen als performativer Illustration des ,Erkennens‘ haben wir es also mit einer bemerkenswerten Sukzession zu tun, von der Stimme zum Sehen, von der Dichtung zur Erkenntnis. Über die bella scola der Poesie gelangt Dante in das nobile castello der Weisheit; die Stimme der Dichter wird durch die Erkenntnis des philosophischen und naturkundlichen Wissens als Zielpunkt des Gesangs überboten, gleichzeitig aber ist es die Stimme der Dichtung, welche gleichsam die unabdingbare Zugangsvoraussetzung zu dem Weltwissen, zur sapienza, darstellt. Dichtung, so müssen wir folgern, ist ideales Aneignungsdispositiv der Weisheit; dem Dichter öffnet sich mühelos das Tor zum nobile castello der

50 «[. . .] vedrai li antichi spiriti dolenti, / ch’a la seconda morte ciascun grida: / e vederai color che son contenti [. . .]» (Inf. I, 116–118). Dem doppelten «vedrai» steht in dem betreffenden Satzgefüge, das von 112 bis 120 reicht, nur ein «udirai» (115) gegenüber. Zu Rekurrenz und lexikalischer Bedeutungsextension von vedere bei Dante insgesamt cf. Consoli (1976, 894–896). 51 Die epistemischen Voraussetzungen des ,Sehens‘ als ,Einsicht‘ (bis hin zum Prinzip des videre per essentiam) bei Dante beschreibt anschaulich Leo (1957, bes. 20–25).

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Weisheit. Der Königsweg zur moralischen und wissenschaftlichen Erkenntnis ist Dantes Szenario in Inf. IV zufolge offenbar die poesia. Es ist der körperlich sichtbare Weg der Autorfigur durch ihre eigene Erzählung, der dies anschaulich macht.

5 Diese Selbstermächtigung der Dichtung als Medium doktrinaler Erkenntnis bleibt, und dies scheint mir eine noch verblüffendere Pointe darzustellen, freilich nicht auf das antik vorchristliche Weltwissen beschränkt, sondern sie dehnt sich auch aus auf die Erfahrung und Vermittlung christlich heilsgeschichtlicher Wahrheit. Ungeachtet seiner Selbststilisierung als scriba Dei im irdischen Paradies bleibt Dante auch im himmlischen Paradiso nicht nur Dichter – denn er wechselt ja nicht etwa in kunstlose Prosa –, sondern er betont diesen weltlich poetischen Charakter der Commedia auch immer wieder. Dies geschieht beispielsweise in Paradiso XXV, wo Dante sein poema sacro als ein Werk ausweist, «al quale ha posto mano e cielo e terra» (Par. XXV, 5) und damit die gleichzeitige Weltlichkeit und Jenseitigkeit der Commedia betont, und es geschieht mit großem Nachdruck in der Apoll-Invokation in Par. I, wo Dante ein Selbstbild entwirft, das ihn in seiner Singularität von seinen Vorgängern und Zeitgenossen absetzt und außergewöhnlichen Dichterruhm einfordert. In der Darstellungsökonomie der Commedia entfaltet sich diese Passage vor dem Hintergrund der invocatio in Purg. I. Dort hatte Dante die Muse des epischen Gesangs, Kalliope, angerufen, und dies unter Bezugnahme auf ein einschlägiges Mythem, auf die Metamorphose der Pieriden oder pireischen Musen, welche die olympischen Musen zum Wettstreit herausgefordert hatten, von Kalliope besiegt wurden und daraufhin in misstönende Elstern verwandelt wurden (bei Ovid Met. V, 662–678)52. Das agonale Momentum jeglicher Nachahmungsdichtung wird hier demonstrativ aufgenommen und unverhohlen aggressiv auf eine uneinholbare Distanzierung und Überlegenheit abgestellt. Der Passus betont nicht nur die singuläre Überlegenheit der Kalliope, sondern suggeriert auch diejenige Dantes, dessen canto in Vers 10 mit dem «suono» des siegreichen Gesangs der Kalliope assoziiert wird.53 In Par. I dann führt Dante diese Selbstinszenierung noch einmal nach dem Prinzip der Amplifikation weiter. Während in Purg. I die Muse Kalliope mit dem Mythem der Verwandlung der

52 Cf. Ovid (2017). 53 Cf. Purg. I, 9–10.: «e qui Callїopè alquanto surga, / seguitando il mio canto con quel suono [. . .]».

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Pieriden in Elstern aufgerufen wurde, führt Dante nun Apoll nebst einem ebenfalls auf den agonalen Künstlerwettstreit ausgerichteten Mythem ins Feld: der Apoll und Marsyas-Erzählung (Met. VI, 382–400). Vor die betreffende invocatio schaltet Dante sein Eingeständnis, dass die anagogische Erfahrung des Jenseitsreisenden eigentlich nicht in menschliche Worte zu fassen sei. Dennoch erklärt Dante, dass die Erinnerung an den «regno santo» Gegenstand, «matera», der folgenden Rede sein solle. Die Rede wird dabei als «canto» ausgewiesen, und nach dieser Charakterisierung des eigenen Sprechens eröffnet Dante in der epischen Einleitungssystematik die invocatio. In einer auffälligen Selbstermächtigung wird also das eigentlich Unsagbare nun doch zum Redegegenstand, da die poetische Rede Dantes, der epische canto, offenkundig über ein gesteigertes, weniger defizitäres Vermittlungspotential als die kunstlose Alltagsrede verfügt. Das Ziel Dantes wird dabei unverblümt von Anfang an benannt – es ist der weltliche Ruhm für eine exzellente poetische Leistung: O buono Apollo, a l’ultimo lavoro fammi del tuo valor sì fatto vaso, come dimandi a dar l’amato alloro. Infino a qui l’un giogo di Parnaso assai mi fu; ma or con amendue m‘è uopo intrar ne l’aringo rimaso. Entra nel petto mio, e spira tue sì come quando Marsїa traesti de la vagina de le membra sue. O divina virtù, se mi ti presti tanto che l’ombra del beato regno segnata nel mio capo io manifesti, vedra’mi al piè del tuo diletto legno, venire, e coronarmi de le foglie che la materia e tu mi farai degno. Sì rade volte, padre, se ne coglie per trїunfare o cesare o poeta, colpa e vergogna de l’umane voglie, che parturir letizia in su la lieta delfica deїtà dovria la fronda peneia, quando alcun di sé asseta. (Par. I, 13–33)

Der Fall ist klar: mit zunehmender Komplexität des Darstellungsgegenstandes steigert Dante auch die Anforderungen an die eigene rhetorisch-stilistische Exzellenz. In diesem Zusammenhang ist die vorliegende Sequenz durch Parallelen auf der Ebene der Mythologieverwendung auf die invocatio in Purg. I zugeordnet und gleichzeitig in Anspruch und Bildintensität gesteigert. Das Bildfeld der Überbietung und der Bestrafung künstlerischer Mitbewerber wird durch die

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Marsyas-Szenerie auf drastische Weise ausgebaut. Dante selbst markiert dabei sein eigenes Ziel, das ihn gleichzeitig von allen anderen Autoren seiner Zeit absetzt: die ausdrücklich seltene («Sí rade volte, padre, se ne coglie») Lorbeerkrönung eines Dichters, dessen fama auch diejenige des an dieser Stelle längst zurückgelassenen Heiden Vergil überstrahlt, und der sich auf einzigartige Weise von den «umane voglie» aller anderen unterscheidet. Lorbeer und Lorbeerkrönung selbst werden einmal expressis verbis benannt und dreimal periphrastisch, gleichsam in einer Selbstinszenierung rhetorischer variatio, aufgerufen; einmal als «diletto legno», einmal als «foglie» und einmal als «fronde peneia», dabei übrigens immer als Reimwort prominent gesetzt. Dante entwickelt damit archetypisch ein Grundthema der nachfolgenden italienischen Literatur (cf. Picone 2005, bes. 11–12.). Funktional perspektiviert sich Dante hier als Autor, der in apollinischer Virtuosität die formalästhetischen Kompetenzen aller anderen Autoren singulär überstrahlt – die Absetzung von der volgare schiera in Inf. II und der poetische Autoritätsbeweis der bella-scola-Episode in Inf. IV werden mit der Lorbeerkrönung im Paradies als einzigartige, allein auf Dante bezogene Ruhmesleistung noch einmal schärfer als zuvor konturiert und auf eine glänzende Zukunft des Autors geöffnet. Nicht zu vergessen ist dabei freilich, dass Dante als Grundlage für seinen Dichterruhm nicht allein seine formalästhetische Exzellenz in Anschlag bringt, sondern auch den Gegenstand seines Textes, was in Vers 27 die Verbindung «la materia e tu» anzeigt. Hier kommt also zu der stilistischen Strahlkraft, die von dem tu Apolls repräsentiert wird, in eben solchem Maße der Wahrheitsgehalt seiner Dichtung hinzu, die als ,wahre‘ Dichtung auch ein singuläres Phänomen in einer Welt ist, in der ansonsten für Dante gilt, dass sie allenfalls eine «veritade ascosa sotto bella menzogna» (Convivio II,i,3) zu vermitteln imstand sei. Es ist dieses inhaltliche Alleinstellungsmerkmal, das Dante als Merkmal seiner Einzigartigkeit auch in Par. II stark macht. Dort zieht er nicht nur den anderen Dichtern, sondern allen anderen Zeitgenossen davon. Während Dante sich nämlich im Convivio noch als einen Wahrheitskünder beschreibt, der zu Füßen derjenigen sitzt, die das ,Brot der Engel‘ zu sich genommen haben, (cf. Convivio I,i,11–15), also der Weisen, welche die göttliche Wahrheit in sich aufgenommen haben, setzt er sich in Par. II als ein Autor in Szene, dem sogar all diejenigen, die vom pan degli angeli genossen haben, zwar folgen können, aber eben auch nur folgen können, wenn sie sich dicht hinter ihm bewegen. Nachdem er nämlich diejenigen seiner Leser, die ihm zwar begierig zuhören möchten, sich aber nur in einer «piccioletta barca» bewegen (Par. II, 1), inständig dazu auffordert, an ihre Ufer zurückzukehren, da sie sich sonst unzweifelhaft verirren müssten («smarrirsi» lautet in Par. II, 6, das betreffende Lexem, welches das heillose Bedrohungsszenario von Inf. 1 in Erinnerung ruft),

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adressiert er die wenigen Weisen, die ihm zu folgen imstand sein mögen, folgendermaßen: Voi altri pochi che drizzaste il collo per tempo al pan degli angeli, del qual vivesi qui ma non vien satollo, metter potete ben per l’alto sale vostro navigio, servando mio solco dinanzi a l’aqua che ritorna equale. (Par. II, 10–15)

Die in Hinblick auf die Verdichtung und Evidentmachung der doktrinalen Versiertheit Dantes und der schweren Bedeutsamkeit seiner Vision verwendete Schifffahrtsmetaphorik ist innerhalb des Textes freilich bereits aus Purg. I bekannt, wo sie topisch auf das Feld dichterischer Schöpfungskraft verweist. Nicht von ungefähr nimmt der betreffende Passus in diesem Sinn einen prominenten Ort in Curtius‘ Europäischer Literatur ein.54 Auch hier folgt Dante, ganz wie mit dem Verhältnis zwischen den Invokationen in Par. I und Purg. I, dem Prinzip der Amplifikation. Während er in Purg. I noch davon sprach, der kleinen «navicella del mio ingegno» (Purg. I, 2) die Segel zu setzen, so bewegt er sich hier, wie diejenigen, die sich ihm zu folgen anschicken, in einem navigio auf hoher See. Wenn sich Dante dabei in Par. II als heroischer Hochseesegler ins Bild setzt, den einzuholen oder gar zu überholen schier unmöglich ist, dann nutzt er die Schifffahrtsmetaphorik im unmittelbaren Kontext der Passage unzweideutig zur Veranschaulichung seines inhaltlichen Anspruchs und führt so doch vor dem Hintergrund der Gesamtstruktur der Commedia gleichzeitig die im formalen Sinn poetologische Dimension des aufgerufenen Bildfelds mit. Materia und tu, heilsgeschichtliche Wahrheit und rhetorische Kompetenz, visionäre Reise und dichterisches Tun, kosmologische Erfahrung und poetische Redaktion gehen somit in Dantes metaphorischer Bewegung über das hohe Meer («l’alto sale») eine Einheit ein. Vor diesem Hintergrund entfaltet Dante eine Thematisierung der dichterischen Qualität der eigenen und einzigartigen Rede noch an ganz besonders prekärer Stelle, und zwar im dreiunddreißigsten Gesang des Paradieses unmittelbar vor der Gottesschau. Dort wird das doktrinale Erfassen – das betreffende Verb lautet «concepire» – der göttlichen Weisheit und Wahrheit nachdrücklich mit der Dichtung in Verbindung gebracht. Wir lesen in den Versen 67–75 des letzten Gesangs der Commedia: O somma luce che tanto ti levi da’ concetti mortali, a la mia mente

54 Cf. Curtius (1993, 139–140).

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ripresta un poco di quell che parevi, e fa la lingua mia tanto possente, ch’una favilla sol de la tua gloria possa lasciare a la future gente; ché, per tornare alquanto a mia memoria e per sonare un poco in questi versi, più si conceperà di tua vittoria.

Auf den ersten Blick tritt hier, in dem letzten Gesang des Paradieses, der christliche Schöpfergott in seiner lichtmetaphysischen Erscheinungsform als Adressat einer invocatio an die Stelle des Musagetes Apoll, der in Par. I das Vermögen der weltlichen Dichtkunst repräsentiert. Parallel sind hier die Anredeformen modelliert («O buono Apollo»; «O somma luce»), und gerade in dieser Parallelität wird der große Unterschied eklatant. Jetzt, im letzten Gesang und unmittelbar vor der Gottesschau, tritt Apoll als Adressat zurück; entscheidend ist nun Gott selbst, der anders als Apoll nicht direkt angesprochen, sondern periphrastisch bedeutsam invoziert wird, und der Dante die defizitäre memoria – auch hierin nimmt der Passus Bezug auf das Grundproblem in Par. I, dass nämlich die menschliche Erinnerung nicht zu der Gotteserfahrung und mithin zur Sphäre des Übermenschlichen zurückreichen kann – auffrischen soll. Ebenfalls wird in diesem Passus jener doppelte Charakter der Commedia aus heilsgeschichtlichem Gehalt (materia) und poetisch-rhetorischer Gemachtheit thematisiert, der in der Anrufung Apolls in Par. I mit «la materia e tu» aufscheint und in der Definition der Commedia in Par. XXV als «poema sacro al quale ha posto mano e cielo e terra» benannt wird. Diese zwei Dimensionen der Commedia, die inhaltliche und die formalästhetische, werden hier in einem auffälligen Parallelismus von Präposition (per/per), infinitem Verb (tornare/sonare) und quantitativer Bestimmung (alquanto/un poco) nebeneinander gestellt: «per tornare alquanto a mia memoria / e per sonare un poco in questi versi». Der Effekt dieses Parallelismus ist freilich an dieser Stelle problematisch, gewinnt durch ihn doch die elokutionelle Qualität das gleiche Gewicht wie der propositionale Gehalt von Dantes Paradieserfahrung und -erzählung. Ziemlich genau in der Mitte, in den Versen 67–75 des 145 Verse zählenden allerletzten Paradies-Gesangs (wobei versi nicht von ungefähr als Reimwort in Vers 74 prominent platziert ist), betont Dante damit erneut und nachdrücklich die poetische, genauer: die klanglich-stimmliche und metrische Qualität seiner Rede – lingua, sonare, versi lauten die einschlägigen Lexeme. Und es sind offenbar genau diese Eigenschaften dichterischer Rede, welche für die Vermittlung der heilsgeschichtlichen Botschaft einen Mehrwert zu schaffen imstand sein sollen: «più si conceperà di tua vittoria». Von einigem Belang ist hier das kleine Adverb più: mehr soll die Menschheit durch Dantes Visionstext vom Sieg Gottes verstehen. Nur ist ,mehr‘ ein relationaler Begriff, und so muss man

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sich fragen: mehr in Bezug worauf? Die Antwort gibt Dante an dieser Stelle nicht, aber sie kann nur lauten: mehr als im bisherigen theologischen Schrifttum und mehr als das, was die Heilige Schrift uns bereits berichtet. Hierin wird also noch einmal der im irdischen Paradies unmissverständlich angezeigte gewaltige Anspruch Dantes deutlich, sich als Fortsetzer der christlichen Offenbarungsliteratur in Anschlag zu bringen, insbesondere als derjenige Autor, der bei Johannes als dem letzten Autor der Bibel ansetzt und diese gleichsam fortschreibt. Deutlich wird aber an dieser Stelle, und im erneuten Gegensatz zu der Dante im irdischen Paradies von Beatrice zugewiesenen Rolle als scriba Dei, aber auch, dass dafür der Dichtkunst als Medium ein ebenso großer Stellenwert zukommt wie dem Wahrheitsgehalt der göttlichen Offenbarung selbst. Die vittoria Gottes soll insbesondere durch rhetorisch-stilistische Verfahren der Dichtung erfahrbar und verstehbar gemacht werden, und zwar besser und wirkungsvoller als bisher; die Dichtung der Commedia und der Dichter Dante gewinnen damit höchste Autorität sogar in Hinblick auf die Vermittlung heilsgeschichtlicher Wahrheit. Mit anderen Worten: Die Autorität des Dichters und die Autorität der Dichtung treten auch und gerade in Par. XXXIII unmittelbar vor der Gottesschau auf bemerkenswerte Weise in den Vordergrund: es sind dichterische Verse, die Gottes Sieg den Menschen in höchstem Maße überzeugend vermitteln sollen, die die christliche Wahrheit im Medium der dichterischen Sprache gleichsam – wenn wir an die Wortbedeutung der poiesis bei Aristoteles denken – ,produzieren‘ sollen. Die Distanz Dantes zu den Lehrsätzen der Scholastik, welche den, so Benedetto Croce, «romanzo teologico» (Croce 1922, 60) der Commedia insbesondere im Paradies vielerorts unbestritten prägt, ist damit an dieser Stelle immens, und sie ist ausdrücklich. Diese Position ist letztlich die äußerste Konsequenz, die Dante aus der dichterischen Selbstautorisierung, welche er in Inf. IV begonnen hat, zieht. ,Wahrheit‘, und zwar auch theologische Wahrheit beginnt hier, sich in Abhängigkeit von ihrer Darstellung und von der Exzellenz ihres Autors zu konfigurieren und zu bemessen. Auch die Wahrheit der christlichen Heilslehre ist zu ihrer Durchsetzung offenbar auf sprachliches Marketing angewiesen. Ob Dante mit einer solchen Auffassung von Wahrheitsrede einer nominalistischen Skepsis präludiert, weiß ich nicht. Auf jeden Fall aber wird die Dichtung sozusagen ontologisiert, sie hat als – theologisch besehen defizitäres – Darstellungsmedium von nun an teil an der Wahrheit, die sie evident machen soll, und es ist die Figuration des Autors in seiner eigenen Fiktion, welche diesen Anspruch deutlich macht. Dante selbst hat genau wie seine Dichtung Anteil am Heilswerk, wie die Geschehnisse im irdischen Paradies unmissverständlich anzeigen, wo auf ziemlich verblüffende Weise erst mit dem Erscheinen Dantes der bis dahin trotz Christi Erlösungstat verdorrte Baum der Erkenntnis

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ereignishaft wieder zu blühen beginnt. Dantes Selbstinszenierung als Autor macht auf diese Weise den spezifischen Autoritätsanspruch seines Werks deutlich: die Dichtung eines offenkundig auserwählten Autors als privilegierten Weg und als Beitrag zur Wahrheit des christlichen Heils in Anschlag zu bringen.

6 In Dantes auktorialer Selbstinszenierung in der Commedia geschieht freilich noch etwas Weiteres, nachgerade Ungeheuerliches. Als ob es nicht schon vermessen genug wäre, seine Dichtung zum Medium heilsgeschichtlicher Wahrheitserfahrung zu machen, beschränkt sich Dante nicht auf diese ontologische Autorisierung weltlicher Dichtung im Dienste der Vermittlung göttlicher Wahrheit «in pro del mondo che mal vive» (Purg. XXXII, 103). Ausgerechnet im Paradies schlägt Dante – ich habe in Hinblick auf Par. I oben bereits darauf hingewiesen – den Bogen zurück zu seinem Streben nach weltlichem Dichterruhm, nach jenem onore, von dem er in Inf. I, 87 spricht, und welcher dort auf die Schönheit des Stils, auf seinen bello stilo, gegründet ist. Hierzu zählt nicht nur die Anrufung Apolls in Par. I, in der Dante, wie zu sehen war, insistent die Lorbeerkrone einfordert, und die als solche von der Forschung in Hinblick auf eine problematisch «doppelte», also ebenso himmlische wie weltliche Autorschaft Dantes behandelt worden ist (Cf. Regn 2008), sondern auch Dantes Begegnung mit seinem Ururgroßvater Cacciaguida (Par. XV-XVII), welcher ihm in Par. XVII gleichsam als Resümee seiner langen Rede individuellen onore als Mahner und Dichter verheißt (Par. XVII, 135). Und schließlich ist hier Dantes eigener, berühmter Wunsch in Par. XXV zu nennen, den capello, den Dichterkranz zu erringen: Se mai continga che ‘l poema sacro al quale ha posto mano e cielo e terra, sì che m’ha fatto per molti anni macro, vinca la crudeltà che fuor mi serra del bello ovile ov’io dormi’ agnello, nimico ai lupi che li danno guerra; con altra voce omai, con altro vello, ritornerò poeta, e in sul fonte del mio battesmo prenderò ‘l cappello; (Par. XXV, 1–9)

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Zwar ist es richtig, dass, wie wichtige Kommentare betonen, mit der «altra voce» ein neuer Stil gemeint ist,55 der sich jenseits der Auseinandersetzung mit der höfischen Liebe in Dantes Florentiner Jugendwerk aufstellt. Dies ändert aber nichts an der schlichten Weltlichkeit von Dantes Erwartung: im Diesseits seiner reuigen Heimatstadt geehrt zu werden. Die politischen und heilsgeschichtlichen Ziele der Commedia verblassen hier geradezu vor diesem persönlichen Ziel Dantes, als lebensweltliches Selbst nach seiner Verbannung in seiner Heimatstadt wieder vollumfänglich anerkannt zu werden, ja mehr noch: den höchsten Dichterruhm zu erlangen, wobei die selbstgewisse Verbform ‚prenderò ‘l cappello‘ hier nicht von ungefähr eine aktive, nachgerade ,zupackende‘ Dichterpersönlichkeit in Szene setzt (ein solch ,zupackender‘ Habitus Dantes zeichnet sich übrigens bereits in Par. I ab, wo Dante in den Versen 25–26 Apoll signalisiert, dieser werde ihn, also Dante, sich selbst die Lorbeerkrone aufsetzen sehen).56 Die auktoriale Selbstinszenierung wird so von Dante mit allergrößtem Nachdruck auf seinen weltlichen Dichterruhm, auf seine poetisch umfassende und in ihrer nicht nur horazianisch textuellen, sondern individualpersönlichen Monumentalität unausweichliche Autorität zugerichtet. – Bei allen ästhetischen und epistemischen Differenzen scheinen mir genau hier, mit der Frage nach Verfahren dichterischer Selbstinszenierung, Selbstlegitimierung und Selbstautorisierung nachhaltig wirksame Verstrebungen zu dem offenkundig zu werden, was wir von Petrarca an als frühneuzeitliche Literatur wahrnehmen. Von Dante an erweisen sich so auktoriale Selbstinszenierungen innerhalb der Fiktion als ein Schlüssel zu einer heuristisch textbezogenen und historisch angemessenen Rekonstruktion wichtiger Geltungsansprüche der betreffenden Werke, ihrer Autoren und ihres Mediums, der Dichtung, insgesamt. Die im Folgenden versammelten Beiträge sollen die Fruchtbarkeit dieser Fragestellung beispielhaft erproben. Meistenteils gehen sie auf ein von der Fritz Thyssen Stiftung großzügig gefördertes Kolloquium zurück, das vom 17. bis 19. Februar 2016 in der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen stattgefunden hat (Selbstautorisierung. Voraussetzungen, Modelle und Rationalitäten poetischer Selbstermächtigung in der Frühen Neuzeit). Der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung danken die Herausgeber für die großzügige finanzielle Unterstützung des Projekts und der Drucklegung dieses Bandes; Frau Laetitia Di Pasqua für ihre redaktionelle Unterstützung; Frau Dr. Ulrike Krauß, Frau

55 Cf. Hermann Gmelin im kritischen Fußnotenapparat seiner übersetzten Commedia-Ausgabe (Alighieri, 1990, 520). 56 «vedra’ mi al piè del tuo diletto legno / venire, e coronarmi de le foglie» (Par. I, 25–26) – so Dantes Worte an Apoll, in denen deutlich wird, dass es nicht Apoll sein wird, der Dante krönt, sondern dass dieser allein Zuschauer von Dantes Selbstkrönung sein soll.

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Gabrielle Cornefert und Frau Anne Stroka vom De Gruyter Verlag für die engagierte Betreuung der Herstellung.

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Petrarcas cantio cum auctoritate (Canzoniere LXX) Frank-Rutger Hausmann zum 75. Geburtstag Die allseits bemerkte Besonderheit von Petrarcas Canzone Nr. 701 besteht darin, daß sie am Ende einer jeden Strophe jeweils den Eröffnungsvers einer anderen prominenten Kanzone zitiert. Es handelt sich somit um ein Gedicht, das die Gattung oder den Formtyp der cantio cum auctoritate2 (auch versus cum auctoritate genannt)3 aufgreift. Sie stammt aus der mittellateinischen, vorzugsweise aus der christlichen Hymnendichtung und beruht darauf, daß in einem Gedicht einmal oder mehrfach ein Incipit-Vers von einem berühmten Verfasser zitiert wird. Diese Form hat schon bei den Provenzalen Eingang in die volkssprachliche Dichtung gefunden, und eben diese Tradition greift Petrarca auf. In Vers 10, dem Abschlußvers der ersten Strophe, zitiert er das provenzalische Lied Drez et rayson es qu’ieu ciant e ’m demori, für dessen Autor Petrarca noch den verehrten Arnaut Daniel, den Dichterfürsten unter den Provenzalen, halten konnte.4 Längst sind an dessen Autorschaft wohlbegründete Zweifel angemeldet worden.5 Man schreibt dieses Stück heute gemeinhin einem Schüler Arnauts, Guilelm de Sant Gregori zu.6 Vers 20 von Petrarcas Gedicht Nr. 70 zitiert die berühmte Lehrkanzone Guido Cavalcantis, Donna me priegha, per ch’io voglio dire, ein Kabinettstück und zentrales poetisches Zeugnis des dolce stil novo. Dante ist in Vers 30 mit seiner Kanzone Così nel mio parlar voglio

1 Zur Datierung und zur Einordnung dieser Kanzone im lyrischen Œuvre Petrarcas cf. Santagata (1992, 259f.); Santagata hat seine Position unter anderem in Auseinandersetzung mit Maurizio Perugi (1985) entwickelt. Dessen im Ton äußerst polemische Replik auf die Position Santagatas findet sich in: Perugi (1991, 369–384). 2 Cf. zum Hintergrund dieses Formtyps, auf den Petrarca mit seiner Kanzone zurückgreift: Gruber (1983, 106ff.). 3 Velli (1985, 295–310). 4 Diese Überzeugung hat sich bis in die moderne Forschung hinein gehalten: Cf. Appel (1924, 223f.). 5 Cf. Scherillo (1925, 57f.). 6 Arnaut Daniel (1960, 110). Appel (1924, 23) hatte diese Zuschreibung noch zurückgewiesen. https://doi.org/10.1515/9783110686609-002

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esser aspro aus den sogenannten rime petrose vertreten. Sie zählen zu den schwierigsten Stücken von Petrarcas großem Rivalen, und schon mit Cavalcantis Kanzone ist ja ein besonders kompliziertes Exemplar der volkssprachlichen Lyrik aufgerufen. Petrarcas Gedicht positioniert sich offensichtlich, ja demonstrativ in einer Filiation des trobar clus. Das vorletzte Zitat in Vers 40 von Petrarcas Kanzone verweist auf Cino da Pistoia und seine Kanzone La dolce vista e ‘l bel guardo soave. Aufmerksamkeit aber hat mit Recht vor allem das letzte der Zitate gefunden. In Vers 50 nämlich zitiert Petrarca sich selbst mit der Eröffnung der Kanzone Nr. 23 aus dem Canzoniere, dem ersten Exemplar dieser Gattung in seinem Zyklus: Nel dolce tempo de la prima etade. Aus diesem Grund gehört der hier untersuchte Text denn auch in ein Kolloquium zur Selbstautorisierung. Mit seinem Selbstzitat reiht Petrarca sich also in die Reihe jener auctoritates7 ein, die als Modellautoren der Dichtung im volgare gelten können. Zurecht hat Marco Santagata von einer Geschichte der volkssprachlichen Dichtung gesprochen, die sich in Petrarcas Kanzone Nr. 70 abzeichnet.8 Und wie schon Dante läßt er die Geschichte dieser Lyrik nicht erst bei den Italienern anfangen, sie reicht vielmehr bis zu den Provenzalen zurück. Die sprachliche Identität dieser poetischen Tradition konstituiert sich also nicht über geographische Koordinaten. Sie bestimmt sich vielmehr ihrerseits historisch, durch die Opposition der Volkssprache zum Lateinischen. Indessen fragt sich, ob die historische Abfolge, die sich aus der Serie der Zitate ergibt, eine bloß zeitliche Reihung bildet. Oder wäre sie zugleich als Steigerung zu verstehen, als fortschreitende Optimierung poetischer Kunst, die sich im Laufe der Zeit stetig vervollkommnet? Das Modell für eine solche Deutung der Zeit in der Kunst hat Dante mit dem 11. Gesang seines Purgatorio geschaffen, der in der Tat den Fortschritt in der Kunst zu seinem Thema macht: Oh vana gloria de l’umane posse! com’ poco verde in su la cima dura, se non è giunta da l’etati grosse! Credette Cimabue ne la pittura tener lo campo, e ora ha Giotto il grido, sí che la fama di colui è scura.

Wie eitel ist der Ruhm menschlichen Vermögens! Kurz wie grünes Laub in dem Wipfel hält er an, es sei denn, er gelangt in rohe Zeiten [sc. in denen er überleben kann, weil nichts besseres entsteht]. Cimabue glaubte, in der Malerei alle anderen zu überragen, und nun gehört Giotto der Vorzug,

7 Zum Verständnis des Konzepts der auctoritas im 14. Jahrhundert cf. die grundlegende Studie von Albert Ascoli (2008). 8 Cf. Santagata (1983, 31ff.).

Petrarcas cantio cum auctoritate (Canzoniere LXX)

Cosí ha tolto l’uno a l’altro Guido la gloria de la lingua; e forse è nato chi l’uno e l’altro caccerà del nido. Non è il mondan romore altro ch’un fiato di vento, ch’or vien quinci e or vien quindi, e muta nome perché muta lato. (Dante, Divina Commedia, Purgatorio, XI, –)

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so daß sein Ruf verblaßt. So hat auch der eine Guido dem anderen den Ruhm der Sprache abgenommen; und vielleicht ist schon einer geboren, der den einen wie den anderen vom Thron stürzen [wörtlich: aus dem Nest des Ruhms werfen] wird. Irdisches Renommee ist nichts anderes als ein Windhauch, der mal hier, mal dort weht und seinen Namen mit seiner Richtung ändert.

So wie Cimabue von Giotto als der beste aller Maler abgelöst wurde, so hat auch in der Dichtung Guido Cavalcanti seinem Vorgänger in dieser Position, Guido Guinizelli den Rang abgelaufen. Und es bedarf vermutlich keines besonderen Scharfsinns, um denjenigen, der nur vermittels einer Umschreibung eingeführt, denjenigen also, der die beiden von ihrem Thron stürzen wird, als Dante selbst zu erkennen. Zeitliche Abfolge ist also in Parallele zu fortschreitender Meisterschaft gesetzt.11 Daß auch die Serie der Autoritätenzitate in Petrarcas Kanzone Nr. 70 zugleich eine Rangfolge darstellt, ist also alles andere als unwahrscheinlich. Gerade durch den Rückgriff auf den vermeintlichen Arnaut Daniel läßt die Serie der zitierten Autoren den Eindruck entstehen, den End- und Kulminations-

9 Dante Alighieri (2009, 501). 10 Sämtliche Übersetzungen fremdsprachlicher Texte in diesem Artikel stammen, sofern nicht anders angegeben, aus der Feder des Verfassers. 11 Diese Betonung des Fortschritts in der Kunst steht in einem auffälligen Kontrast zur Abwertung des Ruhms, der sich durch immer größere Meisterschaft erwirbt. Dante gelingt dabei das Kabinettstück, die Feststellung einer beständigen Qualitätssteigerung der Künste mit der moralischen Abwertung ihres Effekts zu versöhnen, indem er allem Ruhm, den solche Könnerschaft einträgt, alle Beständigkeit abspricht. (Einzig in Zeiten kulturellen Niedergangs erweist sich der Ruhm künstlerischer Exzellenz als dauerhaft, weil den Meistern keine Konkurrenz erwächst. Sollte in den dabei geltend gemachten etati grossi schon Petrarcas Vorstellung von einem dunklen mittleren Zeitalter präfiguriert sein?) Den Glauben an den Fortschritt und die Herabwürdigung des Ruhms zu einer nichts als ephemeren Belanglosigkeit miteinander zu vermitteln, aber vermag Dante, indem er den Prozeß der steten Qualitätssteigerung in der Kunst selbst zum Ort der Vernichtung irdischer Wertschätzung erklärt. Fortschritt geht insoweit einher mit einer beständigen Deklassierung derer, die zuvor den Ruf herausragender Meisterschaft genossen. Fortschritt produziert, aber vernichtet zugleich Reputation, weshalb niemand dieser Beschädigung entkommen kann; cf. hierzu Kablitz (1998, 309–356).

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punkt ihrer bei den Provenzalen ihren Ausgang nehmenden Entwicklung bilde niemand anderes als der sich selbst zitierende Francesco Petrarca. Wir hätten es insoweit bei dieser cantio cum auctoritate nicht nur mit einer Selbstautorisierung ihres Verfassers zu tun, sondern zugleich mit einer besonders radikalen Form derselben. Hier stilisierte sich mithin jemand zur Autorität schlechthin, zur Autorität der Autoritäten. Ein solcher Überbietungsanspruch scheint im Blick auf den Autor Petrarca und seine wohlbekannten Strategien literarischer Selbstinszenierung durchaus naheliegend. Er war sich seines Rangs, und im Nachhinein betrachtet auch nicht ohne Grund, bekanntlich mehr als bewußt. Bislang allerdings haben wir uns bei unseren Überlegungen zu Petrarcas Kanzone Nr. 70 auf die bloße Abfolge ihrer Autoritätenzitate als solche beschränkt. So wesentlich sie selbst schon für den Anspruch erscheint, den ihr Verfasser mit diesem Gedicht für sich selbst erhebt, so unzulänglich wäre es, allein die Serie der Zitate selbst zur Deutung von Petrarcas Praxis der cantio cum auctoritate in Rechnung zu stellen. Vielmehr gilt es, diese Referenzen auf berühmte Vorgänger in Bezug zur Semantik des Textes zu setzen – und dies vor allem in doppelter Hinsicht: Wir werden beobachten können, daß sich der Status der Zitate in der Abfolge der fünf Strophen der Kanzone merklich ändert, und zwar durch eine wachsende Integration ihres jeweiligen Inhalts in die Schilderung der eigenen Situation dieses Liebenden und Sängers. Das Zitat von Dantes Kanzone wird sich als der Moment erweisen, in dem sich die Praxis des Zitierens grundlegend ändert. Der zweite Gesichtspunkt, den es zu berücksichtigen gilt, bezieht sich auf ein – vordergründiges – Paradoxon. Wir werden beobachten können, daß Petrarca seinen Autoritätsanspruch nämlich paradoxerweise durch eine Geste der Selbstproblematisierung gewinnt. Es gehört zur Dialektik dieses Verfahrens, daß eine solche vordergründige Selbstbeschädigung im Gegenzug einen um so größeren Autoritätsanspruch produziert. Denn mit seiner vordergründigen Selbstdelegitimierung wird Petrarca nicht bei der poetischen Tradition halt machen. Er wird vielmehr Autorität auch in Fragen der Ethik beanspruchen, und zwar bezeichnenderweise dadurch, daß er in deren Namen zentrale Prämissen des zeitgenössischen doktrinalen Diskurses, ja des christlichen Dogmas überhaupt in Frage stellt. Im Sinne dieser These sei die Kanzone Nr. 70 im folgenden betrachtet. Beginnen möchte ich mit ihrem Schluß. Denn bereits die Art und Weise, in der Petrarca dort mit seinem Selbstzitat auf sein eigenes Gedicht, die Kanzone Nr. 23 des Canzoniere Bezug nimmt, ist für die semantische Struktur der gesam-

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ten Kanzone Nr. 70 höchst aufschlußreich. Lesen wir also zunächst deren abschließende Strophe: Tutte le cose, di che ‘l mondo è adorno uscîr buone de man del mastro eterno; ma me, che così adentro non discerno, abbaglia il bel che mi si mostra intorno; et s’al vero splendor già mai ritorno, l’occhio non pò star fermo, così l’a fatto infermo pur la sua propria colpa, et non quel giorno ch’i’ volsi inver’ l’angelica beltade nel dolce tempo de la prima etade. (Francesco Petrarca, Canzoniere XXIII, –)

Alle Dinge, die die Welt schön machen, gingen als gute Dinge aus den Händen des ewigen Werkmeisters hervor. Aber mich, der ich so weit hinein nicht schaue, blendet das Schöne, das sich mir um mich herum zeigt. Und sollte ich je zum wahren Glanz zurückkehren, wird das Auge nicht bestehen können, so schwach hat es seine eigene Schuld gemacht, und nicht jener Tag, an dem ich zu der engelgleichen Schönheit mich wandte „in der süßen ersten Zeit“.

Auch wenn sich dieser oberflächliche Eindruck bei näherem Zusehen als ein nur vermeintlicher herausstellen wird, auf den ersten Blick nehmen sich diese Verse wie ein klassisches Beispiel einer orthodoxen christlichen Theodizee in bestem Augustinischen Geist aus: Gott hat in seiner Schöpfung alles zum Besten eingerichtet; folglich sind alle Übel dieser Welt auf niemand anderen als den Menschen und seine Schuld zurückzuführen. Ausdrücklich fällt in Vers 48 der kanonische terminus technicus der Theologie: la sua propria colpa. Allerdings sei bereits hier darauf hingewiesen, daß die betreffende Schuld an dieser Stelle einem Verantwortlichen zugesprochen wird, der jedenfalls für sich selbst kaum in der Lage sein dürfte, sie auf sich zu nehmen. Denn sie wird dem (körperlichen) Auge angelastet. Stünde dieses Auge folglich metonymisch für das Ich? Aber handelt es sich überhaupt um eine Metonymie? Wir werden diesen Fragen nachzugehen haben. Wenn die Ursache für die moralisch verwerfliche Passion des Sängers am Ende der Kanzone Nr. 70 ganz auf Seiten von dessen Ich zu finden zu sein scheint, so stellen sich die Kausalitäten in der mit dem Schlußvers zitierten Kanzone Nr. 23 aus dem Canzoniere jedoch anders dar. Wie ihr Eingang feststellt, macht es sich dieser Text zur Aufgabe, von der schönen Jugendzeit und ihrer Freiheit zu erzählen, derer sich der nun vom Joch der Liebe so Geknechtete damals erfreuen durfte: Nel dolce tempo de la prima etade, che nascer vide et anchor quasi in herba la fera voglia che per mio mal crebbe, perché cantando il duol si disacerba, canterò com’io vissi in libertade, mentre Amor nel mio albergo a sdegno s’ebbe. (Petrarca, Canzoniere XXIII, –) 12 Petrarca, Canzoniere (22004, 348). 13 Ibid., 96.

Wie ich in der süßen ersten Zeit, die noch fast im Grünen das unerbittliche Verlangen entstehen sah, das zu meinem Unglück immer stärker wurde, in Freiheit lebte, während Amor in meinem Herzen Verachtung erfahren mußte, werde ich besingen, damit der Schmerz durch den Gesang gemildert werde.

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Der Erklärung der Ursache für die Veränderungen, die seither dem Sänger widerfahren sind, ist die zweite Strophe der Kanzone Nr. 23 gewidmet: I’ dico che dal dì che ‘l primo assalto mi diede Amor, molt’anni eran passati, sì ch’io cangiava il giovenil aspetto; e d’intorno al mio cor pensier’ gelati facto avean quasi adamantino smalto ch’allentar non lassava il duro affetto. Lagrima anchor non mi bagnava il petto né rompea il sonno, et quel che in me non era, mi pareva un miracolo in altrui. Lasso, che son! che fui! La vita el fin, e ‘l di loda la sera. Ché sentendo il crudel di ch’io ragiono infin allor percossa di suo strale non essermi passato oltra la gonna, prese in sua scorta una possente donna, ver’ cui poco già mai mi valse o vale ingegno, o forza, o dimandar perdono; e i duo mi trasformaro in quel ch’i’ sono, facendomi d’uom vivo un lauro verde, che per fredda stagion foglia non perde. (Petrarca, Canzoniere XXIII, –)

Ich sage, daß viele Jahre vergangen waren, seit dem Tag, an dem Amor mich erstmals seinem Angriff aussetzte, so daß ich das jugendliche Aussehen veränderte, und um mein Herz hatten eisige Gedanken eine Kruste gelegt, die beinahe so hart wie ein Diamant war. Noch benetzte keine Träne meine Brust, noch störte sie meinen Schlaf, und das, was ich in mir selbst nicht hatte, schien mir bei anderen ein Wunder zu sein. Oh je! Was bin ich nun! Was war ich! Das Leben lobt sein Ende, und den Tag lobt der Abend. Doch weil der Grausame, von dem ich spreche, bemerkte, daß bis dahin kein Schlag seiner Pfeile meine Weste durchdringen konnte, nahm er eine mächtige Frau in sein Gefolge auf, gegenüber der mein Verstand, meine Kraft oder die Bitte um Vergebung wenig ausrichten noch je ausrichten konnten. Und die beiden verwandelten mich in das, was ich bin, und machten aus einem lebendigen Menschen einen grünen Lorbeer, der in der kalten Jahreszeit kein Blatt verliert.

Es verdient Beachtung, daß Petrarca hier ausdrücklich den nächstliegenden Grund seiner Anfälligkeit für Amors Attacken ausschließt. Plausibel nämlich wäre, daß das jugendliche Alter alle Widerstände gegenüber den Verführungen der Liebe zunichte macht. Doch eben dies ist gerade nicht der Fall. Denn den altersüblichen Anfechtungen Amors hat das Ich sich bravourös zu widersetzen vermocht. Allerdings ist zu bemerken, daß die Schilderung dieser so süßen Jugendzeit, il doce tempo de la prima etade, wenig von ihrem besonderen Charme zu erkennen gibt. Ihre diesbezügliche Bezeichnung scheint von dem bestimmt zu sein, was sie nicht ist: sie ist unbelastet von den späteren Qualen und sie lebt vom Unverständnis dessen, was anderen widerfährt. Aber sie selbst hat schon das jugendliche Aussehen des Ichs wie seine innere Verfaßtheit aufgrund seines beständigen Abwehrkampfes gegen Amors Attacken merklich verändert. Sollte ihre Süße also einem Effekt der Erinnerung in peinvollen Zeiten

14 Ibid., 96f.

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geschuldet sein? Jedenfalls scheint diese Jugendzeit wenig mehr als den fürs erste freilich erfolgreichen Abwehrkampf gegen Amors unaufhörliche Anfechtungen zu kennen. Aber genügte dies allein schon, um von einem dolce tempo zu sprechen? Es gehört mithin zum Profil dieser prima etade, daß nicht etwa leichtfertige jugendliche Verführbarkeit den Erfolg Amors besiegelt hätte. Die schließliche Überwältigung des Sängers durch die beständigen Anfechtungen dieses (freilich nichts als allegorischen) Gottes erklärt sich vielmehr erst durch dessen Reaktion auf die fürs erste unüberwindbaren Hindernisse, die das Ich ihm über lange Zeit standhaft entgegensetzt. Und so macht sich Amor eine Frau zum Instrument der Überwältigung, gegen die jeglicher Widerstand versagen zu müssen scheint. Nicht etwa jugendliche Unbekümmertheit, sondern im Gegenteil deren lange erfolgreiche Verhinderung steht insofern paradoxerweise am Anfang von Petrarcas Passion für Laura. Es bedurfte ihrer unvergleichlichen Schönheit, um die bis zum Moment ihres Erscheinens erfolgreiche Abwehr der Ansprüche der Liebe zu brechen. Um so deutlicher tritt durch dieses Arrangement der Vorgeschichte von Petrarcas innamoramento in der Kanzone Nr. 23 hervor, daß die schließlich nicht mehr zu vermeidende Hinwendung des Sängers zur Liebe das Werk anderer ist. Erst das unheilvolle Bündnis zwischen Amor und Laura hat dem Ich seine Widerständigkeit genommen und ihn rettungslos seiner Leidenschaft ausgeliefert. Sie also erscheinen – wenn auch in unterschiedlichem Maße: Amor mehr als Laura, die er zu seiner Handlangerin macht («prese in sua scorta»), allerdings einer ihrerseits machtvollen («una possente donna») – als die Schuldigen. Das Ich hingegen übernimmt die Rolle ihres Opfers, haben die beiden doch jene Verwandlung bewirkt, die dem Ich durch die Begegnung mit Laura dauerhaft widerfahren sollte: «i duo mi trasformaro in quel ch’i’ sono». Einer solchen Schuldzuweisung an diese beiden Akteure seines innamoramento hält Petrarcas Kanzone Nr. 70 mit ihrem Schluß jedoch einen Einspruch entgegen. Auf der Seite des Ichs selbst ist ihren Verlautbarungen zufolge die Ursache dafür zu suchen, daß es zu dem kam, was schließlich nicht mehr zu verhindern war. Halten wir allerdings fest, daß der Abschluß dieser Strophe, genau besehen, mit zwei Pseudosubjekten operiert, um der Belastung Amors und Lauras in Kanzone Nr. 23 eine Selbstanklage entgegenzusetzen. Eines der beiden haben wir bereits erwähnt: Zum Schuldigen für alle unglücksträchtigen Verfehlungen erklärt der Sprecher nun sein Auge. Entlastet wird durch diese Selbstbezichtigung des Liebenden aber zugleich der Tag, an dem das innamoramento stattfand. Doch dieser Tag meint nichts anderes als die Umstände, im Sprachgebrauch von Petrarcas eigener Zeit gesagt, die circumstantiae des Verliebens. Er selbst kann kaum als ein Akteur verstanden wer-

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den, dem sich Verantwortung zuschreiben ließe. In den beiden insofern nur vermeintlichen Urhebern des Verliebens, die weder zu einer Beschuldigung noch zu einer Entlastung so recht taugen, steckt deshalb ein erster Hinweis auf die Relativierung der Selbstanklage, die die Schlußstrophe der Kanzone Nr. 70 zunächst so eindeutig in Szene zu setzen scheint. Behalten wir diese Indizien fürs erste im Hinterkopf, um uns nun dem semantischen Verlauf des gesamten Gedichtes zuzuwenden. Die semantische Bewegung, die dieser Text durchläuft, läßt sich als eine Konversion beschreiben – als eine Bekehrung, die von der Anklage anderer für das eigene Unglück in die uns bereits bekannte Selbstbezichtigung mündet. Sie scheint insoweit ein Gegenbild dessen zu bilden, was wir für die am Ende dieser Kanzone mit dem Zitat ihres Incipit-Verses ausdrücklich aufgerufene Kanzone Nr. 23 des Canzoniere beobachten konnten. Womöglich aber kommt dieser Intertext nicht erst am Ende von Nr. 70 ins Spiel. Kaum zufällig scheinen nämlich schon die Formulierungen an ihrem Beginn auf den am Ende prominent zitierten eigenen anderen Text hinzuweisen: Lasso me, ch’i’ non so in qual parte pieghi la speme, ch’è tradita omai più volte: che se non è chi con pieta m’ascolte, perché sparger al ciel sì spessi preghi? Ma s’egli aven ch’anchor non mi si nieghi finir anzi ‘l mio fine queste voci meschine, non gravi al mio signor perch’io il ripreghi di dir libero un di tra l’erba e i fiori: Drez et rayson es qu’ieu ciant e ‘m demori. (Petrarca, Canzoniere LXX, –)

Ich Elender, ich weiß nicht wohin die Hoffnung neigt, die schon mehrfach getrogen wurde. Denn wenn es niemanden gibt, der mich mitleidsvoll anhört, warum soll ich dann so häufige Bitten in den Himmel verstreuen? Aber wenn es geschehen sollte, daß mir nicht verwehrt werde, vor meinem Ende diese kläglichen Worte zu beenden, mißfalle es meinem Herrn nicht, daß ich ihn wieder bitte, eines Tages in Freiheit sagen zu können: „Recht und billig ist es, daß ich singe und mich freue“.

Mit den Worten «Lasso me, ch’io non so» setzt dieses Gedicht ein, und diese Wendung erinnert zu deutlich an den Augenblick, in dem die Kanzone Nr. 23 das Ende anfänglicher Unbeschwertheit schildert, um nicht mit der Eröffnung von Nr. 70 in Verbindung gebracht zu werden. «Lasso, che son! che fui!» heißt es dort in der zweiten Strophe im Vers 30. Ebenso fällt die Gemeinsamkeit der Beteuerung der Freiheit des Ichs auf. Im fünften Vers der Nr. 23 erklärt der Sänger, daß er berichten möchte, wie er frei leben konnte, bevor ihn Amor in seine Herrschaft zwang («canterò com’io vissi in libertade»). Nun heißt es, daß er einst frei («di dir libero») sagen können möchte: «Drez et rayson es qu’ieu ciant e ‘m demori».

15 Ibid., 347.

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Gegenstand der ersten Strophe von Nr. 70 ist zunächst die Verzweiflung des Ichs an seiner schon verschiedentlich getrogenen Hoffnung auf die Änderung seiner Lage. Dabei fällt auf, daß der Wortlaut des Textes mit einer Reihe von Unwägbarkeiten aufwartet, die sich im übrigen als ein erster Hinweis auf einige strukturelle Eigenheiten dieses Gedichtes herausstellen werden. Unbestimmt bleibt zunächst das Subjekt, das die Hoffnung in Gang setzt: Grammatisch kann der erste Satz nämlich besagen, daß das Ich nicht weiß, an wen es seine Hoffnung richten solle. Aber ebenso kann er bedeuten, daß es nicht weiß, wohin die Hoffnung sich richten werde.16 Unklar ist also, ob das Ich Herr seiner eigenen Hoffnungen ist oder die Hoffnung sich gleichsam selbständig gemacht und der Steuerung durch das Ich entzogen hat. Die grammatische Ambivalenz hat insofern eine durchaus wesentliche semantische Funktion: Von seinem ersten Vers an ist für diesen Text die Frage nach dem Subjekt des Handelns aufgeworfen. Und diese schon an seinem Beginn auftretende Ungewißheit über dessen Identität wird sich für das gesamte Gedicht als nachgerade emblematisch erweisen. Worauf aber richtet sie die Hoffnung des Sprechers genau? Der Hinweis, daß sie schon verschiedentlich getrogen wurde, deutet auf die Liebe zu Laura, der ausweislich etlicher Klagen, die dem Leser des Canzoniere schon zuvor begegnet sind, die Erfüllung bislang versagt geblieben ist (wie sie auch hinfort versagt bleiben wird). Die Geliebte also ist – jedenfalls zunächst – diejenige, die dem Sänger ihre pietà versagt. Wie aber verhält sich dazu jener Adressat der Rede, den der Sänger ausdrücklich benennt: «perché sparger al ciel sì spessi preghi»? Santagatas Kommentar weist darauf hin, daß diese Formulierung ein Äquivalent der noch heute gebräuchlichen Redewendung buttare al vento, also ‚in den Wind schlagen‘, darstelle.17 Gleichwohl ist nicht darüber hinwegzusehen, daß der hier namhaft gemachte Himmel noch mehrfach in diesem Text apostrophiert werden wird.18 Er ist als solcher also eine Größe, mit der in

16 Auch Marco Santagatas Kommentar zum Canzoniere bemerkt diese Unentschiedenheit, macht sich die Sache aber gleichsam einfach, indem er beide Lesarten auf eine gleiche Bedeutung zurückführt: «PIEGHI: può essere transitivo (‚in qual parte piegare, rivolgere‘) o intransitivo (‚si pieghi, si rivolga‘): in ogni caso, il senso è ‚non so in cosa sperare‘» (ibid., 351). Doch wird man der Komplexität wie Subtilität von Petrarcas Kanzone nicht gerecht, wenn die Unterschiede zwischen beiden Lesarten, die das Gedicht eröffnet, durch die Benennung eines gemeinsamen semantischen Nenners der verschiedenen grammatischen Möglichkeiten aus der Welt geschafft werden. Es gilt vielmehr, diese Unverrechenbarkeit – die, wie gesagt, nicht die einzige dieser Art in diesem Gedicht bleiben wird – als solche für dessen Interpretation fruchtbar zu machen. Dies gilt um so mehr, als sich die verschiedenen Unwägbarkeiten dieses Textes systematisch aufeinander beziehen lassen werden. 17 «SPARGER AL CIEL: equivale alla locuzione, tuttora viva, ‚buttare al vento‘» (ibid.). 18 Cf. Verse 27 und 33. Wir werden auf diese Textstellen später eingehen.

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diesem Text zu rechnen ist, weshalb seine Erwähnung sich womöglich schon hier nicht metonymisch gänzlich ‚entschärfen‘ läßt. Etwas zweites kommt hinzu. In Vers 8 der ersten Strophe ist in dieser Kanzone von mio signor die Rede. Die Kommentare identifizieren den dabei genannten Herrn üblicherweise mit dem Liebesgott Amor. Aber auch in seinem Fall handelt es sich um einen Pseudo-Akteur: Denn der antike Gott kann unter den Bedingungen des christlichen Monotheismus kaum anderes als eine Personifikationsallegorie des Affekts, für den er verantwortlich zeichnet, sein. Ein rhetorischer Gott aber scheint wenig geeignet, um seinen eigenen Erfolg in eroticis zu garantieren.19 So macht die Apostrophe von mio signor die Lücke jenes Gottes kenntlich, der allein zu bewirken vermöchte, was der Liebende für sich erfleht, und der doch kaum derjenige sein kann, von dem sich der Sänger die Befriedigung seines – aus moraltheologischer Sicht – sündigen Begehrens erhoffen darf. Die Apostrophe des ‚falschen‘ Herrn, der nur zu einem allegorischen Gott taugt, markiert, wer der richtige wäre – und doch unter den gegebenen Umständen nicht sein kann. Von hierher gewinnt die Formulierung von Vers 3, perché sparger al ciel sì spessi preghi, im übrigen eine weitere Bedeutungsfacette: Auch der – metonymisch für den wahren Herrn stehende – Himmel kann, per definitionem, kein Mitleid zeigen. Auch er ist ein metonymisches Pseudoobjekt (das im vorliegenden Fall die Provokation einer unmittelbar an Gott gerichteten Bitte umgeht, die von ihm Unmögliches verlangte – und doch diesen Gott ins Spiel bringt). Wesentlich für den Zusammenhang dieser Strophe ist es damit, daß den Unsicherheiten bezüglich der Handlungsmacht auf Seiten des Ichs eine ähnliche – mehrfache – Unbestimmtheit im Blick auf jene Instanz entspricht, auf die die Hoffnung auf die Erfüllung seiner Wünsche zu setzen vermöchte: Gott Amor ist ein Pseudo-Adressat,20 und diejenige Instanz, die mitleidsvoll zuhören könnte,

19 So fragt sich allenfalls, warum diese allegorische Figur seit ihren Anfängen die volkssprachliche Dichtung im christlichen Mittelalter reichlich bevölkert. Ihre Uneigentlichkeit aber scheint auch den Schlüssel zur Antwort auf diese Frage zu bieten: Amor ist gleichsam der Stellvertreter für die ungewissen Kausalitäten, die das Wirken der Liebe charakterisieren. 20 Er ist es übrigens gleich in mehrfacher Weise im Sinne dieses Begriffs. Er erscheint als Pseudo-Adressat aufgrund seines allegorischen Status‘. Aber er ist es auch insofern, als er de facto gar nicht angesprochen, sondern als ein Adressat dieser Rede nur bezeichnet wird: «non gravi al mio signor perch’io il ripreghi / di dir libero un di tra l’erba e i fiori». Vollzieht die Rede dieses Gedichtes also das, was sie sagt? Oder beinhaltet sie hier nur die Möglichkeit und mit hin einen Aufschub ihrer selbst? Spricht das Ich an dieser Stelle also noch immer wie schon zu Beginn dieser Strophe zu sich selbst? (Wie subtil Petrarca diese Verunsicherung über den Status seiner augenblicklichen Rede arrangiert hat, zeigt sich nicht zuletzt an einem bestimmten Wort, und zwar anhand der kausalen Konjunktion perché: «perch’io il ripreghi». Dieser mit ‚weil‘ eröffnete Nebensatz ist einem Satzgefüge eingeordnet, das unter dem Vorbehalt eines Konditionals

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oszilliert zwischen der verehrten Laura und dem – aus eben diesem Grund – etwas weniger verehrten Himmel. Meldet die erste Hälfte der ersten Strophe die Skepsis des Ichs gegenüber dem Sinn einer Fortsetzung seiner Bitten um die Befriedigung seines Verlangens an, so will ihre zweite Hälfte die Sache gleichwohl noch nicht verloren geben und versucht darum, Verständnis bei dem – wie gesehen, dafür freilich gleichfalls wenig tauglichen – Amor für seine neuerliche Bitte um Unterstützung bei allen Erfolgsbemühungen zu erwirken. Ein solcher Sinneswandel aber wirft unweigerlich die Frage nach ihrer Motivation auf. Warum scheint mit einem Mal gegenstandslos, was soeben noch so nachdrücklich zu bedenken gegeben war? Doch bei der Suche nach einer Erklärung läßt der Wortlaut des Textes seine Leser ein Stück weit ratlos zurück. Alles, was Petrarca ausdrücklich zum Thema macht, beschränkt sich auf einen Konditionalsatz: Wenn es dazu kommt, daß das Ich doch noch die Beendigung seiner kläglichen Bitten vor seinem Tod erleben sollte, möge Amor Nachsicht für sein neuerliches Betteln um Erfolg bei seiner Dame haben. Woher aber stammt die sich mit einem Mal ziemlich unerwartet einstellende Zuversicht, daß es doch anders sein könne, als der verzweifelte Verliebte zunächst aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen mit einem durchaus realistischen Blick in die Zukunft angenommen hatte? Hinzu kommt eine etwas irritierende, aber bei genauerer Betrachtung gerade dadurch aufschlußreiche Störung in diesem Satzgefüge, nämlich eine merkwürdige Verkehrung der Beziehung von conditio und conclusio beim

steht: ‚Wenn denn meine Sache noch nicht ganz verloren ist, möge Amor mir nicht gram sein, weil ich ihn wieder bitte, mir Gelegenheit zu freudigem Singen zu geben.‘ Gerade die Konjunktion ‚weil‘ zeigt die Möglichkeit an, daß diese Äußerung selbst schon eine solche Bitte vollzieht. Aber der Konjunktiv des Verbs ripreghi läßt ebenso die Eventualität offen, daß dies noch nicht in diesem Moment selbst geschieht, sondern allenfalls für die Zukunft vorgesehen ist. Bedürfte es womöglich weiterer Indizien für eine berechtigte Hoffnung auf Erfolg bei der Dame, die eine solche Bitte überhaupt sinnvoll erscheinen ließen?) Die sich am Ende der ersten Strophe einstellende Frage nach dem Status der eigenen Rede des Sprechers ist im übrigen auch nicht ohne Interesse für Petrarcas generelle Handhabung der Konventionen einer cantio cum auctoritate in seiner Kanzone. Denn sie kommt bezeichnenderweise dort auf, wo er das Zitat fremder Rede (deren Fremdheit in ihrem Fall nicht zuletzt durch den Wechsel in eine andere Sprache markiert ist) vorbereitet. Wir werden beobachten können, wie auch die Ungewißheit, die Petrarcas Kanzone an dieser Stelle über den Status ihrer selbst produziert, zu den Strategien einer erst allmählichen, progressiven Integration der zitierten Rede in die eigene Rede gehört. Und just dieser Umgang mit den jeweils zitierten Autoritäten wird sich als maßgeblich für die Funktion der Gattungskonventionen einer cantio cum auctoritate in Petrarcas Kanzone Nr. 70 erweisen.

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Blick des Ichs auf seine potentielle Zukunft. Das Verhältnis der beiden Satzteile stellt sich, wie folgt, dar: Wenn es dazu kommt, daß des Sängers Liebesklagen noch vor seinem Tod ein Ende finden, dann solle Amor nicht gram sein, wenn er ihn darum bitte, in Freiheit dereinst sagen zu können: Drez et rayson es qu’ieu ciant e ‘m demori. Doch muß er den Gott der Liebe – und just ihn – eigentlich noch darum ersuchen, wenn die Voraussetzung für ein solches Lied schon eingetreten wäre? An dieser Stelle kommt die Tatsache ins Spiel, daß es sich bei dem Schlußvers der ersten Strophe von Petrarcas Nr. 70 des Canzoniere um das Zitat der Rede eines anderen handelt. Der Ausdruck freudiger Empfindungen in dessen Lied ist nämlich dazu angetan, Petrarcas Sänger einen Anlaß zu der Hoffnung zu geben, daß auch für ihn – entgegen der zunächst bekundeten Skepsis – noch nicht alles verloren sein muß: Wenn andere ihr (Liebes-)Glück gewonnen haben, warum nicht auch er selbst? So bietet die zitierte Kanzone des vermeintlichen Arnaut Daniel im Grunde die einzige Möglichkeit, der abrupten Verhaltensänderung ihres Sprechers einen Sinn zuzuweisen. Im Hinblick auf eine solche – wenn auch unausdrücklich bleibende – Motivationsfunktion der am Ende der ersten Strophe angeführten provenzalischen Kanzone ist es von Belang, daß das Ich, stellt man den genauen Wortlaut seiner Rede in Rechnung, ja nicht um die Erfüllung seiner erotischen Wünsche bittet, sondern auf das mögliche Ende seiner für den Augenblick unaufhörlich scheinenden Klagerede setzt, um sie durch ein Lied wie das zitierte ersetzen zu können. Die Befriedigung seines erotischen Verlangens wechselt auf diese Weise in den logischen Status einer bloßen Voraussetzung für ein Gedicht wie das zitierte, das dem Ausdruck der solchem Glück geschuldeten Freude dienen könnte: Auch der Dichter der Kanzone Nr. 70 möchte so singen können wie derjenige es konnte, den er für Arnaut Daniel hält, weil er augenscheinlich Anlaß für einen solchen Ausdruck seines Wohlbefindens hatte. Die verquere Logik im Verhältnis zwischen conditio und conclusio, die wir bemerkt haben, erklärt sich auf diese Weise: Sie ist eine Konsequenz der Tatsache, daß die Bitte um eine Gelegenheit für ein Lied wie das zitierte nichts anderes als eine Maske der Bitte um die Erfüllung der erotischen Wünsche des Sängers bedeutet. Das Ich versteckt sein Begehren gleichsam hinter seinem Liederwunsch. Aber damit kommt auf ebenso stillschweigende Weise zum Vorschein, daß das zitierte Lied sein Begehren neuerlich angestachelt hat. Es deutet also manches darauf hin, daß der zitierten provenzalischen Kanzone die heimliche Aufgabe jener Motivation für den Wandel der Haltung des Ichs gegenüber seinen beständigen – und bislang nichts als erfolglosen – Bitten um die Erfüllung der Liebe zufällt, die wir andernorts in der ersten

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Strophe vermißt haben. Die poetische Tradition bewirkt mithin nicht nur die Fortsetzung ihrer selbst, sondern sie wirkt auch auf das Verhalten des Liebenden als eines solchen ein. Weil, spätestens vom Ende der Kanzone Nr. 70 her betrachtet, der Affekt dieses Sängers jedoch alle moralische Unschuld verliert, wird das überkommene Lied, das er sich zu eigen macht, gleichsam zu einem Instrument seiner Verführung. Es gerät zum Antrieb an dem festzuhalten, was ihm selbst schon zweifelhaft zu werden schien. Die Autorität, die es genießt, weshalb es in dieser cantio cum auctoritate Verwendung findet, wirkt nicht nur als Modell poetischer Nachfolge, es steht vielmehr auch im Dienst der Bekräftigung eines Verhaltens, von dem der Sänger selbst zu wissen scheint, daß er davon besser ließe. Die cantio cum auctoritate aber übernimmt damit zugleich die Funktion einer stillschweigenden Rechtfertigung eines Verhaltens, das einer solchen Legitimation augenscheinlich bedarf. Indem die auctoritas der Dichtung über die poetische Rede selbst hinausweist und zum Rechtfertigungsargument für das Verhalten des Sängers herhalten muß, fällt ihr infolgedessen eine zutiefst ambivalente Funktion zu. Poetische Meisterschaft wird geradezu zu einer Ursache für die Bekräftigung eines moralisch prekären Verhaltens. Schon das erste der Zitate volkssprachlicher Autoritäten trägt insofern bereits den Keim jener Selbstdelegitimation in sich, die der Sprecher dieser Kanzone am Leitfaden der Rede berühmter Vorgänger in diesem Gedicht in Szene setzen wird. Die zweite Strophe von Petrarcas Kanzone knüpft mit ihrem Beginn an den Wortlaut der Schlußzeile der vorausgehenden Strophe an, um deren Inhalt allerdings eine andere Wendung zu geben: Ragione è ben ch’alcuna volta io canti, però ch’ò sospirato si gran tempo che mai non incomincio assai per tempo per adequar col riso i dolor’ tanti. Et s’io potesse far ch’agli occhi santi porgesse alcun dilecto qualche dolce mio detto, o me beato sopra gli altri amanti! Ma più, quand’io dirò senza mentire: Donna mi priegha, per ch'io voglio dire. (Petrarca, Canzoniere XXIII, –)

21 Petrarca, Canzoniere (22004, 347).

Es ist wohl recht, daß ich bisweilen singe, denn ich habe so lange geseufzt, daß ich nie zu früh damit anfange, um mit Lachen die zahllosen Schmerzen aufzuwiegen. Und wenn es mir gelänge, daß ich den heiligen Augen eine Freude mit einem süßen Gedichte zu bereiten vermöchte, um wieviel wäre ich glücklicher als alle anderen Liebenden. Mehr noch aber werde ich es sein, wenn ich ohne zu lügen sagen werde: „Meine Dame bittet mich, daß ich ihr sagen möge.“

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Fast wörtlich übersetzt Petrarca den Vers des Guilelm de Sant Gregori: Aus «Drez et rayson es qu’ieu ciant e ‘m demori» wird «Ragione è ben ch’alcuna volta io canti». Es ist mithin recht, daß ich singe. Der Text selbst führt gleichsam in seinem Wortlaut vor, wie sich sein Sprecher zu eigen macht, was er zitiert. Nur von der Freude des Provenzalen ist bei Petrarca keine Rede: Noch nicht, sollten wir der Genauigkeit halber hinzufügen. Denn von ihr wird später in dieser Strophe gerade überschwänglich die Rede sein. Statt dessen fügt Petrarca in ihren Eingangsvers eine Zeitangabe ein: Es ist recht, daß ich manchmal singe. Mit dieser Umstandsbestimmung aber ändert sich die Funktion des Singens wesentlich: Zuvor fiel ihm die Aufgabe zu, die Stimmung des Sängers wiederzugeben, weshalb das am Ende der ersten Strophe zitierte Lied für den Augenblick noch ein Projekt für eine (keineswegs gewiß scheinende) Zukunft blieb. Denn erst schien der Sänger sich der Gunst der Dame sicher sein zu müssen, bevor er ein solches Lied werde anstimmen können. Nun hingegen soll das Lied selbst dafür sorgen, ein wenig Freude in die trüben Tage des unglücklich Verliebten zu bringen. Es soll eine seelische Balance wiederherstellen und mit freundlicher Stimmung («col riso») die zahllosen Schmerzen ausgleichen helfen, die das unerfüllte Begehren ansonsten verursacht. Das Lied gewinnt eine gleichsam eigenständige Aufgabe, als hätte auch dazu das Modell anderer Lieder beigetragen. Diese Umkehrung der Funktion des Liedes gegenüber der ersten Strophe der Kanzone Nr. 70 setzt sich auch in der zweiten Hälfte ihrer zweiten Strophe fort, die indessen zugleich zu dem Anliegen zurückkehrt, mit dem dieses Gedicht einsetzte. War es zuvor als ein Ausdruck der Situation des Liebenden und der Beziehung zu seiner Dame gedacht, so soll es nun selbst auf die Liebessituation einwirken und den Augen der Geliebten eine Freude bereiten, um sie gnädig, wo nicht günstig zu stimmen. Auf den ersten Blick mag es verwundern, warum gerade die Augen als das Subjekt des Vergnügens, das der Sänger der Geliebten mit seinem Lied verschaffen möchte, Erwähnung finden. Doch wird man in dieser Formulierung wohl die Bezeichnung des Modus der Rezeption vermuten können, den der Sänger seiner Kanzone zugedacht hat: Die Lektüre des Gedichtes ist es wohl, von der sich das Ich erhofft, der in diesem Liederbuch besungenen Dame eine Freude machen zu können. Allerdings erklärt sich aus einer solchen Markierung der Schriftlichkeit poetischer Kommunikation noch nicht das Adjektiv, das die Augen in Vers 15 begleitet: «santi» («heilig») werden sie genannt. Es ist unverkennbar die Emphase des Liebenden, die die Augen der Dame solchermaßen in überirdische Sphären erhebt. Daß gerade sie eine solche Überhöhung erfahren, erklärt sich indessen aus den Bedingungen, unter denen der Sänger von seiner Liebe zu Laura erfaßt

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wurde. Zu Beginn des berühmten dritten Sonetts des Canzoniere werden die betreffenden Umstände geschildert: Era il giorno ch’al sol si scoloraro per la pietà del suo Factore i rai, quando i’fui preso, et non me ne guardai, ché i be’ vostr’occhi, donna, mi legaro. (Petrarca, Canzoniere III, –)

Es war der Tag, an dem die Strahlen der Sonne sich aus Mitleid mit ihrem Schöpfer entfärbten, als ich ergriffen wurde und mich nicht davor hütete. Denn eure schönen Augen, Dame, haben mich gefesselt.

Die Augen waren es, die die Leidenschaft des Ichs verursachten. Und vielleicht liegt in diesem Auslöser seiner Liebe auch schon ein Großteil des Dramas beschlossen, das aus dem Moment des innamoramento erwachsen sollte: Wenn die Augen die Liebe des Ichs entfacht haben, so war es nicht allein sein Blick, der solche Folgen zeitigt. Der Blick, der auf die Augen der Dame trifft, setzt vielmehr eine Begegnung der Blicke beider voraus. ‚Sehen‘ bedeutet hier immer auch ‚gesehen‘, ‚angesehen‘ werden. Eine solche Begegnung aber bietet Gelegenheit zu vielfältiger Interpretation. Sie kann das Einverständnis der beiden, die sich mit ihren Augen treffen, bedeuten. Sie erscheint insofern potentiell als eine symbolische Vereinigung und schließt darum sogar ein mögliches Versprechen künftiger Vereinigung ein. Sie nährt jedenfalls Hoffnung. Der Augenblick des Verliebens selbst trägt mithin bereits das Potential aller Hoffnungen und aller Enttäuschungen in sich. Die Überhöhung der Augen der Dame zu ihren «heiligen Augen» steht also im unmittelbaren Zusammenhang der Ereignisse dieser Liebesgeschichte – und sie scheint bereits jenem Selbstvorwurf vorzuarbeiten, den der Sänger in der Schlußstrophe gegen sich selbst richten wird. Denn dort bezichtigt er sich selbst, daß ihn das Schöne, das ihn umgibt, blende. (Doch paßt das Epitheton santi zugleich zum vorletzten Vers der letzten Strophe, in dem der Sänger davon berichtet, daß er sich am Tag des Verliebens engelgleicher Schönheit, angelica beltade, zugewandt habe. Auch dort, wo der Sänger und Liebende Einsicht in die Verwerflichkeit seines Tuns gewinnt, bedient er sich folglich noch immer einer Sprache, die doch dem Zustand seiner Verwirrung durch die Liebe entstammt. Wie also geht beides, die Erklärung der Einsicht in die eigene Verfehlung und das Festhalten an einer Sprache, die eine solche Einsicht dementiert, miteinander auf? (Auch darauf werden wir eine Antwort zu geben haben.) Mit dem Ausdruck der Hoffnung auf ein Vergnügen, das sein Gedicht der begehrten Dame bereiten möge, rückt in der zweiten Strophe der Kanzone Nr. 70 das Lied selbst in die Funktion der Bitten um ihre Gunst ein. Es übernimmt damit

22 Ibid., 17.

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die Aufgabe jener Bitten, die nach Auskunft des Eingangs der Kanzone bislang vergeblich blieben, als könnte es aussichtsreicher einen Erfolg garantieren, und wechselt damit seinen Status: Dieses Lied beschränkt sich nicht mehr auf die Wiedergabe der Stimmung des Liebenden, es dient nun der Werbung um die Zuwendung der Dame und übernimmt damit die wohl ursprünglichste Funktion poetischer Rede in der Tradition dieses volkssprachlichen Dichtens. Erst an dieser Stelle ist auch von der Freude die Rede, die der zitierte Guilelm de Sant Gregori als Gegenstand seiner Dichtung schon in seinem IncipitVers zum Thema gemacht hatte. Petrarca hatte, wie gesehen, in seiner Übersetzung dieses Verses zu Beginn der zweiten Strophe seiner Kanzone darauf verzichtet, auch sie zu erwähnen. Die Freude bleibt bei ihm also noch immer der – weiterhin, aber mit größerer Zuversicht erhofften – Zukunft vorbehalten. Und dieses Mehr an Zutrauen, das der Liebende inzwischen in die Zukunft zu setzen scheint, kommt nicht zuletzt dadurch zum Vorschein, daß er nun nicht mehr nur von der Möglichkeit spricht, dereinst wie sein provenzalischer Ahnherr singen zu können, sondern ein überzeugt klingendes Futur verwendet: quand’io dirò. Ebenso ist an die Stelle eines konditionalen se das temporale quando getreten. Angeregt – wo nicht verführt – durch die Worte anderer scheint der Liebende sich seines künftigen Erfolgs – wenn auch nur für einen Augenblick, wie wir bemerken werden – ziemlich sicher geworden zu sein. Zu der Verschiebung der Freude in eine zuversichtlich erwartete Zukunft aber gehört zugleich die emphatische Natur, die sie bei Petrarca annimmt: Glücklicher als alle anderen Liebenden werde er sein – und damit zwangsläufig auch glücklicher als derjenige, dessen Vers er sich zu eigen gemacht hat. Nachahmung geht mit Überbietung einher. Das ist seit alters her so, doch bleibt es in Petrarcas Canzoniere nicht bei einer bloß poetischen aemulatio. Auch im Erlebnis seiner Liebe gedenkt dieser Sänger seine Vorgänger zu überbieten. Wieder greift die imitatio vom Text auf das Leben über und bezieht von hierher ein Stück weit ihre Brisanz. Aber selbst das Glück, das die der Dame mit dem Lied bereitete Freude bedeutet, läßt sich noch steigern. Wenn es noch nicht den Gipfel allen Wohlbefindens bezeichnet, dann deshalb, weil es erst vollkommen sein kann, wenn die Dame sich ihm zugewandt haben wird. Dies aber wird erst dann der Fall sein, wenn seine Dichtung schon auf ihre Aufforderung zum Dichten antworten kann: «Donna mi priegha, per ch’io voglio dire». In anderen Worten gesagt: Das am Ende der zweiten Strophe mit den Worten Guido Cavalcantis beschworene Glück setzt bereits den Erfolg der poetischen Werbung um die Gunst der Dame voraus.

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Die Möglichkeit einer Äußerung wie der von Cavalcanti zitierten stellt Petrarca allerdings unter einen Vorbehalt: «Senza mentire» – «ohne zu lügen» will er so sprechen können. Warum bedarf es dieses Hinweises auf das Erfordernis der Wahrhaftigkeit einer solchen Aussage? Die pragmatische Logik dieser Vorbedingung scheint vorauszusetzen, daß nicht alle es mit der Wahrheit bei der betreffenden Behauptung sonderlich ernst genommen haben. Schließlich muß es Anlaß geben, eine solche Einschränkung überhaupt vorzunehmen.23 Insofern scheint es naheliegend, in Petrarcas Bemerkung den heimlichen Vorwurf gegenüber dem Autor Cavalcanti zu vermuten, daß sein Gedicht-Incipit, der Anspruch, auf die Einladung der Dame zu reagieren, kaum anderes als poetische Fiktion gewesen sei. Auch in dieser unausdrücklichen Kritik steckt mithin ein Moment der Anstachelung der Passion des Ichs durch den Text des berühmten Vorgängers, auch sie verrät den Antrieb zu einer Überbietung, die wiederum die Lebenssituation des verliebten Sängers einbezieht. Sie setzt auf eine größere Glückserfüllung der Liebe und begnügt sich keineswegs nur mit der Demonstration überlegener poetischer Könnerschaft. Einmal mehr gerät Petrarcas cantio cum auctoritate damit zum Dokument einer Beförderung der erotischen Leidenschaft durch jene poetische Tradition, die sie zugleich besingt. Für eine derartige Wirkung der Liebesdichtung gibt es in der italienischen Literatur seiner Tage ein prominentes Modell. Sollte die Wirkung der zitierten Autoritäten der Liebesdichtung in der Kanzone Nr. 70 deshalb derjenigen vergleichbar sein, die Dante im fünften Gesang des Inferno seiner Commedia dem höfischen Roman und den verheerenden Folgen seiner Lektüre für die der Wollust anheimgefallenen Liebenden Paolo und Francesca bescheinigt hat?24 Im Wechsel von der zweiten zur dritten Strophe der Kanzone Nr. 70 des Canzoniere ändert sich der Status des jeweils zitierten Textes deutlich. Bislang wurde er jeweils als ein Sprechakt eines anderen eingeführt, den dereinst für

23 Solche korrigierenden Bezugnahmen auf Korrespondenztexte bilden ein durchaus geläufiges Verfahren der Tradition volkssprachlicher Dichtung. Guido Guinizellis Frauenlob-Sonett Io voglio del ver la mia donna laudare markiert seine Distanz gegenüber Giacomo da Lentinis Sonett Madonna ha in se vertute con valore, das gleichfalls dem Preis von dessen Dame gilt und mit dem er sich intertextuell auseinandersetzt. Die Umstandsbestimmung del ver, die Beteuerung, er – Guido – werde auf wirkliche Weise seine Dame loben, macht Sinn als Abgrenzung gegenüber dem zitierten Gedicht des Notaro, auf das sich Guido gleichwohl bezieht. (Cf. hierzu: Kablitz 1991, 20–67). 24 Schließlich schildert auch Francesca die aufkeimende Leidenschaft der beiden Liebenden im – variierenden – Zitat der berühmten Lehrkanzone des dolce stil novo, Al cor gentil rempaira sempre amore, aus der Feder Guido Guinizellis. Zur Funktion dieses Zitats und im besonderen der Veränderungen, die Dante dabei an diesem Intertext vornimmt, cf. Kablitz (2018, 19–62).

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sich selbst übernehmen zu können das Ich erhofft. In der dritten Strophe aber gewinnt das Autoritäten-Zitat, das diesmal keinen geringeren als Dante ins Spiel bringt, seinen Status wie seine Funktion erheblich: Vaghi pensier’ che così passo passo scorto m’avete a ragionar tant’alto, vedete che madonna a ‘l cor di smalto, sì forte, ch’io per me dentro nol passo. Ella non degna di mirar sì basso che di nostre parole curi, che ‘l ciel non vòle, al qual pur contrastando i’ son già lasso: onde, come nel cor m’induro e ’naspro, così nel mio parlar voglio esser aspro. (Petrarca, Canzoniere LXX, –)

Ihr träumerischen Gedanken, die ihr mich allmählich dazu gebracht habt, so hoch hinausreichende Hoffnungen auszusprechen, seht doch, daß meine Dame ein Herz von Stein hat, so hart, daß ich dorthin nicht gelangen kann. Sie geruht nicht, so tief herabzublicken, daß sie sich um unsere Worte kümmerte, die der Himmel nicht möchte, dem zu widerstehen mich müde gemacht hat. Da ich mich deshalb in meinem Herzen verhärte und verbittere, „so will ich auch in meinem Sprechen bitter sein.“

Im Unterschied zu den beiden ersten Strophen wird das Autoritäten-Zitat, das diesmal eine Kanzone aus Dantes rime petrose ins Spiel bringt, nicht mehr als eine fremde Rede angeführt, die der Sprecher gern für sich selbst übernehmen möchte, sondern Dantes Incipit-Vers gerät zur sprachlichen Kennzeichnung der stilistischen Eigenart, die Petrarcas Ich seiner eigenen Rede geben möchte. Nicht mehr der Wortlaut der Dichtungen anderer steht als Zitat ihrer Rede zur Übernahme bereit, sondern der zitierte Intertext wird um seines Gegenstandes willen, den sich das Ich aneignet, aufgegriffen. Das Dante-Zitat markiert nicht mehr einen Text als einen solchen, sondern es bezeichnet ein poetologisches Programm für die eigene Rede. Damit ist zweifellos ein höheres Maß an Integration der zitierten Rede in die eigene Rede verbunden, um deren Sache es nun geht. Auch diese – wie wir sehen werden, weiterhin fortschreitende – Integration gehört zu der Bewegung des Textes hin zu einem Selbstzitat, wie es am Ende der letzten Strophe der Kanzone Nr. 70 stattfindet. Die Bezugnahme auf einen Text aus der eigenen Feder wird gleichsam vorbereitet, indem zuvor auch die fremde Rede zu einem Ausdrucksmittel für die eigenen Belange gemacht wird. In gewisser Weise erscheint die Serie der verschiedenen Zitate, mit denen die Strophen von Petrarcas Kanzone Nr. 70 jeweils schließen, insofern auch als eine progredierende Relativierung des Prinzips der cantio cum auctoritate selbst, wenn die fremde Rede sich vom Hinweis auf einen Sprechakt anderer zum sprachlichen Material des Ausdrucks für die eigenen Angelegenheiten wandelt. Und bezeichnender-

25 Petrarca, Canzoniere (2004, 347).

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weise vollzieht sich dieser Statuswechsel parallel zum historischen Verlauf. Je näher die zitierte auctoritas mit ihren Lebensdaten zeitlich zu Petrarca steht, um so entschiedener fällt die Integration fremder Rede in die eigene aus. Diese Veränderung des Status der Autoritäten-Zitate geht indes auch mit einem Wechsel des Gegenstands der Rede einher. War bislang das Sprechen und Dichten dieses Sängers im allgemeinen das Thema seiner Worte, so wird nun der Text der Kanzone Nr. 70 selbst zum Objekt der Reflexionen des Sängers – und zwar im Sinne einer Distanzierung von dem bislang in diesem Gedicht Gesagten. Es ist eine Einsicht in die Unangemessenheit der bisherigen Rede für die eigene Situation, die eine solche Abwendung von dem bisher Gesagten zur Folge hat, als käme dem Sänger das Verführungspotential durch die Rede der Zitierten zu Bewußtsein, die ihm eine Zuversicht für seine Hoffnungen vorgegaukelt haben, die jeder Grundlage in der eigenen Lebenssituation entbehrt. Auch im Hinblick auf diese Abkehr des Sängers vom bisherigen Verlauf seiner Worte stehen die generischen Konventionen der cantio cum auctoritate zur Debatte. Ja, lassen sich seine eigenen Worte überhaupt noch umstandslos als die seinen apostrophieren? Wenn der Sänger zu Beginn der dritten Strophe den vaghi pensier’ vorhält, sie hätten ihn nach und nach zu abwegigen Gedankenspielen geführt, die in deutlichem Kontrast zu den Gegebenheiten seiner eigenen Lebensumstände stehen, so kommt unweigerlich die Frage auf, um wessen Gedanken es sich dabei des näheren handelt. Wer ist ihr eigentlicher Urheber? Das Ich selbst, das durch sein Begehren zu Wunschvorstellungen verleitet wird, denen jede realistische Möglichkeit ihrer Erfüllung fehlt (weshalb es anfällig für Texte wie die zitierten wird, die noch immer eine anderweitig verloren scheinende Hoffnung schüren)? Oder wären es sogar allererst die Worte der anderen, die ihn dazu gebracht haben, Dinge zu äußern, die in offensichtlichem Kontrast zu seiner eigenen Lebenssituation stehen, weil sie ihm Vorstellungen suggerieren, auf die er ansonsten nicht verfallen wäre? Die Kausalitäten verwischen sich offensichtlich; und der Status der zitierten poetischen Rede schwankt in der Folge dieser Unentschiedenheit zwischen einem (bloßen) Ausdruck für die eigenen Befindlichkeiten des Sängers und einem Stachel seiner Leidenschaft: Poetische Konkurrenz – Antrieb wie Leitprinzip dieser volkssprachlichen Dichtung – gerät auch zur – potentiellen – Quelle der Suche nach (größerem) erotischem Erfolg. Damit aber gehört auch das Verhältnis zwischen eigener und fremder Rede zu dem, wie gesehen, von Anfang an in dieser Kanzone – wie im übrigen im Canzoniere insgesamt – in Szene gesetzten Verwirrspiel um die Instanzen, die für die Leidenschaft des Ichs verantwortlich zeichnen. La Rochefoucaulds berühmtes Diktum: «Il y a des gens qui n’auraient jamais été amoureux s’ils

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n’avaient entendu parler de l’amour»26 benennt gleichsam eine Facette im Kaleidoskop der Möglichkeiten, die die Leidenschaft des Sängers in dieser Kanzone Nr. 70 – die Entstehung wie die Hartnäckigkeit unbändigen Liebesverlangens – zu erklären vermögen. Die Einsicht in die mangelnde Paßförmigkeit der angeeigneten (und womöglich durch sie verursachten) Rede aber setzt schließlich auch einen Prozeß moralischer Reflexion in Gang, der gerade durch die Diskrepanz zwischen der bisherigen Rede und den faktischen Gegebenheiten der Situation dieses heillos verliebten Sängers ausgelöst wird: Che parlo? o dove sono? et chi m’nganna, altri ch’io stesso e ‘l desiar soverchio? Già s’i’trascorro il ciel di cerchio in cerchio, nessun pianeta a pianger mi condanna. Se mortal velo il mio veder appanna, che colpa è de le stelle, o de le cose belle? Meco si sta chi dì et notte m’affanna, poi che del suo piacer mi fe’ gir grave la dolce vista e ‘l bel guardo soave. (Petrarca, Canzoniere LXX, –)

Was sage ich? Und wo bin ich? Und wer sonst als ich selbst und das übermächtige Verlangen täuscht mich? Wenn ich den Himmel von einem Kreis zum nächsten erkunde, so verurteilt mich kein Stern zu weinen. Wenn der Schleier der Sterblichen mein Sehen trübt, welche Schuld tragen die Sterne oder die schönen Dinge daran? Bei mir selbst steht das, was Tag und Nacht mich belastet, seit dem mich „der süße Anblick und der lockende schöne Blick“ mit dem Gefallen an ihnen erfüllten.

Wenn mit der dritten Strophe ein Prozeß des Einsichtsgewinns eröffnet wird, dann setzt er sich in dieser vierten Strophe fort. Mit einem Mal erkennt der Sänger sich selbst als die Ursache aller Übel, die ihn befallen haben, und weist im gleichen Zug die Schuld aller anderen möglichen Verursacher zurück. Sein eigenes Verlangen und nicht etwa eine externe Ursache zeichnen nun für alle Leiden verantwortlich, denen er sich in seiner unheilträchtigen Leidenschaft ausgesetzt sieht. Es gehört zu den signifikanten Momenten von Petrarcas Umgang mit der Gattung der cantio cum auctoritate, daß sich diese Verhaltensänderung des Ichs in genau dem Moment ereignet, in dem der zitierte Vers (Dantes), wie gesehen, nicht mehr nur als die Rede eines anderen ausgewiesen, sondern der eigenen Rede in der Sache integriert wird. Dort, wo der versus cum auctoritate nicht ein Projekt künftigen Sprechens bleibt, wo er vielmehr einen integralen Bestandteil der aktuellen eigenen Rede bildet, setzt eine moralische Reflexion ein, die eine wesentlich veränderte – moralische – Selbsteinschätzung zur Folge hat.

26 La Rochefoucauld (1964, 421); («Es gibt Leute, die niemals verliebt gewesen wären, hätten sie nicht von der Liebe reden hören»). 27 Petrarca, Canzoniere (22004, 348).

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Diese Änderung des Verhaltens unterscheidet sich denn auch merklich von derjenigen, die bereits zwischen der zweiten und der dritten Strophe stattfand. Dort bewirkte das Zitat aus Cavalcantis Lehrkanzone durch die daraus resultierende Feststellung einer nicht zu verkennenden Diskrepanz zwischen der eigenen und der dort geschilderten Situation eine Verbitterung des Liebenden, für deren Formulierung Dantes rime petrose ein Modell anboten. Und damit bleibt auch diese Verhärtung des eigenen Herzens noch immer ein potentieller Effekt der zitierten poetischen Rede. Nun aber wechselt der Sänger wesentlich grundsätzlicher die Perspektive seines Sprechens und setzt zu einer moralischen Bewertung seines eigenen Anteils an dem ihm widerfahrenen Elend an. Bemerkenswert an dieser Selbsterkundung ist vor allem, daß er damit nun etwas zum zentralen Thema macht, das implicite – wie gesehen – von der ersten Zeile dieses Gedichtes an dessen unausdrücklichen basso continuo bildet: die Frage nach den Verantwortlichkeiten für sein Unglück, die tiefe Unentschiedenheit über die Ursache oder das Subjekt, die seine – in des Wortes wahrstem Sinne – Leidenschaft in die Welt gebracht haben. Erst dort, wo die am Strophenende jeweils zitierte Rede nicht mehr nur den zitierten Sprechakt eines anderen Autors darstellt, den wiederholen zu können der Sänger für sich selbst erhofft, wo die Rede eines anderen vielmehr nur noch in der Funktion einer gleichsam geborgten Formulierung für ein eigenes Vorhaben in Erscheinung tritt, das in der unmittelbaren Äußerung wirksam zu werden scheint, entfaltet sie gleichsam einen Abstoßungseffekt. Eine solche Wirkung ist im übrigen um so weniger verwunderlich, zieht man in Betracht, welche Konsequenzen sich aus Dantes programmatischem ersten Vers für seine eigene Kanzone schließlich ergeben: Canzon, vattene dritto a quella donna che m’ha ferito il core e che m’invola quello ond’io ho più gola, e dàlle per lo cor d’una saetta; ché bell’onor s’acquista in far vendetta. (Dante, Così nel mio parlar voglio esser aspro, V. –)

Kanzone, geh geradewegs zu jener Dame, die mir das Herz gebrochen hat und die mir nimmt, wonach mich am meisten verlangt, und stoß ihr einen Pfeil durch das Herz. Denn schöne Ehre erwirbt sich durch Rache.

Die imitatio des Modellautors mündet solchermaßen in eine radikale Abkehr von seiner Rede. Wovon aber distanziert sich der Sänger damit? Von seiner eigenen Rede oder derjenigen des anderen, die er seinen eigenen Worten einverleibt hat – und die seine Rede gleichwohl nicht wirklich geworden wäre? Bezeichnend im Hinblick auf diese Unsicherheit sind nicht zuletzt die Fragen, mit denen die vierte Strophe einsetzt und in denen die Absage des Sängers 28 Dante Alighieri, Rime (1960, Rima 103).

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an alles, was er zuvor geäußert hat, erstmals Gestalt annimmt: «Che parlo? o dove sono?» («Was spreche ich? Oder wo bin ich?»). Nicht zuletzt, daß diese beiden Fragen nicht nur aneinandergereiht sind, um verschiedene Facetten derselben Situation zu beleuchten, sondern daß sie durch die Konjunktion ‚oder‘ gleichsam zur Alternative gestellt sind, markiert das Maß an Selbstentfremdung des Sprechers, das sie zum Ausdruck bringen: Was spreche ich? Liegt der in dieser Wendung bekundeten Verwunderung ein Erstaunen über die eigenen Worte zugrunde? Oder kommt diese Frage zustande, weil das Ich bemerkt, in den Worten anderer zu sprechen? Unterstützt wird eine solche Möglichkeit der Deutung noch durch die folgende Frage nach dem Ort, an dem sich der Sprecher aufhält: «o dove sono?» Befände das Ich sich gewissermaßen außerhalb seiner selbst, weil es die Worte anderer im Munde führt? Oder nur deshalb, weil es seine moralische Integrität und damit seine Identität zu verlieren droht? Das Prinzip unterschiedlicher Lesarten, das die beiden ersten Fragen dieser vierten Strophe kennzeichnet, gilt gleichermaßen für die folgende Frage, die ihre kleine Serie abschließt: «et chi m’inganna altri ch’io stesso e ‘l desiar soverchio?» («Und wer anderes als ich selbst oder mein entfesseltes Begehren täuschen mich?») Die Alternative, die mit diesen Worten aufgeworfen ist, betrifft den Unterschied zwischen einer rhetorischen und einer wirklichen Frage. Bekennt der Sänger sich in Frageform zu seiner eigenen Schuld? Oder stellt er tatsächlich in Rechnung, daß andere Ursachen seine Täuschung bewirkt haben könnten? Auch die nächsten beiden Verse lassen sich im Sinne dieser beiden Deutungsmöglichkeiten lesen: Es kann sein, daß der Sprecher zur Bekräftigung seiner eigenen Verantwortlichkeit betrachtend den Himmel durchmißt, um sich zu vergewissern, daß dort nicht irgendein Hinweis auf die Verursachung seiner Qualen durch die Sterne zu finden ist. Aber ebenso denkbar ist es, daß er sich in diesen Sphären auf die Suche nach denen begibt, die ihn ins Elend getrieben haben – ohne sie freilich zu finden. Formuliert das Ich mit diesen Worten also ein Argument zur Illustration seiner festen Überzeugung, allein selbst die Ursache all seiner Widrigkeiten zu sein? Oder bemüht der Sprecher sich weiterhin zu erfahren, ob er selbst oder eine andere Instanz Schuld an seinen Qualen trägt, weshalb er den Himmel mustert, um womöglich dort die Schuldigen zu identifizieren? Diese Alternative steht also noch immer zur Debatte. Die nächsten drei Verse scheinen die erste dieser beiden Lesarten zu bekräftigen: «Se mortal velo il mio veder appanna, / che colpa è delle stelle, / o delle cose belle?» («Wenn der Schleier der Sterblichen mein Sehen trübt, welche Schuld tragen die Sterne oder die schönen Dinge daran?») Es sieht – zumindest auf den ersten Blick – in der Tat so aus, als finde hier das finale Bekenntnis des Sängers zur eigenen Verantwortung statt. Wenn dieser Eindruck so gewiß

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allerdings nicht bleibt, wie er zunächst zu sein scheint, so liegt dies an der Subtilität der Konstruktion des Satzes, in dem er zum Ausdruck gebracht ist. Syntaktisch scheinen die Verse 32–34 den vorausgehenden beiden parallel gebaut zu sein: Einem Konditionalsatz folgt jeweils ein Hauptsatz in Frageform. Doch in semantischer Hinsicht ist dieser Konditionalsatz in beiden Fällen von sehr unterschiedlicher Natur: In den ersten beiden Versen macht er einen Vorgang namhaft: ‚Sofern ich . . .‘. Die einleitende Konjunktion già macht diesen zeitlichen Aspekt ausdrücklich kenntlich. In den folgenden drei Versen benennt der Konditionalsatz hingegen eine Prämisse: ‚Wenn es so ist, daß . . .‘. Während er zuvor eine Beobachtung zum Gegenstand hat, deren Subjekt niemand anders als das Ich dieser Rede ist, macht er hier ein allgemeines Wissen, eine im Grunde zitierte philosophisch-theologische Lehrmeinung geltend, die auf die eigene Person Anwendung findet: ‚Wenn es sich denn so verhält, daß ein mortal velo, ein – wörtlich übersetzt – sterblicher Schleier, also der Körper des Menschen, die Sicht des Ichs behindert . . .‘. (An dieser Stelle zeichnet sich ab, daß die Kanzone Nr. 70 keineswegs nur Autoritäten der volkssprachlichen Dichtung zitiert. Sie beruft sich ebenso auf einen theologischen Diskurs, den sie gegen diese poetische Rede setzt. Wir werden sehen, daß gerade die kontrastive Beziehung zwischen den beiden in diesem Text aufgerufenen Autoritäten in den Kern der Semantik dieses Gedichtes führt.) Die wesentliche Frage, die der konditionale Nebensatz («Se mortal velo il mio veder appanna») aufwirft, ist diejenige nach seiner Geltung. Bekennt sich der Sänger zur Wahrheit dieses Satzes – steht sein ‚wenn‘ also im Sinne eines ‚wenn doch‘ und damit letztlich in kausaler Funktion dort – und nimmt darum alle Schuld auf sich, um gleichzeitig die Sterne wie die schönen Dinge dieser Erde von jeglicher Verantwortung für seine leidträchtige Liebe zu entlasten? Oder setzt er nur die Möglichkeit der Geltung dieser Prämisse an – sofern es so ist (oder wäre) –, um die Folgen für die Verantwortung der Sterne wie aller schönen Dinge für die Befindlichkeiten des Menschen zum Thema zu machen? Wovon also handeln diese Verse? Fragen sie noch immer nach den Ursachen des Elends, das ihren Sprecher befallen hat? Oder verschieben sie die Perspektive der Rede auf die Logik eines allgemeinen Sachverhalts? Steht womöglich insgeheim die Konsistenz des Dogmas zur Debatte? Diese Frage stellt sich mit um so größerer Virulenz, als auch an dieser Stelle rhetorisch noch einmal die Stellvertreterfunktion sichtbar wird, die der Himmel wiederum einnimmt.29 Das Ich durchmißt ihn mit seinem Blick, ohne dort einen Planeten zu finden, der ihn zu seinem Unglück «verdammte» («condanna»).

29 Cf. hierzu oben Anm. 18.

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Auffällig ist dieses Verbum vor allem deshalb, weil es einem Subjekt zugeordnet wird, zu dem es nicht recht paßt. Verurteilt zu seinem Unglück könnte der Liebende vernünftigerweise nur von einem werden, nämlich von Gott selbst. So macht das Verb condannare gerade auf denjenigen aufmerksam, dessen Erwähnung vermieden wird. Nun entspricht es der thomistischen Kosmologie, daß die Bewegung der Himmel und mit ihnen diejenige der Sterne, die von den Engeln in Gang gesetzt werden, die Umsetzung des Schöpferwillens in der Natur bedeuten. Die metonymische Funktion des Himmels und seiner Planeten für die Instanz Gottes findet insofern auch in der zeitgenössisch dominanten theologischen Lehre eine Stütze. Ja, es fragt sich, warum der Sprecher überhaupt ihre potentielle – wiewohl zurückgewiesene – Verantwortlichkeit für sein Unglück zum Thema macht? Nichts in seiner vorigen Rede liefert einen Ansatz dafür. So scheint es die theologische Lehre selbst zu sein, die dazu Anlaß gibt. Aber wäre diese Frage nicht zugleich selbstwidersprüchlich? Wenn nach eigenem Bekunden die Körperlichkeit des Auges die Erkenntnisfähigkeit des Ichs behindert, kann es dann überhaupt mit dem bloßen Auge erfassen, wonach es den Himmel absucht? Wäre dieses Vorhaben nicht schon in sich selbst zum Scheitern verurteilt? Welcher semantische Effekt aber erwächst daraus für die metonymische Funktion, die der Himmel und die Sterne im Hinblick auf Gottes Wirken besitzen? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus im besonderen bezüglich der Verantwortung dieses Gottes für das Unglück des Liebenden? Die Antwort auf diese Fragen fällt unvermeidlich ambivalent aus. Es kann sein, daß mit der Feststellung der Unzuständigkeit der Himmelskörper auch der himmlische Schöpfer als Ursache der Widrigkeiten des heillos verliebten Sängers definitiv ausfällt. Aber es kann ebenso sein, daß das Ich mit seinen begrenzten Mitteln dort nach den Ursachen sucht, wo sie definitiv nicht zu finden sind. Fürs erste scheint die vierte Strophe allerdings mit einem Plädoyer für die erste der beiden genannten Möglichkeiten zu Ende zu gehen und endgültig die Schuld des Ichs für seine eigenen Leiden zu bekräftigen: «Meco si sta chi dì et notte m’affanna, / poi che del suo piacer mi fe’ gir grave / la dolce vista e ’l bel guardo soave» («Bei mir selbst steht das, was Tag und Nacht mich belastet, seit dem mich „der süße Anblick und der lockende schöne Blick“ mit dem Gefallen an ihnen erfüllten»). Mit der diesen Satz einleitenden Wendung «bei (resp.: mit) mir befindet sich» wird die Rolle des Ichs hervorgehoben und in einen offenkundigen Kontrast zu den Sternen wie den schönen Dingen gerückt, die zuvor von jeder Schuld freigesprochen wurden. Insofern scheinen die Verhältnisse nun endlich geklärt zu sein. Doch sie scheinen es bei näherem Zusehen auch nur zu sein. Denn einmal mehr durchkreuzt das Detail der Argumentation deren vordergründige Logik.

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Diese heimliche Subvertierung von vermeintlich gefundener Eindeutigkeit beginnt mit der Periphrase, die den Relativsatz des Verses 38 ausfüllt: chi dì et notte m’affanna. Wer (oder was) nämlich ist es, der das Ich Tag und Nacht umtreibt? Santagatas Kommentar vermerkt, eine Erläuterung dieses Verses durch Daniele Ponchiroli aufnehmend: «l’idea dell’amata».30 Doch welche Grundlage besitzt in Petrarcas Kanzone eine solche Auflösung der Leerstelle, die mit der Umschreibung des zitierten Relativsatzes verbunden ist? Welche Berechtigung gibt es, sie mit der Vorstellung von der Dame, die der Liebende beständig vor Augen habe, aufzufüllen? Im Grunde findet sie ihre Stütze nur in einer weiteren Erklärung von Santagatas Kommentar: in seiner Bemerkung zu der dem Relativsatz unmittelbar vorausgehenden Wortfügung meco. Zu ihr heißt es bei Santagata: «cioè dentro di me, nel mio cuore».31 Aber auch dieser Kommentar bringt eine Vereindeutigung mit sich, die Petrarcas Wortlaut nicht hergibt, ja, die er – stellt man die Logik dieses Gedichtes insgesamt in Rechnung – vermutlich gerade konsequent verweigert. Meco heißt, ins Deutsche übersetzt: ‚mit mir‘, resp. ‚bei mir‘. Dies kann in der Tat auch bedeuten ‚in mir‘. Aber das ist alles andere als gewiß. Die Formulierung kann ebenso besagen: ‚in meiner Nähe‘; und damit wird die Eindeutigkeit einer Deutung der Periphrase des Relativsatzes als Umschreibung der Vorstellung der Dame, die der Liebende fortwährend in sich trage, hinfällig. Ließe sich die Periphrase nicht mit gleichem Recht beispielsweise als eine Umschreibung des vielzitierten Amor verstehen, der in Vers 7 dieser Kanzone bereits Gegenstand der Rede war – und der doch selbst nur zu einem Stellvertreter für welche Ursache der Liebe auch immer taugt? Zurück aber bleibt in der Konsequenz dieser Unentschiedenheiten nur die nach wie vor unaufgelöste Ungewißheit, wer denn für diese qualvolle Passion des Sängers verantwortlich ist. Zu diesen – augenscheinlich planvoll arrangierten – Unverrechenbarkeiten des Textes zählt nicht zuletzt das Zitat des Incipit-Verses einer Kanzone von Cina da Pistoia, «la dolce vista e ‘l bel guardo soave», das diese Strophe beschließt. Auch diesmal ist es, wie schon im Falle des Dante-Zitats am Ende der vorausgehenden Strophe, sehr viel deutlicher als in den ersten beiden Strophen in die Rede des Sprechers selbst integriert. Es ist kein Modell eines künftigen eigenen Sprechakts mehr, für den sich das Ich das Eintreten entsprechender Voraussetzungen erhofft. Der Grad der Integration dieses zitierten Verses reicht auch einmal weiter als bei dem Hinweis auf Dantes rime petrose. Denn die von Cina da Pistoia zitierte Formulierung meint nicht mehr nur ein Prinzip, das der

30 Petrarca, Canzoniere (22004, 355). 31 Ibid.

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Sänger auf seine eigene Rede anzuwenden gedenkt. Es macht vielmehr nun einen Sachverhalt namhaft, der bereits in der eigenen Vergangenheit (und Gegenwart) spielt und nicht mehr die Dichtung, sondern nur noch die Lebenssituation des Liebenden betrifft. Das Zitat ist auf diese Weise im Duktus der Rede als ein solches beinahe zum Verschwinden gebracht. Im gleichen Zug aber gewinnen die von Cino übernommenen Worte Anteil an der Frage nach den Ursachen der Liebe, die dieses Gedicht – wie so manches andere in Petrarcas Lieder-Zyklus – beherrscht, ja das Zitat Cino da Pistoias restituiert gleichsam andere mögliche Urheber der Leidenschaft des Sängers als diesen selbst. Dies geht nicht zuletzt daraus hervor, daß das Ich der Rede grammatisch wiederum in die Funktion eines Objekts gerät: Der Anblick und der Blick der Dame («la dolce vista e ‘l bel guardo soave») – hier wird jene Reziprozität deutlich, die wir für die Umstände des Verliebens über die Augen der Dame diskutiert haben – waren es, die den Sänger für sich eingenommen und seine Liebe entfacht haben. (Man kann über den Verlauf dieser vierten Strophe hinweg übrigens beobachten, wie das Ich, nachdem es an ihrem Beginn in Subjektfunktion erscheint, mehr und mehr auf die Seite des Objekts wechselt, bis dieses Ich am Ende zum direkten grammatischen Objekt im Akkusativ wird.) Wer also trägt die Schuld an den Leiden des Liebenden? Auch die vierte Strophe, obwohl sie in dieser Frage gerade Klarheit herzustellen scheint, untergräbt die nur vordergründig gefundene Gewißheit. Sie entläßt ihre Leser mit der noch immer ungelösten, ja im Grunde ungewisser denn je erscheinenden Frage, wer es denn sei. Was aber besagt der intertextuelle Bezug zu Cinos Kanzone für den Formtyp einer cantio cum auctoritate in Petrarcas Gedicht? Noch einmal wechselt das Autoritätenzitat in dieser vierten Strophe seine Funktion, trägt es doch nun dazu bei, die moralische Selbstreflexion zu untergraben, die die vierte Strophe am Leitfaden des Dogmas in Gang zu setzen scheint. Und genau die Orthodoxie dieses Dogmas wird das Thema der abschließenden vierten Strophe werden, deren Wortlaut wir schon eingangs zitiert hatten. Unser Blick auf die Schlußstrophe am Beginn dieses Artikels hatte uns allerdings bereits eine erste Beobachtung machen lassen, die an der Konsistenz der seit der vierten Strophe in Szene gesetzten Konversion einen leisen Zweifel aufkommen ließ. Denn die Belastung der eigenen Person mit der Schuld für alle Verfehlungen ebenso wie die Entlastung anderer von ihrer Verantwortung macht, so sahen wir jeweils, letztlich zu diesem Zweck untaugliche, weil nur vermeintliche Handlungssubjekte namhaft. Weder die Augen noch die Umstände des Tags des innamoramento sind wirklich geeignet, um als Verursacher all seiner Folgen für den verzweifelten Liebenden überzeugend herzuhalten.

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Genau besehen, bleibt die Schuldfrage schon dadurch wiederum ein Stück weit offen. Indessen scheint es erforderlich, den beiden von Petrarca genannten Pseudo-Subjekten des innamoramento noch ein wenig genauer nachzugehen. Es könnte nämlich sein, daß sich ihre nur vermeintliche Untauglichkeit zur Übernahme von Verantwortung durch ihren rhetorischen, näherhin metonymischen Status klärt. Dies scheint vor allem im Blick auf das Auge der Fall zu sein. Steht es nicht – eben metonymisch – für das Ich, das durch diese Augen blickt, und fügt sich insofern durchaus schlüssig in dessen Selbstanklage? Dasjenige Moment im Wortlaut von Petrarcas Kanzone, das einer solchen Auflösung des Auges als einer bloßen rhetorischen Figur im Wege steht, aber ist bezeichnenderweise die Feststellung seiner moralischen Schuld selbst: Pur la sua propria colpa – einzig seine eigene Schuld hat seine Schwäche verursacht. Doch das Auge selbst ist zweifellos schuldunfähig, von seiner eigenen Schuld kann insofern kaum die Rede sein. Genau diese ausdrückliche Zuschreibung von moralischer Verantwortung an die Adresse dieses Auges verhindert insofern paradoxerweise dessen Verständnis als einer Metonymie des Ichs, dem allein der Schuldspruch des Sängers gelten könnte. Nun gilt es allerdings zu berücksichtigen, daß diese Belastung des Auges mit der Verantwortung für moralisches Versagen eine Vorgeschichte in dieser Kanzone hat, die uns noch einmal in deren vierte Strophe führt. Wie wir bereits sahen, ist ja schon dort, wenn auch nicht ausdrücklich vom Auge, so doch vom Sehen die Rede, und zwar in Vers 35: «Se mortal velo il mio veder appanna» («wenn der Schleier des sterblichen Körpers mein Sehen behindert»). Hier steht das Sehen zweifellos für eine – unkörperliche – Erkenntnis, die durch die Körperlichkeit des Menschen beeinträchtigt wird und deshalb stets nur unvollkommen gelingen kann. Diese Unvermeidlichkeit körperlicher Wahrnehmung, die zu den Grundbefindlichkeiten der conditio humana gehört, ist eine generische Eigenschaft der Spezies ‚Mensch‘, die für das Dogma in kanonischer Form im ersten Korintherbrief des Paulus festgelegt ist: videmus enim nunc per speculum in enigmate, tunc autem facie ad faciem, nunc cognosco ex parte, tunc autem cognoscam sicut et cognitus sum.

32 Biblia sacra, ed. Weber (21975, II, 1783f.).

Wir schauen jetzt durch einen Spiegel wie in einem Rätsel, dann aber von Angesicht zu Angesicht; nun erkenne ich nur zum Teil, dann aber werde ich so erkennen, wie ich auch selbst erkannt werde.

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Eine solche Differenzierung zwischen menschlicher und göttlicher Rationalität erscheint schon allein deshalb geboten, weil es gilt, den Menschen, das animal rationale, das der Schöpfer nach seinem Bilde geschaffen hat,33 gleichwohl von seinem Urbild – dem Gott, der Logos ist – zu unterscheiden. Mit dem Hinweis auf den mortal velo als einer Ursache der Unzulänglichkeit menschlicher Erkenntnis nimmt Petrarcas Kanzone mithin auf ein Kernstück des orthodoxen Glaubens Bezug. Die abschließende Strophe greift diese Beschränkung der Möglichkeiten menschlicher Wahrnehmung aufgrund des mortal velo noch einmal auf, um sie zugleich in den Zusammenhang mit einem weiteren Grundprinzip der Schöpfung in Verbindung zu rücken (V. 44): «Tutte le cose, di che ‘l mondo è adorno / uscîr buone de man del mastro eterno; / ma me, che così adentro non discerno, / abbaglia il bel che mi si mostra intorno» («Alle Dinge, die die Welt schön machen, gingen als gute Dinge aus den Händen des ewigen Werkmeisters hervor. Aber mich, der ich so weit hinein nicht schaue, zieht das Schöne, das sich mir um mich herum zeigt, herunter»). Der Zusammenhang mit der vorstehenden Strophe geht nicht zuletzt aus einem Gegensatz hervor. Denn dem dort geltend gemachten mortal velo der sterblichen Hülle des menschlichen Körpers, ist nun der mastro eterno, der ewige Schöpfer, gegenübergestellt. Auch der hier zum Ausdruck gebrachte Grundsatz gehört zu den elementaren Überzeugungen christlichen Glaubens: Alles, was der Schöpfer geschaffen hat, ist gut, weil er es, weil er es geschaffen hat («und Gott sah, daß es gut war»). Daß das Schöne dennoch zur Sünde verlocken kann, ist deshalb einzig seiner Entstellung durch den Menschen anzulasten und mithin auf das Konto seiner moralischen Schuld zu verbuchen. Die Frage, die dieses vordergründig nichts als orthodoxe Bekenntnis in Petrarcas Kanzone allerdings unter der Hand auslöst, betrifft das Verhältnis zwischen beidem: zwischen der Bekundung eines generellen Prinzips der Schöpfungsordnung und der Erklärung des eigenen Verhaltens, das dieser Ordnung zuwiderläuft. Aufgeworfen wird das darin steckende Problem durch die spezifischen Formulierungen, die Petrarca an dieser Stelle verwendet, heißt es doch, daß er so weit hinein in die Dinge, die Gott gemacht hat, nicht sehen kann: «ma me, che così adentro non discerno». Wieder ist hier der Gegensatz zwischen Erkenntnis und Wahrnehmung, zwischen der intellektuellen Einsicht in das Wesen der Dinge und der körperlichen Betrachtung ihrer Erscheinung aufgemacht; doch diesmal ist er an die Grenze eines Widerspruchs geführt. Was nämlich bedeutet es, daß das Ich über

33 Cf. Gn 1,26.

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das rechte Wissen verfügt, wie es um die (schönen) geschaffenen Dinge der Welt bestellt ist, aber nicht in der Lage ist, dies zu sehen und folglich bei seinem eigenen Handeln in der körperlichen Wirklichkeit in Rechnung zu stellen? Welche Konsequenzen besitzt diese Diskrepanz zwischen Wissen und Wahrnehmung für sein Verhalten? Was besagt es folglich, daß die schönen Dinge als von Gott geschaffene Geschöpfe an sich selbst gut sind, aber dennoch den Sänger täuschen? Wäre das Schöne als solches die Ursache der Täuschung, über die es hinwegzusehen gälte, wenn man dazu nur imstande wäre? Eine solche Schlußfolgerung stünde allerdings in einem eklatanten Widerspruch zu dem gleichfalls in Petrarcas Worten zitierten Grundsatz, daß die Welt schön ist («‘l mondo è adorno») – eine Überzeugung, die zu den elementaren Prämissen der Schöpfungstheologie zählt. Denn die Schönheit der Schöpfung gilt als ein Ausweis ihrer göttlichen Herkunft.34 Worin also sollte die Einsicht bestehen, die dem Ich, das in die Dinge (und folglich ihr Wesen) nicht hineinschauen kann (obwohl es doch davon weiß), versagt bleibt? Nicht nur scheint das Ich zu einer solchen Erkenntnis nicht in der Lage zu sein, ebenso bleibt unabsehbar, was es aufgrund seiner Defizite verkennt. Aber diese Konsequenz ist im Grunde ihrerseits schlüssig, wenn denn gilt, daß dem Ich derlei Einsichten grundsätzlich unzugänglich bleiben. Petrarcas einmal mehr höchst raffiniert arrangierter Wortlaut entfaltet letztlich die Aporien der theologischen Vorstellung vom Menschen, der unwiderruflich zur Erkenntnis der Wahrheit nicht befähigt ist, aber dennoch schuldfähig bleibt. Wir sollten deshalb nicht unberücksichtigt lassen, daß an dieser Stelle, in den Versen 43–44 der Kanzone Nr. 70, auch noch einmal die Subjektfrage aufgeworfen wird, und zwar wiederum mit den Mitteln der Grammatik: Mich, der ich in die Dinge nicht hineinsehen und folglich ihre wahre Natur nicht erkennen kann, blendet das Schöne, das sich mir um mich herum zeigt. Das Ich tritt als ein Subjekt des eigenen Handelns nur im Modus der Verneinung in Erscheinung. Es vermag gerade nicht, aus eigenem Vermögen in die Dinge und ihre wahre Natur hineinzusehen. Ansonsten ist es Objekt externer Einwirkungen: Die schönen Dinge zeigen sich ihm und blenden ihn. Die Unfähigkeit zur wahren

34 Schon im Buch der Weisheit des Alten Testaments werden die Schönheit der Schöpfung und ihr göttlicher Ursprung zusammengedacht: Sap 13, 5: «a magnitudine enim speciei et creaturae cognoscibiliter poterit horum creator videri», Biblia sacra, ed. Weber (21975, II, 1018). («Aus der Größe und Schönheit der Schöpfung läßt sich erkennbar ihr Schöpfer ersehen.») Augustinus wird, an diesen Grundsatz anknüpfend, die Vorstellung vom Buch der Natur entwickeln, dessen Lesbarkeit in der Schönheit des Universums als Signum ihrer Herkunft besteht. (Cf. hierzu Kablitz 2016).

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Erkenntnis geht also einher mit dem Verlust der Subjektfunktion des Handelns. In der Konsequenz seiner Beschränkung durch die dem Menschen wesenhaft eignende Körperlichkeit wird das Ich zum Objekt äußerer Einflüsse. Was die hier kommentierten Verse 41–44 in Szene setzen, ist eine Demonstration der unvermeidlichen Unwirksamkeit orthodoxen christlichen Wissens. Weil das Ich nicht in der Lage ist, die Dinge in ihrer wirklichen Beschaffenheit zu sehen, ist auch seinem Wissen über ihre wahre Natur keinerlei Effekt beschieden. Das Wissen, das der rechte Glaube bereitzustellen vermag, läuft gleichsam ins Leere, weil sich die dadurch vermittelten Erkenntnisse nicht nachvollziehen, ja noch nicht einmal in ihrem konkreten Inhalt erkennen lassen. In dieser Hinsicht sind nicht zuletzt die temporalen Verhältnisse in Petrarcas Wortlaut von Belang, die die Vergangenheit der Erschaffung der Welt gegen die Gegenwart der Begegnung mit ihr ausspielen: Die schönen Dinge gingen als gute Geschöpfe aus den Händen Gottes hervor («uscîr buone»), hingegen blendet mich das Schöne, das sich mir nun zeigt («abbaglia il bel che mi si mostra intorno»). Theologisches Wissen bezieht sich auf einen entfernten Schöpfungsvorgang, der sich in der Gegenwart des Erlebnisses der Welt nicht – in des Wortes wörtlichem Sinne – einsehen läßt. Fast hat es den Anschein, als werde diese Gegenüberstellung von ‚einst‘ und ‚jetzt‘ ihrerseits bis in die Grammatik dieser Sätze hinein abgebildet. Denn wenn es heißt, daß alle die Dinge, durch die die Welt schön ist, als gute Dinge aus den Händen des Schöpfers hervorgingen, dann wechseln sie schon an dieser Stelle in eine jedenfalls grammatische Subjektfunktion. Sollte dieses grammatische Arrangement also besagen, daß sie sich im Augenblick der Schöpfung, in dem Moment, in dem sie in die Welt gesetzt werden, auch schon von ihrer göttlichen Herkunft emanzipieren und gleichsam ein Eigenleben zu führen beginnen? Wäre durch die Formulierungen des Wortlauts von Petrarcas Kanzone insoweit suggeriert, daß sich im Akt der Schöpfung das Wesen und die Erscheinung der Dinge voneinander lösen? (Und wäre der körperlichen Metaphorik, die zur Schilderung des Schöpfungsaktes Verwendung findet, dem Hervorgehen der Dinge aus den Händen Gottes, der die Welt doch mit dem Wort geschaffen hat, selbst bereits ein Hinweis auf eine körperliche Verdinglichung eingeschrieben, die das Wesen, das im Logos gründet, verdunkelt?) Auf den ersten Blick mag es in Widerspruch zu dem hier postulierten Verhältnis zwischen der Vergangenheit der Schöpfung des Universums und dem aktuellen Erlebnis der Welt stehen, daß den konkreten Dingen, die die Hände des Schöpfers herstellten («le cose di che ‘l mondo è adorno»), in der Gegenwart des Ichs ein Abstraktum gegenübergestellt ist: «il bel che mi si mostra». Doch diese Differenz zwischen den schönen Dingen und der Schönheit der Dinge markiert im Grunde die Reduktion auf ihre Erscheinung im doppelten Sinn dieses Wortes; als Sichtbar-Werden und als bloße Scheinhaftigkeit.

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Wenn das theologische Wissen aufgrund der Beschränkungen, denen die an die Körperlichkeit ihrer Wahrnehmung gebundene Erkenntnis des Menschen unterliegt, keine rechte Wirksamkeit entfalten kann, so zeigt sich eine Spur dieser Hindernisse, genau besehen, bereits in der Formulierung des orthodoxen Glaubenssatzes selbst, und zwar bereits im ersten Vers der abschließenden fünften Strophe dieser Verse: «Tutte le cose di che ‘l mondo è adorno». Dieser Satz suggeriert, daß es bestimmte Dinge sind, die die Welt schön machen. Kurz gesagt: Die schönen Dinge machen die Welt schön. Doch eine solche Behauptung stellt sich gegen die überkommene theologische Lehre. Nicht Einzelnes verleiht der Schöpfung ihre Schönheit. Ihre umfassende Ordnung begründet ihre ästhetische Wirkung, zu der auch und gerade die häßlichen Dinge, die in der gefallenen Welt nicht ausbleiben konnten, gehören. Schön ist die Schöpfung wegen ihrer unverbrüchlichen, durch keinen Frevel des Menschen zu zerstörenden Ordnung, die auf dem Verhältnis all ihrer Teile zueinander gründet, wie Augustinus am Leitfaden des Modells eines Gedichtes entwickelt.35 Petrarcas Fixierung auf die (einzelnen) schönen Dinge als Ursache der Schönheit der ganzen Welt verrät statt dessen bereits seine Fixierung auf eben sie, deren Wirkung nicht zuletzt seine entfesselte Leidenschaft hervorgerufen hat. Schon die Aneignung theologischen Wissens wird bestimmt durch die conditio humana, die die Erkenntnisfähigkeit des Menschen zur Einsicht in die Wahrheit unwiderruflich behindert.

35 Augustinus, De civitate Dei (1955), hier XI, 19: «ullum, non dico angelorum, sed vel hominum crearet, quem malum futurum esse praescisset, nisi pariter nosset quibus eos bonorum usibus commodaret atque ita ordinem saeculorum tamquam pulcherrimum carmen etiam ex quibusdam quasi antithetis honestaret. Antitheta enim quae appellantur in ornamentis elocutionis sunt decentissima, quae latine ut appellentur opposita, vel, quod expressius dicitur, contraposita, non est apud nos huius vocabuli consuetudo, cum tamen eisdem ornamentis locutionis etiam sermo latinus utatur, immo linguae omnium gentium. [. . .] Sicut ergo ista contraria contrariis opposita sermonis pulchritudinem reddunt: ita quadam non verborum, sed rerum eloquentia contrariorum oppositione saeculi pulchritudo componitur». («Ich sage zudem, daß Gott keinen einzigen Engel, noch einen Menschen geschaffen hätte, von dem er vorausgesehen hätte, daß er böse werden würde, wenn er nicht ebenso gewußt hätte, auf welche Weise er sie für das Gute hätte nutzen können und er dadurch die Ordnung der Zeitläufte wie ein wunderschönes Gedicht durch Antithesen schmückte. Antithesen, wie sie genannt werden, sind äußerst anmutig zum Schmuck der Rede. Im Lateinischen heißen sie opposita, oder, wie sich präziser sagen ließe, contraposita. Bei uns ist dieser Begriff nicht gebräuchlich, auch wenn mit diesem rhetorischen Zierrat ebenso lateinische Rede geschmückt wird, wie im übrigen die Sprachen aller Völker sich seiner bedienen. [. . .] Wie also diese einander gegenübergestellten Gegensätze die Schönheit der Rede erzeugen, so läßt sich auch durch eine gewisse Gestaltungskunst nicht der Worte, sondern der Dinge mit Hilfe einer Gegenüberstellung von Gegensätzen die Schönheit der Zeiten herstellen»).

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Eine solche Verzerrung der theologischen Wahrheit durch die eigene, den gattungsbedingten Schwächen des Menschen unterliegende Wahrnehmung der Wirklichkeit aber zeigt sich vor allem im Fortgang der abschließenden Strophe: «et s’al vero splendor già mai ritorno, l’occhio non pò star fermo, / così l’a fatto infermo / pur la sua propria colpa» («Und sollte ich je zum wahren Glanz zurückkehren, kann das Auge nicht bestehen, so schwach hat es seine eigene Schuld gemacht»). Allem Bewußtsein der eigenen Verfehlungen zum Trotz, rechnet der einer unentrinnbar scheinenden Passion anheimgefallene Sänger augenscheinlich noch immer mit der Möglichkeit seiner Erhöhung ins Paradies durch einen gnädigen Gott. Doch diese Hoffnung ist gleichsam getrübt durch die Erwartung der Minderungen, die seine Seligkeit werde in Kauf nehmen müssen. Ja, folgt man den zitierten Versen, so scheint der gefallene Sünder nachgerade auf Ewigkeit untauglich für eine visio beatificata geworden zu sein, die alle himmlische Seligkeit ausmacht. Eine solche Sicht der Dinge aber verstößt im Grunde gleichermaßen gegen den rechten Glauben wie die Annahme, allein die schönen Dinge machten die Welt schön. Nur verläuft die Entstellung der orthodoxen Wahrheit in jeweils umgekehrter Richtung: Die Reduktion des ästhetischen Effekts der Schöpfung auf einzelne schöne Kreaturen spiegelt die Verfallenheit eines Verliebten an die Schönheit bestimmter Geschöpfe. Umgekehrt artikuliert sich das Bewußtsein von der eigenen Schuld in einer Verlängerung der conditio humana in die himmlischen Sphären ewiger Seligkeit, die sich als Ausweis besonderer Zerknirschung begreifen lassen mag, die aber zugleich darüber hinwegsieht, daß die Erhöhung der Fähigkeit des Menschen zur Betrachtung des himmlischen Lichtes Teil der gnadenhaft gewährten Seligkeit ist.36 Die Emphase des eigenen Schuldbekenntnisses tendiert ihrerseits zur Häresie. Was sich in diesen Übertragungen der besonderen Umstände der eigenen Lebenssituation auf die Ordnungen der von Gott eingerichteten Welt äußert, ist letztlich die Verwischung der Grenze zwischen den eigenen Befindlichkeiten und der allgemeinen Ordnung der Wirklichkeit. Deshalb kommt es zur Umdeutung der Schönheit des Universums nach den Maßgaben der Präferenzen eines der Schönheit einer begehrten Frau verfallenen Ichs. (Und deshalb auch spricht der Sänger selbst am Ende seiner in Zerknirschung mündenden Kanzone noch

36 Dante hat im ersten Gesang des Paradiso der Commedia für diese Stärkung der Sehkraft des Menschen im himmlischen Paradies den terminus technicus geprägt: Trasumanar lautet dort im Vers 70 das einschlägige Verb, das diese Steigerung menschlicher Fähigkeiten über ihr irdisches Potential hinaus namhaft macht. Dante schildert an dieser Stelle (cf. die Verse 55–72 in Paradiso I), wie ihm die Fähigkeit zuwächst, ein Licht auszuhalten, das er zunächst nicht ertragen zu können scheint.

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immer von der angelica beltade, der er sich zugewandt habe und von der es schwerfällt, sich fernzuhalten, wenn sie denn erst einmal als eine solche erkannt ist.) Aus demselben Grund verlängert dieser Sänger die Defizite seiner Wahrnehmungsfähigkeit, deren Beschädigung er seiner eigenen Schuld anlastet, in seine Untauglichkeit zur ewigen Seligkeit. Doch der mortal velo, der die Einsichtsfähigkeit des Menschen behindert, bedeutet eine ihm als Gattungswesen anhängende Bedingung, die aller individuellen Verfehlung immer schon voraufliegt. So spielt die abschließende Strophe von Petrarcas Kanzone Nr. 70 die Widersprüche aus, die sich im Verhältnis zwischen der generischen Ausstattung des Menschen und seiner individuellen Verfehlung ergeben. Denn wenn seine Körperlichkeit den Menschen dem Schein der Dinge ausliefert, deren Wesen er nicht zu erkennen vermag, wie kann diese Schwäche seiner Verantwortung zuzuschreiben sein und seine Schuld begründen? Oder wäre der sterbliche Körper des Menschen, der ihn einem verfehlten Begehren anheimfallen läßt, selbst schon eine Folge seiner Verfehlungen? In der Tat hatte die traditionelle, wesentlich von Augustinus entwickelte Theodizee eben diese Annahme im Konzept der Erbsünde theoretisiert: Weil der Mensch sich dem göttlichen Willen widersetzte, wurde er zur Strafe substantiell geschwächt und in sein sündiges Wesen eingeschlossen, aus dem ihn allein Gottes gnadenhafte und stets unverdiente Zuwendung zu befreien vermag.37 Doch genau besehen stellt auch dieses Erbsündendogma eine Scheinlösung zur Antwort auf die Frage nach der Ursache menschlicher Verirrungen dar. Denn wie erklärt sich, daß der Mensch, ein Geschöpf des – allmächtigen und allgütigen – Gottes, aus dessen Händen, wie Petrarca es formuliert, nur gute Dinge hervorgehen konnten und gegangen sind, der Sünde überhaupt anheimfallen konnte? Wie also erklärt sich, daß es in der Glückseligkeit des ursprünglichen Zustands des Menschen, unter den Bedingungen des status naturae der Schöpfung, zu dessen Zerstörung durch das Versagen des Menschen kam? Eine Spur dieses Unverständnisses hat auch Petrarca in die abschließende Strophe seiner Kanzone eingetragen, und zwar in deren Schlußverse, die am Ende in sein Selbstzitat münden und in denen er den Tag seines Verliebens schildert: «quel giorno / ch’i’ volsi inver’ l’angelica beltade / nel dolce tempo de la prima etade» («jener Tag, an dem ich zu der engelgleichen Schönheit mich wandte in der süßen ersten Zeit»). Auch Petrarcas Formulierungen provozieren zu der Frage, wie es denn in der süßen ersten Zeit des Menschen zu dem kommen konnte, was ihre Wonnen so abrupt beendete. Diese Frage stellt sich um

37 Cf. zu den zentralen Prinzipien des Erbsündendogmas Augustinus, De civitate Dei (1955 XIV, 15).

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so dringlicher, wenn man die Ursache in Betracht zieht, die das Ende dieser belle époque des Lebens besiegelte. Denn eine Hinwendung zu engelgleicher Schönheit ist es, die so zerstörerische Folgen zeitigte. Dabei scheint – stellt man die Semantik eines dolce tempo in Rechnung – das Glück solcher Begegnungen genau das auszumachen, was zu einer süßen Zeit paßt, ja, was sie zu einer solchen allererst werden läßt. Doch das Gegenteil ist der Fall. Es gilt, gerade überirdische Vollkommenheit als das Gegenteil dessen zu erkennen, was sie zu sein scheint, ja, als was sie sich darbietet (mi si mostra): als eine teuflische Verführung zu frevelhaftem Tun. Wie süß aber kann die Zeit dann sein, die solche Gefahren in sich birgt? Letztlich rufen schon die ersten Verse der Kanzone Nr. 23, in die Petrarcas cantio cum auctoritate mündet, eine solche Frage hervor, weshalb sie hier noch einmal angeführt seien: «Nel dolce tempo de la prima etade, / che nascer vide et anchor quasi in herba / la fera voglia che per mio mal crebbe / perché cantando il duol si disacerba, / canterò com’io vissi in libertade» («Wie ich in der süßen ersten Zeit, die noch fast im Grünen das unerbittliche Verlangen entstehen sah, das zu meinem Unglück immer stärker wurde, in Freiheit lebte, werde ich besingen, damit der Schmerz durch den Gesang gemildert werde»). Die erste Charakteristik, die der dolce tempo de la prima etade in der Kanzone Nr. 23 erfährt, besteht darin, daß er die Zeit der Entstehung des unstillbaren Begehrens darstellt, das nicht nur diese schöne Zeit beendete, sondern zu ihrer Kennzeichnung als einer süßen Zeit auch kaum zu passen scheint. Sie tritt also zunächst und vor allem als der Quell von künftigem Unglück in Erscheinung. Sollte die Bezeichnung als ein dolce tempo wie die damit verbundene Einschätzung dieser etade insofern nur eine Projektion des aktuellen Unglücks darstellen? Im Grunde wiederholt sich hier auf individuell-biographischer Ebene, was sich aus theologischer Sicht für die Geschichte der Menschheit insgesamt fragt: Wie konnte aus dem Glück des status naturae das Unglück der gefallenen Welt entstehen? Von welcher Beschaffenheit muß der Mensch sein, daß er die Zerstörung seines Glückes selbst bewirkt? Wie erklärt sich ein solch ruinöses Fehlverhalten des nach Gottes Ebenbild geschaffenen Geschöpfs?

Exkurs Wenn Petrarca in seinem Liederbuch Fragen wie die hier diskutierten zum Gegenstand seiner lyrischen Rede macht, dann erklärt sich dieses thematische Interesse nicht zuletzt dadurch, daß sie in der zeitgenössischen Theologie selbst erörtert werden. Auch dort ist zu bemerken, daß die überkommene augustinische Theodizee, die die Verantwortung für das Unglück dieser Welt dem Men-

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schen aufbürdete, eine Revision erfährt, die ihren Plausibilitätsverlust anzeigt. Die volkssprachliche Dichtung des 14. Jahrhunderts in Italien schließt an diese Diskussion an, um aus den Veränderungen der theologischen Position zugleich – deutlich radikalere – Schlußfolgerungen als der doktrinale Diskurs selbst zu ziehen, in dem derlei Konklusionen bloße Implikationen bleiben.38 Aufschlußreich für den Prestigeverlust der traditionellen Theodizee sind die Verschiebungen in der Anthropologie, die sich bei Thomas von Aquin mit besonderer Prägnanz in seinen Quaestiones disputatae de malo abzeichnen. Ihren Ausgangspunkt bildet eine Beschreibung der Mischnatur des Menschen. Ausdrücklich stellt Thomas fest, daß der Mensch als ein Lebewesen die vegetative Natur mit den Pflanzen und die sensitive Natur mit den Tieren teilt. Insofern stellt er die Summe aller Lebewesen dar und ist als einziges unter ihnen mit Vernunft ausgestattet. Aber, wie wir sehen werden, ist es genau diese Kombination verschiedener Naturen, die für den Menschen eine zusätzliche Gabe, die sich Gottes Gnade verdankt, erforderlich macht. Aufgrund dieses Defizits seiner natürlichen Ausstattung hat Gott dem Menschen die iustitia originalis verliehen, ein gnadenhaftes Geschenk, das die defizitäre natura hominis zu kompensieren hat. Was nun diese iustitia originalis betrifft, so bemerkt Thomas, daß diese übernatürliche Gabe ohne den Sündenfall auf natürlichem Weg weitergegeben worden wäre: Est autem considerandum quod primo homini in sua institutione datum fuerat divinitus quoddam supernaturale donum, scilicet originalis iustitia, per quam ratio subdebatur Deo, et inferiores uires rationi, et corpus animae. Hoc autem donum non fuerat datum primo homini ut singulari persone tantum, sed ut cuidam principio totius humane nature, ut scilicet ab eo per originem deriuaretur in posteros.

Es ist aber zu bedenken, daß dem ersten Menschen bei seiner Einsetzung von Gott eine übernatürliche Gabe gegeben worden war, nämlich die ursprüngliche Gerechtigkeit, durch die die Vernunft Gott unterstellt wurde und die unteren Seelenkräfte der Vernunft und der Körper der Seele. Diese Gabe aber wurde dem ersten Menschen nicht nur als einer einzelnen Person gegeben, sondern gewissermaßen als dem Beginn der gesamten menschlichen Natur, damit sie durch Abstammung auf die Späteren übertragen werde.

38 Ich habe diesen Sachverhalt an anderer Stelle eingehend diskutiert (cf. Kablitz, 2019) und kann mich deshalb hier auf eine knappe Darstellung der wesentlichen Gesichtspunkte der theologischen Diskussion beschränken. 39 Thomas Aquinas, Quaestiones disputatae de malo, q. 4, a. 1 co, zitiert nach Sancti Thomae de Aquino (1982, 105).

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Es ist eine merkwürdige Ambivalenz, die diese iustitia originalis kennzeichnet. Sie ist eine übernatürliche Gabe, die dennoch, für alle Nachkommen Adams, durch natürliche Zeugung weitergereicht werden sollte. Die dabei zutage tretende Ambivalenz zwischen natura und gratia aber hilft womöglich zu verstehen, warum Thomas ausdrücklich die Notwendigkeit dieser übernatürlichen Gabe festhält, ohne die der Mensch die ihm gestellten Aufgaben nicht zu erfüllen imstande gewesen wäre: Sed praeter hoc auxilium necessarium fuit homini aliud supernaturale auxilium ratione suae compositionis. Est enim homo compositus ex anima et corpore et ex natura intellectuali et sensibili : que quodammodo si sue nature relinquantur, intellectum aggravant et impediunt ne libere ad summum fastigium contemplationis peruenire possit. Hoc autem auxilium fuit originalis iustitia, per quam mens hominis sic subderetur Deo ut ei subderentur totaliter inferiores uires et ipsum corpus, neque ratio impediretur quominus posset in Deum tendere.

Aber außer dieser Hilfe brauchte der Mensch noch eine andere übernatürliche Hilfe, aufgrund seiner Zusammensetzung aus verschiedenen Naturen. Denn der Mensch besteht aus Seele und Körper und aus einer erkennenden und einer empfindenden Natur. Wenn diese gewissermaßen ihrer eigenen Natur überlassen werden, beschweren und behindern sie den Verstand, so daß er nicht frei zum höchsten Gipfel der Kontemplation gelangen kann. Diese Hilfe aber war die ursprüngliche Gerechtigkeit, durch die dem Verstand des Menschen, wenn er Gott unterstellt wird, vollständig die unteren Seelenkräfte und der Körper selbst untergeordnet würden, und die Vernunft würde ungehindert zu Gott streben.

Von Natur aus ist der Mensch aus eigener Kraft unfähig, seine Vernunft an Gottes Willen auszurichten. Die sich selbst überlassene menschliche Natur vermag es nicht, die Herrschaft der Vernunft durchzusetzen, und bedarf deshalb eines übernatürlichen Geschenks, das ihre Vorherrschaft gegenüber allen anderen Seelenkräften sicherstellt. Wenn jedoch die Erbsünde im Verlust dieser gnadenhaften Gabe besteht, dann fällt der Mensch dadurch auf seine natürliche Ausstattung zurück. Der status naturae lapsae gerät auf diese Weise, und eben dies scheint mir die entscheidende Veränderung gegenüber dem tradierten Dogma mit sich zu bringen, zu einem natürlichen Zustand. Er selbst ist nun der status naturae. Es wird hinfort schwierig, die Situation des gefallenen Menschen als eine (bloße) Störung der ursprünglichen Naturordnung zu verstehen. Denn der sich selbst überlassene Mensch wird unweigerlich auf seine natürliche Ausstattung reduziert. Die Rationalisierung des Dogmas geht solchermaßen mit einer Naturalisierung des gefallenen Menschen einher.

40 Thomas Aquinas, Quaestiones disputatae de malo, q. 5, a. 1 co. (ibid., 131).

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Warum aber geht Thomas ein solches Risiko ein, das die Integrität des Dogmas nachhaltig bedroht? Eine Antwort könnte sich in der folgenden, äußerst wagemutigen Analyse des Sündenfalls finden: Ad undecimum dicendum quod originalis iustitia fuit superaddita primo homini ex liberalitate divina. Sed quod huic animae non detur a Deo, non est ex parte eius, sed ex parte humane nature, in qua invenitur contrarium prohibens.

Zum elften ist zu sagen, daß die ursprüngliche Gerechtigkeit dem ersten Menschen aus göttlicher Freigiebigkeit hinzugegeben wurde; aber was dessen Seele nicht von Gott gegeben wird, stammt nicht von seiner Seite, sondern von Seiten der menschlichen Natur, in der sich etwas findet, das der göttlichen Gabe Widerstand bietet.

Der subversive Charakter dieser Äußerungen besteht in der Tatsache, daß sie den göttlichen Ursprung der menschlichen Natur zu verdunkeln trachten. Doch gemäß den elementaren christlichen Glaubenssätzen stammen alle Dinge, die natürlichen wie die übernatürlichen, selbstredend von niemand anderem als von Gott selbst: Credo in unum Deum, Patrem omnipotentem, factorem caeli et terra, visibilium omnium et invisibilium. Es gibt mithin keine Ausnahme für diese Regel. Wenn sich Thomas jedoch, ungeachtet der damit verbundenen stillschweigenden Aufhebung einer der wesentlichen Prämissen christlichen Glaubens, zu so riskanten Aussagen genötigt sieht, tritt sein argumentatives Anliegen nur um so deutlicher hervor. Was immer es kosten mag, er scheint alles daran zu setzen, Gottes Verantwortung für den Fall des Menschen auszuschließen; und dieses Interesse scheint so stark zu sein, daß es sogar eine latente Einrede gegen eine Grundannahme des Christentums in Kauf nimmt und Gottes Allmacht ein Stück weit relativiert. Sollte der Allgütige wichtiger als der Allmächtige geworden sein? Aber wie auch immer, augenscheinlich stellt die scholastische Rationalisierung des Dogmas die überkommene, wesentlich augustinische Theodizee erheblich in Frage. Eine ihrer wesentlichsten Konsequenzen besteht darin, daß Gottes gnadenhafter Eingriff zur Sicherung der moralischen Integrität menschlichen Handelns bereits unter den Bedingungen des status naturae erforderlich ist. Nicht erst der gefallene Mensch, der sich aus eigener Kraft von seinem sündigen Wesen nicht zu befreien vermag, ist auf die Wiederherstellung seiner Tugendfähigkeit durch eine göttliche Intervention angewiesen. Schon vor dem Sündenfall gestattet es die bloße natürliche Ausstattung dem Menschen nicht, Gottes Willen zu entsprechen. Deshalb bedarf es einer zusätzlichen, über die

41 Thomas Aquinas, Quaestiones disputatae de malo, q. 4, a. 1, ad 11. (ibid., 107).

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natürlichen Gaben hinausreichenden Einrichtung, die ihn dazu befähigt, eben des Geschenks der iustitia originalis. Das Erfordernis ihrer gnadenhaften Konzession aber bedeutet, daß die natura hominis selbst nicht ausreicht, um den Ansprüchen der Moral zu genügen. Eine solche Schlußfolgerung erscheint um so konsequenzenreicher, als in Thomas‘ Deutung der Geschichte des Menschen der status naturae lapsae folglich in nichts anderem als dem Entzug der iustitia originalis besteht und mithin zum Rückfall auf die bloße natürliche Ausstattung des Menschen führt – des animal rationale, das, auf sich allein gestellt, seiner Rationalität nicht recht froh wird. Wie aber schlägt sich die in Thomas‘ De malo zu erkennende Problemstellung in Petrarcas Cazoniere und im besonderen in dem uns hier interessierenden Gedicht nieder? Vor allem die Auswirkungen der im theologischen Diskurs stattfindenden Naturalisierung der Anthropologie des gefallenen Menschen sind in der Kanzone Nr. 70 zu erkennen. Sie manifestieren sich vor allem in den zahlreichen Widersprüchen, die dieser Text zwischen der Charakteristik der Gattungsmerkmale des Menschen – der Schilderung der Einsichtsbeschränkungen, die seine Körperlichkeit ihm auferlegt – und der anderweitigen Feststellung seiner Schuldfähigkeit in Szene setzt. Und in der Folge dieser Verwerfungen bleibt die Subjektstelle, die Instanz des Verursachers der Leiden des Ichs, auffällig leer; denn die wechselnden Verantwortlichen, die grammatisch in diese Rolle einspringen, erfüllen in der Sache kaum die Voraussetzungen, um diese Funktion übernehmen zu können. Zeichnete sich aber womöglich im Ausbleiben eines überzeugenden Verantwortlichen selbst eine Antwort auf die hier aufgeworfene Frage ab? Werfen wir zu diesem Zweck noch einmal auf das letzte der Pseudosubjekte, die Petrarcas Kanzone diskutiert, einen Blick. Das Auge, das der Sänger als den Schuldigen für seine unselige Lage ausmacht, ist, wie wir sahen, ungeeignet, um die Last dieser Schuld zu tragen. Seine Belastung erweist sich vielmehr als ein Symptom jener Widersprüche, die an der Schnittstelle zwischen der mangelhaften natürlichen Ausstattung des Menschen und seiner Schuldfähigkeit zum Vorschein kommen. Sollte der Text im Umkehrschluß deshalb nahelegen, daß diejenige Instanz, der er die Verantwortung für seine Situation ausdrücklich abspricht, im Gegenzug für die Übernahme der Rolle des Verursachers seiner Leiden um so größere Wahrscheinlichkeit beanspruchen kann: «quel giorno / ch’i’ volsi inver’ l’angelica beltade?» Um diese Frage beantworten zu können, gilt es, diesen Tag, an dem sich der Sänger engelgleicher Schönheit zuwandte, noch einmal etwas genauer zu betrachten. Werfen wir deshalb auf denjenigen Text, der ihn zu seinem Thema macht, nämlich das Sonett Nr. 3, noch einmal einen Blick. Wir haben sein erstes Quartett bereits zitiert, es sei der Deutlichkeit halber hier noch

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einmal im Verbund mit dem für unseren Zusammenhang wesentlichen zweiten Quartett zitiert: Era il giorno ch’al sol si scoloraro per la pietà del suo Factore i rai, quando i’ fui preso, et non me ne guardai, ché i be’ vostr’occhi, donna, mi legaro.

Es war der Tag, an dem die Strahlen der Sonne sich aus Mitleid mit ihrem Schöpfer entfärbten, als ich ergriffen wurde und mich nicht davor hütete. Denn eure schönen Augen, Dame, haben mich gefesselt.

Tempo non mi parea da far riparo contra’ colpi d’Amor: però m’andai secur, senza sospetto; onde i miei guai nel commune dolor s’incominciaro. (Petrarca, Canzoniere III, –)

Es schien mir nicht die Zeit zu sein, um mich gegen Amors Schläge zu schützen: Deshalb ging ich sicher meines Wegs daher, weshalb meine Qualen im allgemeinen Schmerz begannen.

Der Tag, an dem das innamoramento stattfand, ist bekanntlich der – liturgische – Karfreitag, der eingangs des Gedichtes durch die Periphrase der Sonnenfinsternis markiert wird, die vor dem Eintritt von Jesu Tod herrschte.43 Wenn ich die in der Apposition stehende Einschränkung mache, dann deshalb, weil der Text selbst mit der kalendarischen Identität des Tags des innamoramento spielt. Denn die Umschreibung einer Sonnenfinsternis, mit der er einsetzt, weist ihn als den historischen Karfreitag aus, an dem das Neue Testament dieses Naturphänomen sich ereignen läßt. Doch an dem Tag, an dem Petrarcas Ich erstmals Laura begegnete, fand eine solche Sonnenfinsternis mutmaßlich kaum statt. So handelt es sich im liturgisch-symbolischen Sinn um den Tag, den das erste Sonett namhaft macht, doch weil das für ihn genannte Merkmal für den Tag des innamoramento selbst nicht paßt, handelt es sich zugleich auch nicht um den dort bezeichneten Tag. Von allem Anfang an arrangiert

42 Petrarca, Canzoniere (22004, 17). 43 Alle Synoptiker berichten darüber. Von der sechsten bis zur neunten Stunde setzt Markus sie an (Mk 15,33): «et facta hora sexta tenebrae factae sunt per totam terram usque in horam nonam». («Und nach der sechsten Stunde ward eine Finsternis über das ganze Land bis um die neunte Stunde»). Matthäus situiert sie in etwa zur gleichen Zeit (Mt 27,45): «a sexta autem hora tenebrae factae sunt super universam terram usque ad horam nonam». («Und von der sechsten Stunde an ward eine Finsternis über das ganze Land bis zu der neunten Stunde»). Gleiches gilt für Lukas (Lk 23, 44–45): «erat autem fere hora sexta et tenebrae factae sunt in universa terra usque in nonam horam et obscuratus est sol». («Und es war um die sechste Stunde, und es ward eine Finsternis über das ganze Land bis an die neunte Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein»). Lukas’ Bericht über die Sonnenfinsternis steht Petrarcas Karfreitagsperiphrase am nächsten, findet doch nur bei ihm ausdrücklich die Verdunkelung der Sonne Erwähnung. Im dritten Sonett des Canzoniere wird daraus freilich die Entfärbung der Sonnenstrahlen. Wir werden bald bemerken, warum Petrarca diese Veränderung vornimmt.

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Petrarcas drittes Sonett im Grunde ein Verwirrspiel um die Beziehung zwischen der kalendarischen Fixierung und der semantischen Funktion dieses Tages, hinter der letztlich die Frage nach der Präsenz der Heilsgeschichte in der historischen Wirklichkeit steht.44 In welcher Weise aber wird der betreffende Tag, quel giorno, für das innamoramento des Sängers wirksam? Man kann seinen Effekt für das Verlieben kaum anders denn als paradox bezeichnen. Zum Quell einer moralisch prekären Verfehlung wird der Karfreitag nämlich nicht etwa aus Nachlässigkeit gegenüber diesem hochheiligen Tag, weil das Ich dessen liturgische Bedeutung mißachtet hätte. Vielmehr gerät ihm gerade seine Frömmigkeit zum Verhängnis. Wenn es heißt, daß seine Leiden im allgemeinen Schmerz dieses Tages («nel commune dolor») begannen, dann läßt sich dies als ein Hinweis auf den Ort lesen, an dem das folgenreiche innamoramento sich ereignete: in der Kirche.

44 Zudem nimmt Petrarca am Wortlaut des Evangelientextes einige Veränderungen vor. Sie betreffen zum einen die Motivation der Sonnenfinsternis, auf die sich in der Bibel kein Hinweis findet: Aus Mitleid mit ihrem Schöpfer habe sich die Sonne verdunkelt. Und zudem ist nicht eigentlich von einer Verdunkelung ihrer Strahlen die Rede, sondern vom Verlust ihrer Farbe: «si scoloraro». Die beiden Veränderungen aber gehören zusammen und enthalten eine versteckte Erklärung dafür, warum Petrarca sich just dieses Merkmals bedient, um mit seiner Hilfe periphrastisch den Karfreitag zu bezeichnen. Sie findet sich vor allem in den Versen 1–6 des Sonetts Nr. 90, einem Korrespondenzgedicht des Sonetts Nr. 3, das schon mit seinem Incipit als ein solches ausgewiesen wird und zugleich das Gegenbild des dortigen Karfreitagsszenariums bietet: «Erano i capei d’oro a l’aura sparsi / che ‘n mille dolci nodi gli avolgea, / e ’l vago lume oltra misura ardea / di quei begli occhi ch’or ne son sì scarsi / e ’l viso di pietosi color’ farsi / non so se vero o falso, mi parea»; Petrarca, Canzoniere (22004, 443). («Es waren die Haare von Gold in der Luft gelöst, die sie zu tausend Knoten band; und das liebliche Licht jener schönen Augen, die nun damit so geizen, brannte über die Maßen. Und mir schien, daß das Gesicht sich mit den Farben des Mitleids bedeckte, ich weiß nicht ob es zutraf oder nicht»). Wenn der verliebte Sänger das Mitleid als Ursache der karfreitäglichen Sonnenfinsternis entdeckt, dann steckt darin das Wunschbild jener Zuwendung, die er sich von seiner Dame erhofft. Und an niemand anderen als an sie richtet sich dieses Sonett, das die Geliebte im vierten Vers ausdrücklich als seinen Adressaten benennt. Auch dieses Gedicht erfleht insoweit einmal mehr das Mitleid der Dame. Deshalb fügt Petrarca in den Evangelienbericht eine Motivation für die Sonnenfinsternis ein. Und aus demselben Grund wird aus der sich verdunkelnden Sonne der Synoptiker die sich entfärbende Sonne der Karfreitagsperiphrase im dritten Sonett des Canzoniere, weil sich die blasse Gesichtsfarbe als ein äußeres Zeichen des Mitleids deuten läßt. Daß die Strahlen der Sonne den Blicken Lauras gleichzusetzen sind, lehrt das Sonett Nr. 9. Ausdrücklich heißt es dort in den Versen 10–12; «così costei, ch’è tra le donne un sole, / in me movendo de’ begli occhi i rai / crïa d’amor penseri, atti e parole» (ibid., 44). («so schuf diejenige, die unter den Frauen eine Sonne ist, als sie auf mich die Strahlen ihrer schönen Augen richtete, Gedanken, Taten und Worte der Liebe»).

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Die Trauer über den Gottesmord wird solchermaßen zur unmittelbaren Ursache der erotischen Passion: Trovòmmi Amor del tutto disarmato, et aperta la via per gli occhi al core, che di lagrime son fatti uscio et varco: [. . .]. (Petrarca, Canzoniere III, –)

Amor fand mich gänzlich ungerüstet und der Weg über die Augen zum Herzen geöffnet; denn aus Tränen sind Eingang und Durchgang dorthin gemacht.

Insoweit ist das Verlieben in der Tat eine Folge des historischen Karfreitagsgeschehens. Doch es allein genügt zur Erklärung des innamoramento nicht. Damit es in dieser Weise wirksam werden konnte, mußten andere Faktoren hinzukommen. Das dritte Sonett führt mehrere von ihnen an: Amor, die Augen der Dame, seine eigene fromme Rührung. Keiner von ihnen aber genügt allein zur Ursache. Die Augen der Dame, die den Sänger ergriffen haben, aber verdienen eine besondere Beachtung, und zwar wegen der Formulierungen, die Petrarca zur Charakteristik ihrer Wirkung in den Versen 3 und 4 benutzt: «quando i’ fui preso, et non me ne guardai, / ché i be’ vostr’occhi, donna mi legaro». Die beiden Verben, die dabei Verwendung finden, weisen eine auffällige Nähe zu genau denen auf, die im Johannesevangelium zur Darstellung der Gefangennahme im Garten Gethsemane vorkommen: Cohors ergo, et tribunus, et ministri Judæorum comprehenderunt Jesum, et ligaverunt eum.

Die Schar aber und der Oberhauptmann und die Diener der Juden nahmen Jesus und banden ihn.

Preso und legaro bei Petrarca, comprehenderunt und ligaverunt bei Johannes: die – in den Kommentaren zum Canzoniere übrigens unerwähnte – Gemeinsamkeit ist zu auffällig, um dem bloßen Zufall geschuldet zu sein. Welcher Sinn aber wäre in ihr angelegt? Es fällt schwer, darin etwas anderes als die Herstellung einer Parallele zwischen dem biblischen Heilsgeschehen und dem individuellen Schicksal des Liebenden zu sehen. Begründeten die Leiden, die der Liebende von nun an zu bestehen haben wird, deshalb auch eine Teilhabe an jenen Qualen, denen sich der in die Welt gekommene Gottessohn aussetzte, um dieser elenden Welt die Erlösung zu bringen? Gehörte es zu den Abgründigkeiten der im Canzoniere besungenen Liebe, daß sie, wiewohl sündhaften Charakters, gleichwohl in den Schmerzen, die sie verursacht, auch eine Partizipation an der heilsträchtigen

45 Ibid., 17. 46 Io 18, 12. Biblia sacra, ed. Weber (21975, II, 1691).

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Passion Christi mit sich brächte?47 Jedenfalls belegt der Schluß der Kanzone Nr. 70, daß – aller Zerknirschung zum Trotz – das Ich seine Hoffnung auf den Zugang zum Himmel durchaus noch nicht verloren hat. Zudem fügt sich eine solche Annahme schlüssig in den Zusammenhang des dritten Sonetts. Wenn gerade die Trauer über den Tod des Erlösers eine (der) Ursache(n) des innamoramento des Ichs dieses Zyklus bildet, dann paßt es dazu, daß zwischen der Gefangennahme Christi, mit der das Passionsgeschehen recht eigentlich beginnt, und dem Anfang der Leiden des Liebenden ein sachlicher Zusammenhang gegeben ist. Mit dem – potentiellen – Zusammenhang, den das dritte Sonett zwischen dem leidenden Christus und dem an seinen Qualen schier zerbrechenden Liebenden herstellt, aber tritt auch ein weiterer Akteur auf den Plan, der zur Erklärung des innamoramento und seiner Ursachen in Frage kommt, nämlich Gott selbst. Wäre dieser Allmächtige derjenige, der für das Arrangement all jener Faktoren in Frage kommt, die den Liebenden in seine ausweglos scheinende Leidenschaft getrieben haben? Wäre es also der Herr des Universums, der sich auch hinter den Umständen dieses Tages, quel giorno, verbirgt? Es fehlt im Canzoniere nicht an versteckten Hinweisen, die auf eine solche Verantwortlichkeit deuten könnten. Einer der sinnfälligsten findet sich im berühmten Sonett Nr. 62 von Petrarcas Liederbuch: Padre del ciel, dopo i perduti giorni, dopo le notti vaneggiando spese con quel fero desio ch’al cor s’accese mirando gli atti per mio mal sì adorni piacciati omai, col Tuo lume ch’io torni ad altra vita et a più belle imprese, sì ch’avendo le reti indarno tese, il mio duro adversario se ne scorni. (Petrarca, Canzoniere LXII, –)

Himmelsvater, nach den verlorenen Tagen, nach den Nächten, die ich mit jenem wilden Verlangen vertan habe, das sich im Herzen entzündete, als ich die zu meinem Unglück so schönen Gesten betrachtete, möge es dir nunmehr gefallen, daß ich durch dein Licht zu einem anderen Leben und zu schöneren Unternehmungen zurückkehre, so daß mein hartnäckiger Feind sich schäme, weil er umsonst seine Netze gespannt hat.

47 Die Schlußkanzone des Canzoniere (cf. darin die Verse CCCLXVI, 22–26) wird in einer ihrer an die himmlische Jungfrau gerichteten Fürbitten jedenfalls eine auffällige Parallele zwischen ihrem von Wundmalen gezeichneten Sohn und dem von Amors Pfeil Geschlagenen herstellen: «Vergine, que’ belli occhi / che vider tristi la spietata stampa / ne’ dolci membri del tuo caro figlio, / volgi al mio dubio stato, / che sconsigliato a te vèn per consiglio»; Petrarca, Canzoniere (22004, 1413). («Jungfrau, jene schönen Augen, die die grausamen Wunden in den süßen Gliedern deines teuren Sohnes sahst, wende dich meinem gefahrvollen Stand zu, denn ratlos komme ich zu dir, um Rat zu suchen»). 48 Ibid., 317.

Petrarcas cantio cum auctoritate (Canzoniere LXX)

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Zum Raffinement von Petrarcas Dichtkunst zählt es, daß das Wesentliche häufig in einem scheinbar belanglosen Detail steckt. So ist es auch hier. Vieles kommt auf die rechte Deutung der Kombination des Zeitadverbs omai mit der Verbform piacciati im fünften Vers dieses Sonetts an. Entscheidend ist es vor allem, die Implikationen, die in dieser Gebetsbitte stecken, zu berücksichtigen. Wenn der reuige Liebende nämlich den Himmelvater ersucht, es möge ihm hinfort gefallen, daß er zu einem würdigeren Leben zurückkehren könne, so setzt dies voraus, daß ihm zuvor anderes gefallen hat. Es kommt hinzu, daß das Ich Gott bittet, er möge es mit seinem Licht («col Tuo lume») erfüllen, also mit dem von ihm gewährten Verstand dorthin zurückfinden lassen. In der Konsequenz dieses Gebets macht der in Frage stehende Satz die stillschweigende Voraussetzung, daß es demselben Gott bislang gefallen habe, dem in seine Passion verstrickten Sänger das Licht dieser Vernunft zu nehmen. Es fällt schwer, die Oktave des Sonetts Nr. 62 zu lesen, ohne ihr die Zuschreibung einer Verantwortlichkeit des Allmächtigen am karfreitäglichen innamoramento zu entnehmen. Nicht il giorno ist der Verursacher für alle Mißliebigkeiten, die den Liebenden seither befallen haben. Er ist und bleibt ein Pseudo-Subjekt, dem keine Schuld am Unglück des Liebenden zukommt. Insoweit hat der Sänger am Ende der Kanzone Nr. 70 in der Tat jede Berechtigung, diesen Tag von aller Schuld loszusprechen. Doch hinter den verschiedenen Faktoren, die die Passion des Liebenden ausgelöst haben und die doch selbst als Ursache für ihre Entstehung ausfallen, weil erst ihr Zusammenspiel einen solchen Effekt haben konnte, zeichnet sich das potentielle Wirken dessen ab, der ohnehin über das Geschick dieser Welt befindet. Zumindest in Frageform, als die Andeutung einer Möglichkeit operiert der Canzoniere mit einer solchen Deutung der von ihm besungenen Geschehnisse. Auch über dem Ende der Kanzone Nr. 70 steht eine solche Frage; denn die Selbstbezichtigung, die ihr Schluß so ostentativ in Szene setzt, läuft ins Leere – und dies gleich in doppelter Hinsicht: Nicht nur wird das körperliche Auge mit einer Schuld belastet, die es selbst kaum zu tragen imstande ist, obwohl zum anderen außer Frage steht, daß die Körperlichkeit des Menschen seine mangelnde Einsichtsfähigkeit zur Folge hat (worin die gleichwohl unangemessene Schuldzuschreibung auch wiederum ihre Logik besitzt). Zudem wird die Belastung dieses Auges bis zu dem – kaum anders als häretisch zu nennenden – Punkt getrieben, daß es sogar die Befähigung des Ichs zur himmlischen Seligkeit für alle Ewigkeit zu zerstören scheint. Häretisch aber erscheint eine solche Position, weil sie Gottes Gnade zumindest ein Stück weit unwirksam machen und damit in letzter Konsequenz der Omnipotenz des Allmächtigen Schranken setzen würde, als zöge das körperliche Auge des Menschen noch seinen Schöpfer in den Abgrund seines Versagens hinein. Aber hätte selbst diese, auf den

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ersten Blick nichts als absurd scheinende, Schlußfolgerung nicht ebenso ihre Schlüssigkeit als ein Symptom der Verantwortung, die der Urheber dieser Welt mit der Erschaffung des hybriden, durch die konkurrierenden Ansprüche seiner Körperlichkeit und seiner Intellektualität vollends überforderten Wesens ‚Mensch‘ auf sich genommen – auf sich geladen hätte? Petrarcas Kanzone Nr. 70, die das Gattungsmodell einer cantio cum auctoritate aufruft, scheint zunächst durch einen demonstrativen Gestus der Selbstautorisierung ins Auge zu fallen, reiht sich doch ihr Autor in die Serie derer ein, denen er durch sein Zitat seine Reverenz erweist. Unsere Analyse dieses Textes aber hat ergeben, daß sich diese Selbstautorisierung mit einer höchst komplexen semantischen Bewegung von Petrarcas Kanzone verbindet, die nicht zuletzt das Prinzip der auctoritas selbst in Frage stellt. Eine solche Relativierung gilt zunächst für den zitierten Diskurs der volkssprachlichen Liebesdichtung, wirkt er doch zu Beginn als ein Incitamentum des Eros, als Anstachelung zu jener Leidenschaft, deren Verhängnis dem Sprecher im Grunde von Anfang an bewußt ist. Doch diese anfängliche Wirkung der zitierten Dichtungen schlägt im Verlauf des Gedichtes ebenso in ihr Gegenteil um. Mit dem Zitat Dantes, und bezeichnenderweise genau in dem Moment, als die von den auctoritates der Dichtung übernommene Rede nicht mehr als ein Sprechakt eines anderen eingeführt wird, sondern in die eigene Rede integriert und zur Beschreibung des eigenen Verhaltens – und nicht mehr zur Beschwörung eines fernen Wunschbildes – Verwendung findet, ändert sich ihr Effekt radikal. Die Rede der anderen erscheint plötzlich als eine fremde Rede, die das Ich von sich selbst zu entfernen droht, und leitet deshalb eine moralische Reflexion ein, die am Leitfaden des Dogmas die eigene Situation zu bestimmen wie zu bewerten bemüht ist. Doch im gleichen Zug ändert sich noch einmal die Funktion der Zitate aus der Lyrik anderer (wie aus der eigenen). Denn von nun an tragen sie dazu bei, die Konsistenz der frommen Gedanken, die sich der Sänger zu eigen machen möchte, zu untergraben und damit letztlich die brüchige Schlüssigkeit der doktrinalen Rede selbst vorzuführen.49 Entscheidend für das Gattungsmuster einer cantio cum auctoritate in der Kanzone Nr. 70 ist mithin die Engführung zweier Diskurse, die sie gegeneinander aus-

49 Die wechselnden Funktionen, die die Autoritätenzitate im Verlauf dieser Kanzone gewinnen, lassen es problematisch erscheinen, sie auf eine schlichte Hommage an die Zitierten zu reduzieren. So Possiedi (1974, 529): «Più che di citazioni, sarebbe corretto parlare di omaggi astratti nei confronti di poeti ammirati». Ähnlich bereits das Urteil bei Appel (1924, 226f.), der sogar so weit geht, jede inhaltliche Bedeutung der zitierten Verse in Frage zu stellen. Zur Kritik an Possiedis Position siehe bereits Santagata (1983, 33).

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spielt. Sie problematisiert die psychologischen wie moralischen Wirkungen volkssprachlicher Liebesdichtung im Namen einer gleichermaßen zitierten theologischen Rede. Aber sie demonstriert ebenso die prekäre Konsistenz dieser theologischen Rede selbst, indem sie deren Postulate den Befindlichkeiten des Menschen gegenüberstellt, die in der Dichtung im volgare zur Sprache kommen. Petrarcas ‚eigentliche‘ Selbstautorisierung kommt weniger in seinem Selbstzitat zum Vorschein. Sie steckt vielmehr in dem unausdrücklichen Anspruch, der sich mit der Kombination verschiedener Diskurse, der volkssprachlichen Liebesdichtung und der theologischen doktrinalen Rede verbindet. Indem er beide gegeneinander ausspielt und dadurch ihre jeweils prekären Geltungsansprüche vorführt, beansprucht er für seine eigene Dichtung insgeheim eine – in des Wortes eigentlichem Sinne – exzentrische Autorität, die sich gleichsam jenseits aller überkommenen Instanzen der Wahrheitsbegründung situiert.

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Petrarcas Trionfi als Versuch poetischer Selbstermächtigung gegen Dante Francesco Petrarca wurde in eine Zeit hineingeboren, da der (gemessen an der eifrigen Tätigkeit von Kopisten und Kommentatoren) vielleicht größte Rezeptionserfolg der italienischen Literaturgeschichte in vollem Gange war: Alle Welt kannte und las Dantes Commedia. Im späteren vierzehnten und im fünfzehnten Jahrhundert verbreitete sich angesichts dieser Situation der ironisch-kritische Gemeinplatz vom ‚Dante villano‘ – ein villano war Dante demnach, weil er alles Sagenswerte bereits gesagt und niemandem die Möglichkeit gelassen hatte, nach ihm noch weitere relevante Äußerungen zu tätigen und nennenswerte literarische Texte zu verfassen: «Dante è villano [. . .] perché à decto ogni chosa degnia di memoria e fama nelle sue opere poetiche e non à lassato a dire nulla ad altri».1 Francesco Petrarca soll nach einer anekdotischen Notiz von Vincenzo Borghini (Zibaldone B.N.F. II.x.116) seinen Gefühlen gegenüber Dante villano unter anderem auf seinem Schreibtisch sehr konkret Ausdruck verliehen haben: Petrarca habe, so heißt es da, eine bildnerische Darstellung eines an den Füßen aufgehängten Dante vor sich stehen gehabt, als beständiges Erinnerungszeichen daran, dass der derart als Räuber bestrafte Dante ihm «ogni occasione di scrivere cosa che buona fosse» geraubt habe. Dass Petrarca sich in einer Vielzahl von Texten gegen das übermächtige Vorbild Dante gestemmt hat, ist der Forschung seit längerem bekannt. An einem ‚Lieblingstext‘ der Petrarca-Philologie, der an Giovanni Boccaccio gerichteten Familiaris 21.15 (im Verbund mit der Senilis 5.2) – einem Brief, in dem Petrarca sich gegen den Vorwurf wehrt, er sei auf Dante ‚neidisch‘ gewesen, und in dem er es fertigbringt, Dante ohne Namensnennung zugleich zu loben und als Lieblingsschriftsteller des ungehobelten Volkes zu diskreditieren – hat man wieder und wieder das vielschichtige, antagonistische Verhältnis Petrarcas zu Dante sondiert.2 Petrarcas

1 Dies sagt eine Figur in der novelletta, die im Codex Laur. Gaddi 90 sup. 131 von Piero Bonaccorsi (1440) dem Text des Paradiso vorgeschaltet worden ist; cf. für Textnachweis und Zitat Rossi (1988, 313 Anm. 39, dort 312–313, auch der Nachweis der obigen Geschichte vom Dante-Bildnis). 2 Cf. bspw. Pasquini (2003, 21–38); Huss (2004, 157–158); Fenzi (2011, 197–236). Die wichtigsten Aspekte dieser in älterer Forschung vernachlässigten bzw. nicht in vollem Umfang gesehenen Problematik sind angesprochen bei Cachey (2009), der Petrarcas «untergründige» Art des https://doi.org/10.1515/9783110686609-003

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Verschwiegenheit im (kaum je expliziten) Umgang mit Dante wurde erfolgreich als Maskerade entlarvt. Insbesondere im Canzoniere hat man minutiös nachgewiesen, wie zahlreich und intensiv die intertextuellen Bezugnahmen auf Dante sind.3 Auch in den Trionfi4 ist eine dichte Präsenz Dantes längst erkannt worden.5 Hier, wie im Fall der Rerum vulgarium fragmenta, gilt allerdings die Kritik, ein noch so penibles sprachmateriell-statistisches Erfassen von Dante-Rekursen vermöge die Programmatik und ‚Ideologie‘ von Petrarcas Versuch, sich selbst gegen die Autorität Dante in Stellung zu bringen, nicht wirklich zu erklären.6 Dieser Versuch fällt nun in den Trionfi besonders massiv aus: Dieser Text – und nicht der Canzoniere7 – ist Petrarcas primäre selbstautorisierende Replik auf den Dante der Commedia, und die imitatio Dantis fällt in den Trionfi nicht nur besonders massiert, sondern auch besonders plakativ aus.8 Dieses Werk der Opposition gegen Dante ist wie kein zweites Werk Petrarcas als ein Projekt der Übertrumpfung Dantes und seiner Commedia angelegt. Diesem hohen Anspruch entsprechend hat sich Petrarca mit seinem Triumphprojekt über viele Jahrzehnte hinweg beschäftigt.9 Die ersten Skizzen

Umgangs mit Dante bes. durch die Konfrontation Petrarcas mit dem Dante-Enthusiasmus seines Freundes Giovanni Boccaccio erklären möchte: «The fact that Petrarch’s anti-dantismo was forced to come to terms with the most enthusiastic of pro-Dantists largely explains its curiously surreptitious and complex character. Petrarch was forced to go underground with his dissent from Dante, and to leave it for posterity to uncover» (16). 3 Cf. u.a. Santagata (1969, 163–211); Trovato (1979); Picone (1993, 115–125); Kuon (2002, 107–136); Kuon (2004). 4 Die Trionfi werden in diesem Aufsatz wie folgt zitiert: TC (Triumphus Cupidinis), TP (Triumphus Pudicitie), TM (Triumphus Mortis), TF (Triumphus Fame), TT (Triumphus Temporis), TE (Triumphus Eternitatis), jeweils mit Angabe der Verszahl und davor, soweit die Triumphe mehrteilig sind, des Kapitels. Die verwendeten Ausgaben sind die von Ariani (Petrarca 1988; mit reichem Kommentar, bes. zu den intertextuellen Rekursen) und von Pacca/Paolino (Petrarca 22000; als Zitationsgrundlage). 5 Cf. u.a. Orelli (1990, 158–162); Giunta (1993, 411–452); Riccucci (1994, 313–349) sowie die reichen Stellenverweise im Kommentar der Trionfi-Ausgabe von Marco Ariani. 6 Cf. dagegen Bartuschat (2011, 267–281) mit einem der bislang eher seltenen Versuche einer Interpretation der objektiv nachweisbaren intertextuellen Relationen von Trionfi und Commedia. 7 Pace Küpper (2010, 109–123). 8 Cf. Petrini (1995, 365, 375; mit der Beobachtung, Dante werde von Petrarca in den Trionfi analog zu seinem Umgang mit den lateinischen Klassikern behandelt); Pastore Stocchi (2004, 187–192). 9 Cf. für die Fragen von Datierung und Werkentstehung die Einleitungen und Kommentare der Ausgaben von Ariani (1988) und von Pacca/Paolino (2000); ferner, für die Ansätze der älteren Forschung, exemplarisch Wilkins (1951, hier Kap. 9); Wilkins (1963, 7–17), Wilkins (1964, 440–443). Wilkins will die Anfänge der Abfassung der ersten beiden Triumphe (TC und TP) bis auf 1340 heruntersetzen. Bezüglich der möglichen, textgenetisch-diachron relevanten Rekurse der Trionfi auf Boccaccios Amorosa visione cf. das weiter unten Gesagte.

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hat er möglicherweise bereits in den 1340er Jahren angefertigt (ca. 1342/44, nach anderen spätestens ab 1351/52), Überarbeitungen und Korrekturen sind seit 1356 sicher bezeugt, und die handschriftlichen Notizen auf dem Autograph des letzten der Trionfi, des Triumphus Eternitatis, belegen für diesen Text eine späte Abfassung in Petrarcas Todesjahr (15. Januar bis 12. Februar 1374). Besonders intensiv scheint Petrarcas Arbeit an den Trionfi interessanterweise in jenen Phasen seines Arbeitslebens gewesen zu sein, in die sich seine genannten anti-dantistischen Briefe datieren lassen, mit denen sich die Forschung so angelegentlich befasst hat.10 Zu Beginn von TC 1 rekapituliert das erzählende Ich die zeitliche Situierung einer Traumvision, die dem erlebenden Ich widerfahren sei: eine Situation im Frühling, einer Jahreszeit, die in ihm stets die Erinnerung an den Tag wachrufe, an dem seine langen Leiden begonnen hätten. Die Zeit der Traumvision fixiert der Textbeginn auf die ersten Apriltage (TC 1.4–6). Im weiteren Verlauf thematisiert der Text die besagte Begegnung mit Laura am 6. April 1327 als einen Inhalt der Traumvision. Die Visionsinhalte insgesamt sind im Frühling und z.T. explizit am 6. April situiert. Das erzählende Ich teilt mit, an jenem Frühlingstag als erlebendes Ich zu Beginn eines nicht näher festgelegten Aprils (irgendwann nach 1327) eingeschlafen zu sein und im Traum einen Triumphzug gesehen zu haben (TC 1.11–15). Auf einem feurigen Wagen sei Amor (beschrieben als nackter geflügelter Jüngling mit Pfeil und Bogen) einhergezogen, hinter ihm eine Unzahl seiner Opfer. In deren Schar habe er (das erlebende Ich) sich bemüht, jemanden wiederzuerkennen. Dies habe sich als problematisch erwiesen, doch sei dem erlebenden Ich ein befreundeter ‚Schatten‘ («ombra») als Führerfigur hilfreich zur Seite getreten (TC 1.40–50; die Analogie zu Dantes Wanderer, dem sich Vergil als Führer beigesellt, ist überdeutlich).11 Der neu gefundene Freund und Führer deutet dem erlebenden Ich nun seine im Trauminhalt bevorstehende Verstrickung in die Banden der Liebe an. Der Führer identifiziert den Triumphierenden für das erlebende Ich als Amor und erläutert dann die Identität wichtiger Gestalten aus dem Zug der von Amor Unterworfenen. Es handelt sich um Figuren der römischen und dann auch griechischen Geschichte, beginnend mit Julius Caesar, gefolgt von prominenten Liebenden aus Literatur und Mythos (darunter Aeneas, Phaedra, Hercules, Achilles, Jason und Medea); präsent sind als Opfer Amors auch Vertreter des heidnischen Götterkosmos (u.a. Venus, Mars, Pluton und Proserpina und schließlich auch Jupiter persönlich). Dieser katalogartigen Kaskade von Liebenden schließt sich in TC 2 eine Kombination von zwei exemplarisch ‚vertieften‘, nämlich im Dialog mit den Be-

10 Cf. Cachey (2009, 20–21, 23 m. Anm. 47–48, 24). Cachey geht dort auch auf die Möglichkeit der Thematisierung des Trionfi-Projekts in Briefen wie Fam. 19.16 und Fam. 22.2 ein. 11 Cf. Giunta (1993, bes. 420–424).

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troffenen diskutierten Fällen an: die von Scipio Africanus verhinderte Liebe von Massinissa und Sophonisba, und der memorable Fall von Seleukos, der seinem Sohn Antiochos die von diesem gleichfalls geliebte Frau Stratonike abtrat. Es folgt nach der summarischen Erwähnung einiger «moderni» (TC 2.155) die Nennung einer Reihe von Liebenden, die mitsamt ihren Verwandlungsformen aus den Metamorphosen Ovids bekannt sind. Der dritte TC setzt zunächst das Défilé der Liebenden aus antikem Mythos und antiker Historie fort, schließt dann Liebende des Alten Testaments an (etwa David, Samson, Holofernes) und präsentiert dem Leser schließlich auch die literarischen Beispiele von «Lancilotto, Tristano, e gli altri erranti», von «Ginevra, Isolda, e l’altre amanti» und von «la coppia d’Arimino» (nämlich Dantes Paolo und Francesca da Rimini aus Inferno 5) in unvermittelter Vergegenwärtigung (TC 3. 80–82). Die Rückkoppelung mit der ‚Gegenwart‘ und zugleich der evidenzierte Selbstanschluss Petrarcas an die (liebes-)literarische Tradition steigert sich, wenn es nun heißt, an das erlebende Ich sei eine junge Frau herangetreten (Laura: es ist jetzt der 6. April 1327 geworden, oder: es ist wieder dieser Tag). Die aus dem Canzoniere bekannte Liebe hebt nun auf der Ebene des Trauminhalts mächtig an. Nachdem TC 3 das Liebeserleben ‚Petrarcas‘ in den Mittelpunkt gerückt hat, arbeitet TC 4 an der erneuten Rückbindung der Trauminhalte an die literarische Tradition und unterstreicht, die Beschreibung des letzten Abschnitts von Amors Triumphzug sei unter Bezugnahme auf die antike und nachantike Literatur vorgenommen (TC 4.10–12). Evoziert werden nun Dichter (wie Alkaios, Pindar, Vergil, Ovid, Catull, Properz, Tibull), darunter auch Autoren der unmittelbaren Vergangenheit, die das erlebende Ich gleichfalls in Amors Triumphzug erblickt (Dante [in Begleitung von Beatrice], Cino da Pistoia [in Begleitung von Selvaggia], Guittone d’Arezzo, Guido Guinizzelli, Guido Cavalcanti und andere, auch provenzalische, Liebesdichter: TC 5.31–55). Schließlich sieht das erlebende Ich auch Petrarcas Freunde Tommaso Caloria, Ludwig von Kempen (‚Sokrates‘) und Lello (‚Laelius‘), d.h. Angelo di Pietro Stefano dei Tosetti (TC 4.58–69). Im Anschluss begibt sich der gesamte Triumphzug, dem seit seiner Begegnung mit Laura das erlebende Ich als Opfer Amors zu folgen hat, im Flug mit Amor auf die Venus-Insel Zypern. Im TP wird Amors Attacke von Laura als Verkörperung der moralischen Tugenden abgewehrt und der zuvor siegreiche Gott selbst besiegt. Dieser Fall ist dabei exzeptionell, zugleich aber auch anderweitig ‚belegbar‘, nämlich in vielen weiteren Fällen von amouröser Prüfung und Bewährung, die aus Historie, Mythos und Bibel stammen (genannt werden unter anderem Lucretia [132], Penelope [133], Virginia [136], Judith [142] und die hier in expliziter Korrektur der Überlieferung als rein tugendhaft gezeichnete Dido [157]). Im TM 1 ist nun unversehens Lauras Todestag eingetreten, der 6. April 1348 (Datumsangabe: TM 1.133). Vielfach triumphiert hier nun der Tod, auch über

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Laura und die, gleich ihr, keuschen Frauen. Die Schilderung von Lauras Tod beschließt den ersten TM. In TM 2 wird eine Traumvision in die Traumvision eingelegt: Eine gleich nach ihrem Tod erfolgende Erscheinung der Laura gewährt dem Liebenden einen Dialog. Die Fragen nach dem Leiden im Zeitpunkt des Todes und nach ihren früheren Gefühlen dem Liebenden gegenüber beantwortet Laura in beruhigendem und bestärkendem Sinn. Durch Lauras abschließende Mitteilung, ihr Liebender werde sie um viele Jahre überleben (TM 2.189–190), wird die Nachgeschichte der Laura-Liebe bis zum Zeitpunkt des Erzählens in die Traumvision integriert. Nachdem somit der Tod über Laura triumphiert hat, wird er seinerseits von Fama besiegt. TF 1.19–21 macht explizit, dass viele der Opfer Amors ungeachtet des vom Tod angerichteten Zerstörungswerks im Triumphzug der Fama erneut auftreten, angefangen mit so prominenten Gestalten wie Caesar (TF 1.23). Der Rest des TF 1 bringt einen ausführlichen Katalog von viri illustres der römischen Geschichte. Der zweite TF bietet eine Aufzählung von Größen der nicht-römischen Geschichte: Griechenland von den Helden der Ilias beginnend, biblische Geschichte, antike Geschichte des Mittleren Ostens, schließlich die Kreuzzüge und die Geschichte der neueren und neuesten Zeit bis hin zu Petrarcas Förderern König Robert und Stefano Colonna.12 TF 3 schließt einen Katalog von bedeutenden Personen des antiken Geisteslebens an: Philosophen (wie Platon, Aristoteles, Pythagoras, Sokrates), Historiker (wie Livius, Thukydides, Herodot), Redner (wie Cicero und Demosthenes) und Naturphilosophen verschiedener Schulen und Zeiten. Zu Anfang des TT sieht das erlebende Ich nunmehr die Sonne sich verärgert erheben: Wie können sich die Triumphierenden des TF erdreisten, mit ihrem Ruhm über die Zeit obsiegen zu wollen? Vor den Augen des erlebenden Ich beschleunigt die Sonne ihren Lauf, erhöht also die Zeit ihre Geschwindigkeit, um die Fama der Sterblichen zu zernichten. Das eigene Leben sieht der Sprecher nun zusammen mit dem der Berühmten aller Zeiten auf einen winzigen Zeitraum zusammenschrumpfen (TT 76–78). Trotz dieser Bedrohung gibt es inmitten des TT, der bis an sein Ende vor allem die Vergänglichkeit des Irdischen zum Thema hat, eine Gruppe von Gestalten, die gegen den rasenden Zeitfluss in aller Gelassenheit einherschreiten und vom Zeitrasen nicht erfasst sind: Sie sind beschützt, weil sich ihnen historische oder dichterische Überlieferung gewidmet hat (TT 85–93).

12 TF 2.157–163; zu möglichen weiteren Identifikationen des im vorletzten Vers genannten «mio gran Colonnese» (Giovanni Colonna, Giacomo Colonna) cf. den Stellenkommentar von Pacca/Paolino (2000) zu Vers 162–163.

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Angesichts der Hinfälligkeit der weltlichen Dinge wendet sich das erlebende Ich am Anfang des TE seiner eigenen Innerlichkeit zu (TE 3: «mi volsi a me», Autorenvariante: «mi volsi al cor») und stellt vor sich selbst fest, nur Gott sei der Ankerpunkt des eigenen Zutrauens. Im Selbstgespräch über die eigene Schuld und das eigene Zaudern angesichts des Dahinfliehens der Zeit scheint die Hoffnung auf einen späten Gnadenerweis Gottes auf (TE 6–15). Das erzählende Ich handelt dann von der Eventualität, das vom erlebenden Ich zum Zeitpunkt der Traumvision als Trauminhalt geschaute Ewige womöglich selbst erreichen zu können. Dies ist aber nicht im Modus der Gewissheit sagbar (cf. TE 36–37). Der Chronotopos der Ewigkeit ist ein Ziel der Hoffnung. Der Zusammenfall der Zeiten zur ewigen Simultanität Gottes ist dem erzählenden Ich im Gegensatz zum erlebenden Ich kein bereits Erlebtes, sondern nur im Futur auszusagen (TE 64–69). In diese Zukünftigkeit gerückt erscheint nun nicht nur die Möglichkeit einer Reduktion aller weltlichen Vielheit in eine neue Einheit (TE 76–77), sondern auch die Möglichkeit, dass die einst Ruhmvollen es auf ewig sein werden; die fama soll aeternisiert sein können (TE 79–81). Zuversichtlich wird dies in den Rahmen einer erwarteten Wiederauferstehung Lauras und vieler anderer Opfer von Tod und Zeit gestellt (TE 85–99). Laura kann sich auf eine Prämierung ihrer Exzellenz unter den Seligen freuen (TE 98–99). Von der solchermaßen erwarteten Wiederauferstehung wird auch der Autor der Rerum vulgarium fragmenta profitieren; er selbst, sein Text und Thema werden unter den Seligen größte Bedeutung haben (TE 91–96). Einer Evokation des Jüngsten Gerichts folgt die Selbstthematisierung der Trionfi und eine nunmehr noch gewissere Hoffnung, ihr Personal werde in der ewigen Zeitlosigkeit erneut und strahlender noch zu sehen sein (TE 121–134). Diesen Gestalten und insbesondere Laura scheint ein Platz in der Ewigkeit verheißen. Die wiederauferstandene Laura wird ihren schönen Körper wieder ihr eigen nennen und durch ihren Anblick finales Glück verleihen (TE 143–145). Wie diese Übersicht zeigt, ist die Motivik des prozessionshaften Triumphs für weite Teile des Werks situational bestimmend: Amor zieht auf einem veritablen Triumphwagen einher, weitere der Triumphzüge hat man sich als Prozessionen vorzustellen, und auch die Sonne als Auslöser des Verstreichens der Zeit verfügt im TT über ein dem triumphalen Wagen des Apoll analoges Gefährt (TT 16, 97). Dem Wagenmotiv bei Petrarca scheint Dante im Purgatorio geradezu eine Andockstelle geliefert zu haben, wenn bei der Schilderung der viel gedeuteten allegorischen Prozession des irdischen Paradieses das erzählende Ich ausdrücklich unterstreicht, mit dem Triumphwagen dieser Prozession («un carro, in su due rote, trïunfale», Purg. 29.107) auf dem paradiesischen Plateau des Läuterungsbergs sei hinsichtlich seiner ‚Schönheit‘ weder ein römischer Triumph mit dem

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Wagen eines Scipio Africanus oder Augustus noch die Pracht des Sonnenwagens zu vergleichen.13 Exakt diese Wagen hat nun aber Petrarca vertextet, gleichsam um den selbstautorisierenden Gegenbeweis zur Aussage von Dantes Erzählerstimme anzutreten: Eng mit dem Motiv der Gloria verknüpft, findet sich an einer Schlüsselstelle von Petrarcas Africa (9.325–341) eine Parallelisierung von Apollons Sonnenwagen mit dem Triumphwagen des nach Rom siegreich einziehenden Scipio, und in den Trionfi ist – wie soeben schon gesagt – neben dem Sonnenwagen der unmittelbar Amor zugehörige Triumphwagen der Liebe bildmächtig wirksam (das Wagenmotiv in seinen von Dante als ‚minder schön‘ abgewerteten Ausformungen verklammert somit bei Petrarca die für die Ideologie seines Dichtens bestimmenden Komplexe Ruhm und Liebe). Erkennbar ist aber auch über das Wagenmotiv hinaus die Struktur von Dantes Prozession, die Petrarca eine Vorlage geliefert hat, an der die Trionfi kompetitiv ausgerichtet sind.14 Im Streit darüber, ob Dantes Prozession einen dominant allegorischen, mystischen, liturgischen,15 einen visionär-traumhaften oder einen ‚real‘-konkreten Charakter hat, ist sogar suggeriert worden, Petrarca habe erkannt, dass Dante im irdischen Paradies einen Triumphzug als Kernbestandteil einer neuen ‚literarischen Gattung‘ erfunden habe; Petrarca sei vorbehalten geblieben, diese Gattung mit den Trionfi wirkungsmächtig auszubauen.16 Tatsächlich haben die Trionfi nicht nur allgemeine, leicht erkennbare und längst erkannte Bezugspunkte zur Commedia17 – wie die Verwendung der von Dante eingeführten Terzine als Reimschema, die Thematisierung einer Reise in eine jenseits des Irdischen gelegene Handlungswelt, die damit verknüpfte Frage nach dem Verhältnis von visio-

13 «Non che Roma di carro così bello / rallegrasse Affricano, o vero Augusto, / ma quel del Sol saria pover con ello» (Purg. 29.115–117). 14 Cf. Bartuschat (2011, 268–269). 15 Zu den liturgischen Modellen, die man für die Prozession des irdischen Paradieses in Anschlag gebracht hat, cf. bereits Fisher (1917, 85–116). Eine liturgische Interpretation distanziert die Commedia weiter von den Trionfi als andere Deutungen. 16 «Statt von einer religiösen Prozession oder von einem religiösen Ritual sollte man [sc. bei Dante] eher von einem ,Triumph‘ und von einer weltlichen Feier sprechen, gemäß den Angaben, die vom Text selbst herrühren, da ja in V. 107 der Triumphwagen erwähnt wird, und in 115–117 die militärischen (aber implizit auch die dichterischen) Triumphe der Römer. So wird Dante der Erfinder einer literarischen Gattung, die später mit Petrarca zu voller Blüte kommen wird, der sie für die gesamte zukünftige europäische Literatur (von Polizian bis zur Literatur der Embleme und der imprese) kodifizieren wird» (Picone 2001, 121). Cf. zu Dantes Prozession als Triumph auch Armour (2008, 330, 333). 17 Cf. zur Beobachtung einer Vielzahl struktureller und situationeller Parallelen zwischen Commedia und Trionfi detailliert Giunta (1993, 411–452).

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närer Schau und Wahrheit.18 Vielmehr schließen sich die Trionfi in einer ganz besonders engen Weise auch strukturell und situativ an die Vorgänge in Dantes irdischem Paradies an: Gemeinsam sind beiden Texten die (für die Dynamik des Wanderns in der Commedia eher ungewöhnliche, aber im paradiso terrestre bei der Begegnung mit Prozession und Beatrice vorherrschende)19 statische Beobachterposition, in die das erlebende Ich gebracht ist,20 die weitgehende narrative Fokussierung auf die Wahrnehmungs- und Verständnisperspektive dieses Ichs,21 die Konfrontation mit der ins Jenseits entrückten Geliebten (Beatrice bzw. Laura),22 das damit einhergehende Zurücktreten der bislang maßgeblichen Führerfigur (Vergil bzw. die anonyme guida), die Ausfaltung der Ereignisse in Form eines vom Ich wahrgenommenen, vorbeiziehenden Prozessionsszenarios.23 Diese Analogien zeigen insgesamt deutlich, dass Petrarcas Trionfi nicht nur die Commedia ganz im Allgemeinen ‚neu schreiben‘ möchten (im TE etwa sind die Bezüge auf das Paradiso, bes. auf dessen Schlussgesänge, manifest), sondern dass es besonders die Vor-

18 Ungeachtet einer breit ausdifferenzierten Forschungsdiskussion, die sich um die Frage dreht, welchen Status die Jenseitsschau bei Dante habe, wird man doch festhalten müssen, dass selbst eine Auffassung der Commedia als Bericht eines „Traums“ mitnichten implizieren kann, Dantes Text sei als „Fiktion“ im Sinne der literarischen Erfindung (und insofern als von Wahrheitsforderungen entlasteter Text) zu verstehen. Vielmehr erhebt die Commedia überdeutlich den Anspruch, die „Wahrheit zu sagen“ (cf. Regn 2014, 269–272). Dieser Anspruch schlägt sich im irdischen Paradies bspw. in der verstörenden, plastischen Konkretheit nieder, mit der die Prozessionsfolge wahrgenommen und dargestellt wird (cf. bspw. Armour [2008, 334] zur Prozession: «This strange symbolic revelation [. . .] is not presented by Dante as a marvelous illusion or dream or inner vision, but as an external, perceived event, both seen and heard»; dagegen Auffassungen wie die von Bosco [1966, 281]: «quello in cui Dante si trova, dal suo primo ingresso nel Paradiso terrestre, è uno stato quasi di sogno»). Die Auffassung, die Commedia sei „geträumt“, erfordert bei ihren Vertretern aufwendige interpretative Beweisprozeduren (cf. bspw. jüngst Tavoni 2015) – der Text selbst sagt das keineswegs klar. Petrarca dagegen evoziert sehr explizit eine längst vergangene Traumsituation und lagert (wie schon gesagt und wie noch näher zu explizieren) hierin noch eine weitere Traumebene ein. Dies bedeutet nicht schon automatisch etwa einen „Verzicht auf Wahrheit“, aber es unterstreicht von Anfang an eine subjektive Dimension der Darstellung. 19 Cf. Pertile (1998, 41–42) zur «dimensione narrativa diversa» der letzten Purgatorio-Gesänge im Vergleich zum Rest der Commedia. 20 Cf. zu Dante Bárberi Squarotti (1988, 192–193). 21 Cf. zu Dantes im irdischen Paradies ungewöhnlich starker Fokussierung auf das Ich als Adressat der von ihm wahrgenommenen Ereignisfolge Stambler (1965, 63); Lanza (1967, 1217). 22 Cf. Kuon (2002, 109) et passim zur besonderen Dichte der intertextuellen Rekurse von Petrarca auf Dantes Frauenfiguren (Francesca, Beatrice, Maria). 23 Cf. zu Dante in diesem Kontext Zingarelli (1910, 364–365), Dante habe gewissermaßen die statischen Bilder der biblischen Apokalypse in Bewegung gesetzt. Cf. ferner Bárberi Squarotti (1988, 192): Das irdische Paradies sie nicht im üblichen narrativen Modus vermittelt, sondern als «scenografie successive» eines «,spettacolo‘ esemplare» (197).

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gänge im Schlussteil des Purgatorio sind, die Petrarca modellhaft begreift. Mit der Aufnahme dieses Modells bezieht sich Petrarca auf denjenigen Teil der Commedia, der in der Forschung immer wieder als Herzstück von Dantes Großtext schlechthin bezeichnet worden ist («il cuore stesso del poema»)24 und ein solches Herzstück tatsächlich auch zahlenstrukturell darstellt25 – die Selbstermächtigung Petrarcas begibt sich in den Trionfi also geradewegs in die Höhle des Löwen. Und nirgends in den Trionfi ist Petrarcas selbstabgrenzender und selbstautorisierender Umgang mit dem Löwen, der ‚towering figure‘ Dante, so gut nachzuvollziehen wie an seiner réécriture des «cuore palpitante dell’intiero narrato dantesco della Commedia»,26 nämlich der dialogischen Begegnung Dantes mit Beatrice in Francescos Begegnung mit Laura in TM 2. Auf diesen Text wollen wir uns daher im Wesentlichen konzentrieren. Die klare Bezugnahme Petrarcas auf die Commedia und besonders auf die Relation Dante-Beatrice stellt, soviel sei zuvor noch kurz angemerkt, im Übrigen die Frage in den Hintergrund, ob Petrarca die Idee zur Abfassung der Trionfi bei der Lektüre der ihm von Boccaccio übersandten Amorosa visione gehabt hat. Diese These, von sehr autoritativer Seite aufgestellt, ist nicht ohne Widerspruch geblieben.27 Ob nun Petrarca bereits die sog. Version A der Amorosa visione vor dem Beginn der Arbeit an den Trionfi kannte,28 ob er dagegen erst auf Basis der sog. Version B an den Trionfi schrieb,29 ob man unter Absehung von der Frage der Versionen für einen entscheidenden, die Arbeit an den Trionfi auslösenden Vorgang Boccaccios plädieren möchte30 oder ob Petrarca die Amorosa visione erst mehr oder weniger lange Zeit nach dem Beginn der Arbeit an den Trionfi zu sehen bekam, all

24 So Chiavacci Leonardi in ihrer «Introduzione al Canto XXX» des Purgatorio (Alighieri 82008, hier vol. 2, 875). Cf. in diesem Sinne bspw. auch Chiarini (1967, 1106): «il XXX del Purgatorio è il pilone [. . .] più rilevante e memorabile dell’intera struttura». 25 Etwa, aber nicht nur, weil dem Canto 30 in der Commedia 63 Gesänge vorangehen, 36 folgen und dies ein bedeutungsschweres Spiel mit 3 (Trinität Gottes) und 9 (potenzierte Trinität und zugleich die aus der Vita nova bekannte Zahl Beatrices) eröffnet. Cf. im Detail Sanguineti (1964, 15); Chiarini (1967, 1122–1124, 1133); Bologna (2001, 480); Stäuble (2001, 463). 26 Sanguineti (1964, 12). 27 Cf. die bei Petrarca/Ariani (1988, 10 m. Anm. 12) angegebene Literatur und ferner Barański (1990, 80–81, Anm. 29). Zu letzerem ist kritisch anzumerken, dass die zahlreichen Parallelen zwischen den Trionfi und der Amorosa visione jedenfalls nicht als ‚unbewusstes Echo‘ («Petrarch introduces the echoes from their texts unconsciously») erklärt werden können. 28 Cf. Branca (1976, 145–154, bes. 152–153). 29 Cf. Billanovich (1946, 22–25, 42). 30 Cf. nach der grundsätzlichen Studie von Branca (1941, 681–708) bspw. Bernardo (1990, 34) und Cachey (2009, 23 m. 46–47 Anm. 47). Dies scheint mir die klügste und plausibelste Position in dieser Frage zu sein.

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dies scheint zweitrangig: Zum einen zweitrangig angesichts der immerhin sehr klaren und sicherlich nicht zufälligen Parallelen zwischen der Amorosa visione und den Trionfi,31 zum zweiten zweitrangig angesichts der verglichen mit Boccaccio ungleich komplexeren philosophisch-religiösen Gemengelage,32 in die das Triumphschema bei Petrarca gestellt wird,33 und schließlich zweitrangig angesichts des uns sehr viel mehr interessierenden Bezugs auf Dante und den ‚Beatrice-Triumph‘ seines irdischen Paradieses. Bei diesem Bezug grenzt sich Petrarca agonal von Dante ab. Seine damit angezielte Selbstautorisierung vollzieht sich teilweise explizit. Implizit klar gegeben ist sie darüber hinaus in zahlreichen Details der zur Commedia kontrastierenden Szenerie. Um die hier gemeinten Kontraste möglichst klar herauszubringen, nehmen wir im Folgenden eine kurze Übersicht über die kontrastiv relevanten Elemente der Purgatorio-Gesänge 30 bis 33 vor, um anschließend dagegen zu stellen, wie Petrarca vor der Folie des paradiso terrestre agiert.

31 Diese Parallelen reichen von der allgemeinen Situationsgestaltung über die Kombinationen der Abfolge genannter historischer und mythologischer Gestalten bis hin zu klaren Entsprechungen in Wortwahl und Satzbau. Cf. im Detail Branca (1941, 695–707); Billanovich (1946, 23–26 jew. Anm. 1); Giunta (1993, 426–428). Zu einer ersten summarischen Orientierung cf. die Synopse der Amorosa visione bei Bernardo (1990, 34): «a complex poem obviously imitating Dante, including the verse form he had invented specifically for the Commedia, the terza rima, and a female guide whose role resembles that of Dante’s Virgil. Boccaccio has his dreaming narrator eventually seen in a series of huge murals in a large hall in a mysterious castle scene depicting five triumphs: Wisdom (Philosophy and Poetry), earthly Glory, Wealth, Love, and finally, in a separate chamber, Fortune which destroys all that had preceded. As a result of the insights gained from the guide’s gloss of the triumphs, he becomes strangely worthy of an encounter with, and the ,celestial‘ love of his beloved Fiammetta who, somewhat like Dante’s Beatrice, seems to represent the final victory of Virtue. By means of the poetic device of the triumphs, then, Boccaccio is able not only to depict and objectively contemplate in the Giotto-like frescoes the passions and values that had dominated antiquity and his youth, but to show how such earthly attractions and temptations, rightly viewed, do not have to deter one’s journey to supreme bliss». 32 Cf. dazu Huss (2015, 121–154) und Huss (2017, 187–226). 33 Boccaccio inszeniert in der Amorosa visione, ganz anders als Petrarca, letztlich in einem spätmittelalterlich wirkenden Setting, das zahlreiche Motive höfischer Liebe integriert, einen moralisierend-überhöhenden Rückfall in eine entproblematisierte sensuell-erotische Liebe – eine eschatologische Problematik wird von Boccaccio, gleichfalls anders als bei Petrarca und natürlich Dante, nicht verhandelt. Die Bewegungssituation des erlebenden Ichs ist hier, anders als bei Dante und Petrarca, dynamisch gehalten und privilegiert die Aufmerksamkeit auf dem durchschrittenen Raum und seinen bildlichen und situativen Gehalten (statt auf der Wahrnehmungsinstanz des Ich); diese sind (ebenso wie das Tun des Erzähler-Ich) streckenweise von erheblicher erotischer Pikanterie, die den moralphilosophischen und religiösen Fragestellungen der beiden uns interessierenden Texte fern steht.

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Als im dreißigsten Gesang des Purgatorio eine Frauengestalt über dem Prozessionswagen erscheint, ist ‚Dante‘34 sogleich tief ergriffen. Die noch verschleierte, in die Farben der theologalen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung gewandete Frau ist Beatrice, von der Dante lange Zeit getrennt war, die er aber dennoch auf geheimnisvolle Weise ahnungsvoll wiedererkennt, wobei zugleich die gesamte Liebesgeschichte zwischen Dante und Beatrice seit ihrem in der Vita nova erzählten Beginn evoziert wird (Purg. 30.28–42). Die Erscheinung der Beatrice bedeutet zugleich eine Wiederkehr und ein lang ersehntes Wiedersehen, eine grundsätzliche Erneuerung der Beziehung mit Dante und eine Transformation Dantes im Hinblick auf seine Würdigkeit und Befähigung zur Erkenntnis Gottes und zur dichterischen Rede von dieser ultimativen Konsequenz des im irdischen Paradies ermöglichten trasumanar. Beatrice tritt Dante zunächst keineswegs freundlich gegenüber, sondern gebärdet sich, wie ein berühmter Vergleich, die «chiave dell’intiero episodio»,35 es fasst, als zurechtweisender, scharf sprechender ‚Admiral‘ (Purg. 30.58–72). Der Admiral ist zugleich eine Anklägerin (eine «Beatrice in veste di pubblico ministero», die die Engel zu Zeugen der Anklage und Dante zum Angeklagten macht),36 eine Richterin und eine ‚Beichtmutter‘ mit klaren Vorstellungen von den notwendigen Schritten der für Dante erforderlichen Beichtprozedur.37 Zweck ihrer Rede ist es, bei Dante eine klare Empfindung der Reue hervorzurufen, aus der sich eine ebenso klare Situation der Umkehr ergeben soll. Die nun anhebende Einvernahme Dantes durch Beatrice, in der man Züge einer rituellen ‚Beichtliturgie‘ hat ausmachen mögen, ist auf eine eindeutige narrative Progression hin angelegt: Der Reue folgt die Gnade, die Gnade ist die Voraussetzung für den Aufstieg ins himmlische Paradies und zu Gott. Die Begegnung mit Beatrice ist insofern Dreh- und Angelpunkt der steilen Aufwärtsbewegung des Ich-Protagonisten, «d’una in altra selva, da un attònito dismemorarsi ad una riconquistata coscienza del bene, dalle stelle perdute di vista alle stelle ritrovate, che attendono il nuovo pellegrino dei cieli».38 Um dieser nuovo pellegrino werden zu können, bedarf Dante nach Beatrices strengen Worten eines Gleichmaßes von Schuld und strafendem Schmerz, wie es letztlich dem Sühneprinzip des Läuterungsbergs insgesamt entspricht: «sia colpa e 34 Im Folgenden verzichten wir auf die Anführungszeichen, um das erlebende Ich namens Dante vom empirischen Autor zu unterscheiden. Die Kongruenz der beiden Größen ist ohnehin ein Eindruck, auf den der Text nachdrücklich abzielt. 35 So hat Sanguineti (1964, 16) das Admiralsbild aus Vers 58 gewertet. 36 So Stäuble (2001, 469), mit Hinweisen auf Elemente des genus iudiciale, die Beatrices Reden kennzeichnen; cf. hierzu auch Scrivano (1981, 715–716). 37 Cf. zur Zergliederung des dialogischen Geschehens zwischen Beatrice und Dante in die Abfolge von contritio cordis, confessio oris und satisfactio operis Mazzoni (1967, hier bes. 1148 und 1162) sowie Scrivano (1981, hier bes. 698). 38 Lanza (1967, 1233).

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duol d’una misura» (Purg. 30.108). Die colpa, Dantes Verfehlung, stellt Beatrice in ihrer Anklagerede als Geschichte eines Abfalls von ihr selbst dar, dessen Dante sich schuldig gemacht habe. Diese Geschichte wird mit klaren Referenzen auf die der Commedia vorgängigen Werke Vita nova und Convivio erzählt: Beatrice wirft Dante vor, sich nach ihrem Tod von ihr abgewandt zu haben und «per via non vera» hinter «imagini di ben [. . .] false» her gewesen zu sein (Purg. 30.130–131). Während, grob gesprochen, in der Vita nova der Anfang eines rechten Wegs aufgezeigt worden sein soll, scheint die Lebensphase des Convivio einen (wohl einerseits spirituellen, philosophischen, andererseits mit Konnotaten verführerischer Körperlichkeit versehenen) Irrweg gebracht zu haben. Diese Verirrung sei es gewesen, in der Dante zu Beginn des Inferno befangen gewesen sei, so Beatrices Implikation, und nur um ihretwegen sei Dante durch das Reich der Unterwelt (und den Läuterungsberg hinauf) geführt worden: Die via non vera sollte verlassen werden, und dies ist, wie Beatrice betont, die Motivation der gesamten, bis hierher von Vergil angeleiteten Jenseitsreise Dantes, weit über die Situation des irdischen Paradieses hinaus (Purg. 30.136–141). Nun aber, so insistiert die Gestrenge, muss vor einem Fortschreiten ins himmlische Paradies ein spezifischer Wegzoll entrichtet werden: Tränen der Reue müssen fließen – Tränen also, die klar auf einen sehr besonderen rite de passage hin funktionalisiert sind. Beatrice ist, wie gesehen, nicht nur Richterin, sondern auch Anklägerin. Als solche lässt sie keinen Zweifel daran, dass im Wertesystem der Commedia richtig und falsch klar verteilt sind. Eine Beatrice treu geleistete Gefolgschaft hält den Getreuen auf dem Weg der Wahrheit und lässt ihn das Gute (Gott) lieben; sich von Beatrice abzuwenden heißt von der Wahrheit abzuweichen.39 Eine entscheidende Situation auf dem Weg zur Wahrheit war für Dante durch Beatrices Tod gegeben; diese Situation hätte von Dante eine eindeutige Richtungsentscheidung gegen die Körperlichkeit erfordert, zu der es nicht kam.40 Im irdischen Paradies lässt den Sünder Dante neben Beatrices Anklagerede erst ihre transfigurierte,41 auch in der

39 So sagt Beatrice zu Dante: «Per entro i mie’ desiri, / che ti menavano ad amar lo bene / di là dal qual non è a che s’aspiri, / quai fossi attraversati o quai catene / trovasti, per che del passare innanzi / dovessiti così spogliar la spene? / E quali agevolezze o quali avanzi / ne la fronte de li altri si mostraro, / per che dovessi lor passeggiare anzi?» (Purg. 31.22–30). 40 Der Vorwurf und die Feststellung lautet: «pon giù il seme del piangere e ascolta: / sì udirai come in contraria parte / mover dovieti mia carne sepolta. / Mai non t’appresentò natura o arte / piacer, quanto le belle membra in ch’io / rinchiusa fui, e che so’ ‘n terra sparte; / e se ‘l sommo piacer sì ti fallio / per la mia morte, qual cosa mortale / dovea poi trarre te nel suo disio? / Ben ti dovevi, per lo primo strale / de le cose fallaci, levar suso / di retro a me che non era più tale» (Purg. 31.46–57). 41 Beatrices Schönheit entspricht nicht mehr ihrem irdischen Zustand der Körperlichkeit. Ein Indiz dafür sind die Smaragdaugen Beatrices, in denen Dante die changierende Doppelnatur des Greifen erkennen kann (Purg. 31.115–123). Natürlich hat mancher Kommentator hier einen

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Folge (im himmlischen Paradies) je nach Dantes ständig neu hinzugewonnener Erkenntniskompetenz gestufte Schönheit42 die Berechtigung des Vorwurfs erkennen, er sei der Körperlichkeit verhaftet gewesen. Beatrice ist, wie sich Dante nun erschließt, seit ihrem Tod jenseits aller Körperlichkeit angesiedelt und scheint sich für ihn lediglich – vergleichbar den anderen Figuren der Prozession – zu ‚manifestieren‘.43 Dante selbst wird, wie es dem Leser schon von Beginn des Inferno her klar ist, nicht nur temporär ins himmlische Paradies aufsteigen, sondern ihm wird von Beatrice zuversichtlich auch sein ständiger Aufenthalt dort (und man muss annehmen: in unmittelbarer Nähe zu Beatrice, d.h. im Gefüge der Rose der Seligen) angekündigt.44 Zuvor jedoch hat Dante die Vorgänge in den jenseitigen Welten, zuallererst die allegorisch aufgeladenen Begebnisse, die sich im irdischen Paradies zutragen, aufzuschreiben und den Menschen auf Erden mitzuteilen. Gleich zweimal erteilt Beatrice Dante im irdischen Paradies die entsprechende Weisung.45 Die Commedia wird mithin durch Beatrices Worte in Auftrag gegeben, und der Text lässt keinen Zweifel daran, letztlich direkt von Gott autorisiert zu sein – dies gilt unabhängig von der konkreten allegorischen Interpretation, die man Beatrice

Verweis auf eine realiter grünäugige Beatrice sehen wollen, doch der Smaragd steht im Mittelalter für den Spiegel (Komm. Chiavacci Leonardi z.St.) und symbolisiert Keuschheit und Gerechtigkeit (Komm. Hollander z.St.). Darüber hinaus wird man nicht fehlgehen, das Grün, in dem sich Dante nun zum ersten Mal Jesu (des Greifen) Wesen zeigt, mit der Dimension der Hoffnung zu verbinden, die durch den Blick Dantes in Beatrices ,Smaragde‘ sich eröffnet. All das bewegt sich jenseits des Physischen. 42 Cf. das Ende von Purgatorio 31: Zunächst erschließen die vier Kardinaltugenden Dante den Blick in die Augen Beatrices (103–126), sodann erwirken die drei theologalen Tugenden eine Entschleierung von Beatrices Mund (127–145). Letzteres hat ersteres zur Voraussetzung, die ahnungsvolle, wenn auch noch instabile Schau von Jesu Doppelnatur lässt es möglich werden, dass die gnadenhafte Verkündigung (136) von Dantes erlöster Zukunft durch Beatrices nunmehr stärker, als «isplendor di viva luce etterna», erstrahlende Schönheit (139–145) erfolgt. 43 Cf. Bárberi Squarotti (1988, 193), «[. . .] Beatrice e i santi e Cristo nella loro realtà che, nell’Eden, si riveste di apparenze sensibili, di vesti allegoriche». Erst im Paradiso wird beim Anblick der Rose der Seligen implizit das Problem einer «vorgezogenen Reinkarnation» der Seligen auftreten; cf. dazu unten mehr. 44 «Qui sarai tu poco tempo silvano; / e sarai meco sanza fine cive / di quella Roma onde Cristo è romano» (Purg. 32.100–102). 45 «Però, in pro del mondo che mal vive, / al carro tieni or li occhi, e quel che vedi, / ritornato di là, fa che tu scrive» (Purg. 32.103–105). «Tu nota; e sì come da me son porte, / così queste parole segna a’ vivi / del viver ch’è un correre a la morte. / E aggi a mente, quando tu le scrivi, / di non celar qual hai vista la pianta / ch’è or due volte dirubata quivi» (Purg. 33.52–57). Cf. zu Dantes hier vorliegender Selbststilisierung als «prophetischer Fortsetzer einer göttlich inspirierten Autorschaft, die bei dem Apokalyptiker Johannes ansetzt und diesen fortschreibt», Nelting (2015, 76, 83; Verweis auf Apokalypse 1.11 und 1.19: «quod vides scribe in libro» und «scribe ergo quae vidisti»).

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mannigfach hat zukommen lassen,46 sei es als Stellvertreterin, figura, Analogon oder ‚Priesterin‘ Christi,47 als Personifikation der Theologie,48 als Analogon zu Maria,49 als Repräsentantin oder Vermittlerin der göttlichen Gnade50 bzw. der Weisheit Gottes,51 als Symbol der offenbarten Wahrheit52 bzw. Verkörperung der reinen Lehre Gottes,53 als Trägerin der christlichen Hoffnung,54 als von Gott erleuchtetes Gewissen Dantes55 oder als Platzhalterin für die Kirche,56 etwa in Form der SophiaEcclesia.57 Dass gegenüber einem durch Reue purifizierten Dante, dessen Makel irdischer Verfehlung jetzt vollständig getilgt sind (Purg. 33.79–99), diese an Maria (Purg. 33.4–6) ebenso wie an Christus (Purg. 33.7–12) gemahnende Beatrice ihre Führerrolle als Substitut des entschwundenen Vergil nunmehr entschieden einnimmt (Purg. 33.13–24),58 stellt Dantes Vordringen bis zur Rose der Seligen sicher und ist die Garantie für die Umsetzung des göttlichen Schreibauftrags, dem die Commedia entsprungen sein will und durch den sie sich autorisiert. Dante selbst tritt das letzte Drittel seiner Reise unter dem Vorzeichen einer Multiplikation Beatrices mit Gott an, die in den Schlussversen des Purgatorio und somit an analoger Stelle zur Gottesschau angebracht ist, welche das Paradiso abschließen wird: «Io ritornai da la santissima onda / rifatto sì come piante novelle / rinovellate di novella fronda, /

46 Nach wie vor bedenkenswert trotz der vielen allegoretischen Vereinheitlichungsversuche ist die Warnung von Dronke (1978/79, 39), wonach im irdischen Paradies keine im herkömmlichen Sinn kohärent-sinnvolle allegoretische Deutung durchführbar sei. Bis zu einem gewissen Grad gilt das auch für die Figur der Beatrice, obschon deren oben umrissene globale Funktion für das sacro poema keinen grundsätzlichen Zweifeln unterliegen kann. Zur Pluralität der möglichen Bedeutungen Beatrices cf. eindringlich Pertile (1998, 63, 68, 85–86); cf. ferner Chiarini (1967, 1109) sowie, mit einer Übersicht über die divergenten Interpretationen der Beatrice seit den frühen Dante-Kommentaren, Hardie (1961, 138–143). 47 Singleton (1968, 85–100); Scrivano (1981, 710); Pertile (1998, 40–41, 67–69); Chiavacci Leonardi, «Introduzione» zu Purg. 30 (877). 48 Kritisch hierzu Regn (2014, 272). 49 Pertile (1998, 57). 50 Panvini (1958, 256–266); Singleton (1968, 90–94, 188); Scrivano (1981, 710); Pertile (1998, 24); Stäuble (2001, 467). 51 Singleton (1968, 147); Scrivano (1981, 710); Chiavacci Leonardi zu Purg. 30.11 («nota» Seite 903). 52 Fallani (1967, 1199). 53 Scartazzini (1869, 140, 150). 54 Pertile (1998, 61 m. Anm. 24). 55 Chiarini (1967, 1120); Pertile (1998, 24). 56 Stambler (1965, 67–68); Pertile (1998, 61 m. Anm. 24). 57 Mehltretter (2005, 148–151). 58 Cf. Sanguineti (1964, 20); Singleton (1968, 141–142, 157).

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puro e disposto a salire a le stelle» (Purg. 33.142–145). Beatrices aus der Vita nova bekannte Zahl Neun, die bereits die Potenz der Trinität Gottes darstellte, erscheint hier dreimal und wird somit erneut mit Gottes Zahl multipliziert: Zeichen für die Überwindung der von Dante früher vergöttlichten Dame durch das Konzept der Dame Gottes59 und Ausweis des höchstmöglichen Ranges und Anspruchs desjenigen Textes, dessen Autor unter der Führung dieser Dame gestanden haben will. Dantes Text, mit dem sich Petrarca in den Trionfi konfrontiert, ist mithin strukturiert durch ein theologisch abgesichertes Aszendenzschema mit Beatrice als göttlich autorisierender Ermöglichungsgestalt. Innerhalb dieses Schemas gehen, wie die Forschung immer wieder unterstrichen hat, eine partikuläre, auf Dante als biographisch fundiertes Individuum abhebende Dimension und eine universalistische Dimension, in der Dante – gemäß der Vieldeutigkeit bereits des ersten Verses der Commedia («Nel mezzo del cammin di nostra vita») – zugleich für den erlösungsbedürftigen Menschen schlechthin steht, eine enge Verbindung ein.60 Dieser Universalismus ist freilich dadurch beschränkt, dass der ‚für den Menschen stehende‘ Dante zugleich ein singulär privilegierter Prophet ist,61 dessen jenseitige Erlebnisse und dessen daraus resultierender Text ihn über seine Mitmenschen deutlich erheben. Petrarca legt mit den Trionfi ein Gegenmodell zu Dantes Text vor. Wie bei Dante, so spielt auch bei Petrarca die Figur der Geliebten (Laura) eine zentrale Rolle bei der poetischen Selbstautorisierung des Textes; wie bei Dante, so erfährt das erlebende Ich als eine figura auctoris auch bei Petrarca innerhalb der Diegese eine Bestätigung und Begründung des eigenen Schreibens. Der ideologische und situative Zusammenhang ist bei Petrarca freilich ein wesentlich anderer, und er ist in vielerlei Hinsicht auf einen plakativen Kontrast zur Commedia angelegt. Deren Verfasser und seine Geliebte werden in den Trionfi von Petrarca explizit genannt und dabei mit einer malignen Subtilität behandelt, die der mit Scheinlob verbundenen Degradierung Dantes aus der Familiaris 21.15 gleichkommt. In der Aufzählung der volkssprachlichen Liebesdichter führen «Dante e Beatrice» die Aufzählung der vorpetrarkischen Liebesdichtung zwar 59 Cf. zu diesem Schritt von der Beatrice der Vita nova zur Beatrice der Commedia Regn (2015/ Hermeneutik). 60 Cf. u.a. Scartazzini (1869, 100–101); Sanguineti (1964, 12); Chiarini (1967, 1129); Fallani (1967, 1191, 1206); Dronke (1978/79, 33–34); Bárberi Squarotti (1988, 193–194, 197 et passim); Chiavacci Leonardi, «Introduzione» zu Purg. 31 (905). Hierzu stimmt Stäuble (2001, 465): Auch Beatrice hat mehrfache Dimensionen in diesem Sinn, sie ist sowohl die ehemals von Dante gekannte «fanciulla fiorentina» als auch ein theologisch-allegorisch bedeutsamer «personaggio ultraterreno». 61 Ganz richtig sagt Chiavacci Leonardi zu Beatrices Schreibauftrag in Purg. 33.52: «Si tratta di una investitura solenne, nella quale appare allo scoperto il compito profetico che Dante si assume nel poema» (Komm. z.St.). Cf. hierzu u.a. auch Fallani (1967, 1200).

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an, doch wird die Nennung Dantes mit seiner Beatrice eben nicht als Verweis auf den metaphysisch und religiös höchstlagigen poema sacro vorgenommen, sondern lediglich als Einordnung in die Gruppe derer, die im volgare Liebesdichtung produziert haben («vidi genti ir per una verda piaggia / pur d’amor volgarmente ragionando: / ecco Dante e Beatrice, [. . .]», TC 4.29–31): Allenfalls zählt Dante explizit als Autor der Rime und der Lyrik der Vita nova, vielleicht noch der lyrischen Partien des Convivio, aber gerade die Commedia bleibt von den Trionfi (die sie kennen und dies durch jene Nennung der «coppia d’Arimino», also von Paolo und Francesca aus Inf. 5, in TC 3.83 auch explizit machen) ausgegrenzt. Die Nennung Dantes als Nur-Lyriker, die Dante eine Hälfte der von ihm selbst reklamierten ‚doppelten Autorschaft‘ abstreicht (nämlich die Rolle als prophetischer Sprecher und scriba Dei),62 ist somit eine Kontestation des autoritativen Modells der Commedia, gegen das die Trionfi anarbeiten.63 Bereits bei der Evokation der Frühlingssituation und in den Hinweisen auf den 6. April 1327 etablieren die Trionfi ein dichtes Netz an Referenzen auf die in den Rerum vulgarium fragmenta erzählte Geschichte der Laura-Liebe. Wie bei Dante, so wirkt auch bei Petrarca die in Terzinen gefasste Jenseits-Erzählung als Metatext zur selbst verfassten Liebeslyrik der Autoren (die Trionfi verdeutlichen das u.a. dadurch sehr plakativ, dass nach dem innamoramento des erlebenden Ich weite Teile von TC 3 aus den Canzoniere-typischen, späterhin zu petrarkistischen Standardformen geronnenen Antithesen und Oxymora bestehen, die die Schmerzliebe unter dem Zeichen der voluptas dolendi ausformulieren; cf. bes. TC 3.145–187). Es wird sich uns noch deutlicher zeigen, dass dabei eine homogenisierende Außenperspektive auf den Lyrikzyklus installiert wird, die dessen Vielschichtigkeit und ideologische Komplexität unter einen selbstautorisierenden einheitlichen Nenner bringen soll. Petrarca verknüpft dabei die Thematisierung seiner eigenen Liebe mit der Nennung prominenter Liebender aus der antiken Literatur und erzielt den selbsterhöhenden Effekt einer ‚humanistischen Episierung‘ der Trionfi auch abseits der im engeren Sinn historischmythologischen Partien des Textes.64 62 Cf. dazu Nelting (2015, 76–77) und grundsätzlich Regn (2007, 167–185). 63 Cf. zu Dante und Beatrice sowie Paolo und Francesca in den Trionfi Tanturli (1985, 211–212); Lerner (1986, 204); Giunta (1993, 418–421); Pastore Stocchi (2004, 190–191); Brownlee (2005, 470–471, 475–479); Cachey (2009, 10); Sturm-Maddox (2009, 311–312). 64 Cf. TP 7–14: Angesichts von Apollon, Juno, Dido (und Aeneas) als prominenten ‚Opfern‘ Amors ist es gerechtfertigt, dass auch ‚Petrarca‘ zum Triumphzug der Liebe gehört. Der epische Anspruch der Trionfi zeigt sich auch in dem über die Figuren Camilla und Caesar installierten Rekurs auf Vergils Aeneis und Lucans Pharsalia (TP 70–75). Dementsprechend beruft sich der Text auf Kalliope und Klio als Musen des Epos und der Historiographie (TP 129). Die Laura-Liebe wird eng sowohl mit epischen als auch mit historiographisch relevanten Gestalten und Ereignis-

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In ihrer Rolle als Vertreterin der Pudicitia, die freilich – anders als die Forschung oft gemeint hat – nicht in einer bruchlosen Identifikation Lauras mit der Keuschheit aufgeht,65 sondern eher eine Funktion Lauras im Zeichen der Keuschheit bedeutet, besiegt Laura Amor, ein Geschehen mit Weiterungen epischen und historischen Ausmaßes.66 Der Sieg über Amor ist dabei zunächst und vor allem eine individualistisch referenzierte Handlung, die sich insbesondere darauf bezieht, dass Laura anders als ‚Petrarca‘ sich in der vom Canzoniere vermittelten Liebesgeschichte niemals als ein ‚Opfer‘ der Liebe gezeigt hat, sondern – wie es schon das innamoramento-Sonett RVF 3 ein erstes Mal klar werden lässt – den ‚Angriffen‘ Amors stets erfolgreichen Widerstand geleistet hat. Erst sekundär ist an diesem Sieg Lauras über Amor eine ‚universalistische‘ Dimension relevant: Lauras Sieg bedeutet zugleich, dass Amor alle seine welthistorisch jemals gemachten Beutepersonen verliert (cf. TP 94–96 und das Folgende). Die besondere Zurichtung dieses ‚Universalismus‘ besteht im Kontrast zu Dante bei Petrarca darin, dass diese welthistorische Dimension ausschließlich von der geschichtliche Erinnerungsbilder evozierenden memorialen écriture des Autors Petrarca eröffnet wird67 und somit die allgemeine Valenz des Dargestellten an das Erleben der Autorfigur und an die Tätigkeit eines Autorsubjekts im starken Sinne rückgebunden wird (statt theologisch-metaphysisch untermauert zu werden). Der Tod Lauras, der sich in TM 1 vollzieht, ist nicht nur situative Voraussetzung für das lange Gespräch des erlebenden Ich mit Laura in TM 2, sondern bietet umgehend bereits Anlass zu einer Verlinkung dieser Situation mit den beiden Abschnitten des Canzoniere in vita und in morte di madonna Laura. Die Rückschau auf die Liebe zur irdischen Laura, die mit den für den Canzoniere kanonischen Daten des 6. April (1327 und 1348) explizit abgegrenzt wird,68 erfolgt in einer Zitation ‚klassischer‘ RVF-Formeln,69 und die Trauer um die Verstorbene liefert im

sen verknüpft (u.a. Lucrezia, Penelope, Virginia, Aeneas und Dido in TP 132–159) und sehr plakativ mit der Figur von Petrarcas epischem Haupthelden Scipio Africanus relationiert (TP 168–186). Zum epischen Anspruch der Trionfi cf. auch Barański (1990, 74): «The Trionfi, by reviving the artistic standards of the ancients, was to have been the great ,modern‘ epic in absolute terms». 65 Berechtigt hier die Skepsis von Goffis (1951, 32) «il P. mette al seguito di Laura, fra le altre virtù, ‚con Castità somma Beltade‘, impedendoci di identificare Laura con la Pudicizia». 66 So heißt es von Laura und den mit ihr siegreich zurückkehrenden Damen: «ciascuna per sé parea ben degna / di poema chiarissimo e d’istoria» (TM 1.17–18). 67 Cf. dazu ausführlich Huss (2015, 121–154). 68 «L’ora prima era, il dì sesto d’aprile, / che già mi strinse, ed or, lasso, mi sciolse» (TM 1.133–134). 69 «Quanti lamenti lagrimosi sparsi / fur ivi, essendo que’ belli occhi asciutti / per ch’io lunga stagion cantai ed arsi!» (TM 1.118–120); cf. dazu RVF 23.106 (hier und fortan zitiert nach: Petrarca 1996) «lunga stagion» und 345.3 «a dir di lei per ch’io cantai et arsi».

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Modus einer affektiert-bescheidenen Negation einen Vorverweis auf die Gedichte über die tote Geliebte.70 Dabei vermeidet Petrarca im Gegensatz zu Dante den Aufbau einer klar verräumlichten Aszendenz der Verstorbenen71 und einer daraus resultierenden konkret vorstellbaren räumlichen Distanz zwischen Liebendem und Geliebter: Während Dantes Beatrice eine klare Lokalisierung in der Himmelshierarchie erfährt und ihr zweimaliges Herabsteigen aus der Ewigkeit in die Zeitlichkeit (einmal in den Limbo zu Vergil, dann ins irdische Paradies zu Dante) im Rahmen einer klaren vertikalen Gliederung des Handlungskosmos erfährt, entfernt sich die sterbende Laura in einer räumlich eher verschleierten als explizierten Art und Weise.72 Resultat ist die Entstehung zweier Sehnsuchtsräume, die aus dem Canzoniere vertraut sind: Der auf Erden zurückgebliebene Liebende und die im Himmel vorgestellte Laura sind durch eine Lücke getrennt,73 an der sich die Imagination des Sprechers abarbeitet und die im TM 2 durch die in die Traumvision eingelegte Traumerscheinung der Laura überwunden wird (wodurch alles von Laura und dem Sprecher Geäußerte unter einen vorsichtigen Vorbehalt gestellt wird: Fernab von der Konkretheit und allegorisch suggerierten heilsgeschichtlichen Allgemeinverbindlichkeit des irdischen Paradieses der Commedia eignet der Begegnung mit Laura eine intimistische Dimension, die angesichts etwaiger theologischer Einwände stets durch Verweis auf die Unverbindlichkeit des privaten Traumgesichts verharmlost werden könnte). Der Übergang von TM 1 zu TM 2 markiert Lauras Tod ganz wie den Tod Beatrices als eine entscheidende Zäsur in Liebeserleben wie Liebesdichtung der Autorfigur. Ganz anders als bei Dante erfolgt jedoch bei Petrarca der Erstkontakt mit der Verstorbenen (das caveat der Traumsituation hier einmal vernachlässigt) in physi-

70 «Or qual fusse il dolor qui non si stima, / ch’a pena oso pensarne, non ch’io sia / ardito di parlarne in versi o ‘n rima» (TM 1.142–144). 71 Pace Bartuschat (2011, 280), der allerdings vorsichtig formuliert («De même que la Béatrice de la Vita nova devient, dans la Comédie, la femme bienheureuse qui est à l’origine du voyage de Dante dans l’Au-delà, de même la Laure des Rerum vulgarium fragmenta est, dans les Triomphes, à l’origine de l’ascension mystique des derniers triomphes»), ist insgesamt festzuhalten, dass es in den Trionfi keine klare Figur einer Aszendenz Lauras gibt. Auch die Erfahrung der Ewigkeit in den Trionfi (TE) ist nicht durch eine mit der Commedia vergleichbare Aszendenz vermittelt, sondern die Ewigkeit wird hier vom erlebenden Ich zwar erfahren, doch vom erzählenden Ich sogleich in die Distanz einer letztlich nicht metaphysisch verbürgbaren memorialen Evokation gerückt; cf. Huss (2015, 135–137, 151–154), ergänzend Finotti (2009, 76–81). 72 Es heißt lediglich: «Lo spirto per partir di quel bel seno / con tutte sue virtuti in sé romito / fatto avea in quella parte il ciel sereno» (TM 1.151–153). 73 Cf. in diesem Sinne die insgesamt etwas zu modernistische Interpretation von Erasmi (1990, 163): «In Petrarch, as in the ancients, the divine and the human remain separated, earth is far from heaven, and human love cannot be transcended into divine love».

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scher Direktheit: Auch hier wird das Lang-Ersehntsein der Dame thematisiert, doch nicht im Sinne von Beatrices jahrelanger ‚Absenz‘, sondern im Sinn des herbeigesehnten Kontakts mit Lauras Hand, der jetzt endlich – freilich implizit in bitterer Bestätigung jener Lücke zwischen den Sehnsuchtsräumen – erfolgt («quella man, già tanto desiata, / a me, parlando e sospirando, porse», TM 2.10–11). Mit ihrer ersten Frage («Riconosci colei che ‘n prima torse / i passi tuoi dal publico viaggio?», TM 2.13–14) reklamiert Laura, sie habe den Liebenden vom schädlichen Kontakt mit der Masse entfernt.74 Dabei ist der Anspruch Lauras keineswegs so eindeutig positiviert wie Beatrices Standpunkt bei Dante, denn die soeben zitierte Formulierung ist auch ein Verweis auf den Solipsismus des innamoramento inmitten der christlichen Karfreitagserfahrung, wie er in RVF 3.7–8 prominent vertextet ist («onde i miei guai / nel commune dolor s’incominciaro»). Die moralische Ambiguität, die der Laura-Liebe im Canzoniere eignet, scheint hier deutlich durch – dennoch sind die Trionfi im Angesicht der Commedia klar bestrebt, die moralphilosophische Problematik, die die Rerum vulgarium fragmenta der Liebeserfahrung zuschreiben, weitgehend zu reduzieren. Sofort nach Lauras ersten Worten hebt im TM 2 eine beständige Überblendungsarbeit an, die die gegenwärtige Situation der Begegnung mit Evokationen der Laura-Liebe aus den vergangenen 21 Jahren überlagert. Unter vielfachen Aufrufen zahlreicher pertinenter Stellen aus dem Canzoniere ereignet sich ein gänzlich un-admiralisches Zukommen der Laura auf den Liebenden. Unter superb inszenierter Klangästhetik lassen sich Laura und das erlebende Ich als ein endlich einträchtiges Paar unter sinnbeladenen Pflanzen (dem Lorbeer für die Laura-Liebe und der Buche für den bukolisch-amourösen Naturraum75) nieder.76 Laura erscheint als Nahgestalt und ist fernab einer vorwurfsvollen Haltung dem Liebenden gegenüber. Sie wird auch in der Folge, ganz gegenteilig zu Beatrice, die Verfehlung ‚Petrarcas‘ keineswegs als Geschichte eines Abfalls von ihr selbst schildern, und sie wird folglich auch mitnichten eine Gleichung zwischen einer Entfernung von Laura und einer Entfernung von der Wahrheit aufstellen. Im Gegensatz zu Dante hat sich der Petrarca der Trionfi niemals von der Wahrheit entfernt (diese Beobachtung verliert nicht dadurch ihre Relevanz, dass Petrarca, wie sich zeigen wird, auch sehr viel vorsichtiger als Dante mit der Behauptung umgeht, die Wahrheit sei irgend erkennbar). Petrarcas Tränen, die bei der Begegnung mit Laura sogleich

74 Dieses Argument wird in Petrarcas Texten öfter zur Verteidigung der Laura-Liebe angeführt, cf. RVF (72.9, 360.110–130); Secretum meum (3.17; hier und fortan zitiert nach: Petrarca 22013). 75 Cf. zur Valenz der Pflanzen, die man z.T. mit Laura und Petrarca gleichgesetzt hat, die detaillierten Stellenkommentare der Ausgaben von Ariani (1988) und von Pacca/Paolino (2000). 76 «Come ‘l cor giovenil di lei s’accorse, / così, pensosa, in atto humile e saggio, / s’assise, e seder femmi in una riva / la qual ombrava un bel lauro ed un faggio» (TM 2.15–18).

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fließen, können somit auch, ganz anders als Dantes Tränen im irdischen Paradies, keine Tränen der Reue und Umkehr sein, sondern es sind Tränen des freudvollen Liebesleids, die schon in der sprachlichen Formulierung ihres Fließens auf die Persistenz der Liebessituation und des liebeslyrischen Sprachduktus verweisen, wie das Proömialgedicht des Canzoniere sie thematisiert.77 Dass die erste eigentliche Frage des Liebenden an Laura («deh, dimmi se ‘l morir è sì gran pena», TM 2.30) eine Diskussion um die mögliche Pein des physischen Todes eröffnet (TM 2.31–49), berührt keinerlei religiös-moralische Problematik (ein scharfer Kontrapunkt zur Commedia), sondern betont die Bedeutung des Aspekts der Körperlichkeit in der Spannung zwischen Diesseits und Jenseits und unterstreicht somit, als wie gravierend die Lücke zwischen den beiden Sehnsuchtsräumen empfunden wird (übrigens impliziert dies bei Petrarca anders als bei Dante gerade keineswegs, dass der Tod der Geliebten eine bewusste Richtungsentscheidung gegen die Körperlichkeit hätte nach sich ziehen müssen). Während dieser Diskussion nimmt Laura eine an Beatrice gemahnende Haltung ein, da sie den Blick fest gen Himmel richtet,78 doch geht es bei diesem Blick anders als in der Commedia nicht um die Erkenntnis Gottes, sondern um die moralische Festigung der Seele auf Erden angesichts der Angst vor dem Tod (TM 2.49–51: «ma, pur che l’alma in Dio si riconforte, / e ‘l cor, che ‘n se medesmo forse è lasso, / che altro ch’un sospir breve è la morte?»). Damit und mit ihren einschlägigen Äußerungen nimmt Laura eine Position des christlichen memento mori ein, wie es der Augustinus des Secretum meum dem Franciscus abfordern wollte.79 Die ‚augustinische Positionierung‘ Lauras zeigt an, dass der Laura-Liebe in den Trionfi eine (in Orientierung an den Dialogpartnern des Secretum so zu nennende) ‚augustinismus-kompatible Funktion‘ zugeschrieben werden und sie somit gegen den andernorts in Petrarcas Werk recht starken christlichen Vorbehalt in Schutz genommen werden soll. Diese moralische Festigung inmitten der Liebeserfahrung erweist sich als das Hauptthema von Lauras an den Liebenden gerichteten Reden. Im Einklang damit berichtet Laura ihm, sie habe kurz vor ihrem Ableben eine mahnende Stimme vernommen, die Worte an sie richtet, welche auf eine

77 Cf. TM 2.19–20 («,Come non conosco io l’alma mia diva?‘ / risposi in guisa d’uom che parla e plora») mit RVF 1.5 («del vario stile in ch’io piango et ragiono»), ferner RVF 129.52 («in guisa d’uom che pensi et pianga et scriva»). Zugleich liegt eine nicht untypische Bezugnahme auf die sinnliche Liebe von Francesca zu Paolo vor (Inf. 5.126: «dirò come colui che piange e dice»). 78 «Così parlava, egli occhi avea al ciel fissi / devotamente; poi mosse in silenzio / quelle labbra rosate, in fin ch’i’ dissi», TM 2.39–42; Pacca/Paolino verweisen in ihrem Stellenkommentar u.a. auf Par. 1.46–47, 1.64–65. 79 Cf. bes. Secretum meum 3.100 (m. Anm. 144 des Kommentars von Huss/Regn z.St.) und den gesamten argumentativen Kontext in der zweiten Hälfte des dritten Dialogbuchs.

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‚augustinische‘ Kritik der im Canzoniere zelebrierten, selbstzentrierten solo-epensoso-Situation hinauslaufen: «O misero colui che’ giorni conta, / e pargli l’un mille anni! Indarno vive, / ché seco in terra mai non si raffronta. / E’ cerca il mare, e tutte le sue rive, / e sempre un stil, ovunque fusse, tenne: / sol di lei pensa, o di lei parla o scrive» (TM 2.55–60). Diese unwidersprochene Zurechtweisung und implizite Mahnung, sei sie nun von einer topischen ‚compagna gentile‘ Lauras oder vom Tod selbst geäußert,80 arbeitet einer perspektivischen Vereindeutigung der Laura-Liebe im Sinne des petrarkischen ‚Augustinismus‘ zu – die Laura-Liebe wird vor dem Hintergrund der Beatrice-Liebe bis zu einem fühlbaren Grad christlich entproblematisiert. Dies gilt umso mehr, als Laura sich selbst in Analogie zur Beatrice des paradiso terrestre setzt, indem sie eine den Aussagen Beatrices (Purg. 30.127–128, 31.49–52) sehr ähnliche Wertung ihres einstigen Zustandes großer irdisch-körperlicher Schönheit in Kontrast zu ihrem jetzigen Zustand einer (allerdings in keiner Weise näher ausgeführten oder durch Attribute belegten) jenseitigen Zufriedenheit vornimmt (TM 2.67–75). Die Grundempfindung, die Laura von Anfang ihrer Begegnung mit dem Liebenden an hegt und auch zuvor schon stets gehegt hat, ist die der pietà (TM 2.75: «mi stringea di te sol pieta»). Laura befindet sich zu ‚Petrarca‘ von vornherein, wie angedeutet, in einem Nahverhältnis, das sich (ganz anders als bei Dante und seiner Beatrice) sogleich in physischer und emotionaler Affinität niederschlägt. Dabei ist kein Zufall, dass pietà sofort von dem Schlagwort «fede» (TM 2.76) gefolgt wird und im selben Vers der Liebende Laura als «madonna» anspricht. Die weltliche und christliche Doppelvalenz dieser das Liebesverhältnis kennzeichnenden Begriffe lässt eine religiöse Dimension der Liebe aufscheinen, ohne sie allzu konkret festzumachen. Auch dies arbeitet einer ‚augustinischen‘ Gesamtwertung der uns aus dem Canzoniere bekannten Liebesgeschichte zu. Nach der Etablierung dieser Perspektive stellt der Liebende seine zweite, die große grundsätzliche Frage: Welchen Sinn konnte unter der Vorgabe von Lauras pietà die von Laura ausgelöste Schmerzliebe haben, die ihn über so lange Jahre in die topischen antithetisch-oxymoralen Qualen stürzte?81 Laura deklariert nun eine stets schon bestehende Interessengemeinschaft mit dem Liebenden, die unter einem doppelten Vorzeichen steht: nämlich unter dem Vorzeichen eines gemeinsamen amor ebenso wie unter dem Vorzeichen eines gemeinsamen Interesses an gloria: «Mai diviso / da te non fu ‘l mio cor, né già mai fia, / ma temprai la tua 80 Cf. die Kommentare von Ariani (1988) und Pacca/Paolino (2000) z.St.; die Annahme, es spreche hier der Tod, ist m.E. weniger fernliegend als Pacca/Paolino meinen. 81 «creòvi Amor pensier mai nella testa / d’aver pietà del mio lungo martire, / non lasciando vostra alta impresa honesta? / Ché’ vostri dolci sdegni e le dolci ire, / le dolci paci ne’ belli occhi scritte, / tenner molti anni in dubbio il mio desire» (TM 2.76–84).

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fiamma col mio viso; / perché a salvar te e me null’altra via / era, e la nostra giovenetta fama» (TM 2.88–90). Damit rechtfertigt Laura ein erstes Mal und bereits relativ deutlich die für den Laura-lauro-Komplex von Petrarcas Dichten zentrale Verbindung von amor und gloria, die ‚Augustinus‘ im dritten Buch des Secretum meum so extensiv bekämpft hatte: Dies ist nur möglich vor dem Hintergrund jener gleichfalls ‚augustinischen‘ Purgierung der Laura-Liebe, die in den Trionfi statthat, und macht die Laura-Liebe zur theologisch konfigurierten Beatrice-Liebe der Commedia gewissermaßen konkurrenzfähig. Laura hat aus ethischen Erwägungen die Liebesbeziehung stets mäßigen wollen, und so ist sie trotz ihres Aufgreifens von Dantes auf Beatrice bezüglicher Mutter-Motivik (Purg. 30.79–81, 31.64–69) durch den Satz «né per ferza è però madre men pia» (TM 2.93) weniger eine hierarchisch übergeordnete Mutterfigur als vielmehr eine mit dem Liebenden auf Augenhöhe angesiedelte liebende Frau. Laura will die Liebe zu ‚Petrarca‘, ganz gemäß den Postulaten von ‚Augustinus‘ im Secretum meum, unter eine stoizistische Gefühlskontrolle gestellt sehen. Daher hat sie sich stets selbst verstellt. Laura ist eine Liebende, die selbst in Liebe entbrannt ist, doch äußerlich Ablehnung vorgetäuscht hat,82 d.h. aus ethisch-moralischen Gründen zu einer Strategie der dissimulatio gegriffen hat (und die hierin nun tatsächlich einen maximalen Kontrast zur Dantesken Beatrice bildet): «Quante volte diss’io meco: ,Questi ama, / anzi arde; or si conven ch’a ciò proveggia, / e mal pò proveder chi teme o brama: / quel di fuor miri, e quel dentro non veggia.‘» (TM 2.94–97). Hiermit ist die im Canzoniere in aller Regel von außen zu beobachtende, extern fokussierte Verhaltensweise der Laura durch eine intern fokussierte Erklärung derselben komplementiert und metatextuell erläutert. Das Liebesgeschehen wird insofern schlüssig, gewinnt an innerer Logik und verliert so seine Brüchigkeit. Laura hat wie Beatrice während der Liebesgeschichte mit ‚Petrarca‘ eine Führerfunktion übernommen,83 allerdings stellt diese Geschichte nun freilich keinen linear aufsteigenden Weg dar, sondern eine zyklische Stagnation, deren sattsam bekannten Bericht die Rerum vulgarium fragmenta liefern. Dieser Bericht verliert nun seine liebessituationale Einseitigkeit, wenn Laura bekennt, letztlich fast ebenso sehr wie ‚Petrarca‘ in Liebe entbrannt zu sein und gar auch selbst in Gefahr gewesen zu sein, von der Liebe überwältigt zu werden84 (dieser Kampf wird in TP verbildlicht).

82 «Più di mille fïate ira dipinse / il volto mio, ch’Amor ardeva il core; / ma voglia in me ragion già mai non vinse» (TM 2.100–102). 83 «Poi, se vinto ti vidi dal dolore, / drizzai in te gli occhi allor soavemente, / salvando la tua vita e ‘l nostro honore» (TM 2.103–105, cf. den gesamten Kontext). 84 «Fur quasi eguali in noi fiamme amorose, / almen poi ch’i’ m’avidi del tuo foco; / ma l’un le palesò, l’altro l’ascose. / Tu eri di mercé chiamar già roco, / quando tacea, perché vergogna e

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Wie Beatrice am Beginn des Inferno (Inf. 2.52–114 mit Purg. 30.133–141), so hat Laura mit dem leidenden Liebenden Mitleid und manövriert ihn daher mit dosiertem Zügel durch die contrari affetti der Schmerzliebe – dass diese zugleich in zahlreichen Gedichten vertextet wird, ist Laura bekannt und ihr nicht etwa zuwider.85 Denn hinter den benigne accoglienze (Zitat in Anm. unten), die Laura dem Liebenden als Zunder seiner Emotion gewährt hat, gibt es ein manifestes Eigeninteresse. Auch Laura will berühmt sein. Auch Laura hat einen Sinn für poetische Ästhetik. Auch Laura liebt den eigenen Namen: «S’al mondo tu piacesti agli occhi mei, / questo mi taccio; pur quel dolce nodo / mi piacque assai che ‘ntorno al cor avei; / e piacemi il bel nome, se vero odo, / che lunge e presso col tuo dir m’acquisti» (TM 2.127–131). Vor diesem Hintergrund gewinnt das von Laura beklagte Fehlen des modo in der Liebe ‚Petrarcas‘ einen doppeldeutigen Status: Einerseits moralisch prekär, ist der Hang zur maßlosen Liebe doch andererseits Triebfeder des Schreibens darüber (TM 2.132–135: «né mai in tuo amor richiesi altro che ‘l modo. / Quel mancò solo; e, mentre in atti tristi / volei mostrarmi quel ch’i’ vedea sempre, / il tuo cor chiuso a tutto il mondo apristi»). Aus dieser von Petrarca betriebenen Veröffentlichung der Liebe zieht Laura selbst den Profit weltlicher Fama. Sie begrüßt diesen Profit ausdrücklich, und sie autorisiert damit Petrarcas Schreiben (in einer gänzlich andersartigen Weise als Beatrice Dantes Schreiben durch den göttlich legitimierten Schreibauftrag autorisiert hatte). Ja, Laura hätte gar diesen Profit am liebsten noch größer gesehen und beklagt in Anspielung an ein berühmtes Gedicht des Canzoniere (RVF 4.12: «di picciol borgo un sol n’à dato») ihren unbedeutenden Geburtsort in Südfrankreich: Wäre sie näher an Petrarcas Heimatstadt Florenz, mithin in der Toscana geboren, so wäre die (offenbar ziemlich schreckliche) Gefahr, von Petrarca geradezu übersehen zu werden, niemals aufgekommen und

tema / facean molto desir parer sì poco. / Non è minor il duol perché altri il prema, / né maggior per andarsi lamentando. / Per fictïon non cresce il ver, né scema» (TM 2.139–147); «Teco era il core; a me gli occhi raccolsi. / Di ciò, come d’iniqua parte, duolti, / se ‘l meglio e ‘l più ti diedi, e ‘l men tolsi! / Né pensi che, perché ti fossin tolti / ben mille volte, e più di mille e mille / renduti e con pietate a te fur vòlti. / E state fôran lor luci tranquille / sempre ver’ te, se non ch’ebbi temenza / delle pericolose tue faville» (TM 2.151–159). Cf. zu vergleichbaren Äußerungen im Canzoniere, die dort aber unter dem Vorzeichen einer pikanten Erotisierung stehen, Regn 2015/Eros, 99–100, 107 (am Beispiel von RVF 302). 85 «Questi fur teco miei ingegni e mie arti: / or benigne accoglienze, ed ora sdegni. / Tu ‘l sai, che n’ài cantato in molte parti. / Ch’i’ vidi gli occhi tuoi talor sì pregni / di lagrime ch’i’ dissi: ,questi è corso, / chi non l’aita, s’i’ ‘l conosco ai segni.‘ / Allor providi d‘onesto soccorso. / Talor ti vidi tali sproni al fianco / ch’i’ dissi: ,qui conven più duro morso.‘ / Così, caldo, vermiglio, freddo e bianco, / or tristo, or lieto, infin qui t’ò condutto / salvo, ond’io mi rallegro, benché stanco» (TM 2.109–120).

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hätte ihr Ruhm womöglich noch größeres Ausmaß angenommen.86 Nun ist es auf einmal an ‚Petrarca‘, seine Geliebte diesbezüglich zu beruhigen (TM 2.172–174) – suggeriert wird damit, dass der von Laura nunmehr in aller Ausdrücklichkeit gewünschte und gebilligte Canzoniere kaum noch größere Wirkungsmacht entfalten könnte, als er es bereits getan hat und tut. Richtig, sagt Laura: «I’ n’ebbi honore / ch’anchor mi segue» (TM 2.175–176). Auf längere Dauer gestellt wird aus der Perspektive der fiktiven Situation des Gesprächs mit Laura die beständig durch Bedichtung an die Öffentlichkeit getragene Liebessituation dadurch, dass nicht (wie im Fall der Versprechen von Beatrice) eine absehbare Vereinigung der Liebenden in einem als Ort des finalen Heils konfigurierten Jenseits in Aussicht steht. Ganz im Gegenteil erhält der Liebende auf seine diesbezügliche Frage (TM 2.184–188) die Auskunft: «Al creder mio, / tu starai in terra senza me gran tempo» (TM 2.189–190). Damit ist das Fortbestehen der Lücke zwischen den beiden Sehnsuchtsräumen gegeben – dies bedeutet von der Warte des fiktiven Datums (6./7. April 1348) aber nichts anderes, als dass das die Stagnation des Liebesleidens besingende, von Laura mittlerweile ausdrücklich autorisierte Projekt Petrarcas fortgesetzt und ausgebaut werden kann: Auch die Gedichte in morte di madonna Laura gehören zu dem literarischen Plan, der von den Trionfi als Gesamtentwurf moralisch akzeptabel gemacht und gegen das danteske Modell in Stellung gebracht werden soll. Im TE jedoch geht es um die Frage, wie die Lücke, die das Irdische vom Himmlischen trennt und die nicht nur für die Vereinigung der Liebenden, sondern schlechterdings für jede himmlische Belohnung irdischen Tuns eine Barriere darstellt, überwunden werden kann. Insbesondere denjenigen beati spirti, denen die Dichter und die Historiographen (also Schriftsteller vom Schlag eines Petrarca) zu ewiger Geltung verholfen haben (TE 43–48), stellt die im vorsichtigen Potentialis verharrende Ewigkeitsprojektion ein Überdauern der von TM 1 und TT inszenierten Macht der Vergänglichkeit in Aussicht:87 «quei che Fama meritaron chiara, / che ‘l Tempo spense, e i be’ visi leggiadri / che ‘mpallidir fe’ ‘l Tempo e Morte amara, / l’oblivïon, gli aspetti oscuri ed adri, / più che mai bei tornando, lasceranno / a

86 «Più ti vo’ dir, per non lasciarti senza / una conclusïon che a te fia grata / forse d’udire in su questa partenza: / in tutte l’altre cose assai beata, / in una sola a me stessa dispiacqui, / che ‘n troppo humil terren mi trovai nata. / Duolmi anchor veramente ch’i’ non nacqui / almen più presso al tuo fiorito nido. / Ma assai fu bel paese ond’io ti piacqui; / ché potea il cor, del qual sol io mi fido, / volgersi altrove, a te essendo ignota, / onde io fôra men chiara e di men grido» (TM 2.160–171). 87 Cf. zu dieser Gruppe, die bereits in TT 88–93 dem Wüten der alles vernichtenden Zeit entzogen sind, Huss (2015, 134–135) sowie Huss (2017, 195).

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Morte impetüosa, a’ giorni ladri. / Ne l’età più fiorita e verde avranno / con immortal bellezza eterna fama» (TE 127–134). Dazu brauchen sie im TE neben der Dichtung auch ihre wiederauferstandenen Körper (TE 131–135). Petrarca rekurriert sehr viel stärker als Dante, der erst im Angesicht der Rose der Seligen und hier in einer von den Kommentatoren unterschiedlich bewerteten Weise auf die Problematik der Körperlichkeit der Seligen im Paradies eingeht,88 auf den (in der Theologie der Zeit umstrittenen)89 Auferstehungsgedanken. Wenn damit aber die ruhmreichsten Gestalten der Trionfi eine Aussicht haben sollten, dem Lauf der Zeit in die Ewigkeit zu entkommen (was dann auch hieße: für deren Darstellung ist nicht Dante ‚zuständig‘, sondern der sich jener Gestalten in seinen Werken vergewissernde Petrarca), gilt dies besonders für die wichtigste Figur des Werkes. Dementsprechend schließt der TE mit der resurrectio Laurae. An dieser ist besonders hervorzuheben, dass die wiederauferstandene Laura ihren schönen Körper neu und auf ewig in Besitz nehmen wird – und dass die himmlische Seligkeit darin bestehen wird, des Resultats dieser speziellen Wiederauferstehung ansichtig zu werden: «Che, poi che avrà ripreso il suo bel velo, / se fu beato chi la vide in terra, / or che fia dunque a rivederla in cielo?» (TE 143–145). Verglichen mit dem letzten Gesang des dantesken Paradiso90 tritt Laura an die Systemstelle Gottes, sie bildet den Kern des dichterischen Kosmos, den die Trionfi vorstellen und verteidigen. Mit dieser finalen, aber im verhaltenen Futur vorsichtig formulierten antidantesken Substitution geht die Exaltation von Petrarcas Schreiben (d.h. neben der Exaltation bes. des Canzoniere vor allem auch die Selbstexaltation der Trionfi) einher: Denn derjenige, der die im Jenseits alles überstrahlende Laura (TE 99) allen bekannt gemacht hat, ist Petrarca selbst (TE 135–138: «Ma innanzi a tutte ch’a rifarsi vanno / è quella che piangendo il mondo chiama / con la mia lingua e con la stancha penna; / ma ‘l ciel pur di vederla intera brama»). Und die Seligen im Himmel werden Petrarca als denjenigen auszeichnen und hervorheben, der dieses bedeutendste Werk von allen vollbracht hat: «ónd’io a dito ne sarò mostrato: / ,Ecco chi pianse sempre, e nel suo pianto / sovra ‘l riso d’ogni altro fu beato!‘» (TE 94–96). Bedeutender ist dieses Werk selbst als alles dichterische Sprechen Dantes über Beatrice, denn die Trionfi

88 Cf. die Kommentare von Chiavacci Leonardi und von Hollander zu Par. 30.44–45 und zu Par. 31.49 bzw. 31.59. 89 Zur Diskussion um die visio beatifica und die Frage, wann die Seligen Gottes Herrlichkeit gänzlich erkennen können und ob dafür die resurrectio corporum Voraussetzung sei, cf. unter Rekurs auf die einschlägige Studie von Bertolani (2001) die Ausführungen bei Huss (2015, 140–142, 151–152), Huss (2017, 196); siehe zu Petrarcas Funktionalisierung des Wiederauferstehungsgedankens auch Regn (2015/Eros, 108–109). 90 Cf. zur spezifischen Kontrastrelation des TE zu Dantes exakt genauso langem Schlussgesang Paradiso 33 Cachey (2009, 14–15); Moevs (2009, 237–238).

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hatten schon bei der Darstellung des innamoramento hervorgehoben, hier handle es sich um «Nove cose, e già mai più non vedute, / né da veder già mai più d’una volta, / ove tutte le lingue sarien mute!» (TC 3.142–144). Die Trionfi restituieren vor der Ewigkeit auf alle Zeiten Petrarcas literarisches Schaffen, und zwar sowohl bezüglich der Liebesthematik (Laura und die Rerum vulgarium fragmenta) als auch bezüglich der Behandlung der famosi aus Mythos und Historie (Africa, De viris illustribus, Rerum memorandarum libri). Das Projekt, das hier gewinnt, ist das Projekt AMOR ET GLORIA,91 das Gesamtvorhaben, welches ‚Augustinus‘ im Secretum meum noch scharf verurteilt hatte. Voraussetzung für diesen Sieg, der auch ein gemeinsamer Sieg aller wichtigen Texte Petrarcas über Dante sein soll, ist, wie gesehen, bezüglich der Laura-Liebe deren moralische Entschärfung und ideologische Homogenisierung: Die Trionfi spielen über die Figur der (wie Beatrice) nunmehr ausführlich sprechenden Laura (und zwar ohne augenfällige Perturbation durch deren auffällige Vorliebe für die ästhetische Selbstreflexion und ‚Namensfixiertheit‘ der um sie kreisenden Laura-lauro-Dichtung,92 die ‚Augustinus‘ im Secretum meum [3.32] gerade kritisiert hatte) die ‚augustinische‘ Position eines christlichstoizistischen Maßhaltens in die Laura-Liebe ein, machen sie kompatibel für das Vorhaben, Dante auf dem Gebiet der Jenseitsdichtung zu schlagen und dabei gleich Petrarcas gesamtes Textschaffen auf die Siegerseite ‚mitzunehmen‘. Die Tatsache, dass Petrarca insbesondere im TE nicht ein theologisch stimmiges, in einer klar erkennbaren, der Commedia vergleichbaren Hierarchie geordnetes Jenseits konfiguriert, sondern mit Laura und jenen in Dichtung wie Historiographie gerühmten famosi säkulare Gestalten in die Ewigkeit projiziert, hat man häufig als eine Art ikonoklastischen Akt interpretiert und als Indiz für einen weltanschaulichen Gesamtgestus genommen, den man als dezidiert modern interpretieren wollte.93 Tatsächlich aber ist, wie wir gesehen haben, die Darstellung des Jenseits von Petrarca unter dem Vorbehalt einer in sich mehrfach geschichteten Traumvision vorgenommen. Petrarca setzt sich von Dante gerade auch dadurch ab, dass er mit seiner Terzinenerzählung nicht rundheraus eine ungebrochene Wahrheitsbehauptung metaphysischer Valenz verknüpft. Die anagogische Ersteigbarkeit des Paradieses ist bei Petrarca mit einem Fragezeichen versehen. Analog zu Dantes Commedia, die insbesondere im irdischen Paradies die «discesa dell’eterno nel tempo» inszeniert,94 behandeln zwar auch die Trionfi das Verhältnis von Zeit und

91 Cf. Goffis (1951, 54). 92 Cf. in diesem Zusammenhang den bei Mazzotta (2009, 185–186) vorgenommenen Kontrast zwischen der religiös-theologisch konturierten Beatrice Dantes und der Laura Petrarcas, die stets die Dimension der ästhetischen Selbstreflexion in seine Texte bringt. 93 Cf. dazu ausführlich den Forschungsüberblick bei Huss (2015, 137–140). 94 So Chiavacci Leonardi, «Introduzione al Canto XXX» des Purgatorio (vol. 2, 877, cf. ibid., 875).

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Ewigkeit, auch sie verschränken diese beiden Dimensionen ineinander, doch das menschliche Übersteigen jener Grenze vollzieht sich nicht ‚konkret‘. Petrarca kennt das trasumanar nur als Bewegung der Sehnsucht: Nichts ist dafür typischer als die Tatsache, dass die ‚Visionsgewissheit‘ des erlebenden Ich vom erzählenden Ich des TE plakativ revidiert wird.95 Der vorsichtige Rückzug Petrarcas auf eine Traumsituation, die sehr viel deutlicher und großflächiger ausformuliert ist als die Traumthematik bei Dante,96 ebenso wie der vorsichtige Gebrauch der Konjunktive und Futura bei der grammatikalischen Ausformulierung des Jenseits97 signalisieren eine Bewusstheit Petrarcas von der häretischen Gefahr, die Dantes dichterischem Ausgreifen in Gottes Bereich seit je eignete. Die gesamte Sprach-, Zeit- und Jenseitskonfiguration der Trionfi nimmt Petrarca ‚mit einem augustinischen Vorbehalt im Kopf‘ vor, der sich gegen die Möglichkeiten der Behauptung des Weltlichen und Zeitlichen und gegen die Möglichkeit eines schlüssigen Entwurfs des Überzeitlichen in Denken und Rede des Menschen richtet.98 Wenn auch dieser Vorbehalt von Petrarca immer wieder überspielt wird und Petrarcas ganzes Schreiben auch als ein Versuch seiner Überwindung gelten kann, ist Petrarca doch in mehrfacher Hinsicht religiös ‚orthodoxer‘ als Dante.99 Die dichterische Konzeption der angebeteten Dame ist letztlich eine Kontestation von Dantes Beatrice zwischen Vita nova und Commedia: Petrarca hält sich in den Trionfi mit ihrer ‚augustinisch purgierten‘ Fassung der Laura-Liebe betont auf Distanz zu jeder heterodoxen, sakralisierenden Überhöhung der Geliebten:100 Laura ist nicht in theologischer Mission unterwegs, sie ist keine Mittlerin göttlicher Gnade oder ein sonstiges Bindeglied zu einer verlässlich erreichbaren Transzendenz. Laura ist schlicht Laura,101 dagegen ist (wie insbesondere die Mariencanzone am Schluss des Canzoniere klar macht) die wahre Beatrice («vera beatrice», RVF 366.52) die Gottesmutter Maria und kein Geschöpf Dantes.102 Die Minnedame Laura wird in den Trionfi fern

95 Cf. bes. TE 25–33 gegen TE 64–69 und dazu Huss (2015, 135–136, 152). 96 Cf. Kapp (2009, 15); Regn (2014, 271). 97 Cf. Waller (1978, 173) und Waller (1980, 125–126) zu TE 64–67; cf. TE 28–33; Huss (2017, 195). Siehe ferner allg. Smurthwaite (1987, 22): «Petrarch situates his paradisiacal locus in a realm of language – words, syntax, grammatical relationships. [. . .] Petrarch draws attention to this theme by alluding to and amplifying one of Augustine’s discussions of the relationships between time, memory and expectation, and language». 98 Cf. dazu ausführlich Huss (2015, 121–154) und Huss (2017, 187–226). 99 Cf. in dieser Hinsicht bezüglich des Canzoniere Regn (2015/Hermeneutik, 153). 100 Diese hat Dante insbesondere in der Vita nova betrieben und in der Commedia dann zu Teilen zurückgenommen, cf. Regn 2015/Hermeneutik, 143–144 et passim. 101 Cf. Petrie (1985, 143). 102 Cf. Cachey (2009, 9–10); Mazzotta (2009, 183).

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von jedem Verdacht einer Christologisierung gehalten,103 und zwar signifikanterweise trotz der auffälligen, vollständigen Absenz Christi selbst im TE.104 Laura ist Anlass und Chiffre für die Kontrastierung der beiden Sehnsuchtsräume und für die Betonung der Lücke zwischen ihnen, die nur imaginativ überwunden werden kann; sie dient nicht wie Beatrice als Mittlerin des Übertritts zu einer konkret erfahrenen, in ihrer Struktur erkennbaren jenseitig-überweltlichen Realität.105 Petrarca enthält sich mithin in den Trionfi der von Dante so vielschichtig betriebenen Analogisierung der Geliebten mit Christus. Er verzichtet auch – sehr augenfällig gerade angesichts der Insistenz auf Lauras körperlicher Wiederauferstehung – auf jede Erotisierung des Himmels, wie er sie im Canzoniere noch als verlockendes Problem verhandelt hatte.106 Petrarcas Trionfi sind letztlich theologisch bedenkenvoller als die Commedia und sie sind aus einer ‚augustinischen‘ Warte religiös auch gewissermaßen ernsthafter. Eine Selbsterhöhung wie die Dantes als eines Dichters der Offenbarung107 wird von Petrarca gerade angesichts der jenseitigen Thematik der Trionfi geradezu plakativ vermieden. Diese religiöse Skrupulosität macht es durchaus schwierig, die Trionfi im Kontrast zu Dante klischeehaft als «Legitimierung der Neuzeit» und «Triumph der Neuzeitlichkeit»108 einzuordnen. Scheinbar griffige Antithesen wie mittelalterlich vs. frühneuzeitlich (rinascimental), alt vs. neu, unmodern vs. modern greifen nicht, um das Verhältnis zwischen Dante und Petrarca angemessen zu beschreiben. Etwas holzschnittartig formuliert scheint der Kontrast zwischen beiden (und damit auch die Möglichkeit einer petrarkischen Selbstermächtigung unter dem Vorzeichen der Korrektheit in rebus theologicis) darauf zuzulaufen, dass Dante der dichterische Offenbarer und Prophet eines Glaubens der Zuversicht ist (Beatrices grüne Augen der Hoffnung stehen dafür emblematisch), während Petrarca der poetische Grübler eines

103 Deswegen kann ihr finaler Triumph auch kein Triumph Christi sein, cf. Smurthwaite (1987, 17, 25–26). Im Canzoniere hatte Petrarca die Gleichsetzung der Laura mit Christus betrieben und zugleich «als Irrweg des Liebenden kenntlich gemacht» (Regn 2015/Hermeneutik, 152, cf. ibid., 146–155); in den Trionfi wird diese Gleichsetzung dezidiert vermieden. Auch dies arbeitet einer ‚orthodoxen‘ Selbstkontrastierung mit Dante zu. 104 In den Trionfi wird lediglich der «sepolcro di Cristo» kurz erwähnt (TF 2.144). Cf. Waller (1978, 180–181), die diese Absenz in zugespitzter Weise benennt: «The absence of the architects and defenders of the Christocentric model signals the absence [. . .] of the model itself» (180; so auch Waller 1980, 131); dazu Sturm-Maddox (1990, 123, 133 Anm. 19). Siehe ferner Goffis (1951, 39, 46). 105 Cf. in diesem Sinne zu Beatrice Pertile (1988, 101 u.ö.). 106 Cf. ausführlich Regn (2015/Eros). 107 Cf. dazu Kablitz (2013, 167–203) sowie ergänzend Nelting (2015, 75–95). 108 Dies die Formulierungen bei Stierle (2003, 693 und 709); cf. dazu Huss (2015, 138).

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«Glaubens der Verzweiflung»109 genannt werden kann, der die Frage nach der Wahrheit kompliziert werden lässt und den Weg zu ihr hin ostentativ immer wieder selbst verstellt. Symptomatisch hierfür ist, dass im Kontrast zu ‚Dantes‘ gegenüber Beatrice im irdischen Paradies ‚objektiv‘ abgelegter Beichte110 die ‚augustinische‘ Selbstzuwendung an das eigene Selbst (bzw. das eigene Herz) zu Beginn des TE, die Petrarcas Zuversicht in Gottes Ratschluss und zugleich sein explizites Bereuen ausdrücken soll,111 nur zum Zweifel an der Beständigkeit und Sinnhaftigkeit des Irdischen und zur vermutungsweisen Vision eines der Zeitlichkeit enthobenen Jenseits führen kann und nicht zur ‚objektiven‘ Schau desselben. Das Vakuum, das dadurch entsteht, füllt Petrarca durch die Evokation der Thematik seines Dichtens, und diese Kompensation eines Ausfalls der Ewigkeitsgewissheit durch den Wunsch nach dem Überdauern der Produkte der eigenen dichterischen memoria ist es allenfalls, das auf den ersten Blick ‚häretisch‘ wirken könnte.112 Auch diese Projektion ist aber in einem imaginativen Modus eingefangen, und dieser Modus ist bedingt durch den subkutan allenthalben wirksamen ‚augustinischen Vorbehalt‘ Petrarcas. Der ‚klassische Humanismus‘, den Petrarca in den Trionfi durch die Heraufbeschwörung antiker Kulturchronotopoi propagiert, ist nur die kompensierende Kehrseite seines Augustinismus, soll heißen: seiner Überzeugung von der inhärenten Sündhaftigkeit des postlapsalen Menschen.113 Ein allerdings erwünschter Effekt der vermeintlich nur eruditen Ein-

109 Cf. Moevs (2009, 242–245). 110 Purg. 31.34–36; cf. natürlich den gesamten Kontext der umgebenden Gesänge, der weiter oben nur kurz skizziert werden konnte. 111 «Da poi che sotto ‘l ciel cosa non vidi / stabile e ferma, tutto sbigottito / mi volsi a me [‚augustinische‘ Autorenvariante: «mi volsi al cor»], e dissi: ,In che ti fidi?‘ / Risposi: ,Nel Signor, che mai fallito / non à promessa a chi si fida in lui. / Ma ben veggio che ‘l mondo m’à schernito, / e sento quel ch’i’ sono e quel ch’i’ fui, / e veggio andar, anzi volare, il tempo, / e doler mi vorrei, né so di cui, / ché la colpa è pur mia, che più per tempo / deve’ aprir li occhi, e non tardar al fine, / ch’ a dir il vero, omai troppo m’attempo. / Ma tarde non fur mai gratie divine; / in quelle spero che ‘n me anchor faranno / alte operatïoni e pellegrine.‘ / Così detto e risposto. Or, se non stanno / queste cose che ‘l ciel volge e governa, / dopo molto voltar, che fine avranno? / Questo pensava; e mentre più s’interna / la mente mia, veder mi parve un mondo / novo, in etate immobile ed eterna, / e ‘l sole e tutto ‘l ciel disfar a tondo / con le sue stelle, anchor la terra e ‘l mare, / e rifarne un più bello e più giocondo» (TE 1–24). 112 So bspw. Smurthwaite (1987, 17). 113 So Lerner (1986, 224, cf. ibid., 223–224 et passim) zum petrarkischen Konnex von Augustinismus, Pessimismus und ‚humanistischer‘ Schriftstellerei. Sehr evident wird hier, wie sich die Distanznahme von Dantes metaphysischem Optimismus über die Trionfi hinaus durch das gesamte Textschaffen Petrarcas zieht.

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spielung der Antike114 ist, dass über die memoriale Evokation und Integration des für den Humanismus maßgeblichen antiken Erbes115 eine Alternative zu den von Dante aufgezeigten epistemischen Möglichkeiten von Literatur eröffnet wird. Vor diesem Hintergrund fallen Petrarcas selbstermächtigende Strategien der Singularisierung ambivalent aus. Zum einen ist Petrarca in seinem weltlichen Tun (und dies nun in charakteristischem Widerstreit mit den Positionen des ‚Augustinus‘ des Secretum meum) nach Ausweis seiner eigenen Texte und auch der Trionfi der ‚große Autor‘, der auch gegenüber der mit ihm in TM 2 dialogisierenden Laura für seine Texte letztlich selbstverantwortlich (ohne eine wie bei Dante ‚theologische‘ Autorisierung und Beauftragung) zuständig ist. Petrarca bedarf der Laura in der Situation der Begegnung mit ihr nicht als einer Führerin (wie Dante Beatrices bedarf); besonders gegen Ende der Trionfi ‚führt der Autor selbst‘ und bestimmt signifikanterweise auch darüber, welche Elite in die Ewigkeit Einzug halten darf116 – es ist die Elite derjenigen, über die er selbst geschrieben hat und in den Trionfi schreibt. Die Trionfi sind von einem Autor verantwortet, der sich eher ‚individualistic‘ als ‚societal‘ geriert.117 Zum anderen aber vermeidet Petrarca eine danteske Anmaßung, das Individuelle in heilsgeschichtlicher Dimension auf das Universale zu überspielen.118 Es findet bei Petrarca keine ‚Sodalisierung des Ich mit den anderen auf höherer Ebene‘ statt, in der das Ich seine Bedeutung augenscheinlich hinter die Tatsache zurücknähme, selbst nur einen paradigmatischen Fall der Menschheitsgeschichte darzustellen.119 Anders als Dante wird Petrarca nicht «vom Exemplar zur Gattungsidee».120 Petrarcas Ich bleibt nicht nur als Liebender,121 sondern gerade

114 Cf. gegen das Missverständnis einer puren Ostentation von Erudition in den Trionfi ausführlich Huss (2015, 121–154). 115 Cf. dazu Smurthwaite (1987, 17); Kuon (2004, 18); Kapp (2009, 17). Siehe in diesem Kontext ferner Bernardo (1990, 36), der Petrarcas ‚christlichen Humanismus‘ mit Dantes ‚christlicher Offenbarung‘ konstrastiert, sowie Finotti (2009, 68) mit der These, Petrarca invertiere in der humanistischen Dimension der Trionfi das memoria-Konzept Dantes. 116 Cf. zur «elite eternity» (oder «patrician eternity») des TE treffend Bernardo (1990, 42). 117 Cf. zu dieser Antithese bezüglich Petrarcas Trionfi (in Kontrast zu Dantes Commedia) Bernardo (1990, 41); cf. in diesem Zusammenhang ergänzend zu Dante Lanza (1967, 1231). 118 Zu widersprechen wäre in diesem Kontext Barański (1990, 65) und Sturm-Maddox (1990, 131–132). 119 Die «perspective philosophique», aus der die Trionfi «l’histoire d’un homme» erzählen, führen pace Bartuschat (2011, 270–271, Zitate dort 270) anders als bei Dante nicht zur Eröffnung einer kollektiven Geltungsdimension der Protagonisten-Geschichte der Trionfi. 120 So Wehle (2003, 54) über den Dante der Commedia. 121 Wie Giacomo Leopardi gut gesehen hat, sind auch die vermeintlich allgemeingültigen, allegorischen Valenzen der Trionfi stets auf den partikulären Casus Petrarca-Laura rückbezogen. Leopardi spricht von «visioni rappresentative dei casi di Laura e di esso poeta secondo che nell’uno o nell’altra in diversi tempi trionfarono, cioè signoreggiarono, l’Amore, la Castità, la

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auch als figura auctoris in seiner Größe allein,122 und diese Einsamkeit hat nicht nur die Konnotate von Großartigkeit, sondern auch die einer Vereinzelung, die epochal bedingt sein dürfte und ein epistemisches Unbehagen verrät (von dem viele Texte Petrarcas immer wieder künden). Gerade unter dem Druck dieses Unbehagens legen es die Trionfi freilich darauf an, die Laura-Liebe metaphysisch zu salvieren, und nicht das geringste Ziel der Triumphzüge ist es, in Dantes Angesicht eine Heilung der Fragmentarizität des Canzoniere zu betreiben: Wo nicht in formaler, so doch in moralischer Hinsicht gelingt Francesco hier in den Trionfi, was das Secretum meum als das Ziel seines Schaffens und seines Lebens verkündet hatte: Er sammelt die verstreuten Bruchstücke seiner Seele auf und fügt sie zu einem neuen Ganzen.123

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Bernhard Huss

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Florian Mehltretter

Autorität und Nachfolge Zur enzyklopädischen Dichtung post Dantem (Fazio degli Uberti, Federico Frezzi, Giovanni Gherardi da Prato)

0 Bis heute provoziert Dante Alighieris kühne Selbststilisierung als prophetischer Autor und erwählter Himmelswanderer seine Leser, und erst kürzlich hat die Medizin eine These vorgebracht, mit der ihre Verfasser glauben, das Skandalon naturalisieren zu können: Wie The Lancet Neurology berichtet, zeigt der Text der Göttlichen Komödie Symptome von Narkolepsie.1 Dass auch schon das Jahrhundert unmittelbar nach Dante mit dessen Techniken der Selbstautorisierung als Dichter-Seher seine Schwierigkeiten hatte, ist eine der Hypothesen dieses Artikels. Dabei will ich mich bei Autoren umsehen, die in gewisser Weise in seinen Fußstapfen wandeln und sich daher besonders für die Bedingungen und Möglichkeiten von Dantes Schreibweise interessieren mussten: Dantes enzyklopädisches Epos ist nämlich diskursbegründend für die Gattung des volkssprachlichen Lehrgedichts in Terzinen (einem von ihm entwickelten Versmaß). Es ist diskursbegründend und doch im selben Moment auch schon wieder diskurs-schließend: Denn Dante präsentiert sein Erlebnis und seinen Text als einzigartige Gnade und einzigartige Errungenschaft. Insofern dürfte es das Phänomen, um das es uns gehen wird, eigentlich gar nicht geben: Dichtung in der Nachfolge der Commedia. Das Singuläre fortzuschreiben, ist selbst unter den Auspizien einer imitatio-Poetik eine schwierige Option. Dies betrifft auch und gerade die für Dante zentrale Frage der poetischen Selbstautorisierung, die ich im Folgenden anhand zweier enzyklopädischer Terzinengedichte (von Federico Frezzi und Fazio degli Uberti) diskutieren will – nicht ohne einen kurzen Seitenblick auf zwei diesen vorausliegende kleinformatigere, aber wichtige ebenfalls terzinenförmige Reaktionen auf Dantes Gedicht, eine aus der Feder Boccaccios, eine aus derjenigen Petrarcas. Gewissermaßen als Kontrolldatensatz nehme ich noch ein in der Tradition von Boccaccios Decameron stehendes Prosawerk mit ähnlich enzyklopädischem Anspruch von Giovanni Gherardi da Prato hinzu. Alle drei Werke beschreiben wie Dantes Weltgedicht eine Erkenntnisreise. Meine These wird sein, dass die Dante-

1 Cf. Galassi/Habicht/Rühli (2016, 245). https://doi.org/10.1515/9783110686609-004

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Florian Mehltretter

Nachfolge in diesen Fällen nicht, wie von der Literaturgeschichtsschreibung angenommen, bloße Nachahmung, sondern konfrontativer Dialog ist; und dieser bezieht sich teils ganz präzise auf die Problematik der Selbstautorisierung.

1 ‚Selbstautorisierung‘ soll im vorliegenden Zusammenhang ein Begriff der Beschreibungsebene sein, der einen Vorgang aus einer Beobachterposition erfassen will, nicht aus der Position des je Handelnden selbst: Aus der Innenperspektive des handelnden Subjekts mag es sich um Autorisierung durch andere, etwa göttliche Autorisierung, handeln. Für den modernen Beobachter ist das aber nicht überprüfbar und vielleicht auch nicht nachvollziehbar; wir erkennen nur, dass die Autorisierung in einem Text behauptet, inszeniert, impliziert oder suggeriert wird, und betrachten sie als ‚fingiert‘ (aber nicht ‚fiktional‘, also nicht im Rahmen einer spezifischen Fiktionalitätspragmatik als ‚für wahr‘ nehmbare, aber von der Wahrheitsverpflichtung freigestellte Assertion). Mag Dante auch geglaubt haben (oder aber täuschend vorgeben), er sei von Gott erwählt, vom Standpunkt des modernen Beobachters autorisiert er sich selbst, indem er dies erzählt. Etwas anders liegen die Dinge bei Petrarcas Cantio cum auctoritate (cf. den Beitrag von Andreas Kablitz in diesem Band). Hier wird die Autorisierung durch Einreihung des eigenen Werkes in eine Filiation kanonisierter Texte suggeriert. Dabei wird so getan, als liege der Akt der Autorisierung dem Text irgendwie schon voraus, ohne dass die handelnden Subjekte genannt werden. Am Anfang von Dantes Paradiso begegnet schließlich so etwas wie eine poetisch-performative Selbstautorisierung, die aber nicht auf einer zeitgenössisch etablierten Pragmatik basiert, sondern die Suggestion von Autorität auf poetische Weise durch eine Inszenierung des Motivkomplexes des Lorbeers und der Dichterkrönung erzeugt. Im Folgenden meint demnach Selbstautorisierung keinen im Zeithorizont der Objektebene möglichen regulären performativen Sprechakt, der dort eine ihm spezifische Pragmatik haben würde (‚hiermit autorisiere ich mich selbst‘); vielmehr drückt der Begriff eine Beschreibung und Bewertung eines assertiven Sprechaktes durch einen Beobachter aus (‚wenn Dante sagt, er sei von Gott für seine Reise erwählt, so erzeugt er im Text selbst die Voraussetzungen von dessen Autorität‘) oder eben einer poetischen Suggestion. Obwohl also Selbstautorisierung nicht im erwähnten Sinne ein geregelter Sprechakt ist, hat er doch Gelingensbedingungen: Dazu gehören ein bestimmter historisch spezifischer Umgang mit Texten (‚Autoritäten‘), ein weltanschaulicher Rahmen, vielleicht auch Instanzen, Präzedenzfälle der göttlichen Ermächtigung zu prophetischer

Autorität und Nachfolge

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Rede oder auch Präzedenzfälle der Kanonisierung philosophischer oder poetischer Autoritäten, die sich vorzugsweise in Texten dokumentieren.2 Über Dantes Selbstautorisierung in der Commedia ist schon viel gesagt worden; ich verweise auf die grundlegenden Arbeiten von Regn (2007), Ascoli (2011), Kablitz (2013) und Nelting (2015). Ich will nur als Ausgangspunkt für meine Überlegungen einige wenige Aspekte resümierend nennen: Mit Nelting (2015) könnte man die wichtigsten Autorisierungsgesten in der Commedia in solche der Solidalisierung und solche der Singularisierung einteilen. Dante reiht sich im vierten Gesang der Hölle in die solidalitas der antiken auctores ein. In den letzten Gesängen des Fegefeuers wird er in die Gemeinschaft der Ecclesia und – zumindest auf einer suggestiven Ebene – auch der biblischen Autoren aufgenommen. Zugleich ragt er aber aus diesen Gemeinschaften auch dezidiert heraus: als Erwählter, der die Jenseitsreise überhaupt antreten darf; als Erlöster, der den paganen Autoren der Antike durch den christlichen Glauben überlegen ist; als Prophet, der im irdischen Paradies von Beatrice beauftragt wird, das Geschaute in schriftlicher Form zu verkündigen (Purg. 32.105) und in diesem Zusammenhang auch namentlich im Text genannt wird (Purg. 30.55).3 Auch außerhalb dieser Episode des Schreibauftrags bedient sich Dante in der Commedia eines gewissermaßen ‚prophetischen Modus‘, der teils in Voraussagen im engeren Sinne von Prophetie (wie Jesaias Messiasprophezeiung, vom Aussagetypus: ‚es wird geschehen‘), teils in drohenden oder kontrafaktischen Bedingungssätzen (wie diejenigen des Propheten Elias, vom Typ: ‚wenn ihr nicht umkehrt, dann‘), teils auch in der Schau überzeitlicher Zustände besteht (wie die sogenannte Merkaba, die Thronwagenschau des Ezechiel, auf die auch Dante selbst in Purg. 29.100 Bezug nimmt). Hinzu kommen so etwas wie ein prophetenhafter Habitus, sybillinische Verschlüsselungen und natürlich die bereits erwähnte Begründungsform prophetischer Autorität, die auf die Gnade der Erwählung selbst rekurriert.4 Dabei ist zu beachten, dass Dante sich nicht lediglich als Subjekt einer Schau, gar einer Traumvision wie sie einige Jahrzehnte vor ihm der Rosenroman vorstellte, in das von ihm durchwanderte Jenseits einschreibt, sondern im Gegenteil mit seiner körperlichen Existenz und Biographie, denn er suggeriert (den Schlüssen von The Lancet zum Trotz) immer wieder, er habe die Reise

2 Dieser Abschnitt antwortet, Anregungen aufgreifend, auf verschiedene Diskussionsbeiträge im Zusammenhang des Aachener Kolloquiums, auf dem der vorliegende Text vorgestellt wurde, und zwar solche von Andreas Kablitz, Gerhard Regn, Bernhard Huss und David Nelting. 3 Alighieri (1991). 4 Ich danke Andreas Kablitz für den Einwand, die prophetische Rede als Voraussage nehme nur einen geringen Teil der Commedia ein, und Gerhard Regn in Reaktion darauf für den Terminus «prophetischer Modus».

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nicht in narkoleptischer Trance geträumt, sondern tatsächlich und leiblich angetreten.5 Zudem bringt er in der Cacciaguida-Episode des Paradieses seine (wie auch immer stilisierte) Familiengeschichte mit ein. Beides trägt zur Individuierung des Autors als Person nicht unwesentlich bei. Hinzu treten zwei weitere Verfahren: Zum einen eine agonale Selbstautorisierung im Hinblick auf Vergil. So schließt sich Dante zwar seiner Autorität Vergil als Führer durch die Hölle und dessen Aeneis als Prätext einer Katabasis an, holt ihn aber in den erzählten Begebenheiten zusehends ein, emanzipiert sich von ihm, übertrifft ihn vielleicht gar in seinem Verständnis des Jenseitigen. Das andere Verfahren ist, wie oben schon angedeutet, performativer Art und betrifft die von Kablitz (2013) erschlossene christliche Poetik Dantes und näherhin das von Regn (2007) herausgearbeitete komplexe Verhältnis von prophetischer und im antiken Sinne poetischer Inspiration, insbesondere am Anfang des Paradieses: Hier wird (unter christlichen Vorzeichen) der dichterische Lorbeer im antiken Sinne quasi herbeigeredet, wenngleich ihn in der geschichtlichen Wirklichkeit dann nicht Dante, sondern erst Petrarca auf dem Kapitol erhalten hat. Damit bin ich bei den wenigen Bemerkungen, die ich über Petrarca und Boccaccio, die anderen beiden italienischen Klassiker, welche sich in die Diskurstradition der lehrhaften Terzinendichtung eingeschaltet haben, in diesem Zusammenhang machen muss. Da dieses Geschehen dialogischer Natur ist, und in einem Dialog die Reihenfolge der Repliken relevant ist, räume ich hier dem etwas jüngeren Boccaccio den Vortritt ein. Boccaccio schrieb ungefähr 20 Jahre nach Dantes Tod, etwa 1342/43, ein Terzinenepos lehrhaften Inhalts, das jedoch an Umfang und Anspruch wohl bewusst hinter der Commedia zurückstehen will: die Amorosa Visione. Für unsere Zwecke ist wichtig, dass Boccaccio dezidiert zum Traum-Modus zurückkehrt, wie ihn etwa der Roman de la rose einsetzte und wie ihn Dante gerade nicht übernahm. Boccaccio stellt, wenn er auch in dantesken Terzinen schreibt, dem dantesken Werk mit dem Rosenroman einen konkurrierenden enzyklopädischen Prätext anderen Metrums und aus einer anderen Sprache an die Seite und unterläuft mit dem von diesem übernommenen Traumgesicht gerade den für Leser aller Zeiten schwer verdaulichen Anspruch Dantes, er habe das Berichtete nicht geträumt, sondern körperlich erlebt.

5 Ich danke Bernhard Huss für die Präzisierung, dass die Oppositionen Fiktionalität/Faktualität und Traum/Wirklichkeit nicht zusammenfallen und der Traum sogar als solcher faktual sein kann, sowie Andreas Kablitz für den Hinweis, dass die wirklich relevante Trennlinie zwischen der Gewichtung des Literalsinns als Sinnebene eigenen Rechts bzw. sogar als sensus historicus einerseits und der radikalen Allegorese andererseits liegt, welche dem wörtlichen Sinn kein Gewicht mehr einräumt. Nochmals auf einer anderen Achse freilich liegt die Frage der Wahrheit oder der Geltung.

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Dagegen setzt Boccaccio eine durch Amor vermittelte Schau der Wege von Tugend und Laster in der Welt. Diese Schau kehrt überdies entschieden zu jener allegorischen Darstellungsweise zurück, die Dante nach dem ersten Höllengesang abgelegt hatte. Zwar schreibt sich auch Boccaccio durch die Widmung an seine unter dem senhal Fiammetta bekannte Dame mehr oder weniger biographisch in den Text ein, aber er vermeidet die Authentizitätssuggestion und den Erwählungsanspruch Dantes. Literarhistorisch folgenreich ist eine besondere Steigerung, die diese Tendenz zur Rücknahme des Faktizitätsanspruchs in Boccaccios sechstem Gesang erfährt: Dort träumt das Ich von einem Saal, an dessen Wänden prächtige Fresken zu sehen sind. Eines davon stellt den Triumph der Gloria dar, der im Text ekphrastisch und allegoretisch dargelegt wird. Das Geschaute wird also als Traum von einem Bild, das selbst wieder eine Allegorie ist, enteigentlicht. Möglicherweise war es diese Idee des Triumphfreskos, die Petrarca – je nach der für plausibler gehaltenen Datierung – entweder ungefähr ein Jahr oder aber ein knappes Jahrzehnt später in seinen Triumphi aufgriff. Auch Petrarcas Ich träumt, aber es träumt nicht mehr von einem wiederum bildkünstlerisch dargestellten Triumph, sondern von einem direkt geschauten, dem Triumph Amors. Sein allegorisches Lehrgedicht ist ebenfalls in Terzinen abgefasst und stellt, ausgehend vom Triumphzug Amors, einen Reigen von Siegen allegorischer Figuren über die jeweils vorhergehende dar: Die Keuschheit triumphiert über die Liebe, wird aber vom Tod besiegt; den Tod überwindet die Fama, die aber der Zeit zum Opfer fällt; diese schließlich wird von einer christlich gedachten Ewigkeit überwunden. Sowohl Boccaccio als auch Petrarca positionieren sich also als inspirierte Dichter, aber nicht mehr als Propheten. Sie ersetzen den Wirklichkeitsanspruch Dantes durch eine nur noch im Traum geschaute Allegorie und distanzieren sich dadurch – und durch den geringeren Umfang ihrer Texte – von Dantes umfassender Selbstautorisierung. Dadurch geben sie aber vielleicht auch unter der Hand so etwas wie feineren Geschmack und nüchternere Selbsteinschätzung zu erkennen, im Einklang vielleicht mit ihren frühhumanistischen Tendenzen, welche in der stärkeren Evokation antiken Bildungsguts beider Epen aufscheinen. Zugleich hebeln sie Dantes impliziten Absolutheitsanspruch durch den Aufruf eines zweiten Modelltextes, eben des Roman de la rose, verdeckt aus.

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2 Ganz so subtil sind die Reaktionen der nun im Folgenden näher zu untersuchenden drei Autoren nicht, aber es wird sich zeigen, dass ihre Texte ebenfalls einige der Zumutungen Dantes an seine Leser, nicht zuletzt im Hinblick auf die Problematik der Autorität, identifizieren und bearbeiten und dabei teils wiederum auf Boccaccios und Petrarcas Lösungen reagieren. Möglicherweise gleichzeitig zur Entstehung von Petrarcas Triumphi oder wenig später, etwa zwischen 1345 oder (wahrscheinlicher) 13556 und 1367, schreibt Fazio degli Uberti, wie Dante ein Florentiner im Exil, seinen Dittamondo, ,Dicta Mundi‘ oder auch ,Dictamen Mundi‘, ,Gedicht‘ von der Welt, in dantesken Terzinen, das in mehr als fünfzig Abschriften überliefert ist. Es ist ein Gedicht dezidiert von dieser Welt, eine Reise durch die damals bekannten Länder, auf der alles darüber Wissenswerte gesammelt und einer dichterischen Darstellung zugeführt wird. Sie wird von Anfang an als Antwort auf Dante angelegt, und zwar – wie wir sehen werden – eine Antwort, die sich auch als Alternative zu Boccaccios und Petrarcas Erwiderungen lesen lässt: Der erste Gesang des ersten Buches beginnt mit einigen strategisch platzierten Dante-Anspielungen. Non per trattar gli affanni, ch’io soffersi nel mio lungo cammin, né le paure, di rima in rima tesso questi versi; ma per voler contar le cose oscure ch’io vidi e ch’io udio, che son sì nove, ch’a crederle parranno forti e dure. E se non che di ciò son vere prove per più e più autori, i quai serano per li miei versi nominati altrove, non presterei a la penna la mano [. . .] Ma la lor chiara e vera esperienza m’assecura nel dir, come persone degne di fede a ogni gran sentenza. Di nostra età già sentia la stagione che a l’anno si pon, poi che’l sol passa in fronte a Virgo e che lascia il Leone, quando m’accorsi ch’ogni vita è cassa salvo che quella che contempla in Dio o ch’alcun pregio dopo morte lassa. E questo fu onde accese il disio

6 Cf. hierzu Rombach (2013, 21).

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di volermi affannare in alcun bene, che fosse frutto dopo il tempo mio. Poi, pensando nel qual fermai la spene d’andar cercando e di voler vedere lo mondo tutto e la gente ch’el tene, [. . .] Io era dentro ancor dal mal sentiero per lo qual disviato era ito adesso con gli occhi chiusi e l’animo leggiero, [. . .] Bassava il sol, che s’accendea nel fianco del Montone, onde io, per più riposo, tutto mi stesi sopra il lato manco. Poscia m’addormentai così pensoso ed apparvonmi cose, nel dormire, per che a la mia impresa fui più oso: ché una donna vedea vèr me venire con l’ali aperte, sì degna ed onesta, che per asempro a pena il saprei dire. (Dittamondo I.1-1–48)7

Wie der auctor der Commedia (cf. Inf. 1.8–9: «ma per trattar del ben ch’io vi trovai / dirò de l’altre cose ch’i’ v’ho scorte») möchte auch das rückblickende Ich des Dittamondo das Positive in seinem Text festhalten, das ihm auf seinem schweren Weg begegnet ist, aber es wird schnell klarwerden, dass dieser Weg ein innerweltlicher sein wird. In einem zweiten Schritt wird sodann die Wahrhaftigkeit des Berichts gesichert. Dazu wird aber weder Dantes Argument der gnadenhaften Reise noch eine irgendwie geartete Selbstermächtigung bemüht, sondern es erfolgt durch Berufung auf «più e più autori» (I. 1.8). Deren Autorität wiederum beruht erstens auf Erfahrung, «esperienza», und zweitens darauf, dass sie das Erfahrene glaubwürdig weitergegeben haben, «degne di fede» (I. 1.13–15); sie ist also nicht metaphysischer Natur. Danach erfolgt der Erzähleinsatz mit einer auffälligen Anspielung auf den ersten Vers des Inferno – man beachte die Kombination von Lebensalter und verallgemeinerndem Possessivpronomen in der ersten Person Plural («nostra età» – «nostra vita»), bei Fazio verschränkt mit Dantes bevorzugter Technik der Zeitangabe durch astronomische Konstellationen, die hier freilich (im Gegensatz zu den einschlägigen Stellen bei Dante) nicht auf reale, sondern metaphorische Zeit angewandt wird: Das Ich befindet sich im Hochsommer seines Lebens, also wie bei Dante «nel mezzo del cammin».

7 Hier und im Folgenden zitiert nach Fazio degli Uberti (1952).

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Dieser potentielle Krisenmoment wird durch eine Erkenntnis überwunden: Das Leben ist nur etwas wert, wenn man entweder kontemplativ Gott betrachtet oder aktiv etwas Sinnvolles unternimmt, das der Nachwelt einen bleibenden Wert verschafft. Das Ich entscheidet sich für Letzteres und beschließt, eine Reise zu unternehmen, auf der es die ganze Welt und deren Bewohner sehen und für spätere Leser nutzbringend beschreiben kann. Fazio degli Uberti beschreibt die Wunder dieser Welt in der Absicht, etwas Verdienstvolles und wohl auch Ruhmreiches nach seinem Ableben zu hinterlassen; die spirituelle Fundierung, die bei Dantes Erkenntnisreise eine so große Rolle spielt, tritt hier zurück.8 Diese Passage ist mit gefährlichen Anklängen an Dantes ungesichert säkular neugierigen Odysseus gespickt (cf. Inf. 26.94–98). Sie begründet das Interesse an der Welt im Rahmen einer vita activa und auf gesellschaftlichen Nutzen hin. Die göttliche Gnade, die bei Dante den Unterschied zwischen legitimem und illegitimem Erkenntnisstreben ausmacht, scheint Fazio in diesem Zusammenhang zunächst entbehrlich. Etwas später erfahren wir jedoch im Rückblick, dass diese Erkenntnis dem Ich in einem Traum eingegeben wurde, als er noch auf dem falschen Weg zwischen Dornen unterwegs war (cf. Inf. 1.2–3) und gerade auf der linken, sozusagen falschen, Seite schlief. In dieser misslichen Situation erschien ihm nämlich eine geflügelte Dame, auf deren Krone in klaren Lettern das Wort «virtù» (Tugend) zu lesen war, und ermahnte ihn zum Aufbruch ins aktive Leben; Anklänge an Dante kann man auch hier finden (cf. Purg. 28.37–40; Purg. 30.31–32). Und auch vor den Fallen, denen Odysseus nicht entging, warnte ihn die Tugend. Soweit der Rückblick. Mit diesen Fällen ist nun allerdings nicht wie bei Dante die rein weltliche Neugier gemeint, sondern die Sinnlichkeit, der Odysseus bei Circe verfiel. Dies zeugt vielleicht einerseits von einer präziseren Kenntnis des griechischen Mythos als wir sie Dante zuzuschreiben gewohnt sind – einer präziseren Kenntnis, die gerade die Jahrzehnte zwischen Dantes Tod und Fazio erbracht haben können; es zeugt aber auch von weltanschaulichen Veränderungen: Ein Stück weit scheint hier jene Neuzeit angebrochen, die manche Interpreten so gerne dem dantesken Odysseus zuschreiben möchten. Aber sie ist wohl immer noch nicht ganz angebrochen, denn im zweiten Gesang muss der Wanderer dann doch noch in einem Gebet um Gnade bitten. Er

8 Andreas Kablitz wies in der Diskussion darauf hin, dass in dieser Hinsicht der Dittamondo nicht nur mit der Commedia, sondern auch mit deren Prätext, dem Tesoretto Brunetto Latinis, dialogisiert. Wo Brunetto die Ordnung der Natur an der Hand von Dame Natura nur erkennt, wird sie bei Dante als Schöpfung begriffen und auf ihren Urheber transparent gemacht. Dies wird bei Fazio wieder gestrichen und durch eine Darstellung von Mirabilia ersetzt, die letztlich im Dienste des Nachruhms des sie verfassenden Autors steht.

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begegnet sodann einem Einsiedler, dessen bleiches Antlitz ein wenig an den Anblick von Dantes Vergil am Anfang des Inferno erinnert, und beichtet vor ihm. Nach Warnungen vor der Hexe der Bequemlichkeit und des Wohllebens (Cap. 4), die an Dantes Sirenentraum im Purgatorio erinnern, bricht der Wanderer auf und begegnet zunächst einem antiken Autor, der ihn in die Kosmologie einweist: Ptolemäus. Danach trifft er auf den eigentlichen Führer seiner Reise – einen weiteren Autor der Antike, der dann die Position von Dantes Vergil einnimmt: Es handelt sich um den Polyhistor Solinus, der im 4. Jahrhundert nach Christus seine Collectanea rerum mirabilium schrieb. Diese sind denn auch der Intertext für die Weltreise des Erzählers. Es wird dabei nicht verhohlen, dass es sich um eine Lektürereise, einen Fall von armchair travelling, handelt, so wie auch ein skeptischer Danteleser das Inferno als christlich-philosophische Lektürereise durch Vergils Unterwelt begreifen könnte. Wie schon Dante, greift dabei auch Fazio über den Horizont seines Prätextes hinaus: Er integriert Kosmologie und Heilsgeschichte darin (etwa die Völkertafel aus Genesis 10 in I, Cap. 6); in der Erzählung der Dame Roma (I, Cap. 12) werden heidnische und christliche Geschichte synchronisiert. Bei allen in den obigen Abschnitten von mir als dialogische Bezugnahmen auf Dante interpretierten ‚Anklängen‘ muss man freilich immer (und ich danke Gerhard Regn für diesen Einwand) kritisch abwägen, ob es sich nicht um rein sprachmaterielle Übernahmen handeln könnte. In dem vorliegenden Fall würde ich anführen, dass die kontextuellen Rahmen von Hypo- und Hypertext in hohem Maße vergleichbar sind; und immer wenn dies gegeben ist, rufen auch rein sprachmaterielle Übernahmen Analogie-Erwartungen beim Leser hervor, die vielleicht (wie hier) auch enttäuscht werden; in dieser ‚Enttäuschung‘ wird Differenz greifbar. Selbst dort, wo der neue Text vielleicht nicht dialogisch auf den Prätext Bezug nehmen ‚soll‘ (über eine Intention oder ihre Abwesenheit will ich gar nicht spekulieren, sie dient hier nur dem Argument), kann durch Formulierungsähnlichkeiten in stark vergleichbaren Kontexten eine Differenz manifest werden, die dann gar nicht anders kann als den Lektürevorgang zu prägen. Für unser Interesse wichtig ist, dass auch im Dittamondo ein Schreibauftrag erteilt wird, und zwar durch Solinus selbst: «E tu com’io tel conto tal lo scrive» (I. 7.91) heißt es mit Anklang an Dantes «fa che tu scrive» von Purg. 32.104–5.9 Im Unterschied zu Dante soll aber Fazios Wanderer an dieser Stelle nicht aufschreiben, was er selbst sieht, sondern was Solinus ihm erklärt. Autorität wird

9 Am Ende von I, Cap. 14 wird der christlich-moralische Sinn der Geschichte Gegenstand eines Schreibauftrags: «Ben vo che noti e scrivi, figliuol mio, / e per Priamo facci di ciò prova, che contro a l’ira e’l giudicio di Dio / ricchezza, senno e franchezza non giova» (I. 14.90–94).

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nicht erteilt, sondern vorgesetzt. Dennoch wird etwas später die Fiktion weiter verfolgt, der Dittamondo beruhe auf einer empirischen Überprüfung dessen, was die Autorität sagt, so am Anfang von Cap. 11: «In breve assai t’ho chiaro discoperto / del mondo l’abitato e come giace, / benché’l veder te ne farà più sperto» (I. 11.1–3). Auch hier wird durch die Form «sperto» in der Nähe von «mondo» Dantes Odysseus-Episode aufgerufen (cf. Inf. 26.98: «ch’i ebbi a divenir del mondo esperto»); aber das dort behandelte Problem scheint verschwunden. Der Rest des ersten Buches behandelt die Weltgeschichte von Rom aus gesehen, das zweite führt diese fort (in II, Cap. 12 wird auf den Spuren Dantes die Konstantinische Schenkung als einer der drei Gründe für den Abstieg Roms genannt). Über Theodosius und Theoderich, die 1100 Jungfrauen von Köln (II, Cap. 15), Merlin, Artus, Justinian (II, Cap. 16) gelangen wir zu Mohammed, «che profeta s’infinse» (II. 17.18), Konstantin, Pippin, Karl dem Großen, den Ottonen, dem I. Kreuzzug, Friedrich Barbarossa, Friedrich II (der positiver dargestellt wird als bei Dante), Farinata degli Uberti (einem Vorfahren des Autors, der bei Dante in der Hölle sitzt), Dantes großer Hoffnung Heinrich von Luxemburg, der als Dantes veltro identifiziert wird (II. 30.55), dann zu Ludwig dem Bayern und in die heruntergekommene Gegenwart Roms, zwischen den Ruinen großer Vergangenheit (II, Cap. 31). Am Ende des zweiten Buches schreibt Fazio sich in den Text ein, und zwar in der Replik des Wanderers auf die Frage nach seinem Namen: «Madonna, rispuos’io, l’antico Fazio [. . .] mi die’ il suo nome» (II. 31.106–109). Erst im dritten Buch wird wirklich die Welt auf den Spuren von Solinus’ Mirabilia durchwandert. Hier ist wichtig, dass an der Grenze zwischen Mazedonien und Thessalien (wo der Text einen kurzen Abschnitt in griechischer Sprache bringt: III. 23.28–39) der Wanderer sich nochmals mit starken Dante-Anklängen vorstellt: Io mi son un che vado pellegrino cercando il mondo, per essere sperto d’ogni sua novità e qui non fino. (III. 23. 76–78)

Der Bezug geht nun auf Dantes poetologische Selbstbeschreibung in Purg. 24 zurück, dessen Formel «Io mi son un» zitiert und wiederum mit einer Anspielung auf «del mondo esperto» in der Odysseus-Episode kombiniert wird; dies wird nun aber abgesichert durch die Hoffnung auf «grazia» (III. 23.95), welche sich freilich auf das Gelingen, nicht auf die Legitimität der Reise richtet. An diesem Punkt setzt das vierte Buch mit einer Réécriture der nobile-castelloEpisode aus Dantes Inf. 4 ein. Bei Fazio ist es unbewohnt und weist, ähnlich Boccaccios Traumschloss, eine mit Fresken bemalte «loggia fatta per memoria» auf (IV. 1.5), die uns die Mythologie und Geschichte des antiken Griechenlands überliefert; Dantes Kastell der Antike wird hier also durch Boccaccios Idee der Ekphrasis an die Wände gemalter Wissensspeicher angereichert. Das dargestellte Wissen

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ist aber weder geistesgeschichtlich (wie bei Dante) noch moralisch-allegorisch (wie bei Boccaccio), sondern mythologisch und historisch. In dieser Passage kommt als weiterer Intertext der Alexanderroman ins Spiel. Das vierte Buch führt uns sodann in weitere Länder, etwa in das durch Krieg verwüstete Frankreich, dessen Hauptstadt als die kultivierteste Europas bezeichnet wird (IV. 18). Die Geschichte seiner Könige seit Troja wird auf den Spuren der enkomiastischen Texte des Spätmittelalters, aber auch unter Einbeziehung von Realgeschichte erzählt. Die Reise führt dann (unter Einbeziehung eines provenzalischen Textabschnitts wie in Dantes Arnaut-Episode; IV. 21.52–75) in die Provence; hier wird die politische Lage beklagt. Britannien kommt in Cap. 23 als die schönste Insel Europas zur Sprache (IV. 23.8); interessant ist im Zusammenhang mit den Frankreich- und Englandkapiteln, dass Fazio einen dem heutigen schon ähnelnden Europa-Begriff gebraucht. Englands Geschichte wird von Brutus von Britannien über Uther Pendragon, Wilhelm den Eroberer und Richard Löwenherz bis zur Gegenwart erzählt. Im V. Buch begegnet der Wanderer auf dem Weg nach Afrika einer neuen Autorität: Plinius dem Älteren, dessen Naturgeschichte neues Material bereitstellt. Das unvollendete VI. Buch führt schließlich nach Asien. Der Autor entschuldigt sich am Anfang des Kapitels für die Kürze der Darstellung: Ausführlicher seien diese Worte bei Plinius, Livius und Isidor von Sevilla nachzulesen, «da cui le toglio» (VI. 1. 24), ‚von denen ich diese Informationen übernehme‘. Hier wird also nochmals klar, dass wir uns auf einer Lektürereise befinden. Dantes Konzept eines sensus historicus der Reise ist damit abgewiesen, wenngleich natürlich das Interesse an den Fakten dieser Welt bleibt. Die Lektüre der Autoritäten führt bei Fazio degli Uberti wie bei Dantes Vergil-Lektüre über diese hinaus. Dabei spielt die Autorität einer innerweltlichen Erfahrung eine Rolle, einer Erfahrung, die aber dann nicht wirklich in Anspruch genommen wird. Die göttliche Gnade ist nach wie vor für die Erkenntnisreise nötig, aber sie bezieht sich nicht mehr auf deren Legitimation, sondern nur noch auf ihr Gelingen. Wo Dante sein Gedicht wie eine Allegorie der Neulektüre Vergils beginnt, dann aber immer mehr eine wörtlich, nicht allegorisch zu verstehende Jenseitsreise beschreibt, verhält sich Fazio degli Uberti bescheidener: Er vermeidet die Autoritätsproblematik einer prophetischen Erwählung und entscheidet sich für eine gleichwohl von der Gnade Gottes begünstigte Lektürereise durch ein von anderen Autoren beschriebenes Diesseits. Die Überzeugung, dass man auch für das richtige Lesen wie für jede Erkenntnis die Gnade braucht, hat Fazio freilich mit Dante gemein.

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3 Einen anderen Weg wählt ein halbes Jahrhundert später, vor 1404, Federico Frezzi, Bischof im umbrischen Foligno, mit seinem Quadriregio, dem Buch von den vier Reichen, in dantesken Terzinen.10 Der ursprüngliche Titel lautete möglicherweise Liber de Regnis, der heute übliche taucht zum ersten Mal in der Editio Princeps (Perugia 1481) auf. Es beschreibt eine Reise durch die Reiche Amors, Satans, der Laster und der Tugenden, in strikt allegorischem Modus, in den jedoch Elemente von Dantes Jenseitstopographie integriert werden – was natürlich sofort zur Folge hat, dass der sensus historicus Dantes verschwindet. Die Topographie des Jenseits weicht einer Topologie des Wissens, die auf einem Erkenntnisweg durchschritten wird. Das erste Buch spielt in einem Liebeswald, in dem Amor und Diana um die Vorherrschaft streiten, aber auch die anderen Götter eine allegorische Rolle spielen; hinzu kommen Prosopopöien wie Invidia. Es ist wie bei Dante ein Wald der Verwirrung. Er ähnelt in gewisser Weise auch der allegorischen Welt des Roman de la rose, ist aber antikisierend gefasst; an verschiedenen Stellen kommt Petrarcas Triumphidee zum Tragen, etwa am Ende des ersten Gesangs in Amors Erzählung von den eigenen Siegen über alle und jeden. Ähnlich wie bei Dante spielt der Verlust der Geliebten eine wichtige Rolle in der Phase des Aufbruchs zur Erkenntnisreise. Dies ist aber hier in starker Abkehr von der Minneidee antikisierend als Begegnung mit verschiedenen Nymphen gestaltet – insofern trägt der Text auch Spuren von Boccaccios Commedia dell ninfe fiorentine und seinem Ninfale fiorentino. Das Ich bittet zunächst, angeregt vom Frühling, Amor darum, sich ihm zu zeigen und ihn zu erhören, und zwar ohne eine bestimmte begehrte Person im Auge zu haben. Die Reise des Ich wird also durch eine Art von natürlichem LiebesStimulus angestoßen; der Liebreiz wird zunächst sogar Amor selbst zugeschrieben. Dann aber verspricht Amor, dem Erzähler die schönste von Dianas keuschen Nymphen zu erwählen, Filena. Es folgen weitere Liebesgeschichten mit Nymphen Dianas, Junos oder der Venus, die immer stark allegorisch gefasst sind. Alle scheitern, teils am Versagen des Ich, teils an äußeren Gegebenheiten, teils vielleicht an den inneren Widersprüchen der irdischen Liebe selbst. Kurz nach der Mitte des ersten Buches bietet Minerva dem Erzähler an, ihn in ihr Reich zu entführen. Es wird von sieben Ungeheuern bewacht und ist von sieben Mauerringen umgeben, die mehr als 100 Meilen voneinander entfernt sind; dazwischen leben jeweils

10 Frezzi (1914).

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heilige Nymphen. Die Tore werden (wie in Dantes Purgatorio) für den Wanderer jeweils von einer demütigen Dame geöffnet, aber er muss vorher selbst demütig den Boden küssen. Jenseits des ersten Mauerrings singen und tanzen die helikonischen Musen, dann kommt die pegaseische Quelle, im nächsten Zwischenraum die sieben Königinnen der Wissenschaften. Dann kommen Reiche für jede der vier Kardinaltugenden (eine Königin mit 1000 Augen, also Prudentia, dann eine bescheidene Matrone, die Fabritius und Scipio nährte, also Temperantia, dann die Königin Fortezza, dann Astraea). Nach diesen kommt man in Minervas eigenes Reich, wo noch drei Königinnen wohnen, welche leicht als die theologischen Tugenden erkennbar sind; sie sind Minerva selbst gleichgestellt und geben sich mit dieser der Gottesschau hin. Aber ähnlich wie der Dante des ersten Höllengesangs, der den sonnenbeschienenen Hügel nicht besteigen kann, erweist sich das Ich als zu schwach, direkt in das Reich der Weisheit zu gehen; eine Nymphe der Venus lenkt ihn ab. Er muss einen schwereren Weg der Bewährung und der Erkenntnis aus «questa selva rea» (I. 18.42) heraus gehen. Nach einigen weiteren Rückschlägen erscheint ihm die vierte Himmelsintelligenz und führt ihn dann doch zum ersten Tor des Reiches der Weisheit. Dort trifft er auf seinen adligen Gönner aus dem Hause der Trinci von Foligno, der ihn beauftragt, das Reich der Minerva zu erkunden. Es ist also durchaus ein Moment der Gnade, der aus dem Liebeswald herausführt, aber die Autorisierung zur Erkenntnisreise erfolgt eher als Forschungsauftrag aristokratischer Gönner denn als göttliche Erwählung. Wie schon bei Fazio degli Uberti wird also der Anspruch gegenüber Dante dezidiert gesenkt. Wir werden gleich sehen, dass dies auch für den Schreibauftrag gilt. Im zweiten Buch geleitet Minerva das Ich auf dem Weg in ihr Reich. Frezzis Text ist unvollendet, und so erfahren wir in den Büchern zwei bis vier nur vom Weg an den sieben Ungeheuern vorbei und bis ins Irdische Paradies, wo die ungetauften Guten sitzen. Hier überkreuzt sich die Idee eines allegorischen Raumes mit der eines Jenseits, verbunden mit einer gewagten theologischen These (eben dass die ungetauften Guten das irdische Paradies erreichen), die vielleicht einige Tendenzen Dantes und anderer radikalisiert. Die von Minerva im ersten Buch angekündigten Tugendhaine erreichen wir dann nicht mehr. Vielleicht noch stärker als bei Dante wird nun das Böse und sogar die Hölle selbst mit der Eingliederung in das Reich der sieben Ungeheuer zur Wegstation auf einer Erkenntnisreise zur Tugend und Weisheit. Dabei nimmt Frezzi zwei Korrekturen an Dante vor: einerseits wird Satan nicht als quasi passiver Bestrafter der Hölle, sondern als aktiver Herr dieser Welt gezeigt, andererseits wird er durch die erwähnte Anordnung dem Guten noch dienender untergeordnet. Zunächst erklärt Minerva die Entstehung des Bösen in einer Überblendung des Mythos vom Goldenen Zeitalter mit verschiedenen Versionen der Sünden-

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fallgeschichte. Satan hat in dem Moment, in welchem, durch Invidia vermittelt, Avaritia auf Erden aufgetaucht ist und die Harmonie zwischen den Menschen und mit der bis dato nicht ausgebeuteten Natur zerstört hat (was zur Flucht der Tugenden führte), seine Wohnstatt auf Erden genommen. Gott und die ersten Sekundärursachen setzen zwar alles in Gang, aber unterhalb ihrer kann Satan aktiv werden – doch der Mensch kann widerstehen (II. 2). Im dritten Kapitel wird ein Motiv aus Boccaccios Amorosa visione herangezogen, um eine Amplifikation der Auseinandersetzung mit den sieben Lastern durch eine Höllenreise zu motivieren: Der Erzähler findet sich vor zwei Türen, deren eine auf einen steilen, die andere auf einen bequemen Weg führt – und wählt zunächst letzteren, der ihn in die Hölle bringt. Diese ist in vieler Hinsicht wie diejenige Dantes, aber wichtig ist, dass die Wohnorte Satans und der sieben Laster leer sind, da diese ja auf Erden wohnen. Durch eine enge Tür, an der der Erzähler aus Raumgründen sogar seine Kleider abstreifen muss, gelangt er wieder nach oben auf den Weg zu Minervas Reich. Da er nach der Überwindung der engen Pforte nackt ist, wird er zunächst von Madonna Povertà dürftig und demütig eingekleidet. Denn der Weg vorbei an den sieben Ungeheuern ist ein solcher der Demut, vorbei an den Heuchlern und an Pluto, der hier nicht für den Teufel steht, sondern für die Gier nach Reichtum. Das Ich muss sogar Satan, den prächtigen Herrscher des Diesseits, dessen Verworfenheit nur mit Hilfe von Minervas lupenartigem Schild sichtbar wird, in einer Art Demutswettkampf besiegen. Frezzis Satan ist insofern theologisch interessant, als er einerseits als Herrscher dieser Welt dargestellt wird, andererseits als eine Art Sisyphos, dessen Gigantenaufstand gegen Gott ein ums andere Mal mit seinem Fall endet. Er ist insofern an seiner Freiheit bestraft, als er nun, anders als vor seinem urzeitlichen Engelsfall, dem eigenen Körper unterworfen ist. Ich will darauf nicht weiter eingehen, sondern abschließend nur zeigen, was in diesem Text aus Dantes Konzeption des prophetischen Schreibauftrags geworden ist. Auch Frezzi zitiert wie Fazio degli Uberti das dantesche «fa che tu scrive», aber er entleert es in einer geradezu ironischen Geste seines prophetischen Anspruchs: Im 18. Capitulum des II. Buchs sehen wir, wie die Zentauren den grausamen und lügnerischen Feldherren das Blut aussaugen, so wie diese es ihren Untergebenen angetan haben. Hier wird den Reisenden aufgetragen, diese Umstände den Lebenden zu berichten, damit es diesen nicht ebenso ergehe. Diese Information soll aber nicht zu Nutzen und Frommen der Lebenden weitergegeben werden: Non per ben ch’io lor voglia, ma come su in ciel di piú consorti è piú letizia, qui è maggior doglia. [. . .]

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Se tu nel tuo emispero mai arrivi, prego che di lassú da te si dica (ed a chi nol puoi dir, fa’ che lo scrivi). (Quadriregio, II. 18.124)

Der Auftrag erfolgt aus Selbstsucht der Bestraften, da ihre Strafe mit jedem Hinzukommenden schlimmer wird, so wie im Himmel mit jedem neuen Seligen die Seligkeit sich vergrößert: Nur um ein Anwachsen der Büßerpopulation und mithin der Qual zu verhindern, soll der Reisende das Geschaute auf Erden verkünden. Man beachte auch, dass in dieser scheinheiligen Bitte die Formel ‚schreibe dies auf‘ auch nur als in Parenthese angefügte mediale Alternative zur Mündlichkeit eingeschoben wird. Das Dantezitat wird so demonstrativ seiner Substanz entleert. Dadurch verliert Frezzis Gedicht die Aura des prophetischen Worts. Frezzi bietet uns eine immer noch christliche, aber nicht mehr prophetische Sicht auf die Ordnung der Laster und Tugenden. Dabei bedient er sich verstärkt antiken Bildungsguts sowie eines allegorischen Modus, der nicht nur die antiken Götter einzuführen erlaubt, sondern es auch gestattet, Dantes Anspruch auf die Faktizität des Literalsinns abzuweisen. Die Autorfigur, welche im Gegensatz zu der Dantes und Fazios im Text selbst nicht namentlich genannt wird, wird anfänglich vom Begehren auf den Weg gebracht, durch Gnade umgeleitet, von seinem adligen Gönner beauftragt – aber dann doch von der Weisheit erwählt. Diese Erwählung mag immer noch etwas Besonderes sein; singulär und unwiederholbar ist sie freilich nicht, genauso wenig wie Fazio degli Ubertis Lektürereise.

4 Ein kurzer Blick auf den angekündigten Prosatext des Toskaners Giovanni Gherardi da Prato mag noch wenige Ergänzungen dazu bieten. Das erst im 19. Jahrhundert wieder entdeckte, in dem einzigen erhaltenen Manuskript weder Titel noch Autor ausweisende unvollendete Werk aus den Jahren um 1425/26 ist heute unter dem Titel Il Paradiso degli Alberti bekannt, nach dem Namen der Villa Il Paradiso der Gönnerfamilie Alberti, in der sich die Gespräche des dritten Buches ereignen. Gattungspoetisch gesehen kombiniert Giovanni das Konzept der enzyklopädischen Narrativik im Sinne Dantes mit dem des Prosaromans und demjenigen des gerahmten narrativen Makrotextes, wie er in Boccaccios Decameron vorliegt.

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Giovanni Gherardi da Prato ist wohl der erste, der den Ausdruck «tre corone fiorentine»11 verwendet, und mit der im ersten Buch angekündigten Orientierung an ihnen ist hier das explizit gemacht, was schon bei Fazio und Frezzi zu erkennen war: Dante steht nicht mehr allein, sondern er wird zusammen mit Petrarca und Boccaccio als Vorbild angesehen, vor allem sprachlich, aber (wie schon an der erwähnten Trias der Gattungsmodelle erkennbar) auch poetologisch. Von Dante wird aber nicht zuletzt die Stilmischung zwischen «oratoria gravezza», «forma poetica», «purissima comedia», «eroica tragedia» und «durissima satira» übernommen.12 Das erste Buch, dessen Anfang verloren ist, bringt nach dem Rekurs auf die genannten Autoritäten ein Gebet, das einerseits den Eigenwert des nachchristlich erlösten Menschen betont, andererseits aber doch nach der Gnade ruft, mit dem kleinen Ingenium, das dem Autor zu eigen sei, Gott angemessen loben zu können. Für den Prosastil selbst wird dem noch ein paganer Musenanruf hinterhergeschickt, der mit der Kollokation «delfica deitade»13 die Invocatio von Dantes Paradiso 1 («lieta / delfica deïtà», Par. 1.32) aufruft – wobei gerade Dantes Beschwörung des ihm eigentlich zustehenden Lorbeers hier ausfällt. Das erste Buch beschreibt nun, wie Fazios Dittamondo, eine Wissen produzierende Reise, allerdings hier eine Schiffsreise, von der Toskana über verschiedene Stationen bis nach Kreta und Zypern. Hier wird vor allem die Vergänglichkeit der Wissensgegenstände betont, so des minotaurischen Labyrinths, von dem nur noch der Name bleibt.14 Wie bei Dante werden auch hier Listen von antiken Exempeln eingebaut. Die Reise des Ich droht ziellos zu werden und wird von der Rede eines Schutzengels unterbrochen, der den Reisenden ermahnt, seine Zeit zu nutzen.15 Allerdings ändert sich dadurch am Modus der Reise nichts, es kommen lediglich die Erklärungen des Engels hinzu, etwa der antiken Götter in euhemeristischem Sinne, übrigens auch hier unter Heranziehung fiktionaler Wandfresken.16 Die weiteren Bücher betten verschiedene Erzählungen und Erörterungen in den Rahmen gelehrter Gespräche zwischen wichtigen zeitgenössischen Intellektuellen und Autoritäten ein, die wie gesagt im III. Buch im Garten der Villa Il Paradiso

11 Giovanni Gherardi da Prato (1975). 12 Ibid., 6. 13 «[. . .] ma noi il forte con prosa soluta in onore delle Muse, e particularemente la divina Talia invocando e pregando che conforto mi sia alla nostra eletta materia e prieghi e induchi le sue sorelle divine co’lla delfica deitade, co’lla galeata e clipeata Minerva che tutte insieme oprino che felicemente proceda il mio dire» (ibid., 8). 14 Ibid., 11. 15 Ibid., 17. 16 Giovanni Gherardi da Prato (1975, 42).

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stattfinden (was natürlich auch auf Dantes gleichnamige Cantica verweist). Unter den hier versammelten realgeschichtlichen Geistesgrößen finden sich die Humanisten Coluccio Salutati und Luigi Marsili, der Theologe Grazia de’ Castellani, der Komponist Francesco Landini, der Philosoph Biagio Pelacani da Parma und der Mediziner Marsilio da Santa Sofia, so dass manche Abschnitte den Charakter eines Akademiegesprächs annehmen. Die behandelten Inhalte lassen gelegentlich kulturpolitische Akzente erkennen. Wie Elisabetta Guerrieri gezeigt hat, betont etwa die pointierte Restriktion der Nacherzählung römischer Geschichte auf die Zeit bis zum Ende der Republik das Selbstverständnis des früh-quattrocentesken Florenz als wiedergeborene römische Republik.17 Man denke im Vergleich an die Geschichtsdarstellung bei Fazio degli Uberti. Ein weiterer Fall ist die Inanspruchnahme Dantes als «il nostro Dante divino».18 In dieser Passage wird Dantes Theorie der Entstehung und Wirkungsweise der Liebe referiert, mit wörtlichen Zitaten aus dem Purgatorio. Die Commedia ist hier nicht mehr der dialogisch oder affirmativ aufgerufene, aber tendenziell verborgene Hypotext, sondern eine explizit als objektivierter Fremdtext zitierte Autorität. Darin zeigt sich allerdings auch ein größerer Abstand, der eine Dantenachfolge unwahrscheinlicher aussehen lässt als noch bei den beiden älteren Autoren. Wichtig scheint mir, dass in diesem Text die enzyklopädische Narrativik im kultivierten Gespräch unter Florentiner Humanisten aufgeht. Von Propheten ist im Garten der Villa keine Spur mehr – und selbst der Schutzengel des Ich wird an einer Stelle mit dem Platonischen daimon gleichgesetzt.19

5 Mein Fazit lautet: Alle drei Texte identifizieren und bearbeiten die Problematik von Dantes kühner Selbstautorisierung. Ihre Alternativlösungen verabschieden sich vom prophetischen Modus und nehmen das Gewicht ein wenig von der Autorfigur weg. Die Geschichte der Vormoderne ist insofern nicht durch ein lineares Anwachsen der Selbstermächtigung des Autors gezeichnet, sondern 17 Guerrieri (2014, 121). 18 «Amore adunque è una passione nell’anima nata da’ sensi e causata per obietto in piacere eletto ad amare. [. . .] Deh, guarda bene in pochi versetti tel dice il nostro Dante divino, d’ogni umana cosa e divina predotto, dove dilucidissimamente nel suo sacro poema cel mostra con queste parole: L’animo, ch’è creato ad amar presto, / a ogni cosa è mobile che piace / tosto che dal piacere in atto è desto» (Giovanni Gherardi da Prato, 1975, 50–51; cf. Dante, Purg. 18.19–21). 19 Ibid., 19.

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durch ein Oszillieren, das im Übrigen bei späteren Höhenkammautoren wie Ariost, Cervantes oder Marino auch in eine spielerische Richtung ausschlagen kann.20 Bei aller Abhängigkeit von Dante weisen meine drei Texte im Vergleich zu ihm insofern vielleicht die Modernität größerer Nüchternheit auf. Bei dem jüngsten Autor tritt gar als Autorisierungsform so etwas wie diskursive Plausibilität an die Stelle prophetischer Erwählung.

Bibliographie Primärliteratur Dante Alighieri, La Divina Commedia, 3 vol. ed. Chiavacci Leonardi, Anna Maria, Mailand, Mondadori, 1991. Giovanni Boccaccio, Amorosa visione, in: Tutte le opere, ed. Branca, Vittore, vol. 3, Mailand, Mondadori, 1974. Giovanni Gherardi da Prato, Il Paradiso degli Alberti, ed. Lanza, Antonio, Rom, Salerno Editrice, 1975. Fazio degli Uberti, Il Dittamondo e le Rime, ed. Corsi, Giuseppe, vol. 1: Il Dittamondo, Bari, Laterza, 1952. Federico Frezzi, Il Quadriregio, ed. Filippini, Enrico, Bari, Laterza, 1914. Francesco Petrarca, Trionfi, rime estravaganti, codice degli abbozzi, ed. Pacca, Vinicio/Paolini, Laura, Mailand, Mondadori, 1996.

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20 Bernhard Huss weist auf den interessanten Fall von Matteo Palmieris neuplatonischem quattrocenteskem Terzinenepos Città di vita hin, wo der Autor lediglich der Versifikator von Wahrheiten ist, die anderen Autoritäten, etwa Dionysius oder Ficino, entnommen sind; hier stellt sich die Frage der Selbstautorisierung nicht mehr.

Autorität und Nachfolge

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Der Historiograph als ‚acteur‘ Strategien der Selbstlegitimierung und Selbstautorisierung bei Jean Froissart Wenn Literaturwissenschaftler Begründungsfiguren von Autorität in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten untersuchen, tun sie dies in der Regel mit Bezug auf Konstellationen der dichterischen Rede. Ihre Gegenstände greifen das Konzept poetischer Selbstautorisierung insofern präzise auf. Der folgende Beitrag erweitert diesen Gegenstandsbereich, indem er unter poetischer Selbstautorisierung auch die Geschichtsschreibung verbucht. Dieser Erweiterung liegt die Annahme einer produktiven Differenz zugrunde: Ich gehe davon aus, dass die Strategien, die der Historiograph zur Beglaubigung und Autorisierung der von ihm textualisierten res gestae aufbringt, zum einen signifikante Gemeinsamkeiten mit den Mustern aufweisen, welche auch für die Dichtung festzustellen sind. Zum anderen aber scheint die Fixierung der Geschichtsrede auf die Rekonstruktion einer referentiellen Wahrheit darüber hinaus spezifische Logiken und Begründungsfiguren zu implizieren. Ihre Untersuchung kann, so wird im Folgenden zu zeigen sein, zur begrifflichen und systematischen Ausdifferenzierung des hier zur Diskussion stehenden Phänomens der poetischen Selbstautorisierung beitragen. Angesichts der Gefahr eines hypertrophen Gebrauchs des Begriffs der Autorisierung, der sich allein aufgrund der wissenschaftlichen Fokussierung auf dieses Konzept einstellt, wird dabei einer Graduierung der Begriffe Selbstlegimitierung und Selbstautorisierung von Texten bzw. Autoren besonderes Augenmerk gelten.1 Dass meine Wahl auf den französischen Geschichtsschreiber Jean Froissart gefallen ist, hat seinen Grund darin, dass seine Chroniques die von David Nelting für das italienische Trecento vertretene These einer «neue[n] Qualität in der [. . .] Inszenierung eines auktorialen Selbst als Träger und Garant diskursiver Autorität»2 für die volkssprachliche Laiengeschichtsschreibung des französischen quatorzième siècle bekräftigen. Dies äußert sich semantisch bereits

1 Diese in heuristischer Hinsicht zentrale Anregung verdanke ich einem Diskussionsbeitrag von Gerhard Regn. 2 So der entsprechende Passus im Prospekt unserer Tagung. https://doi.org/10.1515/9783110686609-005

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darin, dass Froissart in seinen Texten selbstbewusst im eigenen Namen spricht, dass er prominent in der Rolle des Historikers auftritt und dass er der erste französischsprachige Geschichtsschreiber ist, der sich selbst als «acteur» bezeichnet. Wir lesen diesen Ehrentitel, der gemeinhin bekanntlich antiken oder christlichen auctores vorbehalten war, im Prolog zum ersten von vier Büchern der Chroniques, welches vermutlich zw. 1377 und 1380 entstand. Selbstbewusst führt Froissart sich dort unter Nennung seines Namens und seiner Herkunft – der Stadt Valenciennes im Hennegau – ein und formuliert folgenden Anspruch: «Et pour che que ou temps a venir on puist savoir qui a mis ceste hystore sus et qui en a esté actères, je me voel nommer».3 Die unerhörte Selbstqualifizierung Froissarts als «acteur et croniqueur de ces croniques», wie es an anderer Stelle heißt,4 hat in den Chroniques System. Es verdichtet sich darin eine neue Form historiographischer Ich-Rede, die für folgende Generationen französischer Geschichtserzähler wegbereitend werden sollte und die insofern eine Zäsur in der Geschichte historiographischer Selbstautorisierung der frühen Neuzeit markiert.

1 Bevor auf die Spezifika des acteur Froissart eingegangen wird, gilt es zunächst zu skizzieren, welcher Begründungsfiguren und textueller Verfahren der Legitimierung sich die mittelalterliche Historiographie gemeinhin bedient.5 Alle Legitimität und Autorität der Geschichtsrede – dies gilt es vorab zu unterstreichen – fußt grundsätzlich auf der Wahl des historischen Gegenstands. Denn die materia muss vom Geschichtsschreiber als so bedeutend und prestigeträchtig eingeschätzt werden, dass er es für wert erachtet, sie schriftlich festzuhalten und für die Nachwelt zu thesaurieren. In diesem Sinne betonen viele Texte das Ziel, die Geschichte «ad perpetuum rerum memoriam» niederzuschreiben.6 Als Rechtfertigung für die angestrebte Verewigung der materia im kollektiven Gedächtnis gelten dabei zum einen die Bedeutsamkeit und zum anderen die Einmaligkeit der dargestellten Geschichte. Sie sind es, die den Historiker im Kern legitimieren und die seinem Unternehmen der Möglichkeit nach 3 Froissart (2001, 77; Kursivierung, M.S.). 4 Froissart (KL 1867–1877, t. XVI, 142). Die Selbstbezeichnung «croniqueur» findet sich in den Chroniques hingegen nur dieses eine Mal. Die Verwendung des Syntagmas «je acteur . . .» in den Manuskripten der Chroniques verzeichnet The Online Froissart (2013, version 1.5) hingegen 71-mal (https://www.hrionline.ac.uk/onlinefroissart/formy.jsp [10.3.2017]). 5 Cf. zum Folgenden grundlegend Guenée (1980, 18–43) und Bratu (2013, 183–204). 6 Cf. hierzu Guenée (2008, 178).

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eine prospektive Gültigkeit verleihen. Dieses Arguments, das im 14. Jahrhundert längst den Status eines Topos angenommen hat, bedient sich Froissart, wenn er z.B. in dem bereits zitierten Prolog erklärt, er «registriere» die bedeutenden Waffengänge in den Kriegen zwischen Frankreich und England, auf dass sie «in immerwährendem Gedächtnis» bleiben und «die Guten» sie sich an ihnen ein Vorbild nehmen könnten: Affin que li grant fait d’armes qui par le guerres de Franche et d’Engleterre sont avenu, soient notablement registré et mis en memoire perpetuel par quoy li bon y puissent prendre exemple, je me voeil ensonnier dou mettre en prose.7

Die hier postulierte autoritätsstiftende Funktion der materia unterliegt im Bereich der Historiographie grundsätzlich dem Wahrheitspostulat. Dies bedeutet, wie bereits angeklungen, dass die historische Repräsentation von der Faktualität ihres Stoffes ausgeht und dass sie dementsprechend – im Gegensatz zur fiktionalen Rede – für sich in Anspruch nimmt, eine vera narratio zu sein. Die Art von Wahrheit, welche die Geschichtsdarstellung dabei der adtestatio veritatis folgend zutage fördert, reklamiert vorrangig stets eine referentielle Wertigkeit, die auf soziale, politische, moralische oder eschatologische Wahrheitskonzepte bezogen sein kann. Dementsprechend spricht auch Froissart von einer «juste narracion»8, die im Zeichen der Stabilisierung eines späthöfischen Ideals von curialitas steht und der er ausdrücklich die überzeitliche Gültigkeit einer ständisch-moralischen Wahrheit zuspricht.9 Von Bedeutung ist nun, dass der Zusammenhang zwischen der Wahl einer legitimen materia und dem Anspruch der historiographischen Darstellung, vera narratio zu sein, nicht als gegeben angesehen wird. Es ist vielmehr kennzeichnend für die Geschichtsschreibung seit der Antike, dass sie ein ganzes Arsenal von textuellen Strategien aufwendet, deren Aufgabe wesentlich darin besteht, die Zuhörer oder Leser von der Glaubwürdigkeit dieses Nexus zu überzeugen. Denn erst wenn die Rezipienten dem Text glauben, so lässt sich vereinfachend sagen, löst der Historiker letztlich effektiv sein Versprechen ein, Wahrheiten über die Vergangenheit zu sagen und die Wahrheit des Vergangenen zu vermitteln. Die Textstrategien, welche die Geschichtsschreiber aufbieten, um diese

7 Froissart (Ms Amiens 1991–1998, t. 2, 1). 8 Um seinen Anspruch auf eine bestimmte sprachlich-gedankliche Verfasstheit der Chroniques zum Ausdruck zu bringen will, spricht Froissart in der Regel von «bonne et juste narracion» oder «juste narracion». Cf. z.B. Froissart (Ms Rom 1972, 38, 45, 67, 152, 180, 202, 227, passim). 9 Cf. hierzu Krynen (1980) sowie Schwarze (2003, 208–230).

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Art von historiographischer Kredibilität herzustellen, bezeichnet der dänische Historiker Lars Boje Mortensen in einer Untersuchung lateinischer Geschichtstexte prägnant als «persuasive techniques».10 Diese persuasiven Techniken der Selbstlegitimierung können im Wesentlichen zwei Registern zugeordnet werden: dem der Traditionsbildung und dem der Authentifizierung. Die beiden Autorisierungsregister seien an dieser Stelle grob charakterisiert – ohne, dass ich dabei auf die erheblichen Differenzen zwischen klösterlich-geistlicher Geschichtsschreibung und offizieller oder offiziöser Geschichtsschreibung in kommunalen bzw. dynastischen Kontexten eingehe oder auch die Verwendung des Lateinischen respektive der Volkssprache berücksichtige. Das Autorisierungsmuster der Traditionsbildung geht vielfach mit dem topischen Demuts-Gestus des (im Zweifelsfall anonymen) Autors einher und steht damit im Kontrast zur Einmaligkeit der gewählten materia. Die Demutshaltung ist prima facie dadurch begründet, dass sich die Geschichtsdarstellung implizit oder explizit imitativ in einen ehrwürdigen historischen Diskurs einschreibt. Dies geschieht, indem auf allseits anerkannte auctores als verlässliche Quellen für die eigene Darstellung verwiesen wird, oder aber indem die eigene Darstellung gezielt an den sprachlich-diskursiven Gestus vorgängiger Geschichtserzählungen nach den Prinzipien der imitatio anknüpft.11 Als bevorzugte Autoritäten, auf die die Historiographie dabei rekurriert, fungieren im Spätmittelalter dieselben Beglaubigungsinstanzen wie in der restlichen Schriftkultur: die Bibel, literarisch prominente Modellierungen der großen Stoffkreise, wie zum Beispiel des Karlsoder des Artus-Stoffes, sowie natürlich frühere historiographische Darstellungen desselben Gegenstands. Letzteres tut auch Froissart, indem er sich unter anderem auf die Grandes Chroniques de France oder die Vie du Prince Noir des Herolds Chandos stützt, und vor allem, wenn er in einem späten Buch der Chroniques beteuert, diese schrieben die Prosachronik des Lütticher Geistlichen Jean le Bel fort.12 Mit diesem Hinweis verknüpft Froissart zugleich das Prinzip der Überbietung, was sich darin manifestiert, dass er zugleich angibt, seine Chronik amplifiziere die seines Vorgängers zu einer die Geschehnisse erklärenden Geschichtsdarstellung. Um die Neuartigkeit seines Geschichtsprojekts lexikalisch

10 Mortensen (2004, hier insb. 88–92). 11 Cf. zu dieser Form imitativer Selbstautorisierung Friede/Schwarze (2015, 2–12). 12 George Diller (1984, X) vertritt die These, Froissart habe die Grandes Chroniques de France für die Jahre 1350–56 (in den Mss A) geradezu «kopiert». Der 1385–1386 entstandenen Vie du Prince Noir entlieh Froissart wesentliche Teile seiner Erzählung vom Kriegsgeschehen in Kastilien in Buch III sowie die Schilderung der Schlacht von Crécy in Buch I, Ms Amiens. Cf. hierzu Palmer (1982, 271–292). Cf. zum Bezug auf die Chronik Jean Le Bels, der unserem Historiker für den Zeitraum 1325–1350 eng folgt, Chareyron (1996).

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zu markieren, kreiert der Chroniqueur dafür den Terminus der «histore cronisie»13. Wie eine Vielzahl früherer französischsprachiger Historiographen – beginnend mit dem Roman de Brut von Wace14 – zeichnet sich auch Froissarts Geschichtsschreibung zudem dadurch aus, dass sie sich im Sinne eines autoritativen Mehrwertes auf literarische Autoritäten wie vor allem den Artus-Stoff oder das TranslatioMotiv der neuf preux beruft.15 Für diese Form imitativer Selbstlegitimierung, die letztlich auf der Konstruktion einer diskursiven Genealogie beruht, ist in dem hier gewählten Gattungszusammenhang insbesondere die Wahl des Prosa-Registers von Bedeutung. Denn die Prosaform wurde in Frankreich seit dem Ende des 12. Jahrhunderts – nicht nur von Geschichtsschreibern – als adäquates Medium zur Vermittlung von Wahrheit gepriesen. Die Autoren übernahmen dafür ein Argument, das ursprünglich der lateinischen Tradition entstammte und das Christiane Marchello-Nizia konzis beschrieben hat: «[P]our les lettrés, la prose est devenue, presqu’autant que l’était le latin, langue de vérité: en tant que telle on l’oppose, comme on le faisait pour le latin auparavant, à la forme versifiée».16 Die Gleichsetzung von Wahrheit und Prosaform wird in den Texten vielfach damit begründet, dass frühere Reimchroniken gelogen hätten; dies liege an der unpräzisen Weitschweifigkeit der metrisch gebundenen Rede, in der die Geschichten der «jongleurs»

13 Froissart (Ms Rom 1972, 39). Mit dem Begriff «histore cronisie» bezeichnet Froissart seine im Vergleich zu Le Bels Berichten deutlich amplifizierende Geschichtsdarstellung. Erhellend ist in dieser Hinsicht eine selbstreflexive Passage in Buch III: «Si je disoie: ,Ainsi et ainsi en avint en ce temps‘, sans ouvrir ne esclarcir la matere qui fut grande et grosse et orrible et bien taillie d’aler malement, ce seroit cronique non pas historiée et se m’en passeroie bien se je vouloie; or ne m’en vueille pas passer que je n’es-clarcisse tout le fait ou cas que Dieu m’en a donné le sens, le temps, le memoire, et le loisir de cronissier et historier tout au long de la matere» (Froissart, SHF 1869–1957, t. XIII, 222). Cf. dazu Schwarze (2003, 198–200). 14 Cf. dazu Friede (2015). 15 Cf. zur genealogischen Einbindung arturischen Personals, insbesondere in der letzten Fassung des ersten Buches der Chroniques, dem Ms Rom, Ainsworth (1990, 254–303). Im Ms Rom treten vor allem König Artus und seine Gemahlin Guenièvra einige Male in Erscheinung und fungieren dann als autoritätsstiftende Ahnen Edwards III. bzw. von dessen Frau Philippa von Hennegau. Das Herrscherehepaar repräsentiert dabei idealtypisch die Tugenden höfischer «proece», die gleichsam als mythische Aura im Zeichen einer sinnstiftenden Kontinuität auf den englischen König und mehr noch auf Philippa, Froissarts erste Gönnerin von Rang, übergeht. Cf. Froissart (Ms Rom 1972, 159). 16 Marchello-Nizia (1979, 44). Cf. zu Herausbildung und Geltung der Prosa-Form in Frankreich seit Ende des 12. Jahrhunderts die immer noch maßgeblichen Ausführungen von Schon (1960, hier 16–38); Spiegel (1993, 55–98) sowie Croizy-Naquet (2000, 71–85). Für eine Geschichte der frühen volkssprachlichen Prosaproduktion von den Straßburger Eiden an cf. Beer (1992).

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überliefert seien.17 Diesen Topos reaktiviert auch Froissart, wenn er in einer Variante des bereits zitierten Prologs Jean Le Bels seine eigene «richtige und wahre Geschichte» scharf von früheren Darstellungen der Kriege abgrenzt, die 1341 in der Bretagne ausbrachen. In den alten Texten, deren Identität im Dunkeln bleibt, hätten Spielleute die Geschichte «korrumpiert», weil sie die Ereignisse besungen und gereimt hätten. In der entsprechenden Passage heißt es: Pluiseur gongleour et enchanteour en place ont chanté et rimé lez guerres de Bretagne et corromput, par leurs chançons et rimes controuvées, le juste et vraie histoire, dont trop en deplaist à monseigneur Jehan le Bel qui le commencha à mettre en prose et en cronique et à moy, sire Jehan Froissart.18

Bemerkenswert hieran ist, dass der zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Prologs (Ende der 1370er Jahre) noch unbekannte Froissart sich offensichtlich veranlasst sieht, sein historiographisches Projekt mit dem topischen Motiv der verlogenen Reimchronik zu rechtfertigen und sich im selben Zuge mit dem Hinweis auf die unmittelbare Anknüpfung an seinen wallonischen Vorgänger Jean le Bel abzusichern.19 Das zweite persuasive Register, in dem sich die historiographische Selbstlegitimierung typischerweise vollzieht, besteht in Verfahren der Authentifizierung. Im Unterschied zu der Konstruktion von Genealogien setzt das Prinzip der Authentizität auf die Vermittlung von Evidenzeffekten.20 Es basiert in vielen Fällen auf der textuellen Präsenz einer namentlich und/oder persönlich markierten Autorfigur, die für die Verlässlichkeit des Dargestellten bürgt. Mit persönlich markierter Autorschaft ist gemeint, dass unter Angabe von mehr oder weniger rudimentären biographischen Daten eine individuelle Autorfigur konstruiert wird, die auktorialen Anspruch erhebt.21 Der Befund, dass Texte eine für sie verantwortliche Autorinstanz inszenieren und dies einen «dringenderen 17 Das berühmteste Beispiel für diesen Topos in der französischen Literatur stellt bekanntlich Chrétiens Prolog zu Erece und Enide dar. Cf. dazu Gingras (2009, 29–42). 18 Froissart, Buch I (Ms Amiens 1991–1998, t. 2, 96). 19 Nicht näher gehe ich hier darauf ein, dass Froissart in einem Vorwort selbst angibt, in jungen Jahren eine Reimchronik verfasst zu haben, von der wir jedoch keine Spuren haben. Ainsworth, der die Diskussion aufgegriffen hat, kommt zu folgendem Schluss: «Froissart [. . .] followed his model’s example in opting for prose as a vehicle for expression, but not without having first attempted a historical poem of his own which, in my view, was almost certainly in verse» (cf. Fabric, 40–50, Zitat 40). 20 Der Begriff der Evidenz wird hier Ludwig Jäger folgend im Sinne einer Semantik verwendet, das im Zeichenmodus der «Transparenz» funktioniert. Dies bedeutet, dass Evidenzeffekte die Verfahren zur semiotischen Herstellung ihrer unmittelbaren Wirkung im besten Fall kaschieren können. Cf. Jäger (2008, Zitat 310). 21 Cf. hierzu Friede/Schwarze (2015, 2–12).

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Autorisierungsbedarf» mit sich bringt, war im 14. Jahrhundert nichts Neues. Christel Meier hat dies bereits für das 12. Jahrhundert anhand von (acht) lateinischen Konversionsnarrativen nachgewiesen.22 Meier zeigt, dass die Konstruktion individueller Autorfiguren samt einer ihnen eigenen Biographie mit einem erhöhten Maß an Authentizitäsindikatoren einhergeht, diese jedoch zugleich in traditionelle Konversionsgeschichten eingebettet wurden – quasi zur diskursiven Absicherung der Inszenierung von Individualität. Authentifizierung und Traditionsbildung gehen damit auf engste miteinander einher und stehen in einer komplementären Korrelation zueinander. In der französischsprachigen Geschichtsschreibung des Spätmittelalters scheint sich dieses Ergänzungsverhältnis zu verschieben. Die Inszenierung persönlicher Autorschaft und authentifizierende Verfahren, die Autorität transportieren, sind hier vermehrt seit den Berichten vom vierten Kreuzzug zu beobachten. So initiieren Goeffroy de Villehardouin und Robert de Clari am Beginn des 13. Jahrhunderts einen neuen Zweig der französischen Geschichtsschreibung, dem außer Joinville und Froissart auch die burgundischen Historiker des 15. Jahrhunderts – Enguerrand de Monstrelet, Mathieu d’Escouchy und Goerges Chastelain – sowie Philippe Commynes’ Mémoires (1489–1498) zuzuordnen sind.23 Ihre Chroniken markieren in Frankreich die Entstehung eines Typs von Geschichtstext, bei dem es sich um vulgärsprachliche Berichte von der Nahvergangenheit handelt, die nicht-professionelle, hochgebildete clerici über Geschehnisse, an denen sie in irgendeiner Weise beteiligt waren, im Auftrag eines Gönners verfassten. Diese Art von histoire immédiate – Mortensen spricht prägnant von «fast history»24 – basiert häufig in erster Linie auf Augenzeugenberichten und rekurriert darüber hinaus meist auf mündlich tradierte Quellen. In ihr ist daher das traditionsbildende Autoritätsargument der vetustas, welches in der Retextualisierung ehrwürdiger

22 Meier (2004, hier 210). 23 Cf. zur Entstehung dieser Prosa-Geschichtsschreibung ausgehend vom Pseudo-Turpin Spiegel (1993, insb. 214–268). Die Palette der Verfahren, welche die Texte dieser Geschichtsschreiber anwenden, um Beglaubigungseffekte zu erzeugen, reicht von der bloßen Nennung des Namens und der Herkunft, über die Referenz auf soziale Autoritäten wie Auftraggeber, Mäzen und Protektoren bis hin zur ausgebauten Inszenierung von Augen- und Ohrenzeugenschaften. 24 Lars Boje Mortensens Begriff: Mortensen 2015. Den Begriff der histoire immédiate verwende ich in Ermangelung einer präzisen deutschen Begrifflichkeit – es wäre hier vielleicht angemessen von «Gegenwartsgeschichte» zu sprechen. Cf. Soulet (1994). Laut Soulet zeichnet sich dieser Typus von Historiographie dadurch aus, dass sie einen Zeitraum behandelt, «qui a pour caractéristique principale d’avoir été vécue par l’historien ou ses principaux témoins» (4). Cf. zur geschichtstheoretischen Diskussion, die in Frankreich um die Begriffe histoire immédiate, histoire de l’immédiat, histoire proche und histoire du temps présent geführt wird, Chauveau/ Tétart (1992).

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Autoritäten besteht, deutlich nachgeordnet. Wolf-Dieter Stempel hat gezeigt, wie stattdessen in solchen Fällen «die eigene Erinnerung als Autorität» fungiert und wie sie zum Garanten für die wahrheitsgemäße Darstellung der res gestae wird.25 Für die Beglaubigung der Geschichtsrede hat dies signifikante Folgen: Denn in ihr tritt damit potentiell «die eigene Beobachtung an die Stelle der Fremdgarantie», was sich unter anderem darin äußert, dass hier eine deutliche Zunahme memoirenhafter Einsprengsel zu verzeichnen ist.26 Hinsichtlich der hier interessierenden Begründungsfiguren der Autorität eines Einzeltexts bedeutet dies, dass im Segment der spätmittelalterlichen histoire immédiate der Einsatz authentifizierender Autoritätsmarker gegenüber den Mitteln der Traditionsbildung quantitativ Oberhand gewinnt. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei der Ausbau der Erzählstimme zu einer persona, die im Hinblick auf den eigenen Text als auktoriale Instanz auftritt. Was die Semantisierung solch historiographischer Autor-personae angeht, hat Christian Bratu jüngst zwischen zwei Ausprägungen unterschieden: Zum einen die «knights-cum-historians» wie Clari, Villehardouin oder Commynes, die aktiv an den von ihnen berichteten Geschehnissen in der Nahvergangenheit teilnahmen und die sich daher im Zeichen der persönlichen Autorschaft als «eyewitnesses and characters» inszenieren. Zum anderen klerikal-gebildete Historiker wie etwa Geoffroy Gaimar, Wace, Benoît des Sainte-Maure oder Froissart und Chastellain, die als «narrators and author» auftreten und damit vor allem autoritative Autorität für sich reklamieren.27

2 Vor der Folie dieser grundlegenden Bemerkungen zu den Legitimierungsstrategien der mittelalterlichen Geschichtsschreibung soll nun die Rolle des acteur untersucht werden, die sich Jean Froissart in den Chroniques attribuiert. Die besondere Neuartigkeit dieser Selbstzuschreibung, so die Grundthese des Folgenden, besteht darin, dass Froissarts Autor-persona alle drei von Bratu geltend gemachten Komponenten in sich vereint: die Autorfunktion, eine bestimmte Art von Zeugenschaft und den Status einer Handlungsfigur. Das Ich der Rede fungiert nach meiner Auffassung hier demnach nicht nur als «narrator and author», wie Bratu meint, sondern ebenso als «eyewitness and character».

25 Cf. hierzu Stempel (1987, Zitat 716). 26 Ibid., 725. 27 Bratu (2013, hier 195).

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Bevor ich hierauf eingehe, zunächst zur groben Orientierung ein paar knappe Informationen zu den Chroniques Jean Froissarts: Sie handeln von den politisch-militärischen Konflikten des Hundertjährigen Krieges und stellen dabei die militärischen Konflikte, die Frankreich und England ab dem Ende der 1370er Jahre bis zur Jahrhundertwende in Atem hielten, in das Zentrum der Darstellung. Froissart war Hofgeistlicher und Dichter und als solcher zu keinem Zeitpunkt an den von ihm geschilderten Ereignissen militärisch oder diplomatisch beteiligt. Das biographische Verhältnis zu seinem Stoff ließe sich also oberflächlich betrachtet und modisch gesprochen als das eines «Zeitzeugen» bezeichnen.28 Zugleich sind die Chroniques ein Lebenswerk, dessen Teile der 1337 geborene Verfasser von den 60er Jahren bis zu seinem Tod kurz nach 1400 fortlaufend überarbeitete. Das Ergebnis ist ein vier Bücher umfassendes Korpus, dessen Textgestalt von einer großen Varianz geprägt ist und das inzwischen dank einer verdienstvollen Editionstätigkeit in den letzten zwanzig Jahren relativ gut erschlossen ist.29 Von Bedeutung ist dies zunächst im Hinblick auf die Prologe, die erwartungsgemäß ein bevorzugter Ort der Selbstlegitimierung und -autorisierung des Chroniqueur sind: Den intensiven Revisionen des ersten Buches über einen Zeitraum von ca. 30 Jahren verdanken wir im Falle der Chroniques allein vier Prologe; hinzukommen zwei weitere zu Buch III und IV, die aller Wahrscheinlichkeit nach vom Beginn bzw. Ende der 90er Jahre stammen.30 Diese insgesamt sechs Prologe lassen deutlich eine fortlaufende Reflexion über das Verhältnis zwischen dem Historiker und seinem Text erkennen. Als zentrale Aufgabe seiner historischen Darstellung versteht es Froissart, wie gesagt, die hochadeligen Kontexte, in denen er sich bewegt, zu stabilisieren, indem er die großen Konflikte seiner Zeit moralisch-didaktisch modelliert. Vergleicht man die Prologe in der Abfolge ihrer Entstehungen, lässt sich dabei mit Laurence Harf-Lancner eine Verschiebung im historiographischen Selbstverständnis Froissarts erkennen:31 Sie betrifft die auktoriale Selbstautorisierung und besteht darin, dass die Textsegmente, in denen Froissart selbstbewusst als Autor der Chroniques auftritt, sich sukzessive quantitativ ausdehnen. Darüber hinaus ändert sich jedoch in ihnen etappenweise auch qualitativ der Status, der dem Historiker zugeschrieben wird. Dieser Prozess äußert sich zum einen in einer Reduzierung des autoritativen Rückbezugs auf die Chronik von Jean le

28 Cf. zu einer Kritik des Begriffs aus historischer Perspektive Wirtz (2014). 29 Cf. hierzu die vorzügliche Dokumentation und digitale Edition aller Handschriften auf den Internetseiten von The Online Froissart (2013, version 1.5). 30 Cf. hierzu Harf-Lancner (2002, 147–175). 31 Ibid.

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Bel. Zum anderen – und das ist für Froissarts Konzept des acteur signifikant – ist in den späten Prologen eine bedeutsame Umwertung der Rolle festzustellen, die Froissart dem gebildeten clerc im Kontext der (spät-)feudalen Gesellschaft zuspricht. Georges Duby zufolge war es im 11. Jahrhundert in Frankreich gängige Münze, die Gesellschaft in drei sich ergänzende Teilordnungen zu unterteilen, welche drei Arbeits- und Lebensformen entsprachen: erstens die kämpfenden pugnatores, zweitens die arbeitenden laboratores und drittens die für die Kontemplation zuständigen oratores.32 Diese Dreiteilung besetzt Froissart entscheidend um, wenn er zum Beispiel im spätesten Prolog zu Buch I, dem MS Rom, ausdrücklich erklärt: Or se debrise et disfere li mondes en pluiseurs manieres. Premierementt, li vaillant homme travellent lors corps en armes pour conquerir la glore et renommee de che monde; li peuples parole recorde, et devise de lors estas [et de leur fortunes]; auquns clers escripsent et registrent lors oevres et baceleries, par quoi elles soient mises et couchies en memores perpetuels.33

Auch Froissart unterscheidet in seiner höfischen «Welt» drei «Arten» von Tätigkeit: Die Stelle der pugnatores besetzt er konventionell mit den tapferen Rittern, die im Namen des Ständeideals der prouesse und unter Einsatz ihres Lebens für die gloria mundi eintreten. Die laboratores werden hier durch das «Volk» vertreten, dessen Aufgabe bemerkenswerterweise darauf beschränkt bleibt, die Erfolge («fortunes») der Ritter zu erzählen und zu kolportieren. Den Platz der oratores jedoch – darauf kommt es hier an – besetzt in Froissarts ‚Gesellschaftsmodell‘ der Typus des gebildeten clerc: Dieser aber hat bei ihm nicht etwa die Funktion eines Geistlichen inne, der für das Seelenheil der im Krieg Gefallenen zuständig ist, sondern die des Geschichtsschreibers selbst, der die Taten («oevres») der «tapferen Männer» schriftlich memorisiert und ihnen auf diese Weise zu «ewiger Erinnerung» verhilft.34 Die feudale Dreiteilung wird auf diese Weise eigentlich zu einer Geschichtskonstruktion reduziert, in der es mit dem Ritter und dem Historiker lediglich zwei zentrale Akteure gibt, die aufeinander angewiesen sind: Der Ritter ist für eine ruhmreiche Gegenwart bzw. Nahvergangeheit

32 Cf. dazu Duby (1978, hier insb. 15–16). 33 Froissart (Ms Rom 1972, 37; Kursivierungen, M.S.). Cf. zu dieser Sequenz auch Harf-Lancner (2002) und Guenée (2008, 173–175). 34 Bernhard Huss weist in der Diskussion zurecht darauf hin, dass die Funktion des Historikers hier in diejenige eintritt, die in Geschichtsdarstellungen von Thukydides bis Petrarca topisch durch den Herold besetzt ist. Cf. dazu Keen (1987, 157–190). Eine Steigerung erfährt dieser Topos bei Froissart meines Erachtens insofern, als dass er kraft seiner clergie zum Garanten eines ständischen Gesellschaftsideals erklärt wird.

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verantwortlich, während der Geschichtsschreiber zum Sachwalter der Zukunft wird, indem er als das historische Gedächtnis der höfischen Gemeinschaft fungiert.35 Auf diese Weise entwirft Froissart in den späten Prologen ein originelles und überaus umfassendes Verständnis der Autorfunktion. Die Autorität, die dem Historiker Froissart dabei implizit zugesprochen wird, ist ihrerseits von historischer Bedeutung, denn indem er den Helden der Geschichte zu Unsterblichkeit verhilft, avanciert der Geschichtsschreiber selbst zum integralen Bestandteil des großen Stoffes, den er behandelt.36 Der in den Prologen zu beobachtende Ausbau der auktorialen Funktion des Historikers zu einem Garanten einer höfisch gedeuteten Nahvergangenheit findet Bestätigung in den eigentlich historischen Darstellungen der Chroniques. Die Forschung hat in diesem Zusammenhang intensiv untersucht, wie Froissart in den Büchern III und IV ausführlich von den ‚Informationsreisen‘ erzählt, die er in den 80er und 90er Jahren quer durch Frankreich und Europa unternahm, um an verlässliche Quellen für seinen Stoff zu gelangen. Prominent ist in dieser Hinsicht zum einen das erste Drittel des dritten Buches, das Froissarts Reise in das Béarn und seinen Aufenthalt am Hofe des Grafen Gaston III de Foix im Winter 1388/89 zum Gegenstand hat.37 Zum anderen ist die zweite Englandreise des chroniqueur bekannt, die ihn 1395 an den Hof des englischen Königs Richard II. führte; davon berichten Passagen des vierten Buches.38 Für unsere Fragestellung ist an diesen langen Berichten zunächst von Interesse, dass der Historiker hier in der Art eines Kriegsreporters auftritt, der vor Ort Augen- oder Ohrenzeugen zu den historischen Geschehnissen befragt und die Gespräche mit ihnen in der Art einer oral history der Privilegierten dokumentiert. Der daraus resultierende Überschuss an Authentifizierungseffekten macht gewissermaßen wett, dass der Geschichtsschreiber Froissart, wie erwähnt, selbst nicht an militärischen oder diplomatischen Aktionen beteiligt war. An die Stelle der «eigenen Erinnerung als Autorität» (Stempel 1987, 716) tritt damit gleichsam eine Zeugenschaft zweiten Grades. Dies ist insofern von Bedeutung, als sich mit dieser sekundären Zeugenschaft die Authentizitätsmarker von der primär dargestellten historischen Vergangenheit partiell auf das Handwerk des Historikers

35 Cf. hierzu Harf-Lancner (2002, 169–170). 36 Einen vergleichbaren Fall stellt in dieser Hinsicht das Livre des fais du bon messire von Jehan le Maingre, (dit Bouciquaut), dar. Diese anonym überlieferte Ritterbiographie aus dem ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts identifiziert im Prolog «Chevalerie» und «Science» als die zwei konstitutiven Stützen jeden Gemeinwesens, cf. dazu Schwarze (2003, 225–261). 37 Cf. dazu Zink (1998, 63–87); Diller (1998, 50–60) und Lamazou-Duplan (2009, 85–109). 38 Cf. dazu Ainsworth (1990, 140–151).

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verschieben.39 Die Mühen und das Geschick, welche dieser aufbringen muss, um an das mündlich tradierte Material für seine Geschichtsschreibung zu gelangen, rücken in solchen Sequenzen in das Zentrum der Darstellung. Nicht nur der Reisende, sondern ebenso sehr der Historiker Froissart avanciert im Text zu einer eigenständigen Handlungsfigur, deren sekundäre Zeugenschaft als Garant für eine authentische und in diesem Sinne wahre Version der Geschichte einsteht. Die Beobachtung jedoch, dass sich die Begründung der vera narratio in Froissarts Chroniques über das Argument der besagten sekundären Zeugenschaft offensichtlich in Richtung des Merkmals der Authentizität verschiebt, ist für den Wahrheitsbegriff folgenreich. Denn Wahrheit meint nunmehr nicht mehr nur die Beglaubigung des Faktischen (in Verbindung mit dem ethisch-ständischen Standpunkt), sondern der Begriff wird erweitert auf die Sicherung einer Memoriafunktion, die im Zeichen ‚großer‘ Männer steht.40 Anstatt die hinreichend untersuchten Aspekte der Inszenierung des Geschichtsschreibers erneut zu beleuchten, möchte ich hier auf eine Form der auktorialen Selbstinszenierung eingehen, die bisher weniger Beachtung gefunden hat: die Beobachtung nämlich, dass Froissart sich im Rahmen der besagten Reiseberichte tatsächlich als eine Autorität ins Bild setzt. Bisher ist die Rede von Strategien gewesen, die der Selbstlegitimation zugeordnet werden können, insofern sie vornehmlich auf eine möglichst hohe Glaubwürdigkeit der Darstellung abzielen, um auf diese Weise die Akzeptanz des Textes bei potentiellen Lesern zu erhöhen. Begrifflich zu unterscheiden von solchen Persuasionsstrategien ist m.E. die Inszenierung des Autors, der so bekannt und anerkannt ist, dass ihm gewissermaßen von außen die Geltungsmacht einer Autorität zugewiesen wird. Dieses bilaterale Verständnis von Autorität rekurriert auf einer Semantik des Begriffs, welche sich auf Personen bezieht und die supponiert, die auctoritas basiere darauf, dass eine Person in ihrem Handeln als Garant für eine Sache einstehe und deswegen uneingeschränktes Vertrauen verdiene. Dieser Grundannahme folgt zum Beispiel noch die etymologische Herleitung der 39 Harf-Lancner fasst diesen Aspekt konzise wie folgt zusammen: «On glisse de la glorification de la chevalerie à celle de la clergie et du clerc Froissart, dont on sent à chaque ligne l’assurance croissante. [. . .] Mai c’est surtout le prologue du livre IV qui affirme la gloire de l’écriture. L’image de la forge, qui rappelle ,Nature en sa forge‘ dans le Roman de la Rose de Jean de Meun, identifie l’écrivain à un artisan, à un créateur», Harf-Lancner (2002, 170). 40 Ich verdanke diesen Gedanken, der die Einbeziehung der Kategorie der Authentizität in den Wahrheitsbegriff impliziert und den es weiter zu verfolgen gilt, Andreas Kablitz. Diese Art von Extension des Wahrheitsbegriffs in Kombination mit einer stark sozial begründeten Autorität lässt sich bereits im Livre des saintes paroles et des bons faitz nostre saint roy Looÿs von Jean de Joinville beobachten. Cf. hierzu Schwarze (2014, 61–74); zur Authentizität als historisch-narratologisch valenter Beschreibungskategorie Weixler (2012).

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«filosofica autoritade» bei Dante. Im vierten Buch des Convivio versteht er darunter mit Bezug auf Aristoteles, kurz gesagt, die «Handlung eines Autors», die «des Vertrauens und des Gehorsams würdig ist».41 «Fede» und «obedienza» aber bezeichnen Qualitäten, die man sich schlechterdings nicht selbst glaubwürdig bescheinigen kann, sondern die einem Autor (und in metonymischer Erweiterung einem Text) nur auf dem Wege seiner öffentlichen Anerkennung und Geltung im Prozess der Rezeption bescheinigt werden können.42 Genau diese Form von Selbstautorisierung aber praktizieren die Chroniques neben den Strategien der Selbstlegitimierung. Dies geschieht zum Beispiel, indem sie davon erzählen, wie Knappen und Herolde Froissart, den bekannten Geschichtsschreiber, absichtlich aufsuchen, weil sie darauf vertrauen, dass er ihren Taten und Berichten in seinen Chroniques nachhaltige Geltung verschaffen wird. Von solch einer Szene wird im vierten Buch berichtet: Dort ist von einem Knappen namens Henry Chrysthead die Rede, der Froissart von sich aus angesprochen und gebeten habe, über den Feldzug zu schreiben, den Richard II. 1394/95 gegen die Iren unternommen und an dem er, Henry, teilgenommen habe.43 Er werde Froissart ausführlich davon berichten, heißt es hier mit der Begründung: Et je le vous diray [. . .] affin que vous le mettés en memoire perpetuelle quant vous serés retourné en vostre pays et vous aurés de ce faire plaisance et le loisir.44

Es handelt sich hierbei in erster Linie um die Inszenierung einer Ehrenbezeugung, die vermittelt, dass Froissart Ende der 90er Jahre bei seiner zweiten Englandreise der Ruf eines renommierten «historien» vorauseilt, dem man vertrauensvoll die Verschriftlichung der großen Kampagnen des 100jährigen Krieges anträgt. Eine andere, wesentlich weiterreichende Form, in der die Chroniques Froissart wiederholt implizit Autorität attestieren, vollzieht sich dort, wo er als clerc auftritt, der vermöge seiner literarischen Bildung für eine bestimmte Interpretation der Geschichte bürgt. Es wird dabei eine signifikante Erweiterung der

41 Im Wortlaut: «E così, ,autore‘ [. . .] si prende per ogni persona degna d’essere creduta e obedita. E da questo viene questo vocabulo [. . .], cioè ,autoritade‘; per che si può vedere che ,autoritade‘ vale tanto quanto ,atto degno di fede e d’obedienza‘» (Convivio IV, VI, 5). 42 Cf. zu der aktuell viel diskutierten Autoritätskonstruktion in Dantes Commedia Ascoli (2011); Nelting (2014, 1–24); Kuon (2015, 101–117); Schwarze (2017). 43 Cf. hierzu Froissart (1867–1877, vol. 15 (= Chroniques, Buch IV), 168–181). Der Knappe, der nach eigenem Bekunden lange in Irland gelebt hatte und die irische Sprache wie das Englische beherrschte, erhielt die Aufgabe, die vier irischen Könige nach ihrer Unterwerfung in Dublin auf die englische Schwertleite vorzubereiten. 44 Froissart (1867–1877, vol. 15, 168).

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Verwendung des acteur-Begriffs in den Chroniques sichtbar. Ein Beispiel liefert eine Episode, die sich am Hofe des Grafen von Foix zuträgt. Dort führt der wissbegierige Froissart mit einem alten Knappen lange Gespräche, die darum kreisen, dass der Graf und sein Stiefbruder Pierre de Béarn keine rechtmäßigen Erben haben. Dieses politische Problem der gräflichen Dynastie führt in der vox populi zu allerlei Mutmaßungen, die unter anderem den Umstand betreffen, dass Pierre de Béarn von seiner zutiefst verängstigten Frau Florence und seinen Kindern verlassen worden ist. Gerüchte besagen, dazu habe sich die Frau entschlossen, weil Pierre an einem teuflischen Somnambulismus leide, welcher erstmals in der Folge einer ominösen Bärenjagd aufgetreten sei.45 Diese Gerüchte, die Pierre de Béarn als krank und seine Gemahlin als illoyal dastehen lassen, erzählt der «ehrenwerte» Knappe Froissart. Er endet damit, dass er den Geschichtsschreiber seinerseits fragt, was er von dieser populären Sicht der Dinge halte.46 Mit dieser Frage geht in der Szene das Wort an Froissart über, der nun dazu aufgefordert ist, über die Glaubhaftigkeit der Gerüchte zu urteilen. Dieser Aufforderung kommt Froissart interessanterweise in seiner Rolle als Hofdichter nach, indem er dem vagen Gerede der Menschen, das sich auf das Hören-Sagen stützt, mit der Autorität der schriftlich verbürgten Mythologie begegnet: Den «anciennes escriptures» folgend erzählt er seinem Gegenüber die Ovidsche Metamorphose von Aktaion, der in einen Hirsch verwandelt wurde, und setzt dies in Analogie zu Pierres Jagd auf den Bären und den Ausbruch des Somnambulismus. Froissarts Wiedererzählen der Aktaion-Mythe läuft auf einen Freispruch des gräflichen Ehepaars hinaus. Denn der Vergleich mit der den Menschen entzogene Allmacht der «alten Götter und Göttinnen» entschuldet den Stiefbruder des Grafen und seine Frau Florence mittelbar dafür, dass sie dem Hause Foix keine rechtmäßigen Erben hinterlassen. Mit dieser mythologischen Exkulpierung endet die Episode und der Text wendet sich den Festlichkeiten zu, die Froissart am Hofe des Grafen Gaston erlebte. Von Bedeutung an dieser Episode ist, dass sie einen Übergang vom Autorisierungsregister der Authentifizierung zur imitativen Traditionsbildung vollzieht und letztere explizit mit der dichterischen Autorität des gebildeten clerc begründet ist. Diesen Autorisierungswechsel baut der Text auf, indem er das Ich zunächst wie üblich als Informationssuchenden in Szene setzt, dessen Gespräche mit einem Informanten einen verlässlichen, weil auf einer authenti45 Cf. zu dieser Episode, die Froissart auch in dem Ritterroman Meliador aufruft, Zink (1980, 60–77). 46 Cf. zu der im Folgenden beschriebenen «déculpabilisation mythologique», Schwarze (2009, 73–84).

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schen Quelle fußenden Bericht zu begründen scheinen. Diese Authentifizierungsstrategie steht im Dienste der Legitimierung der historischen Rede. Das Argument, die vox populi könne unverlässlich sein, bietet dem Ich sodann jedoch den Anlass, aus seiner Rolle als Kriegsreporter herauszutreten und in jene des Dichters zu schlüpfen. Dessen Autorität beruht einerseits auf der Verpflichtung gegenüber der literarischen Tradition, andererseits darauf, dass der Knappe ihm die entsprechende vertrauensvolle Ehrerbietung entgegenbringt; er ist es, der Froissarts Autorität ausdrücklich bemüht. Dies vermittelt das vertraute Wiedererzählen der Ovidschen Aktaion-Mythe, die Froissart gattungsübergreifend, übrigens auch in seinen allegorischen Dit-Dichtungen und dem Ritterroman Meliador retextualisiert.47 Als Garant für den Wahrheitsgehalt des Mythos führt Froissart dabei die bereits erwähnte Glaubwürdigkeit einer alten schriftlichen Textüberlieferung an. Die Chroniques rekurrieren damit an dieser Stelle implizit auf ein literarisches Autorisierungsmuster, das im höfischen Roman seit dem 12. und 13. Jahrhundert als topischer Autoritätsmarker verwendet wurde. Gemeint ist das Konzept der translatio studii, das in Frankreich seit dem Hochmittelalter bekanntlich eine prominente Begründungfigur darstellt, um die literarische oder wissenskulturelle Geltung eines Textes zu transportieren.48 Was bedeutet die hier rekapitulierte Episode für das Konzept, das sich in Froissarts Geschichtsschreibung mit der Instanz des acteur verbindet? Sie lässt exemplarisch erkennen, wie die auktoriale Figur der Chroniques die einführend genannten Register der Selbstlegitimierung auf sich vereint und darüber hinaus beide in einer Weise inszeniert, die den acteur in den Rang einer geltungsmächtigen Autorität erheben. Die oben angedeutete Graduierung von Selbstlegitimation und Selbstautorisierung findet in den Chroniques somit Bestätigung. Signifikant ist dabei im Falle Froissarts, dass Authentifizierung und Traditionsbildung bei ihm in einem grundsätzlich komplementären Verhältnis stehen, welches darauf beruht, dass der Autor zwischen den auktorialen Registern des investigativen Zeithistorikers und des literarisch gebildeten Dichters changiert. Diese Form einer gezielt gattungsübergreifenden Selbstautorisierung markiert

47 Cf. dazu Harf-Lancner (1980, 143–152). 48 Wie präsent der Topos noch bei Froissart ist, belegt der Joli buisson de jonece von 1373, in dessen Rahmenhandlung die Allegorie der Philosophie feierlich erkärt: «Que sceuïst on qui fu Gauwains, / Tristans, Perchevaus et Yeuwains, / Guirons, Galehaus et Yeuwain, / Li rois Artus e li rois Los, / Se ce ne fuissant li registre / Qui yauls et leurs fes aministre? / Et ossi li aministreur / Qui en ont esté registreur. / En font moult a recommender» (vv. 405–413). Cf. hierzu Freeman (1978, 235–247) und Kibler (1998, 63–80).

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die weitreichendste Semantisierung, die sich das Ich in den Chroniques als «acteur» zuschreibt. Fragt man nach den Motiven, die dazu beigetragen haben mögen, dass der Chroniqueur die Autor-persona in den späten Büchern derart insistent in Szene setzt, lassen sich zwei Beobachtungen festhalten: Zum einen scheint die transgenerische Persuasionsstrategie offensichtlich dazu zu dienen, das Manko einer Geschichtsrede zu kompensieren, deren Gegenstand die unmittelbare Nahvergangenheit ist und die daher nur schwerlich auf traditionsbildende Prätexte historiographischer Provenienz rekurrieren kann. Zum anderen wird deutlich, dass der Zeithistoriker, der, wie erwähnt, sein Leben lang erfolgreich um die Gönnerschaft hochadeliger Herrschaften bemüht war, eine Form sozialer Autorisierung verfolgte. Damit komme ich zum letzten Punkt dieser Überlegungen und zur Frage, welchen Erfolg wir Froissarts intensivem Bemühen beimessen dürfen, seine Chroniques textuell zu legitimieren und sich selbst zu autorisieren. Denn bekanntlich besagt der Einsatz entsprechender Techniken an sich noch nichts über die Effektivität ihrer Wirkung auf Leser, Auftraggeber und Mäzene. Zeitgenössische Äußerungen dazu, wie seine Geschichtsschreibung rezipiert wurde, liegen uns abgesehen von interessierten Selbstaussagen Froissarts nicht vor. Zugleich ist die Anzahl von überlieferten Manuskripten der Chroniques, die zu seinen Lebzeiten entstanden, mit fünf Exemplaren gering. Gleichwohl ist der Erfolg von Froissarts Geschichte des Hundertjährigen Krieges unbestreitbar: Dies belegen ca. 100 zum Teil sehr umfängliche Manuskriptfragmente aus dem 15. Jahrhunderts eindrücklich.49 Und bei seinen Nachfolgern, den Historikern der école bourguignonne bis hin zu Commynes avancierte er offensichtlich zu einer Autorität, deren Ruhm noch in den Causeries du Lundi Sainte-Beuves und der Froissart-Statue Henri Lemaires im Hof des Louvre nachhallt. Froissarts Aufstieg in den Rang einer Autorität ist postum demnach gut dokumentiert. Von diesem Befund ging vor einigen Jahren Bernard Guenée in einer vergleichenden Studie zur fabrication de la renommée bei Du Guesclin und Froissart aus.50 Auf die Frage, was der Beitrag des Geschichtsschreibers zu seinem autoritativen Ruf gewesen sei, schließt der französische Historiker die Wahl des Gegenstands und qualitative Merkmale der Darstellungen kategorisch aus – freilich ohne die hier geltend gemachten Legitimierungs- und Autorisierungsregister gezielt zu untersuchen. Stattdessen bringt Guenée als Argument das

49 Cf. Guenée (2008, 174–175). 50 Ibid.; zum Folgenden 173–176.

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soziale Geschick Froissarts in Anschlag. Sein «entregent» habe vor allem darin bestanden, dass er eigens zu diesem Zweck angefertigte Prachtexemplare seiner Werke den Gönnern, in deren Auftrag er schrieb oder schreiben wollte, geschenkt habe – frei nach dem Motto: «Le don d’un livre est toujours la meilleure des introductions».51 Es wäre demzufolge geschicktes networking gewesen, das Froissart zu Bekanntheit verhalf, bevor seine Werke eine entsprechende Verbreitung fanden. Ich bin mir nicht sicher, ob die Argumentation Guenées tragfähig ist, da die Nähe Froissarts zur Macht meines Wissens ebenfalls ausschließlich durch Aussagen aus der Feder unseres acteur bezeugt sind. So erzählt Froissart in den Berichten von seinen Reisen, aber auch in Gelegenheitsdichtungen wie dem Dit dou Florin (1389) überaus stolz davon, wie er Gaston de Foix, Wenzel von Brabant oder Richard II. illuminierte Prachtbände seines Meliador oder seiner «traittiés amoureux et de moralité» überreichte.52 Gibt es einerseits keinen Anlass, an der Echtheit dieser Berichte zu zweifeln, können andererseits aber auch sie nicht als valenter Beleg für Guenées These gelten. Die Frage danach, was Froissarts Erfolg tatsächlich begründete, muss daher bis auf Weiteres offen bleiben. Dieses Einwands ungeachtet lenkt Guenées Argument der materiellen Selbstpromotion den Blick auf ein wichtiges Register der Selbstautorisierung, das für Froissarts fama mit Sicherheit mitentscheidend war: die soziale Selbstautorisierung im höfischen Kontext seiner Geldgeber. Auch diesen Aspekt inszenieren vor allem die letzten Bände der Chroniques insistent, indem sie einen acteur zeigen, der geradezu wie ein Höfling im Banne der Macht agiert.53 Die zeremonielle Überreichung reich illuminierter Folio-Bände des Autors an die mächtigen Herrscher seiner Zeit erscheint dabei zusehends als eigentlicher Zweck wenn nicht der Reisen an sich, so doch der Erzählungen davon. Das reich verzierte Buch und dessen Überreichung fungieren in diesem Zusammenhang als materielle Träger der sozialen Bedeutung und der offiziellen Anerkennung, welche die Tätigkeit des acteur erfährt. Die Bedeutung, die diese Art sozialer Autorisierung in einer Kultur besaß, in der das Buch und der Besitz

51 Ibid., 174. 52 «Et avoie de pourvéance fait escripre, grosser et enluminer et fait recueillir tous les traittiés amoureux et de moralité que ou terme de XXXIIII ans je avoie par la grâce de Dieu et d’amours fais et compilés, laquelle chose escueilloit et resveilloit grandement mon désir pour aler en Angleterre et veoir le roy Richard d’Angleterre [. . .]», Froissart (1867–1877, vol. 15, 141–142). 53 Cf. hierzu Kupper (1987, 819–833); Schwarze (2009, 73–84).

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von Büchern rasant an Wert gewann,54 kann abschließend ein typisches Frontispiz der Chroniques aus dem 15. Jahrhundert illustrieren. Das MS Besançon 86455 zeigt in der ersten Vignette oben links Froissart, der einem englischen König ein Buch dediziert, vermutlich handelt es sich um Richard II. Die Ikonographie der Miniaturmalerei hält auf diese Weise repräsentativ fest, dass sich die Autorität des acteur Froissart in den Augen der Nachwelt wesentlich in der sozialen Autorisierung des Geschichtsschreibers durch die Anerkennung der Reichen und Mächtigen äußerte.

Abb. 1: Besançon MS 864 Frontispiece - Folio 1r. Mazzei, Valentina, ,Reading a Frontispiece: Besançon MS 864‘, in: Ainsworth, Peter F./ Croenen, Godfried (edd.), The Online Froissart, v. 1.5 (Sheffield: HRIOnline, 2013), http://www. hrionline.ac.uk/onlinefroissart/apparatus.jsp?type=intros&intro=f.intros.VM-MS865 (first published in v. 1.0, 2010).

54 Cf. Cerquiglini-Toulet (1993, 680–695); Bratu (2012, 341–342). 55 Cf. zu dieser Illustration detailliert Mazzei (2013).

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Novation und Autorität Indizien poetischer Selbstautorisierung im Werk Hugos von Montfort

0 Einleitung War der Minnesang um 1400 vorrangig von Traditionsgebundenheit oder von Neuerungsprozessen geprägt? Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage führte zu hitzigen Forschungsdebatten. Entsprechend weit auseinander gehen die Bewertungen einzelner Sänger dieser Epoche. Ein in systematischer wie historischer Hinsicht signifikanter Fall ist Hugo von Montfort. Während die ältere Forschung lange mit der inhaltlichen und formalen Heterogenität seiner Texte haderte und dem Dilettanten Hugo Unvermögen unterstellte,1 setzen sich jüngere Ansätze verstärkt jenseits ästhetischer Wertungen mit Einzelaspekten der Text- und Autorinszenierung auseinander. Hugos Œuvre ist als eine der frühesten selbstverantworteten Autorsammlungen2 nicht nur unikal überliefert, sondern auch in weiterer Hinsicht singulär. Denn Hugo nimmt mit seinem freien Zugriff auf die Minnesang-Tradition und der spezifischen Ausformung seines Œuvres eine eigene Perspektive im Minnediskurs seiner Zeit ein; Themen wie Liebe, Moral und Zeitkritik diskursiviert er über den Einzeltext hinaus und reflektiert die Textgestaltung zugleich autor-, gattungs- und medienbewusst mit. Vor dem Hintergrund der DFG-Forschungsgruppe «Diskursivierungen von Neuem. Tradition und Novation in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit» wird im Folgenden nach Hugos textuellen und auktorialen Inszenierungsformen gefragt, mit denen er sein spezifisches Liebesideal spannungsreich artikuliert – inwieweit lässt sich bei ihm gar von einer prononcierten poetischen und medialen Selbstautorisierung sprechen? Bereits Brunner sah bei Hugo Neuerungspotenzial gegenüber der Liedtypen-Tradition und sprach davon, dass Hugo seine Liebeslieder in einer Art

1 Wachinger (1983, 247) verortete Hugos Stil auf «einer mittleren Höhe zwischen geblümtem Stil und rein formelhafter Gebrauchsreimerei»; cf. Knapp (1999). 2 Das Phänomen der selbstverantworteten Tradierung mittelhochdeutscher Autoren kommt erst um 1400 auf. Als prominenter Vertreter gilt Oswald von Wolkenstein, der mit mehrstimmiger Notation und Titelverzeichnissen besonderen Wert auf Vollständigkeit legt. Die Ausstattung seiner Codices ist hingegen eher schlicht. https://doi.org/10.1515/9783110686609-006

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‚Personalisierung‘3 autobiographisch individualisiert habe. Glier verweigerte die radikale Abwertung des Autors ebenfalls, indem sie ihm auf die Gattungsgeschichte der Minnerede bezogen einen Status als Grenzgänger zuerkannte.4 In dieser Hinsicht ist Hugo auch ein guter Prüfstein für den Dissens, ob sich ab 1400 vorrangig das «situative monologische Sprechen»5 signifikant veränderte oder ob der Minnesang ab dieser Zeit einen Wechsel in ein transformationsresistentes «mittleres System»6 durchlief. In den letzten Jahren stand Hugos Umgang mit der Minnesang-Tradition mehrfach im Fokus von Einzelstudien. Waltenberger (2005) und Mohr (2016) attestierten Hugo einen eher freien Zugriff darauf, mit dem eine Lockerung der Formen7 bzw. eine zuneh-

3 Brunner (2008, 249); ähnlich argumentiert Janota (2009) für eine größere Durchlässigkeit des Autobiographischen und eine veränderte Liedrezeption. 4 Glier (1971, 235). 5 Wachinger (1991): Der Fokus verschiebe sich dabei tendenziell vom Beginn der Liebesbeziehung hin zur stabilen Beständigkeit der Beziehung. 6 Hübner (2005, 83–117) sah als Voraussetzung dieses Systems ein gemeinsames Reservoir an topischen Elementen, das Produzenten und Rezipienten dank ihres gemeinsamen Gattungswissens in derselben Sinn-Ordnung nutzten und verstanden. Grundsätzlich ging Hübner davon aus, dass es eine Kontinuität von ‚alten‘ Liedtypen des Minnesangs hin zu den ‚neuen‘, ‚erfolgreichen‘ Typen im ‚mittleren System‘ gebe, die durch ihre Rhetorik eine Umcodierung des Liebeskonzepts erzielten. Umstritten sei also vor allem das Verhältnis von Form- und Inhaltsaspekten auf einer elementaren Ebene. Das setzt erstens eine teleologische Denkbewegung voraus, bei der mir eine gewisse Skepsis angebracht zu sein scheint, zumal Hübner dabei die Grenzen der Minnekanzone (zu Abgrenzungszwecken) verabsolutierte. Die Argumentation, die Einseitigkeit des männlichen Werbers und seine Konzentration auf die Illegitimität der Liebe seien in der Liebesklage überwunden, trifft zwar für einige Lieder zu, lässt sich jedoch längst nicht generalisieren. Entgegen Hübners Annahme einer Linearität im ‚mittleren System‘ verlaufen im Liebesdiskurs zweitens mehrere Strömungen simultan. Dem evolutionären Ansatz, die Lieder nach dem 14. Jahrhundert seien immer noch derart traditionell, dass sie sich nur graduell vom Minnesang entfernten, sei drittens entgegen gehalten, dass die Interferenzen mit anderen Liedkulturen und Intertextualität mit anderen Gattungen ebenfalls zur veränderten Art der Liedtypen beigetragen haben könnten. Der Liebesdiskurs ist nicht allein anhand eines deutschen zum ‚System‘ verdichteten Liedguts eingrenzbar, ein komparatistischer Blick (in die Romania ebenso wie ins Latein) ist mindestens so gewinnbringend (und auch bereits bei Wachinger 1991 skizziert) wie der von Hübner genannte gezogene Einbezug sozialgeschichtlicher Umstände. Ähnlich setzte auch Kerns (2005, 32–33) Kritik an Hübners ‚mittlerem System‘ an, der Hübners populärem, ‚subliterarischem mittleren System‘ Hempfers Hybridisierung der petrarkistischen, neuplatonischen und antikisierenden Systeme mit ihren jeweiligen Liebeskonzepten vorzog (Hempfer 1991, 7–43), wenngleich er ihre Grenzen mitbenannte (z.B. die Schwierigkeit, ein petrarkistisches System außerhalb von Petrarcas Texten zu belegen). 7 Waltenberger (2005, 379).

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mende Durchlässigkeit der Gattungsgrenzen8 einhergehen würden. Dass dies ein Teil von Hugos poetischer Ausdrucksweise ist, zeigte Waltenberger anhand des autoreflexiv angereicherten stilistischen Aushandlungsprozesses zwischen einer schlichten und einer artifiziellen Dichtung. Hugo spiele die Polaritäten dabei gerade nicht gegeneinander aus, sondern nutze sie als Spannungsfeld für die mehrfache Neuausrichtung seiner poetischen Rede strategisch. Zusammen mit den gelockerten Formen ergebe sich eine Verdichtung über die Einzeltexte hinaus, die durch deren Abfolgen innerhalb des Codex teilweise weiter verstärkt werde. In eine grundsätzlich ähnliche Richtung argumentierte Mohr, der sich mit Gattungsstrukturen des Tageslieds beschäftigt und herausarbeitet, dass sich für mehrere Textreihen von je drei Texten Hugos konzeptionelle Gesamtentwürfe ergäben. Diese zeichneten sich durch wechselnde Redepositionen (Dialog, Monolog, Lehre) und mehrfache Umbesetzungen von Termini (z.B. wachter) ebenso aus wie durch ein profiliertes Sinnangebot, das lockere, aber zugleich konnotationsreiche Zusammenhänge herstelle. Neben den durchlässigen Gattungsgrenzen beschrieb Mohr es als Hugos Strategie, dass er durch gleiches Wortmaterial und motivische Parallelen intertextuelle Bezüge zwischen seinen eigenen Texten erstellt, die sich im Vortrag und insbesondere auch beim Lesen der Texte kohärenzstiftend auswirkten.9 Im Anschluss an die beiden zuletzt skizzierten Ansätze, die sich jeweils auf einzelne Texte Hugos konzentrieren, fragt die folgende Untersuchung in drei Schritten weiter, wie Hugo sich mit dem Minnediskurs auseinandersetzt und welche Strategien er anwendet, um sein eigenes Liebesideal insgesamt auszuformen. Ich beginne auf der Ebene der Textfaktur (1) und diskutiere Hugos Bezug zur Minne-Tradition zunächst an zwei exemplarischen Texten, wobei neben den thematischen Aktzentsetzungen und formalen Aspekten insbesondere die Gattungshybridisierung zentral ist. Der Blick auf Hugos strategischen Einsatz der Autoreflexion und Selbstinszenierung (2) soll die Textbeobachtungen weiter vertiefen, ehe ein letzter Abschnitt den Prozess der Werkkonstituierung (3) thematisiert, in dem neben der Textgestaltung und Hugos intertextueller Kohärenzstiftung für die Frage nach Formen und Funktionen poetischer Selbstautorisierung auch der Stellenwert des Prachtcodex miteinbezogen wird.

8 Mohr (2016, 79). 9 Ibid., 99.

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1 Dynamiken poetischer Rede: Textfaktur, Gattungshybridisierung Ausgehend von seiner eigenen Erwähnung der Gattungstypen «rede», «brief» und «lieder» (Nr. 31,10 V. 165, 169, 173) wurde für Hugos Werk ein Spektrum beschrieben, das Minnereden, Morallehren, weltliche und geistliche Lieder (mit und ohne Notation) sowie Briefe umfasst. Doch sein Œuvre verfügt über eine hybride Textur, die zwar auf traditionellen Mustern basiert, den Merkmalsbündeln der zugrundeliegenden Gattungen (insbesondere nach heutiger Definition) aber nie vollkommen entspricht. Vielmehr bricht Hugo immer wieder mit gattungspoetologischen Erwartungshaltungen, indem er die Gattungsgrenzen gezielt durchlässig werden lässt und vorzugsweise bei traditionsgebundenen Motiven Bedeutungsverlagerungen vornimmt. Die Störungen, die er durch Umbesetzungen auf der Textebene erzielt, nutzt er zur autopoetischen Erweiterung und intertextuellen Kohärenzstiftung innerhalb seines übergeordneten Gesamtkonzepts, das im Folgenden schrittweise herauspräpariert werden soll. Bereits der Auftakttext des Codex «An dich gedenkhen» (Nr. 1, cf. Anhang), in dem ein Sänger-Ich seine Geliebte preist, steht exemplarisch für Hugos spezifische Textfaktur und Gattungshybridisierung. In den 90 Versen kombiniert er die simple Konfiguration von Ich und Du mit einer starken Präsenz des Sänger-Ichs sowie der Überblendung von weltlicher und geistlicher Minne, sodass der Text zunächst wie eine schlichte Minnerede wirkt: Die als «liebste Kaiserin» (V. 2/3) attribuierte Dame habe das Sänger-Ich aus aller Not befreit. Es verspreche ihr daher unbedingten Dienst und Treue, von der ihn keine Qual abbringen könne. Bei Gott wird die Rechtmäßigkeit der Liebe geschworen (V. 16) und von der Dame ein Lohn («widergelt», V. 19) erbeten. Das Sänger-Ich verknüpft sein Versprechen, es werde den Lohn angemessen erwidern und seine Beständigkeit noch stärken, mit der Aufforderung an die Dame, sie müsse ihre Ehrhaftigkeit («eer», V. 31) schützen und ein Leben führen, das sowohl gottesfürchtig sei als auch der höfischen Wertvorstellung entspreche (V. 67–76). Das Sänger-Ich brenne nach ihr (V. 55) und sei vom Pfeil der wahrhaften Liebe getroffen (V. 81s.). Dadurch sei es so mit Treue und Beständigkeit erfüllt (V. 79–84), dass sie es gerne jederzeit auf die Probe stellen könne (V. 85–90). Diese Motive folgen der Tradition des Minnedienstes, den sich ein Sänger in der Hoffnung auf einen Lohn für seine Dame auferlegt.

10 Die Editionen folgen seit jeher der Reihenfolge des unikalen Codex Heidelberg, UB, Cpg 329. Ich orientiere mich an der Edition von Hofmeister (Montfort 2005) mit einigen Änderungen zur Struktur und in der Interpunktion. Die Übersetzungen stammen, sofern nicht anders gekennzeichnet, von mir.

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Die Diskursverschränkung von Minnesang und Marienlob entspricht wiederum der Tradition des geistlichen Tagelieds. So erhält die Dame marianische Attribute, wird zum blühenden Rosenstrauch (V. 25), zur Schmerzlinderin (V. 27), ist Glück, Heilsversprechen, Gnadenkind und Trost (V. 61s.), Herzensschrein (V. 79), Lebensspenderin (V. 79s.) und wird vom Erdkreis umfangen (V. 65s.). Dies entspricht ebenfalls dem gängigen Überblendungsmodus von Minnesang und geistlichem Lied, wo das Spiel mit der Überlagerung von Maria und geliebter Minnedame bis zur Raffinesse ausgekostet wurde.11 Alles altbekannt? Auf den zweiten Blick zeigen sich sowohl in der Textfaktur als auch im Aufbau feine Abstufungen und sinnstiftende Momente. Strukturell formt Hugo die Minnerede zwar als einen Monolog, versetzt ihn aber mit einem dialogischen Redegestus, indem er ihn durch zahlreiche Apostrophen an die Geliebte durchrhythmisiert. Einige von ihnen lassen den Rezipienten an mehreren Scharnierstellen durch ihre Apokoinu-Konstruktion innehalten (V. 18, 45s., 61s., 78–80). Dazu alternieren Sprechversdichtung und lyrische Abschnitte, die sich wie kurze Strophenreihen ausnehmen: Zwischen dem Liebesbekenntnis zu Beginn (V. 1–12), einem Vollkommenheitslob der Geliebten in der Textmitte (V. 45–60) und einem Schluss, der sich wieder auf den Anfang zurückbezieht (V. 81–90), sind zwei strophenartige Reihungen von jeweils dreimal 6 Versen und einmal 8 Versen (V. 13–44 und V. 61–80) eingelassen. Hugo erschafft anhand dieser lockeren, durchlässigen Struktur und durch die wechselnden Redemodi einen konzeptuellen Zusammenhang: Überhöht das Sänger-Ich seine Geliebte zunächst direkt als Kaiserin und seine persönliche Retterin aus der Not (V. 1–3), verspricht es ihr daraufhin seine unbedingte Treue, die seinen Verstand und sein Herz mit allen Sinnen erfasst habe (V. 4–18). Zugleich visiert das liebende Ich offenbar einen spezifischen Beziehungsstatus der hier idealisierten Liebe an: Diese bedenkenlose Liebe unterstehe Gottes Gebot, wobei es sich um das Ehesakrament handeln dürfte (V. 16s.). Im Weiteren wird bestätigend betont, dass die Geliebte dem Sänger-Ich einen Lohn geben soll, den es «wahrhaftig aufnehmen und mit glücklichem Verstand, mit Treue und Ehrhaftigkeit erwidern» (V. 19–22) werde. Und obwohl die Geliebte dann durch die marianischen Attribute12 geschmückt wird, betitelt das Sänger-Ich sie später konsequent als «meine höchste irdische Königin dieser Welt» («mein hóchste kúnegínn, / weltlich auf diser erden», V. 45s.).

11 Wie beim Mönch von Salzburg oder Oswald von Wolkenstein, cf. Brunner (2008, 246–263); Wachinger (2011). 12 Der Codex verleiht der gekrönten Frauenfigur im blauen Mantel in der F-Initiale (1r) auch marianische Züge.

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Diese Klimax hin zu einer einzigartigen, zugleich persönlichen Vollkommenheitsfigur der Geliebten unterstreicht Hugo weiterhin durch Motivreihen wie die sich differenzierende und überbietende Wiederholung des Herzmotivs. Mit ihr vollzieht Hugo paradigmatisch den Weg von der Liebesbedürftigkeit über die strebende Sehnsucht nach Liebe und proleptisch hin zu ihrer Erfüllung: meín hertz, daz must verderben, / hett ich nit dein guete. (V. 47s.). min hertz, das ist furtréchtig / nach deíner sússen mínn. (V. 53s.). meín hertz, das ist verslossen / mitt trewen und mít stétikait. (V. 83s.). [Mein Herz, es müsste zerbrechen, wenn ich deine Vollkommenheit nicht hätte.] [Mein Herz, es ist bestrebt nach deiner süßen Liebe.] [Mein Herz, es ist ausgefüllt mit Treue und Beständigkeit.]

Darüber hinaus verbindet der Text sämtliche marianische Attribute mit einem Personalpronomen und stellt auf diese Weise die Erhöhung der Frau in ein direktes Verhältnis zum Sänger. Am persönlichsten ist diese Aufladung im folgenden Abschnitt (V. 61–66): mein glúk, mein hail, mein selden kínd, du bist ze tróst erkorn mir. das sag ich sicherlichen dir, das du mir bist, das nieman waiß: das firmament; der zirkel kraiß, der hát dich umbeslossen. [Mein Glück, mein Heilsversprechen, mein Gnadenkind, du bist mir zum Trost vorbestimmt. Das sag ich dir gewiss, dass du für mich das bist, was niemand weiß: das Firmament; der Erdenkreis hält dich umschlossen.]

Die explizite Vertraulichkeit stellt die Intimität der Liebesbeziehung plakativ aus, verlagert die Geliebte aber erneut paradigmatisch vom heiligen Status Mariens in eine zwischenmenschliche Nähe. Dabei überbietet sie die vorausgegangene Aussage, das Sänger-Ich habe sie lieber als die gesamte Welt («hán ich dich lieb fúr all dis welt», V. 18). Zugleich sieht es sie in der Welt: Seine Geliebte ist nicht Maria, sondern eine irdische Frau.13 So hebt der Text im vorletzten Abschnitt abermals zu einer Belehrung an (V. 67–78). Diesmal wird von der zuvor erwähnten Himmelsmechanik übergeleitet zur Notwendigkeit des Morgengebets,

13 Dazu passt, dass die angesprochene Geliebte nicht mit dem marianischen Attribut «rein» beschrieben wird, sondern stets semantisch unverfänglicher als «zart» (V. 29, 39, 85).

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das die Frau täglich demütig abhalten solle. Danach könne sie sich den Freuden der Welt mit Bedacht, Zucht und Bescheidenheit zuwenden und werde so allen Erwartungen überaus gerecht. Mit einer erneuten Kombination aus marianisch überhöhter und mit einem Possessivpronomen versehener liebevoller Apostrophe («du werdes weib, mins hertzen schrin», V. 78) erreicht das Lob seinen Höhepunkt (V. 78–84). Mit dem Hapax legomenon der Lebensspenderin («rechte mútes kikerín meins hertzen und meiner sínn», V. 79s.) weist das Sänger-Ich der Geliebten ein Alleinstellungsmerkmal zu, das die Exklusivität seiner Liebe resümiert, die ihn ganz und gar erfasst habe. Es ist auch eine Rückbindung an seine Treuebekundung am Textanfang (V. 4–15): du rechte mútes kikerín meins hertzen und meinr sínn! fraw Eer, die recht mínn hát mich auß dir geschossen: meín hertz, das ist verslossen mitt trewen und mít stétikait. [Du wahrhaftige Kraftspenderin meines Herzens und meines Verstands. Frau Ehre, die wahrhaftige Liebe hat mich deinetwegen getroffen. Mein Herz ist ausgefüllt von Treue und Beständigkeit.]

Frau Venus wird als anstiftende Pfeilschützin durch Frau Ehre substituiert, bevor sich die Diskurse von höfischer und geistlicher Minne (wie beim Texteinstieg, der ebenfalls für ein Marienlob passte, V. 1–7) ein letztes Mal überblenden. In Treue ergeben bietet das Sänger-Ich der Geliebten an, sie könne ihn jederzeit prüfen. Das Auf-die-Probe-Stellen ist biblisch14 und zugleich beliebtes Sujet der Dienstminne (V. 86–90). Umgekehrt wird die Geliebte zuletzt als größter Schatz gepriesen (V. 90), statt einer Prüfung kennt es selbst nur reinen Lobpreis für sie. Der Auftakttext zeichnet sich neben der gelockerten Form zwischen Minnerede und lyrischem Frauenpreis vor allem durch zwei Aspekte aus: Er funktioniert erstens zugleich als Vortrags- und Lesetext. Die Schlichtheit der paargereimten Vierheber wird dabei durch die Apostrophen (teilweise mit ApokoinuKonstruktionen) rhythmisiert, die wechselnden Redemodi (wie Lobpreis, Klage,

14 Jak 1,12: «Glückselig der Mann, der die Prüfung erduldet! Denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen» (Bibelzitate folgen je der Einheitsübersetzung); cf. auch 1. Pet 1,6 und 1. Mo 22,1.

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Belehrung, Fürbitte) unterstützen diesen Effekt ebenso wie die künstlerische Ausgestaltung der repräsentativen Prachtseite (1r) im Codex. Zweitens kann der Text als programmatisch für Hugos gesamtes Œuvre stehen, weil er bereits die Hauptmotive enthält, welche alle übrigen Texte wie Hauptakkorde durchziehen (dazu später mehr). Hugo benutzt immer wieder eindringliche Formeln des Begehrens und Belehrens, die er zusätzlich dynamisiert durch sich wiederholende und differenzierende Leitbegriffe wie hertz oder gott.15 Die Konfiguration von Ich und Du wechselt zwischen den Modi der Klage, Lobrede und Belehrung. Die Interferenzen von geistlicher und weltlicher Liebe, die über die Dignität der angesprochenen Geliebten umgesetzt werden, laufen letztlich auf die Realisierung einer vollkommen ehrbaren und damit heilsversprechenden Lebensführung im Ehesakrament hinaus. Das Lied «Weka, wekch die zarten lieben» ist das letzte Liebeslied der Sammlung (Nr. 37, cf. Anhang), die vier 16-versigen Strophen sind mit Noten überliefert. Sie entsprechen nicht der Kanzonenform, sondern sind durch Kreuzreime in jedem zweiten Vers metrisch lediglich locker untereinander verbunden. Die Melodie ist auf die erste Strophe zugeschnitten, während das Singen der Folgestrophen durch die unregelmäßig gefüllten Dreiheberverse mitunter eine gewisse Flexibilität erfordert (z.B. im Vergleich von I, 5–8 zu II, 5–8). Im Text selbst wird es als «tagweys» (III, 2) bezeichnet, was zunächst als autoritative Rückversicherung verstanden werden könnte. Welche Kriterien dafür gelten, bleibt allerdings fraglich, wenn die Geliebte die eigene Ehefrau des Sänger-Ichs ist und ihr Lobpreis ohne jegliche Abschiedsszene oder ironische Brechungen (wie sie für Wolfram von Eschenbach diskutiert wurden)16 auskommt: setzt sich Hugo hier im Sinne einer prospektiven Selbstautorisierung gezielt über die Erwartungshaltung hinweg? Tatsächlich durchbricht das Lied die Gattungserwartung bereits in der ersten Strophe mit einer Umdeutung in Richtung der christlichen Heilserwartung. Den Weckruf im ersten Vers verbindet das Sänger-Ich einerseits mit der übernommenen Funktion des Wächters, andererseits wird der Redemodus umgehend als innerer Monolog verdeutlicht, wenn das Ich die Rechtmäßigkeit des Weckens reflektiert, zusammen mit seiner Verpflichtung gegenüber seiner Geliebten, sie rechtzeitig zum Tagesanbruch zu wecken (I, 2–4). Auch in den weiteren Strophen sind die ersten vier Verse als Impulse seiner Reflexion funktionalisiert und zweimal mit der Apostrophe an eine Wächter-Figur bzw. einmal als Segenswunsch an Gott hervorgehoben. Darüber hinaus gibt es keine regelmäßigen Strukturmarker,

15 Gott wird in diesem Text dreimal genannt: im Schwur zur Rechtmäßigkeit der Liebe (V. 16), in der Fürbitte für die Frau (V. 50) und in der Gebetsaufforderung der Belehrung (V. 68). 16 Cf. die Debatte seit Wapnewski (1972), Mertens (1984, 233–246 sowie 2002, 276–293).

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vielmehr ist das Lied durch strophenübergreifende Bezüge und die Leitmotivik des Weckens zum Tagesanbruch geprägt. Dabei handelt es sich um einen Aushandlungsprozess zwischen der Ehrhaftigkeit der Geliebten und der moralischen Haltung des Sänger-Ichs. Das Ich thematisiert mehrfach die Schwelle zwischen Nacht und Tag sowie die Symbolkraft der Sterne für seine früheren, weltlichen tagweys. Es wird deutlich, dass der Sänger zum Tagesanbruch samt Vogelgesang und untergehender Sterne dank seiner Geliebten keinen Abschiedsschmerz empfindet (I, 12–16). Im Anschluss an sein allgemeines Frauenlob in der zweiten Strophe geht er abermals auf den Kontrast ein, dass er viel – bei Tag und auch bei Nacht (II, 6) – vom Wecken und mit der temporalen Markierung wohl auch von heimlichen Abschieden gesungen habe (II, 9), während seine Geliebte wiederum dank ihrer Ehrenhaftigkeit sorglos in die Sonne treten könne (II, 10s.). In der dritten Strophe expliziert das Sänger-Ich die Schwierigkeit, unter den herrschenden Umständen ein tagweys zu dichten. Über die eingesetzten Zeitebenen verweist es auf seine Lebensphase: Jetzt, im Alter, sei der Mann nicht mehr heimlicher Liebhaber, sondern Ehemann und (auch als Minnesänger) ausschließlich treuer Diener seiner Frau. Das Sänger-Ich klagt über seine Mühe, im Alter ein Tagelied zu dichten, weil diese Liedform ins weltliche Repertoire seiner Jugend gehörte. Zugleich ist der Vers «si hett michs wol erlassen» (III, 9) positiv konnotiert, weil der Ehemann sich lebenslang in ihrem Dienst befindet. Sein Lied hebt daher explizit nicht auf die Klage eines heimlichen Abschieds von der Geliebten ab, sondern wendet sich durch die Betonung der Gnade und passend zum Altersthema dem Abschied vom Leben17 zu: Das Sänger-Ich bezeichnet die Frau als «meins hertzen mút erkikerínn» (I, 6), «séldenreichen hort» (I, 10) und «biderb weib» (I, 9) und setzt sie durchweg ins Verhältnis zu Gott («ze dinst dem werden gott», I, 8). Die vollkommene Tugendhaftigkeit der Ehefrau, ausgedrückt durch die Verbindung von Anmut und Ehrbarkeit, markiert sie von Liedbeginn an als Anwärterin auf das himmlische Paradies. Denn Gott schuf ehrbare Frauen, um die Himmelschöre mit ihnen zu vermehren («der hýmel chór erfúllen», II, 4). Seine Ehefrau sei derart mit Glückseligkeit («selden», II, 10) ausgestattet, dass Frau Ehre («fraw Er», II, 11) sie bedecke (auch als weib gegenüber der unerreichbaren geliebten fraw). In der vierten Strophe wendet

17 Wachinger (1983, 250): «Geistliche Reflexion über Liebe und Dichtung: War schon die Anwendung der Minnerede auf die Ehefrau ein Novum, so ist dieser Typ [. . .] noch ungewöhnlicher, noch mehr Hugos persönlichste Leistung. Unrechtes und rechtes Lieben bleiben einander entgegengesetzt, aber auch auf die stete eheliche Liebe fällt nun der Schatten des memento mori, und Hugos Dichten hat als Dichten von der Liebe teil an der Hinfälligkeit der Welt».

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sich das Sänger-Ich explizit an Gott, er möge die Geliebte mit denjenigen edlen Frauen, die ehrenhaft leben, begnaden («got behút si al vor schanden», IV, 12). Hugo wählt eine eigenmächtige Lösung, indem er das Tagelied als solches benennt und es zugleich hybridisiert.18 Ein letztes Mal nimmt er dabei kontrastiv Bezug auf die Gattung Tagelied (IV, 5s.), mit einem allgemeingültig formulierten und im Sinne christlicher Heilserwartung aufgeladenen Ehefrauenlob.19 Darin lässt er die Figur der eigenen Geliebten wiederum alle übrigen Ehefrauen weit übertreffen. Beide Textbeispiele weisen eine gelockerte Form auf, in der sich Sprechgesang und Minnelied einander annähern. Gleichzeitig sind beide Texte in sich konzeptuell abgeschlossen und profilieren ihren Sinngehalt durch Leitmotivik und konnotationsreiche Kombinatorik eines ähnlichen oder gleichen Wortmaterials, das durch einige Hapax legomena (wie meins hertzen mút erkikerín, selden kint) zudem spezifisch für Hugo ist. Verfolgt man die Spur der beiden Textbeispiele weiter, lässt sich im Werk insgesamt eine paradigmatische Verdichtung erkennen. Hugo konzentriert die Überblendung von zwischenmenschlicher Beziehung und frommer Haltung gegenüber Gott auf drei konventionelle Bildbereiche, welche er in wechselnden Konstellationen und situativen Umbesetzungen nuanciert: 1. Dienst:20 Das Sänger-Ich generiert sich in der Liebesdichtung als Diener seiner auserwählten Dame, wobei es einerseits durch vage Aussagen im traditionellen Rollenverhältnis der Minnetradition verbleibt, andererseits wiederum den Ehestatus thematisiert und den Dienst somit um religiöse Aspekte erweitert. Der Dienst gegenüber Gott wird darüber hinaus in vielen Texten21

18 Mohr (2016, 100–101) betont ebenfalls den Status der Ehefrau in Hugos Tageliedern; Schnyder (2004, 452) ordnet das Lied den weltlichen Tageliedern zu, es sei eine «Modifikation der Tageliedsituation hinsichtlich der Werterepräsentation durch das Personal in der Sangverslyrik» (ibid., 453). 19 Glier (1971, 234): «Seine Minnereflexionen und -lehren gründen auf den zeitlos gewordenen und verstandenen höfischen Normen, die aber bei ihm immer wieder vom allgemein Grundsätzlichen ins Historisch-Biographische hinüberspielen und hic et nunc gelebt werden sollen. [. . .] sie sollen sich in der eigenen Ehe verwirklichen, die damit einer Minnegemeinschaft gleichgesetzt wird». – Das Lob der eigenen Ehefrau bleibt vage und ist ebenfalls grundsätzlich gemeint, dazu später mehr. 20 Das Doppelkonzept ist in dienst/diener/dienen (Nr. 1, 2, 6, 17, 19, 20, 23, 26, 34, 35, 36, 37) sowie ebenso im Ausdruck knecht realisiert: Der Refrain des Liebeslieds Nr. 6 lautet: «mitt wíllen fro des bin ich zwár, / wann ich sich an dir ítel recht. / und solt ich lebm tusent iár, / so bin ich doch din aigen knecht». Sehr ähnlich ist der knecht an anderer Stelle religiös konnotiert, wie in Nr. 31,123: «herr got, hab mich als deinn knecht!». 21 Nr. 1, 4, 28, 29, 31, 32, 33, 38, 39, 40.

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eingefordert, die vorwiegend die Erlangung des Seelenheils reflektieren. Im ersten Text werden beide Konnotationen in der Überblendung von Maria und der geliebten Ehefrau auf einzigartige Weise miteinander verbunden. Schatz: Im Schlussvers von Nr. 1 wird die geliebte Frau als «hóchster hort» betitelt (1,90), in drei weiteren Fällen22 verstärkt durch das emotionsgeladene «mein lieber búl». Doch die christliche Wahrheit in der Glaubenslehre ist bei Hugo ebenfalls ein Schatz (28,439): «gerechti ler, das ist ain hort, – / des sol sich nieman wern». Gottes Liebe und die Liebe zu Gott werden als Initiationspunkt23 aller daraus abgeleiteten Liebesverhältnisse konstatiert (18,69–72): «von lieb ist all sach beschehen: / das got ze menschen ward, / das will ich mit der warhait iehen – / lieb ist ain sóleicher hort». Riskant ist hingegen die Verwechslung von irdischen Gütern und ewigem Heil (18, 241–248; 31,7). Hierfür setzt Hugo an anderer Stelle ebenfalls den Frau-WeltTopos ein (dazu später mehr). Lohn:24 Das Entscheidungsvermögen über irdische Pracht und Seelenheil drückt sich folgerichtig noch im Lohn-Konzept aus. Dieses enthält neben der Erkenntnis über gute und schlechte Güter bei Hugo nämlich stets einen Appell zur christlich angemessenen Lebensführung, in deren Folge sich das Heilsversprechen beim Jüngsten Gericht erfüllen könne. Zugleich laufen im Lohn jedoch ebenfalls die Anerkennung der Frau als Schatz und die Dynamik des Dienstverhältnisses in der Liebesdichtung zusammen, sodass sich dieses Konzept wie im Text Nr. 1 gleichfalls religiös funktionalisieren lässt.

Zweifelsohne handelt es sich hierbei um gängige Minnetopoi. Gerade Hugos Beschränkung darauf ermöglicht ihm allerdings, durch Umbesetzungen und moralisierende Erweiterungen intertextuelle Bezüge und damit ein Sinnangebot innerhalb seines Œuvres hervorzubringen. Hugos Literatursprache25 charakterisierte Waltenberger weiterhin dahingehend, dass «sie sich immer wieder selbst relativiert und neu ausrichtet».26 Die Suche nach einer wahrhaftigen Rede lasse sich als «unstete Bewegung seiner poetischen Rede zwischen diesen Polen

22 Die Zwillingsformel gibt es in 34,30 sowie 36,5 und 36,28; mein lieb(st)er búl zudem in 3,37; 7,1; 18,2; 18,181; 35,2. 23 Cf. 1. Joh 4,19: «Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat». 24 Das Lohn-Konzept weist onomasiologisch die größte Streuung auf, es umfasst auch die Lemmata widergelt (1,19 und 22; 3,84) bzw. gelt (26,26), miet (5,352), sold (18,244; 31,23 und 84), stewr (28,3), lehen (31,166). 25 Cf. zur Definition Huss (2014, bes. Sp. 541). 26 Hier und im Folgenden Waltenberger (2005, 387).

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mitvollziehen. Sie entspricht dem prozessualen, nicht-systematischen Wissensmodus der Erfahrung». Diesen dynamischen Prozess gestaltet Hugo nicht nur in der Textgestaltung intra- und intertextuell aus, sondern verwendet ihn ebenfalls, um die Texte jenseits von Gattungsgrenzen miteinander engzuführen. Die hybriden Überlagerungen und Interferenzen belegen nicht Hugos künstlerische Defizienz, sondern sind Ergebnisse seiner Textgestaltung, die sich zwischen Rückversicherung auf die Tradition der hochmittelalterlichen Minnesänger und prospektiver Selbstautorisierung bewegt. Sie können somit als Indizien seines Novationsbewusstseins gelten.

2 Hugos autoreflexive Metadiskussion: reine Selbstinszenierung? In einem zweiten Schritt konzentriere ich mich auf die autoreflexive Metadiskussion in Hugos Werk. Ich fasse sie als durchaus souveräne Argumentation auf, die er strategisch dazu nutzt, seine Gesamtkonzeption abzustützen. «Mir kam ain priests fúr im tróm» (Nr. 31) hat mit seinem hohen autoreflexiven Anteil die literaturwissenschaftliche Sicht auf Hugos Werk stark mitgeprägt, insbesondere die berühmte Selbstaussage, dass die Dichtung «auf dem Pferderücken» entstanden sei und der formalen Perfektion aus Zeitgründen nicht genügend Aufmerksamkeit hätte geschenkt werden können (V. 149–152): dis búch han ich gemachen den sechßten tail wol ze rossen. darumb sol nieman lachen, ob es ist gentzleich nicht beslossen. [Dieses Buch habe ich geschrieben, ein Sechstel davon auf dem Pferderücken. Deshalb sollte niemand darüber spotten, wenn es nicht ganz perfekt ist.]27

In der Forschung wurde diese Aussage häufig zum Eingeständnis des eigenen Dilettantismus reduziert, obwohl sie als Topos bereits bei Wolfram von Eschenbach vorkommt. Gestritten wurde allenfalls darüber, ob Hugo sich auf diese Weise inszenieren wollte oder schlichtweg nicht besser dichten konnte. Hugo von Montfort war hochadliger Landesherr und Autor. Wir kennen diese Konstellation von Minnesängern der vorausgegangenen Zeiten. Der Codex Manesse 27 Hofmeister (2005, 148), Übersetzung von Oetjens.

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beginnt bekanntlich mit Kaiser Heinrich, der neben seinen Regierungsgeschäften ebenfalls gedichtet hat, und enthält weitere namhafte Grafen, Fürsten und Herren des Mittelalters. Hugo lebte im selben geographischen Raum wie viele dieser Autoren. Er traf die zeitgenössischen unter ihnen bei politischen Anlässen wie dem Konstanzer Konzil und am Wiener Hof. Seine Ehefrauen Clementia und Anna stammten mit Kraft von Toggenburg und Rudolf von Stadegge beide von Vorfahren ab, die sich – erneut belegt es der Codex Manesse – wie Hugo als Minnesänger betätigt hatten.28 Vor diesem Hintergrund ist es wenig überzeugend, einzig Hugo zum Nichtskönner herabzustufen, wie oft geschehen. Die Aussagen in Text Nr. 31 lassen sich auf einer autoreflexiven Ebene lesen, sind jedoch keineswegs eine Carte blanche für eine einseitige biographische Reduktion. Hugo gibt (im Gegensatz dazu) nirgends je die Klarnamen seiner Ehefrauen an, die übrigen lebensweltlichen Fakten bleiben ebenso vage. Ein Gesamtkonzept wurde Hugo ebenfalls meist abgesprochen, bevor jüngere Ansätze sich erneut mit der Frage auseinandergesetzt haben. Schumacher und Schumacher (2011) kamen etwa zu dem Schluss, dass Hugos Reflexion über den Schöpfungsprozess in «Mir kam ain priests fúr im tróm» als Konzept der Weltabsage angelegt sei. Ihre Studie bemüht sich zwar um einen konstruktiven Umgang mit den teilweise widersprüchlich erscheinenden binnenliterarischen Aussagen, bricht aber nach Vers 220 ab und vernachlässigt so die programmatische Einbindung christlicher Heilslehre der nachfolgenden 40 Verse. Ich halte diesen Aspekt wiederum für zentral und gehe daher auf die Kohärenzbildung innerhalb des gesamten Texts ein. Auf der Makroebene29 weist der Text Nr. 31 einen Umfang von 260 Versen auf und hat fünf Abschnitte: ein Streitgespräch (V. 1–124), eine Werkreflexion (V. 125–196), eine Vergänglichkeitsklage (V. 197–220), eine christlich-ethische Reflexion über den gerechten mút sowie eine reziproke Fürbitte (V. 253–260). Diese zunächst heterogen wirkenden Abschnitte sind auf inhaltlicher Ebene durch eine ausdifferenzierte Argumentationsstruktur verbunden, gestalterisch lassen sich an den jeweiligen Übergangsstellen acht bzw. vier Scharnierverse ausmachen (V. 125–132; 189–196 und 217–220). Was wird verhandelt? Das Streitgespräch zwischen dem Sänger-Ich und dem Priester beginnt mit dem Vorwurf, dass der Frauenpreis durch die ver-

28 Kraft von Toggenburg (13. Jh., Vater oder Sohn?), Minnesänger und Vorfahre der Clementia von Toggenburg, sieben Lieder überliefert in Cpg 848, 22v-23v, eines fragmentarisch in den Naglerschen Bruchstücken (heute: Krakau, Biblioteka Jagiellonska, Mgo 125, ehemals Staatsbibliothek Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Ms. Germ. Oct. 125); Rudolf II. «von Stadegge» (Mitte 13. Jh.?), Minnesänger und Vorfahre Annas von Neuhaus, drei Lieder überliefert in Cpg 848, 257v-258r. 29 Cf. zur Textstruktur die Übersicht im Anhang.

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gleichenden Bildfelder von irdischen Kostbarkeiten (Blumen, Edelsteinen, Gold, Perlen), die der Sänger den Frauen aus Liebe zum Lohn gebe, die Welt selbst zum Schatz stilisiere. Problematisch sei daran vor allem das Niederschreiben in versifizierter Form, weil der Text die Mitmenschen und den Autor selbst verblenden und zur Sünde verführen könnte (V. 29–36).30 Dem Minnesang wird daraufhin die logica, die in der Jurisprudenz Anwendung findet, gegenübergestellt: Das Hilfsinstrument der logischen Beweisführung wird dabei ebenfalls als ambivalent entlarvt. Wo es eigentlich dazu dienen soll, das Recht durchzusetzen, biete es mit ausgeklügelten Worten dem Unrecht Auswege. Der Priester gesteht dem Sachverhalt dieses Risiko meines Erachtens zu (im Gegensatz zu bisherigen Editionen31 ordne ich hier nur die Verse 61–72 ihm zu, dies entspricht der Handschrift und wird der Dialogstruktur besser gerecht). Den Angriff des Sänger-Ich pariert er, indem er die Voraussetzung einer Eigenverantwortung bei Rechtssprechern betont, die sie dank einer hohen Gelehrsamkeit ausbilden. Erst so seien sie gefeit und könnten den richtigen Umgang mit der logica gewährleisten. Das Sänger-Ich fühlt sich durch diese Relativierung ein Stück weit bestätigt (V. 73: «Ich sprach: Herr, das hör ich gern») und beansprucht einen ähnlich differenzierten Umgang mit seinen Schriften (V. 74–76: «Ihr lasst das von mir Geschriebene wohl stehen? Ihr sollt mich nicht strafen, das will ich euch auf diese Weise wissen lassen»). Es fährt fort, insgesamt gleiche die logica nämlich der Welt, die die Menschen ebenfalls auf vielfältige schlaue Arten betrügen und verblenden würde (V. 77–82). Wer also nicht selbst kompetent genug sei, um etwa das Recht zu verstehen und anzuwenden oder die Welt zu durchschauen, wiege sich durch die logica und seine Naivität selbst in trügerischer Sicherheit. Dabei gehe es doch niemals (weder im Minnesang, noch im Recht oder auf der Welt) um den eigentlichen Lohn, denn dieser sei nicht irdisch (V. 83–92). Mit dieser Erkenntnis, die der Priester zustimmend kommentiert, endet der Streit. Das Sänger-Ich leitet nahtlos über zur Werkreflexion, indem es erklärt, das buch enthalte seine Beweggründe im Leben und könne für ein Urteil darüber herangezogen werden. Im Folgenden betont das Sänger-Ich seinen wandelberen sin, der sich in der freien Themenwahl ausdrückt wie auch in der Entscheidung, die Dichtung neben dem Tagesgeschäft zu betreiben (wohlwissend, dass dann kein perfektes Ergebnis möglich ist). Nach einer Bilanz zu Anzahl und Art der verfassten Werke wird der Melodiengeber Burk Mangolt (V. 183) genannt.

30 Eib (2001, 35): «Niemals klagt er sich selbst unerlaubter Gefühle an, sondern immer nur unerlaubter Worte. Die religiöse Ängstlichkeit, die dabei H. von Montfort bedrängt, wird aber durch sein Vertrauen auf die Rechtfertigung des guten Muts immer wieder überwunden». 31 Hofmeister (2005, 144, Anm. zu V. 45).

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Die Werkkonstitution wirkt durch die detaillierten Angaben und die Relativierungen als umfassende Auseinandersetzung mit dem eigenen Schöpfungsprozess. Während der Appell zur Beurteilung des Lebens anhand des Buches auf das Streitgespräch rückverweist, intensiviert der nächste Abschnitt mit dem Vergänglichkeitstopos die Aktualität des Urteils bzw. die Dringlichkeit der Rechtfertigung: Mit den Übergangsversen, die auf das hohe Lebensalter von Melodiengeber und Dichter verweisen, klagt das Sänger-Ich über die Vergänglichkeit der menschlichen Schönheit und Kraft sowie sein retrospektiv leichtfertig empfundenes früheres Handeln. In weiteren Übergangsversen ist der unumkehrbare Kraftverlust mit dem Schöpfungsprozess enggeführt, indem körperliche Schwäche eine gewisse Orientierungslosigkeit in der Welt bedinge (V. 217–220). Doch unterlässt das Sänger-Ich daraufhin nicht das Dichten generell, sondern nur im engeren Sinn den Frauenpreis. Stattdessen reflektiert es über den gerechten mút. Dabei ist mir Spechtlers Übersetzung ‚rechte Gesinnung‘32 für «gerechter mút» zu unspezifisch. Meiner Ansicht nach thematisiert Hugo hier die Gottesfurcht, die als Krone der Weisheit seinen Erkenntnisprozess schmückt, weiterhin heißt es nämlich (V. 225–227): won gerechter mút, daz ist ain krón in hymel und auff erden; damit verdient man das ewig lon. [Denn Gottesfurcht, das ist eine Krone im Himmel und auf der Erde; damit erwirbt man den ewigen Lohn.]33

Seine Reflexion schließt an Jesus Sirach 1,11 an34 und dient der Erziehung zur Weisheit durch ein gottesfürchtiges Leben. Im Schlussgebet bezieht der Text die Rezipienten mit ein, die er mit dem didaktischen Modus bereits zuvor angesprochen hat und zuletzt zur wechselseitigen Fürbitte auffordert. Hugo war weder Theologe noch Jurist. Er argumentiert dennoch unter Einbezug von Wissen aus dem Rechtsbereich (als Vasall der Habsburger verfügte er über die Gerichtsbarkeit) und der Theologie. Seine Bibelkenntnis könnte sich auf die Grundbildung (v.a. Alphabetisierung) im Kloster, die für die Montforts

32 Spechtler, in: Hugo von Montfort. Einführung zum Faksimile des Codex Palatinus Germanicus 329 (1988, 132). 33 Hofmeister (2005, 151), Übersetzung von Oetjens. 34 Sir 1,11–21: «11 Die Gottesfurcht ist Ruhm und Ehre, Hoheit ist sie und eine prächtige Krone. 12 Die Gottesfurcht macht das Herz froh, sie gibt Freude, Frohsinn und langes Leben. 13 Dem Gottesfürchtigen geht es am Ende gut, am Tag seines Todes wird er gepriesen. [. . .] 17 Ihr ganzes Haus füllt sie mit Schätzen an, die Speicher mit ihren Gütern. [. . .] 21 Die Gottesfurcht hält Sünden fern, wer in ihr verbleibt, vertreibt allen Zorn».

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belegt ist,35 sowie gehörte Predigten und private Lektüre in Andachtsbüchern36 begrenzt haben. Für seinen Status als Autor erscheint mir die Verbindung, die er zwischen dem Schaffensprozess und der Entscheidungskompetenz zwischen Gut und Böse herstellt, besonders relevant. Mit der Betonung der Urteilsfähigkeit und dem Zugeständnis, der Rezipient möge ihn selbst anhand seines Werkes – so lässt es sich durch das omnipräsente Sänger-Ich zumindest auch lesen – beurteilen, transferiert er den Minnediskurs der hochmittelalterlichen Autoren in seine Lebenswelt. Auf der Gestaltungsebene hybridisiert Hugo mehrere Texttypen (Streitgespräch, Vergänglichkeitsklage, Fürbitte), dynamisiert den Text aber auch durch Reflexionen und kohärenzstiftende Motive, die in Variationen wiederkehren, paradigmatisch. So intensiviert Hugo das vielverbreitete Schlüsselkonzept des gerechten Lohns hier wie besprochen im peccata mundi-Topos (im Frau-WeltDialog, Nr. 29, setzt er es zusätzlich allegorisch um). Durch seine autoreflexiven Aussagen hebt er sich zugleich vom Bild des «höfischen Repräsentations- und Unterhaltungskünstlers»37 ab. Dass es Hugo mit der Diskursivierung des Seelenheils ernst war, wird nicht nur durch die nachdrückliche Repetition dieser Thematik deutlich, sondern auch in der Wahl seines Epitaphs im Minoritenkloster in Bruck an der Mur (Steiermark): «Ein guter Mensch bringt Gutes hervor, weil in seinem Herzen Gutes ist; [. . .]. Wovon das Herz voll ist, davon spricht der Mund». Dieser Bibelausspruch (Lukas 6,45) zielt auf die gottesfürchtige Sprache des Herzens ab (ähnlich wie der Überschwang aus Gottesliebe für die Mystik als locutio cordis38). Auch die Entscheidungskompetenz ist hier mit angesprochen, die Hugo für sich selbstbewusst in Anspruch genommen hat. So wundert es nicht, dass er beim Epitaph den Bibelausspruch in eigener Formulierung (aus Nr. 31, hier unterstrichen) übernommen hat: Ich hán es ie darnach gemachen als mir do was zu mút, won: wes das hertz begerend ist, der mund túts dikch sagen. [Ich habe immer so gedichtet, wie mir zumute war. Denn: Was das Herz verlangt, davon spricht oft der Mund.]39

35 36 37 38 39

Burmeister (1982, 36). Ibid., 37. Vögel (1996, 256). Köbele (2007, 82). Hofmeister (2005, 147), Übersetzung von Oetjens.

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Hugos Umgang mit der literarischen Tradition ist ebenfalls eigenständig. Von anderen Autoren lässt Hugo sich lediglich inspirieren, übernimmt jedoch keine Texte in seine Sammlung und setzt sich bei seinen Erwähnungen (beispielsweise Peter Suchenwirt und ,Titurel‘) in eine eigenwillige Relation dazu. Insbesondere Freidank nutzt er ausgiebig, ohne ihn zu erwähnen.40 Auch die Stilisierung des berittenen Dichters könnte er als Topos aus der Literatur (etwa von Wolfram von Eschenbach) kennen und sie gezielt einsetzen. Hugo stellt dabei gleichzeitig mit der expliziten Rückbindung an die vorangegangene Dichtung emphatisch eigene Geltungsansprüche41 heraus. Einer davon ist die Verbindung zwischen der Dichtung und lebensweltlichen Ereignissen. Hugo verwebt sich und sein Leben mit der eigenen Dichtung, ohne jedoch einen autobiographischen Duktus anzustreben (wie Oswald von Wolkenstein) oder eine stringente lyrische Sprecherrolle zu entwickeln (wie Ulrich von Liechtenstein). Eigene lebensweltliche Details fließen nur so dosiert in die Texte ein, dass sie vage bleiben. So lässt es sich beispielsweise nicht entscheiden, welche seiner drei Ehefrauen im Text jeweils konkret gemeint sein könnte, wir sind auf Spekulationen angewiesen.42 Sowohl für die angesprochene Frau als auch für das Sänger-Ich handelt es sich demnach vorrangig um Rollen. Zudem hybridisiert Hugo narrative und lyrische Passagen mit argumentativen Abhandlungen und Reflexionen. Innerhalb seines Werks kombiniert er diverse Textformen wie Lieder und Dialoge mit Briefen, von denen einzelne eine außerliterarische Kommunikationsfunktion gehabt haben könnten und andere wiederum als MinneredenTransformation gedichtet wurden. Glier nennt Hugo auf die Gattungsgeschichte der Minnerede bezogen nicht zufällig «eine der interessantesten Grenzfiguren».43 Hugos Textformen zeigen hybride Tendenzen, indem etwa Minnerede und Brief ebenso aufeinander zulaufen wie man kleinere liedhafte Formen inseriert findet. Inhaltlich dokumentieren diese Texte einen Aushandlungsprozess, der die Axiologien des Hohen Minnesangs, an die er sich rückbindet, gleichsam überformt durch einen christlich-ethischen Verhaltenscodex und autoreflexive Konkretisierung. Hugo richtet diesen Prozess in einer Dynamik zwischen Reflexion und Interaktion mit dem Rezipienten auf die persönliche Verantwortung fürs eigene Seelenheil aus.44 Dabei konzentriert er sich auf die Liebesthematik, von der zwei

40 Hofmeister hat sie in der Edition markiert, cf. dazu die Einführung in Hofmeister (2005, 19 und 31). 41 Ich verwende den Begriff im Sinne Waltenbergers, cf. Waltenberger (2005, bes. 374). 42 Nur die vereinzelten Jahreszahlen lassen mitunter Rückschlüsse zu. 43 Glier (1971, 235). 44 Wachingers Konzept des situativ monologischen Sprechens beschreibt es für den Minnesang treffend (Wachinger 1991). Aufgrund des zentralen Reflexionsmodus, der den Minnedis-

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Drittel seiner Texte (nämlich 21) hauptsächlich handeln (davon fünf allein von der geistlichen Liebe). Durch den paradigmatisch gekoppelten Zusammenschluss zwischen der Ehe und dem christlichen Lebensweg bringt er Liebesheil und Seelenheil in seinem Werk auf spezifische Weise zusammen.

3 Strategien der Werkkonstituierung Hugos selbstauferlegte Begrenzung auf eine geringe Anzahl von Grundthemen erlaubt verschiedene Schlussfolgerungen. Ich sehe darin mit Mohr einen Vorteil, weil das «beschränkte [. . .] Motivreservoir [. . .] Hugos Œuvre seine charakteristischen Züge verleiht»45, und nehme an, dass Hugo seine Texte im Prozess seiner Werkkonstituierung final ausrichtet. Er strebt eine Liebesdichtung an, die mit laientheologischen Ansichten zum angestrebten Seelenheil in Einklang gebracht wird. Er vermittelt das Gesamtkonzept dabei weniger in einer stringenten Argumentation als vielmehr in Form eines Aushandlungsprozesses zwischen Hybridität und Kohärenzstiftung, der mit der Ausstattung des Prachtcodex korrespondiert. Die Werkkonstitution lässt viele Fragen offen: Distinkte Ordnungsstrukturen sind in Hugos überliefertem Werk nicht erkennbar, es gibt weder ein Register noch eine Zählung oder zuverlässige Daten zu allen Einzeltexten. So bleibt unklar, ob der unikale Codex sämtliche Texte enthält46 und wodurch die Reihenfolge bestimmt ist. Die gängige Vermutung, es handle sich um eine chronologische Abfolge, beruht auf wenigen Indizien (v.a. den genannten Daten sowie der als Bilanz verstandenen Autoreflexion in Nr. 31) und ist ohne weitere Überlieferungsbefunde nicht abzusichern. Der Prachtcodex verweist ebenso auf die hohe Selbsteinschätzung des Werks wie die Themenwahl und der freie Umgang mit Gattungstraditionen und Formelementen (inkl. Melodien) auf Hugos Unabhängigkeitsanspruch. Der erste Text lässt sich in diesem Sinn programmatisch lesen. Waltenberger spricht hinsichtlich der Einzeltexte von einer Lockerung der «konventionellen formalen

kurs mit einem stark ausgeprägten heilsgeschichtlichen Fokus versieht und ihn konsequent zum lebensweltlichen Verhaltenscodex umformt, müsste man ihn für Hugos Œuvre jedoch noch modifizieren. 45 Mohr (2016, 78). 46 Die Frage der Echtheit der beiden letzten Texte klammere ich an dieser Stelle aus, für die Einschätzung der Geltungsansprüche fällt sie nicht stark ins Gewicht; Belege dieser Texte führe ich mit auf.

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Unterscheidungen»47, die in einer «textübergreifenden Verdichtung» ende. Die Werkkonstituierung ist bei Hugo mit der poetischen Dynamik, welche sich durch eine gewisse Hybridität und Durchlässigkeit der Formen auszeichnet, eng verbunden und verstärkt die Kohärenzstiftung. Die Schlüsselkonzepte Dienst, Schatz und Lohn durchdringen das gesamte überlieferte Werk und verweisen derart eng aufeinander, dass ein in sich funktionierendes Gesamtkonzept entsteht. Dieses bildet sich meines Erachtens ebenfalls in der überlieferten Ordnung ab, wobei inhaltlichkonzeptuelle und mediale Indizien zusammenwirken. Der bereits besprochene Text «An dich gedenkhen» bildet als Auftakt eine geschlossene Argumentation anhand der paradigmatisch eingesetzten Schlüsselkonzepte und konstituiert damit eine Art vorangeschicktes Programm, das sich in kurzen Worten zusammenfassen lässt: Der Sänger stellt sich mit seiner Lobdichtung in den Dienst seiner Ehefrau und ist zugleich Diener Gottes, was er ihr ebenfalls nahelegt. Denn er reflektiert über Wertigkeit von Liebe und Gütern sowie über die Schlussfolgerung, welchem wahren Lohn er und seine Frau nachzueifern hätten. Die Dichtung mit eigener Stimme (d.h. im Rahmen seiner Fähigkeiten, allenfalls erweitert durch Auftragsmelodien) und ihre Fixierung in dem prachtvollen Codex sind seine Instrumente, mit denen er ebenso beiden Rollen (als Liebender und Frommer) gerecht zu werden versucht. Die Liebe zur Frau drückt er im nachfolgenden Werk durch Textformate der klassischen Liebesdichtung (Minnelied mit oder ohne Notation, Minnerede und Liebesbrief) aus, füllt diese jedoch auf seine eigene Art (schlichte Strukturen, Paar- oder Kreuzreime, Wiederholungen und Bezugnahmen) aus und formuliert sie vorwiegend in einem vertrauten Dialog-Tonfall, der mitunter in ein allgemeingültiges Frauenlob wechselt. Auch in religiöser Hinsicht verknüpft Hugo den Selbstausdruck und seine Hinwendung zu Gott miteinander, wobei Gebete (wie Nr. 30) und lehrhafte Passagen diesen Eindruck verstärken. In dem Streitgespräch zwischen dem SängerIch und Frau Welt (Nr. 29) nimmt Hugo beispielweise die Zehn Gebote vollständig auf, die Umsetzung erfolgt jedoch in gereimter Form und eigener Anordnung (dazu unten ausführlicher). Neben den hochfrequenten Schlüsselkonzepten konstituiert er sein Gesamtwerk strukturell über ein Grundgerüst von fünf Texten, die allesamt durch ihre anspruchsvollen Figureninitialen48 aus der Sammlung hervorstechen. Wie besprochen eröffnet der erste Text «An dich gedenkhen» den Diskursrahmen gewissermaßen prologartig. Die Texte 16, 19 und 20 führen die Beziehungsgenese

47 Hier und im Folgenden Waltenberger (2005, 379). 48 Sie befinden sich auf 1r, 16r, 20r, 20v, 25r.

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zwischen Mann und Frau vor: In «Mir bkam ain gsell am mayen tag» (Nr. 16) werden von einem Natureingang ausgehend die Annäherung und Entstehung der Liebe zu einer Frau thematisiert. Der Text verbleibt jedoch beim oberflächlichen Prozess, bevor er umschwenkt zur Rolle, welche Dichter und Sänger im Liebesdiskurs innehaben, und endet dann mit einem emphatischen Lob auf alle Frauen. In den Texten «Mein getrewen dinst mit gewissen gút» (Nr. 19) und «Der edeln wolgeporn» (Nr. 20), die als Liebesbriefe formuliert sind, wird der Geliebten mit großem Nachdruck der Minnedienst angetragen. Während der erste Brief stärker auf die Entstehung und Macht der Liebeswirkung eingeht, beteuert der zweite Brief die eigene Würdigkeit, die in Form von Treue und Beständigkeit ausgedrückt und durch einen genannten Bürgen verifizierbar wird. In beiden Fällen wird neben der Vollkommenheit der Frau und den damit ausgelösten Affekten stets auch auf Gottes Gnade verwiesen.49 «Fro Welt, ir sint gar húpsch und schón» (Nr. 29, cf. Anhang) ist das reflexive Pendant zum ersten Text der Sammlung: Wird in Text Nr. 1 die Liebe mit Gottes Gnade diskursiviert, erörtert das Streitgespräch mit der allegorischen Frau Welt auf abstrakte Weise und gleichsam zeitkritisch die Konditionen des Seelenheils.50 Der Textbeginn besteht aus einer anklagenden Apostrophe des Sänger-Ich an die Allegorie, die als höfische und hübsche Frau attribuiert und doch simultan für ihren nichtsnutzigen Lohn angeklagt wird. Hugo stellt sich damit klar in die Tradition der Frau-Welt-Texte, welche die irdischen Verführungen als Gefahr für das christliche Seelenheil thematisieren.51 Auf die Anklage, sie sei zwar höfisch und hübsch, ihr Lohn jedoch wertlos (V. 1s.), antwortet die Allegorie mit einer Einladung zum höfischen Tanz. Der distanzierenden Apostrophe «fro Welt» (V. 1), die ohne jegliche Ausschmückung einer locus amoenus-Szene den Textanfang ergibt, entgegnet die Allegorie mit der vertraulichen Freundschaftsformel «lieber gesell»

49 Auf die literarisierten Briefe folgt eine Trias von Texten (21–23), die von der erfüllten Liebe handeln. 50 Mit den Texten 30 und 31 folgen darauf ein Gebet in 112 Versen und eine allumfassende Reflexion. 51 Bspw. Mt 18,7: «Wehe der Welt wegen der Ärgernisse!» – Mit dem Lied «Fro werlt, ir solt dem wirte sagen» speiste Walther von der Vogelweide diese dezidiert in den höfischen Minnesangdiskurs ein, während Konrad von Würzburg in seinem 274 Verse umfassenden Text die moralische Ausdeutung mit einem Bußappell zuspitzt. Daneben gibt es mehrere lateinische Exempla (Gesta Romanorum Nr. Oe 202) sowie in den beiden Sammlungen von Klapper (Breslau UB, I.F.115, Nr. 8 und 607, Nr. 193), s.a. Eichenberger (2015, 125f.) sowie einen deutschen Prosatext von 1393 (Zürich, ZB, A 131, 89r-90r), der das Lohnthema in Richtung göttliche Gnade verschiebt. Michel Beheim dichtete ebenfalls ein «Peispel von einem weib wz uorn schön und hinden schaüzlich», das zeitlich nach Hugo von Montfort einzuordnen ist, ich behandle es hier nicht mit.

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(V. 9). Sie versucht, die Sorge des Christen um sein Seelenheil, welche er mit dem biblischen Bild des verkehrten Wegs (Mt. 7,14; Ps. 1) veranschaulicht, mit einem ebenfalls biblischen Ausdruck (Mt. 6,26) abzuschwächen, «las vógelli sorgen» (V. 13), den sie ex negativo verwendet.52 Das Sänger-Ich wird also direkt zu Beginn des Streitgesprächs bezüglich der Ernsthaftigkeit seiner Abkehr von höfischer Freude (symbolisiert durch den rosenbekränzten Tanz von Männern und Frauen) auf die Probe gestellt. Den Verzicht auf die irdische Pracht zugunsten des himmlischen Lohns verteidigt das Sänger-Ich erfolgreich gegen die Infragestellungen (zunächst Entschlossenheit als Narr, dann als Kleriker). Dabei beharrt es zunächst intuitiv auf seinem Gottvertrauen. Die Vergänglichkeit der Welt stehe fest, daher sei allein der himmlische Lohn erstrebenswert (V. 33–36): ich enwaiss nicht, was ich machen wil: die welt ist ain zergangkleich leben. ewer antwurt, der ist mir ze vil, gott tút die rechten gaben geben. die welt, die geit nu triegen das mertail in allen landen mit laichen und mit liegen – o pfuch der grossen schanden! [Ich weiß nicht, was ich tun soll: Die Welt ist vergänglich. Eure Antwort halte ich für sehr anmaßend, nur Gott gibt die rechten Gaben. Die Welt gibt heute in den allermeisten Ländern nur Betrug mit Hinterlist und Lüge. Pfui über diese große Schande!]

Anschließend opponiert das Sänger-Ich dreimal gegen die Provokationen der Allegorie: Erstens gegen die Verführung zum Tanz («spring mit fróden an den tantz», V. 14), zweitens gegen die Verleugnung der Vergänglichkeit («alten méren», V. 57 bzw. «frómden méren», V. 73) und drittens gegen die angezweifelte Transzendenz («ich gesach selen noch engel nie», V. 75). Entschieden mahnt es die Widersacherin an die Gerechtigkeit beim Jüngsten Gericht, worauf diese sich einzulassen

52 Bei Mt 6,26 heißt es im Abschnitt über die rechte Sorge: «25 Deswegen sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen oder trinken sollt, noch um euren Leib, was ihr anziehen sollt! Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? 26 Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie?».

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scheint. Denn mit einem Kompliment seiner Belesenheit (V. 89–91) sowie ihrem Zitat seiner früheren Verse bestätigt sie die Richtigkeit seiner Aussagen (V. 93–96): du bindst mich da mit rechten banden ich múss dir iehen, du hast recht: die welt ist ain zergangkleich leben. der got dienti, das wer schleht: der tút die rechten gaben geben. [Du bindest mich mit den richtigen Fesseln. Ich muss dir zugeben, du hast recht: Die Welt ist ein vergängliches Leben. Es wäre richtig, wenn jemand Gott diente, denn der gibt die richtigen Gaben.]

Davon bestärkt lässt das Sänger-Ich sein klares Bekenntnis zu den Zehn Geboten folgen, indem es sie allesamt, obgleich in veränderter Reihenfolge,53 in seine Rede integriert (V. 97–128). Doch die erneute Zustimmung der Allegorie (V. 129–131) gerät zweifelhaft, weil sie in eine beißende Kleriker- und Ordenskritik übergeht. Die im Konjunktiv gehaltene Absage an ein gottesfürchtiges, heilsversprechendes Leben im Kloster (V. 133), als Pfarrer (V. 137), als Einsiedler (V. 141) oder bei den Beginen (V. 146) wird mit zunehmendem Verlauf verworrener: Wird erst klar auf sündhaftes Fehlverhalten der Kleriker («neýd und háss», V. 134; «krieg, unkewsch und geit», V. 138) sowie die Lebensgefahr der Einsiedelei verwiesen, argumentiert die Welt-Allegorie ab V. 145 auf den Papstbann gegen die Beginen, den sie mit einem spezifischen Verweis auf den Dritten Orden der Franziskaner relativiert (V. 153–156), nur um letztlich doch auf ein vom Teufel begünstigtes Versagen jeglicher Ordensstrukturen abzuzielen (V. 159–166). Die Allegorie verstrickt sich weiter in eine emphatische Paradoxie zwischen fehlbarem Leben der christlichen Orden, bevor sie zum Weg der guten Werke als Heilsversprechen umschwenkt (V. 167–168). Nach der resümierenden zeitkritischen Klerikerschelte, dass kein christlicher Orden per se eine Heilserwartung mit sich bringe, fokussiert sich die Rede auf den einzelnen Gläubigen (V. 169s.). Dank der Taufe stehe jeder Christ, der gute Werke vollbringt, unter Gottes gerechtem Schutz (V. 171–176). Die Abschlussverse, in denen das Sänger-Ich auf Gottes Gnade verweist, fügen sich gut daran an. Der Weg zum Seelenheil liege in Gottes Hand, während der Mensch

53 Er beginnt mit dem Begehrensverbot (9./10.), geht über zur Achtung der Eltern (4.), danach zum Verbot von Diebstahl (7.) und Mord (5.). Es folgt die Warnung, Gottes Namen nicht zu missbrauchen (2.) oder falsch Zeugnis abzulegen (8.). Mit den Geboten, den Sonntag (3.) und die Ehe (6.) zu ehren und Gott allein zu dienen (1.), beschließt er die Aufzählung.

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die Eigenverantwortlichkeit angesichts der angestammten Leichtfertigkeit behaupten muss (V. 177–180): nu helff úns got, des bedurffen wir wol! fraw Welt, ir sínd da auff gerechten sach; sid ich die warhait sagen sol, so kan ichs zwár nicht anders machen. [Nun helfe uns Gott, das brauchen wir wirklich! Frau Welt, ihr habt recht, wenn ich die Wahrheit sagen soll. Ich kann wahrhaftig nicht anders handeln.]

Das Seelenheil dessen, der Gott dient (V. 95), kann durch gute Werke gerettet werden (V. 167s.). Dafür ist sein Entscheidungsvermögen zwischen irdischer Pracht und ewigem Lohn (V. 1–4) und sein dezidiertes Eintreten für den richtigen Schatz vorausgesetzt. Mit dem Schatz ist Hugo erneut bei einem seiner Schlüsselkonzepte angelangt, das er mit Kritik an der verführerischen Welt (inklusive weltlicher Liebe) und dem Appell zu Selbstverantwortung versieht. Ein zusätzliches Indiz für Hugos aktive Rezeptionssteuerung liegt darin, dass er sein Werk mit großem Aufwand selbstverantwortlich überliefert und dadurch einen Einblick in den medialen Prozess seiner Werkkonstituierung ermöglicht. Dem Codex Heidelberg, UB, Cpg 32954 kommt dabei eine bislang unterschätzte Vielschichtigkeit zu, mit der Hugo auf eine einzigartige Weise Frauen- und Gottesdienst verbindet. Neben der Repräsentativität des Kleinods, das als Erbstück in der Familie gewiss auf mehreren Ebenen nachwirkte, konstatiert Mohr nicht von ungefähr als «Voraussetzung für die Eigenständigkeit [. . .] dessen produktions- wie rezeptionsseitige Schriftlichkeit».55 Die Grenzüberschreitung anderer Autorsammlungen durch die überaus kostbare Ausstattung ist diesbezüglich ein Alleinstellungsmerkmal Hugos und zentrales Element für die Frage nach möglichen Verbindungslinien zwischen dem überlieferten Codex, den Texten und Hugos Gesamtkonzept. 1414 ließ Hugo einen Codex erstellen, der in seiner Art und Ausstattung für eine Sammlung solcher Inhalte – deutschsprachige Liebeslieder, Liebesbriefe und Reden verschiedenen Inhalts – für seine Zeit einzigartig ist.56 Er hat mit 54 Cf. Hugo von Montfort, Handschrift, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 329. [http://digi. ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg329/0081]. Es handelt sich bei Hugo nirgends um Kreuzzugslyrik (cf. Wenzel 1974; Reichlin 2014), er erweitert die Frauenminne durch sein Verständnis der christlichen Lehre um die Dimension der Heilserwartung. 55 Mohr (2016, 106). 56 Hugo gab zweimal eine Sammlung seines Werks in Auftrag, von der aus den Jahren 1401/1402 ist heute nur noch ein Blatt in Berlin (Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz,

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dem Prachtcodex die Wertigkeit seines Œuvre unterstrichen. Die prächtige Ausstattung wird unterstützt durch die aufeinander bezogene Kommunikation von Bildern und Texten innerhalb der Handschrift.57 Vetter attestiert dem Buchmaler Heinrich Aurhaym dabei großes Potential bei der Vermittlung inhaltlicher Zusammenhänge: Charakteristisch für den Illuminator ist die Fähigkeit, den Formenvorrat aus Tradition und Aneignung so zu verwenden, daß bestimmte Intentionen und übergreifende Zusammenhänge deutlich werden. Die einzelnen Elemente können sich so über ihre dekorative Funktion hinaus auf die Thematik eines Gedichts oder der Bildinitiale beziehen, indem das Vegetabilische in Art oder Anordnung gleichsam als Chiffre zur Vermittlung inhaltlicher Gegebenheiten dient.58

Diese Art Chiffren sind schwer zu erkennen, erfordern eventuell auch ein kunsthistorisch geschultes Verständnis des Werks. Augenfällig wirkt hingegen der Einsatz der fünf Figureninitialen in den Texten Nr. 1, 16, 19, 20 und 29, was einen zusätzlichen konzeptionellen Zugang zum Werk eröffnen könnte. Überdies verweist der Prachtcodex abermals in den Bereich der Andachtsliteratur: Einmal erfolgt mit der Ausstattung insgesamt und dem Engagement des bekannten Illuminatoren Heinrich Aurhaym, von dem uns sechs weitere Codices mit geistlich-ethischen Inhalten bekannt sind,59 ein direkter Zugriff auf diesen Bereich. Zudem ist die Andachtsliteratur, etwa in Form von Gebetsbüchern, im Hochadel wie auch konkret in der Familie Montfort üblich. Die inhaltliche Kohärenzstiftung zwischen den Schlüsselkonzepten Dienst, Schatz und Lohn in ihrer je doppelten Verschränkung lassen mich erwägen, ob Hugo den Prachtcodex nicht nur zur Repräsentation seiner Dichtung so kostbar ausgestalten ließ, sondern auch als eine Art frommes Werk im Dienst Gottes. Dafür sprechen ebenfalls die inserierten Erbauungs- und Gebetstexte, in denen er sich an Gott wendet. Und innerhalb der Reflexionen fügt Hugo Passagen ein, die an Beichte und Buße erinnern, er bemüht sich also durch Belehrung um die Rettung des eigenen Seelenheils – und um das der angetrauten Geliebten sowie weiterer Rezipienten. Ms. germ. fol. 757, Bl. 21) überliefert. Daneben tradieren lediglich zwei Handschriften in Colmar und Vorau Hugos Lieder 14 und 25 innerhalb geistlicher Sammlungen (Mystik, Predigten); cf. Schmitt (1969, Nr. 211). 57 Vögel (1996, 266). Aber ich möchte mich absetzen von seiner These, Hugo wollte damit eine Deästhetisierung der Texte kompensieren. 58 Vetter (1988, 33). 59 Ein Missale aus Krain und ein Abtmissal aus dem Stift Rein; die Moralia in Job Gregors des Großen; Evangelienkommentar des sog. Österreichischen Bibelübersetzers; eine deutsche Versübersetzung der Reden des hl. Augustinus und einen Kommentar zu Valerius Maximus von Dionysius von Borgo San Sepolcro.

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4 Fazit In seiner Dichtung reflektiert Hugo das eigene Dichten und bedient sich der Traditionen, ohne sich in Muster zwingen zu lassen: Seine Texte behandeln unabhängig von ihrer Form die Themen, die für ihn bedeutend sind, und verschränken auch die selbstgenannten Gattungstypen brief, tageweys und red (Nr. 31, 101). Dass er kein «Epigone»60 ist, wurde deutlich: Sein Werk bezeugt sein metapoetisches Verständnis dafür, dass Form und Inhalt des vorausgegangenen Minnesangs, an die er explizit anschließt, zunehmend weiter auseinanderdrifteten und im Liebesdiskurs des 15. Jahrhunderts neu verhandelt werden mussten. Zudem dichtet er selbstbewusst in einer eigenen Weise, die verschiedene Konzepte (selbst katechetische Texte) inkorporiert und sie durch (Re-) Kombination sowie Verschachtelungen in spezifischen Sinnstiftungseffekten vernetzt – diese Verfahren lassen sich durchaus im Sinne je verschieden nuancierter poetologischer Selbstautorisierung verstehen. Welche Indizien für Hugos Teilhabe am Novationsdiskurs gibt es nun? Sein besonderer Anspruch, sich selbst zwischen konkreter Person (Graf von Montfort) sowie der Rolle als Minnesänger autoreflexiv zu inszenieren, hebt ihn erstens von anderen Zeitgenossen ab.61 Zweitens verbindet er den Minnediskurs mit christlicher Ethik auf spezifische Weise, wie die heilsgeschichtlich aufgeladenen Lobpreisungen der Ehefrau als Minnedame exemplarisch gezeigt haben: Die Texte sind trotz aller Vollkommenheitstopoi stets auch um das Seelenheil der Geliebten bedacht. Schließlich ist sein ihm eigener neuer Tonfall zu nennen, das stärkste Indiz auktorialer Selbstermächtigung, wenn er selbst die Bibelzitate umformuliert und damit in sein Werk einpasst. Hugo nutzt in seinen Gattungshybridisierungen zwar eine konventionelle, traditionsgebundene Formsprache, gibt ihr jedoch einen neuen Gesamtsinn, dessen Gültigkeit und Legitimität gegenüber

60 Thurnher (1982, 111): «Ist Hugo von Montfort also ein Epigone? Wer das behauptet, versteht sein Werk nicht. Denn ein Epigone übernimmt die äußeren Formen, ohne zu merken, daß die Inhalte nicht mehr dazu stimmen. Davon kann bei Hugo nicht die Rede sein. Wer um das Mißverhältnis weiß, ist bereits kein Epigone mehr. Natürlich steht Hugo in der Nachfolge der großen Dichtung der höfischen Zeit. Er übernimmt ihre Formen, aber er sucht ihnen einen neuen Sinn zu geben, indem er sie mit Forderungen seiner Zeit in Einklang bringt. Das macht seine geschichtliche Sonderstellung aus». 61 Dazu auch Suerbaum (2010, 151): «The most prominent feature of Hugo’s self-presentation therefore appears to be not his insistence on literate authorship, but an ideal of aristocratic life in which the composition of love-songs is as much part of Hugo’s identity as his existence as a knight. The image conjured up in this way is of course a fiction, and one which is indebted to notions of courtly literature which by the late fourteenth century must have appeared oldfashioned».

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dem ewigen Schöpfer er mehrfach hervorhebt. Die Selbstpositionierung als Autor in seinem zeitgeschichtlichen Kontext zeigt Hugo kurzum als eine Grenzfigur, die ihr Œuvre repräsentativ gestaltet, ihm darüber hinaus aber (v.a. durch seine Literatursprache) identitätsstiftende Züge gibt und somit einen eigenen Standpunkt im Minnediskurs einnimmt.

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Anhang Nr. 1 (Text nach Hofmeister 2005, 3–5.; Struktur und Übersetzung von Oetjens = LO) «An dich gedenkhen hát erkikht / das leben mín uss aller pín, trut kayserin. / min mút, mín sín / uff endes zil dient dir sicherlichen. wiß auch, das mích daz hertze wíst und sich téglichen fleist  mitt gantzem mút der sínne mín, das ich dúrch kainer slachte pín vergesse meiner trewen. es tút mich niemer rewen gantz trew án argen wan,  wan ich nie lieber lieb gewan. das zúg ich an den werden gott. das ich doch tún nach sím gebott, hán ich dich lieb fúr all dis welt. fraw, des gib mír wídergelt,  das ich fúr wár werd innen widergelts mít lieben sinnen, mitt trewen und mit eren! wizz, das sich sicher meret mín stetíkait von tag ze tag.  fraw, du bist mín blúyender hag, entsprossen in minem hertzen. du kanst mir wénden smertzen fúr alles, das ich ye gesach. zartes bild, ain obetach  such du dir nach ler! fraw, hut diner eer, bis stét án alles wénken! du solt daran gedenken, das er níeman vergelten mag:

[«An dich zu denken hat mein Leben aus aller Not befreit, liebste Kaiserin. Mein Mut und mein Verstand dienen dir zuverlässig bis zum Ende. Wisse auch, dass mich das Herz leitet und sich täglich mit der ganzen Kraft meiner Sinne anstrengt, sodass ich durch keinerlei Art von Qual meine Treue vergessen würde. Niemals reut mich die vollkommene Treue ohne bedenkliche Absichten, weil ich nie eine liebenswertere Liebe erfuhr. Das schwöre ich an Gott gerichtet. Ich handle doch nach seinem Gebot, wenn ich dich mehr liebe als die ganze Welt. Frau, gib mir dafür einen Lohn, den ich wahrhaftig aufnehmen und mit glücklichem Verstand, mit Treue und Ehrhaftigkeit erwidern werde! Wisse, dass sich meine Beständigkeit von Tag zu Tag stets vermehrt. Frau, du bist mein blühender Rosenstrauch, der in meinem Herzen entspross. Du verstehst es, mir alle Schmerzen zu nehmen, die ich jemals erlitt. Geliebte Gestalt, suche dir der Lehre folgend Zuflucht! Frau, schütze deine Ehrhaftigkeit, sei beständig ohne jedes Abweichen. Du sollst daran denken, dass niemand Ehre zurückerstatten kann.

Novation und Autorität

 wér alles, das der helle tag úberschinet, sicherlich, es wér doch muglich, das sy nit vergolten wér. zartú frow so tugentbár,  du volg meíner ler! sícherlich fraw eer, die muß dich úberkrónen. fur alles vogeldónen sich ich dein lieplich sínn.  mein hóchste kúnegínn, weltlich auf diser erden meín hertz, daz must verderben, hett ich nit dein guete. vor ungelúkh behuete  gott dich durch sein trinitát. sin kraft doch niemer ende hát und ist auch gar alméchtig. min hertz, das ist furtréchtig nach deíner sússen mínn.  in deíner guet ich brínn mit ernst und mit stétem mút. zwár ich gesach doch níe kain gút, darumb ich misstét; ob míchs all die welt dan bét,  das wér mir gleichs als ain wínd. mein glúk, mein hail, mein selden kínd, du bist ze tróst erkorn mir. das sag ich sicherlichen dir, das du mir bist, das nieman waiß:  das firmament; der zirkel kraiß, der hát dich umbeslossen. frow, bis unverdrossen gen gott des ersten morgens frú. dem sprich mit gantzer demút zú  unt bitt ín dúrch sein gúete, das er dich wol behuete vor grossem misselíngen. darnach so lá dich vínden gen der welt mit schimpf:  da such du fród mit gelímpf, zucht und beschaydenhaít;

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Wäre alles, was der helle Tag beleuchtet, zuverlässig, wäre es doch möglich, dass sie nicht zurückerstattet würde. Reine, so tugendsame Frau, folge meiner Lehre. Frau Ehre wird dich gewiss krönen. Lieber als jeden Vogelgesang nehme ich deine süße Kunst wahr. Meine höchste irdische Königin dieser Welt. Mein Herz, es müsste zerbrechen, wenn ich deine Vollkommenheit nicht hätte. Gott in seiner Trinität behüte dich vor Unglück. Seine Macht ist doch unendlich und ist auch allmächtig. Mein Herz, es ist bestrebt nach deiner süßen Liebe. An deiner Vollkommenheit verbrenne ich. Mit Entschlossenheit und beständigem Verlangen erblickte ich doch wahrlich niemals ein Gut, für das ich übel handeln würde. Wenn mich die ganze Welt umwerben würde, das wäre mir gleichgültig wie ein Wind. Mein Glück, mein Heilsversprechen, mein Gnadenkind, du bist mir zum Trost vorbestimmt. Das sag ich dir gewiss, dass du für mich das bist, was niemand weiß: das Firmament; der Erdenkreis hält dich umschlossen. Frau, sei frühmorgens zuerst entschlossen gegenüber Gott. Bete mit vollkommener Demut zu ihm und bitte ihn, in seiner Güte möge er dich gut vor großem Unheil schützen. Danach wende dich der Welt mit dem Zeitvertreib zu: Dort suche Freude mit Bedacht, Zucht und Bescheidenheit.

62 [i.e. versus Maria als himmlische, LO]. 63 Lexer (1971, vol. 2, Sp. 580): «sælden-kint stn. mîn gluck, mîn heil, mîn sældenkint: Maria. Hugo v. M. 1,60. Ab. 1. 84,216. »

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Lena Oetjens

so wirt din lob unmassen braít, du werdes weib, mins hertzen schrín. du rechte mútes kikerín  meins hertzen und meinr sínn! fraw Eer, die recht mínn hát mich auß dir geschossen: meín hertz, das ist verslossen mitt trewen und mít stétikait.  zarte fraw, bin ich berait, wilt du mich ícht versúchen, ald wes wilt du gerúchen gen mir, das tún ich willeklich. du macht auch wol versúchen mich,  wie dikh du wilt, meín hochster hort.»

So wird dein Lob sich vermehren, du teure Frau, meines Herzens Schrein. Du wahrhaftige Kraftspenderin meines Herzens und meines Verstands. Frau Ehre, die wahrhaftige Liebe hat mich deinetwegen getroffen. Mein Herz, es ist ausgefüllt von Treue und Beständigkeit. Teure Frau, ich bin bereit, wenn du mich prüfen wolltest, was auch immer du von mir verlangst, das mache ich willig. Du kannst mich gerne prüfen, sooft du willst, mein größter Schatz.»]

Nr. 37 (Text nach Hofmeister 2005, 173s.; Übersetzung von Oetjens) I «Weka, wekch die zarten lieben! ich glaub, es sey nicht unrecht tán, ich wil ir nit betriegen: der tag, der gát daher.  si stát zwar auff mit eren, meins hertzen mút erkikerínn (ir gelúkch, das tút sich meren), ze dinst dem werden gott. wer hát auff erd ain biderb weib,  der hát ain séldenreichen hort: ir zucht, ir er ist laid vertreib, ich hór der vogel sang, ich sich die sternen schiessen, es chúlet gen dem morgen frú.  mich tút zwar nicht verdriessen: das macht ir angesicht. II wachter, ich wil dir sagen: was got auff erd ie geschaffen hat,

I [«Wecke, weck die teure Liebe, ich glaube, es ist nicht unrechtsmäßig. Ich will sie nicht täuschen: Der Tag naht schon. Sie steht wahrlich in Ehren auf, die Kraftspenderin meines Herzens (ihr Glück vermehrt sich), um dem großen Gott zu dienen. Wer auf Erden eine angesehene Ehefrau hat, der besitzt einen glückbringenden Schatz; ihre Anmut, ihre Ehrbarkeit vertreiben das Leid, ich höre die Vögel singen. Ich sehe die Sterne verschwinden, gegen Morgen kühlt es ab. Mich kann wahrhaft nichts stören, das bewirkt ihr Anblick. II Wächter, ich muss dir sagen: Was Gott auf Erden für ewig geschaffen hat,

64 Elliptische Konstruktion: liebe als Attribut zu frawe (cf. II,13); frawen hier als Akkusativ Singular der schwachen Deklination. 65 Grimm (1971, 15, 34).

Novation und Autorität

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so túnd die frawen tragen, der hýmel chór erfúllen.  davon so lob ich selge weib bey tag und auch by nacht, die sind der welt doch laid vertreib — ich wúnsch in er und gut. das ich vil sung von wekchen,  mein fraw, die stát mit selden auf, fraw Er, die tút sý dekchen: sy fúrcht nicht sunnen scheín. ich lob meinr frawen gúte fur vogelsankch und blúmen scheín:  sy geit gar hochgemúte, ir er ist wolbehút.

das haben diejenigen Frauen an sich, die die Himmelschöre füllen. Deswegen preise ich die vollkommenen Frauen bei Tag und auch bei Nacht; sie vertreiben alles Leid der Welt,

III ach wachter, ich múss tichten meiner frawen hie ain tagweys, und kúnd ichs wol aussrichten, ich tétz mit gantzem fleiss.  so ist mir mein mút gesunken und gát das weltleich nicht me dar (mag wol die iungen dunken) und grawet mir mein bart. si hett michs wol erlassen:  so sol ich ir gehorsam sein: in gassen und auff strássen ir diener bin ich zwár. herr got, durch deine gúte

III O Wächter, ich soll hier meiner Frau ein Tagelied dichten. Könnte ich das gut vollbringen, täte ich es mit ganzer Kunstfertigkeit. Meine Zuversicht hat sich verringert, weltlich geht es nämlich nicht mehr. Das steht wirklich den Jungen zu, doch mein Bart ist grau. Sie hat mich davon auf gute Art befreit, ich werde ihr nunmehr gehorsam sein: in allen Gassen und auf den Straßen bin ich wahrhaft ihr Diener. Herr Gott, verleihe uns in deinem Wohlgefallen beiden Verstand und gute Gesinnung, behüte uns in deiner Gnade vor Schaden.



verleich uns baiden sinn und mút, vor ungelúkch behúte úns durch dein gnad!

IV ich wúnsch meiner frawen haile, glúkch, er und gút: daz wont ir bý und werd ir als ze taile — got habs in seiner hút!  des swer ich wol by meinem leib: das ich vil sung von sternen schein, da fúr séch ich ain biderb weib, die géb mir hochgemúte.

ich wünsche ihnen Ansehen und Reichtum. Während ich viel vom Wecken gesungen habe, steht meine Frau glücklich auf, Frau Ehre deckt sie zu: Sie fürchtet den Sonnenschein nicht. Ich preise die Vorzüge meiner Frau mehr als den Vogelsang und die Blumenpracht, sie gibt vollkommenes Hochgefühl, ihr Ansehen und ihre Ehrbarkeit seien gut beschützt.

IV Ich wünsche meiner Frau Gesundheit, Glück, Ansehen und Reichtum, das alles soll sie erhalten; Gott bewahre sie in seiner Obhut. Ich schwöre gern bei meinem Leben: Seit ich viel vom Glanz der Sterne sang, erkannte ich im Hinblick darauf eine angesehene Frau, die mir ein Hochgefühl geben möge.

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Lena Oetjens

 es wér kain mút von mannen, und wéren selge, werde weib. got behút si all vor schanden, ir gestalt ist wunnekleich! des wil ich sicher wekchen:  got behút der werden frawen er, tú sý mit gnaden dekchen, wann es ist liechtir tag!›

Es gäbe keine edle Gesinnung der Männer, wenn nicht die vollkommenen Frauen wären: Gott behüte sie alle vor Lastern. Ihre Gestalt ist wunderbar! Daher will ich sie vorsichtig wecken. Gott schütze Ansehen und Ehrbarkeit der edlen Frau,er bedecke sie mit Gnade, denn es ist heller Tag.»]

Nr. 29 (Text nach Hofmeister 2005, 133–138.; Struktur und Übersetzung von Oetjens = LO) I «‹Fro Welt, ir sint gar húpsch und schón und ewer lon fúr nichte gar liebi wort und súss gedón – als ierr, da ist kain schlíchte.  wer sich mit dir bekúmbern tút der ist zwar in ain iergang komen und geit am jungsten bósen mút – das hán ich sicher wol vernomen› ‹lieber gesell, wes zeichst du mich  (ich han dir dikch doch mút gegeben), das du mich hast so gar vernicht? du solt mit fróden mit mir leben: las vógelli sorgen und gang zú mir und spring mit fróden an den tantz  – das wil ich sicher raten dir – ,setz auf dein haupt ain rosen krantz!› II ‹das tantzen hán ich verhaissen: kain schappel getrag ich niemer me – daz wil ich zwar án zweýfel laisten,  es tú mir wol oder we. ich hán die welt gewandelt vil und hán sey gar wol gesehen: und ist doch als ain narren spil, wil ich mít gantz warhait íehen.‹  ,und hast du dann ain kutten gessen oder wilt du in ain closter varn du solt die sach vil anders messen

I [«,Frau Welt, ihr seid sehr höfisch und hübsch, aber euer Lohn ist wertlos: nur sehr schöne Worte und süße Töne, alles wirr, ohne Aufrichtigkeit! Wer sich mit dir abgibt, der ist wirklich auf den falschen Weg gekommen und verbreitet letzten Endes eine schlechte Stimmung; das habe ich wahrlich schon erfahren.› ‹Lieber Freund, wessen beschuldigst du mich (ich habe dir doch oft Freude bereitet), dass du mich so sehr verachtest? Du sollst in Freuden mit mir leben! Lass die Vögel besorgt sein, komm zu mir und spring fröhlich beim Tanz, das ist mein guter Rat, setze einen Rosenkranz auf dein Haupt.› II ‹Das Tanzen habe ich aufgegeben: Ich trage nie mehr einen Kranz. Das will ich wirklich so halten, ob es mir gefällt oder mich schmerzt. Ich bin weit durch die Welt gezogen und habe sie mir sehr genau angesehen: Es ist doch alles ein Narrenspiel, das ist die volle Wahrheit.‘› ‹,Ja, hast du denn eine Kappe gegessen oder willst du in ein Kloster eintreten? Du sollst die Sache noch einmal überdenken

66 [i.e. Jüngstes Gericht, LO]. 67 [i.e. Narrenkappe, LO], s. Benecke/Müller/Zarnke (1872, 1, Sp. 920b): «KUTTE swf. 1.mönchskutte. Greg. 1385. 1390. Ls. 3,276. eine grâwen kutten hân MS. H. 3,198. a. 2. ebenso viel als kappe. roseng. 5. b. »

Novation und Autorität

und solt dich selber bas bewarn! sich mit willen an die weib,  tú fróleich gen mir lachen: die sind der welt doch laid vertreib mainst du, auss úns ain narrenspil hie machen?›

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und besser auf dich Acht geben. Schau dir die Frauen genau an, lächle mir fröhlich zu: Sie vertreiben doch der Welt denKummer! Willst du mit uns hierein Narrenspiel treiben?›

III ‹ich enwaiss nicht, was ich machen wil: die welt ist ain zergangkleich leben.  ewer antwurt, der ist mir ze vil, gott tút die rechten gaben geben. die welt die geit nu triegen das mertail in allen landen mit laichen und mit liegen –  o pfuch der grossen schanden!› ‹ich gelaub du wellist werden wild – wie hast du dich verkeret. sich an ain liepleich weipleich bild, ob sich dein fróde meret!  schlach trawren auss dem hertzen: wer sol all sach bedenken? tú liepleich mit mir schertzen, won unmút das tút krenken!›

III ‹Ich weiß nicht, was ich tun soll: Die Welt ist vergänglich. Eure Antwort halte ich für sehr anmaßend, nur Gott gibt die rechten Gaben. Die Welt gibt heute in den allermeisten Ländern nur Betrug mit Hinterlist und Lüge. Pfui über diese große Schande!›

IV ‹ir schlahent brey fur gebratens dar  und messentz mit der eln auss: wend ir nicht sterbens nemen war? da fúr ist nieman zwar behaus: ich hán groß wunn und fród gesehen von weiben und von mannen  und ist in kurtzer zeit beschehen, mit sterben als zergangen.› ‹du saist von alten méren da und wenst, die welt, die well zergán. von wunder múst du werden grá: du solt freýleich von den sorgen lán  du solt fróleich hie auff erden sein (dir mag nicht anders werden) mit frawen vnd mit tochterlein nicht sorg auff todes sterben!›

IV ‹Ihr empfehlt Brei statt Braten und messt alles mit dem Ellenmaß. Wollt ihr nicht ans Sterben denken? Dem kann sich wirklich niemand entziehen. Ich habe herrliche Wonnen und Freuden bei Frauen und bei Männern gesehen, bald aber ist es geschehen, dass alles durch den Tod zu Ende war.› ‹Du sprichst da von alten Geschichten und glaubst, die Welt werde vergehen. Vor Staunen wirst du grau werden: Du sollst die Sorgen unbekümmert fallen lassen und hier auf Erden fröhlich sein mit Frauen und mit Töchtern (dir kann gar nichts anderes geschehen), sorg dich nicht um den Tod.›

V  ‹solt ich nicht bedenken ewigs leben, war hett ich dann mein sinn getán? so liess ich das best ie underwegen

V ‹Würde ich nicht an das ewige Leben denken, wohin hätte ich dann meine Sinne gelenkt? So würde ich am Besten vorbeigehen.

‹Ich glaube, du willst dich mir entfremden, wie hast du dich verändert! Sieh doch eine schöne weibliche Gestalt an, damit du vielleicht fröhlicher wirst. Verbann die Traurigkeit aus dem Herzen: Wer kann an alles denken? Scherze liebevoll mit mir, denn der Kummer schwächt.›

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Lena Oetjens

ir sond zwar von den worten lán, won: all sach die múss zergán –  an got und die grechten hýmel; selen und engel tund auch bestán und gaist; das wert als iemer!› ‹du saist von frómden méren hie, das gehort ich nie also gantz:  ich gesach selen noch engel nie. dafur so ném ich ainen tantz, won ich hán trawren hewr verhaissen also hán ichs angelait. das wil ich zwar mit fróden laisten;  sterben sey den músen gesait.›

Ihr sollt wahrhaftig das Reden lassen, da alles vergehen muss außer Gott und die gerechten Himmel; Seelen, Engel und Geister bleiben auch bestehen, das alles währt auf ewig!› ‹Du redest da von seltsamen Geschichten, das habe ich noch nie so gehört: Ich habe noch nie Seelen oder Engel gesehen. Stattdessen wäre mir ein Tanz lieber. Denn ich will heuer nicht verbannt sein (so habe ich es festgelegt) und will wirklich in Freuden leben. Das Sterben sei den Trägen überlassen!›

VI ‹fro Welt, wend ir vergessen got, es wirt euch gerewen ain iungsten tag. hielten ir die zehen gebott, das wurd euch lieb – als ich euch sag.  sant Michel mit seiner wág der wiget úbel und auch gút: so leit der tiefel auff der lág, davon hánd euch in rechter hút!› ‹ich wand, du werist ain ritter gewesen:  wa bist du nu in studium gestanden? du hast gar gúti búch gelesen; du bindst mich da mit rechten banden. ich múss dir iehen, du hast recht: die welt ist ain zergangkleich leben  der got dienti, das wer schleht: der tút die rechten gaben geben.›

VI ‹Frau Welt, wollt ihr Gott vergessen, dann wird es euch am Jüngsten Tag reuen. Hieltet ihr die Zehn Gebote ein, dann käme euch das zugute, wie ich euch sage. Sankt Michael wiegt Böses und Gutes mit seiner Waage: der Teufel liegt auf der Lauer, und davor hütet euch sehr.› ‹Ich glaubte, du seist ein Ritter? Wo hast du nur studiert? Du hast vortreffliche Bücher gelesen, du bindest mich mit richtigen Fesseln. Ich muss dir zugeben, du hast recht: Die Welt ist ein vergängliches Leben. Es wäre richtig, wenn jemand Gott diente, denn der gibt die richtigen Gaben.›

VII ‹sid ir mir iehent, das hór ich gern. so túnd auch nach den worten: hoffart, unkúnsch sond ir enbern,  wend ir in himels porten! neyd und hass, das sond ir lán und begerent niemantz er noch gút; mit méssikait sond ir bestán, daby hand euch in rechter hút!

VII ‹Was ihr mir sagt, das höre ich gern. So handelt auch nach den Worten: Hoffart und Unkeuschheit sollt ihr lassen, wenn ihr durch die Himmelspforte kommen wollt. Missgunst und Hass sollt ihr lassen und niemandes Ansehen oder Gut begehren; mit Mäßigkeit sollt ihr leben, seht euch in rechter Weise vor.

Novation und Autorität

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 vatter vnd múter habent lieb, lebent vnd auch tót; ir sond auch wesen niemans dieb, so behút euch got vor nót !ir sond auch nieman tóten,  an recht sein blút vergiessen; des unrechten nieman nóten – des land euch als verdriessen!

Liebt Vater und Mutter, ob sie leben oder schon tot sind. Ihr sollt auch niemanden bestehlen, dann behüte euch Gott vor Drangsal. Ihr sollt auch niemanden töten oder ohne Recht sein Blut vergießen und niemanden zu Unrecht zwingen. Das alles sollt ihr unterlassen.

VIII ir sond auch got nicht úppekleích nemmen; ewern eben cristan habent lieb,  den armen almúsen senden – nicht sind ewer selbs dieb! ir sond nicht valsch gezewg sein und kain sýmoný nicht treiben, so wont euch seld vnd gelúkt beý,  túnd ir dabey beleiben! ewern sabath sond ir halten und dartzú die hailgen ée: so túnd ir weyshait walten, won: unrecht tún, daz bringet we!  hand got lieb vor allen sachen – da gen sond ir nichts messen; ir wellint schlaffen oder wachen, so túnd sein nicht vergessen!›

VIII Ihr sollt auch Gott nicht leichtfertig nennen, euren Mitchristen lieben, den Armen Almosen geben – bestehlt euch nicht selbst! Ihr sollt keinen falschen Zeugen abgeben und keinen Ämterkauf betreiben, dann habt ihr Seligkeit und Glück, wenn ihr dabeibleibt.

IX ‹du rátscht mir da gar eben:  die zehen gebott ze halten, das wér ain hailigs leben. das mag ich hart hie bey der welt gewalten: wólt ich dann in ain closter varn, darinn ist neýd und háss;  davor mócht ich mich kum bewarn – hie vor ist mir noch bas. sólt ich mich dann zú den pfaffen ziehen? die habent krieg, unkewsch und geit; das ich dir daran icht lieg,  du hórst wol in den landen weýt. sólt ich dann zú ainem ainsidel werden? das ist kain bestéter orden – ich mócht wol in ainem wald verderben. warauff sol ich nu horden?

IX ‹Du hast mir einsichtig geraten, die Zehn Gebote einzuhalten; das wäre ein heiligmäßiges Leben. Das kann ich auf dieser Welt kaum einhalten. Wollte ich in ein Kloster gehen, so ist dort Missgunst und Hass; davor könnte ich mich kaum bewahren – jetzt geht es mir doch besser. Sollte ich mich zu den Priestern gesellen? Die haben doch Streit, Unkeuschheit und Habgier; dass ich dir darüber nichts vorlüge, hörst du gewiss in allen Ländern. Sollte ich dann ein Einsiedlerwerden? Das ist keine bestätigte Ordensgemeinschaft, und ich könnte leicht in einem Wald umkommen. Was soll ich dann anstreben?

Euren Sonntag sollt ihr einhalten und auch die heilige Ehe; so soll die Weisheit herrschen, denn Unrechttun bringt nur Leid. Liebt Gott vor allem anderen, nichts sollt ihr mit ihm vergleichen: Vergesst ihn nicht, ob ihr schlaft oder wacht!›

200

Lena Oetjens

X  kém ich in die willigen armút – man nemptz die paginen –, mein sel, die wér gar vnbehút der tiefel wirt sey peinen, won es ist nicht ain gerechter orden:  die bépst hánd sy in ban. darinn wér ains ze mal verdorben, weib und auch die mán. ich enmain hie nicht den dritten orden, sant Francissen regel:  darin wér ains zwar unverdorben, es wér auff gerechten wegen, ia hielt es sich eben. unkewsch tút sey etwenn betriegen; der tiefel ist auff allen wegen:  mit seim gespenst er kan wol laichen, liegen.

X Käme ich in die freiwillige Armut (man nennt sie Beginen), dann wäre meine Seele ganz unbeschützt, oder der Teufel würde sie peinigen, weil das kein richtiger Orden ist: Die Päpste halten sie mit Bann belegt, Frauen und Männer würden dort sofort zugrunde gehen. Ich beziehe mich dabei nicht auf den Dritten Orden nach der Regel des heiligen Franziskus. Dort wäre man wahrlich sicher und auf rechten Wegen. Ja, wenn es sich doch so verhielte, Unkeuschheit betrügt sie zuweilen. Der Teufel ist mit seiner Verlockung überall: so er kann sein Trugbild mit Lügen treiben.

XI es ist kain orden, er hab ain gallen, es sey dann lútzel oder vil: wunder tút in der weit umb wallen, das stát doch nun untz auff ain zil –  es ist kain cristanleicher orden, man verdient darinn úbel oder gút. túst du mit gúten werchen horden, so bist du zwar gar wolbehút. wénst du, die hell well auff dich vallen?  nu ist seý doch under dir. túst du mit gúten sachen ballen, so gwirt dir nicht, das gelaub zwar mir! won: wer wirt getauffet, der wirt behalten hat es den gelauben und tút darnach;  won: got tút ie des rechten walten — der menschait ist ze uppikait gach.‘

XI Es gibt keinen Orden, der keine Falschheit hat. Sei es nun wenig oder viel: Gar viele gibt es auf der Welt, und doch geht es nur um ein Ziel. Es gibt keinen christlichen Orden, ohne dass man sich dort Übles und Vortreffliches einhandelt. Wenn du mit guten Taten Schätze sammelst, dann bist du wahrhaftig gut behütet. Glaubst du, die Hölle werde auf dichzukommen? Sie ist ja unter dir! Sammelst du alles Gute, dann geschieht dir nichts, das glaube mir wirklich. Denn wer getauft ist, der wird beschützt, wenn er glaubt und danach handelt, denn Gott herrscht gerecht, die Natur des Menschen drängt zur Leichtfertigkeit.‘

XII ‹nu helff úns got, des bedurffen wir wol! fraw Welt, ir sínd da auff gerechten sach; sid ich die warhait sagen sol,  so kan ichs zwár nicht anders machen.›»

XII ‹Nun helfe uns Gott, das brauchen wir wirklich! Frau Welt, ihr habt recht, wenn ich die Wahrheit sagen soll. Ich kann wahrhaftig nicht anders handeln.›»]

Novation und Autorität

201

Nr. 31 Verse

Makrostruktur

Verlaufsstruktur

– 

Streitgespräch (im Traum)

– Einleitung – Priester - Sänger-Ich - Priester - Sänger-Ich – Priester – Sänger-Ich

– Werkreflexion

– Übergang: Das buch enthalte die Beweggründe und tauge für ein Urteil über das Leben, das Sänger-Ich betont den wandelberen sin. – Freie Themenwahl, v.a. im Bereich weltlicher Liebesdichtung – Schwächen der Kunstfertigkeit und Verweis auf das Dichten als Nebengeschäft – Anzahl und Art der Werke – Melodiengeber – Übergang: Dichter und Melodiengeber seien alt geworden.

– Vergänglichkeitsklage – Menschliche Schönheit und Kraft sind vergänglich. – Rück– Übergang: Dichten bis zum Erkenntnismoment, unabwendbar die Zuversicht in die Welt verloren zu haben. – Reflexion über gerechten mut

– Gottesfurcht als Krone der Weisheit (Sir. ,), Erziehung zur Weisheit durch gottesfürchtiges Leben

– FürbittenAppell

– Aufforderung zur gegenseitigen Fürbitte für die Leser und ihn selbst.

Lars Schneider

Vom Franziskanermönch zum Universalgelehrten Selbstautorisierung bei François Rabelais

0 Quamquam enim uehementer cuperem (cur enim non fatear?) me in amicitiam tuam penitus aliquo insinuare [. . .]. (Brief an Guillaume Budé, 1521).

Rund viereinhalb Jahrhunderte nach seinem Tod wird François Rabelais (~1483–1553) primär als Autor des Romanzyklus Gargantua et Pantagruel (1532–1564), der zu den Hauptwerken der französischen Literatur zählt, gewürdigt. Seinen Zeitgenossen jedoch wird er v.a. als Arzt und Weltgeistlicher, als Editor gelehrter Schriften und als Verkünder eines neuen Medienzeitalters bekannt gewesen sein.1 Tatsächlich zählt Rabelais zum illustren Kreis derjenigen, die das Tor zur Gutenberg-Galaxie aufgestoßen haben.2 Aus medienhistorischer Perspektive wird er als frühneuzeitliches Pendant der gegenwärtigen Hard- und Softwareingenieure erscheinen, deren Außenseitertum sowohl faszinierend als auch suspekt ist, weshalb im 16. Jahrhundert das Bild des namhaften Bücherspezialisten zusammen mit dem des namlosen Büchernarren zirkuliert. Der Gelehrte Fanciscus Rabelaesus Medicus ist ein Diskursarchäologe im wörtlichen Sinne,3 ein Spezialist für das Aufspüren von Manuskripten des Altertums, deren Echtheit er mit einer historisch-kritischen Lektüre prüft; die er ggf. neu arrangiert, kommentiert und für den Druck aufbereitet, mit dem Ziel, die restaurierten Originale in das transnationale Netzwerk einer sich formierenden res publica literaria einzuspeisen.4 Sofern der Buchdruck das mediale

1 So gesehen nimmt die Rabelaisrezeption eine Umwertung vor, indem sie den volkssprachigen Autor auf Kosten des gelehrten Herausgebers profiliert. Letzterer wird lediglich dann gewürdigt, wenn es darum geht, der Pentalogie eine neue Lesart abzugewinnen. Die letzte, äußerst detaillierte Studie hat vorgelegt: Menini (2014). 2 Zu Rabelais im Kontext des frühneuzeitlichen Medienwandels cf. Schneider (2008). 3 Im Prolog des Gargantua wird diese (seine) Praxis parodistisch gewürdigt. Cf. u.a. Kellner (2015, 195–221). 4 Rückblickend verfahren die Humanisten mit ihren Primärtexten nicht minder produktiv als ihre Vorgänger. Beide bearbeiten ihre Vorlagen. Und so wie sich die mittelalterlichen Handhttps://doi.org/10.1515/9783110686609-007

204

Lars Schneider

Abb. 1: Albrecht Dürer, Erasmus von Rotterdam, 1526 (http://www.metmuseum. org/art/collection/search/336231 [letzter Zugriff: 09.09.2020]).

Abb. 2: Sebastian Brant, Das Narrenschiff, Basel, Olpe, 1494, f.14 (http://digital.slubdresden.de/id309539471 [letzter Zugriff: 09.09.2020]).

a priori seines Schaffens darstellt, wird er nicht müde, den noch jungen Verbund von «Techniken und Institutionen, [die] die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung [seiner wiedergeborenen] Daten»5 erlauben, im Sinne eines typographischen Aufschreibesystems zu preisen.6 Dabei zeugen seine Worte nicht von Originalität. Er scheint sich vielmehr damit zu begnügen, eine Stimme im Chor der humanistischen Gelehrten zu übernehmen.7 Weil er ‚vom Blatt singt‘ und seine Stimme ‚mehrfach besetzt‘

schriften voneinander unterscheiden, unterscheiden sich die Auflagen der humanistischen Drucke. Identische Texte existieren lediglich innerhalb derselben Auflage (was gleichwohl bereits einen enormen Fortschritt bedeutet). 5 Kittler (1985, 519). 6 Zum Lyoneser Buchdruck als einem frühneuzeitlichen Aufschreibesystem cf. Schneider (2008); zum humanistischen Buchdruck cf. u.a. Charon-Parent (1982, 237–253). 7 Das fällt ihm umso leichter, als dass er nicht zu den (mehrheitlich italienischen) Pionieren der humanistischen Editionsphilologie zählt. Er muss also lediglich in einen bereits bestehenden Diskurs einstimmen.

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ist,8 ist man zwar bereit, dem Klang der Worte zu folgen. Gleichwohl verzichtet man darauf, sich eingehender mit deren Inhalt zu befassen. Bereits die Zeitgenossen werden sie als eine Reihung von Gemeinplätzen gelesen haben. Dabei haben sie jedoch ein Anliegen übersehen, das Rabelais im Jahr 1521 in einem Brief an Guillaume Budé (1467–1540) formuliert: Cum ad te ut scriberem iussisset P. Amicus noster ἀνὴρ νὴ τὰς χάριτας ἀξιέραστος, εἴπερ τις πώποτε καὶ ἄλλος, egoque hominis rationibus adductus, quas densas ille et frequentes inculcabat, dicto me audientem praestitissem, illud inprimis feci, ut superos omnes orarem et obsecrarem, darent aleam illam feliciter cadere. Quamquam enim uehementer cuperem (cur enim non fatear?) me in amicitiam tuam penitus aliquo insinuare [. . .].9 [Unser beiderseits geschätzter Pierre Lamy – wenn es je einen Menschen gab, der der Wertschätzung würdig war, so ist er es – hat mich ermutigt Euch zu schreiben und ich habe mich durch die Menge seiner Argumente dazu bewegen lassen. Er wiederholte sie, um sie mir einzuschärfen und ich habe seinen Anordnungen gehorcht. Meine erste Sorge war es zu beten, alle Götter anzuflehen, dass sie dieses riskante Unternehmen zu einem guten Ausgang führen. Tatsächlich möchte ich liebend gern (warum sollte ich es nicht zugeben?) tief in Eure Freundschaft eindringen.]10

Hier greift kein arrivierter Humanist, sondern ein Neuling, ein (noch) unbekannter Mönch aus dem Franziskanerkloster Puy Saint-Martin in Fontenay-Le-Comte – und zwar auf Vermittlung eines gemeinsamen Freundes11 – zur Feder. Und dieser Nachwuchsmann äußert den Wunsch, in den Kreis um den großen Universalgelehrten aufgenommen zu werden.12 Der Mönch möchte in der europäischen Gelehrtenwelt reüssieren. Ein Ziel, das er in den folgenden Jahren nicht nur handschriftlich verfolgt.13 Rabelais, so die hier vertretene These, wird zu Beginn der

8 Zu den Topoi der ersten Generation der humanistischen Editionsphilologen cf. u.a. Giesecke (1998, 124–167). 9 Rabelais (1995, 1395). Dieses zweite Schreiben an Budé ist auf den 4. März 1521 datiert. Ein erster Brief vom Oktober 1520 ist verloren. 10 Die deutschen Übersetzungen der lateinischen Zitate stammen, sofern nicht anders vermerkt, vom Verfasser. 11 Pierre Lamy, der wortspielerisch (frz. l’ami = lt. amicus) als gemeinsamer Freund erwähnt wird, hat Rabelais in das Studium der griechischen Sprache und Literatur eingewiesen. Zu Lamy sowie Rabelais’ Aufenthalt im Franziskanerkloster cf. Plattard (1924); Meylan (1953, 248–252); Busson (1965, 1–50); zu Rabelais’ humanistischen «Lehrjahren» in Fontenay-leComte und Maillezais cf. Huchon (2011, 78–89). 12 Der spätere Initiator des Collège des lecteurs royaux (1530) ist seinerzeit bereits ein arrivierter Gelehrter, der u.a. mit Erasmus korrespondiert. Überdies verfügt Budé als secrétaire du roi über Zugang zur politischen Macht. 13 Es gibt Hinweise auf zwei philologische Arbeiten aus den 1520er Jahren: Der Jurist André Tiraqueau erwähnt eine Herodot-Übersetzung, Pierre de Lille (1427–1529) eine Lukian-Überset-

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Abb. 3: Giovanni Manardi Epistolarum medicinalium : numquam antea in Gallia excusus, Lyon, Gryphius, 1532 (http:// gallica.bnf.fr/ark:/12148/ bpt6k54362b [letzter Zugriff: 09.09.2020]).

Abb. 4: Hippocratis ac Galeni libri aliquot, Lyon, Gryphius, 1532, (Bibliothèque municipale de Lyon (Rés 813827); https://numelyo.bm-lyon. fr/f_view/BML:BML_ 00GOO01001370011 02528309# [letzter Zugriff: 09.09.2020]).

Abb. 5: Ex reliquiis venerandae antiquitatis Lucii Cuspidii testamentum. Item contractus venditionis, antiquis Romanorum temporibus initus, Lyon, Gryphius, 1532 (Bibliothèque municipale de Lyon (Rés B 508838); https://numelyo. bm-lyon.fr/f_view/BML:BML_ 00GO O0100137001100889323 [letzter Zugriff: 09.09.2020]).

1530er gezielt auf die Printmedien setzen, um sich in die res publica literaria einzuschreiben. Dabei kommt den vermeintlich randständigen Prologen seiner gelehrten Editionen eine große Bedeutung zu. Sie thematisieren nicht nur deren diskursive und technische Voraussetzungen, sondern sie sind zuvorderst Foren der Selbststilisierung des Herausgebers:14 In ihnen wird der einstige Franziskanermönch zum humanistischen Mediziner Franciscus Rabelaesus Medicus. Es handelt sich mithin nicht um leere Stilübungen, sondern um Selbstautorisierungen, die auf

zung (jeweils ins Lateinische). Cf. Menini (2014, 142–173). Wenn beide Texte heute als verloren gelten, so liegt dies womöglich auch daran, dass sie nicht über das Stadium der Handschrift hinausgelangt sind. Rabelais hatte seinerzeit (noch) keinen Zugang zu den neuen Medien. 14 Selbststilisierung wird hier verstanden im Sinne eines self-fashionings nach Greenblatt (1980).

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Fremdautorisierung – die Anerkennung seitens der Gelehrtenwelt – abzielen. Es handelt sich um Aufnahmeschreiben in die Gelehrtenrepublik, die über die typographischen Netze verteilt werden, weil ihr Verfasser um deren Status und Reichweite innerhalb der ‚Community‘ weiß. Dabei folgen die Texte einer Rationalität, die Sabine Vogel aus den Vorworten der Lyoneser Drucke herausgearbeitet hat:15 Rabelais sucht die Anlehnung an humanistische Vorbilder und distanziert sich zugleich von der scholastischen Tradition. Das ist – nicht zuletzt mit Blick auf sein volkssprachiges Romandebüt – erwartbar.16 Interessanter ist jedoch, dass er sich auch auf Kosten von Mäzenen und Druckern profiliert, deren Beiträge zu seinen Editionen er einerseits würdigt, andererseits aber überall dort herunterspielt, wo sie seinem Selbstbild abträglich sind.

1 Das eine, was man will: Gelehrtenstatus Zu Beginn des Widmungsschreibens an seinen früheren Mentor, den Rechtsgelehrten André Tiraqueau (1483–1558),17 situiert Rabelais sich – sowie seine editio der Epistolae medicinales des Giovanni Manardi (1462–1536) – artig an der Schwelle zu einer neuen (Wissens-)Epoche, um sich sodann darüber zu ereifern, dass es noch immer Menschen gibt, die sich dem Licht der Erkenntnis verweigern: Qui fit, Tiraquelle doctissime, ut in hac tanta seculi nostri luce, quo disciplinas omneis meliores singulari quodam deorum munere postliminio receptas uidemus, passim inueniantur, quibus sic affectis esse contigit, ut e densa illa Gothici temporis caligine plus quam Cimmeria ad conspicuam solis facem oculos attollere aut nolint, aut nequant.18 [Wie kann es sein, hochgelehrter Tiraqueau, dass in diesem hellen Lichte unseres Jahrhunderts, wo wir durch eine einzigartige Gunst der Götter alle Wissenschaften ihren guten alten Zustand wiederfinden sehen, wie kann es sein, dass sich so gut wie überall Menschen finden, die so verbohrt sind, dass sie aus dem Nebel des Gotischen Zeitalters, der noch dichter ist als der kimmerische Nebel, nicht ihre Augen zur strahlenden Fackel der Sonne heben wollen oder können?]

Seine Frage ist indes rhetorischer Natur, denn es steht außer Zweifel, dass der Widerstand der ‚dunklen Gestalten‘ nicht von Dauer sein wird. Je mehr ‚goti-

15 Cf. Vogel (1999). Darauf aufbauend zur druckschriftlichen Konstruktion der gelehrten Identität des Franciscus Rabelaesus Medicus cf. Schneider, (2008, 69–93). 16 Die Erstausgabe des Pantagruel (1532) besticht bekanntlich durch zahlreiche Wortschöpfungen für die traditionellen Lehrkräfte an der Pariser Universität. 17 Cf.: Barat (1905, 138–155 sowie 253–275); Plattard (1906, 384–389); Menini (2014, 152–156). 18 Œuvres, 1409.

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sche‘ Manuskripte durch korrekte Drucke ersetzt werden, desto mehr Licht fällt ins Dunkel. Die Wiederbelebung der alten (und authentischen) Wissenschaften und Professionen ist unvermeidlich. Rückblickend handelt es sich um einen revolutionären Akt im Sinne eines Zurückwälzens der Verhältnisse,19 der im 16. Jahrhundert hingegen als eine Wiedergeburt versinnbildlicht wird.20 Und Rabelais lässt seinem Leser keinen Zweifel, dass er sich zu den gelehrten Geburtshelfern zählt. Er gibt zu verstehen, dass er weit über Stadt- und Landesgrenzen hinaus vernetzt ist und demzufolge Zugriff auf seltene Handschriften des Altertums hat, die er für die Nachwelt rettet. So z.B. das (vermeintliche) Testament eines berühmten römischen Juristen:21 Id est L. illius Cuspidii testamentum ex incendio, naufragio, ac ruina uetustatis, fato quodam meliore seruatum, quod hinc discedens eiuscemodi esse censebas, propter quod uadimonium deseri uel ad Cassiani.22 [Dies ist das Testament des Lucius Cuspidius, das durch ein glückliches Schicksal vor dem Feuer, dem Wasser und vor der Zerstörung durch die Zeit bewahrt wurde.]

Er belässt es jedoch nicht dabei, sich als eine gute Adresse in der Gelehrtenwelt auszugeben, sondern er gibt auch einen detaillierten Einblick in seine Tätigkeit als Editionsphilologe. Der Widmungsbrief an den Bischof von Maillezais, Geoffroy d’Estissac (†1542), hebt z.B. mit der Schilderung einer Episode aus dem Lehrbetrieb an der Universität Montpellier an.23

19 Dessen ungeachtet ist auch der Gedanke im Umlauf, dass die Gegenwart die Antike bereits übertreffe. So schreibt Gargantua an seinen Sohn Pantagruel: «Maintenant toutes disciplines sont restituees, les langues instaurees. Grecque, sans laquelle cest honte quune personne se die scavant. Hebraicque, Caldeicque, Latine. Les impressions tant elegantes et correctes en usance, qui ont este inventees de mon aage par inspiration divine, comme a contrefil lartillerie par suggestion diabolicque. Tout le monde est plain de gens scavans, de precepteurs tresdoctes, de librairies tresamples, quil mest advis que ny au temps de Platon, ny de Ciceron, ny de Papinian, ny avoit point telle commodite destude quil y a maintenant» (Œuvres, 352). 20 Zur Verwendung der abendländischen Geburtsmetaphorik cf. u.a. Begemann (2007, 121–134). 21 Cf. Punkt 3. 22 Œuvres, 1417–1418. 23 Rabelais schreibt sich am 17. September 1530 als Student an der medizinischen Fakultät der Universität Montpellier ein. Dass er bereits wenige Wochen nach seiner Einschreibung, am 1. Dezember, den Grad des baccalaureus erwirbt, lässt auf erhebliche Vorkenntnisse schließen. Er verlässt die Universität hingegen vor Erlangen der Doktorwürde. Diese wird ihm erst 1537 zuerkannt. Die hier erwähnte Vorlesung hat im Zeitraum vom 17. April bis zum 24. Juni 1531 stattgefunden. Cf. Huchon (2011, 109–111).

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Cum anno superiore Monspessuli aphorismos Hippocratis, et deinceps Galeni artem medicam frequenti auditorio publique enarrerem, Antistes clarissime, annotauream loca aliquot, in quibus interpretes mihi non admodum satisfaciebant. Collatis enim eorum tradictioniruntur, habeam uertustissimum, literisque Ionicis elegentissime castigatissimeque exaratum, comperi illos quamplurima omisisse, quaedam exotica et notha adiecisse, quaedam minus expressisse, non pauca inuertisse uerus quam uertisse.24 [Als ich letztes Jahr in Montpellier vor großem Publikum eine Vorlesung über die Aphorismen des Hippokrates sowie der Medizinischen Kunst des Galen abhielt, sind mir einige Passagen aufgefallen, in denen mich die Übersetzer nicht ganz zufrieden stellten. Ich habe daraufhin ihre Übersetzungen mit einer griechischen Fassung des Textes verglichen. Über diejenigen, die im Umlauf sind hinaus, besaß ich eine sehr alte. Sie ist in den elegantesten und gepflegtesten ionischen Buchstaben geschrieben. So habe ich festgestellt, dass diese Übersetzer sehr viel ausgelassen, bestimmte abwegige und bekannte Erklärungen hinzugefügt, bestimmte Ausdrücke zu schwach wiedergegeben, nicht wenig eher verdreht als übersetzt haben.]

Hier wird das Bild eines populären Universitätslehrers entworfen, der – wohl im Unterschied zu einigen seiner Kollegen – erfahren genug ist, sich nicht auf lateinische Übersetzungen zu verlassen, ohne sie zuvor mit – nur ihm vorliegenden – griechischen Originalmanuskripten zu vergleichen. Dergestalt deckt er eine ganze Reihe von Fehlern auf, die er für seine Vorlesung korrigiert. Doch belässt es Rabelais nicht bei der oralen Nähekommunikation. Weil er um den zivilisatorischen Wert seiner Notizen weiß, gibt er sie 1532 beim Lyoneser Druckerverleger Sébastien Gryphe (1492–1556) in Druck.25 Die Vorteile der typographischen Kommunikation hebt er im September des Jahres noch einmal hervor. So heißt es in der an Amaury Bouchard (*1490) adressierten Vorrede: Neque uero tibi id uni priuatim manu describendum putaui (quod tamen ipsum optare potius uidebare), sed prima quaque occasione excudendum in exemplaria bis mille dedi. Sic enim cum stipulanti tibi factum fuerit satis, tumstudosus omnibus, te auscpice, prouisum ne diutius neciant qua prisci illi Romani, dum disciplinae meliores florerent, in condendis testamentis formula usi sint.26 [Jedoch hielt ich es nicht für nötig, eine einzelne Handschriftkopie für Dich anfertigen zu lassen (dieses schien wohl eurem Wunsch zu entsprechen), sondern habe bei der ersten Gelegenheit 2000 Exemplare drucken lassen. Auf diese Weise ist Deine Bitte erfüllt, und gleichzeitig können all diejenigen, denen der Sinn danach steht, dank dieser Dir gewidmeten Ausgabe nachlesen, auf welche Art die alten Römer ihr Testament formulierten, zur Zeit, als die Kultur in der Blüte stand.]

24 Œuvres, 1414. 25 Zur Rolle der Greif’schen Werkstatt in der Lyoneser Gelehrtenwelt cf. u.a. Zemon Davis (1982, 255–277). 26 Œuvres, 1418.

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Hier werden die hand- und die druckschriftliche Kommunikation mit geläufigen Argumenten gegeneinander abgewogen. Indem Rabelais das oben erwähnte Testament drucken lässt, kann er sowohl dem Freund als auch der Allgemeinheit einen Dienst erweisen. Der Gelehrte sieht sich förmlich in der Verantwortung sein Wissen zu teilen, geht es doch um Recht und Unrecht, wenn nicht gar um Leben und Tod. So kommentiert er die fehlerhaften Überlieferungen von medizinischen Schriften mit den Worten: Id quod si usquam alibi uitio uerti solet, est etiam in medicorum libris piaculare, in quibus uocula unica, uel addita, uel expuncta, quin et apiculus inuersus aut praepostere adscriptus, multa hominum milia haud raro neci dedit.27 [Wenn man dieses an jedem anderen Ort als einen Mangel auffasst, so handelt es sich in medizinischen Büchern jedoch um ein wahrhaftes Sakrileg. In diesem Fall kann eine einzige Silbe mehr oder weniger, ja sogar ein veränderter oder schlecht platzierter Akzent Tausende von Menschen dem Tode ausliefern: Dieses geschieht häufig.]

Der Prologschreiber legt offenkundig größten Wert darauf, sich als vorbildlicher Philologe zu stilisieren. Dazu passt es, dass er sich in den Vorreden der beiden medizinischen Editionen als Franciscus Rabelaesus Medicus präsentiert, obwohl er lediglich den ersten universitären Grad besitzt.28 Damit nicht genug, denn bei näherer Hinsicht erfolgt Rabelais’ Selbstautorisierung auf Kosten Anderer, die, obgleich sie an seiner Arbeit teilhaben, in den Prologen keine Stimme haben und die, sofern sie eine Stimme hätten, womöglich ein (ganz) anderes Bild entwerfen würden.

2 Das andere, was man muss: Danksagungen Was der Prologschreiber verschweigt, ist, dass seine humanistische Editionsphilologie sowohl ein sehr kostspieliges als auch ein arbeitsteiliges Unternehmen ist. Zwar stammt Rabelais aus einem wohlhabenden Elternhaus,29 jedoch verfügt er weder über die finanziellen Mittel noch über die notwendige Technik zur Realisierung seiner Editionen. Er benötigt mithin materielle Zuwendung von Mäzenen und die handwerkliche Unterstützung von Druckern. Doch wenn er deren Hilfe in Anspruch nimmt, geht er jeweils einen Handel ein. Weder erstere noch letztere agieren uneigennützig. Im Gegenteil, sie stellen ihrerseits

27 Œuvres, 1414. 28 Cf. Anm. 28. 29 Zu Rabelais’ Biographie cf. u.a. Plattard (1928); Huchon (2011).

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Ansprüche an den Gelehrten, denen er zu genügen hat. Mit Bezug auf die Selbststilisierung zum Gelehrten sind die Geschäfte mit den Mäzenen und Druckern ein notwendiges Übel, mit dem sich Rabelais jedoch geschickt zu arrangieren weiß. So schmeichelt er seinem Gönner Geoffroy d’Estissac mit den Worten: Hic non dicamqua ratione adductus sim, id, quicquid les laboris, tibi ut dicarem. Tibi anim iure debetur quidcquid efficereoprea mea potest: qui me sic tua benignuitate usque fouisti ut quocumque oculos circumferam [. . .] munificentiae tuae sinsibus meis obuersetur: qui sic pontificiae dignitatis, ad quam omnibus Senatus populique Pictonici suffragiis assumptus es, munia obis, ut in te, tanquam in celebri illo Polycleti canone, nostrates episcopi absolutissimum porbitatis, modestiae, humanitatis exemplar, ueramque illam uirtutis ideam habeant, in quam contuentes, aut ad propositum sibi speculum se moresque suos componant, aut (quod ait Persius) uirtutem uideant, intabescantque relicta.30 [Wie dem auch sei, ich erwähne hier nicht die Gründe, die mich dazu bewogen haben, euch diese Arbeit zu widmen. Wahrlich, alles was meine Arbeit hervorbringt, gehört rechts wegen euch. Eure Großzügigkeit hat mich stets mit Zuvorkommenheiten umgeben, und wohin ich auch blicke, der Himmel und das Meer eurer Freigebigkeit stellen sich mir dar. Und ihr, die Stimmen des Senats und des Volkes des Poitou haben Euch zum obersten Hirten gewählt. Ihr übt es so gut aus, dass es sich mit euch wie mit dem berühmten Kanon des Polyclet verhält. Die Bischöfe unseres Landes finden ihr vollkommenstes Beispiel in euch. Ein Beispiel der Redlichkeit, des Taktes, des Wohlwollens, der wahrhaftigen Idee der Tugend. Sie bewundern sie und richten ihr Leben und ihre Sitten nach dem getreuen Bild aus, das ihnen davon gegeben wird. Oder, wie Persius sagt, sie sehen die Tugend und verzehren sich vor Kummer, sie im Stich gelassen zu haben.]

Der Handel mit Mäzen(en) wird an dieser Stelle offen thematisiert. In diesem Fall investiert der Bischof von Maillezais Geld in den Gelehrten, und dieser zahlt mit öffentlichem Lobpreis zurück. Geoffroy d’Estissac tauscht materielles gegen symbolisches Kapital. Er investiert also in seinen Ruf, günstigstenfalls in seine Unsterblichkeit. Allerdings legt man sein Geld nicht in Irgendwen noch in Irgendetwas an. Mit der Wahl seiner Investition hat der Mäzen ersichtlich großen Einfluss auf das mit seinen Mitteln realisierte Werk. Einen Einfluss, den ihm Rabelais im Prolog zur Hippokrates-Galen-Ausgabe aber nicht zugesteht. Vielmehr wird er in die Rolle eines wohlmeinenden aber passiven Geldgebers gedrängt. Nicht anders verfährt er mit seinem Drucker, dem Reutlinger Sebastian Greif. Über ihn heißt es im selben Text: Annotaciunculas itaque illas Sebastianus Gryphius, colographus ad unguem consummatus et perpolitus, cum numper interschedas meas uidisset, iamdique in animo haberet priscorum medicorum libros, ea in caeteris utitur diligentia, cui uix aequiperabilem

30 Œuvres, 1415.

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reperias, typis excudere, contendit a me multis uerbis ut eas sinerem in communem studiosorum utilitatem exire. Nec difficile fuit impetrare quod ipse alioqui ultro daturus eram.31 [So hat dann Sebastian Greif, ein erfahrener und umfassend gebildeter Verleger, diese Notizen kürzlich in meinen Unterlagen gesehen. Er hatte seit langem die Absicht, die Bücher der alten Mediziner mit der Sorgfalt, die er allen Dingen entgegenbringt (man findet schwerlich jemanden seinesgleichen), zu drucken. Er bekniete mich ausgiebig, dem Druck zuzustimmen, um all jenen zu helfen, die sich dafür interessieren. Er hatte keine Schwierigkeit, das von mir zu bekommen, was ich auch ohne Anfrage in Druck gegeben hätte.]

Tatsächlich ist Greif Betreiber einer der angesehensten humanistischen Druckwerkstätten außerhalb von Venedig und Paris. So besticht die auf den Prolog folgende Edition durch eine so geringe Anzahl an errata, dass Greif deren Verzeichnis nicht am Ende, sondern am Anfang des Buches anlegt. Er ist jedoch weit mehr als ein Meister seines Handwerks. Er ist vor allem ein Unternehmer auf dem Printmedienmarkt, jemand, der es versteht Investitionen zu tätigen, die sich erst mittel- oder langfristig rentieren. Als solcher ist er immerfort auf der Suche nach lukrativen Projekten. Demzufolge bittet er seinen Verlagslektor nicht nur um das Manuskript, weil er von dessen Inhalt überzeugt ist, sondern weil er sich ein gutes Geschäft verspricht.32 Über die Vermarktbarkeit von Texten entsteht indes ein weiterer Diskursfilter, den Rabelais im eigenen Interesse unerwähnt lässt. So zeichnet er den marchand-imprimeur als eifrigen Handwerker, der den Gelehrten umgarnt und ihn um sein Werk bekniet. Dabei ist durchaus das Gegenteil vorstellbar. Dann wäre es der Angestellte, der den Druckerverleger solange mit seinem Manuskript belagert, bis dieser sich bereit erklärt, es zu verlegen. Eine solche Situation wäre indes alles andere als schmeichelhaft. Zwar lässt sich der Sachverhalt aus heutiger Sicht nicht rekonstruieren, gleichwohl zeigt der Umstand, dass die Zweitauflage des Buches zahlreiche Kürzungen aufweist, dass der Drucker durchaus in den Text eingreift, wenn es seinem ökonomischen Interesse dient.33 Da dies dem Selbstbild des Gelehrten abträglich ist, zieht er es vor, auch Greif höflich zu einem Statisten zu degradieren. Dabei schafft er die Realität jedoch nicht aus der Welt. Sie scheint durch, in den weißen Rändern des Nichtgesagten. Die Initiative liegt mithin nur auf den ersten Blick allein bei Rabelais.

31 Œuvres, 1414–1415. 32 Der Marktwert der Rabelais’schen Edition liegt in diesem Fall darin, dass sie den ausgiebig annotierten griechischen «Originaltext» der Aphorismen beinhaltet. 33 Diese betreffen bezeichnenderweise einen Großteil der Annotationen, derer sich Rabelais im Prolog rühmt.

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3 Franciscus Rabelaesus Medicus – ein Erfolgsprojekt Rabelais versteht es, sich in den Vorreden seiner Editionen publikumswirksam als Träger und Garant der humanistischen Editionsphilologie zu stilisieren. Er gibt seinem Leser zu verstehen, dass er die Ordnung des gelehrten Diskurses verinnerlicht hat.34 Und seine Brillanz liegt darin, dass man seine Worte nur schwerlich von denen der arrivierten Kräfte unterscheiden kann. Er stimmt formal und inhaltlich perfekt in den zeitgenössischen Gelehrtenchor ein. In Bezug auf sein Anliegen, die Aufnahme in die res publica literaria, ist dies jedoch nur ein erster Schritt. Um wirksam zu sein, bedarf seine Selbstautorisierung einer Fremdautorisierung. Hier liegt die bereits im Brief an Budé erwähnte Gefahr: Man könnte ihm die Anerkennung verweigern. Er könnte scheitern; er könnte sich lächerlich, sprich, zum (Bücher-)Narren machen. Tatsächlich ist er im Herbst 1532 auf bestem Wege dazu. Denn das Testament des römischen Juristen Lucius Cuspidius ist keineswegs ein Originalmanuskript, das wie durch ein Wunder vor dem Zahn der Zeit bewahrt wurde, bis es durch glückliche Umstände in seine Hände fiel. Vielmehr handelt es sich um eine Fälschung der italienischen Humanisten Pomponius Laetus (1428–1498) und Iouianus Pontanus, die den blühenden Markt für alte Handschriften auf ihre Weise bedienen.35 Mit dem Erwerb des Textes und dessen Edition macht sich Rabelais mithin zum Narren, zum ahnungslosen Leser und Produzenten unnützer Bücher. Damit nicht genug, er macht sich mit den Verfälschern der Tradition gemein, vor denen er immerfort warnt, über die er sich lustig macht und auf denen er sein Selbstbild als humanistischer Editionsphilologe gründet. Diese Edition hätte also ohne Weiteres seinen Ruf ruinieren können. Der ehrgeizige Gelehrte kann indes von Glück sagen, dass die Fälschung zu seinen Lebzeiten nicht als solche erkannt wird. Überhaupt scheint man besonders seine medizinischen Schriften zu rezipieren. So wird Rabelais am 1. November 1532 zum Stadtarzt am Lyoneser Hôpital de Notre-Dame de la Pitié du Pont-du-Rhône ernannt. Dabei sehen die Stadträte – unter ihnen der Gelehrte Symphorien Champier (1471–1539) – großzügig über die Tatsache hinweg, dass Rabelais kein Mitglied der lokalen Ärztevereinigung Saint Luc ist und den

34 Cf. Foucault (1971). 35 Tatsächlich sind in den 1530er Jahren die Klassiker der antiken Literatur bereits weitgehend neu aufgelegt. Entsprechend schwierig gestaltet sich die Suche nach ‚neuen‘ Manuskripten, was nicht zuletzt einen Markt für Fälschungen eröffnet. Zu humanistischer Editionsphilologie und präkapitalistischer Ökonomie cf. Schneider (2017, 318–336).

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Posten im Grunde gar nicht antreten dürfte.36 Wenn er bis dato im philologischen Sinne Medicus war, so ist er es fortan tatsächlich.37 Und als solcher wird er im In- und Ausland gewürdigt.38 Am deutlichsten zeigt sich der Aufstieg des einstmaligen Franziskanermönchs jedoch in seiner Korrespondenz. So schreibt er im Dezember 1532 an niemand geringeren als Erasmus von Rotterdam. Dieser «durch ein glückliches Schicksal vor dem Feuer, dem Wasser und vor der Zerstörung durch die Zeit» bewahrte Brief zeigt, dass sein Autor in den höchsten humanistischen Kreisen verkehrt. Daher verzichtet er auf die zahlreichen Topoi des gelehrten Diskurses, mit denen die Prologe durchsetzt sind. Sie sind nicht mehr vonnöten. Stattdessen präsentiert er sich als Teil des Erasmischen Netzwerkes: Georgius ab Arminiaco Rutenensis episcopus Clarissimus nuper ad me misit Φλαουίου Ἰωσήπου ἱστορίαν Ἰουδαικὴν περὶ ἁλώσεως, rogauitque pro ueteri nostra amicitia, ut siquando hominem ἀξιόπιστον nactus essem, qui isthuc proficisceretur, eam tibi ut prima quaque occasione reddendam curarem. Lubens itaque ansam hanc arripui et occasionem tibi pater mi humanissime grato aliquo officio indicandi, quo te animo, quaque pietate colerem.39 [Georges d’Armagnac, der hoch angesehene Bischof von Rodez, hat mir unlängst die Jüdische Geschichte des Flavius Josephus geschickt, die Einnahme von Jerusalem. Er bat mich aufgrund unserer alten Freundschaft nicht zu vergessen, sie euch bei der ersten Gelegenheit zukommen zu lassen, sobald ich einen vertrauenswürdigen Mann fände, der in eure Stadt reiste.]

Hier schreibt kein unbekannter Franziskanermönch mehr, sondern ein renommierter Gelehrter, der Erasmus einen Dienst erweist und somit zu dessen Arbeit beiträgt. Bei dieser Gelegenheit kommt er zwar nicht umhin, dem Gelehrtenfürsten die obligatorische Reverenz zu erweisen: Patrem te dixi. Matrem etiam dicerem, si per indulgentiam mihi id tuam liceret. Quod enim utero gerentibus usu uenire quotidie experimur, ut quos nunquam uiderunt, foetus alant, ab aërisque ambientis incommodis tueantur, αὐτὸ τοῦτο σύγ’ ἔπαθες, qui me tibi de facie ignotum, nomine etiam ignobilem sic educasti, sic castissimis diuinae tuae

36 Cf. Grève (1961, 41). 37 Die Funktion des Stadtarztes ist, wie Mireille Huchon zu Recht bemerkt, in einer Zeit der Volksaufstände, Pestepidemien und Hungersnöte alles andere als leicht auszuüben. 38 Etienne Dolet (1509–1546) rühmt Rabelais in seinen Commentaires sur la langue latine (1538) als einen der sechs renommiertesten Ärzte des Königreichs. Cf Grève (1961, 44). Der kurmärkische Historiograph Wolfgang Jobst (1521–1575) führt ihn in seiner Chronologia omnium illustrium medicorum tam veterum quam recentiorum (1556) und datiert Rabelais’ Reputation auf das Jahr 1534, Cf. Huchon (2011, 116). 39 Rabelais, Œuvres, 1420–1421.

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doctrinae uberibus usque aluisti, ut quidquid sum et ualeo, tibi id uni acceptum ni feram, hominum omnium qui sunt aut aliis erunt in annis ingratissimus sim.40 [Ich habe dich Vater genannt, und ich würde dich auch Mutter nennen, wenn deine Nachsicht mich dazu berechtigte. Die tägliche Erfahrung lehrt uns von schwangeren Frauen, dass sie einen Fötus ernähren, den sie noch nie gesehen haben und dass sie ihn vor jeder schädlichen Umgebung schützen. Das genau habt Ihr für mich getan. Niemals habt Ihr mein Antlitz gesehen, sogar mein Name war Euch unbekannt. Und dennoch habt Ihr meine Erziehung übernommen und mich stets mit der vorzüglichen Milch Eurer göttlichen Weisheit genährt. Was ich bin und was ich gelte verdanke ich Euch allein. Und wenn ich dies nicht zu erkennen gäbe, so wäre ich der undankbarste aller Menschen.]

Doch beschränkt sich die Unterwürfigkeit auf die hier zitierte Passage. Rabelais wechselt den Tonfall, wenn er zu verstehen gibt, dass er sowohl mit Hilaire Bertholphe vertraut ist, als auch über genügend Insiderwissen verfügt, um Erasmus über einen Irrtum hinsichtlich des Autors der Schmähschrift Oratio pro M. Tullio Cicerone contra Desiderium ersamum Roterodanum (1531) aufzuklären.41 Für Vertraulichkeiten wählt er zudem konsequent das Griechische. In puncto Gelehrtengespräch agiert Rabelais durchaus auf Augenhöhe mit seinem Vorbild. Er zählt also mittlerweile zum Kreis der polyglotten und kosmopoliten Schriftgelehrten, die von sich selbst sagen, dass sie die Menschheit in eine neue Epoche des Lichtes führen. Als solcher begleitet er 1534 Jean du Bellay (1492–1560) auf einer diplomatischen Mission nach Italien. Dort sucht er Gelehrtengespräche, besichtigt die Stadt, besucht Ausgrabungen und kombiniert das Gesehene mit mehrsprachigen Schriften, um eine Topographie Roms anzufertigen.42 Rabelais ist also als die Person anerkannt, die er sich v.a. in seinen Prologen erschrieben hat. So porträtiert man fortan ihn im Stile des Erasmus mit Doktorhut und nicht als Büchernarren mit Narrenkappe. Dessen ungeachtet wird letzterer 1547 – nicht ohne Grund – auf dem Titel eines Buches aus der Feder eines gewissen Alcofrybas Nasier erscheinen, der damit auch kein Problem zu haben scheint. Im Gegenteil: auch er hat sich diese Position erarbeitet.43

40 Rabelais, Œuvres, 1421. 41 Erasmus ist der Ansicht, dass es sich bei deren Verfasser um Girolamo Aleandro (1480–1542) handele, der sich hinter dem Pseudonym Julius Cesar Scaliger (1484–1558) verberge. Rabelais, der in Montpellier bei Jean Schyron (†1556), einem Schüler Scaligers, studiert hat, und diesem evtl. sogar persönlich begegnet ist, zeichnet daher ein kurzes betont unschmeichelhaftes Porträt seiner Person. 42 [. . .] was er jedoch verwirft, als er feststellt, dass ihm Barthélemy Marliani die ,Geburtswehen abgenommen hat‘. So gibt er 1534 kurzerhand dessen Topographia antiquae Romae bei Sebastian Greif in Druck. 43 Zu dessen Selbststilisierung und -autorisierung cf. Schneider (2008, 93–152).

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Lars Schneider

Abb. 6: Léonard Gaultier, François Rabelais, Kupferstich, 1651 (https://wellcomeimages. org/indexplus/image/V0004855.html [letzter Zugriff: 09.09.2020]).

Abb. 7: Stephen Rawles/Michael Screech, A New Rabelais Bibliography, Genf, Droz, 1987, 201.

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Vom Franziskanermönch zum Universalgelehrten

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Folke Gernert

«Sono io che parlo [. . .] / De voce umana m’ha la doglia privo» Autorisierung im Schmerz bei Panfilo Sasso Der heute nahezu in Vergessenheit geratene1 Dichter und Humanist Panfilo Sasso oder Sasso de’ Sassi (1454?–1527)2 war an der Schwelle vom 15. zum 16. Jahrhundert ein überaus erfolgreicher Autor. Kein geringerer als Ariost erwähnt ihn in dem berühmten Dichterkatalog des Orlando furioso XLVI, 12, 4 zusammen mit dem ebenfalls in Modena gebürtigen Francesco Maria Molza. Wie Andreas Kablitz (1999) am Beispiel von Bembos Prose della volgar lingua gezeigt hat, ist dichterischer Ruhm und Erfolg ein wichtiges, wenn auch problematisches Kriterium der Normativität von auctoritas. Panfilo Sasso und andere Vertreter der sogenannten poesia cortigiana des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts hatten mit ihren poetischen Improvisationen und den oftmals mit musikalischer Begleitung3 vorgetragenen strambotti durchschlagenden Erfolg bei einem höfischen Publikum. Ob ihnen ihre Beliebtheit auch Autorität verleihen kann, ist unter Zeitgenossen jedoch höchst umstritten,4 da das mittelalterliche Autoritätsverständnis – wie Alistair

1 Der editorische Erfolg Sassos in neuerer Zeit ist sehr gering: Lediglich Pèrcopo (1899, 203–212) hatte die italienischen Gedichte (ein capitolo und sechs Sonette) aus Pamphili Saxi poetae lepidissimi ad Onophrium advocatum patricium Venetum veröffentlicht und die Rolle des Modenesen als politischem Autor herausgestellt. Ferrari (1882, 275–300) transkribierte kommentarlos die Edition Strambotti del clarissimo poeta misser Pamphilo Sasso modonese (s.l., 1522). Erst jüngst legte Malinverni (Sasso 1996) neben einigen textkritischen Arbeiten (Malinverni 1991, 123–165; 1998, 203–228 und 2004, 361–389) eine Teiledition der Sonette, Sonetti 1–250, vor. Die übrigen 204 Sonette, 46 capitoli, 111 strambotti sowie die 6 Eklogen und 1 Oktave sind, wie auch die lateinischen Werke des Dichters, nicht in modernen Ausgaben zugänglich. 2 Cf. zur Namensvariante Bertoni (1906, 272–274). Über die Biographie des Dichters sind wir nur sehr lückenhaft durch Tiraboschi (1784, vol. 5, 22–34); D’Ancona (1884, 218–221), Frati (1887, 92–95), Gabotto (1888, 282–300), Percopo (1899, 194–212), Ginzburg (1970, 130–137) und Dalmas (2005, 159–161) unterrichtet; cf. auch Gernert (2009, 2015 und 2017). Jüngst erschien eine Analyse der poetischen Sprache Sassos von Salvatore (2013, 117–125). 3 Cf. auch Mehltretter (2008, 181–208) und das Kapitel «Die lyrischen Genera und die Musik: Theoretische Entwürfe zwischen Mythos und konkreter Medialität» in Huss/Mehltretter/Regn (2012, 254–269). 4 Cf. zu dieser Problematik Nelting (2011, 188): «In der frühneuzeitlichen Nachahmungspoetik ist die Autorität einer Norm nicht gegeben, sondern das Resultat von Zuschreibungen. Autorisierungen poetischer Normen werden zumeist dialogisch ausgehandelt; die Durchsetzungsfähighttps://doi.org/10.1515/9783110686609-008

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Folke Gernert

J. Minnis gezeigt hat – das Wertvolle dem Alten gleichsetzte: «To be old was to be good; the best writers were the most ancient» (21988: 9). Der Literaturkritiker Vincenzo Calmeta, selbst Verfasser höfischer Dichtungen,5 stellt im Titel einer seiner prose die Frage «S’egli è lecito giudicare i vivi o no».6 Auch wenn dies in der Antike nicht Usus gewesen sei, machten die veränderten Gewohnheiten eine kritische Auseinandersetzung mit der Qualität zeitgenössischer Dichtung notwendig. Anders als bei den Alten, die ihre besten Werke dem Publikum lange vorenthielten und einem langwierigen Korrekturprozess unterzogen «per potersi poi la morte qualche perpetuità acquistare»,7 werde gegenwärtig der schnelle Ruhm zu Lebzeiten entgegen aller Warnungen antiker Autoritäten gesucht: Ma nella presente nostra età, per la commodità grande degli stampatori, tanto regna la boriosa ambizione che, non osservando l’ammonizion d’Orazio che dice et nonum prematur in annum [Ars poetica, 388], quando uno ha fatto qualche composizione, subito la fa stampare, acciocché possa qualche nome vendicarsi. [. . .] Un altro nuovo modo ancora, oltra gli stampatori, è trovato col quale le composizioni, massimamente in lingua volgare, vengono in luce; imperocché essendo oggidì questa professione assai essistimata, sono riusciti molti citaredi, i quali con le fatiche d’alcuni poeti sustentandosi, quelli per ogni corte di prìncipi, cittadi e terre vanno publicando, et essendo richiesti di lasciarle in iscritto, spesso le lasciano, e così di mano in mano capitando tra ogni natura di gente, si vengono a divolgare in modo che ogni barbaro e idiota li basta l’animo sopra di quelle far giudizio, e spesse volte perfidiando volere le cose inette alle buone anteponere.8

keit eines Modells hängt dabei nicht zuletzt von der Inthronisierung einer geltungsmächtigen Autorfigur ab, welche die Autorität einer Norm verkörpert». 5 Cf. Ageno (1961, 286–315). 6 Die literaturkritischen Werke Calmetas wurden 1959 von Cecil Grayson aus einer in Zaragoza aufbewahrten Handschrift publiziert. Die Prosastücke I (Discorso del Calmeta s’egli è lecito giudicare i vivi o no), II (S’egli è possibile esser buon poeta volgare senza aver lettere latine) und V (Qual stile tra’ volgari poeti sia da imitare), die uns hier interessieren, datiert Grayson (Calmeta [i.e. Vincenzo Colli] 1959, L) auf die Zeit zwischen 1500 und 1502. Auf der Basis der überlieferten Schriften, würdigt der Herausgeber die Rolle Calmetas als erstem Literaturkritiker: «Mentre non mancavano allora indicazioni consapevoli dei problemi della letteratura in volgare, ed è evidente, da quanto scrive il Calmeta, che i suoi contemporanei non esitavano a criticare a voce i componimenti altrui (con forte pregiudizio per la propria fama, anziché con fondati criteri di giudizio), nessuno aveva messo mano alla critica sistematica in sede militante. La novità del Calmeta consiste nell’essere il primo a mettercisi con impegno in iscritto, il primo critico della letteratura volgare contemporanea, da mettere accanto e tuttavia più innanzi all’amico Paolo Cortese, storico e critico della letteratura neolatina fino all’età sua, ma non dei vivi» (Grayson 1959, LIII–LIV). Cf. hierzu Landoni (1980, 63–78) sowie zu Leben und Werk Pieri (1982). 7 Calmeta (1959, 3). 8 Ibid., 3–4 und hierzu Landoni (1980, 64–65).

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Die unkontrollierte Verbreitung literarischer Werke – sei es im Medium des Buchdrucks, sei es durch den mündlichen Vortrag mit musikalischer Begleitung – mache eine fundierte kritische Auseinandersetzung mit diesen Texten notwendig, um zu gewährleisten, dass «i primi da’ mediocri e’ mediocri dagl’infimi s’abbiano a discernere, a ciò che la loquacità de’ tristi non abbia il sudore e le fatiche de’ buoni a denigrare».9 Der sich streitbar gebende Verfasser fühlt sich bemüßigt, im Vorwege mögliche Kritikpunkte Andersdenkender zu entkräften, die – wie rhetorisch geschickt konzediert wird – durchaus über ein «più dritto giudizio»10 verfügen könnten oder «per qualche auttorità ch’egli abbia»11 zu einer Gegendarstellung ermächtigt seien. Angesichts einer umfänglichen poetischen Produktion zweifelhafter Qualität bedürfe es allerdings des Kritikers, dessen indignatio sich an ignoranten Höflingen entzündet, die sich mit Dante und Petrarca auf eine Stufe stellen: Deh! perché non mi debbo io sdegnare, se il più delle volte veggio le rime in arbitrio o de’ grossieri cortigiani, o di vane donne, o d’altri temerari ignoranti, che per sapere concordare due desinenze, o dire uno stramotto nel liuto, con Dante o col Petrarca non si affratelleriano?12

Trotz dieser scharfen Verurteilung der höfischen strambotto-Dichtung, die Pietro Bembo aus dem Kanon der literarischen Gattungen zu eliminieren trachtet,13 schlägt Calmeta an anderer Stelle Modellautoren für diese Form der Lyrik vor. Es handelt sich in den Worten von Elisa Curti (2006, 59) um eine «precoce e notevolissima classificazione dei generi che caratterizzano la poesia moderna» in Form eines ‚praktischen Leitfadens‘, der für alle lyrischen Gattungen «almeno un modello, un’auctoritas da imitare» proponiert. Curti bezieht sich auf Calmetas Abhandlung der Frage Qual stile tra’ volgari poeti sia da imitare, in der es heißt: «Chi in stramotti, i poeti moderni da noi nel capitolo delli stramotti nominati daranno a ciascuno vera norma».14 Zeitgenössische Dichter können also zu einer normsetzenden Instanz avancieren und noch ganz im Sinne einer mittelalterlichen Definition des Autoritätsbegriffes als «sententia digna imitatione», wie sie

9 Calmeta (1959, 4). 10 Ibid., 5. 11 Ibid., 5. 12 Ibid., 5. 13 Cf. Dionisotti (Bembo 2013 [eBook], s. p.), Anm. 72 zum Libro secondo, XI von Bembos Prose della volgar lingua: «Il Bembo parla di Ottava rima, tacendo il nome dello Strambotto, che pur era una delle forme liriche più in favore nella poesia cortigiana dell’età sua, quella poesia che le Prose della volgar lingua mirano a distruggere». 14 Calmeta (1959, 25).

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Folke Gernert

sich bei Uguccione da Pisa15 findet, Modellcharakter erlangen. Leider ist das zitierte Kapitel über die strambotti nicht überliefert – möglicherweise bezieht sich Calmeta auf seine Nove libri della Volgar Poesia, eine umfängliche poetologische Schrift, die noch von Lodovico Castelvetro zitiert wird, aber nicht auf uns gekommen ist. Das zitierte Prosastück unterscheidet lediglich unterschiedliche Formen der gesungenen Lyrik: nur durch einen «modo di cantare, semplice e non diminuito»16 könne man aus der «volgar schiera» hervortreten, um nicht nur die liebenden, sondern auch die «eruditi cuori» zu erreichen.17 Vorbildfunktion für diese lobenswerte Form des Gesangs sind Benedetto Gareth, genannt Cariteo und Serafino Aquilano.18 In einem anderen Prosastück mit dem Titel S’egli è possibile esser buon poeta volgare senza aver lettere latine definiert Calmeta unter Rückgriff auf Pythagoras, Platon und Aristoteles einen «furor divino nella mente infuso», um die Frage zu beantworten, ob «senza lettere latine poteva un poeta volgare ad alcun grado di perfezione aggiungere».19 In diesem Kontext findet Serafino Aquilano erneut lobende Erwähnung, weil er dank seiner natürlichen Begabung als Dichter überzeuge, anders als die in den rhetorischen Künsten bewanderten Autoren wie Lorenzo dei Medici, Angelo Poliziano, Iacopo Sannazzaro oder Tebaldeo.20 Panfilo Sasso wird wohl in erster Linie wegen persönlicher Animositäten in dieser Aufzählung gelehrter Dichter nicht genannt.21

15 Die Definition des italienischen Juristen zitiert Minnis (21988, 10) aus dem MS Bodley (376, fol. 1r). Cf. in diesem Kontext das Kapitel «The terms auctor and auctoritas» (1984, 21988, 10–12). Zentral zu mittelalterlichen Tendenzen der Textautorisierung Kablitz (2014, 105–166). 16 Es handelt sich, so Curti (2006, 61), um eine «distinzione tecnica tra un tipo di canto più elaborato, arricchito di ornamentazioni (‚diminuito‘) ed uno semplice (‚non diminuito‘)». 17 Cf. Calmeta (1959, 21). 18 «Questi tali nel modo del cantare deveno Cariteo o Serafino imitare, i quali a’ nostri tempi hanno di simile essercizio portata la palma» Calmeta (1959, 21–22). Cf. hierzu die Einleitung von Grayson (1959, LVIII) und Curti (2006, 61): «Dunque da una parte ‚strammotti‘, forma di poesia musicata che può trovare accoglienza anche presso un pubblico più selezionato, di dotti, nella quale eccellono Cariteo e Serafino Aquilano (siamo quindi in un ambito prettamente cortigiano), dall’altra stanze, barzelette, frottole, componimenti di natura amorosa e di tono più basso (‚pedestri stili‘), i cui modelli vanno ricercati nei recenti poemi cavallereschi e nelle frottole musicate di un poeta gravitante nell’orbita delle corti del Nord come Galeotto del Carretto». 19 Calmeta (1959, 7). Die Frage wird aufgeworfen, weil man feststellt, dass «alcuni ingegni che, dotati dalla natura di furore e vena poetica, senza aver lettere, cose mirabili e di laude degne ne’ loro poemi esprimevano» (7). 20 Cf. Calmeta (1959, 11). 21 Cf. Calmeta (1959, 38): «Sasso Modenese [. . .] avendo da putto dato qualche opera alle lettere e per inconstanza di cervello voluto molte professioni abbracciare, solo di quelle ha la superficie presa, la qual mescolata con certa facundia sua naturale, di terra in terra in diversi abiti mascarato la va ostentando, e se sarà chi di sua profession lo addomandi, non avendo cosa nessuna

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Panfilo Sasso wird literarhistorisch gemeinhin in der Nachfolge von Serafino Aquilano verortet, auch wenn der Modenese – anders als der Dichter aus den Abruzzen – über eine solide humanistische Ausbildung und exzellente Lateinkenntnisse verfügte. Die Rolle Sassos im literarischen System seiner Zeit und die von ihm verwendeten Strategien der Selbstautorisierung lassen sich nur in Abgrenzung vom emblematischen caposcuola verstehen. Serafino Aquilano war zweifelsohne der bekannteste und beliebteste Verfasser von strambotti,22 der an verschiedenen italienischen Höfen seiner Zeit (in Rom im Dienste des Kardinals Ascanio Sforza und in engem Kontakt mit der Akademie von Paolo Cortese, am aragonesischen Hof in Neapel,23 bei Elisabetta Gonzaga in Urbino, in Mantua bei Francesco Gonzaga und Isabella d’Este und in Mailand bei Ludovico Sforza und Beatrice d’Este) zu Hause war, an denen seine Gedichte wahre Begeisterungsstürme hervorriefen. Als der Dichter im Jahre 1500 starb, versammelten sich Schriftsteller, Dichter und Humanisten zu einer großangelegten Ehren- und Beileidsbekundung: Collettanee Grece Latine e Vulgari per diversi auctori moderni nella morte de l’ardente Seraphino Aquilano, per Gioanne Philotheo Achillino bolognese in uno corpo redutte (Bologna: Caligula Bazaliero, 1504).24 Carlo Dionisotti spricht von einem «trionfo postumo senza precedenti in Italia» (1974, 99).25 Serafino wurde durch diese massive mediale Präsenz als «Gegenstand besonderer Verehrung» zur ‚Ikone‘ im Sinne von Christel Meier und Martina Wagner-Egelhaaf (2011, 18). Der bereits ausführlich zitierte Vincenzo Calmeta verfasste sogar eine Vita del facondo poeta vulgare Serafino Aquilano.26 Wie schon Stephen Kolski zu Recht anmerkte, bedeutet

che a parte di perfezione aggiunga, tra li filosofi si farà poeta, e tra’ poeti filosofo, acciochè esseguisca l’auttorità di Iuvenale: Omnia novit Graeculus» und hierzu Curti (2006, 139). 22 In der neueren Literaturgeschichtsschreibung wird der Dichter allgemeinhin sehr negativ bewertet; beispielsweise von Croce (21970, 72–77). 23 Cf. zu den Verbindungen des Autors mit humanistischen Zirkeln wie der Accademia di Paolo Cortese in Rom und der berühmten Accademia Pontaniana in Neapel Rossi (Aquilano, 2002, LII–LIX). 24 Exemplare werden in verschiedenen italienischen Bibliotheken (Biblioteca Comunale dell’Archiginnasio und Biblioteca Universitaria in Bologna) sowie in der Biblioteca Capitular y Colombina (15-3-16) aufbewahrt; zur Würdigung des Dichters als Musiker und vielleicht sogar als Komponistem durch seine Zeitgenossen, cf. La Face Bianconi/Rossi (1995, 345–346). 25 Cf. weiterhin Dionisotti (1974, 99): «Fu un trionfo effimero, d’accordo, ma è chiaro che, in quei frangenti, esso in tanto fu possibile in quanto una svolta si era verificata nella cultura italiana e in quanto alla poesia di Serafino, cortigiana ma al tempo stesso libera, senza alcun impegno politico, a torto o a ragione appariva corresponsabile di quella svolta». 26 Cf. Grayson (1959, XXXI) und den Text in der Ausgabe von Grayson: Calmeta (1959, 60–77).

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eine solche Biographie eine Ausnahmeerscheinung, waren doch bislang nur volkssprachliche Autoren wie Dante und Petrarca Objekte prosopographischer Forschung gewesen:27 Considering the dominant formulation of the genre in this period, Calmeta’s choice of Serafino Aquilano as the subject of a biography is remarkable. In a radical departure from the genre which, up until this time, had usually excluded biographies of contemporary poets (and indeed of most fifteenth-century poets in general), Calmeta has made a conscious decision to elevate the status of a contemporary poet by considering the life and work of Serafino worthy subject for his writing. (Kolski 1990, 161).

Serafino Aquilano darf also vor dem Hintergrund eines sich wandelnden Autoritätsverständnisses als normsetzende Instanz für die höfische Dichtung gesehen werden. Seine Legitimation bezieht er in erster Linie aus seinem Erfolg, aber auch aus einer natürlichen Begabung, die – wie den theoretischen Schriften Calmetas zu entnehmen ist – das Studium der antiken Autoren und die Kenntnis der klassischen Rhetorik ersetzen kann. Anders als Serafino ist Panfilo Sasso nicht nur begabt, sondern auch humanistisch gebildet. Eine Reihe von Zeitzeugnissen dokumentieren, dass der Modenese seine Geistesgaben gerne öffentlich zur Schau stellte. Eine Anekdote erzählt Ludovico Castelvetro in seinen Opere varie critiche (1727, 82): Als der literaturliebende Girolamo da Ca Donati in Verona das Amt des podestà innehatte, trug ihm ein «buon Gramatico da Verona» im Beisein Panfilo Sassos ein Epigramm vor, woraufhin der Modenese ihn zornig des Plagiats anklagte und zum Beweis dafür, selbst der Autor zu sein, den Text aus dem Gedächtnis wiederholte. Hierzu war er jedoch in der Lage – so erklärte Sasso selbst dem konsternierten Epigrammatiker – aufgrund seiner außergewöhnlichen mnemotechnischen Fähigkeiten. Möglicherweise nutze er seine «rara memoria» ebenfalls dazu, sorgfältig komponierte Gedichte als Produkte spontaner Improvisation zu präsentieren. Der Kanoniker Matteo Bosso (1427–1502) aus Verona berichtet in einem Brief von der großen Gelehrsamkeit und dem Improvisationstalent des jungen Sasso, der ihn in seinem Landhaus in Erbeto, einem Ort des Rückzugs ins otium, zum Mittagessen eingeladen hatte: Io non so di alcun altro, che in tale età abbia mostrata si gran dottrina, si vivo ingegno, e ciò che è in lui più ammirabile, si gran coraggio nel verseggiare all’improvviso, e si rara memoria, se pur tali non sono stati Giovanni Pico della Mirandola, Ermolao Barbaro Patri-

27 Cf. Boccaccios Vita di Dante und Leonardo Brunis Vite di Dante e del Petrarca. Vespasiano da Bisticcis Sammlung von Lebensbeschreibungen verzichtet vollkommen auf volkssprachliche Autoren. Kolski (1990, 161) bemerkt: «It is possible that humanist biographies could only confirm the fame of poets already famous because so few vernacular poets could attain the standard set by Dante and Petrarch or by the classical tradition».

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zio Veneto, e Lippo Fiorentino il cieco. Dio immortale! Di quante cose parlò egli, e disputò con noi in tempo del pranzo, e levate le mense! E con qual eleganza, con qual gravità, con qual senno! Nè solo della Sacra Letteratura, e de’ Divini misterj, ma ancor di qualunque scienza profana [. . .] Con una non più udita facilità improvvisa in versi al suon della cetera così in Italiano come in Latino qualunque argomento li venga proposto.28

Auch wenn der Vergleich des Gastgebers mit den genannten Humanisten allzu hyperbolisch erscheint, so zeugen die brieflich niedergelegten Impressionen Bossos davon, wie erfolgreich Panfilo Sasso die humanistischen Strategien des self-fashioning29 einsetzte, um sowohl Erudition als auch dichterischen Genius in Szene zu setzen. Man darf davon ausgehen, dass ein Autor mit diesem intellektuellen Selbstverständnis sein dichterisches Werk und dessen Verbreitung in den Dienst bewusster Selbstdarstellung und Selbstautorisierung stellt. Unter einem Autor verstehe ich hier mit David Nelting «eine Instanz, die sich in vielfältiger Weise durch die poetologisch wie auch anthropologisch bedeutsame Selbstinszenierung im Agon der imitatio-Poetik und der potentiellen Kontingenz ihrer Bezüge behaupten muß» (2005, 124). Anders als im Falle von Serafino, dessen Werke posthum gedruckt wurden, gehörte Sasso ebenso wie auch Tebaldeo zu denjenigen höfischen Dichtern, die sich den Buchdruck auf besonders geschickte Art und Weise zu Nutze machen konnten,30 worauf schon Amedeo Quondam (1983, 604) aufmerksam machte. Der Erfolg, dessen sich der Dichter und «cortigiano senza corte»31 bei seinen Zeitgenossen erfreute, ist wohl zu einem guten Teil auf seinen raffinierten Umgang mit diesem Medium zurückzuführen. Vor 1504 lebte Sasso einige Zeit in Brescia, wo er in unterschiedlichen Offizinen seine Werke publizierte und möglichweise freund-

28 Cf. die italienische Übersetzung von Tiraboschi (1784, vol. 5, 24 des Briefes LXXXIII). Ad Adeodatum Broilum de Pamphili Saxi doctrina. ingenio. memoria uitaque mirabili in Bosso (1498, 194r). 29 Cf. zu den frühneuzeitlichen Strategien der Selbstinszenierung an der Schnittstelle von literarischen und sozialen Praktiken Greenblatt (1980, 3): «And with representation we return to literature, or rather we may grasp that self-fashioning derives its interest precisely from the fact that it functions without regard for a sharp distinction between literature and social life. It invariably crosses the boundaries between the creation of literary characters, the shaping of one’s own identity, the experience of being molded by forces outside one’s control, the attempt to fashion other selves». 30 Cf. zur «fortuna editoriale» Sassos im Vergleich mit Serafino Aquilano Rossi (1980, 11). Cannata Salamone (1989, 83–89) analysiert die Form der Publikation von Lyriksammlungen im Zeitraum von 1470 bis 1530 und dokumentiert eindrucksvoll den Erfolg einiger weniger heute fast vergessener Dichter (neben Serafino Aquilano und Panfilo Sasso nennt sie Tebaldeo und Giusto de’ Conti), die zusammen mit Petrarca 80% des Marktes beherrschten. 31 Den Terminus verwendet Malinverni (2002, 317).

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schaftliche Kontakte mit den Druckern der lombardischen Stadt pflegte.32 Es steht zu vermuten, dass Sasso bewusst auf die Gestaltung der Titelseiten33 Einfluss nahm und sich dort als Autor paratextuell inszenierte.34 Er war wohl einer der von Marco Santoro erwähnten neuen Akteure, «che incidono sempre più vistosamente e potentemente sulla confezione fisica del manufatto librario» (2011, 12). Es ist hinlänglich bekannt, dass sich durch die Erfindung Gutenbergs die Titelseite als zentrales Element des gedruckten Buches herausbildet, dessen Bedeutung als Werbeträger einer nunmehr nach ökonomischen Prämissen arbeitenden Industrie des geschriebenen Wortes bestens erforscht ist. Wie Erich Kleinschmidt beobachtet, habe «eine anspruchsvolle Autorschaft [die Titelseite] entdeckt» und «diese neue Bühne ‚intensiv’ [inszeniert]» (2008, 5).35 Sassos erstes gedrucktes Buch ist eine Sammlung lateinischer Werke, die Bernardino Misinta 1499 in Brescia veröffentlichte.36 Der Name des Autors figuriert auf der Titelseite, die gleichzeitig als 32 Cf. zum Buchdruck in Brescia Sandal (1999) und Grohovaz (2006). 33 Cf. zur Entwicklung der Titelseite Smith (2000); Baldacchini (2004); Rautenberg (2004, 5–33 und 2008, 1–105) sowie die Einleitung von Frieder von Ammon und Herfried Vögel (2010, XIII) zu ihrem Sammelband zur Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit: «Mit dem Buchdruck nämlich kommt es zu einer Multiplikation und Diversifikation paratextueller Formen und Funktionen in einem bis dahin unbekannten Ausmaß. Mit einem neuen Element des Buches wie dem Titelblatt entstehen auch neue Formen und Funktionen des Paratextes, gleichzeitig differenzieren sich andere, traditionelle Paratextsorten wie die Widmung, die Vorrede oder das Register formal und funktional aus. Im Zuge dieses Prozesses entsteht jene für die Frühe Neuzeit so charakteristische Pluralität und Ubiquität von Paratexten». Zum Frontispiz in Italien unter besonderer Berücksichtigung der Titelillustration cf. Barberi (1969). 34 Cf. zu den Anfängen der Paratextforschung das Standardwerk von Genette (1987), welches sich bekanntlich auf gegenwärtige Gegebenheiten bezieht, und speziell das Kapitel «Le nom d’auteur» (38–53), in dem der französische Theoretiker die Wortschöpfung onymat für Werke mit Nennung des Verfassernamens vorschlägt: «Il est assez tentant de forger [. . .] le terme onymat: comme toujours, c’est l’état le plus banal qui reste innommé par l’usage, et le besoin de le nommer répond chez le descripteur au désir de le tirer de cette banalité trompeuse» (40). 35 Vielfach wird die Bedeutung des Titelblattes als Ort der (Selbst-)Autorisierung nicht wahrgenommen, sondern lediglich auf die Inhaltsseite Bezug genommen, wie dies bei Baldacchini (2004, 11) geschieht: «La domanda che ci poniamo inizialmente è: ,come si presentano i libri antichi?‘ Ma essa va forse riformulata e precisata nel seguente modo: ,come presentano il proprio contenuto i libri antichi?‘». Anders bei Rautenberg, mit der Definition «eine Seite, die werk- bzw. autorkennzeichnende Angaben zum Inhalt des Buches enthält» (2008, 17). Cf. zu der «Auktorialität modellierende[n]» Funktion von Paratexten Kleinschmidt (2008, 16): «Paratexte begründen Auktorialität nicht, aber sie modellieren alle Übergänge ihrer An- und Abwesenheit, ihres Erscheinens und Verschwindens, ihres Daseins und ihres Soseins. Unser Bewusstsein von Autorschaft wäre ärmer ohne die reizmodulierende ‚Bühne‘ der Paratexte, die ihr noch andere Intensität als die im eigentlichen ‚Autortext‘ diskursivierte verschafft». 36 Drei Jahre später erscheint die lateinische Gesamtausgabe in einer Neuauflage in der gleichen Offizin. Bernardino Misinta verlegte überdies 1502 Panfilo Sassos Capitolo sulla predestinazione

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content-list37 gestaltet ist und durch Initialschmuck und Mehrfarbigkeit optisch aufgewertet wird:38 Pamphili Saxi Poetae lepidissimi epigrammatum libri quattuor, distichorum libri duo, de bello gallico, de laudibus Veronae, et elegiarum liber unus. Durch die Verwendung des Adjektivs lepidus wird der Verfasser als geistreich und unterhaltsam ausgewiesen. Die Sammlung ist Sigismondo Gonzaga (1469–1523), dem zweitgeborenen Sohn des Markgrafen Federico I und späterem Kardinal, zugeeignet. In der Rubrik, die die Schwelle zum Haupttext markiert, wird die Formel Pamphili Saxi Poetae lepidissimi sowie der Name des Widmungsempfängers wiederholt. Seine italienischen Gedichte stellte Panfilo Sasso wenig später in einer Werkausgabe mit dem Titel Opera del praeclarissimo poeta miser Pamphilo Sasso Modenese. Sonetti. CCCC.VII. Capituli. XXXVIII. Egloge. V zusammen, die zwischen 1500 und 1519 neunmal publiziert wurde.39 In der editio princeps kommt der label-title40 ohne Schmuckelemente aus und wird lediglich durch die Liste der verwendeten metrischen Formen ergänzt. Wie Stefania Signorini (2008, 52) feststellt, ist die Drucklegung ein bewusstes Manöver der Selbstautorisierung: Con l’edizione il letterato si immetteva pubblicamente sul mercato poetico. Se si consideri l’estraneità del Sasso ai grandi centri cortigiani dell’epoca, la decisione di dare alle stampe la propria opera in versi assume i tratti di un più ampio progetto che prevedeva la pubblicazione dell’intera produzione in latino e in volgare.

Teil dieser Strategie ist das Widmungsschreiben an Elisabetta Gonzaga (ca. 1471–1526), Sigismondos jüngste Schwester, der überdies die ersten drei Sonette der Sammlung zugeeignet sind. Sasso inauguriert eine Praxis, die in der Folgezeit zu einem gängigen Verfahren werden wird41 und die mitunter den

(Sandal 1999, 39–40) und sein Agislariorum uetustissimae gentis origo (Sandal 1999, 42); Arundo de’ Arundi gab ca. 1506 Sassos Deploratio Ludovici Plumatii heraus (Sandal 1999, 57) und Angelo Britannicos Edition der Werke von Lorenzo Giustinian sind Disticha ad lectorem Sassos beigegeben (Sandal 1999, 57–58). 37 Cf. das Kapitel «The content list serving as a title-page» in Smith (2000, 98–102). 38 Cf. Rautenberg (2004, 18): «Die Entwicklung zum dekorativen Titelsatz zeigt aber, dass die leere Seite von der einfachen Werkkennzeichnung zum Blickfang mit dekorativen Elementen weiterentwickelt wird, auch wenn sich die Mittel, mit denen dies geschieht, als nicht sonderlich einfallsreich erweisen». 39 Cf. Malinverni (1991, 126–128). 40 Cf. zu dieser Form der Titelgestaltung Smith (2000, 59–74) und zum label-title in Verbindung mit einem Holzstich ibid. (75–90) sowie Rautenberg (2004, 15–18). 41 Cf. Signorini (2008, 52): «L’offerta del florilegio, destinata a divenire frequente, non conosceva all’epoca precedenti a stampa e all’iniziativa dovette arridere un successo non mediocre».

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Erfolg der Publikation erklären mag, die noch im gleichen Jahr in Venedig neuaufgelegt wurde. Mit der Verwendung des Epitheton preclaro in allen Editionen,42 meist auch in latinisierender Graphie, präsentiert sich der Dichter auf der Titelseite als großartig und ausgezeichnet, glänzend und vortrefflich, aber auch als sehr berühmt. Das Adjektiv wird in einer Reihe von Petrarcas Werkausgaben verwendet, allerdings meines Wissens erst seit 1508.43 In der Sasso-Edition von 1519, die in Venedig bei Guglielmo da Fontaneto erschien, unterstützt ein Holzstich die paratextuelle Inszenierung der Autorfigur als akademische und poetische Autorität; denn – wie man bei genauerem Hinsehen erkennt – ist der ex cathedra sprechende Mann mit dem Dichterlorbeer bekränzt. Es handelt sich um eine Illustration in der Tradition der sogenannten Accipies- oder Magistercum-discipulis-Holzschnitte,44 die als Titelillustrationen für Lehr- und Schulbücher verwendet wurden.45 Ursula Rautenberg (2004, 27–28) fragt nach der Funktion dieser besonderen Form der Gestaltung des Frontispizes: Welche Bedeutung hat diese standardisierte Gestaltung für den Buchmarkt und den Leser? Einmal erfolgreich eingeführt, wird das Titelblatt mit der Lehrsituation zum Erkennungszeichen, wohl auch zum Marken- und Qualitätszeichen für die Produktion einiger Offizinen [. . .]. Der Titelholzschnitt ist nicht nur dekorativer Blickfang, sondern zielt auf eine bestimmte Käuferschicht, nämlich Lehrer und Schüler an Universität und höheren Schulen. Zugleich verweist die dargestellte Szene auf die intendierte Gebrauchsfunktion dieser Literatur, in der sich der Käufer und Buchnutzer wiedererkennen sollen.

Mich interessiert diese Funktionsbestimmung, die die Erlanger Buchwissenschaftlerin vornimmt deshalb, weil sie in unserem Fall gerade nicht zutrifft. Der 42 Cf. die Aufstellung der Überlieferungszeugnisse in Malinverni (2004, 387). 43 Cf. Opera del preclarissimo poeta miser Francesco Petrarcha con li commenti sopra li Triumphi, Soneti, & Canzone historiate & nouamente corrette per miser Nicolo Peranzone, Venedig, Bartolomeo de Zanni da Portese, 1508; Mailand, Giovanni Angelo Scinzenzeler, 1512 oder Opera del preclarissimo poeta misser Francescho Petrarcha con el commento de misser Bernardo Lycinio sopra li triumphi, Venedig, Augustino de Zanni de Portese, 1515. In Petrarca-Editionen aus etwa der gleichen Zeit fehlen meist schmückende Beiworte: Opere volgari di messer Francesco Petrarcha, Fano, Girolamo Soncino, 1503. Cf. das Kapitel zur Titelgebung in PetrarcaAusgaben in Mehltretter (2009, 24–29). 44 Der Name wurde von dem Buchgeschichtler Robert Proctor 1894 geprägt, in Anlehnung an das Spruchband Accipies tanti doctoris dogmata sancti neben dem von der Taube des Heiligen Geistes inspirierten Lehrers. Cf. zu dieser speziellen Form der Buchillustration Schreiber (1908); Smith (2000, 87–89) und Rautenberg (2008, 73–84) zur «Lehrszene auf dem Titelblatt in den Niederlanden»; zum Autorenportrait in spanischen Büchern des Goldenen Zeitalters siehe Civil (1992, 45–62). 45 Schon Proctor (1894, 52) bemerkte, dass «its design renders it unsuitable to any books but those of a more or less scholastic or didactic character».

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Einsatz des typographischen Dispositivs erfolgt hier jedoch in zweckentfremdeter Weise, wodurch der Verfasser volkssprachlicher Unterhaltungsliteratur in den Kreis der Schulautoren eingereiht wird. Guglielmo da Fontaneto verwendete – wie es üblich war – diesen Holzstich mehrfach, allerdings für die Illustration lateinischer Werke wie der Flores legum (1522 und 1532), einer Sammlung von Rechtssprüchen,46 dem Vocabulista ecclesiastico (1523) des Augustiners Giovanni Bernardo Fortes (1420–1504), der Topica (1534) des Rechtsgelehrten Claudius Cantiuncula (1490/ 99–1549) oder Francesco Bernardino Cipellis (1441–1542) Grammaticae institutiones (1534). Die Verwendung eines identischen Magister-cum-discipulis-Holzschnittes auf der Titelseite einer volkssprachlichen Lyriksammlung finden wir interessanterweise in der schon 1512 von Alessandro Bindoni in Venedig verlegten Werkausgabe von Serafino Aquilano: Opere de lo elegante poeta Seraphino Aquillano. Sonetti Epistole Strambotti Egloge Capitoli Barzellete. Diese Strategie der Autorisierung eines zeitgenössischen Lyrikers durch die Titelillustration wurde von Melchiorre Sessa und Pietro Ravani 1519 in ihrer Serafino-Ausgabe aufgegriffen, in der sie den gleichen Holzstich verwenden wie 1525 für die Elegantiolae von Agostino Dati (1420–1478). Auch die Tebaldeo-Ausgaben, die Alessandro Bindoni und Mafeo Pasini 1525 und 1535 verlegten, zeigen einen Magister-cum-discipulis-Holzschnitt auf der Titelseite. Es handelt sich allem Anschein nach um eine gängige Praxis, die mit für die Illustration von volkssprachlicher Liebeslyrik erwartbaren Darstellungen eines liebenden Sängers mit Cupidus wie sie Giorgio Rusconi 151047 verwendet, oder einer geselligen Vortragssituation wie bei Bartolomeo und Francesco Imperatore,48 kontrastiert. Kehren wir zurück zu den Werken Sassos: Unabhängig von der vulgärsprachlichen Gesamtausgabe erschienen die strambotti des Modenesen. Die Editionen lassen sich durch die Zahl der aufgenommenen Kompositionen in drei Gruppen unterteilen:49

46 Cf. die Charakterisierung der Flores legum im Gesamtkatalog der Wiegendrucke [http://ge samtkatalogderwiegendrucke.de/docs/FLORLEG.htm, Zugriff 24.12.15]: «Populäre Sammlung von allgemeingültigen Rechtssprüchen, Legaldefinitionen, Versus memoriales u. a. in sprichwörtlicher Form, vermutlich in Italien entstanden. Der strengen Beschränkung auf die Jurisprudenz entsprechen die Verweisungen auf Corpus iuris civilis nebst Glossa. Die Auswahl ist wenig sorgfältig; die einzelnen Ausgaben enthalten unterschiedliche Fehler. Die Straßburger Ausgabe (GW 10055) ist die korrekteste. Die Bemerkung «cum additionibus» (GW 10057 und 10059) weist lediglich auf die beigefügten Allegationes». 47 Opere dello elegante Poeta/Seraphino Aquilano. Sonetti Egloghe Epistole Capitoli Stra[m] botti Barzellete, Venedig, Giorgio de Ruscon, 1510. 48 Opera dello elegantissimo poeta Serafino Aquilano, quasi tutta di nuovo riformata con molte cose aggionte, Venedig, Bartolomeo & Francesco Imperatore, 1544. 49 Malinverni (1991, 140), dem die beiden Ausgaben von 1501 und diejenige von 1506 nicht zugänglich waren, geht lediglich von zwei Überlieferungstraditionen (A 1–46 46a-f 47 47a-c

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A1: Stramboti del clarissimo professore de le bone arte miser Sasso Modoneso, Roma, Johann Besicken & Martin von Amsterdam, 8. März 1501. A2: Strambotti del clarissimo professore de le bone arte miser Sasso, modoneso, Milano, Leonardo Pachel, 23 April 1501. A3: Stramboti del clarissimo professore de le bone arte mister Sasso Modoneso, Milano: Giovanni Maria Ferrari, 1506. *A4: Strambotti del clarissimo professore de le bone arte miser Sasso, modoneso, Milano, Giovanni Angelo Scinzenzeler, 1511. B1: Strambotti del clarissimo poeta mister Pamphilo Saxa Modonese, s.n.t. [Brescia?, Misinta?, ca. 1500]. B2: Strambotti del clarissimo poeta miser Pamphilo Saxa modonese, s.n.t. [Venezia, Rinaldo De Novimagio, Anfang 16. Jh.]. B3: Strambotti et Desperata del clarissimo poeta mister Pamphilo Saxo, s.n.t. [Firenze, Anfang 16. Jh.]. C1: Strambotti del clarissimo poeta misser Pamphilo Sasso modonese, s.l., 1522. C2: Strambotti del clarissimo poeta miser Panphilo Sasso modenese, Venezia, Matteo Pagano in Frezzaria, s.a.50

48–76 1-3 77 78 und B 1–46 47 48–76 77 78 1–3) aus und veranschlagt die Gesamtzahl der strambotti Sassos irrtümlich auf 87; ebenso noch in Malinverni (2004, 363). Cf. zur komplexen Publikationsgeschichte Gernert (2009, vol. 1, 133–136). Während die Ausgaben Rom 1501 (A1/ST2), Mailand 1501 (A2) und Mailand 1506 (A3/ST3) noch 111 strambotti und drei Sonette enthalten, fehlt in einer zweiten Gruppe von Editionen eine Serie von 24 aufeinanderfolgenden strambotti (Nº 71–94): es handelt sich um drei Ausgaben ohne typographische Angaben: B1, B2 und B3. Der Wegfall erklärt sich wohl dadurch, dass in B1 eine Doppelseite, die genau 24 Kompositionen enthält, einfach vergessen wurde. Für die Entwicklung des Stemmas der Strambotti-Editionen erlaubt diese Beobachtung, B2 bzw. ST8 als direkt von B1 bzw. ST1 abhängig einzuordnen; denn, nachdem das Blatt vergessen wurde, hat man in B2 einen Holzschnitt auf der Titelseite hinzugefügt, durch den die mise en page um jeweils zwei strambotti pro Seite gegenüber B1 verschoben worden ist. In einer dritten Gruppe von Editionen, C1 bzw. St5 und C2 bzw. St6, werden neben den 24 genannten weitere 9 strambotti weggelassen (Nº 47–52 und 54–56). Bei dieser Serie handelt es sich um erotische contrafacta der Christuspassion, die – wie auch Malinverni (1991, 147–148) vermutet – wohl aufgrund der veränderten Rezeptionsbedingungen für diese Art von Literatur im frühen 16. Jahrhundert einer präventiven Zensur seitens der Herausgeber zum Opfer gefallen sind. 50 Bei dieser Aufstellung konnten drei in bibliographischen Werken besprochene Editionen nicht berücksichtigt werden, die auch Malinverni (1991, 123–165), dessen Siglen hier verwendet werden, nicht zugänglich waren und die ebenso wenig von den einschlägigen Bibliographen lokalisiert worden sind: von ST4: Strambotti del clarissimo professore de le bone arte miser Sasso, modoneso, Milano: J. A. Scinzenzeler, 1511 (BN Paris: RES-YD-741) kann die französische Nationalbibliothek aus konservatorischen Gründen, wegen der «reliure trop fragile», keine Reproduktion zur Verfügung stellen. Bislang konnte kein Exemplar von St7: Strambotti, s.n.t. [Venezia, s. XVI], lokalisiert werden; cf. den Indice generale degli incunaboli (1943–1981, 34, Nº 8671bis) und Sander (1942, 1169, Nº 6749). Ein Exemplar von St9: Strambotti del clarissimo poeta misser Pamphilo Saxo modenese, s.n.t. soll sich im Metropolitan Museum in New York befinden; cf. Sander (1942, 1169, Nº 6748bis); Digitalisationsanfragen blieben jedoch unbeantwortet.

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In allen Editionen wird zur Charakterisierung des Dichters das Adjektiv claro verwendet, wobei der Wegfall der superlativischen Vorsilbe -pre- möglicherweise einer geringeren Wertschätzung der metrischen Form des strambotto geschuldet ist. Auffällig ist überdies, dass die Autorisierung des Dichters als diejenige eines akademischen Lehrers nicht mehr mittels eines Holzstichs, sondern in versprachlichter Form erfolgt. In den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts kehrte Panfilo Sasso in das heimatliche Modena zurück,51 wo er eine Schule eröffnete.52 Dieser Umstand erklärt, warum der Autor nunmehr nicht mehr als «poeta», sondern als «professore de le bone arti» figuriert. Eine optische Aufwertung des Textbeginns durch Illustrationen53 erfolgt auf unterschiedliche Weise. Die erste Gruppe der strambotti-Editionen verwendet zwei unterschiedliche Holzstiche: Der römische Druck (8.3.1501) zeigt recht konventionell und ohne spezifisch intermedialen Bezug zum Text ein Liebespaar in einem Garten: Anders als im Text wendet sich die Dame dem Liebenden zu, scheint sogar sein Gesicht zu liebkosen – ein Liebesbeweis, den die im Text apostrophierte belle dame sans merci nicht zu geben bereit ist. Der nur einen Monat später in Mailand erschienene Druck zeigt wie einige weitere Editionen54 einen leeren Sarkophag, dessen Grabdeckel beiseite geschoben worden ist, mit der Aufschrift «Surrexit il dio d’amore». Den Liebesgott mit Bogen, Köcher und mit einer seine Blindheit andeutenden Augenbinde sieht der Betrachter in Richtung des oberen Bildrandes entschwinden. Auf der rechten Seite des Grabes, das durch die angedeuteten architektonischen Elemente eindeutig in einem Innenraum – wahrscheinlich in demjenigen einer Kirche – situiert ist, stehen zwei junge männliche Figuren, die durch ihre Gewandung als Kleriker zu identifizieren sind. Der auffällige Gestus des linken Mannes weist auf das leere Grab,

51 Cf. Tiraboschi (1784, vol. 5, 26) und Renda (1911, 7). 52 Zur Lehrtätigkeit Sassos in Modena siehe Tiraboschi (1784, vol. 5, 26); Renda (1911, 7) und Dalmas (2005, 159). 53 Cf. Wagner (2010, 142): «Auf der Titelseite erscheinen seit der Mitte der 1480er Jahre nun Holzschnitte, die vielfach die einzige Illustration des Buches darstellen [. . .]». 54 Cf. A2, A3 und B2; die übrigen Editionen nehmen keinen Bezug auf die Grabesszene: In der römischen Ausgabe von 1501 (A1) zeigt der Holzschnitt der Titelseite ein Paar in einem Garten; in B3 sieht man den gefesselten Liebenden mit Minerva und Amor, cf. hierzu Sander (1942, 1170): «Minerve menace de sa lance un jeune homme lié à un arbre; au-dessus vole un petit Amour». Zu der von Essling (1907–1914, vol. 2.2, 388, Nº 2059) reproduzierten Illustration von C1 siehe auch Sander (1942, 1170, Nº 6752): «Au-dessous du titre, bois entouré de quatre listeaux, 103 * 119 mm.: Orphée charmant les animaux». Die Illustration von C2 zeigt einen Ritter mit einem Musiker vor dem Fenster einer Dame, cf. auch Sander (1942, 1170, Nº 6753): «Audessous du titre, bois: deux personnages donnant une aubade à une femme». B1 hingegen verzichtet auf eine Illustration der Titelseite.

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wodurch andeutungsweise dramatisches Geschehen im Bild inszeniert wird. Auf der linken Seite des Grabes stehen drei Musiker in höfischer Tracht, der Linke spielt Laute, der Rechte Flöte, während der Mittlere ein Tamburin in den Händen hält. Diese Personengruppe verweist durch ihre Kleidung und die dargestellten Musikinstrumente auf einen höfischen Kontext und illustriert die «soni e canti» des dritten Verses. Die Gedichtsammlung beginnt hier also mit eindeutigen intertextuellen und ikonographischen Verweisen auf die Auferstehung Christi und schreibt sich so von Beginn an in einen kerygmatischen Kontext ein: Che andati vui cercando, o lieti amanti, Surrexit non est hic il dio d’amore. Partitivi con vostri soni e canti Non se confanno con el nostro dolore, Non s’usa qua se non lamenti e pianti, Qua non è alcuno ch’abbia allegro il cuore, Qua non se veste se non nigri manti, Ogniun qua se despera, ogniun qua more.55

Die bildliche Darstellung des leeren Grabes auf dem Holzschnitt stimmt den Erwartungshorizont des zeitgenössischen Betrachters auf den österlichen Kontext ein und bereitet die Substitution Christi durch Cupido vor, die dann durch den Text eingelöst wird. Der erste Vers, «Che andati vui cercando, o lieti amanti», wird so lesbar als Transposition der Frage «Quem quaeritis in sepulchro, Christicolae?»56 aus der Visitatio Sepulchri in einen erotischen Kontext. Während das Fragepronomen «quem» und das Verb «quaeritis» wörtlich ins Italienische übersetzt worden sind, wird die Ortsangabe «in sepulchro» nicht textuell, sondern ikonographisch umgesetzt. Die Angesprochenen, also die drei Marien des sakralen Referenzmodells, werden durch die «lieti amanti» ersetzt, die die frohe Botschaft von der Auferstehung vernehmen – im contrafactum ist der Auferstandene der Liebesgott, auf den nicht nur sprachlich, sondern auch bildlich Bezug genommen wird. Im dritten Vers des strambotto fordert das Subjekt der poetischen Rede57 – gleich dem Engel der Visitatio Sepulchri – die glücklich Liebenden 55 Derzeit bereite ich eine kritische Edition der strambotti des Modenesen vor, aus der die zitierten Gedichte stammen. Nur im Falle der religiösen contrafacta sind diese bereits in Gernert (2009, vol. 2) zugänglich, das Proömialsonett auf den Seiten 51–52. 56 Sankt Gallener Tropus (Stiftsbibliothek MS 484), zitiert nach Young (1933, vol. 1, 201). 57 Der Begriff des ‚lyrischen Ich‘ wird hier bewusst vermieden – cf. zu seiner Unzulänglichkeit zur Analyse der Lyrik Luigi Grotos Huss (2014, 426), der feststellt: «Real referenzierbare und literarisch-topische (‚erfundene‘) Elemente werden nach Gutdünken des Autors miteinander kombiniert. Die sich daraus ergebende textuelle Sprecher- und Autorinstanz ist mit dem Be-

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auf, sich auf den Weg zu machen: «Partitivi con vostri soni e canti». Doch sollen sie nicht mehr wie im sakralen Modell die frohe Botschaft der Auferstehung verkünden («Ite, nuntiate quia surrexit de sepulchro»), sondern sie sollen sich mit ihrer österlichen Freude von einem locus terribilis entfernen, der im Folgenden als Gegenbild und Aufenthaltsort der sodalitas der unglücklich Liebenden entworfen wird. Diese Kontrastierung der österlichen Auferstehungsfreude mit den Leiden eines unglücklich Liebenden erfolgt mittels eines für den Buchdruck typischen intermedialen Zusammenspiels von Bild und Text.58 Die Gestaltung des Frontispiz mit incipit-Formel59 in unmittelbarer Nähe zum Textbeginn autorisiert den Sprecher des einleitenden strambotto als «professore de le bone arti», der die Verwendung einer komplexen rhetorischen Gestaltung mittels der barbarolexis60 von Berufswegen beherrscht und den liturgischen versus cum auctoritate61 durch den Sprachkontrast aus dem vulgärsprachlichen Kontext hervorhebt. In den strambotti Panfilo Sassos, die nach dem Vorbild von Petrarcas Canzoniere als amoureuse Autobiographie angeordnet sind,62 erfolgt also

griff des ‚lyrischen Ich‘ nur ungenügend beschrieben; vielmehr ergibt sich die Konstruktion eines auktorialen Selbst, das eine teilweise Überschneidung mit Lebensmerkmalen des realen Autors aufweist». Cf. zur Diskussion der Problematik in der germanistischen Forschung Schönert (1999, 289–294) und Martínez (2002, 376–389). 58 Cf. zu einer Definition von Intermedialität Rajewsky (2002, 15): «Die Qualität des Intermedialen betrifft im Falle der Medienkombination die Konstellation des medialen Produkts, d.h. die Kombination bzw. das Resultat der Kombination mindestens zweier, konventionell als distinktiv wahrgenommener Medien, die in ihrer Materialität präsent sind und jeweils auf eigene, medienspezifische Weise zur (Bedeutungs-)Konstitution des Gesamtproduktes beitragen». 59 Cf. zu der handschriftliche mise-en-page-Traditionen fortschreibenden incipit-Formel Wagner (2010, 141): «Wie in Handschriften werden in Inkunabeln Texte nur durch eine incipitFormel angekündigt, die unmittelbar vor dem Textbeginn, also auf der gleichen Seite wie dieser, platziert ist». 60 Cf. die Definition der barbarolexis von Consentius Gramaticus: «barbaros . . . lexis . . . inteligitur, cum ex aliena lingua in nostrum usum pars aliqua orationis inducitur, ut dicimus , cateias‘ utique Gallorum hastas, ,mastrucam‘ vestimentum Sardorum, ,magalia‘ Afrorum casas, ,acinaces‘ gladios Medorum» (Consentius Consentii Ars de barbarismis et metaplasmas, 1937, Ars 2, 3–5); cf. hierzu Lausberg (1960, §476–478) und zur stilistischen Bedeutung fremdsprachlicher Elemente Elwert (1960, 409–437) und Gernert (2012, 327–226). 61 Cf. Zumthor (1963, 94 und 102): «Cependant, à un certain point de son développement, la technique de la barbarolexie en avait rencontré et absorbé une autre, typiquement scolaire: celles de ce qu’on appelle, relativement à certains poèmes latins, les versus cum autoritate». 62 Diese Kohärenz der gedruckten Sammlungen entfällt bei der handschriftlichen Tradition, cf. z.B. zu den strambotti Sassos in einer Sammelhandschrift des Seminario vescovile in Padua Gernert (2014, 213–238). Diese kohärente Strukturierung wird der Sammlung von Malinverni (1991, 140) abgesprochen: «Non era lecito attendersi, da questo tipo di letteratura, un’organizzazione testuale coerente, da canzoniere: ma è d’altro canto impossibile, in questo caso, non rilevare almeno

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ganz offensichtlich eine Autorisierung der figura des Autors im Schmerz auf eine ganz besondere Weise: Die oftmals im Spannungsfeld von Todesangst und Todessehnsucht operierenden Texte greifen mit der Kombination des Totenoffiziums mit passionalen Texten auf eine im mittelalterlichen Ritual präfigurierte Kombination zurück. Sowohl Wilhelm Durand63 als auch Johannes Beleth64 schrieben bei der Totenvigil eines gebildeten Mannes, für den sich Panfilo Sasso durchaus halten durfte, die Lektüre von Texten aus der Passion Christi vor. In einer Reihe von Passions-contrafacta setzt der Sprecher durch die Verwendung sakralen Textmaterials im lateinischen Original sein Liebesleid dem Kreuzestod Christi analog. In Strambotto 47 legt er sich beispielsweise die emblematische Bitte um Verschonung, die Christus im Garten Gethsemane an Gott den Vater richtet («Pater mi, si possibile est, transeat a me calix iste», Matthäus 26, 39), in den Mund: Pater, se gli è possibile che possa Transeat a me questo amar veneno. Non vede tu la pel che copre l’ossa? Non vede tu ch’io son d’angoscia pieno? Sia tanta pena ormai da mi remossa Ch’el grave peso fa l’om venir meno, Si como all’omo è proprio lo peccare; A ti, signora, è proprio il perdonare.65

Die in der umfänglichen Werkausgabe zusammengefassten Sonette, capitoli und Eklogen kreisen ebenfalls um das Thema des Liebesschmerzes. Was die Struktur der Sammlung anbetrifft, so handelt es sich – wie Massimo Malinverni feststellt – um einen «canzoniere certo privo del legame continuo e unitario ga-

un accenno di strutturazione o (meglio) di seriazione, certo parziale, quasi appena suggerito, ma pur sempre avvertibile e per così dire emergente dall’ossessiva nota di fondo di una disperazione strenuamente variata ed immutabile. Seriazione, si è detto, parziale, sia nel senso della non omogeneità di distribuzione (è infatti più chiaramente avvertibile ad inizio di raccolta, per poi, dopo una trentina di testi e pur con diverse eccezioni, quasi sfilacciarsi in un’iterazione inorganica di motivi già enunciati), sia nel senso di una forte segmentazione in microsequenze minime, di due o tre testi, tipicamente legate o da contiguità tematica o da analogie di processi formali». 63 Durand (1995–2000, vol. 3, Liber VII, Caput XXXV, 35, 97): «[. . .] Et si moriens literatus sit, debet legi passio Domini uel saltem pars illius ante eum ut sic ad maiorem compunctionem moueatur; et debet esse crux erecta ad pedes, ut moriens eam cernens magis conteratur et conuertatur»; cf. hierzu auch Rowell (1977, 65). 64 Beleth, Rationale Divinorum Officiorum, Caput CLXI (De celebratione Mortuorum officii) in PL XXII 1855, 162–163: «Debet praeterea recitari passio Domini, vel ejus pars aliqua ante morientem si sit literatur es doctus, ut moveatur ad majorem compunctionem». 65 Sasso, Strambotto 47 in Gernert (2009, vol. 2, 53).

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rantito da un’unica ‚storia‘, ma non di quello di più ‚storie‘ minori, caratterizzato da sequenze di varia estensione, ma chiaramente omogenee e segnate da precise connessioni intertestuali» (1996, XXXI). Dieser polyzentrische Aufbau der Sammlung begünstige eine eklektische Imitationspraxis:66 Neben Petrarca als dominantem Modellautor67 orientiert der Humanist aus Modena seine Schreibpraxis auch an Dante und Cavalcanti sowie an einer ganzen Reihe antiker, spätantiker und mittelalterlicher Autoren wie Malinverni (1996, XIL) gezeigt hat – es sind diese Horaz, Ovid, Vergil, Properz, Valerius Maximus, Livius, Tibull, Lukan, Isidor von Sevilla und Boetius. Sassos Dichtung ist somit indikativ für die in der aktuellen Frühneuzeitforschung festgestellte Pluralisierung von Autoritäten.68 Das Proömialsonett verortet den eingangs behandelten dichterischen Ruhm im Zeichen Amors: Se quel che segue la virtude è degno de fama, gloria, triumpho et honore, e de quella ha il guberno el sceptro amore chi segue lui s’accosta al giusto segno. S’è sopra i celi, ove ha el sò primo regno, se pasce de l’eterno e vivo ardore; in ciel de luce; in terra de valore e gentileccia, che è ‘l sò primo pegno. Chi el sò foc e ‘l sò laccio ama et apprezza, orna el sò corpo, ben che sia mortale,

66 Cf. zur Problematik dieser Form der imitatio Robert (2007, 88): «Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus dem ekklektischen Credo, nicht ein Einzelautor, sondern ‚alle Guten‘ seien nachzuahmen. Dies setzt Auswahl, Krisis und Kanon immer schon voraus, fordert Qualitätskriterium und Urteilsinstanz, die Pico jedoch ebenso schuldig bleibt wie Bembo. So ist bis zum Ende unklar, wonach sich jene omnes boni bzw. jener alleinige optimus bestimmt, woraus sie ihre auctoritas beziehen und warum diese überhaupt das eigene Schreiben fundieren kann und soll». Zur «Qualität als Autoritätskriterium im Frühhumanismus» cf. Vollmann/Cizmic (2003, 105–118). 67 Cf. zur Petrarca-Rezeption im 15. Jahrhundert Dionisotti (1974); zur Autorisierung und Kanonisierung Petrarcas siehe Neumann (2003, 159–174); Huss/Neumann/Regn (2004); Regn (2004, 7–24) sowie Mehltretter (2009). 68 Cf. zur «Reetablierung der antiken Autoren als zentralen normbildenden Autoritäten für das Sag- und Denkbare überhaupt» Hempfer (1993, 39): «Wenn die antiken Autoren jedoch zugleich Autoritäten waren, musste eine Pluralisierung der Autoren zu einer Pluralisierung der Autoritäten führen»; sowie das Kapitel «Das Schweigen der Veritas. Zur Kontingenz von Pluralisierungsprozessen in der Frührenaissance (Überlegungen zum Secretum)» in Küpper (2002, 1–53) und den von Müller/Oesterreicher/Vollhardt 2010 herausgegebenen Sammelband, insbesondere den Beitrag von Mehltretter («Questione della lingua, questione dello stile. Zur Diachronie von Pluralisierung und Autorität in der frühneuzeitlichen Sprach- und Dichtungsreflexion», 31–52).

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d’ardor, luce, valore e gentilezza: onde pentir non me voglio se, l’ale con lui battendo, amai nova bellezza: ché pentirse del ben peggio è che male.69

In bewusster Abgrenzung zum ersten Sonett in Petrarcas Canzoniere wird jegliches Bereuen der Liebe verweigert.70 Diese fast programmatische Deautorisierung von Petrarca am Textbeginn kontrastiert mit einer ebenso bewussten und markierten Imitation der Rerum vulgarium fragmenta im Gesamtwerk Sassos. Allerdings wird Petrarca zu einem Modellautor unter vielen, der in ein Konkurrenzverhältnis71 auch zu zeitgenössischen Autoren gesetzt wird, die nicht mehr durch das Prinzip der imitatio veterum beglaubigt sind. Eklatant ist vor diesem Hintergrund die Autorisierung von Serafino Aquilano im Sonetto 257: Apri li brazzi o nympha, al Saraphino, che vien cantando avolto in raggio d’oro per menarti nel summo sacro choro in el consortio angelico e divino. Sta reverente a lui col capo chino che presto gustarai de quel thesoro chi non in terra è di frondente aloro vincerai cinta el suo fatal destino. Tu cominci a mutar la faza in foco ch’io me ne acorgo e hai già messe l’ale trasformandosi tutta a poco a poco. Ma quando tu serai fatta immortale, ricordati di me, che in basso loco lassarai pien di tanti affanni e male.72

Diese ludische Instaurierung Serafinos als engelhafter poeta laureatus zeigt auch, dass sich Sasso als Teil einer Gruppe höfischer Dichter inszeniert. Im volkssprachlichen Werk Sassos sind auch weitere Sodalisierungstendenzen feststellbar: Im Sonett 101 («Cinse Amphion cum la sua dolce lyra») zeigt sich

69 Sasso (1996, 5). 70 Cf. auch den Kommentar von Malinverni (1996, 5, Anm. zu vv. 12–14): «Notevole, in posizione proemiale, la programmatica affermazione di non-pentimento, in speculare opposizione all’apertura petrarchesca (I, RVF specialmente vv. 13–14: ,e ‘l pentersi, el ‘l conoscer chiaramente / che quanto piace al mondo è breve sogno‘)». 71 Cf. zum agonalen Charakter frühneuzeitlicher Autorisierungen Regn (2003, 121). 72 Der Text liegt nicht in einer modernen Edition vor – ich transkribiere aus der Werkedition von 1502, in der keine Seitenangaben vorhanden sind.

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der Autor im Verein mit Amphion, Arion und Orpheus, den mythischen Sängern der Antike. In den strambotti ist der Sprecher Teil der Gemeinschaft der unglücklich Liebenden im Sinne einer religio amoris.73 Allerdings erscheint das auktoriale Selbst in seinem Schmerz als singulär und einzigartig.74 In strambotto 22 manifestiert sich der Autor selbstbewusst als Aussageinstanz – «Sono io che parlo» (v. 5) –, auch wenn es scheinen könne, dass nur das Muhen einer Kuh zu vernehmen sei: «Non pigliati errore / Se par ch’io muggia, ch’io son dolorato; / De voce umana m’ha la doglia privo» (vv. 5–7). Das Leiden hat zu einem Verlust der menschlichen Sprache geführt. Die stilistisch anspruchsvolle75 Suche des Autors nach einem hyperbolischen Ausdruck für seine Schmerzliebe zielt auf dichterischen Ruhm und die Instaurierung des eigenen Werkes als der imitatio würdigen Modells. Die frühneuzeitlichen Pluralisierungstendenzen erlauben – wie Gerhard Regn (2003, 119) gezeigt hat –, «neue Formen der Autorität», die allerdings – wie das Beispiel Panfilo Sassos unter Beweis stellt – prekär, instabil und kurzlebig sind.76

73 In strambotto 73, v. 8, ist ausdrücklich von einem «fraticel del ordine del Amore» die Rede. 74 Cf. zum gegenstrebig und gleichzeitig komplementären Charakter von Sodalisierung und Singularisierung Nelting (2011, 189): «Autoren können sich als einzigartige Individuen stilisieren oder sich als konstitutiver Teil einer Gemeinschaft in Szene setzen, wobei sich von Francesco Petrarca an beide Dispositive auktorialer Selbstdarstellung und Selbstautorisierung vielfach ergänzen und in ihrer Verbindung ein ganzheitliches und erfolgreiches Bild vom Autor als Autorität erzeugen». 75 Cf. die Bewertung des Autors als «frutto più originale della breve stagione cortigiana di fine Quattrocento» wegen der «complessità delle scelte sintattiche, stilistiche e retoriche» und des «gusto per l’arditezza metaforica ed espressiva» durch Malinverni (2002, 318), der zusammenfassend feststellt: «La facilità della vena e i toni spesso popolareggianti di molti testi non devono trarre in inganno nel giudicare la produzione del Sasso, per altro caratterizzata da un ansia inventiva di rara efficacia e dall’evidente influsso di un habitus sperimentale di stampo umanistico». 76 Regn (2003, 120): «Prozessualität bedeutet aber auch, daß Autorität in der Frühen Neuzeit nicht nur als eine herzustellende perspektiviert ist, sondern daß sie in ihrem Status auch potentielle prekär bleibt. Gerade weil stabile Ordnungen und funktionssichernde Traditionen als Referenzrahmen ausfallen und gerade weil Geltungsansprüche je neu begründet werden müssen, ist Instabilität eine durchaus typische Struktureigenschaft von frühneuzeitlichen Autorisierungen. Dies zeigt sich darin, daß neu konstituierte Autorität mitunter nur von relativ beschränkter Geltungsdauer ist [. . .] Doch dies ist nicht alles. Autorisierungen können nicht nur kurzlebig sein, sie sind nicht selten schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt [. . .]».

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Rosemary Snelling-Gőgh

Expansive Sodalität und singuläre Individualität als Autorisierungsstrategien bei Louise Labé 0 Autorität und imitatio seit der Antike Von der Antike an bis zum romantischen Bruch konstituiert sich die europäische Literatur nach den Regeln der imitatio, basierend auf einer agonalen Konzeption von Kunst, die sich in der dreischrittigen Formel imitatio, aemulatio, superatio zusammenfassen lässt. Autoren berufen sich auf antike Vorbilder, um ihre Werke zugleich zu legitimieren und ihre Vorgänger zu übertreffen. In der Antike beschränkt sich die Referenz meist auf eine einfache Nennung der Vorbilder, um an der durch Alter etablierten und gesicherten auctoritas teilzuhaben, um schließlich dadurch als des Lesens würdiger Autor eingestuft zu werden und möglicherweise den Status eines ‚Klassikers‘ zu erreichen. Ein dichterisches Selbstbewusstsein als Autor im engeren Sinne kann dabei erst in der Augusteischen Epoche ausgemacht werden. Eine erste Liste von zur Behandlung empfohlenen Autoren entstand zwar bereits in der alexandrinischen Blütezeit, als in der Bildungsinstitution des Museion von Alexandrien eine Gruppe von Gelehrten eine Art Kanon1 aufstellte, an dem sich Dichter zur Schulung der Kunstfertigkeit orientieren sollten, jedoch wurde diese Liste rückwirkend aufgestellt und war in erster Linie zur technischen

1 Der Begriff des literarischen Kanon κανών (von κάννα semitisch ,Rohr‘, ,Maßstab‘, cf. Schmidt 1987, 247) ist eine anachronistische Begriffsbildung, die auf D. Ruhnken zurückgeht, der 1768 in seiner Historia critica oratorum Graecorum durch Formulierungen wie «canon decem oratorum» (nachgedruckt in: Orationes, Dissertationes et Epistulae [. . .], vol. 1, ed. Friedemann, Friedrich T., s.l., 1823, 368, zit. in: Asper 1998, Sp. 879) den allgemeinen Sprachgebrauch im Bereich der Philologie prägt. In engem Zusammenhang steht der Begriff des Kanons bei Ruhnken mit einer vorausgesetzten Klassizität, die Autoren den Status des «classicus» zuspricht. Dieser Begriff ist erstmals in Gellius Noctes atticae XIX,8,15 bezeugt und als Metapher aus dem römischen Steuerwesen auf den qualitativ hochwertigen Dichter übertragen (cf. Asper 1998, Sp. 873). Zum Zusammenhang von Klassik und Kanon cf. Schmidt (1987, 247–258). Anmerkung: Einige der hier formulierten Beobachtungen habe ich bereits andernorts angestellt, cf. Louise Labé: sodalité expansive et individualité singulière, la formation d'une autorité poétique (féminine), Savoirs en Prisme (Revue en ligne) 3 (2014). https://doi.org/10.1515/9783110686609-009

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Schulung empfohlen.2 Auch im Zuge der lateinischen rhetorischen Ausbildung entstand durch Krates von Mallos ein solcher ‚römischer Kanon‘, dessen Grundlage im Scipionenkreis durch Panaitios‘ und Polybios‘ intensive Beschäftigung mit Terenz und Lucilius gelegt wurde. Auch dieser war vor allem an praktischer Nützlichkeit für den Schulunterricht beim grammaticus ausgerichtet und bestand aus

2 Das Bewusstsein poetischer Vorbildhaftigkeit wird erstmals nach Ende des Reiches Alexanders des Großen im ausgehenden 4. Jahrhundert v. Chr. durch eine in dieser Größenordnung neuartige Institutionalisierung von Wissenschaft und Literatur im Museion in Alexandria zum Ausdruck gebracht, welche in engem Zusammenhang mit einem Verbund von unabhängigen, auf Staatskosten lebenden Gelehrten steht, später als Alexandrinische Schule, Alexandrinische Grammatiker oder Gelehrte bezeichnet (cf. Pfeiffer 1970, 123–125). Die dort versammelten «neuen Dichter» Kallimachos von Kyrene, Erathostenes, Theokrit von Syrakus, Apollonios von Rhodos und deren Initiator Philitas von Kos (Ende 4. - Mitte 3. Jahrhundert v. Chr.), «ποιητὴς ἅμα και κριτικόσ» («Dichter ebenso wie Gelehrte»; Strabon XVI 657, zit. in Pfeiffer 1970, 116), widmen sich einem ambitionierten Studium der alten Dichter, um sich an deren τέχνη und σοφίη zu schulen: «Die neuen Schriftsteller (des 3. Jahrhunderts nach der Auflösung des alexandrinischen Reiches) hatten auf die alten Meister besonders der ionischen Dichtung zu blicken, nicht um sie nachzuahmen – was für unmöglich oder zumindest nicht für wünschenswert gehalten wurde –, sondern um sich an ihnen in einer eigenen neuen dichterischen Technik zu schulen. Ihr unvergleichlich wertvolles Erbe mußte man bewahren und studieren» (Pfeiffer 1970, 115). Eine solche Art von Bewusstsein der alten Dichtung führt in ihrem Kreis zur ersten systematischen Aufstellung eines literarischen Kanons, welcher je einen Autor für eine Gattung als tonangebend herausstellte und sowohl literarische Gattungen sowie klassische attische Redner beinhaltete. In einem Akt der κρίσις wurden bestimmte Autoren in eine Auswahlliste aufgenommen (οἱ ἐγκριθέντες; cf. Schmidt 1987, 247; Asper 1998, 873) und somit zur Behandlung empfohlen (οἱ πραττόμενοι). Die Werke der Ausgeschiedenen (οἱ ἐκκριθέντες) sind verloren (cf. Schmidt 1987, 248). Maßgeblich an dem Scheidungsakt beteiligt sind vor allem Aristophanes von Byzanz und Aristarch, wie Quintilian überliefert: «Aristarchus atque Aristophanes, poetarum iudices» («die Dichterkritiker Aristachus und Aristophanes»; Quintilianus, Inst. or. 2 vol., 1959, 10,1,54, hier 244). Dass die nunmehr kanonischen Autoren, wie die 9 Lyriker, die 3 Tragiker uvm. unantastbar in Würde und Ansehen waren, schlägt sich beispielsweise in Gattungswahl der Alexandriner nieder, die über Verfahren der Gattungskontamination, Gattungsverwandlung und über die Wahl neuer Gattungen vor allem poetischen Kleinformen (Epyllion, Elegie etc.) gewidmet werden, um nicht in den Wettstreit mit klassischer Größe zu geraten (cf. Schmidt 1987, 250–251). Das Verzeichnis dieser Philologen weist allerdings einen Unterschied zum modernen, von Hans U. Gumbrecht als normativ bezeichneten Kanon auf, wenn der Kanon der Alexandriner als abgeschlossene und geschlossene Sammlung von perfecti gilt, welche «kanonische Literatur als Vollendung» (Schmidt 1987, 146) vorstellt und welche sich erst in Rom nach den Neoterikern mit dem augusteischen Dichterselbstverständnis in Richtung einer auf Mimesis ausgerichteten Funktion des Kanons wandelt. Ein erstes Verzeichnis an Texten liegt vor, das den Autoren offiziell Autorität oder den – wenn auch noch nicht so bezeichneten – Status eines Klassikers gibt (cf. zu dieser Differenzierung der Funktionen eines Kanons und zur Berufung auf Gumbrecht als auch zu Aristoteles Theorie der teleologischen Gattungsentwicklung und -erfüllung: Schmidt 1987, 146–147).

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einem noch unsystematischen, auf mündlicher Übereinkunft beruhenden Ensemble von Schulautoren, das erst später vor allem bei Cicero und Quintilian festgeschrieben und literarisiert wird.3 «Von der rhetorisch-technischen zur poetologischen Größe»4 wird die Orientierung an Autoren im Bereich der ‚Literatur‘ im engeren Sinne erst in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. mit den Neoterikern und den Augusteischen Autoren, die sich bewusst reflektierend den griechischen Vorbildern zuwenden, diese «exempla graeca»5 frei ins Lateinische übertragen und somit eine Art erste poetische imitatio von Autoren praktizieren. Erst eine Epoche wie die Augusteische, die sich der eigenen kulturbildenden Funktion nicht nur bewusst war, sondern diese auch aktiv erschuf, setzte damit an die Stelle der rückwirkenden Etablierung von Klassikern ein präsentisches Dichterbewusstsein, das zu Lebzeiten gefördert werden sollte und erstmals auch eine prospektive Nachahmung implizierte.6

3 Cf. zur Aufstellung eines umfassenden römischen Kanons Quintilian Institutio oratoria Buch 10 insgesamt. Unter den frühen römischen Autoren nennt Quintilian vor allem den an Homer orientierten Ennius und Livius Andronicus, welcher sogar eine eigene Übersetzung der Odyssee für den Schulgebrauch anfertigte. Für den Bereich der Rhetorik stellt Cicero eine ausladende Liste an Vorbildern auf, die vor allem in Demosthenes, und im lateinischen Bereich in Hortensius und ihm selbst mündet; cf. Cicero, Brut. (1968, 315–317). 4 De Rentiis 1998, Sp. 235–303, hier Sp. 237. 5 «die griechischen Muster», Ars poet. 268 (Horaz 1985, 558). 6 Cf. Reiff (1958). Auch der Begriff des Autors als Garant für das eigene Werk taucht zum ersten Mal in dieser Zeit auf. Der auctor ist zunächst in Rom ein glaubwürdiger Zeuge, auctoritas ein Konzept, dass über Alter und Weisheit für die Angemessenheit von Gesetzen oder politischen Entscheidungen bürgt. Noch in Ciceros Apologie der lateinischen Sprache in der Literatur herrscht ein Bezeichnungsdefizit, was den ,Urheber‘ und die ,Literatur‘ angeht, so erscheinen diese als «scripta latina» De. fin. 1 (Cicero 2007, 54), als «nostra» oder «dicta», als «litterae», wobei dabei keine klare Gattungszuordnung auszumachen ist, vielmehr Gelehrsamkeit allgemein, Schriftstellerei aller Fachdisziplinen, Literatur, Poesie und Musik gemeint sein kann; die Schriftsteller erscheinen im Kontext verschiedentlich als «nostri», «ii» oder «poetae» (Beispiele finden sich zahlreiche in den Tusculanae disputationes 1 (Cicero 2005) oder De finibus 1: «mihi quidem nulli satis eruditi videntur, quibus nostra ignota sunt» mit der Übersetzung: «Was mich betrifft, so scheint mir jedenfalls niemand genug gebildet, der unsere Literatur nicht kennt» De fin. 1,5 (Cicero 2007, 58) oder «quodsi Graeci leguntur a Graecis isdem [. . .], quid est, cur nostri a nostris non legantur?» mit der Übersetzung: «Wenn aber Griechen griechische Autoren über dieselben Fragen lesen [. . .] was gibt es dann für einen Grund, daß unsere Autoren nicht von unseren Landsleuten gelesen werden sollten?» De fin. 1,6 (Cicero 2007, 58) oder «rudem enim esse omnino in nostris poëtis aut inertissimae segnitiae est aut fastidii delicatissimi»: «Denn sich bei unseren Dichtern überhaupt nicht auszukennen, das zeugt entweder von phlegmatischer Saumseligkeit oder von schnöder Überheblichkeit» De fin. 1,5 (Cicero 2007, 58). Erstmals bei Sallust wird der Geschichtsschreiber, der scriptor rerum, fast in den Rang eines auctor rerum erhoben, der Nützliches für den Staat tut, cf. Cat. 3,1 (Sallust 2013, 6).

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Horaz zum Beispiel formuliert in einem Brief an den Kaiser eine Apologie der neuen, ‚modernen‘ Dichtung und stellt das Selbstbewusstsein einer Epoche und ihrer Autoren heraus, die sich als sendungsbewusste Steigerung und glorreicher Endpunkt der Vorgänger verstehen: «venimus ad summum fortunae: pingimus atque / psallimus et luctamur Achivis doctius unctis».7 Dichtung muss sich poetisch-agonal und in einem «synthetischen Eklektizismus»8 mit früherer Literatur und früheren Autoren auseinandersetzen, aber selbstbewusst über diese verfügen, um diese für zukünftige Exemplarität fruchtbar zu machen. So spottet Horaz: «o imitatores, servoum pecus, ut mihi saepe / bilem, saepe iocum vestri movere tumustus»9 und zielt in seinem berühmten Exegi monumentu perennius auch auf zukünftigen Ruhm, der allerdings an die «politisch-kultische Garantie des Fortlebens»10 Roms gebunden ist, «usque ego postera / crescam laude recens, dum Capitolium / scandet cum tacita virgine Pontifex»11. Im Augusteischen Programm einer Restauration und Perfektionierung von Alten in Neuem kommt es in der Literatur zu einer ähnlichen Zweipoligkeit, welche die Dichter zwischen literarischer Tradition und präsentisch politischer Autorität als principes sowie zwischen privat-politischer amicitia und sigularisierender fama situiert. Autorität kann und wird demnach aus unterschiedlichen Formen von Vergemeinschaftlichung und sich davon abhebender exzentrischer Exzellenz gezogen.12 Dabei kann zum Beispiel beobachtet werden, dass die Beziehung zwischen Dichter und Werk im Verlauf der augusteischen Dichtung immer enger wird und von einer

7 Epist. 2,1,32–33 (Horaz 1985, 502) «Wir haben den Höhepunkt der Geschichte erreicht: wir singen gelehrter zur Leier und ringen besser als die vielgesalbten Achäer» (Übersetzung der Verfasserin). 8 Schmidt (1987, 254). 9 «Ach ihr Nachahmer, ihr Sklaven, ihr Herdenmenschen, wie hat euer lähmendes Gebaren oft mir die Galle, oft auch Heiterkeit erregt», Epist. 1,19,19–20 (Horaz 1985, 494–495). 10 Albrecht (1973, 66). 11 «und in der Nachwelt noch / Wächst mein Name, so lang als mit der schweigenden Jungfrau zum Kapitol wandelt der Pontifex», Carm. 3,30,7–9 (Horaz 1985, 170). Auch die Umschreibung des Todes durch den Namen der frührömischen Todesgöttin Libitina («non omnis moriar multaque pars mei / vitabit Libitinam» 3,306f., 170) macht die Bindung des Dichters an die überpersönliche Staatsreligion sichtbar. Cf. ebenso die Erwähnung des eigenen Fortlebens in Bezug auf das Carmen seculare, das zum neubelebten Brauch der Säkularfeiern entstand und als in Erinnerung dessen fortlebender Autor sich der Dichter in Carm. 4,6,41–43 erwähnt. 12 Bei allen großen Augusteischen Dichtern, bei Vergil, Horaz und den Elegikern, ist ein Bewusstsein vorhanden an der politischen Autorität des Augustus und seiner Romidee als principes bestimmter Gattungen innerhalb des kulturellen Programmes teilhaben zu können, und dies sowohl als Individuen wie als Gruppe. Die Sodalisierungen bleiben dabei nicht nur topisch literarisch, sondern zeigen auch verschiedene Strategien des singularisierenden Wunsches nach fama und loten die Möglichkeiten der alles überwölbenden Augusteischen Idee aus.

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noch bescheidenen Bezeichnung des «libellum», das «meas [. . .] nugas» enthalte (bei Catull)13, zur ernsthaften Stilisierung des Buches, «me [. . .] maiores pinnas nido extendisse loqueris»14 bis zum «augur»15 des eigenen Ruhmes wird (bei Horaz) und sich daraus schließlich ein selbstverständliches Autor- und Werkbewusstsein entwickelt (bei Ovid): «hoc satis in titulo est etenim maiora libelli / et diuturna magis sunt monimenta mihi, / quos ego confido, quamvis nocuere, daturos / nomen et auctori tempora longa suo».16 Dieses Bewusstsein ist bei den Elegikern, aber vor allem bei dem politisch wenig interessierten Ovid über die Gattungswahl der Elegie mit einer großen Innerlichkeit verbunden, welche auf der «Personalunion von Dichter und elegischem Liebhaber»17 basiert, der zum Beispiel über sein Buch auf Einlass bei der Geliebten hofft: «cum pulchrae dominae nostri placuere libelli, / quo licuit libris, non licet ire mihi; / cum bene laudavit, laudato ianua clausa est; / turpiter huc illuc ingeniosus eo».18 Im Exil erfährt die poetae persona Ovids im elegischen Klagebrief eine weitere Zuspitzung, wenn die Dichtung ihre Kraft direkt aus der autobiographischen schmerzlichen Situation der Ferne von Rom schöpft: «si tamen e vobis aliquis, tam multa dolenda tuli. / non haec ingenio, non haec componimus arte: materia est propriis ingeniosa malis».19 Es kann also unter den Augusteern eine Art von Autorbewusstsein beobachtet werden, das Modelle poetischer Selbstautorisierung entwickelt, die systematisch erst mit der nachahmungspoetischen Situation der frühen Neuzeit Wirkmacht gewinnen und von Petrarca an als Diskurstradition auktorialer Selbstbehauptung im engeren Sinne ausgemacht werden können. Es sollen im Folgenden vor allem zwei auf diese Modelle zurückgehenden Strategien untersucht werden, nämlich die, die das dem vorliegenden Band zugrundeliegende

13 Catullus 2008, Carm. 1,8–10, 6. 14 «wirst du davon sprechen, dass ich [. . .] über des Nestes Enge hinaus zu höherem Flug die Schwingen gestreckt habe», Epist. 1,20,20 (Horaz 1985, 498). 15 Epist. 1,20,9 (Horaz 1985, 498). 16 «[. . .] Dies als Grabschrift genügt, denn ein größeres Denkmal von längrer Dauer werden für mich all meine Bücher sein; diese, so glaub’ ich, werden, wieviel sie auch schadeten, ihrem Schöpfer künftigen Ruhm schenken und langen Bestand», Tristiae 3,3,77–80 (Ovid 1963, 110–111). 17 Albrecht (2012, 256). 18 Amores 3,8,5ff. (Ovid 1963, 148–149): «Obwohl meine Büchlein meiner Gebieterin recht gut gefielen, darf ich doch lange nicht dorthin, wohin meine Bücher durften. Sie hat mich hoch gepriesen, doch der Gepriesene steht vor verschlossener Tür. Schnöde muss ich auf und ab gehen mit meinem Genie». 19 «Wenn aber einer von euch mich fragt, weshalb ich so vieles Schmerzliche singe: so viel Schmerzliches hab’ ich erlebt. Dies ist nicht ausgedacht, dies ist nicht künstlich erfunden: bringt doch die Wirklichkeit selbst eigenen Leides genug», Tr. 5,1,25–28, (Ovid 1963, 180–181).

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Projekt als unabdinglich für die Autorisierung in der frühen Neuzeit herausgestellt hat: «Sodalisierung» und «Singularisierung».20

2 Die Strategien der Singularisierung und Sodalisierung Beginnend bei Francesco Petrarca, der literarischen Gründerfigur der Frühen Neuzeit,21 macht sich die italienische Renaissance das antike Modell zu eigen und entwickelt daraus eine komplexe und reflektierte imitatio-Poetik, die bis ins 18. Jahrhundert tonangebend für die europäische Literatur bleibt.22 Während imitatio im Mittelalter vor allem auf stilistische Variation konzentriert ist, welche an bestimmte Kommunikationssituationen zur Übermittlung von doctrina gebunden ist23, zielt poetische Autorität in der frühen Neuzeit vor allem auf die Inthronisierung eines Autors, der sich als eine langlebige Autorfigur über das eigene Jahrhundert hinaus etablieren will.24 Daher gewinnt der durch einen poieta25 hergestellte ,Text‘ als stilistische Konstruktion an Wichtigkeit, ja dessen rhetorische Qualität wird in Rückgriff auf die antike Rhetorik auch als moralischer Indikator für den Autor gelesen.26 Durch seinen Text will der Autor, sowohl in-

20 Zur Entwicklung dieser bei Dante beginnenden Prozesse cf. Nelting (2011a, 188–214 und 2011b, 361–376). 21 «Vivo, sed indignans, quod nos in tristia fatum / secula dilatos peioribus intulit annos. / Aut prius aut multo, decuit, post tempora nasci; / nam fuit aut fortassis erit felicius evum; / in medium sordes, in nostrum turpia tempus / confluxisse vides [. . .]», so grenzt Petrarca in einem seiner Briefe das ‚dunkle Mittelalter‘ despektierlich von der eigenen Zeit ab (Epistula metrica XXI (III, 33), in: Petrarca 1976, 180); cf. hierzu auch Mommsen (1942, 226–242); zusammenfassend cf. hierzu beispielsweise Regn (2004, 33–77). 22 Cf. Noyer-Weidner (1986, 354–364). Die letzte Diskussion um die Vorrangstellung alter oder neuer Dichtung vor dem Ende der imitatio-Poetik liegt im 17./18. Jahrhundert im Débat des Anciens et des Modernes. 23 Ein Beispiel wären die Sängerkriege im Mittelalter, cf. Noyer-Weidner (1986, 355–356); zur «variance» des Textes im Mittelalter, cf. Cerquiglini (1989); zum komplexen Verhältnis zwischen dem Autor als scriba dei und der Doktrin als zentrales Element der dogmatischen Autorität, cf. Nelting (2011a, 188–214). 24 Zur Ablösung mittelalterlicher doktrinärer Autorität cf. ibid. 25 Der Dichter der Renaissance kann im Sinne der aristotelischen poiesis als theoretischer und aktiver Produzent von Dichtung beschrieben werden, wie es Aristoteles in der Nikomachischen Ethik formuliert (cf. Nikomachische Ethik 1140a1–20). 26 Die wechselseitige Beziehung zwischen bonitas / probitas und eloquentia hat ihren Ursprung in der Formulierung Catos vom «vir bonus dicendi peritus» (Controversiae, Praefatio 9, 3; Seneca

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haltlich wie stilistisch, unumgängliche Referenz für die folgenden Generationen werden. Eine solche für den Autorstatus wichtige Selbstkonstruktion, das sogenannte «self-fashioning»27 frühneuzeitlicher Autoren, basiert auf der Verbindung von Selbstanalyse und textueller Selbstrepräsentation. Aus diesem Grund geraten vor allem literarische Techniken, die dem Erreichen von Autorität dienen und über den Text als solchen hinausweisen, vermehrt in den Blick der Forschung,28 wie die der Sodalisierung und der Singularisierung: Francesco Petrarca zum Beispiel imitiert nicht nur antike Gattungen wie den Brief, das Epos oder den Dialog und benennt Autoren der Antike, um von deren Autorität durch Anciennität zu profitieren, er erschafft darüber hinaus eine sehr persönliche und synchrone Bindung zu diesen. In seinen Briefen positioniert er sich innerhalb einer für den Humanismus wichtigen und renommierten Gruppe antiker Autoren in einer präsentischen Gemeinschaft.29 Die historische Distanz zur Erlangung von auctoritas, wird aufgehoben,30 Petrarcas Gemeinschaft ist eine ‚zeitgenössische Freundschaft‘. Die Freunde sind hier und jetzt anwesend und verschaffen ihm als Mitglieder dieser Gruppe sofortigen Ruhm. Diese Technik, sich zu einem Gruppenmitglied einer poetischen Elite zu machen, wird in der Renaissance eine geläufige Technik und findet sich, wie es dieser Band zeigen möchte, nicht nur bei den direkten Nachahmern Petrarcas, den italienischen Petrarkisten wie zum Beispiel Pietro Bembo oder den französischen Petrarkisten wie Joachim Du

1989), die Seneca und Quintilian später wiedergeben; Quintilian steigert das Diktum zum nullus orator nisi vir bonus unter der Betonung der moralischen Qualitäten der «animi virtutes», Instutio oratoria 1, Proöm. 9,4 sowie weiter 12,1,3 (Quintilianus 1959, 367); auch Cicero spricht von einer Verbindung von sapeintia und eloquentia: «sapientiam sine eloquentia parum prodesse civitatibus, eloquentiam vero sine sapientia nimium obesse plerumque, prodesse numquam», De inventione 1,1 (Cicero 1998, 8) und akzentuiert vor allem die ethische Ausrichtung des Menschen, dessen Sprechen und Handeln aufeinander bezogen sind, dieser ist «recte faciendi et bene dicendi», De or. 3,57 (Cicero 2006, 480); cf. auch Petersmann (1997, 322); Nelting (2011a, 194–195). 27 Der Begriff wurde von Greenblatt geprägt; cf. Greenblatt (1980); cf. zur frühneuzeitlichen Selbstautorisierung Kablitz (1999, 127–157), sowie grundlegend Regn (2003, 119–122). 28 Cf. zum Beispiel den SFB 573 zur Autorschaft, in dem folgender Band erschien: Regn, Gerhard: Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität, hg. von Wulf Oesterreicher, Gerhard Regn und Winfried Schulze, Münster, LIT, 2003. 29 So vor allem in den Epistolae familiares, wo Petrarca «Ciceroni suo» (Familiares XXIV,4; Petrarca 1999, 62) als einen persönlichen Freund anspricht; cf. dazu genauer Nelting (2014, 9–11), der auch auf Parallelen in der Vergemeinschaftlichung zu Ovids Tristien hinweist. 30 Zum Status als vormodernem Individuum und zur Selbstrepräsentation Petrarcas über die Anverwandlung und Aneignung antiken Wissens in die eigene Gegenwart, cf. Regn (2007–2008, 813–828).

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Bellay oder Pierre de Ronsard,31 sondern auch innerhalb anderer Gattungen wie der Geschichtsschreibung bei Jean Froissart oder in der Editionsphilologie eines François Rabelais.32 Es ist der italienische Kardinal Bembo, der in seinem Werk Prose della volgar lingua Petrarca als ideales Ausdrucksdispositiv der höfischen Gemeinschaft entwirft und ihn so zur Vorbildfigur innerhalb der literarischen Gruppe der Petrarkisten stilisiert. Im Gegensatz zum Konzept der Autorität durch Anciennität hält er für das Erlangen der Autorität die rhetorische Kategorie des aptum für unumgänglich und diese gründe sich, so Bembo, vor allem auf den kulturell zeitgenössischen Sprachgebrauch, der sich idealerweise am optimus Petrarca auszurichten und zu messen habe. Durch Bembos Argumentation konnte Petrarcas dichterische Sprache auch zum performativen Ideal des Hofes werden, da sein mittlerer Stil die ethischen und sozialen Normen des idealen Cortegiano, namentlich dolcezza und leggiadria, implizierte und transportierte. Und auf Grund dieser Ausrichtung der auctoritas am aktuellen aptum wird es für den Dichter wichtig, sich in die zeitgenössische Gemeinschaft einzuschreiben, um sich auf deren Basis in seiner stilistischen Exzellenz zu positionieren und bereits zu Lebzeiten zu einem Modell der Imitation zu werden, das stilistisch und moralisch unumgänglich ist. Das heißt also, dass der Autor der Renaissance innerhalb des textlich erschaffenen, aber auch über den Text hinausgehenden Kollektivs dann wieder auf die singuläre Qualität seines Werkes und die seiner Person setzen muss, die er über autobiographische Motive inszeniert. Die starke Akzentuierung der vom Autor selbst inkarnierten rhetorischen Exzellenz, die Singularisierung als Basis der eigenen Autorität, stellt den Konterpart der Sodalisierung dar. Beide Strategien werden im Folgenden im Œuvre der Louise Labé untersucht.

31 Zu diesen Autorisierungsstrategien bei Bembo und Du Bellay cf. Nelting (2011a, 188–214). 32 Cf. hierzu die entsprechenden Beiträge dieses Bandes; beide weisen auf die Wichtigkeit der «sozialen Autorisierung» (Schwarze, S. 158) bei den behandelten Autoren und Werken hin, die jeweils auch mit dem materiellen Wert des Buches innerhalb der höfischen Kultur verbunden sind. Froissart, bei dem der Geschichtsschreiber zum zukunftssichernden acteur der Nahgeschichte wird, versucht durch die «zeremonielle Überreichung reich illuminierter Folio-Bände» (Schwarze, S. 157) die singuläre Autorität sozial zu flankieren, wobei der Besitz des Buches dazu beitragen soll, die Autorität durch die Mächtigen zu sichern; Rabelais strebt durch seine Editionstätigkeit und unter Nutzung des Buchdruckes danach Teil einer «res puclica literaria» (Schneider, S. 203) zu werden, zu der sowohl Gelehrte als auch Mäzene und Drucker selbst gehören.

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3 Das poetische Programm der Louise Labé Lyonnaise Die Dame lyonnaise Louise Labé schreibt sich durch den Gebrauch dieser Dispositive auctoritas als dezidiert nachmittelalterliche Dichterin zu und distanziert sich von einer noch unsicheren Autorität etwa einer Marie de France, aber auch einer ‚feministischen‘ Autorin wie Christine de Pizan.33 Als erste Vertreterin einer bestimmten diskursiven Tradition in Frankreich, der des weiblichen Petrarkismus, ist ihr Œuvre von jeher beliebter Gegenstand der Genderforschung.34 Es muss freilich hier zunächst festgehalten werden, dass Sodalisierung und Singularisierung insgesamt ohne genderspezifische Markierung sowohl bei den weiblichen wie bei den männlichen Petrarkisten als Autorisierungsstrategien zu beobachten sind und im Folgenden der Fokus daher auch nicht auf genderspezifischen Ausprägungen liegt. Innerhalb der Strategien der Sodalisierung und Singularisierung treten selbstverständlich weiblich petrarkistische Akzentuierungen auf, jedoch sind die expressiven Mittel des Petrarkismus nach Braden «comparatively ungendered, in potential if not in practice [and] readily useful [. . .] for female self-fashioning».35 Der Petrarkismus im Allgemeinen bietet also ein Stilrepertoire zum Ausdruck des Ruhmes der Dichter und Dichterinnen, das geschlechtsunspezifisch angewendet werden kann; «in practice» können die typischen Dispositive des Petrarkismus an eine spezifisch weibliche Semantik angeglichen werden. Auch wenn Louise Labé einige charakteristische Züge des weiblichen Petrarkismus aufweist – die von den italienischen Petrarkistinnen Gaspara Stampa oder Tullia D’Aragona entwickelt wurden36 – wie zum Beispiel eine Betonung

33 Trotz ihrer Rolle als ‚vormoderner Feministin‘ bleiben die Tendenzen frühmoderner Autorisierung bei Christine de Pizan begleitet von Strukturen mittelalterlicher Autorisierung. Dazu gehören der Gebrauch allegorischer Interpretation, exempla etc. (cf. hierzu etwa den «recourse to theology» im Vorwort des Livre de la Cité des Dames, Brown-Grant 1999, 144). Ihr primäres Ziel bleibt die Ausformulierung einer ethischen Doktrin, die sich auf epistemische Gedankenstrukturen des Mittelalters beruft: «Christine saw her role as author principally that of a teacher or advisor whose task was to provide her readers with much needed lessons in ethics and morality» (ibid., 3). 34 Die Genderforschung hat sich unter den weiblichen Petrarkisten vor allem auf Louise Labé konzentriert, cf. zum weiblichen Petrarkismus im Allgemeinen Schneider (2007); zu genderspezifischen Untersuchungen zu Louise Labé cf. Mathieu-Castellani (1990, 189–206); Viennot (2005, 19–35); kürzlich Henningfeld (2012, 17–30). 35 Braden (1996, 129). 36 Es werden hier nur einige genannt, die im Laufe des Artikels präzisiert werden: massive Präsenz der Topoi der Bescheidenheit, Veröffentlichung von panegyrischen Texten in den Appendizes der Werke, Akzentuierung der Emotionen und der Allegorie der flamme d’amour,

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des Topos der Bescheidenheit, so wird doch von Beginn an klar, dass für Louise Labé kein Zweifel mehr an der schriftstellerischen Tätigkeit der Frauen besteht: «Estant le temps venu» so beginnt mit einem resoluten und konstatierenden Auftakt der Widmungsbrief. Labé spricht am Ende des Briefes zwar noch von der bescheidenen Absicht ihres Schreibens «je n’y cherchois autre chose qu’un honneste passetemps [. . .]» (43)37, welches auch nie zu einer Publikation führen sollte, jedoch geschieht dies schließlich nur, um von einer Gruppe von Freunden schließlich doch zur Veröffentlichung gebracht zu werden und so dem bien public nachzukommen: «Elle voit son action en termes communautaires», so Rigolot.38 Der folgende Artikel will daher zeigen, wie Louise Labé sich selbstbewusst in eine unter spezifischen Qualitäten geeinte und auf unterschiedlichen Komplexitätsstufen modellierte Gemeinschaft einschreibt, um sich dieser letztendlich singularisierend, als durch eine besondere Innerlichkeit hervortretende und ruhmgekrönte Autoritätsfigur voranzustellen. Louise Labé39, bekannt als die Belle Cordière, Dame von Kultur und Intelligenz, Gründerin eines bekannten literarischen Salons, in dem die zukünftigen Mitglieder der Pléiade und der École lyonnaise (Antoine de Baïf, Maurice Svève, Pontus de Tyard) ein- und ausgingen, war solchermaßen in die literarische und kulturelle Gesellschaft im Lyon des 16. Jahrhunderts integriert. Als Tochter und Ehefrau wohlhabender Persönlichkeiten aus dem Seilergewerbe hatte Louise Labé Zugang zur intellektuellen Elite der Stadt, die damals die sozialen Werte der italienischen Hofkultur und die italienische, lateinische und griechische Literatur vereinte, um so der französischen Kultur den Weg zur Renaissance zu weisen. Lyon, die Florence française der Epoche, ist nicht nur ein wirtschaftliches Zentrum durch den Industriezweig der Seidenfabrikation, sondern auch ein frühes Zentrum der Buchdruckerei. Berühmte Drucker wie Sébastian Gryphius, Étienne Dolet oder Jean de Tournes machen aus Lyon um 1540 die französische Hauptstadt des Buchdruckes.40 1555 erscheint das Werk der Louise Labé bei Jean de Tournes.41

gegenseitige Liebe, das Motiv der verlassenen Dame, die Konzeptualisierung des männlichen Geliebten als Repräsentantem seiner sozialen Rolle und die Tendenz zum Rückgriff auf die Elegie. Cf. hierzu im Detail Schneider (2007). Die Editionen verschiedener italienischer weiblicher Autorinnen waren Louise Labé in Lyon zugänglich, cf. Rigolot (1997, 10, Anm. 3). 37 Hier und hinfort wird die Edition des Œuvres complètes, besorgt von François Rigolot zitiert: Labé (1986). 38 Rigolot (1967, 9) zeigt, wie sich Labés Bescheidenheitstopik stark auch von der Marguerite de Navarres unterscheidet. 39 Zur Biographie von Louise Labé im Detail cf. Lazard (2004). 40 Cf. genauer Rigolot (1997, 14); Lazard (2004, 11–12). 41 Ebenfalls 1555 erschienen sind die Werke Jacques Peletiers und Pontus de Tyards, cf. hierzu Rigolot (1997, 14). Labés Werk ist ein zweites Mal 1556 erschienen «Revues et corrigées par

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Das Ensemble des Werkes umfasst ein «Privilège du Roi», einen Widmungsbrief, einen Dialog mit dem Titel «Débat d’Amour et de Folie», drei Elegien und 24 Sonette, die durch eine Sphragis abgeschlossen werden; dem folgt ein Appendix von «Escriz de divers poètes à la louenge de Louize Labé Loinnoize», der in der editio princeps anonym abgedruckt erscheint. Bereits der Rahmen, der auf die der Labé zugetragenen Ehren verweist, legt es nahe, der gesamten Komposition und dem Ensemble der verschiedenen Gattungen eine autorgesteuerte Kohärenz zu unterstellen.42 Auf der Ebene der Makrostruktur fällt Labés «volonté architecturale»43 auf, die auf die Dichterin als empirische Ordnerin verweist. Über die Gattungswahl positioniert sie sich außerdem in einem spezifisch zeitgenössischen kulturellen Milieu.44 Vor allem die Alliteration des Namens Louise Labé45, erweitert und betont durch den epithetischen Gebrauch des Adjektivs «lionnoize», welches sich als geographischer Hinweis an verschiedenen wichtigen Orten des Werkes findet und in redundanter Weise das Werk schmückt, fällt ins Auge. Als erstes zu beobachten ist dieses wiederkehrende Epitheton im Titel der Sammlung und dort gedoppelt und graphisch hervorgehoben «EVVRES DE LOUÏZE LABÉ LIONNOIZE: A LION PAR IAN DE TOURNES. M. D. LV. Avec Priuilege du Roy», dann in der Anrede des Widmungsbriefes «A Mademoiselle Clémence de Bourges Lyonnaise» und in der Signatur desselben Briefes «De Lion ce 24. Juillet», im Titel des Dialoges «Débat de Folie et d’amour, Par Louïse Labé Lionnoize», in der Sphragis des Werkes, im letzten Sonett «Fin des œvres de Louïse Labé lionnoize» sowie im Appendix. Das Toponym verweist insistent auf die kulturelle Gemeinschaft der Stadt Lyon im 16. Jahrhundert, das sogenannte sodalitium lugdunense, das als kosmopolitische Gemeinschaft den kulturellen

ladite Dame»; betrachtet man die insignifikante Anzahl von nur drei Korrekturen, erscheint die Funktion der Neuausgabe vor allem darin zu liegen, die Präsenz der Autorin zu markieren, die ihr Werk auch nach dem ersten Erscheinen höchstselbst weiterbegleitet um darüber womöglich neue Leser anzulocken, cf. Budini (2004, 152, Anm. 1). 42 Es handelt sich vor allem um antike Gattungen, die Labé dezidiert einsetzt, um die Renaissance der Antike vorzuführen und ihre Fähigkeit zur Pluralisierung von Gattungen zu unterstreichen; für genauere Informationen zur Architektur des Œuvres cf. Martin (1999). 43 Alonso (2004, 9). 44 Labé operiert eben mit den in der Renaissance wiederentdeckten und in der italienischen Kulturumgebung verwendeten Gattungen, die auf eine Pluralisierung von Stil und Wahrheit in der Elegie und im Dialog ausgerichtet werden; zur Pluralisierung von Wahrheit cf. Hempfer (1993, 36); zur Pluralisierung des erotischen Diskurses im Petrarkismus und den dem Petrarkismus verwandten amorologischen Systemen, cf. Hempfer (1988); zum Lyriksystem der Renaissance cf. Huss/Regn/Mehltretter (2012). 45 Alonso schreibt die Wahl des Namens vor allem einer «raison commerciale» zu. Es handelt sich um den Namen der ersten Frau des Vaters der Louise Labé, den diese auf Grund seiner klangvollen Sonorität und seiner onomastischen Qualität übernommen habe; Alonso (2004, 8).

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Stolz der Stadt verkörpert.46 Das Selbstbewusstsein des Lyoner Kulturkreises hat über falsche Etymologien, anagrammatische und homonymische Variationen des Namens Lyon verschiedene Implikationen des Toponyms hervorgerufen. Tugendhaft und kulturell exponiert wie das alte Ilion besitze die Stadt ein cœur de lion. Außerdem sei der Ursprung des heiligen Ortes der Fourvière über die Volksetymologie Forum Veneris mit dem Venuskult verbunden,47 wodurch eine Art sensuelle, mythisch verbürgte Liebe in Lyon omnipräsent werde. Wenn Lyon als Toponym in Labés Werk immer wiederkehrt und dieses rahmt, werden damit also auch die Tugenden der «Noblesse, antiquité, courage, amour», «importantes garanties d’autorité et d’authenticité» aufgerufen.48 Im Widmungsbrief präzisiert Louise Labé die Gemeinschaft, an die ihr Werk in erster Linie adressiert ist. Der rekurrente Gebrauch der ersten Person Plural oder korrespondierender Possessivpronomen stellen dem Leser ein Frauenkollektiv, das auch die Dichterin miteinschließt, vor Augen. Im gesamten Text des Briefes benutzt Louise Labé über 30 Mal nous / notre oder die verbale Form der ersten Person Plural und stellt so den Eindruck einer starken Kollektivität her. Stellenweise macht das einigende Wir einer ersten Person Singular Platz, an der Stelle zum Beispiel, an der Labé ihre außergewöhnliche Rolle in der Gemeinschaft beschreibt. Am Ende des Briefes wird das nous zum vous, welches die eigentlich untergeordnete Rolle der anderen Frauen in der Gemeinschaft in deren Verhältnis zur Schreiberin klarstellt. Bereits auf diskursiver Ebene zeigt sich also, dass die Gruppe nicht aus gleichwertigen Mitgliedern besteht und die anderen Damen nicht auf der gleichen Stufe wie ihr Modell stehen können, was auf der Ebene der histoire dann bestätigt wird. Die gemeinsamen Werte und Identifikationsmerkmale, die Labé im Folgenden für die Gruppe beschreibt, gelten am Ende nur für die Dichterin selbst. Zunächst stellt sie typisch humanistische Werte als positive Nebeneffekte der Dichtung heraus: Die Dichtung bewirke «du bien et de l’honneur» (41). Die grosso modo

46 Das sodalitium lugdunense bezieht sich sowohl auf einen wohldefinierten, bürgerlichintellektuellen Kreis von Lyonaisern um den Förderer Giullaume Scève, der der italienischen wie auch der griechisch-lateinischen Kultur zugewandt war, als auch auf die Gesamtheit der Lyonaiser Intellektuellenwelt, die für ihre herausragende kulturelle Aktivität berühmt war, cf. genauer Lazard (2004, 17–18). 47 Die Hypothese, archäologisch belegt durch einen Tempel der Venus, wird unter anderem von Jean Lemaire de Belges in seiner Le Concorde des deux langages vertreten (Belges 1947, V. 136–137); zur Verbreitung der kulturellen Reputation Lyons und seinen Implikationen in weiteren Texten der Epoche (Marot, Lemaire, Scève) cf. Rigolot (2004, 60). 48 Ibid.; die Ortsangabe in der Liebesdichtung ist laut Rigolot unabdingliche Komponente zur Erzeugung des Barth’schen «effet de reél», Rigolot (1986, 21).

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deckungsgleichen Konzepte des honneur und der gloire werden als Gegenpart zu den oberflächlichen und von außen zugetragenen Reichtümern der «chaines, anneaus, et somptueus habits» (41) in Szene gesetzt und können als ideeller Wert in horazischer Manier «ne nous pourra être ôté, ne par finesse de larron, ne force des ennemis, ne longueur de temps» (41). Ruhm wird von Labé als «entierement notre» (41) reklamiert. Als solcher zieht Ruhm soziokulturellen Erfolg nach sich und bietet über die Tugend, die aus der rhetorischen Kompetenz erfolgt, auch Geschlechtergleichheit. In aller Bescheidenheit will die Dichterin «admonicion» (41) für die «vertueuses Dames» (42) sein und sie fordert diese auf, zu schreiben und «en science et vertu passer ou egaler les hommes» (41). Die literarische Aktivität als Gruppenphänomen ist somit in der Lage die Begrenzungen des weiblichen Geschlechts zu überschreiten und das machtvolle Gruppenbild der Damengemeinschaft zu stärken. In dieser ersten Passage findet sich das ,nous unifiant‘ sechs Mal. Im weiteren Verlauf des Briefes findet sich ein zweites, ebenso ungewöhnliches gemeinsames Ziel der Gruppe: neben dem auf Erfolg durch Tugend basierenden Ruhm zielt Labé auf das persönliche Wohl, das «plaisir individuel» (42). Dieses plaisir konkretisiert sich als psychische Innerlichkeit, die die schreibende Frau zu einem «contentement de soy» (42) führe. Es ist Sainte-Beuve, der dieser Emphase des Affekts bei Labé besondere Aufmerksamkeit widmet und der ihr in der Romantik die Reputation einer protoromantischen Dichterin par excellence zu Teil werden lässt, die keinem anderen Modell folge als ihrer eigenen Seele.49 Die Betonung der Gefühle erscheint tatsächlich fast modern im Sinne einer individuellen Psychologie, vor allem wenn man die verwendeten Begrifflichkeiten betrachtet; die Analyse wird zeigen, inwieweit die starke Betonung des plaisir dem Gattungsrepertoire der Elegie zuzurechnen ist und inwieweit dies modifiziert wird, um Teil von Labés Instrumentarium zur Erschaffung einer poetischen Autorität zu werden. Die poetologische Konzeption der Freude, das placere eines Textes war bis dahin an einem didaktischen Ziel orientiert und auf den Leser gerichtet oder, wie im Falle Giovanni Boccaccios, auf die Leserin.50 Labé jedoch formt diese bislang resultative und zweckdienliche

49 «Louise Labé, nous avons pu le voir en l’étudiant de près, était beaucoup moins fille du peuple et moins naïve; mais qu’importe qu’elle ait été docte, puisqu’elle a été passionnée et qu’elle parle à tout lecteur le langage de l’âme?» (Sainte-Beuve 2004, 157). Zu den späteren Forschern, die nach Sainte-Beuve authentische Gefühle und Affektemphase zur Grundlage der Labé’schen Dichtung erheben, wie zum Beispiel Dorothy O’Connor oder Enzo Giudici, cf. Schulze-Withzenrath (1974, 10–11). 50 Die topische Verbindung zwischen prodesse et delectare geht auf Horaz’ Ars Poetica zurück (V. 333). Boccaccio betont im Prolog des Decameron, zwischen 1548 und 1553 publiziert, das

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Emotion in einen selbstdienlichen Affekt um und bindet das Ziel an die Ursache zurück: es sind die vergangenen «plaisirs des sentiments» (42), die die Autorin beim Prozess des Schreibens in etwas Unvergängliches umformen kann; während die reine Erinnerung an die vergangenen Gefühle «facheuse» sei, so werde das eigene Wohlbefinden verdoppelt, («redouble notre aise», 42), wenn das «plaisir passé» (42) beim Schreiben oder beim Studium des niedergeschriebenen Werkes erinnert und wiederempfunden werden könne; diese rückblickende Betrachtung des eigenen Werkes und das Selbsturteil («jugement») führe zu einem «singuliere contentement» (43). Das placere des Textes besteht somit aus der verwissenschaftlichten Beurteilung der Erfahrung, der «premieres [conceptions]» (43) durch die Lektüre der «secondes conceptions» und aus dem stilistischen Urteil, sowie einem interiorisierten Affekt, einer individuellen Freude an den plaisirs des sentiments selbst. Aufschlussreich für die Selbstautorisierung ist hier auch die Verbindung der empirisch Erlebenden mit der schreibenden persona poetae darüber, dass die ,erste Erinnerung‘ ebenso wie die ,zweite Verschriftlichung‘ des Erlebten als «conceptions» bezeichnet werden. Louise Labé selbst zeigt sich in alledem bescheiden und legt dar, dass die literarische Aktivität für sie nur ein «honneste passetemps» (43) sei und sie ihre Schriften nur auf das Drängen ihrer Freunde hin publiziert habe. Die Wortwahl «mettre en lumiere» (43) indes, ihre für sich selbst beanspruchte Rolle des «guide» (43) für die Damen und die explizite Aufforderung an diese «vertueuses Dames», zu schreiben («pour vous [. . .] inciter [. . .] d’en mettre en lumière un

placere, das speziell den weiblichen Lesern durch die Lektüre seines Werkes zugedacht ist. Explizit will er «attendere ai loro piaceri» (7) durch seine Novellen, «delle quali [novelle piacevoli e aspri] le già dette donne, che queste leggeranno, parimente diletto alle sollazzevoli cose in quelle mostrate e utile consiglio potranno pigliare» (Boccaccio 1976, 6–7). Im Prolog des Hemptaméron der Marguerite de Navarre (1558/1559 erschienen) wird den jungen Leuten geraten, in der «Saincte Escripture» (de Navarre 1864, 12) zu lesen als «occupation plaisante et vertueuse» (11) gegen die Langeweile, «ung passetemps qui vous puisse delivrer de vos ennuicts» (12). Diese Aktivität führe zu einem «contentement de [l‘]esprit» (12), welches bei de Navarre als feste und vor allem dezidiert religiös konnotierte Redewendung erscheint, im Gegensatz zu den Worten der Labé, die dagegen von einem ins subjektive Innere gerichteten «contentement de soy» (42) spricht. Bei de Navarre schlägt die Wortführerin der Gruppe von jungen Leuten, die eine weniger passive Aktivität suchen, ein «passetemps et exercice corporel» (12) möglichst angenehmer Art, «agreable» (13), vor, dass jeder «quelque histoire» (15) nach dem Modell Boccaccios erzähle, außer «quelcun trouve quelque chose plus plaisante» (15). Der erste Rat der Sprecherin an die Gruppe zielt auf moralisch-didaktische Erbauung, der zweite hat zwar als Gruppenziel eine Form von «plaisir» im Auge, das die Erzähler/innen selbst erfahren können, insgesamt wird dies aber lediglich als Konterpart des «ennui» aufgerufen und bezieht sich nicht auf einen Innenraum der ‚Subjekte‘ – so bestätigen es auch im weiteren Verlauf des Vorwortes die weniger konkreten Aussagen zum «plaisir», als «chose plus plaisante» oder: «Ainsy passerent joyeusement ceste journée» (15).

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autre [œuvre]», 43), zeigen indes am Ende des Briefes das selbstbewusste Projekt der Louise Labé, die sich in der Rolle eines «agent de culture, un poeta concionator, pour inciter ses contemporains français à se cultiver»51 präsentiert. Zum Erreichen dieses Ziels stellt sie das eigene Werk («œuvre») als Beispiel für andere voran und impliziert in der Metapher «mettre en lumière» (43) einen eigentlich bereits erreichten Publikumserfolg. Auch wenn sie von ihren weiblichen Empfängern als guides spricht – «je vous ay choisie pour me servir de guide» (43) lautet das Syntagma –, verrät die Kombination des Substantivs mit dem Verb «servir» die wirkliche Position der Damen in der Gruppe. Sie sind bewundernde Dienerinnen, deren wichtigste Aufgabe es ist, den Ruhm und das «contentement singulier» des Werkes ihres Vorbildes zu verstehen, nachzuvollziehen und möglicherweise nachzuahmen. Die eigene hervorragende Position setzt Labé auch durch die Beifügung der berühmten Gravur im Appendix ihres Werkes in Szene, die folgendermaßen untertitelt ist: «Seul véritable portrait, gravé par Pierre Woeriot en 1555» (148). Diese zeigt die Dichterin als Hofdame, gewählt gekleidet und von Edelsteinen geschmückt und wertet den Ruhm des Werkes durch die gezielte Betonung der soziokulturellen Stellung der Dichterin in der Gesellschaft Lyons noch weiter auf: Labé erscheint als angesehene Frau, die durch ihr literarisches Talent und als Herausgeberin ihres eigenen Werkes bereits zu Lebzeiten Ruhm erlangt hat. Das «Privilège du Roi», das sich im Titel sowie im Appendix des Werkes befindet, scheint direkt auf ihr eigenes Projekt zu antworten und dem Erfolg der Labé unter ihren männlichen und weiblichen Zeitgenossen offizielle Gültigkeit zu verleihen. Das Privileg bestätigt die Ambition der Labé, sich einen Namen zu erschaffen52 und sich gleichzeitig der positiven Reaktionen der Gesellschaft zu versichern: als «chere et bien aymée Louïze Labé Lionnoize» (37) des Königs werden mögliche Zweifel an der Publikation ihres Werkes oder an dessen Qualität im Vorhinein von offizieller Seite ausgeräumt.53 Bereits im Vorfeld etabliert sie ihr Werk in ihrer zeitgenössischen Gesellschaft. Die Strategie lässt, auch im Vergleich zu ihren weiblichen ‚Kolleginnen‘ in Italien und zu Pernette du Guillet in Frankreich,54 die ihre Sonette ohne programmatische Paratexte publiziert

51 Rigolot (1997, 278). 52 Die soziale Position der Briefempfängerin des Widmungsbriefes, die gesellschaftlich deutlich über Louise Labé steht, bestätigt deren ambitiösen Plan. 53 «POURCE IL EST : que nous inclinans liberalement à la requeste de ladite supliante, luy avons de nostre grâce speciale donné Privilege, congé, licence et permission de pouvoir faire imprimer sesdites Euvres ci dessus mencionnees par tel Imprimeur que bon lui semblera» (37). 54 Die Rymes de gentile et vertueuse Dame D. Pernette du Guillet wurden als einheitliche Sammlung erst postum, 1545 durch Antoine du Moulin veröffentlicht; cf. in diesem Kontext Du Moulin (1986, 17).

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haben, eine besondere Qualität des Strebens nach Autorität zu Tage treten. Bei Pernette du Guillet ist es ihr Verleger, Antoine du Moulin, der nachträglich und postum ein Vorwort «Aux Dames Lyonnoizes» verfasst, dessen textuelle Parallelen zu Labés Brief augenfällig sind: Louise Labé scheint in ihrer Widmung stellenweise Argumente zu übernehmen, du Moulin will «exciter [les] Dames Lyonnoises» «à la vertu» und zum «chemin à bien» durch den «passetemps» der Poesie.55 Bereits ein flüchtiger Blick auf die Komposition des Werkes und den Widmungsbrief lässt ein offensives Autorisierungsstreben erkennen, das auf eine Autorfigur zurückweist, die ihr Werk offensichtlich als ein ganzes zusammengehöriges und geplantes Ensemble vorstellt und sich darüber von vornherein als erfolgsgekrönte weibliche Autorin von dauerhaftem Erfolg darzustellen bestrebt ist. Von Beginn an setzt Labé auf ihre Qualität als singuläre Autorin einerseits und Vorbildautorin in einer und für eine kulturelle Gemeinschaft andererseits, die zu diesem Zweck eigens modelliert wird. Die Merkmale der Gemeinschaft werden im Widmungsbrief klar dargelegt. Die weibliche Gruppe ist zuallererst aufgefordert, ihre Augenhöhe zur männlichen Gruppe zu deklarieren. Der Erfolg dieses Programmes hat in ihrem eigenen Werk bereits Bestätigung gefunden. Die Legitimität der Gruppe ist dabei auf moralische, soziale und literarische Indikatoren, wie Lyon, Tugend und Ruhm gegründet, sowie auf die ethisch-didaktische Ziele überschießende Kategorie des ,persönlichen Vergnügens‘, welche im poetischen Werk selbst in einer spezifischen Akzentuierung des Gefühls bzw. einer nicht endenden Passion fassbar scheint. Der nächste Abschnitt zeigt, wie dieses ,plaisir‘ gattungshistorisch aus der antiken Liebeselegie kommt und wie diese Gattung im Zusammenspiel mit dem petrarkistischen Diskurs und neuplatonischen Bildlichkeiten sowie einer ausladenden Zitationspraxis bei Labé spezielle Anwendung findet.

4 Die Realisierung des poetischen Programmes: Elegisierung, Pluralisierung, Naturalisierung des Diskurses Die starke Akzentuierung des Affekts gehört zu den Gendernormen der Zeit,56 welche den weiblichen Petrarkismus leiten, der affektive Aspekt stellt den

55 Du Moulin (1986, 3). 56 Diese sind nachzulesen im Traktat De claris mulieribus von Boccaccio, später auch von Leon Battista Alberti (1432–1434) niedergeschrieben in I libri della Famiglia; cf. hierzu genauer Schnei-

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gemeinsamen Nenner dar, unter dem sich die Dichterinnen von den Vorgaben des männlichen Petrarkismus lösen können.57 Dieses Charakteristikum ist aber auch typisch für das «genre retrouvé»58 der antiken Liebeselegie, die im 16. Jahrhundert ein starkes Wiederaufleben erfährt. Die Elegie ist dabei eine Gattung, die seit der Antike wenig theoretisiert wurde59 und die aus diesem Grund oft mit anderen Gattungen amalgamiert wurde; vor allem im nicht-italienischen Petrarkismus hat die Elegie wegen ihrer Offenheit zu pluralen hybriden Formen und in ihrer Verwendung in der Volkssprache einen Bedeutungszuwachs erfahren.60 Die fundamentalen Elemente der Liebeselegie werden mit der petrarkistischen Liebeskonzeption des dulce malum kurzgeschlossen; die Elegie bietet direkte Anschluss-, Kombinations- und Ausbaumöglichkeiten, was die Sprechsituation und andere topische Motive und Elemente angeht und erweist sich so als eine Alternative zum System der petrarkistischen Liebe61: Die römische Elegie entwirft eine unmögliche, da illegale Liebessituation; die Perspektive des Sprechers kann in der römischen Liebeselegie sowohl männlich als auch weiblich sein; der oder die Liebende unterwirft sich der oder dem Geliebten und unternimmt alles in seiner

der (2007, 94–95). Zur Sozialgeschichte der Frau in der Renaissance allgemein cf. die Studie von Berriot-Salvadore (1990); zu den Les recueils des femmes illustres cf. ibid., 345–361; eine Analyse der weiblichen Tugenden der Louise Labé im historischen Kontext findet sich im Kapitel «Caractérologie de l’,Écrivaine‘», und im Unterkapitel «L’honnête et sage Demoiselle?», ibid., 443–463. 57 Cf. Schneider (2007, 320). Schneider spricht von einem «Distanzvorteil» der weiblichen Autoren in Bezug zum «ingenium» der männlichen Petrarkisten, welcher ihnen als «Strategie der Selbstermächtigung der Rede und der Schaffung eines Freiraumes» dient. Mathieu Castellani zum Beispiel beobachtet diese Strategie im zweiten Sonett von Louise Labé «O beaus Yeus bruns», wo die Aussage «Tant de flambeaux pour ardre une femelle» objektiv zu klingen versucht, «lorsque le je s’objective et se tient à distance, se voit un instant tel qu’il est vu par les yeux des autres», Mathieu-Castellani (1990, 195); bei Schneider (2007, 320, Anm. 34). 58 Robert (2004, 112). 59 Cf. ausführlich Huss/Mehltretter/Regn (2012, 233–235); De Maldé (1996, 109–134); Robert (2004, 111–112). 60 Die nebeneinanderstehend alternierende und ineinandergreifende Kopräsenz von Texttypen und Gattungen entsteht vor allem in der französischen und spanischen Literatur des 16. Jahrhunderts auf Grund der sprachlichen Barriere, welche die Imitation Petrarcas als stilistischem Modell erschwert; Schulz-Buschhaus spricht von einer «natürlichen Affinität zu lateinischen Epigrammen, Elegien und Oden außerhalb Italiens», Schulz-Buschhaus (2013, 4); cf. auch Hempfer (1988, 251–264). Zur Wiederentdeckung der Elegie in Frankreich von Clément Marot an cf. Hanisch (1979). 61 Für die französischen Literaten des 16. Jahrhunderts ist die römische Liebeselegie der Bezugspunkt. Die griechische Elegie war nicht so stark auf das Thema der Liebe konzentriert und wurde vor allem über das Versmaß definiert; cf. dazu genauer Luck (1969); Holzberg (2009); Hanisch (1979). Zum Einfluss der Elegie auf den weiblichen Petrarkismus überblicksartig cf. Schneider (2007).

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oder ihrer Macht Stehende, um deren oder dessen Aufmerksamkeit zu erhalten. Die zentralen Elemente dieses Liebesringens sind die ‚militia amoris‘, das ‚servitium amoris‘ und das ‚foedus aeternum‘. Und nicht zuletzt verweist die Elegie ebenso stark wie das Sonett seit Petrarca auf ihren empirischen Autor, dessen klagende Stimme vermeintliche oder echte Authentizität belegt. Nach dem Widmungsbrief und dem Dialog «Débat de Folie et d’Amour», der den liebestheoretischen Auftakt des Werkes bildet62, fügt Labé drei Elegien an, die den Beginn der Liebesgeschichte markieren. Die Elegien sind strategisch von höchster Wichtigkeit für die Erlangung von auctoritas. So zeigt die Aneignung einer theoretisch noch instabilen Gattung die kulturell avantgardistische Position der Autorin, sowie sie es erlaubt im Diskurs die Exzellenz ihrer stilistischen Agilität über Strategien der Pluralisierung von Gattungen und Stilen auszustellen. Darüber hinaus stellt die elegische Situation per definitionem die Möglichkeit einer Intensivierung des petrarkistischen dulce malum zur Verfügung und dadurch dann auch die Möglichkeit zur Steigerung der textuellen Macht, mittels derer die Liebe poetisch bezwungen und besungen werden muss. So stellt Labé die im Widmungsbrief evozierte Gemeinschaft unter einen gemeinsamen poetischen Nenner, nämlich den einer elegisch geprägten und überaus machtvollen Liebe. Vor diesem Hintergrund tritt die Singularisierung der Autorin noch stärker hervor: Louise Labé avanciert im Laufe ihres Werkes zu einer unheilbar und besonders betroffenen elegischen Liebenden. Die Elegie weist auf Grund ihrer Länge und ihrer pathetischen Thematik oft einen narrativen Stil auf, der die Ereignisse sehr detailliert darstellt. So kann im Verlauf des Sprechens eine Evidenz geschaffen werden, die in den nur 14 Versen eines Sonettes so nicht aufgebaut werden kann. Der erste Satz der ersten Elegie Labés, der sich über sechs Verse erstreckt, beginnt mit einem rückblickenden pathosträchtigen und rhetorisch hochstilisierten Bild: Au temps qu’Amour, d’hommes et Dieus vainqueur, Faisoit bruler de sa flamme mon cœur, En embrassant de sa cruelle rage Mon sang, mes os, mon esprit et courage: Encore lors je n’avois la puissance De lamenter ma peine et ma souffrance. (Vv. 1–6, 107)

Die Erzählung setzt mit einer Darstellung des properzischen Amors als unumgängliche und grausame Macht ein, die durch die Metapher des naturgewaltigen Feuers, sowie auf lautlicher Ebene durch die Häufung der Frikative zum Beispiel

62 Cf. Zum Dialog zum Beispiel Charpentier (1990, 147–161).

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in Vers 3–4 zum Ausdruck gebracht wird. Die Bildfelder des Feuers und des Krieges, durch welche Körper und Seele zerstört werden, werden kombiniert, was in einem dreigliedrigen anaphorischen Asyndeton, erweitert um ein viertes, gleichsam universell abschließendes Glied hervorgehoben ist (V. 5). Der Kampf der Sprecherin erscheint auf Diskursebene von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Aber der Verweis auf eine bereits zurückliegende Vergangenheit «Au temps que» (V. 1) / «Encore lors» (V. 5) deutet an, dass die Situation sich seitdem verändert hat. Die Verbindung der Substantive «puissance» und »souffrance» über den Reim, ebenso «rage» und «courage», verweist latent auf die Macht, die der elegische Diskurs und das Dichten im Allgemeinen über die Leidenschaften erlangen kann, so wie es die Dichterin ja in der Lettre fordert, aus den «sentiments» «escrits» zu machen. Der Plan zur Autoritätsgewinnung auf der Basis der Liebesleidensthematik wird in den folgenden Versen, welche den Bruch zwischen niederschmetternder Vergangenheit und glorifizierender Zukunft zeigen, noch klarer, wenn Ruhm nicht etwa durch die Großgattung des Epos, sondern durch die «lyre», die als Synonym für die Kleingattung der Liebesdichtung steht, erworben werden soll: Encor Phebus, ami des Lauriers vers, N’avait permis que je fisse de vers: Mais meintenant que sa fureur divine Remplit d’ardeur ma hardie poitrine Chanter me fait, non les bruians tonnerres De Iupiter, ou les cruelles guerres, Dont trouble Mars, quand il veut l’Univers. Il m’a donné la lyre, qui les vers Souloit chanter de l’Amour lesbienne: Et à ce coup pleurera de la mienne. O dous archet, adouci moy la voix Qui pourroit fendre et aigrir quelquefois, En recitant tant d’ennuis et douleurs, Tant de despits fortunes et malheurs.63 (Vv. 7–20, 107).

Die Passage ist zentriert um das Syntagma «chanter me fait», welches die epische canere-Formel benutzt, diese aber sogleich in ein lyrisch-elegisches canere verwandelt, welches nicht Götter oder Kriege zum Thema habe,64 sondern die Liebe; die

63 Dieser exemplarische Auszug zeigt auch den narrativen Stil der Elegie. Die Narrativität erlaubt es dem Autor, auch längere Passagen einem einzigen Thema zu widmen, hier der Rechtfertigung der Gattungswahl der Poesie. Diese präsentiert sich zum Beispiel in Petrarcas 34. Sonett Se l’onorata fronde auf Grund der Kürze des Sonetts allegorisch aufgeladen und obskur. 64 Siehe zum unterschiedlichen Gebrauch und Funktion von canere und scribere in der lateinischen Dichtung La Penna (1992, 121–122).

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Liebe ist aber auch hier nicht als subjektives Gefühl, sondern als literarisches Zitat des «Amour lesbienne», der lyrischen Liebe der Sappho, eingeführt, dessen durch Catull überlieferte Adaption der «ode à l’Aimée» um 1553 wiederentdeckt wurde.65 Labé zeigt in der Passage ganz offensichtlich ihre stilistischen und argumentativen Fähigkeiten verschiedene sprachliche, literarische und kulturelle Felder zu nutzen und synkretistisch zusammenzuführen: dem petrarkistischen Auftakt durch den Lorbeertragenden Apollo folgt eine properzische Intensivierung Amors bzw. der neuplatonisch besetzte Inspirationsgedanke, das epische «chanter» wird zum lyrischen, die «lyre» der Liebesdichtung eröffnet das lexikalische Feld der Elegie, das in den folgenden Versen ausgebaut wird: «pleurer», «dous», «adouci», «douleurs», «malheurs» (Vv.16s.). Eine Demonstration des mythologischen Wissens und der kulturellen Kompetenz wird im Verlauf der Elegien unablässig durch Registerwechsel und Allusionen an mythische oder literarische Themen erwirkt: zum Beispiel durch das Bild der «œuvre[s] ingénieuse[s]» (V. 31)66 der Arachne, mit der sich Labé als Belle Cordière analogisieren lässt,67 oder durch den Vergleich mit den weiblichen Rittern Bradamante und Marfisa, Kämpfende und Liebende zugleich,68 oder durch die Erinnerung an Medea und Jason, Paris und Oenone aus den Ovid‘schen Heroides.69 Die Struktur der Elegien soll durch die souveräne Pluralität und Vermengung von Gattungen und Stilen sowie durch die durchgängige kreative Zitationspraxis selbst als einzigartiger Stoff erscheinen, gewebt aus verschiedenen Fäden, die allein die Autorin zu spinnen vermag. Die Rückbindung der klagenden Stimme der aktuellen Liebenden an eine breite Tradition70, sowie Gleichnisse, literarische Vergleiche oder gelehrte Zitate71 heben die Rolle der

65 Cf. Rigolot (1986, 20). 66 Cf. das «opus admirabile» der Arachne in den Métamorphosen VI, 14, Ovid (2006, 280). 67 Vertiefend zur Wichtigkeit des Mythos von Pallas und Arachne als Gegenüberstellung von Liebe und Weisheit, cf. Rigolot (1997, 117–153); Rigolot (2004, 61). 68 Hanisch spricht von einem «image of Amazonian women», Hanisch (1979, 65). 69 Eine detaillierte und philologisch erschöpfende Darstellung der Zitate aus der römischen Elegie findet sich ebenfalls bei Hanisch (1979, 53–72). 70 Die Vermengung von literarischen Gattungen, von Liebeskonzepten und eine kreative Zitationspraxis ist sowohl in den Elegien wie in den Sonetten auffällig. Das erste Sonett beispielsweise beginnt mit Odysseus, epische und heroische Figur zugleich; in der Makrostruktur korrespondiert die Zahl der 24 Sonette der Zahl der homerischen Gesänge; zu den Effekten, zum Beispiel der Sublimierung der Sprache durch epische Konnotationen, zu weiteren Referenzen und Zitationen wie die auf das Einleitungssonett Bembos, siehe die Studien von Leopold (2009, 279–281) und Rigolot, (1997, 84–85.). 71 Du Bellay formuliert dies in seiner Deffence et illustration de la langue française (1549) als explizite Forderung, wenn er den französischen Dichtern im vierten Kapitel des zweiten Buches rät, «Quels genres de poèmes [il] doit élire»: «Distille, avec un style coulant et non scabreux,

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Sprecherin als poetisches Exemplum hervor, das eine pluralisierende Öffnung des petrarkistischen Modells nach sich ziehen soll. Ein prononciertes Beispiel für das, was ich als Elegisierung des petrarkistischen Diskurses bezeichnen möchte, findet sich in Labés dritter Elegie. Dort wird der petrarkistische Diskurs zunächst über Thematiken und Strukturelemente dezidiert aufgerufen und inauguriert gleichsam den Beginn des Canzoniere der Labé: explizit findet sich ein inammoramento und Hinweise zur Dauer der Liebe (V. 73s.), was eine Art narrative Chronologie – obligatorisches Element eines Canzoniere72 – nahelegt. Quand vous lirez, o Dames lionnoises, ces miens ésrits pleins d’amoureuses noises, quand mes regrets, ennuis, dépits et larmes m’orrez chanter en pitoyables carmes, ne veuillez pas condamner ma simplesse, et jeune erreur de ma fole jeunesse, si c’est erreur: mais qui dessous les Cieux se peut vanter de n’être vicieux? (Vv. 1–7, 115)

Ebenso wie Petrarca präsentiert die Sprecherin ihr Projekt der Öffentlichkeit, den «Dames lyonnaises», an die sich Louise Labé als empirische Sprecherin bereits im Vorwort gewendet hatte. Die Damen, die im Vorwort noch als potentielle Kolleginnen gehandelt werden, erscheinen nun reduziert auf die Rolle einfacher Leserinnen.73 Außerdem liegt die typische Situation eines auditiven Vortrages vor («quand vous m’orrez chanter», V. 4), der wiederum die antike Elegie und die Tradition der Heroiden alludiert, ebenso wie eine Situation zukünftiger Lektüre («quand vous lirez», V. 1), welche dann die Textualität und die auch materielle Stabilität des Werkes betont. Nach dieser auffälligen synästhetisch ausgerichteten Anrede spricht das Ich über seine Reue und seinen jugendlichen Irrtum, wobei die Verse lexikalisch einerseits eng am petrarkistischen Text angelehnt bleiben,74 an-

ces pitoyables élégies, à l’exemple d’un Ovide, d’un Tibulle et d’un Properce, y entremêlant quelquefois de ces fables anciennes, nonpetit ornement de poésie» Du Bellay (1948, 111–112). 72 Zu den konstitutiven Elementen eines Canzoniere cf. Regn (1987). 73 Die gleiche Transformation ist auch bereits seit der ersten Elegie zu beobachten: «Dames, qui les [mes maus] lirez, De mes regrets avec moy soupirez» (V. 43–44). 74 Voi ch’ascoltate in rime sparse il suono di quei sospiri ond’io nudriva ‘l core in sul mio primo giovenile errore quand’era in parte altr’uom da quel ch’i’ sono, del vario stile in ch’io piango et ragiono fra le vane speranze e ‘l van dolore, ove sia chi per prova intenda amore,

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dererseits durch die klagende Lexik der Elegie modifiziert werden. Die petrarkistische Reue erscheint «pleins d’amoureuses noises», angereichert durch «ennuis, dépits et larmes», die «sospiri» werden zu «pitoyables carmes», die an das «flebile carmen» Ovids erinnern, welches nicht nur topisch die Elegie bezeichnet,75 sondern auch auf die griechische Volksetymologie «e e légein» verweist, die mit «wehklagen, weh weh rufen, weinend seufzend» wiedergegeben werden kann.76 In Ort und Funktion verändert, findet sich am Ende der Elegie auch das vanitasMotiv Petrarcas, allerdings mit der Absicht, auf Amors Macht zu verweisen, die man in der Jugend gerade nicht missachten dürfe und der man sich schließlich als Mensch auch nicht entziehen könne. Denn das Lexem «plaisir», das petrarkistische «piacere» (V. 14), ist bei Labé in das Vorwort versetzt und ist dort, wie erörtert, schließlich explizit mit der Dichtung verbunden und Voraussetzung für diese, welche als solche ja wieder zu neuem, wiederempfundenen und gewissermaßen moralisch abgesicherten Vergnügen führt, ja das «plaisir» sogar zur Tugend macht. So erklärt sich Labés rinascimentaler Zweifel an der «vanitas» der Liebeserfahrung und die positive Umwertung derselben als notwendige menschliche Erfahrung: diese bringt erstens im Leben selbst «Vergnügen», zweitens wird sie als «Aufgeschriebenes» in die Nähe aller «Schrift» und auch der «sciences» gestellt und wird so zu deren Grundlage77 und drittens ist sie sowieso unvermeidbar und somit in einer rhetorischen Frage gleichsam entschuldigt: «si c’est erreur: mais qui dessous les Cieux / se peut vanter de n’être vicieux ?» (V. 5s.). Der petrarkistische Diskurs wird elegisiert, die Elegie wird zum neuen Einleitungstext. So realisiert Labé hier, was von Julius Caesar Scaliger kurze Zeit später in den Poetices libri septem zur zeitgenössischen Elegie formuliert ist: diese werde mehr und mehr heterogenisiert und könne eine Vielfalt von Themen und Subgattungen in sich aufnehmen und Elemente, wie zum Beispiel die «comme-

spero trovar pietà, nonché perdono. Ma ben veggio or sì come al popol tutto favola fui gran tempo, onde sovente di me medesmo meco mi vergogno; et del mio vaneggiar vergogna è ‘l frutto, e ‘l pentersi, e ‘l conoscer chiaramente che quanto piace al mondo è breve sogno. (Petrarca 2008, 5). 75 Tristia V, I ,5; siehe auch Amores III, 9 ,3: «Flebilis indignos, Elegeia, solve capillos» (Ovid 2012, 152). 76 Cf. genauer hierzu Huss/Regn/Mehltretter (2012, 233, Anm. 860); Holzberg (2009, 5). 77 «Lors nous redouble notre aise: car nous retrouvons le plaisir passé qu’avons ù ou en la matiere dont escrivions, ou en l’intelligence des sciences ou lors estions adonnez» (42–43).

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moratio diei a quo initium amandi factum fuit, eiusdem laudatio aut execratio» enthalten.78 Jörg Robert spricht vom «Novum der neuzeitlichen Liebeselegie» und sieht diese sogar zum «Äquivalent des italienischen Sonetts und umgekehrt» avancieren.79 Dennoch sind es die Struktureigenschaften der Elegie, die die Autorin bewusst einsetzt und auf produktive Weise für ihre Zwecke zu nutzen weiß. Eine Gattungstradition, die vor allem auf Leiden, auf subjektives Liebesleiden abgestellt ist, erlaubt es eine «note of intimacy»80, wenn nicht sogar eine eigene «psychology of love [. . .] as an important ingredient»81 im Text auszustellen. Auch die mit der Gattung verbundene «simplesse» (V. 4), die explizit in den petrarkistischen Diskurs eingebaut wird, entspricht eher dem einfachen, natürlichen und kunstlosen Stil der Elegie als der rhetorischen Gestaltung des «vario stile» (V. 5) Petrarcas und erhöht dadurch die suggerierte Authentizität und Intimität. In diesen Merkmalen, über die Authentizität der zu Grunde liegenden Erfahrung und über das Motiv der gemeinsamen Niedergeschlagenheit durch die Liebe ist auch die evozierte Gruppe poetisch geeint und klar als ,Liebessodalität durch bejahte Erfahrung‘ definiert. Vor diesem Hintergrund hebt sich die empirische Dichterin, die in der Körperlichkeit ihrer «voix douce» aus dem Text spricht, dadurch ab, dass sie sich als wirklich Dichtende und als bereits ruhmreiche Dichterin im Text inszeniert; sie ist im Stande, so soll es scheinen, die Niedergeschlagenheit poetisch zu bewältigen und tatsächlich aus der individuellen Erfahrung Dichtung zu machen. Zur Bewältigung der Liebe in Dichtung alludiert die Dichterin in der Elegie auf das neoplatonische Konzept des furor divinus: «Mais meintenant que sa fureur divine / Remplit d’ardeur ma hardie poitrine / Chanter me fait» (V. 9s.). Im vierten Sonett gewinnt das Bild des furor divinus noch weiter an Bedeutung, wenn es zu einem allegorischen System ausgebaut wird, das sich wiederum von der ideellen neu-platonischen Sublimierung der ordnenden Kraft der Liebe entfernt und in ein lebensweltliches, naturnahes Bild übersetzt wird;82 das ‚Elixier‘ der Inspiration erscheint naturalisiert im Bild des Giftes. Interessant und aussagekräftig für die innertextuellen Verbindungen im Werk ist, dass sich das Bild bereits im ersten Sonett an hervorgehobener Stelle und als Gift des Skorpiones findet und auch hier

78 Julius Ceasar (1995, 202); cf. auch Robert (2004, 114–115). 79 Robert (2004, 114). 80 Hanisch (1979, 58). 81 Ibid., 69. 82 Rigolot spricht in den Sonetten insgesamt von einem «chaos plus conforme au désarroi intérieur de l’amante éconduite: la théorie néo-platonicienne n’est plus qu’un horizon d’attente singulièrement déçu», Rigolot (1986, 25).

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schon Labés deutliches Übersteigen des petrarkistischen Motivkreises anzeigt. Über dieses aus der Mythologie entnommene Motiv erweitert Labé die Liebessituation des dulce malum um eine tragische und darin sehr lebendige Dimension, die dem gebildeten Leser aus den Heroiden, zum Beispiel der schon erwähnten Jason und Medea Geschichte, auf die Labé immer wieder in ihrem Werk anspielt, bekannt war.83 Diese tragische Note der Ausweglosigkeit lässt die dichterische Kraft der Autorin noch ingeniöser erscheinen, da diese allein in der Lage ist, ‚Gift in Inspiration zu verwandeln‘. Auch wenn der anaphorische Beginn der Verse der zweiten Strophe den wehklagenden elegischen Zustand der Liebenden unterstreicht, eröffnet das darauf folgende Terzett, dass der Zustand nur ein vorübergehender war und schließlich das Gift dazu da ist, den Empfänger ihrer Nachricht kampfesstark und widerstandskräftig, «frais84 en ses combats» zu machen: Depuis qu’Amour cruel empoisonna Premierement de son feu ma poitrine, Tousjours brulay de sa fureur divine, Qui un seul jour mon cœur n’abandonna. Quelque travail, dont assez me donna, Quelque menasse et procheine ruïne: Quelque penser de mort qui tout termine, De rien mon cœur ardent ne s’estonna. Tant plus qu’Amour nous vient fort assaillir, Plus il nous fait nos forces recueillir, Et toujours frais en ses combats fait estre: Mais ce n’est pas qu’en rien nous favorise, Cil qui les Dieus et les hommes mesprise: Mais pour plus fort contre les fors paroitre. (123)

Aus diesem Sonett tritt ein Bild der Dichterin hervor, die aktiv ihre Inspiration erwirbt und sich aus der Dichtung Kraft erarbeitet. Vor allem die Terzette machen Labés herausgehobene Stellung im Kampf gegen Amor deutlich: dieser favorisiert sie deshalb, um sich gewissermaßen mit einer gleichgesinnten («contre les fors» V. 14) zu messen, aber als Meisterin des «fureur divine» geht die Dichterin als inspirierte und aktive Frau «toujours frais» hervor, ja mehr noch: die Dichterin geht über ihre Schriften schließlich als Siegerin aus dem 83 Erwähnenswert ist in diesem Kontext auch das Ende der dritten Elegie, in der Labé ausdrücklich auf zwei tragische Heroinen (und deren tragisches Ende im Mythos) hinweist, die für ihre Kräuterkenntnisse bekannt waren, Oenone und Medea. 84 Die Maskulinendung des Adjektivs zeigt Labés Intention, über die Liebe im Allgemeinen und unabhängig vom Geschlecht Aussagen zu machen. Die poetische Gruppe ist nicht auf Frauen beschränkt, auch wenn die im Vorwort genannt empirische Gruppe den Männern in der Poesie gleichkommen will.

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Duell mit Amor hervor. Die Skorpionmetapher, die im ersten, auf Italienisch verfassten,85 Sonett zur Anwendung kommt, legt die gleiche Konklusion nahe: das Heilmittel «riparo» gegen das «velen du scorpio», welches die Sprecherin vergiftet hatte, kann ganz homöopathisch nur vom gleichen Tier «d’istesso animale» kommen. Und, obwohl sie ein Ende der Qual wünscht, bittet sie Amor doch explizit: «Non estingua el desir a me si caro / Che mancar non potrà ch’i‘ non mi muoia» (V. 13s.). Das Gift, das die Sprecherin von Amor erhält, ist Lebenselixier, ist die lebenswichtige poetische Inspiration für sie, allegorisch die Tinte, mit der sie ihr Werk niederschreibt. In jedem Teil und durch jede Gattung ihres Werkes setzt Labé anders und neu die Art ihrer Liebeserfahrung und die poetische Bewältigung in Szene: über eine Pluralisierung des Liebesdiskurses, eine Elegisierung des petrarkistischen Diskurses, eine Naturalisierung des neu-platonischen Diskurses. Immer wieder erscheint die Liebeserfahrung trotz des Leidens ‚positiviert‘, das Gefühl poetisch bewältigt, der Ruhm bereits erlangt; so auch innerhalb der höheren Gesellschaft Lyons in der zweiten Elegie und in einem intertextuellen Verweis auf eine berühmte Ode in der dritten Elegie, wo Innerlichkeit und Ruhm verquickt werden. Die zweite Elegie, ein Brief einer Liebenden an ihren Geliebten, der sie verlassen hat, klingt wie eine Ovid’sche Heroide. Nahe an der Ursprungsform der Elegie erkundet die Dichterin die Position der weiblichen Liebenden anders als im Sonett. Neben anderen bekannten und topischen Elementen der Elegie86 lotet Labé vor allem die Verbindung zwischen fiktiver Sprecherin und empirischer Autorperson aus – zum Beispiel über das «procédé si moderne du monologue intérieur».87 Labé inszeniert ihr Streben nach Ruhm außerdem in der Mitte ihres kulturellen Umfeldes und gleichzeitig in Abgrenzung zu diesem: im Vergleich mit ihrer potenziellen Rivalin lässt Labé nur Lob für sich selbst

85 Dem vom Bembo postulierten, italienischen modello di lingua folgend ist das Sonett auf Italienisch verfasst und herausgegeben: «Non havria Ulysse o qualunqu’altro mai / Più accorto fu, da quel divino aspetto / Pien di gratie, d’honor et di rispetto / Sperato qual i’ sento affanni e guai, / Pur, Amour, co i begli occhi tu fatt’hai / Tal piaga dentro al mio innocente petto, / Di cibo et di calor già tuo ricetto, / Che rimedio non v’è si tu n’el dai. / O sorte dura, che mi fa esser quale / Punta d’un Scorpio, et domandar riparo / Contr’el velen’ dall’istesso animale. / Chieggio li sol’ ancida questa noia, / Non estingua el desir a me si caro, / Che mancar non potrà ch’i’ non mi muoia» (121). 86 Zum Beispiel das servitium amoris gleich im Auftakt in V. 1–2: «D’un tel vouloir le serf point ne desire / la liberté [. . .]» oder in V. 45: «J’ai de tout temps vescu en son service» (111–112). 87 Rigolot (1986, 18); Die Imitation einer Heroide macht eine Sprecherin aus einer weiblichen Perspektive glaubwürdiger und legitimiert diese gewissermaßen literarisch. Cf. zu weiteren Implikationen der weiblichen Sprecherrolle in den Heroides Schneider (2007, 136–137).

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durchscheinen, während jene «A peine aura le renom d’estre telle, / Soit en beauté, vertu, grace et faconde, / Comme plusieurs gens savans par le monde / M’ont fait à tort, ce croy je, estre estimee» (Vv. 56s., 112). Die biographische Referenz wird im Folgenden noch über Ortsangaben aus dem Leben der empirischen Autorperson konkretisiert: «Mais qui pourra garder la renommee? / Non seulement en France suis flatee [. . .]» (Vv. 60s., 112). Die «gens savans», die «gens d’esprit» (V. 68, 112) oder die «grans Signeurs» (V. 75, 113) zollen ihr als Mitglieder der Hofgesellschaft die Meriten, über die Labé im Widmungsbrief gesprochen hat, und erfüllen so ihr poetisches Programm, der Ruhm ist erreicht. Die Elegie schließt mit einem nach dem Text stehenden Epigramm in Kapitälchen, das so gleichsam dauerhaft literarisch eingraviert erscheint.88 Ebenso dauerhaft erscheint die Liebe der Sprecherin in der dritten Elegie modelliert: «en moy il semble qu’il augmente / avec les temps et que plus me tourmente» (V. 83, 117). Die exzentrische Wendung dieser Verse, die direkt nach der Exegi monumentum-Passage89 situiert ist, bindet über den intertextuellen Verweis Ruhm an die Anwesenheit des «feu d’amour». Auch wenn der Ruhm in potentia «entièrement notre» ist, welcher «ne nous pourra être ôté ne par finesse de larron, ne force d’ennemis, ne longueur du temps» (41), so im Widmungsbrief, in actu ist der Ruhm ausschließlich ihr selbst zuzusprechen, dies wird in der dritten Elegie richtiggestellt: Le temps met fin aux hautes Pyramides, Le temps met fin aux fonteines humides: Il ne pardonne aux braves Colisees Il met à fin les viles plus prisees Finir aussi il a acoutumé Le feu d’amour tant soit il allumé: Mais, las! en moy il semble qu’il augmente Avec les temps et que plus me tourmente. (Vv. 77–84, 117).

Horaz entwirft am Anfang seiner berühmten Ode Exegi monumentum aere perennius90 ein negatives Bild, das die oft zermürbende Kraft der natürlichen

88 Einen Schriftzug in Kapitälchen mit ähnlichem Effekt platziert auch Ronsard in seinem Einleitungssonett der Amours de Cassandre. 89 Zur Wichtigkeit der Wiederentdeckung der Oden des Horaz in der Renaissance und spezifisch zu dieser Ode cf. Noyer-Weidner (1986, 354–364). 90 «Exegi monumentum aere perennius / regalique situ pyramidum altius, / quod non imber edax, non aquilo impotens / possit diruere aut innumerabilis / annorum series et fuga temporum. / non omnis moriar multaque pars mei / vitabit Libitinam: usque ego postera / crescam laude recens, dum Capitolium / scandet cum tacita virgine pontifex. / dicar, qua violens obstrepit Aufidus / et qua pauper aquae Daunus agrestium / regnavit populorum, ex humili potens, /

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Elemente, des Regens, des Windes und der fortschreitenden Zeit allgemein beschreibt. Letztere zerstört alles, alles außer das Werk und damit den Namen des Dichters, der durch und in seinem Ruhm zumindest «multaque pars» (V. 7) fortlebt und der sich, wenn die Muse es ihm zugesteht, in aller Bescheidenheit mit dem Lorbeer krönen lässt («Sume superbiam / quaesitam meritis et mihi Delphica / Lauro cinge, volens, Melpomene, comam» V. 14s.). Dieser Ruhm verweist deutlich auf die historische Umgebung des Horaz, das Augusteische Rom, das im positiven Bild des Kapitols und der «virgo tacita», Symbole der theokratischen Religion, «usque ego postera / crescam laude recens, dum Capitolium / scandet cum tacita virgine pontifex» (V. 7s.). So inszeniert sich Horaz als ruhmreicher Poet, indem er sein Werk an das Imperium, die römischen Ideale und die Konkretisierung der römischen Geschichte in der Figur des Augustus bindet, eine Figur, die nicht nur für sich selbst, sondern auch die Idee Roms und alle, die sie repräsentieren, ewigen Ruhm impliziert. Louise Labé nimmt das horazische Modell auf und bezieht damit bereits eine Aussage in ihren Text, die den Lesern der Renaissance bekannt gewesen ist. Indem Labé Bezug auf Horaz’ Ode und die Gattung der Ode91 allgemein nimmt, öffnet sie den Text auf eine höhere Gattung und bezieht thematisch einen größeren Horizont als die Liebe und die persönliche schmerzliche Situation ein. Eine Anspielung auf das Überdauern in der Zeit wäre unzweifelhaft auch mit dem Ovid’schen Modell der Tristien möglich gewesen, doch stilistisch erscheint der Gattungswechsel als deutlichere Markierung im Text, der dem Thema die nötige Dignität verleiht.

princeps Aeolium carmen ad Italos / deduxisse modos. sume superbiam / quaesitam meritis et mihi Delphica / lauro cinge volens, Melpomee, comam», Carm. III,30 (Horaz 1970, 106). «Hochauf schuf ich ein Mal dauernder noch als Erz, / Majestätischer als der Pyramiden Bau, / Das kein Regen zernagt, rasenden Nordens Wut / Nicht zu stürzen vermag, noch der Jahrhunderte / Unabsehbare Reihn oder der Zeit Flucht. / Nein, ich sterbe nicht ganz, über das Grab hinaus / Bleibt mein edleres Ich; und in der Nachwelt noch / Wächst mein Name, so lang als mit der schweigenden / Jungfrau zum Kapitol wandelt der Pontifex. / Wo der Aufidius wild braust und, an Quellen arm, / Einst ob ländlichem Volk Daunus geherrscht, wird man / Einmal sagen von mir: Niederer Geburt entstieg / Er, der erste, der Roms Weisen äolischen / Liedes Klänge verliehn. Nimm den erhabenen Preis, / Den mein Wirken verdient, winde, Melpomene, / Huldreich mir um das Haupt delphischen Lorbeerzweig!» (Horaz 1985, 171). 91 Die Ode ist traditionell zur Darstellung großer Themen gedacht und wird auch in der Renaissance, in Italien ähnlich zur Canzone von der Lyrik im strengen Sinne abgehoben; erst 1549 definiert Du Bellay die Ode als Gattung «qui doit élire le poëte françoys [et qui est] enrichi et illustré de mots propres et d’epithetes non oyzifs, orné de graves sentences» (Rouget 1994, 33); im Laufe des 16. Jahrhunderts verschmelzen die Begriffe dann. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass Labés Werk im «Privilège du Roi» als Ensemble des «Dialogue de Folie et d’Amour» sowie von «plusieurs Sonnets, Odes et Epistres» angekündigt wird (37). Cf. zur Gattung der Ode Huss/Regn/Mehltretter (2012, 203–205).

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Im Verlauf der Verse wird aber klar, dass die Stilhöhe der Ode nicht gehalten werden kann, die Syntax ist vereinfacht im Sinne der elegischen simplesse, sie erscheint weniger elegant als pathetisch und insistent, wie es bereits weiter oben einmal gezeigt wurde, indem zum Beispiel negative Bilder vermieden werden und direktere Verben bevorzugt werden, «mettre fin», «finir» vs. «augmenter», welche wiederholt in multiplen Anaphern eingesetzt sind. Durch diese iterative, fast penetrante Struktur soll der Leser gleichsam erwarten, dass nun antithetisch Amor der Zerstörung, der Vernichtung durch die Zeit widerstehen wird, doch Labé steigert den Effekt der Schlusswendung noch dadurch, dass auch das Liebesfeuer den Naturgewalten banal zum Opfer fällt (V. 81/82). Spätestens hier wird der Diskurs gänzlich wieder zu einem narrativ-elegischen gemacht. Die exzentrische und sehr personalisierte Wendung (V. 83/84), die folgt, sticht durch eine Häufung von verba dubitandi, «accoutumer», «sembler» und den Ausruf «las» (V. 83) hervor und hebt vor allem die dauerhaft gequälte Innerlichkeit der Sprecherin hervor, die als einzige betroffen erscheint: «en moy» (V. 82) ist auffällig mittig im Vers positioniert und weder Liebe noch Amor noch der Ruhm sind über die zwei Verse hinweg erwähnt, einzig die quälende Innerlichkeit ist Thema. Die offizielle Seite des Horaz ist bei Louise Labé in eine erzählend-erinnernde Innerlichkeit gewendet, wodurch das Zutun der Gesellschaft oder des zeitgenössischen Kulturprogrammes am Ruhm der Dichterin zurückgedrängt wird zugunsten einer intimen Kommunikation der Seele, die pathetisiert ewige Gültigkeit bewahrt: «en établissant l’actualité d’une voix qui parle le langage de toujours».92

5 Die ,Modernität‘ der Louise Labé In einem Widmungsbrief erschafft die Autorin eine Gruppe von kulturell arrivierten und literarisch gebildeten Damen, die darüber hinaus durch eine spezifische positivierende Wendung des «plaisir» geeint ist. Dennoch ist die Gemeinschaft nicht ausschließlich genderspezifisch konzipiert, sie ist vielmehr Teil einer größeren kulturellen Gemeinschaft, die in Form der lyonaiser Gesellschaft nur dazu in Szene gesetzt scheint, um dem Werk Ehre zu zollen, so wie dies neben dem Brief verschiedene Paratexte tun, wie zum Beispiel das «Privilège du Roi», sowie weitere Texte aus männlicher Feder «à la louenge de Louise Labé», welche sie als «dixième des Muses» (153) benennen oder ihr als «Sapho

92 Rigolot (1986, 21).

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lyonnaise»93 den Ruhm zusprechen, die verlorenen Oden der Sappho für immer wiedergebracht zu haben, «[de] nous les rend[re] pour toujours» (153). Die Gemeinschaft der Labé ist demnach als expansive und werkintern expandierende Gemeinschaft konzipiert: die Gruppe der Damen wird größer, wird zur literarischen und gebildeten Gemeinschaft, um sich schließlich über die Empfängerin des Widmungsbriefes sowie den das Privileg signierenden König selbst auf die Noblesse auszuweiten und die Autoritäten der Gesellschaft und der Institutionen zu umfassen. Indem sie als geehrtes Mitglied dieser Gemeinschaft auftritt, schreibt Labé sich bereits werkintern den Ruhm zu, den sie im Widmungsbrief als grundsätzliches poetisches Ziel (der dichtenden Gruppe) nennt. Gleichzeitig setzt sie sich im Inneren ihrer Gedichte singularisierend von dieser Gruppe ab, wenn der Ruhm nicht mehr allgemeines poetisches Ziel ist, sondern Ruhm und Erfolg nur durch die Individualität und Singularität der Autorin selbst erreichbar erscheinen und auch nur von dieser erreicht werden. Um die Maßgaben der von ihr evozierten und sich selbst genügenden ,Seelengemeinschaft‘ zu erfüllen, legt Louise Labé einen besonderen Fokus auf die elegische Tradition. Durch deren Reaktualisierung stellt sie die eigene Singularität sowohl als Dichterin wie auch als Liebende aus. Hervorzuheben ist hier, dass die Interiorität der Labé nicht in erster Linie durch den weiblichen Diskurs geprägt ist oder in diesem aufgeht, sondern die Innerlichkeit über eine individuelle Ausgestaltung und Überwindung der rein topischen Gattungsmerkmale der literarischen Traditionen des Petrarkismus und der Elegie an Intensität und Vitalität erfährt. Es ist allein die von ihr niedergeschriebene und publizierte Liebeserfahrung, das «plaisir des sentiments», das in ihrer Konzeption («conception») zum «plaisir de lecture» führt. Immer wieder muss daher das «plaisir» oder das «veleno» inszeniert werden, um zu neuem «riparo» zu führen. Es scheint als finde sich die Folie des Débats in der Autorperson als «deraison d’aimer» wieder, um sich als «raison d’en parler»94 sichtbar zu machen. So fragt Labé am Ende der dritten Elegie nach dem horazischen ExegiAnklang, «S’estant aiymé on peut Amour laisser / N’est-il raison, ne l’estant, se lasser? / N’est il raison te prier de permettre, / Amour, que puisse à mes tourments fin mettre?» (91–94, 117), ob es also vernünftig wäre, die Liebe zu beenden. Die Frage bleibt offen, den Elegien folgen die Sonette, die ein «chaos plus conforme au désarroi intérieur de l’amante»95 aufweisen. Passionale Unordnung, so scheint es, muss aufrechterhalten bleiben und liest man sie als Gegenpart

93 Ibid., 20. 94 Ibid., 17. 95 Ibid., 25.

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der nicht eingelösten «raison» als «délectation dans le chaos de désir», wie Labé sie eben im Débat diskutiert und wie sie dort von Rigolot als grundsätzliche Neugier und Wissenslust der Menschen gelesen wird und der «recherche de l’absolu de la possession»96 gegenübergestellt ist, so kann sie als die epistemische Herausforderung der Renaissance betrachtet werden, die den Kampf der Kontingenzen mit der Ordnung im Sinne eines «chaotisierten analogischen Diskurses»97 durchspielt und die Problematik der Kontingenzen, die der humanistischen libido sciendi98 folgen, ausstellt. Autorität erlangt Labé innerhalb dessen über eine souveräne Beherrschung pluralisierter Liebesdiskurse und Gattungsschemata, im Changieren zwischen chaotischem und geordnetem Diskurs; vor allem aber ist es ihre Modellierung des ‚plaisir‘, welche Petrarcas epochale Fokussierung literarischer Individualität eine wesentliche Stufe vorantreibt und auf diese Weise ihre ,Modernität‘, ihre – von den übrigen Petrarkisten sehr verschiedene – Fortüne weit über die Frühe Neuzeit hinaus und bis in unsere Tage hinein begründen dürfte.

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96 Beide Zitate ibid., 13. 97 Küpper (1990, 21). 98 Als solche wird die «Folie» von Rigolot im Débat gedeutet, cf. Rigolot (1986, 13).

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Idee der Lyrik und Poetik der Lust Der autocommento von Torquato Tassos rime amorose als Instrument der Selbstkanonisierung Seit den späten achtziger Jahren des Cinquecento forcierte Tasso, um dessen Gesundheit es nicht zum Besten stand, aus Furcht vor dem baldigen Ende die Bemühungen, seine Werke in einer von ihm selbst verantworteten Druckfassung auf den Markt zu bringen.1 Der Wille zur Sicherung des literarischen Vermächtnisses schloss erwartungsgemäß die eigene Lyrik ein, aus deren umfangreichem Bestand er eine repräsentative Auswahl von Liebesgedichten, höfischer Enkomiastik und geistlicher Lyrik zusammenstellen wollte. 1591 erschien auf Betreiben des Autors bei Osanna in Mantua die Parte prima der Rime, ein zyklisch gefügter und 180 Texte zählender canzoniere aus Liebesgedichten, von dem schon ein Jahr später, also 1592, bei Marchetti in Brescia ein Nachdruck erschien.2 Beide Drucke sind mit einem Kommentar aus der Feder des Autors versehen, so dass ihre Aufmachung schon rein äußerlich zu erkennen gibt, worum es Tasso ging. Indem er sich als kommentarwürdiger Dichter präsentiert, erhebt er Anspruch auf klassische Geltung – er will mithin als ein Klassiker der Lyrik wahr-

1 «Sono, per la mia opinione, vicino a la morte; e muoio sconsolato, non avendo potuto conchiudere il negozio de le stampe» (Brief an Fabio Gonzaga vom 21.09.1590), Tasso (1854–1855, hier vol. 5, Nr. 1280). 2 Die Marchetti-Ausgabe von 1592 wies, wie schon der Osanna-Druck, zahlreiche Fehler auf, die Tasso letztlich veranlassten, sich ein weiteres Mal, wenn auch ohne Erfolg, nach einem neuen Verleger umzusehen. Gleichwohl hat Marchetti in Tassos Plänen ursprünglich eine bedeutsame Rolle gespielt, denn bei ihm erschien 1593 eine vom Autor selbst kommentierte Parte seconda, die aus höfischem Frauenlob bestand und somit den zweiten Schritt des (vierteiligen) Editionsvorhabens realisierte. Der beigefügte autocommento ist ein Indiz, dass Marchetti nicht auf eigene Faust gehandelt hat, sondern dass ihm der Autor die Druckvorlage hat zukommen lassen. Die Kommentierung bricht freilich in der Mitte des Bandes ab, ohne dass wir sagen könnten, warum. Jedenfalls markiert die unvollständige Edition der Parte seconda auch das Scheitern des Gesamtprojektes. Weder ist in den verbleibenden beiden Lebensjahren – Tasso starb 1595 – ein korrigierter Nachdruck der Parte prima erschienen, noch wurde die Parte seconda mit einem vollständigen Kommentar publiziert, und auch die noch fehlenden Teile – die Enkomia der uomini illustri und die cose sacre – konnten nicht mehr realisiert werden. Zur Druckgeschichte der Rime im Allgemeinen und der Rime d’amore im Besonderen cf. zuletzt Vania de Maldé, «Nota al testo», in der von ihr (im Rahmen der Edizione nazionale delle opere di Torquato Tasso) besorgten kritischen Ausgabe der Parte prima, Tasso (2016, IX–XCIX). https://doi.org/10.1515/9783110686609-010

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genommen werden, der aufgrund seiner Vortrefflichkeit ein auf Dauer gestelltes Ansehen reklamieren darf.3 Vortrefflich ist ein Lyriker für Tasso dann, wenn er sich der ‚Idee‘ der Gattung in bestmöglicher Weise annähert. Was unter der ,Idee‘ der Lyrik zu verstehen sei, hat unser Autor in seinen dichtungstheoretischen Schriften dargelegt. ,Gattungsideen‘ sind für Tasso gattungsspezifische Idealformen. Diese sind seiner Auffassung nach keine präexistenten Ideen, die nach gängiger (neu)platonischer Ansicht ihren Sitz in der mens divina haben, sondern exemplarische Formen universalistischen Zuschnitts, deren Ort die menschliche Seele ist – den gedanklichen Referenzhorizont dieser gattungstheoretischen Überlegungen bilden die Schriften der platonisierenden Aristoteles-Kommentatoren der Spätantike, unter denen Tasso vor allem Syrian als verbindliche Autorität herausgreift.4 Was bedeutet dies für die ,Idee‘ des Lyrischen? Zunächst einmal charakterisiert Tasso die idealtypischen Vorstellungen, die er zur Grundlage der Gattung erklärt, als innerseelische Bilder,5 deren semantisches Strahlungsfeld mit Begriffen wie dolce, soave, ridente, vago, bello oder piacevole umrissen wird und die in erster Linie vermittels des Rückgriffs auf jenes Stilregister versprachlicht werden, das der späthellenistische Rhetoriker Pseudo-Demetrios6 als charaktèr glaphyrós bestimmt7 – der charaktèr glaphyrós entspricht im Wesentlichen der ciceronianischen forma ornata. Die concetti des Lyrikers sind vorzüglich mit dem Lustvoll-Gefälligen verbunden und privilegieren deshalb bei aller thematischen Offenheit die damit bevorzugt verknüpfbaren Themen und Motive. Tasso hebt in direkter Anlehnung an Pseudo-Demetrios’ Perí hermeneías «gli amori, e le liete selve, e i giardini e l’altre cose somiglianti»8 hervor. Das Gefällige und alles, was dazu gehört, bilden also den konzeptionellen Kern des Lyrischen, das zu seiner Vervollkommnung gleichwohl einer maßvollen Beimischung

3 Eine detaillierte Analyse der Parte prima gibt Regn (1987). Die kritische Literatur zum autocommento ist sehr übersichtlich – erwähnenswert sind vor allem Basile (1972, 25–47); De Maldé (2008, 239–250); Martignone (2012, 399–406). 4 Cf. bes. Il Ficino overo de l’arte, in: Tasso 1965, 384. 5 Tasso, der sich hier vor allem auf Aristoteles’ De anima bezieht, bezeichnet die innerseelischen Bilder als concetti: «Ma le parole sono l’imagini de’ concetti, i quali sono ne l’animo nostro, come dice Aristotele; e i concetti [sono imagini] de le cose che sono fuori dell’intelletto» (Discorsi del poema eroico, in: Tasso 1977, 306). 6 Wie in der Renaissance üblich identifiziert Tasso den spätantiken Autor von Perí hermeneías mit dem athenischen Orator Demetrios von Phaleron (zirka 350–280 v. Chr.). 7 Tasso hat Pseudo-Demetrios’ Perí hermeneías in der Vermittlung durch Vettori rezipiert: Pietro Vettoris lateinische Übersetzung des griechischen Traktats ist von 1552, seine Commentarii in librum Demetrii Phalerei de elocutione von 1562. 8 Discorsi del poema eroico, in: Tasso 1977, 338.

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von Würde bedarf: Tasso strebt ein wohldosiertes Zusammenspiel von piacevolezza und gravità an.9 Damit adaptiert er für seine Zwecke die rinascimentale Vorstellung von klassischer Perfektion, die Jahrzehnte zuvor Bembo unter impliziter Berufung auf stiltheoretische Positionen der römischen Klassik in Umlauf gebracht hatte, um Petrarcas Status als normative Instanz der poetischen Sprache zu begründen.10 Nach Tassos Einschätzung hat kein anderer Dichter dem Idealtyp der Lyrik besser entsprochen als Petrarca. Mit diesem Urteil bekräftigt Tasso das in der italienischen Renaissance weit verbreitete Petrarca-Bild, das die absolute ,Erstklassigkeit‘ des Laura-Dichters gerade auch im Vergleich mit den großen Lyrikern der Antike herausstellt: Während Vergil der beste Epiker sei, übertreffe Petrarca alle Lyriker einschließlich der antiken.11 In diesem Sinn hatte schon 1533 Gesualdo festgehalten, dass Petrarca alle kanonisierten Größen der Gattung hinter sich gelassen habe, und zwar sogar Pindar, über den Horaz ja gesagt habe, dass er unnachahmbar sei. Deshalb könne er, also Gesualdo, festhalten: «né greco né latino poeta ho letto [. . .] ch’al giudicio mio agguagliarse gli possa».12 Mit Petrarca wird somit nicht nur der antike Kanon ergänzt, sondern der volkssprachliche Lyriker wird sogar allen Dichtern der Antike vorangestellt, die sich in dieser Gattung ausgezeichnet haben. Wenn Petrarca solcherart zum Klassiker der Lyrik erhoben wird, dann geschieht dies unter der Prämisse eines Traditionszusammenhanges mit der Antike, dessen sichtbarster Ausdruck die meisterhafte (und deshalb auch auf Überbietung abzielende) Nachahmung der Alten ist. Die Kanonisierung Petrarcas zum Klassiker hat unter anderem die Konsequenz, dass er editorisch als solcher behandelt wird. So nimmt der humanistisch gesinnte Verleger Aldo Romano den volkssprachlichen Petrarca, und hier wiederum vor allem die Rerum vulgarium fragmenta, in seine neu gegründete Reihe der enchiridia auf, deren Kernbestand aus antiken Klassikern besteht; weit wichtiger ist freilich, dass, nach einigen Präludien im späten 15. Jahrhundert, im Cinquecento eine wahre Flut von kommentierten Ausgaben der petrarkischen Lyrik auf den Buchmarkt kommt, die in der Regel mehr oder minder deutliche Filiationen zu jener humanistischen Editions- und Kommentarpraxis 9 Die beiden Begriffe verwendet Tasso in direkter Anlehnung an Bembos Prose della volgar lingua in La Cavaletta overo della poesia toscana (Opere. Vol. 5, 106). 10 Zu Tassos Theorie der Lyrik einschließlich ihrer philosophischen Voraussetzungen cf. Huss/Mehltretter/Regn (2012, 102–129, Kapitel «Tassos Kompromisse: Pluralisierte Stiltheorie im Kontext mimetischer Poetik»). 11 «Virgilio superò tutti i poeti eroici di gravità, il Petrarca tutti gli antichi lirici di vaghezza» (Discorsi del poema eroico, in: Tasso 1977, 342–343). Vaghezza fungiert im Kontext des TassoZitats als pars pro toto der ,Idee‘ des Lyrischen. 12 Gesualdo (1533, f. c.3v).

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aufweisen, die für die Druckausgaben antiker Klassiker charakteristisch ist.13 Bereits die buchtechnische Präsentation von Petrarcas Lyrik ist somit ein Signal, dass der Autor der Rerum vulgarium fragmenta den Rang eines Klassikers zugesprochen erhält. Exakt an diesem Punkt setzt Tasso an, um sichtbar zu machen, dass auch er für die eigene Person den Status eines kanonischen Lyrikers reklamiert: Tasso bringt seine Lyrik nämlich in Form einer kommentierten Ausgabe auf den Markt. Der Unterschied zum Kasus von Petrarca liegt dabei auf der Hand. Bei Tasso erfolgt die Zuschreibung von dichterischer Geltungsmacht qua Kommentierung nicht ex post durch einen humanistisch geprägten Gelehrten, der als anerkannte Autorität seines Faches über Autorisierungskompetenz verfügt, sondern sie ist konstitutiver Teil eines auktorialen self-fashioning: Mit einer Geste der Selbstautorisierung meldet Tasso (noch entschiedener als dies in der Antike schon Horaz getan hatte)14 einen Geltungsanspruch als Klassiker der Lyrik an, den das Lesepublikum erst noch sanktionieren muss, damit der erstrebte Nachruhm sichergestellt werden kann. Die Parte prima von Tassos Rime ist also wie die meisten der großen PetrarcaDrucke des Cinquecento eine kommentierte Ausgabe. Die bedeutenden PetrarcaEditionen, in denen die humanistische Philologie sichtbare Spuren hinterlassen hat, haben in der Regel eine zweigliedrige Struktur aus Text und Kommentar.15 Sowohl die Osanna-Ausgabe als auch der von Marchetti besorgte Nachdruck weisen jedoch eine andere Gestalt auf. Statt Zweigliedrigkeit liegt dort eine dreischichtige Struktur vor, weil den Gedichten jeweils ein Argumentum (it. argomento) vorangestellt ist, welches das Gedichtthema umreißt, um gemäß der rhetorischen Maxime des attentum facere den Leser zu orientieren und so seine Aufmerksamkeit zu binden.16 Die Gedichte sind also zwischen vorangestellte argomenti und nachfolgende Kommentare eingepasst.17 Die esposizione dello stesso autore ist wie zu erwarten

13 Zum (komplexen) Bezug der rinascimentalen Petrarca-Editionen zum humanistischen Kommentarwesen cf. grundlegend Belloni (1992). 14 Der Schluss des an Maecenas adressierten Widmungsgedichtes der drei Odenbücher ist weniger eine bloß hoffnungsfrohe Erwartung auf Kanonisierung durch den Gönner, als vielmehr ein elegant formulierter Anspruch: «Quodsi me lyricis vatibus inseres / Sublimi feriam sidera vertice» (Horaz 1985, Carm I,1.35–36). 15 Wobei in der Regel die Kommentare die poetischen Texte, auf die sie sich beziehen, gleichsam umschließen: dem links (gegebenenfalls auch rechts) auf der Druckseite platzierten Text ist spiegelbildlich der Kommentar gegenübergestellt, der, sobald das Ende des Textes erreicht ist, unter diesem fortgesetzt wird, dann über die ganze Seite hinweg. 16 Die argomenti waren ein geläufiges Strukturmerkmal der Epik-Ausgaben, in der Lyrik gewannen sie vor allem im letzten Drittel des Cinquecento zunehmend an Bedeutung. 17 Cf. die Beschreibung der Editio princeps in De Maldé (2016), «Nota al testo», XXI. Ibid. der Hinweis auf die Unregelmäßigkeiten, die sich im Zug der Drucklegung eingestellt haben: «I testi

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als Stellenkommentar angelegt, der hauptsächlich aus Sinnparaphrasen, Sacherklärungen und Erläuterungen zum ,philosophischen‘ Gehalt (Liebestheorie, Metaphysik, Ethik und anderes mehr) besteht und der, last but not least, die Verweise auf die relevanten literarischen, philosophischen, theologischen und anderweitigen Autoritäten auflistet, die zur Erklärung der Gedichte herangezogen werden. Tassos Kommentarpraxis ist ersichtlich humanistisch geprägt und gibt in dieser Prägung klar zu erkennen, dass er mit seinem autocommento einen Kontrapunkt zu jener mittelalterlichen Form der Selbstexegese setzt, die Dante in den ragioni der Vita nova exerziert.18 Diese Dreigliedrigkeit, also die Einpassung der Gedichte zwischen argomento und esposizione ist, wie eben erwähnt, in den kommentierten PetrarcaAusgaben eigentlich unüblich, doch gänzlich unbekannt ist sie nicht. Es gibt dafür ein Beispiel, und dieses ist nicht nur von beträchtlicher Prominenz, sondern es steht auch in einem direkten Zusammenhang mit Tassos Vorhaben, seiner Liebeslyrik eine repräsentative Gestalt zu geben. Die Rede ist von Le Rime del Petrarca brevemente sposte per Lodovico Castelvetro, die, anders als der fast schon ironisch anmutende Titel suggeriert, ein ebenso anspruchsvolles wie voluminöses Unterfangen sind – allein die beiden dem Canzoniere gewidmeten Teile zählen 622 Seiten.19 Castelvetro war nicht nur einer der ganz Großen der Renaissance-Philologie. Seine ambitionierte Petrarca-Edition, in der, wie schon angedeutet, die Gedichte zwischen Argument und Kommentar eingefügt sind, wurde erstmals 1582, also postum,20 in Basel gedruckt und war damit die letzte

poetici si dispongono uno per pagina nella prima sezione (per un totale di quattro testi e quattro esposizioni a fascicolo), quindi, a partire da p. 65, gli spazi sono contratti e i testi sono divisi solo da una linea o da un fregio dal Commento che immediatamente precede». In der MarchettiAusgabe wird der einmal gewählte Präsentationsmodus dagegen durchgängig bis zum Ende beibehalten, ist aber in der drucktechnischen Ausgestaltung weniger aufwändig als im OsannaDruck. 18 Und die auch noch für Lorenzo de’ Medicis Selbstkommentar prägend war. Diesen hat Tasso gekannt, wie sein Kommentar zu Fra mille strali onde Fortuna impiaga (R LVIII) belegt: «,Nè fra ben mille colpi il suo discerne‘: non può creder ch’uno sventurato sia amante. Concetto assai simile a questo si legge ne l’Interpretatione del Sig[nor] LORENZO DE’ MEDICI» (C LVIII, 11). Tassos Rime sind hier und in Folge zitiert als Tasso (2016); die Sigle R bezeichnet die Rime des Osanna-Drucks, die römische Ziffer die Gedichtnummer, die arabische(n) Ziffer (n) die Verszahl(en); die Sigle C bezeichnet den Selbstkommentar, die römischen Ziffern die respektive Nummer des kommentierten Gedichts, die arabischen Ziffern den zitierten Paragraphen in der Zählung der kritischen Ausgabe). 19 Den dritten Teil bilden die Trionfi samt Kommentar. Die Ausgabe wurde in Basel bei Pietro de Sedabonis gedruckt. 20 Castelvetro starb 1571. Der Kommentar, der auf Castelvetros öffentliche Petrarca-Vorlesungen zurückgeht, ist vermutlich zwischen 1545 und 1556 entstanden, cf. Sozzi (1974, 536).

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der großen kommentierten Petrarca-Ausgaben auf dem Buchmarkt des Cinquecento. Sie stellte zu der Zeit, als Tasso sich daran machte, seine Lyrik mit Blick auf eine Kanonisierung seiner selbst neu herauszubringen, den aktuellsten unter den kommentierten Petrarca-Drucken dar. Eben diesen brandaktuellen Petrarca kannte Tasso bestens. Davon zeugt das Exemplar aus seinem Besitz, das er während der Vorbereitung seiner eigenen Lyrik-Edition durchgearbeitet und mit einem dichten Netz von Anmerkungen überzogen hat.21 Mittels des Erscheinungsbilds seiner Parte prima, in der die Gedichte von vorangestellten argomenti und nachfolgenden sposizioni gerahmt werden, kommuniziert Tasso ein Nahverhältnis zur rezentesten unter den wichtigen kommentierten Petrarca-Ausgaben der Renaissance. Indem Tasso sich für die Präsentation seiner Lyrik Castelvetros Petrarca zum Modell nimmt, gibt er demonstrativ zu verstehen, dass der Laura-Dichter auch noch gegen Ende des Cinquecento als unbestrittener Klassiker auf dem Buchmarkt zirkuliert. Gleichzeitig signalisiert er, dass der aktualitätsbasierte Anschluss an Petrarca ein wirkungsvolles Instrument für das eigene self-fashioning als neuer Klassiker ist. In Castelvetros Petrarca-Kommentar fällt, wie in allen Klassiker-Kommentaren, der Ausleuchtung der Intertextualitätsbezüge eine herausragende Rolle zu. Auch bei Tasso, der so unübersehbar auf Castelvetros Petrarca-Ausgabe Bezug nimmt, ist dies nicht anders. Im Selbstkommentar verweist Tasso auf eine Fülle von Autoren, denen in der Regel ein Autoritätsstatus zuerkannt wird. Es handelt sich um Gelehrte aller Art, insbesondere Theologen und Philosophen, vor allem aber um Dichter. Die Referenzen sind gelegentlich generischer Art («come dice PLATONE», C LV, 5), öfter zielen sie auf spezifische Werke («come dice ARISTOTELE nel terzo de l’Ethica», C XCV, 9), in den allermeisten Fällen aber handelt es sich um Zitate («e imita Monsig[nor] della Casa: ,come alpeste selce / che per vento e per pioggia asprezza cresce‘», C IV, 7–8)22, die aus wenigen Worten, ein bis zwei Versen und manchmal sogar aus noch weit umfangreicheren Gedichtpartien bestehen können.23 Die Autoren, auf die Tasso Bezug nimmt, sind zahlreich, einige werden nur ein- oder zweimal erwähnt, andere fünf- bis zehnmal, wenige öfter. Zu diesen wenigen, die häufiger genannt bzw. zitiert sind, zählen Bembo (16mal), Dante (37mal), Plato (38mal), Aristoteles (45mal) und Vergil (48mal). Doch einer überragt alle um Längen, und das ist, wenig überraschend, Petrarca. Er wird insgesamt 177mal genannt, und zwar fast ausschließlich in Zitatform. Hervorzuheben ist dabei, dass er

21 Cf. Regn (1975, 76–77), sowie Baldassarri (1975, 25–74). 22 Zitat aus Giovanni della Casa (1978, XLI, 13–14). 23 Cf. etwa die längeren (auf Griechisch zitierten) Fragmente Sapphos und Anakreons in C XXIX, 9 und C LXXXIV, 1–2. Cf. dazu auch Basile (1972, 26–28 und 43–44).

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hauptsächlich als Lyriker ins Feld geführt wird, nämlich mit 158 Nennungen oder Zitaten. Dante dagegen ist fast ausschließlich als Dichter der Commedia präsent,24 und Vergil erscheint im autocommento vor allem als Autor der Aeneis. Aus dem eben Gesagten ergibt sich, dass Petrarca auch die Riege der Lyriker anführt, weit abgeschlagen folgen Bembo (16mal), Della Casa (14mal), Horaz (9mal), Catull (7mal), Anakreon (6mal), und Pindar (5mal). Weitere Lyriker25 wie der Ovid der Amores, Tibull, Stesichoros, Simonides, Sappho, Moschos, Navagiero oder Cotta tauchen nur ein- bis zweimal auf. Der Lyriker, der mit der Häufigkeit seiner Nennung alle anderen deklassiert, ist also Petrarca. Der statistische Überblick26 zeigt damit, dass Tassos Selbstkommentar, der ja, ohne dies ausdrücklich zu sagen, die eigene Vortrefflichkeit demonstrieren will, ohne eine massive Bezugnahme auf den eminentesten Repräsentanten der Gattung nicht auskommt. Wie sehr der Abgleich mit Petrarca dem eigenen self-fashioning als Klassiker der Liebeslyrik dient, mag ein kleines Beispiel illustrieren. Zum Incipit des Sonetts Re degli altri superbo altero fiume (R LXXIV, 1) vermerkt der Kommentar zunächst einmal das für den zeitgenössischen Leser Offensichtliche, nämlich dass der Auftaktvers von Tassos Sonnet ein wortwörtliches Petrarca-Zitat aus den Rerum vulgarium fragmenta 180 (Po, ben puo’ tu portartene la scorza) ist, wo er als Anfangsvers des Sextetts figuriert – der fragliche PetrarcaVers wurde im Cinquecento ja oft nachgeahmt, unter anderem von Pietro Bembo, der damals als größte Autorität des italienischen Petrarkismus galt und deshalb übrigens auch, wie gerade gesehen, eine überdurchschnittliche Präsenz im autocommento eingeräumt erhält. Wie Bembo verschiebt Tasso Petrarcas Vers in die prominente Gedichtanfangsposition, doch anders als sein Vorgänger zitiert er wörtlich und unter Beibehaltung der Referenz – bei ihm geht es wie bei Petrarca um den Po –, während bei Bembo der Fluss zum Berg wird, mit dem der Apennin gemeint ist: Re degli altri superbo altero monte (Bembo, Rime XXII, 1).27 Was bezweckt Tasso mit seiner Petrarca-Treue, die aus seiner Sicht zugleich eine faktische Bembo-Korrektur ist? Er möchte, anders als Bembo dies kann, sichtbar machen, dass Petrarca, gerade weil er so formuliert wie er es tut, als veritabler Klassiker spricht, in dessen Nachfolge er sich selbst gestellt sehen will. Denn der

24 Der lyrische Dante wird nur zweimal erwähnt. 25 Lyriker gemäß Tassos Lyriktheorie, cf. dazu auch weiter unten. 26 Meine Statistik weicht aufgrund einer etwas anderen Methodik in ihren Ergebnissen geringfügig von den Resultaten ab, die dem Autoren- und Zitatindex der kritischen Ausgabe zu entnehmen sind (cf. «Indice II: Indice dei nomi propri e mitologici, dei toponimi, degli autori e dei luoghi letterari citati nel Commento», in: Rime, 373–382). 27 Zur Petrarca-Nachahmung in Bembos Sonett, die ihrerseits auf eine ruhmbezogene Selbstautorisierung abhebt, cf. im Einzelnen Regn (2004, 95–125).

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Selbstkommentar expliziert, dass, anders als bei Bembo, das Petrarca-Zitat zugleich Zitat eines antiken Klassikers ist, und zwar von Georgica I, 482: «Re de gli altri, superbo altero fiume: Parla al Pò, cominciando da un de’ versi del Petrarca, ad imitatione nondimeno di Vergilio, il qual disse: ,Fluviorum rex Eridanus‘» (C LXXIV, 1). Die Doppelung der Klassiker-Referenz ist Programm. Der Kommentator möchte auf diese Weise deutlich machen, dass der kommentierte Dichter, also er selbst, in die Reihe der kanonischen Autoren einzuordnen ist, die über den volkssprachlichen Petrarca28 bis zu den Alten zurückreicht.29 Im Einklang damit achtet auch der Selbstkommentar in seiner Gänze sorgsam darauf, dass die durchgängige Präsenz, die er dem volkssprachlichen Petrarca als höchster Autorität der Lyrik einräumt, stets durch ausreichende Verweise auf prominente Lyriker der Antike ergänzt wird. Erwähnt werden mit Pindar, Stesichoros, Simonides, Sappho und Anakreon immerhin fünf der neun lyrikoí, die schon in der Antike den griechischen Gattungskanon bildeten, ebenso wie Horaz, der für sich den Anspruch erhoben hatte, als latinischer Dichter in die Reihe der kanonischen griechischen Lyriker aufgenommen zu werden.30 Horaz’ Geste der Selbstautorisierung als kanonischer Lyriker hat sich Tasso offensichtlich zum Vorbild genommen, und so erstaunt es nicht, dass er diesen für ihn so wichtigen Lyriker häufiger zitiert als alle anderen antiken Vertreter der Gattung.31 Wenn in diesem Zusammenhang auch Ovid, Tibull und Catull in die Riege der Lyriker eingereiht werden, dann erklärt sich dies aus Tassos Lyrikbegriff – für unseren Autor war es eine Selbstverständlichkeit, Elegiker und Neoteriker als Vertreter des lyrischen Genres zu betrachten, für das sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts ein zunehmend ausgeweiteter Gattungsbegriff durchgesetzt hatte.32

28 Und seine Nachfolger. 29 Cf. C XII, 3b; C XVIII, 1–2; C XIX, 9–10; C XXIII, 7; C XXVI, 6; C XLVIII, 9a; C XLIX, 10b-11; C LXIV, 1a; C LXII, 3–4a; C LXXVII, 3b-4; C XCVII, 1–14; C CXI, 9; C CXXV, 10. 30 Zur Ausbildung des lyrischen Kanons in der griechischen Antike und zum Kanonisierungsanspruch des Horaz cf. Primavesi (2008, 16–17 und 26–28). 31 Der Lyriker Horaz wird, wie schon gesagt, neunmal erwähnt oder zitiert. Tasso verweist im Rahmen seiner Horaz-Zitate auch auf Carm I,1 wo Horaz seinen Anspruch äußert, in die Reihe der kanonischen Lyriker aufgenommen zu werden (cf. C XXI, 8). Ein Spezialfall ist der Vergil der Bucolica, auf den Tasso elfmal verweist. Allein neun dieser Nennungen entfallen auf den Kommentar zu einem einzigen Text, nämlich den bukolisch konzipierten Madrigalkranz Vaghe Ninfe del Po (C CXVII). Tasso hat die Bukolik der Tendenz nach als eigenständiges Genre betrachtet, freilich als eines mit engen Filiationen zur Lyrik – insofern betrachtet Tasso den Vergil der Bucolica als eine Autorität, auf die man sich auch in Belangen des genere lirico berufen kann. 32 Zur Ausweitung des Lyrikbegriffs durch Einschluss der Elegie cf. Huss/Mehltretter/Regn (2012, 8–12). Im Vorwort der stampa von 1591, das Osanna an die Leser richtet, und das seit

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Um sich selbst als einen bedeutenden Lyriker präsentieren zu können, muss Tasso sich also in die Reihe der «erstklassischen»33 Repräsentanten der Gattung einfügen, die vom modernen Klassiker Petrarca bis zu den antiken Größen des Genres zurückreicht. Die Voraussetzung dafür ist wiederum die Demonstration eines ausgeprägten Nahverhältnisses durch den Aufweis der imitatio-Bezüge im Selbstkommentar. Die Nachahmungslehre der Renaissance bedingt dabei ebenso wie Tassos philosophisch fundiertes Gattungskonzept, dass es bei der bloßen Nachfolge nicht bleibt. Imitatio impliziert in der Poetik der Zeit bekanntlich auch die Möglichkeit der aemulatio, womit ein Wettstreit34 gemeint ist, der idealiter auf Überbietung abzielt.35 Entsprechend beinhaltet Tassos Gattungstheorie, dass die ‚Idee‘ der Lyrik (in Tassos Worten: ihre forma essemplare) nie endgültig realisiert werden kann, vielmehr verbleiben stets bis dahin noch nicht genutzte Spielräume der Gestaltung, die auch die Möglichkeit einer noch weitergehenden Annäherung an die Idealform offenhalten. In anderen Worten: Auch «erstklassische» Lyriker, und unter ihnen sogar der Erste der Ersten, also Petrarca, können noch übertroffen werden. Mit seiner Liebeslyrik reklamiert Tasso daher, noch nicht erfasste Möglichkeiten der Gattung auszuschöpfen und die ‚Idee‘ der Lyrik besser als je zuvor zu verwirklichen, und zwar sogar besser als Petrarca. In welcher Weise der autocommento für dieses Ziel Serassi in der Regel Tasso selbst zugeschrieben wird, werden ebenfalls die «compositioni ad imitatione di Pindaro, d’Anacreonte, di Teocrito, di Catullo, di Tibullo e d’Oratio, non solamente di Dante e di Petrarca» erwähnt (Rime, 353). Was die Erwähnung Dantes angeht, ist darauf hinzuweisen, dass damit primär der Dante der Commedia gemeint ist und nicht der lyrische Dante: der Dante der Rime wird lediglich zweimal aufgerufen, während die Commedia mehr als dreißigmal zitiert oder erwähnt wird. Tasso behandelt Dante damit ganz so, wie dies Bembo am Beginn des 16. Jahrhunderts getan hatte. Zu diesem Zeitpunkt, genauer 1502, hatte Bembo ein Jahr nach den Rime Petrarcas, auch die Commedia in die aldinische Reihe der enchiridia aufgenommen und Dante so zum Klassiker (der Epik) geadelt – eine Entscheidung, die er später freilich ganz entschieden revidieren sollte. Cf. Regn (2017, 161–163). 33 Die Bezeichnung «erstklassische Autoren» wurde analog zum soziologischen Begriff gebildet, der in der Antike die Klassenzugehörigkeit bezeichnete. «Classici» waren «alle Angehörigen der fünf abgestuften Vermögensklassen, die gemäß ihrem Vermögensstand auch der Steuerpflicht unterlagen», Worstbrock (2008, 433–434). Die Engführung des Begriffs «klassisch» mit der Bezeichnung für die erste Steuerklasse (im Sinn von «erstklassisch») deutet sich bereits in der Antike bei Gellius an, wird aber erst 1508 bei Budé zum Definiens des Klassischen und zur Kategorie der Literaturkritik (ibid., 434 und 443). 34 Der von Tasso verwendete terminus technicus ist gareggiare: «[. . .] gareggia con Safo» (C XXIX, 1). 35 Cf. dazu exemplarisch den Kommentar zum zweiten Gedicht (R II), wo Tasso seine Überbietung sowohl Petrarcas als auch Bembos detailliert begründet (C II, 2b). Wir werden noch sehen, dass genau diese spezifische Doppelung der Überbietung bereits das poetische Programm des Einleitungssonettes bestimmt.

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genutzt wird, sei im Folgenden exemplarisch an Hand des Introduktionssonettes der Rime der Parte prima gezeigt,36 das wie kein anderes Gedicht der Sammlung deren poetologisches Programm im Modus der Dichtung formuliert. Das Sonett hat folgenden Wortlaut: Vere fur queste gioie e questi ardori Ond’io piansi e cantai con vario carme, Che poteva agguagliar il suon de l’arme E de gli heroi le glorie e i casti amori. E se non fu de’ più ostinati cori Ne’ vani affetti il mio, di ciò lagnarme Già non devrei, che più laudato parme Il ripentirsi, ove honestà s’honori. Hor con gli essempi miei gli accorti amanti, Leggendo i miei diletti e ‘l van desire, Ritolgano ad Amore de l’alme il freno. Pur ch’altri asciughi i caldi pianti, Et a ragion tal volta il cor s’adire, Dolce è portar voglia amorosa in seno. (R I, 1–14)

Thema des Einleitungsgedichts ist der Rückblick des Dichters auf seine Liebeserfahrung, von der er freilich schon nach kurzer Dauer wieder Abstand genommen habe, was wiederum seinen canzoniere zu einem Werk mache, das dem damit anvisierten Zielpublikum der Liebenden moralische Orientierung für die rechte Lebensführung geben könne. Diesen Grundgedanken fasst das dem Introduktionssonett vorangestellte argomento zusammen: Questo primo sonetto è quasi propositione de l’opera ne la quale il Poeta dice di meritar lode d’essersi pentito tosto del suo vaneggiare, ed essorta gli amanti col’ suo essempio, che ritolgano ad Amore la signoria di se medesimi.37

Dass Tasso mit diesem Proömium auf das Einleitungsgedicht Petrarcas Bezug nimmt, liegt für die zeitgenössischen Leser ebenso auf der Hand38 wie seine 36 Zur Rekonstruktion von Tassos Poetik der imitatio aus der Perspektive des autocommento cf. mit anderer Schwerpunktsetzung Basile (1972, 31), der unter (teils impliziter, teils expliziter) Bezugnahme auf das (mittlerweile etwas verblasste) Paradigma des literarischen Manierismus Tassos Modernität herausstreicht: «In questa tecnica di retrospezioni, il Tasso illustra la sua umbratile poetica con la stessa chiarezza con cui cerca di confermarsi ancora modello di scelte poetiche aggiornatissime: il letterato non smarrisce il contatto con le esperienze liriche dell’ultimo Cinquecento». 37 Kursivsatz in Anlehnung an die kritische Ausgabe. 38 Petrarcas «vario stile in ch’ io piango et ragiono» (Rvf I, 5) kehrt in Tassos «piansi e cantai con vario carme» (R I, 2) ebenso wieder wie das Reuemotiv (bei Petrarca «pentérsi», Rvf I, 13, bei Tasso «ripentirsi», R I, 8) und das Thema der Eitelkeit der Liebespassion («vane speranze»

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fast schon plakative Referenz auf das Introduktionssonett, mit dem Pietro Bembo seine Rime eröffnet, deren letzte Fassung 1548 postum gedruckt wurde39 – der Venezianer hatte wie kein zweiter die Kanonisierung des Laura-Dichters vorangetrieben und zugleich erfolgreich den Petrarkismus als absolut dominantes Paradigma der zeitgenössischen italienischen Lyrik etabliert: Wer sich mit Petrarca messen wollte, kam deshalb auch am Petrarkismus-Papst nicht vorbei. Dem trägt der Selbstkommentar Rechnung. Dort erläutert Tasso den zweiten Vers als typische Repräsentation der affetti amorosi, die sich im Zusammenspiel von Schmerz und Beglückung manifestierten. Derlei, so Tasso unter Berufung auf das Gattungsdekorum, sei für den Lyriker ein höchst passendes Thema: «,ond’io piansi e cantai‘: il cantare e ‘l piangere sono effetti d’amore convenevolissimi al poeta lirico» (C I, 2). Der Lyriker könne diese konträren Gefühlsregungen miteinander verknüpfen wie dies Petrarca und Bembo in ihren Einleitungsgedichten (und in Anlehnung an diese er selbst) getan hätten: «gli accoppia insieme come il PETRARCA,40 dicendo ,Del vario stile in ch’io piango e ragiono‘41 [Rvf I, 5]. E ‘l BEMBO: ,Piansi, e cantai42 lo stratio, e l’aspra guerra‘ [Rime I, 1]». Doch bei diesem Hinweis bleibt es nicht. Tasso fügt noch hinzu, dass Singen und Weinen als Ausdruck von Freude und Leid auch voneinander getrennt zur Darstellung gebracht werden könnten und belegt dies mit einschlägigen Petrarca-Zitaten. Denn er fährt fort: «o gli divide come il Petrarca ,I‘ piansi, hor canto‘ [Rvf CCXXX, 10] et ,Cantai, hor piango‘ [Rvf CCXXIV, 1]». Der eben zitierte Kommentar ist in doppelter bei Petrarca, Rvf I, 6, «van desire» bei Tasso, R I, 10); darüber hinaus greift Tasso auch Petrarcas «vaneggiare» (Rvf I, 12) im «vaneggiare» des argomento auf. 39 Bembo 21966, Rime I. Plakativ ist vor allem Tassos imitatio von Bembos erster Terzine: Bembos «Ché potranno talor gli amanti accorti, / queste rime leggendo, al van desio / ritoglier l‘alme col mio duro exempio» (Rime I, 9–11) wird von Tasso fast wörtlich übernommen, und zwar ebenfalls in der ersten Terzine: «Hor con gli essempi miei gli accorti amanti, / Leggendo i miei diletti e ‘l van desire, / Ritolgano ad Amore de l’alme il freno» (R I, 9–11). Nur in einem, allerdings zentralen, Punkt modifiziert Tasso seine Vorlage semantisch: wo Bembo von seinem «duro exempio» redet, spricht Tasso kontrastiv von seinen «diletti» (R I, 10). Bereits dies ist ein Beleg, wie sehr die ausgeprägte Nähe zu Bembo vor allem dazu dient, der entscheidenden Differenz zu ihm Profil zu geben. 40 Rvf I, 5. 41 Dass Tasso dem petrarkischen ragionare die Bedeutung cantare zuschreibt, ist keineswegs ungewöhnlich, sondern in der rinascimentalen Petrarca-Exegese verankert. Kein Geringerer als Giulio Camillo Delminio liefert dafür eine weit ausholende Begründung in den Annotationi di M. Giulio Camillo sopra le Rime del Petrarca, ed. Ferrari, Gabriel Giolito de‘, Venezia, 1577, 4r. Tasso kannte diese Auslegung, denn er besaß ein von ihm glossiertes Exemplar der Annotationi. Cf. auch Regn (1987, 79–80). 42 Dass Bembos cantare das epische canere meint und somit keineswegs Ausdruck freudiger Gefühlsregungen ist, unterschlägt Tasso an dieser Stelle geflissentlich. Cf. dazu näher unten, Anm. 70.

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Hinsicht aussagekräftig. Er gibt einerseits zu verstehen, dass die petrarkistische Topik dem Lyriker optimale Entfaltungsmöglichkeiten gibt, signalisiert aber andererseits, dass dabei Petrarca eine größere Rolle eingeräumt wird als seinem ambitionierten Statthalter, dem unser Autor in seinem Inauguralsonett noch eine plakativere Präsenz zugestanden hatte als dem Laura-Dichter: Petrarca wird an besagter Stelle des Kommentars nicht nur als erster zitiert, sondern auch öfter als Bembo, was im Übrigen der ganze autocommento zum ersten Sonett bestätigt, in dem Petrarca insgesamt siebenmal Erwähnung findet, während es für Bembo bei dieser einzigen Nennung bleibt. Die tragende Rolle, die Petrarca als kanonischer (und deshalb auch schulbildender) Autor spielt, wird also bereits durch den Selbstkommentar zum ersten Sonett klar und deutlich herausgestellt. Angesichts dieses Tatbestandes sticht ins Auge, dass der Selbstkommentar nicht mit einer Petrarca-Referenz anhebt. An seinen exponierten (und damit auch rezeptionssteuernden) Beginn platziert Tasso statt eines Lyrikerzitates den Verweis auf einen Denker, bei dem es sich nach dem Wertmaßstab der Renaissance um den größten aller Philosophen handelt: Tasso bemüht Platon, und er tut dies, wie wir gleich sehen werden, um dem basalen gedanklichen Design seines Liebeszyklus Legitimität zu verleihen. Wir Heutige mögen dabei Tassos Umgang mit seiner antiken Quelle als flexibel bis an den Rand des Manipulativen empfinden, doch aus Sicht der Renaissance ist dies anders. Dort zählt allein das Ziel, einem Gedankengang durch autoritätsgestützte Referenzen wirkungsvoll Geltung zu verschaffen.43 «Vere fur queste gioie» (R I, 1): Tasso kommentiert diesen Auftakt seines Proömialsonetts wie folgt: «,Vere fur queste gioie‘: cioè questi piaceri, ò questi diletti. E ‚veri‘ son quelli (come scrisse PLATONE nel Filebo) de’ quali si nutriscono i buoni, percioché gli huomini malvagi si rallegrano dei falsi piaceri ch’imitano i veri, ma in un modo degno di riso» (C I, 1a). Dies ist eine fast wörtliche Übersetzung einer zentralen Passage des platonischen Dialogs, und zwar von Philebos 40c.44 Im Philebos geht es um den «Wettstreit von Lust und Erkenntnis»45 und damit um den Platz der Lust in der Rangordnung der 43 Zum freizügigen bis manipulativen Umgang mit dem Philebos cf. Genaueres unten, Anm. 61. 44 «Sokrates: Schlechte Menschen erfreuen sich also meistens falscher Freuden, die Guten dagegen wahrer? Protarchos: Was du sagst ist ganz unbestreitbar. Sokrates: Diesen Überlegungen zufolge gibt es also falsche Freuden in den Seelen der Menschen, sie ahmen freilich die wahren aufs Lächerlichste nach [. . .]» Philebos 40c (Platon 1997). De Maldé (2016, 219, Anm. 1) weist in ihrer kritischen Ausgabe der Rime darauf hin, dass Tassos Textgrundlage für die Platon-Lektüre die Omnia divini Platonis opera waren (Basilea: in officina Froebiana 1536), freilich ohne, dass die hier zur Diskussion stehende Stelle von ihr als echtes Zitat ausgewiesen und lokalisiert würde. 45 Frede (1997, 98).

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Güter. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Unterscheidung von wahrer und falscher Lust, auf die, wie zu sehen war, Tassos Philebos-Verweis ausdrücklich Bezug nimmt. Wahre Lust setzt voraus, dass sie sich auf Sachverhalte bezieht, die eine Verankerung in der Realität haben.46 Falsche Lust liegt dagegen vor, wenn kein Fundament in der Wirklichkeit gegeben ist, wenn die Lust also auf bloßen Täuschungen, Illusionen oder Ähnlichem gründet. Exakt diesen Punkt greift Tasso im weiteren Fortgang seines Selbstkommentars auf, wenn er bekräftigt, dass die in seinen Rime dargestellten amori real seien. Denn Liebe als Quell der Gefühle des Lyrikers müsse ihre Basis in der Wirklichkeit haben, wie unter Berufung auf Petrarca betont wird: Petrarcas Liebe, und hier spielt Tasso offenkundig auf Petrarcas diesbezügliche Behauptung in Familiares II, 9,18–20 an, sei nach dessen eigenem Bekunden nicht fiktiv, sondern wirklich und damit wahr gewesen: «E dice il Poeta che gli amori suoi sono stati veri, per dimostrare che i veri amori sono il vero soggetto del poeta lirico, come scrive il PETRARCA nelle sue Epistole latine [. . .] laonde molto s’ingannavono coloro che portavono opinione che ‘l Poeta [sc. Petrarca] non fosse acceso di Laura» (C I, 1b).47 Wahre Lust ist folglich nur dann möglich, wenn Liebe keine bloße Fiktion ist. Lust braucht mithin einen Wirklichkeitsbezug, nur unter dieser Bedingung kann sie wahr sein. Doch dies ist nicht alles. Um wahr zu sein, muss sie, wie ja die Philebos-Referenz deutlich machen will, auch mit der Vernunft in Einklang gebracht werden können. Dies bedeutet insbesondere, dass sie maßvoll zu sein hat.48 An diese «Vorstellung der Messbarkeit knüpft [. . .] der Begriff der moralischen Tugend als richtiger Mitte» an,49 so dass die Wahrheit der Lust und die moralische Gutheit dessen, der sie empfindet, zusammengehören. Wahre Lust hat also eine

46 Frede (1997, 251); Frede spricht vom «propositionalen Inhalt» der Lust, womit gemeint ist, dass «etwas Bestimmtes der Fall ist, gewesen ist oder sein wird», damit eine Lust als wahr gelten könnte. 47 In Fam. II, 9,18–20, deren Adressat Giacomo Colonna ist, wehrt Petrarca mit Verve den Vorwurf ab, dass Laura und die Liebe zu ihr bloße Fiktion seien: «Quid ais? Finxisse me michi speciosum Lauree nomen, ut esset et de qua ego loquerer et propter quam de me multi loquerentur; re autem vera in animo meo Lauream nichil esse, nisi illam forte poeticam, ad quam aspirare me longum et indefessum studium testatur; de hac autem spirante Laurea, cuius forma captus videor, manufacta esse omnia, ficta carmina, simulata suspiria. In hoc uno vere utinam iocareris; simulatio esset utinam et non furor!». Bekanntlich hat Petrarca die Existenz Lauras auch dadurch zu beglaubigen versucht, dass er ihre biographischen Daten (zusammen mit denen seines Sohnes und anderer real existierender Personen) auf dem Vorsatzblatt des Vergilius ambrosianus vermerkt, der eines seiner kostbarsten Bücher war. 48 Wohingegen unreine Lust sich durch Maßlosigkeit auszeichnet. Zu Lust und Maß im Philebos cf. Frede (1997, 303–306). 49 Ibid., 265.

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ethische Dimension, doch darin erschöpft sie sich nicht: weil sie wahr ist, hat sie metaphysisch betrachtet auch Anteil am wahrhaften Sein.50 Die Platon-Referenz, mit der der Selbstkommentar beginnt, ist auf eine Positivierung der sinnenbasierten weltlichen Liebe zugerichtet, die auf den ersten Blick verwundert. Denn die Liebe, von der Tasso im Gefolge Petrarcas und anderer Petrarkisten handelt, steht ja unter dem Vorbehalt einer Revokation, deren Basis die (christliche) Moralphilosophie ist. Bei Petrarca ist sie, als «giovenil errore» (Rvf I, 3), allenfalls entschuldbar, damit aber keineswegs gerechtfertigt und gut; und bei Bembo ist sie noch nicht einmal dies. Bei ihm taugt die Liebe zu nichts anderem als zum «duro exempio» (Bembo, Rime I, 11), einem Negativexempel, das abschreckende Funktion hat:51 Liebe, und damit ist natürlich der sinnlich-weltliche Eros gemeint, ist eine fragwürdige Sache, die zu überwinden ist. Bei Tasso jedoch liegen die Dinge anders. Gewiss, auch bei ihm geht es um Reue und letztendliche Abkehr von der weltlichen Liebe, weshalb auch bei ihm die petrarkisch-petrarkistische Moraldidaxe zum Tragen kommt.52 Doch ungeachtet dessen ist Liebe bei ihm nicht einfach ein Irrtum wie bei Petrarca, Bembo und den ‚Normalpetrarkisten‘. Vielmehr ist sie, samt der damit verbundenen Gefühlsregungen, ein letztendlich positives Gut, sofern der Liebende ein paar Bedingungen erfüllt. Nötig ist etwa, dass die Liebe, und mit ihr auch die Liebeslust, unter der Kontrolle der Vernunft bleibt. Dazu muss das muthafte Streben, also der appetitus irascibilis, ab und an aktiviert werden und im Dienst der Vernunft dafür Sorge tragen, dass das Liebesbegehren sich nicht zum lasterhaften Habitus verfestigt. Der vorletzte Vers bringt diesen Gedanken

50 Dieser Gedanke lässt sich aus dem unmittelbaren Kontext der Platon-Stelle ableiten, die Tasso in Hinblick auf die Bindung der wahren Lust an die Guten zitiert. Denn diejenigen, die wahre Lust empfinden, können dies vor allem deshalb, weil sie Lieblinge der Götter sind (Philebos 39e-40b). Die Haltbarkeit dieser metaphysischen Deutung, die in neuerer Zeit vor allem Hampton (1990), vertreten hat, wird von anderen namhaften Philebos-Interpreten wie Frede (1997, 255–258), bestritten. Für Frede ist die Frage nach der Wahrheit nicht primär ontologischer, sondern logischer Natur. Für unsere Problemstellung ist dies allerdings ohne Belang. Wichtig ist allein, dass eine seinsmetaphysische Auffassung von der Wahrheit der Lust fester Bestandteil der Rezeptionsgeschichte von Platons Dialog ist und deshalb auch für Tasso in Anschlag gebracht werden darf. 51 «Che potranno [. . .] gli accorti amanti / queste rime leggendo, al van desio / ritoglier l’alme col mio duro exempio», Bembo 21966, Rime I, 9–11. 52 Wie ja vor allem das plakative Bembo-Zitat belegt, aus dem heraus Tasso die Aussage des ersten Terzetts seines Einleitungsgedichtes entfaltet. Die Verbindung des petrarkischen Reuemotivs mit Bembos Exempelfunktion ist im Übrigen ein Indiz, dass Tasso die beiden alternativen Modi der Liebesabkehr miteinander kombiniert und auf diese Weise ein weiteres Mal seinen Willen zur Überbietung sowohl Petrarcas wie auch Bembos zum Ausdruck bringt.

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auf den Punkt: «pur ch’ [. . .] a ragion talvolta il cor s’adire» (R I, 12).53 Eng damit verbunden ist des Weiteren die Forderung, dass die Liebe zeitlich eng begrenzt bleibt, und nicht, wie bei Petrarca, 31 lange Jahre währt54 oder wie bei Bembo «molti e molt’anni» (Bembo, Rime I, 2).55 Dem trägt Tasso in seinem Einleitungsgedicht dadurch Rechnung, dass er eindringlich die Kürze seiner amori betont: «tosto» (R I, 12), ,bald‘, habe er seine rein weltlichen Liebesgefühle überwunden. Deshalb lobt sich der Ich-Sprecher des Proömialsonettes auch dafür, dass er nicht halsstarrig – ostinato ist das Stichwort – an seinen affetti amorosi festgehalten habe. Als Charakterzug des «amor conscupiscibile» ist die «ostinazione» ein ethisches Manko, wie der Selbstkommentar unter Bezugnahme auf die aristotelische Ethik ausdrücklich vermerkt (C I, 5). Während bei ihm selbst dieser Mangel durch ein zeitsensitives Affektmanagement aufgefangen wird, schlägt er bei Petrarca und seinen ‚Followern‘ voll durch, nicht zuletzt, weil diese sich allzu lang der Täuschung hingeben, dass ihr jahrzehntelanges Festhalten an der irdischen Liebe Ausdruck der Beständigkeit und damit eine Tugend sei – doch im sinnenbasierten Eros, so der autocommento unter Berufung auf den Aquinaten, kann es echte Beständigkeit gar nicht geben.56 Kurzum, der Tasso des Einleitungsgedichtes schreibt sich ein Verhalten zu, das es ihm erlaubt, die sinnenbasierten amori seiner Jugendzeit57 nicht bloß zu entschuldigen, sondern sie ungeachtet von

53 Den konzeptuellen Zusammenhang von ira und ratio erläutert Tasso im Kommentar zu Quel generoso mio guerriero interno, wo er den Auftaktvers folgendermaßen glossiert: «,Quel generoso mio guerriero interno‘: chiama l’ira o lo sdegno ,guerrero‘ [sic!], perch’egli combatte per la ragione contra la cupidigia, come afferma il medesimo PLATONE» (C CIV, 1), unter Hinzufügung, dass das muthafte Begehren seinen Sitz im Herzen hat: «[. . .] a l’appetito irascibile è assegnato il cuore» (C CIV, 2). 54 So dass sie sich bis ins fortgeschrittene Alter hinzieht und der Liebende darüber graue Haare bekommt: Petrarca schwört laut innerer Chronologie der Rerum vulgarium fragmenta der Laura-Liebe erst im Alter von 54 Jahren ab. 55 So ist der Zeitraum in vita bei Bembo noch länger als bei Petrarca (cf. Bembo 21966, Rime CLIX, 2), wohingegen, anders als beim Laura-Dichter, sich die Spanne in morte im Unbestimmten verliert. 56 «,E, se non fu de’ più ostinati‘: ne l’amor concupiscibile, non può esser costanza, ma ostinatione. Ma l’amore, il quale è habito nobilissimo de la volontà, come dice s[an] TOMASO ne l’Operette, è costante nel ben che si propone per oggetto» (C I, 5). Die Pointe des ThomasVerweises besteht darin, dass Tasso sie implizit zur Rechtfertigung seiner eigenen Unbeständigkeit in Liebesdingen nutzt, die ihn ja scharf von Petrarca unterscheidet und die ihren markantesten Ausdruck darin findet, dass er in seinen rime amorose nicht nur einer Dame den Hof macht, sondern gleich mehreren. Cf. dazu Regn (1987, 118–126). 57 Die Zuordnung der amori zur Jugend ist im Einleitungsgedicht nur impliziert, aber nichtsdestoweniger klar. Expliziert wird sie im dritten Gedicht des Zyklus mit der petrarkistischen Metapher vom freudigen April des Lebens: «Era de l’età mia nel lieto aprile» (R III, 1).

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Reue und Revokation sogar zu positivieren. Wer liebt wie er, für den gilt schlussendlich: «dolce è portar voglia amorosa in seno» (R I, 14). Dolce besagt, dass eine solche Liebe ein Lustempfinden generiert, das dann gut ist, wenn in rational begründeter Weise Maß gehalten wird. Im konkreten Fall heißt dies, wie zu sehen war, dass die Liebe strikt auf das ihr angemessene Lebensalter, also die Jugend, begrenzt wird. Unter diesen Bedingungen ist Liebe nicht bloß legitim, sondern sogar ein Gut, das notwendig zu einem gelungenen Leben gehört. Der Blick auf einen einschlägigen Prätext, der Tassos Kombination von rechtzeitiger Liebesabkehr bei gleichzeitiger Positivierung des auf die Jugend beschränkten «amore sensuale»58 vorwegnimmt, macht dies deutlich. In der Schlussstrophe des Einleitungsgedichts seiner Amorum libri von 1499 postuliert Boiardo, dass es denjenigen an wahrer Humanität gebreche, die sich in ihren Jugendjahren der Liebeslust verschlössen.59 Dass Tasso in seinem Selbstkommentar Boiardos Gedicht, das er sicher kannte,60 verschweigt, ist vermutlich dem Bestreben geschuldet, die eigene Leistung – die ja zu einem Gutteil in der Abgrenzung von Petrarca und Bembo besteht – möglichst hell erstrahlen zu lassen. Stattdessen bringt er Platon in Stellung, um der Zentralbotschaft seines Introduktionssonetts die höheren philosophischen Weihen zu verleihen. Durch den anfänglichen Verweis auf den Philebos wird die Liebeslust, auf deren Rechtfertigung Tasso die ganze Argumentation des Programmgedichts seiner Rime ausgerichtet hat, als ein ethisches Gut profiliert, das zudem noch metaphysische Resonanzen hat. Es sei daran erinnert, dass Platon im Philebos die richtige Beimischung guter Lust zur Voraussetzung für ein gelungenes Leben macht.61 Mittels des Philebos-Zitates vom Beginn des autocommento will Tasso seinem Publikum

58 Petrarcas Liebe und diejenige der an ihn anschließenden Petrarkisten (zu denen er auch sich selbst zählt) verortet Tasso ausdrücklich nicht als platonischen, sondern als sinnenbasierten Eros: «Trattava il Petrarca di bellezze visibili, e d’amore sensuale», Considerazioni sopra tre canzoni di M. Gio. Battista Pigna intitolate ,Le tre sorelle‘, in: Tasso (1823, 10). 59 Cf. Amorum libri I, i, 12–14: «Ma certo chi nel fior de’ suoi primi anni / sanza caldo de amore il tempo passa, / se in vista è vivo, vivo è sanza core». 60 Boiardo war bekanntlich eine literarische celebrity der ferrareser Hofkultur, in deren Kontext Tasso ein gutes halbes Jahrhundert später den Großteil seiner Liebeslyrik verfassen wird. 61 Cf. Philebos 61d-64b, sowie Frede («Kommentar», 348–356). An dieser Stelle sei nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Tasso bei seiner Referenz auf Platon höchst selektiv und zum Teil rundheraus manipulativ verfährt. Wenn Platon von wahrer Lust spricht, meint er nicht den sinnlichen Eros, um den es bei Tasso geht; gleichermaßen ist bei Platon die für die petrarkistische Liebeslyrik konstitutive Vermischung von Lust und Leid, der ja auch Tasso in seiner Lyrik Tribut zollt, eigentlich ein Kontraindikator für die Gutheit der Lust. Dass Tasso dies durchaus bewusst war, geht aus den beiden anderen Stellen hervor, an denen er sich im autocommento auf den Philebos bezieht (C CIV, 93 und 95b), etwa wenn er in einer Geste der Abgrenzung von Platon vermerkt: «Tutto che PLATONE neghi nel Filebo che tutti i piaceri siano mitigatori del dolore». Dies ist eine Anspielung auf die Ausführungen zur erotischen

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kommunizieren, dass er sich (als persona seiner Lyrik) getrost in die Riege der Guten einreihen darf. Auf diese Weise präzisiert er zugleich die Botschaft, die das – vermutlich von Tasso stammende – Vorwort des Verlegers an die «benigni lettori»62 adressiert. Dort wird zunächst darauf aufmerksam gemacht, dass der eigens für diese Ausgabe verfasste Selbstkommentar der moralischen Orientierung der «giovani lettori» diene, auf dass diese, ganz wie es Plutarch63 in De audiendis poetis gelehrt habe, die «cose salutifere dalle piacevoli» unterscheiden könnten.64 Dies ist natürlich ein Vorverweis auf die Moraldidaxe, die laut Einleitungsgedicht auf die «accorti amanti» (R I, 9) zielt. Gleichzeit aber betont das Vorwort, dass Tasso auch die «più maturi giudicij»65 im Auge hat. Dem trägt gleich der allererste Kommentar Rechnung, der ja einen philosophisch beschlagenen Leser verlangt. Wie zu sehen war, dient Tasso der dortige Hinweis auf den Philosophen Platon dazu, den falschen piaceri, die Plutarch inkriminiert, von allem Anfang an die wahren gegenüberzustellen, um so den eigenen amori bescheinigen zu können, dass sie nicht nur ethisch unbedenklich sind, sondern letztlich sogar ein sittlich positiver Wert. Mit anderen Worten: Tasso nutzt die Autorität Platons, um Plutarchs griffige Opposition von heilsamen und lustvollen Dingen als pädagogische Vereinfachung kenntlich zu machen.66 Das kultivierte Hofpublikum dagegen soll, vom Kommentator richtig angeleitet, sich vor Augen führen, dass es auch eine heilsame Lust gibt und dass deshalb das Verhältnis von Lust und Ethos weit komplexer ist, als es die gängige Moralisierung der petrarkistischen Liebeslyrik nahelegt. Die Schärfung des Blicks für die Komplexität der Gedichtaussage in ihrer Gänze trägt im Übrigen auch zur Entschärfung des Störpotentials bei, das einzelnen Gedichtelementen in Bezug auf die Positivierung der Lust innewohnt. Wenn die Wahrheit der Lust mit Platon an deren Verankerung in der Wirklichkeit gekoppelt wird und damit Gefühlsempfindungen als falsch verortet werden, die als

(und damit falschen) Lust, die nach Platons Meinung nie leiddämpfend, sondern immer nur leidsteigernd wirken können. Der sowohl selektive wie manipulative Umgang mit den zitierten Autoritäten mag für uns irritierend sein, in der Renaissance ist er freilich völlig normal. Dort geht es vornehmlich darum, geeignete loci etablierter Autoritäten als Argumente in den aktuell zu entfaltenden Gedankengang einzuspeisen, und zwar, wo nötig, auch unter Absehung von der Bedeutung, die sie im Kontext des Werkganzen haben. 62 Rime, 353. 63 Zur Plutrach-Rezeption Tassos cf. Basile (1998, 55–68). 64 Ibid. 65 Ibid. 66 Der Tasso des autocommento ‚dekonstruiert‘ also die griffige Opposition von ‚heilsam‘ und ‚lustvoll‘ aus dem Vorwort, indem er zeigt, dass es auch eine heilsame Lust gibt.

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bloß illusionäre kein Fundament in der Realität haben, dann stellt sich in der Tat die Frage nach der Vereinbarkeit des vanità-Motivs mit dem Postulat, dass die piaceri wahr und wirklich gewesenen seien. Tasso hat dieses Problem vermutlich gesehen, aber er meinte wohl, es herunterspielen zu können. Ein Indiz dafür dürfte sein, dass er in seinem Gedicht das vanità-Motiv nie ausdrücklich auf die piaceri bezieht. Wenn er (übrigens Bembo zitierend) vom «van desire» (R I, 10) spricht, dann lässt sich die Nichtigkeit der damit bezeichneten Gefühlsregung auch als Ausdruck der (für den Petrarkismus konstitutiven) Erwartungsenttäuschung interpretieren: die Dame erhört nicht ihn, sondern einen anderen, den sie heiratet.67 Eitel ist deshalb schlussendlich nur das werbende Verlangen, das darauf zielt, bei der Dame zum Zug zu kommen, nicht aber die Lust, die der reale Umgang mit ihr im höfischen Spiel mit der Liebe bereitet. Und wenn an einer weiteren Stelle von den «vani affetti» (R I, 6) die Rede ist, dann soll damit dem (ins komplexe Gedichtganze eingebundenen) moraldidaktischen Programm Rechnung getragen werden, jedoch mittels einer generischen Formulierung, die die Eitelkeit der Lust gerade nicht explizit fokussiert, sondern sie allenfalls stillschweigend mit meint.68 Wie sehr der Tasso des Einleitungsgedichtes um eine größtmögliche Entkoppelung von Lust und Vanitas bemüht ist, belegt nicht zuletzt der Abgleich mit Petrarca, den ja jeder seiner zeitgenössischen Leser umstandslos durchführen konnte. Petrarca richtet bereits im Einleitungsgedicht den Fokus auf die Leidkomponente, gleichwohl spricht auch er die Lust an, und zwar ganz am Schluss. Voi ch’ascoltate endet nach der Reuebekundung ja mit der Erkenntnis, dass alles, was auf Erden Lust bereitet, nichts anderes ist als ein eitler Traum, der rasch vergeht: «e del mio vaneggiar vergogna è ‘l frutto, / e ‘l pentérsi, e ‘l conoscer chiaramente / che quanto piace al mondo è breve sogno» (Rvf I, 12–14).

67 Die Liebesgeschichte der rime amorose ist eine solche im Modus der Doppelung. Tasso (als persona seiner Lyrik) macht erst Lucrezia Bendidio den Hof, dann, nach dem Ende dieses primo amore, Laura Peperara. In beiden Fällen wird die Hoffnung des Liebenden dadurch frustriert, dass erst Lucrezia und dann Laura sich verheiraten. Die Hochzeit der Dame(n) ist funktionales Äquivalent des Todes, mit dem Petrarca die letztendliche Unerreichbarkeit seiner Laura signifiziert. Das poetologische Motiv für Tassos Substitution des Todesthemas liegt auf der Hand: die himenei sind im Unterschied zum Tod eines der idealtypischen Themen der Lyrik. Cf. Discorsi dell’arte poetica, in: Tasso 1977, 338. 68 Das Verfahren, auf Sachverhalte ohne explizite Nennung nur implizit hinzudeuten, um auf diese Weise deren Relevanz herunterzuspielen, findet sich auch an anderer Stelle: Um den piaceri das gewünschte Profil zu geben, hängt Tasso die affanni und das Liebesleid so niedrig wie möglich. Deshalb nennt er im Incipit nur die «piaceri» (R I,1) explizit, während er die dolori in den «ardori» (R I, 1) verschwinden lässt, die laut Selbstkommentar eine generische Metapher für die Liebe sind: «,questi ardori‘: [cioè] ,questi amori‘, imperochè l’amore è chiamato ,fuoco‘ e ,fiamma‘» (C I, 1b).

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Petrarca macht, was Tasso gerade nicht tut. Er weist die Lust am Irdischen, deren paradigmatischer Ausdruck die Liebe ist, unmissverständlich als substanzlosen Traum aus. Tasso dagegen – und dies ist seine absichtliche Spitze gegen Petrarca – ‚beweist‘ mit Platon, dass das, was gefällt, nämlich das höfische Spiel mit der Liebe, gerade keine bloße Illusion ist, sondern Wirklichkeit. Die Referenz auf den Philebos dient also dazu, die mit Lust verbundenen amori der Jugendzeit ethisch und metaphysisch zu positivieren. Doch ihre Bedeutung reicht weiter, sie erfüllt nämlich noch einen anderen Zweck, und dieser ist gattungspoetischer Natur. Lust ist bei Petrarca eher peripher, und ihre markanteste Ausprägung ist bezeichnenderweise die dolendi voluptas, die im psychopathologischem Auskosten des Leides besteht.69 Diese Leidfixierung bei weitestgehender Marginalisierung der Lust werden Petrarcas Nachfolger im Verlauf des Cinquecento dann noch verstärken, von Bembo über Stampa und Paterno bis hin zu Rota, wie bereits ein flüchtiger Blick auf die Einleitungsgedichte dieser prominenten Petrarkisten bestätigen kann.70 Bei Tasso dagegen verkehren sich die Gewichte. Bei ihm drängt sich die Lust vor das Leid, und zwar ganz entschieden. Wo vom Leid die Rede ist, geschieht dies vorzugsweise dergestalt, dass es als konstitutiver Teil des höfischen Spiels mit der Liebe emotional entschärft wird. Exemplarisch dafür sind Situationen, in denen der Schmerz eine unverkennbar heitere Note annimmt, etwa wenn die ‚Grausamkeit‘ der Dame allein darin besteht, dass sie im Einklang mit den Usancen des höfischen Tanzvergnügens dessen Ende verfügt und so auch dem Liebenden die Freude raubt, die ihm dieses gesellschaftliche Beisammensein mit ihr bereitet hatte.71 Ein derartiges Leid ist nicht ernstgemeint, es ist scherzhafter Natur, wie ja Tasso insgesamt den Herzschmerz der giovani, den schon Horaz zum

69 Petrarca kategorisiert die dolendi volutuptas bekanntlich als ein Symptom der acedia, die er wiederum eher als Krankheit denn als Sünde bestimmt, cf. Loos (1975, 157–183). 70 Cf. Bembo 21966, Rime I, wo durchgängig von einem unerhörten («cose prima non mai vedute in terra» 4) Leid die Rede ist («Piansi» 1, «lo strazio e l’aspra guerra» 1, «cosí lunghi affanni» 2, «danni» 7, «duro exempio» 11), und wo selbst das cantare des Beginns («cantai» 1) keineswegs, wie Tasso im autocommento suggeriert, Ausdruck der affetti lieti ist, sondern lediglich das affektneutrale canere des epischen Sängers, also ,besingen‘, meint; cf. weiter Stampa (1554, 1) («Voi ch’ascoltate in queste meste rime, / in questi mesti, in questi oscuri accenti / il suon de gli amorosi miei lamenti, / e de le pene mie tra l’altre prime» 1–4); Paterno (1560, 1), der anhebt mit «Voi ch’ascoltate i gravosi miei caldi sospiri» 1, und, ohne jede Erwähnung des Lustmotivs, den «esempio de’ miei lunghi mali» 8, hervorkehrt; sowie Rota (1572, 1), der seine Liebeserfahrung als «tragedia d’aspra pena e lungha» (I, 8) perspektiviert. 71 Mentre ne’ cari balli (R XLI). Zur Interpretation des Sonetts cf. Regn (1987, 176–178). Ibid., 229–235, Näheres zur Kompatibilisierung von Liebesleid und lyrischer piacevolezza.

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prototypischen Thema der Lyrik erklärt hatte,72 als ein im Kern anmutiges und folglich auch leichtgewichtiges Sujet einstuft. Deshalb passt er die Liebesthematik in eine Konstellation von Themen ein, die er aufgrund ihrer Unbeschwertheit als prototypisch für die Lyrik ausweist: Das lyrische Genus kreise um die «cose [. . .] che paion graziose» wie «gli imenei, e gli amori, e le liete selve, e i giardini, e l’altre cose somiglianti».73 Diese Bestimmung der Lyrik hat Tasso direkt aus dem Stiltraktat des Pseudo-Demetrios abgeleitet, wo mit eben diesen Worten die Lyrik Sapphos charakterisiert wird.74 Den einschlägigen Passus aus De elocutione wird Tasso dann an späterer Stelle des autocommento ausführlich paraphrasieren, um das zu kommentierende Madrigal (Ecco mormorar l’onde, R CXXIX) als gelungene Verwirklichung seiner ‚Idee‘ des Lyrischen erscheinen zu lassen: «E in queste maniere di poesia, il lettore avvertisca quanto sia bene osservato quello che Demetrio Falereo disse de’ poemi di Saffo, che essi fussino ripieni de gli horti, de le Ninfe, de gli amori, de gli himenei, de’ fiori e d’altre cose vaghissime, et oltre tutte l’altre convenienti in questa forma del dire fiorita e gratiosa» (C CXXIX, 12–13a).75 Auch Sapphos Lyrik, in der die Liebesklage ja eine wichtige Rolle spielt, taucht nach Tassos Meinung die Liebe in ein Licht des Anmutigen, das Lust bereitet, und gerade deshalb ist sie vorbildlich. Als Theoretiker der Lyrik macht Tasso verständlich, warum er als Dichtungspraktiker in der Parte prima seiner Rime der Liebesthematik eine dezidierte Wendung ins Anmutige, Gefällige, Lustvolle gibt. Diesen Dreh ins Hedonistische76 anzukündigen ist Aufgabe des programmatischen Einleitungssonetts, das nicht nur mit der Legitimierung der Lust endet – «dolce è portar voglia amorosa in seno» (R I, 14) –, sondern das bereits mit ihrer Fokussierung begonnen hatte: «Vere fur queste gioie» (R I, 1). Ein Gedichtbuch, das sich einerseits klar in die Nachfolge des prominentesten Vertreters der Schmerzlyrik – also Petrarcas – stellt und das andererseits mit einer ostentativen Priorisierung der Lust beginnt, ist ein veritabler Paukenschlag. Ein solcher Auftakt erzeugt einen Rechtfertigungszwang, den Tasso mit 72 In Ars poetica 85 werden die curae iuvenum zur kleinen Gruppe prototypischer Themen der Lyrik gezählt. 73 Discorsi del poema eroico, in: Tasso 1977, 338. 74 Cf. Regn (1987, 216). 75 Die Pseudo-Demetrios-Stelle findet sich in Pietro Vettori, Commentarii in librum Demetrii Phalerei de elocutione (1562, 122). Tasso setzt hier wie auch sonst in seinen Ausführungen zur Theorie der Lyrik die Stilgattung der forma ornata mit dem lyrischen Genus in eins. 76 Nach allem, was bisher gesagt wurde, ist klar, dass Tassos lyrischer ‚Hedonismus‘ von den geläufigen Spielarten des Renaissance-Epikureismus wie auch vom Sensualismus Marinos und der Marinisten deutlich geschieden ist, wobei – es sei ein weiteres Mal wiederholt – insbesondere die Platon-Referenz differenzsetzend wirkt.

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dem Platon-Verweis einlösen möchte, den er an den Beginn seines Selbstkommentars platziert. Denn dieses Procedere erlaubt es ihm, Liebeslust als ethisches Gut zu deklarieren. Das lustvolle Auskosten der Liebe und die rechtzeitige Abkehr von ihr können auf diese Weise als die zwei Seiten einer einzigen moralischen Medaille erscheinen. Die ethische Unbedenklichkeit einer Liebeslyrik, in der die Positivierung der Lust eine zentrale Rolle spielt, war für Tasso auch und nicht zuletzt aus gattungspoetologischen Gründen unabdingbar. Denn erst durch die Betonung der Lust erhält die Liebe das Profil, das sie braucht, um zum idealtypischen Thema des Genres der Lyrik werden zu können. Wir haben ja bereits gesehen, dass zum Klassiker der Lyrik nur werden kann, wer sich in bestmöglicher Weise auf die Idealgestalt des Genres – in Tassos Begrifflichkeit: ihre forma essemplare – zubewegt. Und gesehen haben wir dabei zugleich, dass diese lyrische Idealform nach einer Vertextung verlangt, welche mittels der idealtypischen concetti lirici die zu repräsentierenden Sachverhalte in einem Licht heiterer Anmut erstrahlen lässt. Tassos Stichworte dafür wurden schon genannt: bello, dolce, vago, ridente und piacevole sind die wichtigsten.77 Eine Poetik der Lyrik, die nach klassischer Vollkommenheit strebt, muss, so zumindest sieht es Tasso, auch eine Poetik der Lust sein. Einer Lust freilich, die ethisch gerechtfertigt ist und deshalb nicht mit dem Postulat gesellschaftlicher Nützlichkeit der Kunst – Tasso spricht wie seine Zeitgenossen vom «giovamento»78 – in Konflikt gerät.79 Doch klassische Vollkommenheit verlangt, wie eingangs schon erwähnt, dass die gattungskonstitutive piacevolezza der Lyrik durch eine angemessene Dosis gravità ausbalanciert wird. Mit anderen Worten, um sich der Perfektion anzunähern, sollte nach Tassos Ansicht die Lyrik in kontrollierter Weise auch ins hohe Register des genus grande hinaufgreifen, für das vor allem das Heldenepos steht. Diesen Gedanken thematisiert unser Autor bereits in der Auftaktstrophe

77 Cf. Huss/Mehltretter/Regn (2012, 112–113). 78 Im Unterschied zu den frühen Discorsi dell’arte poetica erklärt Tasso in deren späteren Überarbeitung, die 1594, mithin im zeitlichen Umfeld der Parte prima, als Discorsi del poema eroico publiziert wurde, den Nutzen zur finalen Zweckbestimmung der Dichtung. Cf. Discorsi del poema eroico, in: Tasso 1977, 152, sowie ibid., 150: «La poesia è dunque imitazione de l’azioni umane, fatta per ammaestramento della vita» (wobei, in Anschluss an Alessandro Piccolomini, auch die Affekte der handelnden Menschen als legitimer Gegenstand der Nachahmung angesehen werden), sowie ibid., 153: «la poesia, [. . .] seguendo l’opinione de gli antichi, è una prima filosofia, la qual sin da la tenera età ci ammaestra ne’ costumi e ne le ragioni de la vita». 79 Dass die piaceri einem guten Leben dienlich sind, unterstreicht Tasso dadurch, dass er sie (in Anschluss an das Philebos-Zitat) ausdrücklich auf die Kräftigung von Gemüt und Geist bezieht: man müsse sie als «nutrimento de l’animo e de l’intelletto» (C I, 1a) verstehen.

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seines programmatischen Einleitungssonetts, wo er festhält, dass seine Lyrik dort, wo es angezeigt ist, sich bis zu den Höhen des poema eroico aufschwingen kann, ist sie doch ein «carme / Che poteva agguagliar il suon de l’arme, / E de gli heroi le glorie e i casti amori» (R I, 2–3). Damit schließt Tasso an eine lyrische Praxis an, die seinen Lesern natürlich bestens vertraut war. Denn kein Geringerer als Bembo hatte in das lyrische Exordium seiner petrarkistischen Rime das epische Proöm der Aeneis integriert – die gesamte Oktave von Piansi e cantai lo strazio e l’aspra guerra ahmt in ihrer Kombination von propositio, welche die Liebesthematik als einen heroischen Krieg präsentiert, und invocatio der Musen in geradezu plakativer Weise den Beginn von Vergils Epos nach.80 Bei genauerer Betrachtung wird jedoch rasch klar, dass es Tasso keineswegs um eine bloß weitere imitatio von Bembos Vergil-Nachahmung geht, im Gegenteil. Bei Bembo ist die epische Emporstilisierung der Lyrik folgerichtiges Korrelat seiner Heroisierung des petrarkistischen Liebenden, der unvergleichliches Leid schultern muss. Eine derartige Auffassung freilich lässt sich mit Tassos Idee der Lyrik, bei der die Kategorie der Lust zentral gestellt ist, nur schwer vereinbaren. Epische Heroisierung kann bei ihm deshalb nicht programmatischer Natur sein, sie ist lediglich ein okkasioneller Kontrapunkt zur dominanten Tonlage lyrischer piacevolezza, der der Monotonie entgegenwirken soll und damit der Vermeidung jener «sazietà»81, die in der Tradition der klassischen Rhetorik als stilistisches Laster inkriminiert ist. Deshalb verzichtet Tasso auf den epischen Musenanruf und begnügt sich anders als Bembo damit, den Aufschwung in die Höhen des Epischen als gelegentlich ergriffene Möglichkeit zu perspektivieren und nicht als Regelfall: «poteva» (R I, 3) bringt dies auf den Begriff. Dies macht auch verständlich, warum Tasso im Selbstkommentar Bembos Heroisierung der Liebesthematik, die ja seinen kultivierten Lesern – den «più maturi giudicij»82 – präsent sein musste, gerade nicht als Rechtfertigung für seinen optionalen Zugriff auf das Heldenepos zitiert. Bembo ist für seine Zwecke schlicht kein geeignetes Modell, im Gegenteil, sein Procedere bedarf der Korrektur. Weit gelegener kommt Tasso deshalb die Berufung auf die Antike. Um die Öffnung der Lyrik aufs heroische Genre zu legitimieren, führt er daher lieber einen der kanonischen Repräsentanten der antiken Lyrik ins Feld, und zwar den Griechen Stesichoros. Und er tut dies, indem er sich auf Quintilian beruft und damit auf eine rhetorisch-poetologische Autorität der römischen Klassik: «,Che poteva agguagliare il suon de l’arme‘: ha risguardo a quel detto di QUINTILIANO nel

80 Cf. dazu Noyer-Weidner (1984, 314–358). 81 Bembo, 21966, Prose della volgar lingua II, 18. 82 «Ai benigni lettori. Francesco Osanna», in: Rime, 353.

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guidicio ch’egli fa di Stesichoro: ,Stesicorum [sic!] quam sit ingenio validus materiae quoque ostendunt maxima bella. Et clarissimos canentem Duces, et epici carminis onera lira sustinentem.‘» (C I, 3).83 Die punktuelle Nähe zum Epos stellt nun nicht bloß die wünschenswerte stilistische Variation sicher, sondern sie ist darüber hinaus auch ein Garant für die Wahrung des Dekorums. Die für den Lyriker typischen «piacevolezze ed [. . .] scherzi e giuochi»84 haben nämlich den Geboten der ‚Ziemlichkeit‘ zu entsprechen, und diese betreffen sowohl das Gattungsaptum als auch die Normen sozialer Angemessenheit. Mit anderen Worten, die gerade erwähnten piacevolezze, scherzi und giuochi dürfen nicht ins Komische abdriften, vielmehr haben sie – man beachte die Wortwahl! – «maggiori e più nobili» zu sein als jene «che si convengono a la comedia».85 Diese hierarchisch gedachte Abgrenzung der lyrischen von der komischen Lust spielt deshalb auch im Kommentar zum Einleitungsgedicht von Anfang an eine Rolle. Wie erinnerlich wird ja, mit Bezug auf Platon, die wahre Lust als die der Guten von den «piaceri» der Schlechten («malvagi») unterschieden, die die Freuden der Guten lediglich in lächerlicher Weise («in un modo degno di riso») nachahmen, oder vielleicht besser: nachäffen (C I, 1a). Die Schlechten sind lächerlich, die Guten sind es nicht. Im weiteren Verlauf seines Kommentars greift Tasso diesen Gedanken dann erneut auf und spinnt ihn fort, nunmehr aber mit ausdrücklicher terminologischer Bezugnahme auf die Komödie, der er die falschen piaceri amorosi zuordnet, wobei (unter Beibehaltung der sowohl ethischen wie ontologischen Wertigkeit) ‚falsch‘ und ‚rein fiktiv‘ kurzgeschlossen werden: «ma il soggetto amoroso in tutto falso è proprio del poeta comico» (C I, 1b). Der unmittelbare Argumentationskontext von C I, 1b stellt dabei klar, dass die unabdingbare Abgrenzung des lyrischen Modus vom komischen nicht zuletzt dadurch gewährleistet wird, dass der Lyriker seine potentielle («poteva», R I, 3) Offenheit für das genus grande der Epik herausstreicht. Gerade dadurch kann die lyrische persona ungeachtet der Aura des Heiter-Gefälligen, die sie umgibt, in rechtem Maß an 83 Das (leicht fehlerhafte) Quintilian-Zitat stammt aus Institutio oratoria, X.1.62.; Ibid., X.1.61, ruft Quintilian mit dem Hinweis auf die Schar der «novem [. . .] Lyricorum» den griechischen Lyrikerkanon auf, aus dem er dann Stesichoros herausgreift. In einer früheren Fassung des Einleitungsgedichtes hatte Tasso anstelle des agguagliar noch ein sostener platziert (cf. R I, kritischer Apparat), wodurch die Referenz auf Quintilian (und Stesichoros) bereits im Introduktionssonett scharfe Kontur erhält. Sostener findet sich auch in Bembos Einleitungsgedicht, wo es aber anders als bei Tasso (und Quintilian) gerade keine poetologische Bedeutung hat: Sostener bezeichnet beim Venezianer vielmehr die Last des Leides, die der Liebende zu tragen hat. 84 Discorsi del poema eroico, in: Tasso 1977, 337. 85 Ibid.

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der – auch sozial – wünschenswerten Würde partizipieren, deren herausragende Repräsentanten die Figuren des poema eroico sind. Und sie kann dies, weil sie, ganz wie die epischen «heroi» (R I, 4), zu den Guten gezählt werden kann, wenn auch auf die ihr gemäße Weise.86 Damit ist sichergestellt, dass die piaceri amorosi der Lyrik nicht nur dem Gattungsaptum, sondern auch den Erfordernissen des höfischen Dekorums Genüge tun. Tassos Pointe besteht nun darin, dass er trotz dieser Zentralstellung des vero auch dem Fiktiven den nötigen Raum lässt. Er tut dies freilich in einer Weise, dass das Spiel der Fiktion erneut als eine Sache erscheint, die ihre Rechtfertigung aus der Poetik des Epos bezieht. Wie gerade gesehen grenzt Tasso die Lyrik von der Komödie dadurch ab, dass er ihr eine wahres und damit nicht erfundenes Sujet zuschreibt: «i veri amori sono il vero soggetto del Poeta lirico» (C I, 1b). Doch dieses Postulat wird sogleich um die Möglichkeit der Öffnung aufs Fiktive ergänzt: «tuttavolta intorno ad esso [sc. il soggetto dei veri amori] favoleggia, non altrimenti che faccia l’Epico, come fa il medesimo autore [sc. Petrarca] in molti suoi componimenti» (C I, 1b) – die dafür ins Feld geführten Beispiele aus den Rerum vulgarium fragmenta beginnen mit dem Verweis auf die Metamorphosenkanzone (Rvf XXIII).87 Wovon ist hier die Rede? Zunächst einmal sagt Tasso, dass auch der Epiker einen wahren, also faktischen (und das heißt in seinem Fall: historischen), Stoff als Gegenstand der Darstellung wählt, dass er diesen aber durchaus fiktiv ausgestalten kann – favoleggiare ist das Stichwort. Das Fabulieren im Epos, so Tasso in seinen Schriften zum poema eroico, ist nun das, was ganz besonders gefällt, denn es ist dolce, vago oder piacevole. Das favoleggiare ist also ein geeignetes Mittel, um dem Epos eine Drift ins Lyrische zu geben. Hier schlagen besonders die Liebeshändel zu Buch, die der Theoretiker des poema eroico primär als ebenso fiktive wie anmutige Ausschmückungen begreift, in denen das Gravitätische zurückgenommen erscheint. Wo findet man dafür ein geeignetes Beispiel? Man muss nicht weit suchen, der Tasso epico hält es bereit. Im Proömium der Gerusalemme liberata bittet der Dichter die epische Muse nämlich um Entschuldigung dafür, dass er gelegentlich ins lyrische Register – das Stichwort ist dolcezza – hinabgreife, weil damit dem Wirkungsziel der Gattung am besten entsprochen werden könne: [. . .] tu perdona s’intesso fregi al ver, s’adorno in parte d’altri diletti, che de’ tuoi le carte.

86 Also unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Gutheit der piaceri amorosi an die Bedingungen der zeitlichen Begrenzung und der rationalen Kontrolle geknüpft ist. 87 Zitiert werden Rvf CCCXXIII und Rvf CCCXXV.

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Sai che là corre il mondo ove più versi di sue dolcezze il lusinghier Parnaso, e ch ‘l vero, condito in molli versi, i più schivi allettando ha persuaso. (Gl I. 2–3).88

Das epische Exordium erscheint hier als das seitenverkehrte Pendant des lyrischen Proömiums. Epiker und Lyriker, so das Fazit, machen, wenn auch aus gattungsmäßig je verschiedener Ausgangsperspektive und mit je anderer Schwerpunktsetzung, im Grunde genommen das Gleiche: die Möglichkeit, die Lyrik ungeachtet ihrer Grundtonalität auf das heroische Genus zu öffnen, ist nichts anderes als das Komplement der Abtönung des Epos ins Lyrische, und in beiden Fällen ist die Verbindung von (lyrischer) piacevolezza und (epischer) gravità Ausdruck des gleichen Willens zum klassischen Maß. Prägnanter lässt sich Tassos Selbstautorisierung der eigenen Liebeslyrik nicht auf den Punkt bringen: Im Abgleich mit dem Epos wird sie zu einem hochwertigen Kulturgut emporstilisiert, ohne dass deshalb Abstriche an der Poetik der Lust fällig würden, deren konzeptionelle Grundlage die ‚Idee‘ des Lyrischen ist.

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88 Tasso (²1993).

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Josep Solervicens

Selbstautorisierung auf der barocken Bühne Auktoriale Figurationen bei Francesc Fontanella Das barocke Theater gründet bekanntermaßen auf Phänomenen wie Gattungsund Stilmischung, ostentativer Ingeniosität, pointiertem Scharfsinn, Wunderbarem und, damit verbunden, raffinierter Verblüffung der Rezipienten. Damit einher geht ein gesteigerter Einsatz selbstreferentieller und metaisierender Struktur- und Darstellungsverfahren. Für das Barocktheater bedeutet dies, dass die Verwendung selbstreferentieller, ‚metaisierender‘ Verfahren, also des Theaters im Theater,1 es erlaubt, den fiktionalen Charakter des dramatischen Werks nachdrücklich auszustellen und den spannungsvollen Hiat zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Schein und Sein als entscheidenden Faktor barocker Episteme zu verhandeln. Um es mit Foucault zu sagen: «en cette période qu’à tort ou à raison on a appelée baroque la pensée cesse de se mouvoir dans l’élément de la ressemblance [. . .]. Derrière lui, il en laisse que des jeux. Des jeux dont les pouvoirs d’enchantement croisent de cette parenté nouvelle de la ressemblance et de l’illusion; partout se dessinent les chimères; c’est le temps privilégié du trompe-l’oeil, de l’illusion comique, du théatre qui se dédouble et représente un théâtre».2 Vor diesem Hintergrund kann ein metatheatrales Theater, anders als ein mimetisches Theater, auf ein Dispositiv zurückgreifen, das für die Frage poetischer Selbstautorisierung von entscheidendem Belang ist: auf die Konstruktion eines dramatischen Autors innerhalb der dramatisch vorgestellten Fiktion. Dieses Autorkonstrukt kann dabei die Funktion einer Selbstautorisierung des ‚realen‘ Autors übernehmen und möglichst verbindliche, ja autoritative Leseanweisungen für das in Frage stehende Werk artikulieren. Ich möchte im Folgenden von diesen Prämissen ausgehen und derartige auktoriale Figurationen im Horizont der barocken Epochenkonfiguration untersuchen. Dazu werde ich mein Augenmerk auf einen katalanischen Theatermacher richten, auf Francesc Fontanella.

1 Zur Verbindung zwischen Metafiction und Theater, cf. Abel (1963); Schmeling (1977); Forestier (1981); zur Verbindung zwischen Metafiction und Barock, cf. Nelting (2018). 2 Cf. Foucault (1966, 65). https://doi.org/10.1515/9783110686609-011

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Fontanella war Autor eines umfangreichen lyrischen Werks mit insgesamt mehr als 350 Gedichte, er war weiterhin Autor interessanter Prosamischformen, die insbesondere die Tradition der Trauerrede fortschreiben, und zweier rhetorisch und strukturell raffinierter Tragikomödien, die in engem Zusammenhang mit den zeitgenössischen europäischen Theatermodellen eines Tasso, Guarini und Corneille stehen. Genauer: die zwischen 1643 und 1650 entstandene Tragicomèdia d’amor, firmesa i porfia, also ,Die Tragikomödie von Liebe, Standhaftigkeit und Hartnäckigkeit‘, und das um 1650 verfasste Stück Lo desengany, also ,Die Enttäuschung‘.3 Fontanellas lebensweltlicher (und für sein Werk nicht unwichtiger) Erfahrungshorizont reicht dabei weit über seine katalanische Heimat hinaus: im März 1644 hat Francesc Fontanella als Begleiter seines Bruders, des katalanischen Beraters der Französischen Gesandtschaft, an den Friedensverhandlungen von Münster teilgenommen. Seine Reise von Paris aus über die Maas mit einem Aufenthalt in Maastricht hat Fontanella zu einer Reihe von Romanzen angeregt, die teilweise um Silven erweitert wurden, und in denen er eine «armada de plomes artillada» aufruft, das heißt eine Legion von Dichtern, die die Feder und nicht die Kanone benutzen.4 In diesem Sinne entspricht Fontanella dem Prototyp eines politischen Schöpfers und Beraters, so wie ihn Günter Grass in Das Treffen von Telgte entworfen hat. Ganz offenkundig teilt Fontanella im Grass’schen Sinne die Sorgen seiner Protagonisten und bemüht sich, als Literat politische Geltung zu erlangen und in diesem Zusammenhang seine eigene Volkssprache, das Katalanische, als literarische Sprache zu autorisieren. Eng verbunden mit dieser Autorisierung der eigenen Sprache ist Fontanellas auktoriale Figuration durch eine fiktionale Gestalt, den bukolischen Hirten Fontano, der paronomastisch auf seinen Autor verweist, und der, solchermaßen metonymisch mit den Produktionsprinzipien des Werks verknüpft, nicht nur das Katalanische als Literatursprache propagiert, sondern auch für eine gelehrte und stilistisch kunstvolle Dichtung im Katalanischen eintritt sowie selbstredend die Funktion Fontanellas in diesen Belangen anschaulich verkörpert. Von daher hat die jüngere Forschung die Figur des Fontano, der im lyrischen und im dramatischen Werk Fontanellas auftritt, mit dem empirischen Autor identifiziert und angenommen, dass sich aus dem Werk zahlreiche biographische Auskünfte gewinnen ließen, ja dass sich nachgerade ein bewegendes Drehbuch seines Lebens schreiben ließe, was einen für die Epoche aufsehenerregenden Sonderfall der Literarisierung privaten Lebens darstellen

3 Hier und fortan zitiert nach Fontanella (1988); cf. Fontanella (1995); Solervicens (2016, 375–407). 4 Cf. Fontanella (1995, vol. 2, 205–212).

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würde.5 Dies freilich, so möchte ich gleich vorwegnehmen, ist nicht mein Ansatz. Heuristisch scheint es mir weder literarhistorisch treffend noch methodisch korrekt und auch nicht erkenntnisträchtig, Fontano als schlichtes Pseudonym seines Autors zu lesen, nicht zuletzt auch deswegen, weil Fontanella der katalanische Autor seiner Zeit ist, der wie kein anderer mit literarischen Versatzstücken, Zitaten und Bezugssystemen hantiert, die aus seinen Texten überaus raffinierte und formalästhetisch wie semantisch vielschichtige Konstrukte machen, die sich von ihrer Faktur her einlinigen Referentialisierungen auf die Lebenswelt sperren. Die diesbezügliche Signifikanz der Fontano-Figur ist erheblich. Im Bezugssystem von Fontanellas zeitgenössischen Poetiken, die europaweit in dieser Hinsicht recht homogen angelegt sind, lässt sich beobachten, wie Fontano zu einer der Hauptfiguren der Tragicomèdia d’amor, firmesa i porfia wird und gleichzeitig zum fiktionsinternen Autor des betreffenden Werks avanciert, und wie in Lo desengany ein Zauberer namens Mauro, funktional Fontano vergleichbar, eine Theateraufführung anleitet, um die Liebesverwicklungen zweier Hirten zu lösen. In beiden Fällen bietet die Fiktion in der Fiktion Leseanweisungen, die über die persönlichen Angelegenheiten des realen Autors weit hinausgehen. Mit dem Traum als Motiv und mit dem Begriffspaar Schein und Sein als rotem Faden der Handlung leitet der Prolog, die Lloa, in der ,Tragikomödie von Liebe, Standhaftigkeit und Hartnäckigkeit‘ sowohl in das Thema des Werkes ein als auch in das bukolische setting, die Ufer der Flüsse Besòs und Llobregat, welche Barcelona umschließen und zu hochgradig idyllischen Orten stilisiert werden. Die Lloa, der Prolog, bietet freilich mehr als eine Verdichtung des Werks, in das sie einleitet. Der Prolog entwirft auch eine doppelte Parallelhandlung; burlesk die eine, und zeichenhaft bedeutsam die andere, die sich in der Tragikomödie fortsetzen wird und die uns geradewegs in das poetische Labor des Werks hineinführt, ja uns dem Produktionsprozess des dramatischen Textes richtiggehend beiwohnen lässt. In dieser Hinsicht übersteigt die Metatheatralität bei Fontanella die konventionellen Funktionen eines dramatischen Prologs und zeigt uns zwei miteinander verbundene Träume: den Traum des witzigen Gracioso Posimico, der ihn als Possenreißer, als Gracioso eben, autorisiert, und den Traum des Hirten Fontano, der ihn als namhaften Autor des katalanischen Theaters ausweist. Es handelt sich also, wie gesagt, um zwei miteinander verschränkte Träume. Im ersten Traum wohnt der Gracioso Posimico einem Wettkampf der Figuren des Werks um eine Krone auf den höchsten Ästen einer Palme bei, während er seine Rolle in dem Stück, das aufgeführt werden soll, auswendig lernt. Die drei Grazien

5 Cf. Pep Valsalobre in Fontanella (2015, 9).

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bewegen ihn dazu, die Krone zu erlangen, indem er durch die Äste klettert, sich in einen Affen verwandelt – wobei der Affe auf Katalanisch mico heißt und von daher als sprechender Name des Protagonisten und seiner kleinen Statur fungiert und auf die Scherze verweist, den er, der Gracioso Posi-mico, aufführen wird. Der Erfolg des Posimico provoziert den Neid des Juan Rana, des Gracioso des spanischen Barocktheaters schlechthin, der in Gestalt eines Geistes Rache schwört.6 Mit dem Ende des Traums sieht die Figur, wie die Hirten und die bukolische Umgebung auf einmal verschwinden, sodass dramatische Fiktion und Traum in der gleichzeitigen Aufhebung zusammengeführt werden. Des Weiteren ist Posimico auf seinen komischen Partner, den Komödien-Sakristan Cassòlio, angewiesen; dieser ist im Besitz weissagerischer Fähigkeiten und in der Lage, Posimico seinen Traum zu deuten. Cassòlio schreitet zu einer allegorischen Entschlüsselung des Traums: die Krone verweist demzufolge auf den unsterblichen Ruhm aufgrund des Symbolwerts des Kreises; die Palme bedeutet den Sieg; die Flüsse Llobregat und Besòs den Geltungsbereich seines Ruhms und Juan Rana bekräftigt mit seinem Neid den verdienten Erfolg des Schauspielers in seiner Rolle des Gracioso. Die Begriffe doctrina, ingenio, remontar und inmortal, die dabei verwendet werden, liefern durch ihre Verortung in einem komischen Diskurs nicht nur besonders nachhaltige Effekte komischer Stilmischung, sondern sie sind als im komischen Kontext auffällige Lexeme auch stark semantisiert. Cassòlio fordert Posimico schließlich auf, seinen Wert auf der Bühne zu zeigen, das heißt also, aufzutreten – und aus dem Programm Performanz zu machen. Die komische Szene wird durch Musik unterbrochen, durch eine Hirtenmelodie, die mit einem abrupten Wechsel des Stils, der Lexik, der syntaktischen und metrischen Struktur eine neue Ebene einführt, eine Ebene, in der Fontano die Hauptrolle spielt und die propositional Posimicos Ruhmankündigung aufgreift und überlagert. Die neue Szene eröffnet eine onirische Dimension und zeigt Fontano im Prozess der Inspiration für die Schaffung des Stückes, das aufgeführt werden soll. Die Musik bündelt die göttliche Stimme der Inspiration und aus dieser geht die Wahl des Themas, der Stilebene und der Sprache hervor. Die dialogischen Anweisungen bestimmen entscheidende Aspekte der Inszenierung dieses Inspirationsprozesses: Fontano erscheint im Sitzen, in nachdenklicher Haltung, aber in dichterischer Ekstase, und begleitet von einer Leier und einer Blumenkrone, die ihn als Dichter ausweisen, sowie umgeben von einer magisch leuchtenden Aureole, welche die poetische Inspiration ins Bild setzt und ihn als einen prophetischen Dichter, als poeta vates, autorisiert. Bereits mit dem ersten Einsetzen der Musik zeigt die Eingebung der Inspiration offensichtlich, welche Rolle

6 Cf. Sáez Raposo (2005).

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Fontano spielt. Er ist nicht bloß Empfänger des furor, sondern aktiver Gestalter dieses Prozesses: Estes, Fontano, han de ser lo objecte avui remuntat, que a la musa catalana aliento nou donarà.7

Das Dispositiv, die Seele und den Verstand des Dichters zu ergreifen, ist der Traum mit all den Elementen, die der Offenbarung einer geheimnisvollen und transzendentalen Erkenntnis eigen sind, aber ohne die Zwanghaftigkeit, die Entfesselung und den Verlust rationaler Kontrolle, die die Entrückung des furor poeticus bei Autoren wie Marsilio Ficino charakterisieren.8 Die Vorstellungskraft, der Scharfsinn und das Ingenium des Dichters sind unmittelbare Folgen der Entrückung, die es erlauben, das Werk zu entwerfen, das aufgeführt werden soll, und die gleichzeitig dessen Autor als den Begründer des katalanischen gelehrten Theaters legitimieren. Fontano selbst interpretiert nach seinem Erwachen den Traum folgendermaßen: Descontent de la comèdia que havia de repassar, fiu treves amb los cuidados de Morfeo en lo descans; quan festivament sonora harmonia celestial interrompé de la nit lo silenci descuidat. Viu dos carros voladors que, amb flames per totes parts, vencien amb llum del dia la nocturna obscuredat. Allí viu al déu Apol·lo cenyit de llorer lo cap, dorat coturno en los peus, corona i lira en les mans. Aquí viu, culta, a Talia que de flors sempre fragants amb esta hermosa corona cobrí sos cabells dorats. Un irat, altra queixosa,

7 Cf. Fontanella (1988, 58). Übs.: «Diese, Fontano, müssen der heute verherrlichte Gegenstand sein, welcher der katalanischen Muse neuen Atem geben wird». 8 Cf. Ficino (1993, 16); Solervicens (2012a, 82–88).

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que vostres ingenis clars indignament s’enamoren sols dels assumptos estranys. Senten que sols s’aplaudesca lo llenguatge castellà, quan la catalana musa és tan dolça, és tan suau, i eligen esta acadèmia per los primers catalans que a noble teatro donen les flors cultes del Parnàs.9

Apoll und Thalia beklagen also die Begeisterung dramatischer Autoren für Fremdes; für den Kulturimport aus der kastilischen Literatur. Es ist notwendig, dies zu betonen, weil die fortschreitende Professionalisierung der Autoren und Schauspieler gegen Ende des 16. Jahrhunderts die Verwendung des Katalanischen auf das religiöse und burleske Theater sowie auf Prologe und Zwischenspiele kommerzieller Vorstellungen beschränkt.10 Hierher rührt die Aufgabe, das gelehrte katalanische Theater zu begründen, die die Inspiration Fontano erteilt. Wir befinden uns also in einem doppelten Prozess der Autorisierung der katalanischen Sprache als gelehrter Dichtungssprache und der Selbstautorisierung Fontanellas als ihrem Wortführer. Tatsächlich kann die Funktion des inspirierenden Traums in Beziehung gesetzt werden mit der des Orakels im späteren Verlauf des Werks, in einer Argumentationsführung, die parallel zu Guarinis Pastor fido angelegt ist. Ein technisches Implikat der Inszenierung der Autorinstanz besteht in der Markierung der Fiktionalität des Textes, die im Text durch den Gracioso Posimico vollzogen wird, der sich im Laufe des Werks an Fontano wendet, um ihn als Autor um eine größere Rolle zu bitten oder um sich bei ihm darüber zu be-

9 Cf. Fontanella (1988, 61). Übs.: «Unzufrieden mit dem Stück, das ich als Schauspieler aufführen sollte, begab ich mich in einer Ruhepause in die Obhut des Morpheus, als ein festlich himmlischer Wohlklang die sorglose Ruhe der Nacht unterbrach. Ich sah zwei fliegende und flammenbewehrte Wagen, die mit dem Licht der Tageshelle die nächtliche Finsternis besiegten. Da sah ich den Gott Apoll, seinen Kopf von Lorbeer umgeben, mit goldenen Kothurn an den Füßen, mit Krone und Leier in der Hand. Hier sah ich die gelehrte Thalia, die mit einer schönen Krone immerduftender Blumen ihre goldenen Haare bedeckte. Der eine zornig, die andere klagend, dass eure bewundernswerten großen Geister sich unwürdig nur für fremde Angelegenheiten begeistern. Sie beklagen, dass man nur der kastilischen Sprache Beifall zollt, wo doch die katalanische Muse so süß und sanft ist, und sie wählen diese Akademie, damit die ersten Katalanen die gelehrten Blumen des Parnaß dem edlen Theater geben mögen». 10 Ganz anders ist freilich die Situation im Bereich der barocken Lyrik, in der sich eine große Zahl katalanischer Dichter und Texte findet.

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schweren, dass sein Diener bereits geheiratet habe, und dass deshalb den Konventionen des spanischen Barocktheaters gemäß nun auch er die Liebe seiner Geliebten erlangen müsse. Mit anderen Worten: in einer unhintergehbaren Metaisierung der Fiktionalität des Theaters fordert Posimico seinen Autor auf, im fiktionsinternen Systemzwang des Dramas seine Rolle fortzuschreiben. Das zweite dramatische Werk Fontanellas, Lo desengany, bedient sich gleichfalls der Gattungskombination und -mischung und des Metatheaters, auch wenn der Ansatz hier anders und die auktoriale Figuration weniger ausdrücklich sind. Zwei Hirten mit Liebesproblemen – Tirsis aufgrund der Launenhaftigkeit seiner Geliebten; Mireno aufgrund seiner krankhaften Eifersucht – wenden sich an den Zauberer Mauro, damit er eine Lösung finden möge. Tirsis und Mireno glauben an Zaubertränke und Beschwörungen, aber der Zauberer lehnt schwarze Magie ab: «O tu, que amb flors i minerals intentes / curar de ton amor la pena dura, / amb la cura fomentes la locura / i a la locura los furors augmentes!».11 Die erhabene Feierlichkeit von Diskurs und Habitus des Zauberers kontrastiert dabei mit dem in seiner Unverfrorenheit und ridikülen Primitivität komischen Zauberlehrling, der zur Unterhaltung des Publikums ohne viel Sinn und Verstand Zaubertränke und -sprüche aufsagt. Der Zauberer nimmt an, dass für die Leidenschaften der Seele die von ihm bereiteten Remedien nicht wirken, und schlägt als Heilmethode ein unsichtbares Mittel vor, das auf Einbildungskraft beruht: «amb fantàstica matèria / tindrà verdadera forma».12 Die gleichsam homöopathische Formel besteht darin, die eigenen Laster im Theater zu beobachten, als ob es sich um einen Spiegel handle. Dazu lädt er die Hirten ein, mit einer kleinen Nebenrolle in einer Aufführung des Mythos von Venus, Mars und Vulcan mitzuspielen. Die Inszenierung dieses Stückes stellt einen wesentlichen Teil von Lo desengany dar. Der Zugang zu dieser zweiten dramatischen Ebene, jener Ebene der mythologischen Inszenierung, vollzieht sich mittels eines Spiegels. Auf diese Ebene überträgt Fontanella eine tradierte ovidianische Erzählung, um die vielfältigen Missverständnisse aufzuzeigen, die die Liebe mit sich bringt: Venus und Mars lieben sich, aber Saturn zwingt Venus zur Ehe mit Vulcan. Sie täuscht ihre Zustimmung zu diesem väterlichen Vorhaben vor, Mars freilich missversteht diese Täuschung, und täuscht nun seinerseits mit allen Mitteln der Kunst eisige Zurückhaltung vor, was Venus annehmen lässt, dass Mars sie tatsächlich nicht mehr liebe. Aus Groll akzeptiert

11 Cf. Fontanella (1988, 195). Übs.: «O du, der mit Blumen und Erzen versuchst, das schwere Leid deiner Liebe zu heilen, förderst du mit der Heilung nur den Wahnsinn und durch den Wahnsinn steigerst du nur die Raserei!» 12 Cf. Fontanella (1988, 195). Übs.: «mit fantastischer Materie wird eine wahre Form geschaffen».

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sie die Eheschließung mit Vulcan. Diese Fehlentwicklung, tatsächlich eine Verkettung von Missverständnissen, führt die Irrtümer der Liebe vor und zielt innerhalb der zweiten dramatischen Ebene auf eine ontologische Desillusionierung des Mars. Und durch die Aufführung erhellt sie auf der ersten dramatischen Ebene den beiden Hirten, die eine kathartische Wirkung erfahren, das Wesen ihrer Leidenschaften. So schaffen sie es, diese zu reinigen, wobei sich ihr Kummer in Freude wandelt; sie schaffen es, sich vom Liebesirrtum zu befreien und die Macht über sich selbst wieder zu erlangen. Die zwei Hirten verdeutlichen die Wirkung der Theateraufführung mit folgenden Worten: Tirsis: Has vist en est teatro eminent de les mudances i celos únic fortunat remei? Mireno: Ara he vist, Tirsis, amic, amb felicíssim succés complit l’oracle de Mauro, i vençut mon accident; vencedor lo Desengany mos errors ha descobert, que en les sombres enganyoses és lo llum més vertader.13

Die tiefgreifenden Veränderungen des klassischen Mythos, die darin bestehen, eine Liebesbeziehung zwischen Venus und Mars vor der Eheschließung der Liebesgöttin mit Vulcan zu erfinden und die Handlung mit der Desillusionierung des Mars zu beenden, verstärken in außerordentlicher Weise die metafiktionalen Wirkungspotentiale, da sie die literarisch und ikonographisch berühmteste Szene des antiken Mythos ausblenden: die des Ehebruchs. Mehr noch: in der szenischen Version in Lo desengany steht außer Zweifel, dass Mars sich nicht mehr sexuell mit Venus vereinigen wird. Die Autorschaft des eingeschobenen dramatischen Werks, das innerhalb von Lo desengany aufgeführt wird, wird nicht weiter ausgeführt. Trotzdem ist deutlich, dass der Autor, der die kathartische Erfahrung produziert, der Zauberer Mauro ist, der auf diese Art und Weise zu einer eigentümlichen Mischung aus Demiurg und Dramaturg wird. Er ist imstand, seine Magie mit einer Illusionskunst, dem Thea-

13 Cf. Fontanella (1988, 245). Übs.: «Tirsis: Hast du in diesem glänzenden Theaterstück das einzig wirkungsvolle Heilmittel gegen die Launen der Liebe und die Eifersucht erkannt? Mireno: Nun habe ich, lieber Tirsis, mit glücklichstem Erfolg die Vorhersage von Mauro erfüllt gefunden; und ich habe mein Unglück besiegt; die siegreiche Enttäuschung hat meine Irrtümer enthüllt, da in den trügerischen Schatten das wahrhaftigste Licht ist».

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ter, zu verbinden. Mauro avanciert zum Symbol der Allmacht eines Dramaturgen, der von der ersten dramatischen Ebene aus ein Schauspiel zweiter Ordnung entwickelt und in vollem Bewusstsein um seine Wirkung durchführt. Mit dem Initialversprechen, dass in diesem glänzenden Theater der Kummer der Hirten vergehen werde und mit der finalen Feststellung, dass der Spiegel des Schauspiels seine Wirkung nicht verfehlt habe, entwirft die Figur des Mauro nicht nur ein Modell philosophischer Magie, sondern schreibt auch den Sinn der Bedeutung fest, die er der theaterinternen Aufführung geben will. Darüber hinaus stabilisiert er die produktionsseitig intendierte Rezeption des Werks insgesamt. Die beiden dramatischen Werke Fontanellas zeigen uns so Epizentren der barocken Rationalität: die Illusion, den magischen Spiegel, die falschen Gewissheiten der Realität und das wahre Wissen des Spiels der Fiktion. In beiden Fällen ist das zentrale Problem der fiktionalen Figuren durch Täuschungen bestimmt, deren Auflösung über einen Prozess der Desillusionierung und des Wahrheitszugangs vollzogen wird. Metafiktionale Strategeme erlauben es Fontanella, fiktionale Autorfiguren in das Innere der dramatischen Werke einzubringen. Die Identität beider Autorfiguren ist dabei sehr ähnlich: Fontano ist ein göttlich inspirierter Hirte mit prophetischen Gaben; Mauro ein Zauberer, der imstand ist, große Wahrheiten durch den Möglichkeitssinn fiktionaler Diskurse zu enthüllen, Diskurse also, welche in besonderem Maße dazu angetan sind, anthropologische Grundmuster zu reflektieren und anzuzeigen. Beide Figuren sind imstand, auf texttranszendente Wahrheiten zuzugreifen und sie durch theatrale Darstellungsformen und rhetorische Kompetenz vor Augen zu stellen. Die Dichte und die Anlage der auktorialen Figurationen von Fontanella lassen sich im europäischen Horizont über literarische Referenzen einordnen, die im Fall der Tragicomedia von Tassos Aminta zu Guarinis Pastor fido reichen und die sich im Fall von Lo desengany vor allem auf Corneilles Illusion comique beziehen. Freilich sind weder der ehrenwerte Carino aus dem Pastor fido noch der Dichter Tirsi aus dem Aminta mit Fontano oder Mauro gleichzusetzen. Carino, der im fünften Akt des Pastor fido in seine Heimat zurückkehrt, wird für gewöhnlich als Figuration Guarinis gelesen; aber innerhalb des Werks hat er eine allein instrumentelle und keine strukturbildende Funktion inne, wenn er, in Einklang mit Guarinis eigener Enttäuschung, gegen die Unberechenbarkeit höfischer Karrieren polemisiert.14 Die Figur des Tirsi im Aminta verbindet die Gunst des Hofes mit der poetischen Inspiration und macht dabei die poetische

14 Cf. Guarini (1999, 231–236).

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Inspiration als Vision ausdrücklich, und zwar in Worten, die Fontanella recht nahe scheinen: e fecondando illuminar d’intorno vidi Febo e le muse e fra le muse Elpin seder accolto, ed in quel punto sentii me far di me stesso maggiore pien di nuova virtù, pien di nova deitade, e cantai guerre ed eroi, sdegnando pastoral ruvido carme.15

Gleichwohl: weder Tassos Tirsi noch Guarinis Carino handeln als Autoren der betreffenden dramatischen Werke, und deshalb wirken sich die fiktionsinternen Ergebnisse ihrer Überlegungen nicht auf die Grundstruktur der Werke und ihre hermeneutischen Implikaturen aus. Anders ist es bei Corneilles Illusion comique. Auch bei Corneille besuchen zwei Hirten einen Zauberer, der auf ein Theaterstück zurückgreift, um die – hier freilich weniger liebesleidenschaftlichen – Probleme von einem der beiden zu lösen. Trotz der offenkundigen Verstrebungen zwischen der ersten dramatischen Ebene beider Werke erfindet Alcandre, der von Corneille geschaffene Magier, kein Theaterstück zur Heilung des Pridamant, der die Fährte seines Sohnes verloren hat. Vielmehr erlaubt er ihm, seinen Sohn in verschiedenen heiklen Situationen zu sehen, die der Vater und die Zuschauer für real halten, die sich aber am Ende als fiktiv erweisen werden.16 Tatsächlich ist Clindor, der verlorene Sohn, ein Schauspieler, und was man auf der zweiten dramatischen Ebene des Theaters im Theater sieht, ist das Werk, in dem er auftritt. Aber es handelt sich nicht um ein von Alcandre mit der Absicht verfasstes Werk, die Konflikte der Figuren der ersten dramatischen Ebene zu behandeln. Der Zauberer gewährt dem Vater schlichtweg einen privilegierten Zugang zu einer Vorführung des Sohnes und steigert dabei die Täuschung in der scheinbaren Wirklichkeit eben dieser Illusion. Vielleicht gründet Alcandres Schlussrede zur Verteidigung des Theaters und der Schauspieler allein auf «le divertissement le plus doux de nos princes, / les délices du peuple et le plaisir des grands»,17 und damit auf einer Position, die weit entfernt ist von dem kathartisch wirkungsvollen Modell, das Fontanella in Lo desengany in Szene setzt. Dass die kathartische Wirkung tragikomischer Handlung bei Fontanella übrigens im Widerspruch zu Guarini steht, der im Compendio della poesia tragicomica die Wirkung der Gat-

15 Cf. Tasso (1985, 649). 16 Zur folgenden Argumentation, cf. Solervicens (2012b, 189–213); Rossich (2012, 207–228); Coch (2018, 249–273). 17 Cf. Corneille (2008, 140).

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tung allein in der Linderung von Melancholie veranschlagt, sei in diesem Zusammenhang nur angemerkt.18 Aus dieser hier nur kurz angeschnittenen komparatistischen Rahmung erlangen die auktorialen Figurationen bei Fontanella sowohl eigenständiges Profil, als auch eine größere Bedeutung, weil sie nicht nur in, sondern auch von den dramatischen Werken handeln, in denen sie erscheinen. Es geht darum, Fontanellas Engagement für ein gelehrtes katalanisches Theater mit großer Geltungskraft zu begründen, insofern dieses göttlich initiiert ist, und darum verbindliche, ja autoritative Leseanweisungen für die eigenen Werke zu liefern, indem er als Verstehensmodell die Reaktion der Hirten der ersten dramatischen Ebene auf die Theateraufführung in Lo desengany ausweist. Der solchermaßen in seiner Bedeutung auktorial stabilisierte Text zeigt die Irrtümer der Liebe und die Wirkung, welche die Betrachtung dieser Irrtümer in zwei modellhaften Zuschauern auslöst. Von hier aus zeichnet sich eine Auffassung vom Theater nicht als Unterhaltungsform, sondern als Erkenntnisform menschlicher Rationalität und Affektivität, die der inspirierten Rede Fontanos ausgreifende Tragweite und Autorität verleiht. Damit könnte man es nun sein Bewenden haben lassen. So einfach ist es aber nicht, denn Fontanellas intrikates Spiel mit Sein und Schein, mit Kunst und Metakunst geht noch einen Schritt weiter: beide auktorialen Figurationen werden offensichtlich auch textintern parodiert. Parallel zur bedeutsamen Selbstautorisierung des Fontano in dem Prolog der Tragicomèdia erscheint die banale Autorisierung von Posimico als Gracioso, der die Krone der Komik stiehlt. Genauso wohnen wir in Lo desengany neben der Lehre des Mauro einer Banalisierung seiner Postulate durch den Gracioso Cassolano bei, der Zaubertränke in makkaronischem Latein und Griechisch bespricht. Aber die Komizität des Posimico und des Cassolano ist kein Verfahren der Subversion, sondern steigert letztlich die barocktypischen Spannungen und bietet Gelegenheit zur Auflockerung, ohne dabei die Prämissen der Mauro- und Fontano-Figuren in ihrem Kern in Frage zu stellen. Die scharfen Kontraste zwischen tragisch und komisch, zwischen Realität und Täuschung oder zwischen falscher Gewissheit und ontologisch gewisser Desillusionierung bilden barocke Bausteine für die

18 «Dico pertanto che la tragicomedia, sì come l’altre, anch’essa ha duo fini, lo strumentale, ch’è forma risultante dell’imitazione di cose tragiche e comiche miste insieme, e l’architettonico, ch’è il purgar gli animi dal male affetto della maninconia, il qual fine è tutto comico e tutto semplice [. . .]. Or lievisi il terrore e riducasi al pericolo solo, fingasi nuova favola e nuovi nomi, e tutto sia temperato col riso, resterà il diletto dell’imitazione, che sarà tragico in potenza ma non in atto, e rimarrane la scorza sola, ma non l’affetto, che è il terribile, per purgare», Guarini (2008, 238).

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Herstellung auktorialer Figurationen im Theater Fontanellas und befördern dabei die Komplexität dramatischer Metafiktionalität. In diesem typisch barocken Spiel der Kontraste stellen sich der Hirte Fontano und der Magier Mauro massiv über ihre komischen Rivalen, und nicht umsonst erscheinen sie als virtuose Autoren der dramatischen Werke und als deren verbindliche Sinnstifter. Die Vision, die diese fiktionsintern modellierten Autoren fiktionaler Werke von literarischer Produktion und Rezeption liefern, muss daher unbedingt für ein adäquates Verstehen der Werke Fontanellas in Rechnung gestellt werden.

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