Heimat global: Modelle, Praxen und Medien der Heimatkonstruktion 9783839445884

The idea of "home(-land)" is more topical than ever. This book explains the reasons for this and shows how the

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Heimat global: Modelle, Praxen und Medien der Heimatkonstruktion
 9783839445884

Table of contents :
Inhalt
Danksagungen
Heimat global: Einleitung
I. Historische und politische Semantik
Nation vs. Natalität
Heimat und das Janusköpfige des Nationalen
Heimat-Ambivalenzen
Heimatdiskurse und Gewalt
Heimat ohne Ausländer!
II. Hermeneutik der Weltbeziehung
Heimat als anverwandelter Weltausschnitt
Das Gegenteil des Exils
Heimat als subjektive Konstruktion
Heimat ohne Tamtam
Heimat oder das Projekt vom Glück auf Erden
III. Heimat gestalten
Die Schule „pflegt die Verbundenheit mit der Heimat in Thüringen und in Deutschland“
Politische Heimat bei Hannah Arendt
„Recht auf neue Heimat“ mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingsproblematik
Making Heimat
Heimaten der Nachhaltigkeit
IV. Mediatisierte und narrativierte Heimat
„Heimat bewahren“
Auf ewig keine Heimat
Plurale Heimatentwürfe im „German Heimat Film“
„Even if You return, Ulysses“, oder die Geschichte von der Heimkehr
Autorinnen und Autoren

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Edoardo Costadura, Klaus Ries, Christiane Wiesenfeldt (Hg.) Heimat global

Edition Kulturwissenschaft  | Band 188

Edoardo Costadura (Prof. Dr.), geb. 1962, lehrt romanische Philologie mit dem Schwerpunkt französische und italienische Literaturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er forscht zur Literatur des Adels, zur europäischen Romantik und zur Modellierung des Heimat-Begriffs in der Gegenwart. Klaus Ries (Prof. Dr.), geb. 1957, lehrt Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt auf dem langen 19. Jahrhundert (1789-1914) an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er forscht zur Ideengeschichte, Philosophiegeschichte und zur revolutionären Epoche 1789-1848/49. Christiane Wiesenfeldt (Prof. Dr.), geb. 1972, ist Lehrstuhlinhaberin für Historische Musikwissenschaft am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Publikationen und aktuelle Forschungsprojekte umfassen das 15. bis 20. Jahrhundert, mit Schwerpunkten auf der Musik der Frühen Neuzeit sowie des 19. Jahrhunderts.

Edoardo Costadura, Klaus Ries, Christiane Wiesenfeldt (Hg.)

Heimat global Modelle, Praxen und Medien der Heimatkonstruktion

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4588-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4588-4 https://doi.org/10.14361/9783839445884 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Danksagungen

Edoardo Costadura, Klaus Ries und Christiane Wiesenfeldt | 9 Heimat global: Einleitung

Edoardo Costadura, Klaus Ries und Christiane Wiesenfeldt | 11

I. HISTORISCHE UND POLITISCHE SEMANTIK Nation vs. Natalität Historische Bedingungen und epistemologische Schichten von ‚Heimat‘

Hans Ulrich Gumbrecht | 45 Heimat und das Janusköpfige des Nationalen

Benjamin-Immanuel Hoff und Konstanze Gerling-Zedler | 57 Heimat-Ambivalenzen Bewahren und Vernichten, Fürsorge und Verbrechen

Friedemann Schmoll | 81 Heimatdiskurse und Gewalt

Werner Nell | 105 Heimat ohne Ausländer! Sächsische Impressionen und nachdenkliche Reflexionen zum Konnex von Lokalpatriotismus, Populismus und Fremdenangst

Justus H. Ulbricht | 133

II. HERMENEUTIK DER WELTBEZIEHUNG Heimat als anverwandelter Weltausschnitt Ein resonanztheoretischer Versuch

Hartmut Rosa | 153 Das Gegenteil des Exils

Jean-Christophe Bailly | 173

Heimat als subjektive Konstruktion Beheimatung als aktiver Prozess

Beate Mitzscherlich | 183 Heimat ohne Tamtam Ortsgebundenheit und Fernweh in der Kleinstadt

Frank Eckardt | 197 Heimat oder das Projekt vom Glück auf Erden

Renate Zöller | 219

III. HEIMAT GESTALTEN Die Schule „pflegt die Verbundenheit mit der Heimat in Thüringen und in Deutschland“ Der Heimatbegriff im Bildungsauftrag des modernen Schulwesens

Gregor Reimann, Sophie Seher und Michael Wermke | 237 Politische Heimat bei Hannah Arendt Individuelle Zugehörigkeit und das Recht auf Rechte

Walter Pauly und Barbara Bushart | 281 „Recht auf neue Heimat“ mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingsproblematik

Martina Haedrich | 293 Making Heimat Neue Heimaten für Einwanderer in Deutschland

Peter Cachola Schmal | 313 Heimaten der Nachhaltigkeit

Karsten Gäbler | 331

IV. MEDIATISIERTE UND NARRATIVIERTE HEIMAT „Heimat bewahren“ Inszenierung und Verklanglichung des rechtsextremen Heimatbegriffs durch Monumentalästhetik

Yvonne Wasserloos | 355

Auf ewig keine Heimat Überlegungen zu ‚Utopie‘ und ‚Heimat‘ bei Helene Fischer und Frei.Wild

Thorsten Hindrichs | 379 Plurale Heimatentwürfe im „German Heimat Film“ Identitätsangebote in „Sushi in Suhl“, „Sommer in Orange“ und „Soul Kitchen“

Sylka Scholz | 399 „Even if You return, Ulysses“, oder die Geschichte von der Heimkehr

Edoardo Costadura | 429

Autorinnen und Autoren | 449

Danksagungen Edoardo Costadura, Klaus Ries und Christiane Wiesenfeldt

Dieser Band geht aus einer internationalen Tagung hervor, die unter dem Titel „Heimat – Ein Problem der globalisierten Welt?“ zwischen dem 20. und dem 23. September 2017 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena stattgefunden hat. Die Tagung und das Buch konnten nur dank der Mitwirkung von Institutionen, Kollegen1 und Mitarbeitern zustande kommen. Unser Dank gilt den Institutionen, die die Tagung finanziert und erst möglich gemacht haben: der Fritz-Thyssen-Stiftung für Wissenschaftsförderung, der Ernst-Abbe-Stiftung und dem Forschungszentrum Laboratorium Aufklärung der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Wir danken ferner den Mitarbeitern und Hilfskräften, die sowohl an der Organisation der Tagung als auch an der redaktionellen Arbeit des Bandes beteiligt gewesen sind: Karl Philipp Ellerbrock, Benjamin Lanzki, Roman Lüttin, Hendrik Michael Mathias, Ina Rapp und Maria Safenreiter. Ein besonderer Dank geht an Claudia Brauer für die Organisation und Koordination der Tagung und an Diana Di Maria für die Gestaltung und Erstellung des Satzes des Bandes.

1

Aus Gründen der Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen in den folgenden Beiträgen die männliche Form gewählt, es ist jedoch immer auch die weibliche Form mitgemeint.

Heimat global: Einleitung Edoardo Costadura, Klaus Ries und Christiane Wiesenfeldt

La vraie patrie est celle où l’on rencontre le plus de gens qui vous ressemblent. Stendhal, Rome, Naples et Florence en 18171 Die wahre Heimat ist jene, in der man der größten Anzahl von Menschen begegnet, die einem ähnlich sind.

1. DEUTSCHLAND 2017, IM HERBST (ERSTER DEUTUNGSVERSUCH) Die Debatte über Heimat wird seit über einem Jahr in politischen Diskussionen, Foren, Tageszeitungen usw. geführt. Am prominentesten sind wohl die Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zum Tag der deutschen Einheit 2017,2 ferner der Koalitionsvertrag der derzeit amtierenden Großen Koalition,3

1

Stendhal: Rome, Naples et Florence en 1817, In: Ders., Voyages en Italie. Textes établis, présentés et annotés par V[ictor] Del Litto, Paris 1973, S. 98.

2

Steinmeier, Frank-Walter: Rede beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2017 in Mainz, http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/ Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2017/10/171003-TdDE-Rede-Mainz.html (09.10.2018). Die Rede des Bundespäsidenten Steinmeier wurde mittlerweile in einer Broschüre des Bundespräsidialamtes veröffentlicht. Vgl. Steinmeier, Frank-Walter:

12 | Edoardo Costadura, Klaus Ries und Christiane Wiesenfeldt

dessen vieldiskutiertes Kernstück die Erweiterung des Ressorts des Bundesinnenministers Horst Seehofer um ein Ressort „Heimat“ gewesen ist, schließlich der programmatische, viel diskutierte Aufsatz Seehofers in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. April 2018.4 Beschleunigt durch den Globalisierungsprozess waren die konkreten Anlässe dieser Debatte die sogenannte Flüchtlingskrise und ihre Folgen, zu denen man auch die zum Teil unerwarteten Zugewinne der AfD bei der letzten Bundestagswahl rechnen kann. Diese politische und soziale ‚Wetterlage‘ hat die traditionellen Parteien veranlasst, sich zu dem seit den Anfängen der 1990er-Jahre zunehmend wieder von den rechtspopulistischen Parteien (neben der AfD von den Republikanern und der NPD) in Anspruch genommenen Heimat-Begriff zu positionieren. In diesem Zusammenhang haben auch die Parteien aus dem linken demokratischen Spektrum wie DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Teil bemerkenswerte Deutungsansätze entwickelt, die diesen Begriff für progressive sozialpolitische Entwürfe verfügbar machen.5 Kontrovers wurde beispielsweise in der ZEIT-Serie „Heimat“6 diskutiert. Eine der vehementesten Widerreden gegen die Einrichtung eines „HeimatMinisteriums“ kam von Daniel Schreiber, dem Autor eines vielbeachteten Essais über Heimat.7 Schreiber befand darin, dass mit dem neuen Ministerium „ein mo„Die Demokratie ist die Staatsform der Mutigen“. Reden und Interviews Band I: 12. Februar – 25. Dezember 2017, Berlin 2018, S. 246-263. 3

Vgl. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode: Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/ 847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pd f?download=1 (09.10.2018).

4

Seehofer, Horst: Heimat, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.04.2018.

5

Vgl. dazu Schneider, Johannes: Hilfe, es heimatet sehr [Eine Grüne und der Bundespräsident sprechen von „Heimat“ – und Linke sagen ihnen, warum das nicht geht. Aber doch! Die Heimat der Zukunft ist Patchwork statt Privileg], In: ZEIT ONLINE, 09.10.2017,

https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-10/heimat-katrin-

goering-eckardt-frank-walter-steinmeier (10.10.2018); Eppelsheim, Philip/Nefzger, Andreas: Heimat [Die Politik entdeckt das eigene Land. Wollen die Bürger das überhaupt? Eine Reise durch Deutschland], In: Frankfurter Allgemeine Woche, 27.10.2017. 6

ZEIT ONLINE.

7

Schreiber, Daniel: Deutschland soll werden, wie es nie war [„Heimat“ ist kein politisch unschuldiger Begriff, daran ändert ein Ministerium nichts. Wir sollten das Wort

Heimat global: Einleitung | 13

derner Begriff geprägt [wurde], der vor- und antimoderne Ideen zum Ausdruck brachte. Die Idylle, die das Wort beschreiben sollte, war schon zum Zeitpunkt ihrer Beschreibung unwiderruflich verloren“. Heimat beschreibe „den Ort einer irrealen, rückwärtsgewandten Sehnsucht“. Schreiber sieht in der Renaissance des Heimat-Begriffs den „Wunsch, in eine idealisierte Vergangenheit zurückzukehren, die es nie gegeben hat.“ Eine ähnliche Position bezieht etwa der Ethnologe Karl-Heinz Kohl in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.8 Anders hingegen argumentiert Susanne Scharnowski, die die bei Schreiber artikulierte „Geringschätzung von Heimat“ als Ausdruck einer privilegierten Schicht deutet, die aus dem „Anywhere“ ihrer kosmopolitischen Welt auf die Probleme jener herabschauen, „die nicht die Mittel oder den Wunsch haben, ihre vertraute Umwelt im Strudel globaler Hypermobilität aufzugeben oder aber befürchten, dass ihre Umwelt sich so rasch und über ihre Köpfe hinweg verändert, dass sie sich in ihr nicht mehr heimisch zu fühlen vermögen.“ 9 Diese Debatte bzw. diese „Heimat-Renaissance“ hat viele Beobachter und Journalisten überrascht. Uns hingegen nicht, wie vermutlich auch andere Kolleginnen und Kollegen nicht, die sich – wie wir – seit Jahren mit der Modellierung des Heimat-Begriffs beschäftigen.10 Unser Buch möchte nicht zuletzt die heutige Debatte über Heimat beleuchten und einige Antworten auf Fragen geben, die sich aus dieser Debatte ergeben. Warum ist diese Debatte nicht überraschend? Ein kurzer Rückblick auf die vergangenen 70 Jahre bundesrepublikanischer Geschichte mag hilfreich sein, um die heutige „Heimat-Renaissance“ einzuordnen. Aus Reaktion auf die Manipulation des Heimat-Begriffs durch die Nationalsozialisten sowie auf den ebenfalls dem rechten Rand überlassen], In: ZEIT ONLINE, 10.02.2018, http://www.zeit.de/ kultur/2018-02/heimatministerium-heimat-rechtspopulismus-begriff-kulturgeschichte; vgl. ebenfalls Schreiber, Daniel: Zuhause: Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen, Berlin 2018. 8

Thiel, Thomas: Die Politik hat einen Sehnsuchtsort gewählt. Im Interview: der Ethnologe Karl-Heinz Kohl. [Ein Gespräch über die politische Renaissance des Heimatbegriffs und Loyalitätsgefühle in Migranten-Gemeinden], In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.03.2018.

9

Scharnowski, Susanne: Die Verlustangst ist real [Das Wort ‚Heimat‘ ist derzeit Gegenstand einer kritischen und auch hämischen Debatte. Aber was soll an diesem Wort so schlimm sein?], In: ZEIT ONLINE, 17.02.2018, https://www.zeit.de/kultur/201802/heimat-heimatministerium-moderne-verlustangst (10.10.2018).

10 Vgl. Costadura, Edoardo/Ries, Klaus (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016.

14 | Edoardo Costadura, Klaus Ries und Christiane Wiesenfeldt

diskreditierten Nations-Begriff ist Heimat nach 1945 – das ist vielfach untersucht worden – einer zweifachen und nur auf den ersten Blick widersprüchlichen Transformation unterzogen geworden: Einerseits wurde Heimat vollends idyllisiert und in eine stilisierte und letztlich inhaltsleere, heile Welt projiziert (dies ist vornehmlich in den sogenannten Heimat-Filmen der 1950er-Jahre sichtbar);11 andererseits wurde der Begriff negiert und in das unverfängliche, weil weder national noch ethnisch markierte Ideal des „Verfassungspatriotismus“ überführt.12 Beide Strategien gehorchen einem (angesichts des Ausmaßes des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs, mit dem Heimat nunmehr assoziiert wurde) nachvollziehbaren, aber freilich problematischen Mechanismus der Verdrängung. Erst im Laufe der 1970er-Jahre beginnt eine Neuausrichtung des Blickes auf Heimat. Ein erstes Ausrufezeichen wird durch eine von Alexander Mitscherlich moderierte Radiosendung des Hessischen Rundfunks im Dezember 1970 gesetzt.13 Aus diesem Gespräch lassen sich einige wegweisende Thesen herauskristallisieren: Heimat kann nicht mehr als ein „statischer Begriff“, d.h. als eine im Ursprungsort verankerte Weltbeziehung aufgefasst werden;14 Heimat ist vielmehr ein dynamischer Begriff und mithin ein lebenswerter Raum, der gesell11 Zum deutschen Heimat-Film vgl. Kaschuba, Wolfgang u. a. (Hrsg.): Der deutsche Heimatfilm. Bildwelten und Weltbilder. Bilder, Texte, Analysen zu 70 Jahren deutscher Filmgeschichte, Tübingen 1998; Boa, Elizabeth/Palfreyman, Rachel: (Un-) Happy Families. Heimat and Anti-Heimat in West German Film an Theatre, In: Dies.: Heimat - a German dream: Regional loyalties and national identity in German culture 1890 – 1990, Oxford 2000, S. 86-129; sowie Heizmann, Jürgen (Hrsg.): Heimatfilm international, Stuttgart 2016. 12 Zum Komplex des Verfassungspatriotismus vgl. Sternberger, Dolf: Verfassungspatriotismus, Frankfurt a. M. 1990. 13 Die Transkription dieser Sendung ist zusammen mit der Transkription einer weiteren Sendung zum Thema „Nation“ 1971 veröffentlich worden: Kalow, Gert/Mitscherlich, Alexander (Hrsg.): Was ist Heimat? [mit einem „Dossier“], In: Dies. (Hrsg.), Hauptworte – Hauptsachen. Zwei Gespräche: Heimat. Nation, München 1971, S. 11-68. Am Gespräch nahmen Norbert Blüm, Heinrich Böll, Günter Grass, Eugen Lemberg und Alexander Mitscherlich teil. Auf diese Sendung als „den Ausgangspunkt der Konjunktur von Heimat in den 70er Jahren“ haben Gunther Gebhard, Oliver Geisler und Steffen Schröter mit Nachdruck hingewiesen (Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen: Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen, statt einer Einleitung, In: Dies. [Hrsg.], Heimat: Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007, S. 9-56, hier S. 38). 14 Kalow, Gert/Mitscherlich, Alexander (Hrsg.): Was ist Heimat?, S. 54-55.

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schaftspolitisch neu definiert und gestaltet werden muss, nicht zuletzt, um ihn gegen neue demagogische Vereinnahmungen zu schützen.15 Ein Paradigmenwechsel ist in denselben Jahren auch im wissenschaftlichen Diskurs zu beobachten. Hier sind in erster Linie die grundlegenden Arbeiten von Ina-Maria Greverus zu nennen, die eine anthropologisch bedingte Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt postulieren.16 Sie haben den Anstoß gegeben zu einer Reihe von wichtigen Untersuchungen von Kulturwissenschaftlern, Volkskundlern, Historikern, Soziologen, Psychologen und Kulturhistorikern, die seitdem auf diesem Gebiet v. a. in Deutschland und in den U.S.A. geforscht haben (Celia Applegate, Peter Blickle, Alon Confino, Friederike Eigler, Karen Joisten, Joachim Klose, Andreas Schumann, Manfred Seifert usw.).17 15 Ebenda, S. 25: [Grass] „Aber ich hielte es für falsch, den Begriff Heimat in seiner Wandelbarkeit den Demagogen zu überlassen. Es wäre auf intellektueller Seite ein verhängnisvoller Fehler, wenn wir aus lauter Abscheu vor diesem demagogischen Mißbrauch nun sagten, mit diesem Begriff wollen wir nichts mehr zu tun haben. Wir haben ihn neu zu definieren!“ Norbert Blüms Definition des „Heimatrechts“ geht in dieselbe Richtung: „[ich würde] das Heimatrecht definieren als ein Recht zu wohnen, wo ich will, zu arbeiten, wo ich will, und möglichst einen Raum zu haben, den ich gestalten kann, in dem es mir gut geht – nicht nur im materiellen Sinne“ (ebenda, S. 31). 16 Greverus, Ina-Maria (Hrsg.): Der territoriale Mensch: ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen, Frankfurt a. M. 1972; Dies.: Auf der Suche nach Heimat, München 1979. 17 Applegate, Celia: Zwischen Heimat und Nation: die pfälzische Identität im 19. und 20. Jahrhundert, Kaiserslautern 2007; Bausinger, Hermann: Auf dem Weg zu einem neuen, aktiven Heimatverständnis. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte, In: Wehling, Hans-Georg (Hrsg.), Heimat heute, Stuttgart u.a. 1984, S. 11-27; Blickle, Peter: Heimat. A critical theory of the German idea of homeland, New York 2002; Confino, Alon: The nation as a local metaphor: Württemberg, imperial Germany, and national memory; 1871 - 1918, Chapel Hill/London 1997; Eigler, Friederike/Kugele, Jens (Hrsg.): Heimat. At the intersection of memory and space, Berlin/Boston 2012; Eigler, Friederike u.a. (Hrsg.): Post/Nationale Vorstellungen von „Heimat“ in deutschen, europäischen und globalen Kontexten, Frankfurt a. M. u.a. 2012; Joisten, Karen: Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie, Berlin 2003; Klose, Joachim (Hrsg.): Heimatschichten: anthropologische Grundlegung eines Weltverhältnisses, Wiesbaden 2013; Schumann, Andreas: Heimat denken. Regionales Bewußtsein in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1815 und 1914, Köln 2002; Seifert, Manfred (Hrsg.): Zwischen Emotion und Kalkül: „Heimat“ als Argument im Prozess der Moderne, Leipzig 2010.

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Nicht zu unterschätzen ist auch die Wirkung des Film-Epos von Edgar Reitz, Heimat.18 In diesem epochalen Werk gelang erstmals eine realistische, nuancierte, einfühlsame filmisch-bildhafte Darstellung einer deutschen (dörflichen) Heimat in ihrer komplexen historischen und emotionalen Dichte. Man kann sagen, dass Heimat ein Anti-Heimatfilm und dennoch auch ein reflektierter HeimatFilm ist. Immerhin sind Marias Vater und Bruder Nationalsozialisten: Der eine wird Bürgermeister, der andere SS-Offizier. Die Hauptfigur von Heimat 1, die Figur, die alles zusammenhält (und die von Marita Breuer verkörpert wird), ist also Tochter und Schwester der einzigen wahren und überzeugten Nazis des Dorfes. Sie symbolisiert in diesem Sinne dieses Miteinander, diese unentwirrbare Kontiguität und Einheit von Heimat und ihren Verwerfungen.19 Nicht zu unterschätzen ist ebenso die Langzeitwirkung der politischen Aktion der GRÜNEN (später BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), die seit den 1980erJahren, nicht zuletzt in Zusammenhang mit der atomaren Katastrophe von Tschernobyl im Jahre 1986, in immer breiteren Schichten der Bevölkerung, über die Parteigrenzen und auch die sozialen Schichten hinweg ein neues Bewusstsein für die Natur, für die Umwelt und für die Umwelt als Heimat aller geweckt hat. 20

18 Es sei hier insbesondere auf die erste Staffel, Heimat 1, verwiesen, die erstmals 1984 in die Kinosäle kam und in den Folgejahren auch im deutschen Fernsehen zu sehen gewesen ist (Heimat, D. 1981-1984. Regie: Edgar Reitz. Drehbuch: Edgar Reitz, Peter F. Steinbach. Kamera: Gernot Roll. Musik: Nikos Mamangakis. Darsteller: Gertrud Bredel, Willi Burger, Marita Breuer, Michael Lesch, Dieter Schaad, Rüdiger Weigang, Karin Rasenack u.a. Produktionsfirma: Edgar Reitz Filmproduktion GmbH [München]). 19 Einer der drei Autoren dieser Einleitung darf hier eine persönliche Erinnerung einflechten: Als er 1984, damals noch Student der Literaturwissenschaft, erstmals Elmar Tophoven, dem deutschen Übersetzer Becketts, Robbe-Grillets usw., in der Ecole normale supérieure (Paris) begegnete, wo dieser nunmehr in der Nachfolge von Paul Celan als Deutsch-Lektor tätig war, bekam er als Geschenk auf dem Nachhauseweg das bei Greno verlegte Drehbuch von Edgar Reitz’ Heimat. Tophoven, der den Russlandfeldzug überlebt hatte und als erster Deutsch-Lektor an der Sorbonne nach 1945 in den frühen 1950er-Jahren berufen worden und nach Paris gezogen war, sagte dem jungen Studenten: „Sie müssen das lesen. Das ist sehr wichtig!“ 20 Vgl. dazu auch Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen: Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen, statt einer Einleitung, S. 42-43; die Autoren verweisen u.a. auf einen Beitrag des SPIEGEL aus dem Jahre 1979 mit dem Titel Heimat – unter grüner Flagge (DER SPIEGEL 30 [1979], S. 134-136).

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Dann kamen der Fall der Mauer und die Wende. Die Wiedervereinigung beförderte einerseits die Enttabuisierung des deutschen Nationalgefühls und damit auch die Wiederbelebung des Nexus zwischen (national und ethnisch definierter) Volksgemeinschaft und Heimat im Diskurs der Republikaner, der DVU und der NPD. Andererseits kam nach der Wende die Geschichte des spezifischen ostdeutschen Heimatgefühls in den Blick. Zu DDR-Zeiten hatte die Parteiführung vielfach und mit bedingtem Erfolg versucht, die DDR als Heimat in das Bewusstsein der Bürger zu verankern und zu legitimieren.21 Paradoxerweise – aber nur auf den ersten Blick paradox – ist die Anverwandlung der DDR als Heimat erst nach der Wende gelungen, als sich bei vielen ehemaligen DDR-Bürgern der zum Teil nicht unbegründete Eindruck einer „Übernahme“ ihres Landes durch den „Westen“, d. h. eines nicht partizipativen Einigungsprozesses, nach und nach festigte. Exemplarisch ist Volker Brauns Epigramm Das Eigentum („Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen“).22 In diesem Zusammenhang hat sich auch das paradoxe Gefühl eines Verlustes breit gemacht – paradox, weil ex post eine verklärte und identitätsstiftende, als solche jedoch nie dagewesene DDRHeimat konstruiert wurde, um als verloren betrauert zu werden.23 Die Ostalgie, die eine Form von Nostalgie, d. h. von Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat ist, kann mithin als ein später, durch die Verwerfungen der Wiedervereinigung herbeigeführter Sieg des SED-verordneten DDR-Heimatgefühls gedeutet werden. 21 Vgl. dazu Palmowski, Jan: Inventing a socialist nation: Heimat and the politics of everyday life in the GDR, 1945 - 1990, Cambridge 2009 (dt. Die Erfindung der sozialistischen Nation. Heimat und Politik im DDR-Alltag. Aus dem Englischen von Marcel Streng, Berlin 2016); vgl. auch Mitzscherlich, Beate: Heimatlos im eigenen Land? Wie Ausländerhass entstehen kann, In: Dresdner Hefte 133, Wie die „BRD“ nach Sachsen kam (2018), S. 41-50, hier S. 41-42; vgl. ferner den Beitrag von Benjamin-Immanuel Hoff und Konstanze Gerling-Zedler im vorliegenden Band. 22 Braun, Volker: Das Eigentum, In: DIE ZEIT, 10.08.1990; nun in: Ders., Der Stoff zum Leben 1-4. Gedichte, Frankfurt a. M. 2009, S. 97. 23 Vgl. abermals Braun: Das Eigentum, V. 8-9: „Was ich niemals besaß wird mir entrissen. / Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.“ Zur Ostalgie vgl. Ludewig, Alexandra: ,Ostalgieʻ und ,Westalgieʻ als Ausdruck von Heimatsehnsüchten. Eine Reise in die Traumfabriken deutscher Filme, In: Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen (Hrsg.): Heimat: Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, S. 141-160, hier S. 142; vgl. ferner Rehberg, Karl-Siegbert: Ost – West, In: Lessenich, Stephan/Nullmeier, Frank (Hrsg.): Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York, 2006, S. 209-233.

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Im Laufe der 1990er-Jahre, als sich die Hoffnungen auf eine nunmehr endgültig befriedete (Nachkriegs-)Welt – für viele bereits ein „Ende der Geschichte“24 – als Illusion erwiesen, geriet schließlich erstmals jene Dimension der „flüchtigen“ (Post-)Moderne25 in den Vordergrund und ins Bewusstsein, die abwechselnd (je nach Sprache) „Globalisierung“ oder „Globalisation“ genannt wird. Vor diesem Hintergrund26 war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Heimat-Frage neu verhandelt und ins Zentrum des politischen und gesellschaftlichen Diskurses geraten würde. Nun ist es spätestens seit dem Herbst 2017 soweit, was auch bedeutet, dass die Geisteswissenschaften sich der Herausforderung, die die neuartige Relevanz des Begriffs bedeutet, stellen müssen.

2. ANTHROPOLOGISCHE UND PSYCHOLOGISCHE BETRACHTUNGEN (ZWEITER DEUTUNGSVERSUCH) Warum aber erhitzt eine solche Frage die Gemüter? Warum kann Heimat mitunter zum Reizthema werden? Der Grund dafür ist unserer Ansicht nach nicht nur in den Verwerfungen der neueren geschichtlichen Entwicklungen zu suchen. Es liegt auch und vielleicht vor allem daran, dass Heimat – anthropologisch betrachtet – einem natürlichen menschlichen Grundbedürfnis entspricht. Heimat hat mit Behausung zu tun. Heimat stellt insofern ein natürliches und ursprüngliches Bedürfnis des Menschen dar. Dieses Bedürfnis ist nicht primär ein Harmonie-Bedürfnis. Es entspringt vielmehr der ureigenen Angst des Menschen, der Natur ungeschützt ausgeliefert zu sein. Das haben nicht zuletzt die bislang unveröffentlicht gebliebenen Studien von Hans Blumenberg auf eindrückliche Art und Weise sichtbar gemacht.27 Blumenberg zeichnet das Bild eines Menschen, der aus dem Wald heraustritt auf das freie Feld und sich ungeschützt sieht und nach einem Dach, nach einer Behausung sucht. Das ist das menschliche Bedürfnis, Heimat zu suchen und zu finden. Jeder Schritt ist – wie Blumenberg schreibt

24 Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man, New York 1992. 25 Bauman, Zygmunt: Liquid Modernity, Cambridge 2000. 26 Vgl. für eine Analyse der Konstellation von 1990 auch Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen: Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen, statt einer Einleitung, S. 46-48. 27 Vgl. dazu zuletzt Blumenberg, Hans: Phänomenologischen Schriften 1981-1988, Berlin 2018.

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– ein einziges Wagnis, nicht umzufallen und ständig auf der Hut zu sein. 28 Heimat ist von daher primär Angstbewältigung: die Bewältigung der ureigenen Angst, der Natur ausgesetzt zu sein. Nicht in erster Linie die Harmoniebedürftigkeit treibt also den Menschen um, sondern die Angst und die Furcht, sobald er ‚nach draußen‘ geht. Heimat ist insofern die Antwort auf diesen angstbestimmten Urtrieb des Menschen. Davon ausgehend kann man behaupten, dass Heimat primär und ursprünglich mit dem Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit verbunden ist. 29 Edgar Reitz spricht in diesem Zusammenhang von „Geheischnis“, einem Wort, das von „einhegen“ kommt und einen umfriedeten Raum (ein „Gehegnis“) bezeichnet.30 Das war auch der ursprünglich geplante Titel der Heimat-Serie. Insofern hat Heimat psychologisch und anthropologisch starke Ähnlichkeiten mit den Begriffen von Kindheit31 und Naturzustand (Rousseau) bzw. Naiv (Schiller). Solange wir Kind sind, solange wir (als Menschheit) „naiv“ sind – d. h. eins mit uns und der Natur und mithin „unschuldig“ –, solange wissen wir nicht um diesen unseren Zustand. Wir nehmen unsere Kindheit und Unschuld erst wahr, wenn wir sie nicht mehr haben. Erst der ‚sentimentalen‘ modernen Subjektivität erscheint der Zustand der alten Griechen als ‚naiv‘ und vollkommen.32 Genauso nehmen wir die Heimat als solche, d. h. als Geborgenheit-spendenden Sehnsuchtsort, erst in 28 Vgl. hierzu die Rezension von Dieter Thomä, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.10.2018. 29 Vgl. dazu Mitzscherlich, Beate: Heimatlos im eigenen Land? Wie Ausländerhass entstehen kann, S. 48; vgl. ferner Dies.: Heimat ist etwas, was ich mache. Eine psychologische Untersuchung zum individuellen Prozess von Beheimatung, Herbolzheim 2000. 30 Vgl. Haneke, Alexander: Dieses unerfüllbare Versprechen, Im Gespräch: Edgar Reitz, Regisseur der „Heimat“-Trilogie, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.12.2017. 31 Bei einer neueren Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach meinte 87% der Befragten, „man könne bei Heimat an Kindheit denken, ebenfalls 87% an Freunde“ (Petersen, Thomas: Heimat und Heimatministerium [Manche meinen, schon der Begriff Heimat sei „rechtspopulistisch“. Wer die Menschen fragt, kommt zu anderen Ergebnissen], In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.04.2018). Interessant ist übrigens bei dieser Umfrage auch, dass die größte Gefährdung für Heimat von den meisten der Befragten in der Veränderung der Infrastruktur gesehen wird: „Dass viele alteingesessene Geschäfte schließen und dafür die immer gleichen Filialen großer Einkaufsketten aufmachen.“ 32 Vgl. dazu Szondi, Peter, Poetik und Geschichtsphilosophie I. Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung, hrsg. v. Senta Metz und Hans-Hagen Hildebrandt, Frankfurt a. M. 1974, S. 155 u. passim.

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dem Moment wahr, in dem wir sie verlieren oder längst verloren haben und folglich erstmals über das Verlorene reflektieren.33 Da Heimat – wie das Naive und die Kindheit – mit dem Ursprung, mit den ersten und deshalb (meist) liebenswertesten und wichtigsten Gefühlen verbunden ist, die wir haben können, übt Heimat eine solche Faszination aus. Deshalb entfalten das Wort und die Idee eine solche ursprüngliche, wenn nicht sogar anthropologische Anziehungskraft. Deshalb ist Heimat ein heikles Thema bzw. zuweilen sogar ein Reizthema. Aus diesen hier notwendiger Weise nur skizzenhaft ausgeführten psychologischen und anthropologischen Erwägungen heraus mag man auch nachvollziehen können, warum Heimat als politisches Schlagwort vornehmlich für reaktionäre, rückwärtsgewandte oder gar für rassistisch-exkludierende politische Projekte missbraucht werden konnte. Problematisch wird Heimat nämlich, wenn man sich der Illusion hingibt oder wenn die Illusion genährt wird, man könne sie so und innerhalb sicherer ‚Grenzen’ bewahren, wie man sie einmal in der eigenen Kindheit erlebt hat. Dabei wird gerne übersehen oder verschwiegen, dass Heimat – im Sinne von Patria naturae oder Patria loci, also im Sinne von Ursprungsheimat34 – nicht nur ein Ort, sondern auch und vor allem eine Zeit ist: eine „Zeit-Heimat“.35 In diese Zeit-Heimat kann niemand zurückfahren, es sei denn, man würde eine Zeit-Maschine bauen. Diese Zeit-Heimat ist also endgültig verloren, nicht nur, weil sie sich unweigerlich verändert hat, sondern auch und vor allem weil das Ich, das sich daran erinnert und danach zurücksehnt, sich ebenso unweigerlich verändert hat. Die Zeit-Heimat ist mithin Teil eines SeinsZustandes unseres Selbst, der unwiederbringlich verloren ist. 36 Dass eine solche 33 Vgl. dazu Sebald, W.G.: Ein riesiges Netzwerk des Schmerzes. Gespräch mit Doris Stoisser (2001), In: Ders., „Auf ungeheuer dünnem Eis“. Gespräche 1971 bis 2001, hrsg. v. Torsten Hoffmann, Frankfurt a. M. 2011, S. 224-251, hier S. 225: „die Heimat oder das, was man als solches bezeichnet, ist sichtbar nur aus der Entfernung“, d.h. aus der Distanz und aus der Erfahrung des Verlustes heraus. Daraus leitet Sebald folgende Periodisierungshypothese ab: „deshalb gibt es diesen Begriff ja auch erst seit dem 19. Jahrhundert, […] seit die Leute eben begonnen haben, zahlreich auszuwandern“ (Sebald verweist auf die deutschen und italienischen Auswanderungswellen). 34 Vgl. dazu Vielberg, Meinholf: Ego enim Tolosae positus, tu Treveris constituta. Gallien im Briefwerk des Sulpicius Severus und des Paulinus von Nola, In: Costadura, Edoardo/Ries, Klaus (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, S. 115-138, hier S. 121. 35 Vgl. dazu im vorliegenden Band die Beiträge von Jean-Christophe Bailly und von Edoardo Costadura. 36 Vgl. dazu Jankélévitch, Vladimir: L’irréversible et la nostalgie, Paris 2011, S. 370.

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Erkenntnis schmerzhaft ist, liegt auf der Hand. Es ist also nicht verwunderlich, dass viele Menschen (ganz gleich, welchen Geschlechts und welcher Herkunft) sich lieber der Nostalgie hingeben, als zu trauern und den Verlust zu akzeptieren. Nur: Nostalgie wirkt paralysierend. Sie ermöglicht eine paradoxe und mithin irreführende Befriedigung, weil sie die nahezu physische Illusion erzeugt, dass im Verlustschmerz das Verlorene noch da – also doch nicht ganz verloren – sei, obwohl man rationaliter genau weiß, dass dem nicht so ist. Insofern kann man die politische Indienstnahme der Heimatliebe für politische (restaurative) Zwecke als den Missbrauch der Sehnsucht nach der Zeit-Heimat definieren.

3. HEIMAT ALS GESELLSCHAFTLICHES PROJEKT UND INTERAKTIVES MODELL (DRITTER DEUTUNGSVERSUCH MIT BLICK AUF DIE AKTUELLE POLITISCHE DEBATTE IN DEUTSCHLAND) Lässt sich Heimat „Nostalgie-frei“, d. h. historisch bewusst und operationell denken? Die Autoren dieses Bandes sind der Überzeugung, dass dies nicht nur möglich, sondern auch vonnöten ist. Ein möglicher Ansatz wird im vorliegenden Band von Hartmut Rosa entwickelt, der Heimat als „anverwandelten Weltausschnitt“, d. h. als eine Dimension der Weltbeziehung denkt, in der das Subjekt mit der Welt in ein Resonanzverhältnis treten kann – wobei mit „Resonanz“ stets eine dialogische Beziehung gemeint ist.37 Unter diesen Voraussetzungen kann man Heimat als eine oder gar als die beste denkbare, d. h. lebenswerteste Art des Weltverhältnisses beschreiben. Deswegen ist Heimat eine so zentrale Frage für die politische und soziale Selbstvergewisserung eines Gemeinwesens. Heimat ließe sich mit anderen Worten als der Inbegriff des lebenswerten Ortes bezeichnen. Sie ist die zivilgesellschaftliche, aber auch, breiter gedacht, die anthropologische Utopie schlechthin, eine Art Idealzustand, den man ständig versucht herzustellen und zu gestalten. Nach diesem Verständnis ist Heimat ein eminent gesellschaftlicher Begriff, den man in der Nachfolge des sogenannten „spatial turn“ räumlich denken

37 Vgl. den Beitrag von Hartmut Rosa im vorliegenden Band. Für die theoretischen Voraussetzungen des Beitrags, vgl. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt a. M. 2016.

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kann.38 Räume sind nicht fest vorgegebene Größen, sondern sie entstehen erst durch Interaktionsprozesse. Genauso verhält es sich auch mit dem „Raum Heimat“: Er ist nicht vorgegeben, sondern er entsteht erst durch menschliches Handeln und Interagieren. Heimat ist demnach ein interaktiver Raum, der sich ständig verändert und der erst durch Interaktion entsteht – Interaktion von Menschen, von Diskursen, von Medien, von Wissen usw. Erst durch das Interagieren entstehen Heimaten, die sich ständig durch neue Interaktion verändern. Vor diesem Hintergrund ist es lohnenswert, die derzeitigen Deutungs- und Gestaltungsangebote von einigen deutschen demokratischen Parteien in Bezug auf Heimat zu untersuchen. Zu allererst ist die eingangs bereits erwähnte Rede Frank-Walter Steinmeiers am 3. Oktober 2017 (in Mainz) anzuführen. In dieser bemerkenswerten Rede reagiert der Bundespräsident auf die Ergebnisse der Bundestagswahl 2017 und insbesondere auf den Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag. Steinmeier deutet die Wahl als das Symptom einer Spaltung in der Gesellschaft und einer Entfremdung zwischen Teilen der Bevölkerung und dem Staat bzw. dem Land. Vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise und der Globalisierung entwirft er eine Umdeutung des Heimat-Gefühls, das er dem Monopol eines rückwärtsgewandten Denkens streitig machen und mithin als einen progressiven gesellschaftspolitischen Begriff neu aufstellen möchte: „Diese Sehnsucht nach Heimat dürfen wir nicht denen überlassen, die Heimat konstruieren als ein ‚Wir gegen Die‘; als Blödsinn von Blut und Boden; die eine heile deutsche Vergangenheit beschwören, die es so nie gegeben hat. Die Sehnsucht nach Heimat – nach Sicherheit, nach Entschleunigung, nach Zusammenhalt und vor allen Dingen Anerkennung –, diese Sehnsucht dürfen wir nicht den Nationalisten überlassen.“ 39

Bemerkenswert ist dabei, dass Steinmeier im gleichen Zuge einem nostalgischen Heimat-Verständnis (also der Fixierung auf die „Zeit-Heimat“) eine klare Absa38 Zum Zusammenhang zwischen Heimat-Begriff und „spatial turn“ vgl. Eigler, Friederike: Heimat, space, narrative: toward a transnational approach to flight and expulsion, Rochester, New York 2014, S. 13-30; vgl. ferner Epple, Angelika: Horst Seehofer kriegt im Raum die Kurve. Heimat ist kein Containerdorf: Was Historiker aus dem „spatial turn“ lernen können, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.10.2018. Es handelt sich hierbei um einen Auszug aus dem Vortrag der Autorin auf dem diesjährigen Historikertag in Münster. 39 Steinmeier: Rede beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2017 in Mainz.

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ge erteilt und ausdrücklich von Heimat als von einem dynamischen, demokratisch zu entwickelnden Zukunfts-Projekt spricht: „Ich bin überzeugt, wer sich nach Heimat sehnt, der ist nicht von gestern. Im Gegenteil: je schneller die Welt sich um uns dreht, desto größer wird die Sehnsucht nach Heimat. […] Ich glaube, Heimat weist in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. Heimat ist der Ort, den wir als Gesellschaft erst schaffen. Heimat ist der Ort, an dem das ‚Wir‘ Bedeutung bekommt. So ein Ort, der uns verbindet – über die Mauern unserer Lebenswelten hinweg –, den braucht ein demokratisches Gemeinwesen und den braucht auch Deutschland.“ 40

Der Koalitionsvertrag, auf dem die Arbeit der derzeit amtierenden Bundesregierung (CDU/CSU/SPD) fußt, ist zum Teil auch als eine Antwort auf die Rede des Bundespräsidenten zu lesen.41 Wichtigstes Stichwort im IX. Kapitel des Dokuments ist die „Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse“, d. h. ganz konkret die Sicherstellung einer bundesweit gleichwertigen Infrastruktur, wobei der Stärkung der strukturschwachen Regionen und vornehmlich der „ländlichen Räume“ ein besonderer Stellenwert beigemessen wird.42 Neben den konkret wirtschaftlichen und infrastrukturellen Aspekten wird ausdrücklich für die 40 Ebenda. 41 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, IX: Lebenswerte Städte, attraktive Regionen und bezahlbares Wohnen, S. 109 ff. 42 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, S. 112: „Wir sorgen dafür, dass zwischen Städten und ländlichen Regionen keine Kluft entsteht, dass die Menschen in diesem Land unabhängig von ihrem Wohnort gleichwertige Entwicklungschancen haben.“ Vgl. ebenda, S. 116: „Wir werden die Strukturschwächen in ländlichen Räumen, in Regionen, Städten und Kommunen in allen Bundesländern wirkungsvoll bekämpfen und die Kommunen bei den Herausforderungen des demografischen Wandels unterstützen, um gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Wir wollen, dass die Menschen in allen Regionen einen guten Zugang zu Leistungen der Daseinsvorsorge einschließlich der Bildung haben. Sie sollen am Aufbau neuer, moderner Infrastrukturen teilhaben. Wir wollen, dass der Strukturwandel in den Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit gelingt und die wirtschaftlichen Unterschiede weiter abgebaut werden. […] Im Mittelpunkt stehen Maßnahmen der Daseinsvorsorge sowie eine flächendeckende Gesundheits- und Pflegeversorgung, Infrastruktur, Mobilitätsangebote und -konzepte, Bildung und Kultur, Hochschule und Forschung, Breitband- und Mobilfunkausbau, Digitalisierung, Unternehmens- und Behördenansiedlungen, die Stärkung der regionalen Wirtschafts- und Innovationskraft und Fachkräftesicherung.“

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„Stärkung der Zivilgesellschaft und des Ehrenamts“ plädiert, denn „Gesellschaft und Demokratie leben von Gemeinschaft. Familiäre Bindung und ein stabiles Netz mit vielfältigen sozialen Kontakten fördern das individuelle Wohlergehen und verhindern Einsamkeit.“43 Besonderes Interesse verdient ferner der programmatische Aufsatz des Bundesinnenministers Horst Seehofer mit dem schlichten Titel Heimat.44 Darin macht sich Seehofer in einem ersten Schritt das „Narrativ“ der linken wie rechten Globalisierungsgegner zu Eigen:45 Die Menschen seien durch die Folgen der Globalisierung, d. h. einer „Entgrenzung aller Lebensverhältnisse“ verunsichert; an der Globalisierung haben sich nur die „wirtschaftlichen Eliten“ bereichert, die „kleinen Leute“ seien hingegen dadurch verunsichert worden. In einem zweiten Schritt folgert Seehofer aus dieser Diagnose, dass erstens die Menschen durch „eine Freiheit ohne Ordnung“ überfordert und dass sie zweitens einem illusorischen, für die „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz) symptomatischen „Selbstoptimierungswahn“ auf den Leim gegangen seien. Seehofer sieht hier einen „Konflikt zwischen Freiheit und Ordnung, zwischen Veränderung und Tradition“, einen „Kampf um die Bewahrung des Traditionellen, des Heimischen, des Allgemeinen, des Verbindenden und des Kollektiven“. Damit kommen wir zum problematischen Aspekt von Heimat in Seehofers Lesart: Denn unter diesen Begriff subsumiert der Bundesinnenminister sowohl eine gesellschaftliche, nationalstaatlich nicht markierte Dimension (das Allgemeine, das Verbindende, das Kollektive, näherhin die Vielfalt und das Dynamische) als auch eine historische Dimension, d. h. „Tradition“. Diese historische, in einer in den Jahrhunderten gewachsenen nationalen Identität fußende Prägung ist entscheidend. Deutsch43 Vgl. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, S. 118. 44 Seehofer, Horst: Heimat. Zu Seehofers Aufsatz vgl. auch Epple, Angelika: Horst Seehofer kriegt im Raum die Kurve. 45 Die Globalisierungskritik ist sowohl links als auch rechts angesiedelt. In einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 06.10.2018 (Warum muss es Populismus sein?) hat Alexander Gauland (AfD) diese Konvergenz als politisches Argument verwendet. Nicht zufällig charakterisiert er die Gewinner der Globalisierung als eine „neue Elite“ bzw. eine „globalisierte Klasse“, die eine „schwache“ Bindung „an ihr jeweiliges Heimatland“ aufweise. Deswegen setzen sie bedenkenlos die „Heimat“ aufs Spiel. Zu der von dieser Stellungnahme ausgelösten Debatte vgl. u.a. Augstein, Jakob: Von Gauland lernen, In: SPIEGEL ONLINE, 08.10.2018, http://www. spiegel.de/politik/deutschland/populismus-von-alexander-gauland-lernen-kolumnevon-jakob-augstein-a-1232089.html; ferner Altenbockum, Jasper von: Kalte Heimat, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.2018.

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land habe zwar die Fähigkeiten, für unterschiedliche Menschen Heimat zu werden, jedoch nur unter der Voraussetzung, dass gewisse „Zugehörigkeitsmerkmale“ von den einer Gesellschaft zugehörigen Menschen anerkannt werden. Obwohl der Text von „gemeinsam definierten“ Merkmalen spricht, stellt sich unweigerlich die Frage, wie Tradition „gemeinsam definiert“ werden kann, wenn sie vorgeblich seit Jahrhunderten festgelegt ist und als solche übernommen werden soll. Gemeint ist also nicht ein stets neu verhandelbares Bekenntnis zu einer gemeinsamen Lebensform. Mit „Zugehörigkeitsmerkmalen“ meint Seehofer vielmehr Eigenschaften, die von einer bestimmten (christlichen) Tradition gestiftet und (vor-)definiert werden. Anstelle eines gemeinsam im gesellschaftlichen Dialog gestifteten Sinnzusammenhangs tritt also ein Katalog von Regeln, von Traditionen und Gebrauchen, mit denen sich alle „identifizieren“ sollen: „Wenn diese Menschen [d. h.: die „aus anderen Regionen und Kulturen der Welt“ Zugezogenen] Deutschland als ihre Heimat betrachten, wenn sie sich mit den Gebräuchen, Traditionen und Denkweisen und Lebensverhältnissen hier identifizieren und sie teilen wollen, dann ist der Prozess der Integration letztlich ein leichter Weg des bewussten und gewollten Dazugehörens.“46

Damit wird deutlich, dass für Seehofer Heimat im eigentlichen Sinne keiner „Verhandlung“ bedarf: Ihre nicht verhandelbaren „Merkmale“ müssen von denjenigen, die von außen in die Gemeinschaft einwandern, anerkannt und angenommen werden. Pluralistisch, d. h. aus der Perspektive eines nicht geopolitisch national markierten Verständnisses von Gemeinwesen, wird Heimat in einigen Interviews von Robert Habeck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aus dem Jahre 2018 reflektiert. Seine Äußerungen sind insofern interessant, als sie (durchaus im Sinne der Rede Steinmeiers) den Übergang von einem „nostalgischen“ zu einem „aktiven“ und gestalterischen Verständnis von Heimat vollziehen. In einem Gespräch vom 7. Oktober 2017, das man als Reaktion auf die Rede des Bundespräsidenten Steinmeier lesen muss, definiert der Bundesvorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Heimat als den „Raum, in dem wir leben und den wir gestalten, gleich, woher wir kommen. Heimat ist unser Zusammenleben.“47 In einem späte-

46 Seehofer, Horst: Heimat. 47 „Wir müssen uns trauen, über Heimat zu reden“. Robert Habeck (Grüne) im Gespräch mit Matthias Wyssuwa, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.10.2017. Vgl. ebenfalls Burger, Reiner: Mehr Heimat wagen! Wie die Grünen einen lange ver-

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ren Interview wird Habeck deutlicher und benennt die gesellschaftlichpolitischen Implikationen eines progressiven Heimat-Verständnisses: „Heimat hat immer dann Renaissance, wenn das Heimweh am größten ist und wir Halt suchen. Es ist ein Versprechen eher als ein Ort. Und jeder versteht darunter etwas anderes. Heimat wird individuell aufgeladen mit Erinnerung an Kindheit, Landschaft, Liebe. Und hier öffnet sich ein Raum für linke Interpretationen. Heimat kann bedeuten, dass in einer Gesellschaft solidarisch miteinander umgegangen wird: dass Menschen sich mit ihrer Arbeit identifizieren können, dass es sozialen Zusammenhalt gibt und Räume, wo Menschen mit Menschen kommunizieren, ohne Stress und Leistungsdruck. Das wird in der Abkürzung dann irgendwann die Erinnerung, wie Schwarzbrot mit Honig geschmeckt hat, als wir als Kinder barfuß über den Strand gelaufen sind. Gemeint ist aber das Gefühl: Man fühlte sich geborgen. Und wir sind auf der Suche nach einer Politik, die Geborgenheit bietet.“48

Habeck plädiert demnach dafür, die Deutung der Wirklichkeit nicht den anderen (sprich: der AfD) zu überlassen. Damit widerspricht er der Einschätzung eines Daniel Schreiber, für den Heimat kein unschuldiger Begriff ist, weswegen man davon absehen sollte, ihn zu verwenden. Eine von Habecks Position nicht weit entfernte Deutung des Heimat-Begriffs hat der Thüringer Kultusminister Benjamin-Immanuel Hoff zur Debatte gestellt und für ein „linkes“ Verständnis von Heimat geworben. 49 In einem gemeinsam mit Alexander Fischer verfassten Beitrag plädiert Hoff dafür, „Heimat als Chiffre für den Wunsch nach einem Leben in verlässlichen räumlichen familiären, sozialen ökonomischen und institutionellen Arrangements“ zu verstehen. Daraus ergäbe sich dann in einem zweiten Schritt die Notwendigkeit, „zu buchstabieren,

schmähten Begriff auch retrospektiv für sich in Anspruch nehmen, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.2017. 48 Die Grenze ist an vielen Stellen überschritten. [Grünen-Chef Habeck fordert die Bundesregierung auf zu prüfen, ob die AfD nicht vom Verfassungsschutz überwacht werden müsste. Und er hat sich Gedanken gemacht, wie ein grüner Heimatbegriff aussehen kann, denn: „Wir suchen nach einer Politik, die Geborgenheit bietet“], Interview von Constanze von Bullion und Stefan Braun, In: Süddeutsche Zeitung, 07.03.2018, https://www.sueddeutsche.de/politik/gruenen-chef-habeck-zur-afd-die-grenze-ist-anvielen-stellen-ueberschritten-1.3894843#redirectedFromLandingpage (10.10.2018). 49 Vgl. den Beitrag von Benjamin-Immanuel Hoff und Konstanze Gerling-Zedler im vorliegenden Band.

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wie die Sicherheit vor den großen Risiken des Lebens gewährleistet wird.“50 Wie beim Bundesvorsitzenden von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird Heimat ausdrücklich als ein gesellschaftliches Projekt verstanden, allerdings steht bei Hoff die soziale Sicherheit im Vordergrund.

4. MEDIALE RENAISSANCE VON HEIMAT(EN) Parallel zur und verwoben mit der aktuellen politischen Heimat-Renaissance sowie auf der oben beschriebenen gesellschaftlichen, anthropologischen Grundkonstante des Beheimatungs-Bedürfnisses fußend, hat das Thema Heimat in den letzten Jahren eine mediale Revitalisierung erfahren, deren Dauer und Intensität ein bloßes Mode-Phänomen deutlich übersteigen. Zahlreiche Kultur- und Medienschaffenden widmen sich nicht erst seit der Flüchtlingskrise 2015, seitdem aber noch verstärkt dem Heimat-Thema, so dass in einigen Fällen sogar schon von einem „Boom“ die Rede ist.51 Film, Literatur, Kunst und Musik, aber auch die digitalen Medien nehmen sich des Themas Heimat aus unterschiedlichsten Perspektiven an und modellieren damit den aktuellen gesellschaftlichen HeimatBegriff in einem nicht zu unterschätzenden Maße nachhaltig mit, nicht zuletzt weil sie – im Gegensatz zu politischen Debatten – einen deutlich größeren Rezipientenkreis aus Musikhörern, Lesern, Kinobesuchern, Internetnutzern oder Kunstliebhabern erreichen. Dabei ragt das Mediale nicht selten ins Politische und umgekehrt, wenn etwa das Bundesland Bayern sich im Internet mit dem Slogan „Welcome dahoam“ bildgewaltig in einer Mischung aus Naturidylle, Gemeinschaft und Brauchtum präsentiert und in englisch-bayerischer Doppelsprachigkeit das Exklusive mit dem Inklusiven zu verbinden sucht (es sei dem Betrachter indes anheimgestellt, ob dies über den Slogan hinaus gelungen ist). 52 Die mediale Teilhabe am Heimat-Thema der letzten Jahre ist inhaltlich kaum, systematisch indes durchaus auf einige gemeinsame Nenner zu bringen. Schaffenspsychologisch liegt in den meisten Fällen die Suche nach einem neuen Verständnis von Identität zugrunde, sowohl der eigenen (z. B. angesichts globa50 Fischer, Alexander/Hoff, Benjamin-Immanuel: Links ist da, wo Menschen eine sichere Heimat haben, In: Welt N 24, 15.10.2017, https://www.welt.de/debatte/kommen tare/article169509675/Links-ist-da-wo-Menschen-eine-sichere-Heimat-haben.html (09.10.2018). 51 März, Ursula: Auf einmal Heimat, In: DIE ZEIT, 26.10.2017, spricht von einem „unübersehbaren Boom des Dorfromans“. 52 https://www.welcomedahoam.com (21.10.2018).

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ler Verunsicherungsimpulse in der eigenen Biographie oder Region), als auch der fremden (z. B. angesichts der Zuwanderung unbekannter Kulturen, die es zu begreifen53 und bei der Identitätssuche in der neuen, eigenen Fremde zu unterstützen gilt54). Hierin äußert sich sowohl die gemeinsame Überzeugung, dass Heimat – wie Andreas Huber schon 1999 festhielt – „die Identitätskategorie par excellence“,55 als auch das Bewusstsein, dass Heimat ein Konzept sei, „das in ästhetischer Rezeption erlebt und von dieser aus über davon (mehr oder weniger) abweichende Lebenswelten gelegt wird“. 56 In vielen Fällen wird die Motivation, Heimat medial und ästhetisch zu revitalisieren, dabei getragen von einer Abwehrhaltung gegenüber politischer Vereinnahmung von Heimat(en). So erklärt die Autorin Petra Piuk, die 2017 den nicht nur in ihrer österreichischen Heimat vieldiskutierten Roman Toni und Moni oder: Anleitung zum Heimatroman veröffentlichte, in einem Gastbeitrag zur Serie „Was ist Heimat“ 57 der Süddeutschen 53 In diesen Kontext lässt sich das seit Oktober 2016 existierende Integrations-Projekt „Heimat: Musik“ der Nordrhein-Westfälischen Musikschulen stellen. Dort heißt es erklärend: „Kulturelle Teilhabe ist ein wichtiger Faktor zur Integration von Menschen aus anderen Kulturräumen. Die Musikschulen aus NRW haben sich zum Ziel gesetzt, diese Aufgabe verstärkt in den Fokus zu nehmen und so einen Nährboden für eine gelungene Integration zu ermöglichen. Es zeigt sich, dass Musik – da sie auch ohne Sprachkenntnisse auskommt – sehr gut geeignet ist, um das gemeinsame Erleben und Kennenlernen zu unterstützen“, https://heimat-musik.de (24.10.2018). 54 Der Deutsche Musikrat hat sich hierzu eindeutig positioniert und am 24. Oktober 2015 eine Resolution „Willkommen in Deutschland: Musik macht Heimat! Von der Willkommens- zur Integrationskultur“ verabschiedet: „Im Kern geht es darum: […] Heimat in der Belebung bestehender Werte und in der dialogorientierten Erweiterung des gesellschaftlichen Wertekanons auf der Grundlage des Grundgesetzes für alle Menschen in unserem Land eine neue Dimension zu geben.“, http://www.miz.org/ dokumente/2015_Resolution_DMR_Willkommen_in_Deutschland.pdf (23.10.2018). Aktuell wird im Internetportal des Musik-Informations-Zentrums (MIZ) ein Portal zu „Musik und Integration“ aufgebaut, ausgehend von einem ersten, vom Musikrat imitierten Portal „Musik macht Heimat – Engagement für Dialog“ vom Dezember 2016, http://www.miz.org/fokus_musik_macht_heimat.html (23.10.2018). 55 Huber, Andreas: Heimat in der Postmoderne, Zürich 1999, S. 29. 56 Joachimsthaler, Jürgen: Heimat, schrecklicher Sehnsuchtsort. Zur Anatomie einer Ambivalenz,

In:

Literaturkritik.de,

22.11.2015,

http://literaturkritik.de/public/

rezension.php?rez_id=21365 (25.10.2018). 57 Die Artikelserie der Süddeutschen Zeitung: Was ist Heimat startete im Januar 2018, https://www.sueddeutsche.de/thema/Was_ist_Heimat (23.10.2018).

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Zeitung: „In Zeiten, in denen Heimat wieder zum Kampfbegriff der Rechten wird und gleichzeitig verkitscht im Fernsehen oder als Hirschmotiv auf Kaffeetassen auftaucht, ist es auch wieder notwendig, Heimatromane zu schreiben. Und zwar solche, die den Heimatbegriff kritisch hinterfragen.“58 Ebenfalls als Gemeinsamkeit, quasi als strukturelle Voraussetzung und Wirkkraft medialer Heimat-Konzepte kann gelten, dass mediale Heimaten stets Wahlheimaten sind, d. h. die Medien formulieren Beheimatungs-Angebote und können damit wiederum ein Begehren nach Heimat aktivieren oder intensivieren. Die Medienwissenschaftlerin Alena Dausacker spricht in dem Zusammenhang von einem „medialen Beheimatetsein“ und begreift die mediale Heimat als „Parapatria“59, gewachsen aus der parasozialen Interaktion von Nutzer und Medium, wobei Medien hier einerseits interpersonale social networks, andererseits digitale animistische Konzepte einschließen. Für das Bedürfnis nach Beheimatung sei diese strukturelle Unterscheidung zunächst einmal nebensächlich; selbst das „mediale Herumlungern“ in sozialen Netzwerken und auf StöberKaufseiten im Internet ist Ausdruck dieses parapatrialen Grundbedürfnisses. 60 Die neuen Medien haben also unmittelbar Teil an Praxen der Beheimatung und teilen insofern in ihren interaktiven Komponenten produktiver medialer Auseinandersetzung mit Heimat(en) mehr mit den ‚klassischen’ Medien Buch, Film, Musik und Kunst, als man gemeinhin annimmt. Heimat wird inhaltsästhetisch sodann durch unterschiedlichste Zugriffe medial fruchtbar gemacht, von denen viele – es sei denn, sie sind ideologisch bzw. nationalistisch motiviert61 – keine Verlust- oder Identitätsängste pflegen, sondern 58 https://www.sueddeutsche.de/kultur/was-ist-heimat-fragen-die-besonders-weh-tun-1.3 817310 (25.10.2018). Das meint auch Ursula März, wenn sie in DIE ZEIT ihren Artikel zum „Boom“ deutscher Heimatromane mit dem Satz schließt: „Die Entwicklung eines kritischen Heimatbegriffs aber ist schon deshalb eine Angelegenheit der Literatur, um unsere Vorstellung von Heimat völkischem Leitkulturgeschrei zu entreißen.“ (März, Ursula: Auf einmal Heimat). 59 Dausacker, Alena: Medien als Heimat, Masterarbeit am Institut für Medienwissenschaft, Universität Bochum 2015, zur Parapatrialität vgl. S. 52 ff. http://de.dausacker. net/sites/default/files/texte/alena_dausacker_-_medien_als_heimat.pdf (21.10.2018). 60 Ebd., S. 55. 61 Verlustängste sind eine der gepflegten thematischen Konstanten in rechtsnationaler oder -radikaler Musik, vgl. dazu den Beitrag von Yvonne Wasserloos in diesem Band sowie die ihr von im Januar 2018 an der Hochschule für Musik Rostock veranstaltete Tagung „Rechtsextremismus – Musik und Medien” (eine Drucklegung der Beiträge ist dazu in Vorbereitung). Vgl. zum Heimat-Konzept in aktueller rechtspopulistischer

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kreativ und produktiv mit ihrem Gegenstand umgehen.62 Dies ist nicht erst seit 2015 so, schon die Ausstellung „Heimat Kunst“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt vom 7. April bis 2. Juli 200063 zeigte ein Umdenken. Ihr Leitkonzept entstammte dem Medien- und Kommunikationsphilosophen Vilém Flusser, der den Migranten als „Mensch der heranrückenden heimatlosen Zukunft“64 begreift. Hier steht das Neue, Schöpferische und Neugierige in der Auseinandersetzung mit Heimat im Zentrum. An diese erwartungsvolle Suchbewegung schließen auch die vielen neuen Heimatfilme an, die ihre Identitätsangebote sowohl in historisch-fiktiven wie modern-fiktiven Settings formulieren.65 Die Bandbreite ist entsprechend groß und schließt auch teildokumentarische Filme ein. Nach erfolgreichen Roadmovies wie Sound of Heimat. Deutschland singt! (2011), Regie: Arne Birkenstock und Jan Tengeler, bieten aktuell auch generationenübergreifende Dorf-Porträts wie Butterbrot und Freiheitsliebe. Edling (2018), Regie: Bernhard Golla, neue Aspekte medialer Heimatinszenierung an. Die Kritik hebt hier vor allem den produktiven Umgang mit dem Thema Dorf-Heimat hervor: „‚Butterbrot und Freiheitsliebe’ ist ein Film mit einem ganz anderen Tenor: Heimat ist witzig. Heimat ist solidarisch. Und Heimat ist vor allem vielfältig. Das alles zeigt diese Mischung aus Spielfilm und Dokumentation, in der Kinder Musik auch Wiesenfeldt, Christiane: Heimat „hören“ und „singen“. Problemgeschichte und Potenziale des Heimatbegriffs in der Musikforschung, In: Costadura, Edoardo/Ries, Klaus (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, S. 171-200, zus. mit Michael Chizzali (Eigenanteil: S. 183-200). Vgl. auch jüngst dazu Custodis, Michael: Singen, um die Welt zu ändern. Zum politischen Potenzial von Liedern nach 1945, Erfurt 2017. 62 Vgl. dazu den Beitrag von Edoardo Costadura in diesem Band, der im literarischen Umgang mit dem Heimkehr-Motiv aktuell entmythisierende und remythisierende Tendenzen beobachtet, die aus (historischen oder eigenen) Verlustängsten resultieren mögen, diese aber stets produktiv machen. 63 Vgl. http://archiv.hkw.de/de/shop/kataloge/HeimatKunst/c_index.html (23.10.2018). 64 Flusser, Vilém: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Düsseldorf 1994, S. 29. 65 Vgl. dazu den Beitrag von Sylka Scholz in diesem Band, die drei aktuelle deutschsprachige Filme untersucht: Sommer in Orange (2011), Regie: Marcus H. Rosenmüller; Sushi in Suhl (2012), Regie: Carsten Fiebele; Soul Kitchen (2009), Regie: Fatih Akin. Zu den ersten, neuen „Heimatfilmen“ zählen auch Hierankl (2003), Regie: Hans Steinbichler; Wer früher stirbt ist länger tot (2006), Beste Zeit (2007), Beste Gegend (2008) und Beste Chance (2014), Regie sämtlich: Marcus H. Rosenmüller; Die Geschichte vom Brandner Kaspar (2008), Regie: Joseph Vilsmaier.

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und Jugendliche darstellen, was die Alten über das frühere Edling zu erzählen wissen.“66 Den Themenbereich von Flucht, Migration und Exil, verbunden mit einer literarischen Vorlage aus dem Jahre 1942, schreitet auch der neue Film von Christoph Petzold, Transit (2018) aus, der auf dem gleichnamigen Roman von Anna Seghers basiert und im heutigen Marseille spielt. Diese Vielfalt ist ebenso in der Literatur durch den bereits erwähnten Trend zum Heimatroman auffindbar, in dem die gesamte Bandbreite ästhetischer Verortungsstrategien67 zwischen kitschiger Nostalgie bis ironischer Distanzierung anzutreffen ist, bis hin zum dem Phänomen eines auf elf Teile angelegten, teilautobiographischen Romanzyklus Ortsumgehung von Andreas Maier über seine Heimat Wetterau, dessen sechster Teil (Die Universität) aktuell erschienen ist68 und der von der Literaturkritik als neue „Heimatsaga“69 gefeiert wird. Einen ganz anderen, kaum weniger originellen Zugriff probiert die Autorin Nora Krug in Heimat. Ein deutsches Familienalbum (2018), das als grafisch-fotographischschriftliches Gesamtkunstwerk die verspielte Anmutung einer bunten Familienbiographie mit nachdenklichen Reflexionen über Heimatsehnsucht und deutsche Schuld verbindet.70 Auch in der Musik – dort, wo sie sich popkulturell nicht ab66 Feckl, Johanna: Edling sucht nach seiner Vergangenheit, in der SZ-Serie „Was ist Heimat“, 24.07.2018, https://www.sueddeutsche.de/muenchen/ebersberg/kino-edlingsucht-nach-seiner-vergangenheit-1.4066731 (26.10.2018). 67 Vgl. zur Raumbezogenheit von Heimat in der Literatur die Studie von Friederike Eigler: Heimat, space, narrative: toward a transnational approach to flight and expulsion, sowie die beiden Sammelbände Heimat: At the Intersection of Memory and Space, hrsg. von Friederike Eigler und Jens Kugele, Berlin 2012, sowie Heimat – Räume: komparatistische Perspektiven auf Herkunftsnarrative, hrsg. von Jenny Bauer, Claudia Gremler und Niels Penke, Berlin 2014. 68 Berlin, Suhrkamp (erschienen am 12.02.2018). Zu den aktuellen deutschsprachigen Heimatromanen zählen des Weiteren (in Auswahl): Josef Bierbichler, Mittelreich (2011); Katharina Hacker, Eine Dorfgeschichte (2011); Bernd Schroeder, Auf Amerika (2012); Dörte Hansen, Altes Land (2015); Juli Zeh, Unterleuten (2016); Nis-Momme Stockmann, Der Fuchs (2016); Alina Herbing, Niemand ist bei den Kälbern (2017) und Katrin Seddig, Das Dorf (2017). 69 Thomas, Christian: Debakulöses Dasein. Andreas Maier setzt seine elfteilige Heimatsaga so famos wie profund fort, In: Frankfurter Rundschau, 28.02.2018, http://www.fr.de/kultur/literatur/andreas-maier-die-universitaet-debakuloeses-daseina-1456960,0 (25.10.2018). 70 Krug, Nora: Heimat. Ein deutsches Familienalbum, München 2018 [amerikanische Ausgabe: Belonging: A German Reckons with History and Home, New York 2018].

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sichtsvoll einer Beheimatungsstrategie entzieht, wie Helene Fischer dies als Pop persona und in ihrer Musik tut71 – wird das Heimat-Thema vielseitig ästhetisch produktiv gemacht. Phänomene wie der seit 2012 in Europa neu aufkommende Cloud Rap, der volkssprachliche Texte in ruhige, atmosphärische Klanggewebe kleidet, nehmen die Heimatthematik ebenso kreativ auf 72 wie die junge, deutsche Liedermacher-Szene, deren heimatbezogene Texte – in der Nachfolge von Element of Crimes Song Delmenhorst (2005) – nicht selten von einer mehrdeutigen Ironie geprägt sind, die auch in lakonische Diagnostik ohne konkreten Mitteilungswert umschlagen kann, wie bei dem, auf das biedere Münchner Nachtleben fokussierten Song Stadt, die immer schläft von Moop Mama (2014) oder – auf die Flüchtlingsthematik beziehbar – Wer nicht schwimmen kann, der taucht von Faber (2017). Auch die Kunstmusik macht das Thema Heimat für sich produktiv, und dies sowohl in Festivals73 als auch in Kompositionen, die nicht nur, aber auch im Umfeld der Musikhochschulen entstehen, sind diese doch seit jeher globale Umschlagplätze von künstlerisch aktiven Nationalitäten und damit sich wandelnden und stets neu auszulotenden, musikalischen Heimaten. 74 Nicht zuletzt gehört das Sich-Mit-Musik-Umgeben auch zu jenen medialen Erfahrungen einer „Parapatria“, die noch weit mehr als das Lesen eines Buches, Betrachten eines Filmes oder Kunstwerkes, oder das Surfen im Internet eine räumlichklangliche, damit partiell auch unmittelbar körperliche Heimat-Erfahrung ermöglicht. Dass diese angesichts der Globalisierung auch immer eine kulturell vielfältige ist, unterstreichen jährliche Veranstaltungen wie der „Tag der MuDie Autorin lebt in New York, wo sie in eine amerikanisch-jüdische Familie eingeheiratet hat. In ihrem „Familienalbum“ reflektiert sie die daraus resultierenden Veränderungen ihres Blickes auf ihre Ursprungsheimat. Vgl. dazu Platthaus, Andreas: Durchblick im Nebelmeer der deutschen Geschichte, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.08.2018,

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/heimat-von-nora-krug-durchblick-

im-nebelmeer-der-deutschen-geschichte-15741441.html (31.10.2018). 71 Vgl. dazu den Beitrag von Thorsten Hindrichs in diesem Band. 72 Als Beispiel mag der Hinweis auf den Stuttgarter Rapper RIN genügen, der mit dem Titel Bros. (2017) nicht nur mundartliche Stuttgarter Sprechweisen einarbeitet („frägt“ statt „fragt“), sondern auch insgesamt in der Tradition des Rap bemüht ist, eine lokale Verbundenheit mit seiner Heimatstadt, seinem Viertel und einem entsprechenden (hier eher lakonischen) Heimatgefühl zu transportieren. 73 Das Brahms-Festival Lübeck widmete sich z. B. 2017 dem Thema „Heimat in der Musik“. 74 Vgl. dazu aktuell das Themenheft Heimat und Kunstmusik. Heute von der TONKUNST, Jg. 12 (2018), Juli-Heft.

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sik“75 des Deutschen Musikrates, der im Jahre 2016 das Thema „Willkommen in Deutschland – Musik macht Heimat“ wählte.

5. HEIMAT GLOBAL? HEIMAT NEU DENKEN! Die Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zum Tag der deutschen Einheit 2017 hat der Gestaltung von Heimat als einem gesellschaftspolitischen Auftrag ein besonderes Gewicht beigemessen. Die Heimat-Frage ist damit endgültig ein Kernthema der aktuellen politischen Debatte geworden. Sie ist symptomatisch für die gegenwärtige politische, soziale und kulturelle „Gefühlslage“ in Deutschland und in Europa im Kontext der Globalisierung. Heimat neu denken bzw. umdeuten bedeutet aber nicht, geschichtsvergessen zu sein. Im Gegenteil: Nur vor dem Hintergrund der Vergewisserung von Geschichte kann ein Begriff neu definiert werden, und dies gilt in hohem Maße für Heimat. Zwei der drei Herausgeber dieses Bandes haben dies in einem ersten Sammelband, der die Akten einer Tagung aus dem Jahre 2014 erfasst, aus einer bereits interdisziplinären Perspektive geleistet. 76 Dieser Band will nunmehr die gegenwärtige Diskussion über Heimat reflektieren und zugleich Anstöße für einen neuen, globalen Heimat-Begriff geben. Die Herausgeber gehen dabei von der Annahme aus, dass man mit „Heimat“ weitaus mehr als nur eine Relation zum Herkunftsort oder zum unmittelbaren Lebensumfeld, sondern einen Modus der Weltbeziehung fassen kann. Dieser Modus lässt sich je nach existentieller Lage unterschiedlich modellieren, er setzt aber eine wie auch immer gelungene Anverwandlung von Welt voraus. Ein derartiges Heimatverständnis ist erst in der globalisierten Moderne denkbar geworden, weil sich dadurch die Möglichkeit bietet, jenseits nationaler Grenzen neue Formen kollektiver Zugehörigkeit zu entwickeln und zu diskutieren. Die Globalisierung wird bekanntlich von konservativen, von rechts- aber 75 Vgl. zu der jährlichen Aktion des Deutschen Musikrates die eigene Webseite der Reihe http://www.tag-der-musik.de. Zum Hintergrund der Aktion heißt es dort: „Das Musikland Deutschland steht für eine beispiellose kulturelle Vielfalt. Diese bedarf des Schutzes und der Förderung – nicht als luxusorientierte Freizeitgestaltung, sondern als Grundlage einer erfolgreichen Gesellschaftspolitik. Das wichtigste Ziel des Tages der Musik ist es, die große Bedeutung und den hohen Wert der Musik in Deutschland in kultur-, sozial-, bildungs- und gesellschaftspolitischer Hinsicht deutlich zu machen.“ (26.10.2018) 76 Costadura, Edoardo/Ries, Klaus (Hrsg.): Heimat gestern und heute.

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auch von linkspopulistischen politischen Gruppierungen als eine Gefährdung für die Heimat aufgefasst. Sie bietet hingegen die Chance, Heimat jenseits nationalistischer Schranken und Kategorien als dynamischen Begriff neu zu denken und zu konzeptualisieren. Die Herausforderung der Globalisierung 77 besteht darin, eine genuin lokale zu einer „translokalen“ oder aber zu einer interaktionellen Kategorie zu modellieren. Der Band versucht dieses Potential von Heimat auszuloten. Wie der oft zitierte Eintrag im Grimm’schen Wörterbuch belegt,78 bezeichnete der Begriff ursprünglich einen überschaubaren und genau umgrenzten Raum – ein Haus, einen Ort, einen Landstrich. Damit war einerseits eine raumabhängige Bindung existentieller Art gemeint; andererseits war die Zugehörigkeit zu einem bestimmten heimatlichen Raum, d. h. die Gewährung des „Heimatrechts“, an Bedingungen gekoppelt.79 Das implizierte aber, dass bei Nicht-Erfüllung dieser Bedingungen das „Heimatrecht“ auch verweigert werden konnte. Der Begriff Heimat korreliert also von Anbeginn an mit der Idee einer Gemeinschaft, die auf bestimmten Homogenitäts-Kriterien gründet. Insofern ist es letztlich nachvollziehbar, dass Heimat um 1900 zu einem nationalen, ja sogar nationalisitischen Begriff verwandelt werden konnte: Die Gemeinschaft fiel dann nicht mehr mit den engen Grenzen eines Dorfes zusammen, sondern nahm die Ausmaße einer Nation an. Auch hier, im Großen wie im Kleinen, galten Kriterien der Zugehörigkeit, auf Grund derer bestimmte Menschen ausgeschlossen werden konnten. Heimat denken im Zeitalter der Globalisierung könnte nun dreierlei bedeuten: Zum einen kann man die Welt als eine Heimat denken, der alle auf der Welt lebenden Menschen kraft ihres Mensch-Seins und (im Sinne Arendts) ihrer „Na77 Vgl. Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen: Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen, statt einer Einleitung, S. 47. 78 heimat, f. patria, domicilium. […] 1) heimat, das land oder auch nur der landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden aufenthalt hat […]. - 2) heimat, der geburtsort oder ständige wohnort […]. - 3) selbst das elterliche haus und besitzthum heiszt so, in Baiern. Schm. 2, 193 (vergl. auch unten heimathaus), woraus der sinn haus und hof, besitzthum überhaupt sich ausbildet, auszer in Baiern namentlich auch in der Schweiz: die hêmet, hâmet mit. (DWB, Der digitale Grimm, Online-Version, http://woerterbuch netz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GH0542 4#XGH05424 [03.11.2018]). 79 Vgl. Hitzer, Bettina: Freizügigkeit als Reformergebnis und die Entwicklung von Arbeitsmärkten, In: Oltmer, Jochen (Hrsg.): Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, Berlin 2015, S. 245-290, hier S. 274-278, in Bezug auf das Königreich Bayern im 19. Jahrhundert.

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talität“ zugehörig sind.80 Juristisch betrachtet bedeutet dies, dass jedem das „Recht, Rechte zu haben“ (Arendt) zusteht;81 ökologisch betrachtet folgert daraus die Notwendigkeit, im Sinne einer globalen Nachhaltigkeit die Welt als „Umwelt“ zu erhalten und dementsprechend verantwortlich zu handeln. 82 Man kann andererseits Heimat als einen Modus der Weltbeziehung denken, wobei „Welt“ nicht geographisch oder physisch, sondern phänomenologisch als eine Kategorie der Wahrnehmung aufgefasst wird.83 Mit Heimat würde man demzufolge eine nach Außen gekehrte „Falte“ des Bewusstseins, d. h. eine außerhalb des „Leibes“ angesiedelte Intimität84  gewissermaßen eine „Extimität“ (Bailly)  bezeichnen. Heimat wäre mithin das „Offene“ an sich, das sich überall für jeden zu einer „Bleibe“ (demeure) verdichten kann.85 Heimat ist in diesem Sinne kein Container,86 kein festgefügter Raum, sondern ein dynamischer und ständig sich wandelnder Prozess der Anverwandlung von Welt. Man kann Heimat schließlich interaktionell, d. h. als einen Modus des Zusammenlebens und der Vergesellschaftung denken. Darunter kann man sowohl politische und gesellschaftliche87 als auch und nicht zuletzt stadtplanerische Entwürfe subsumieren, 88 die sich zum Ziel setzen, sozialen und urbanen Raum zur Schaffung von Heimat 80 Vgl. dazu die Beiträge von Hans Ulrich Gumbrecht, von Barbara Bushart und Walter Pauly sowie von Martina Haedrich im vorliegenden Band. 81 Vgl. hierzu insbesondere den Beitrag von Barbara Bushart und Walter Pauly. 82 Zu den Grundbedingungen einer Heimat der Nachhaltigkeit vgl. den Beitrag von Karsten Gäbler im vorliegenden Band. 83 Vgl. dazu den Beitrag von Hartmut Rosa im vorliegenden Band. 84 Vgl. auch Alexander Mitscherlich, In: Kalow, Gert/Mitscherlich, Alexander (Hrsg.): Was ist Heimat?, S. 43: „Also meine Frage wäre: Ist an Hand des Heimatbegriffs zu untersuchen, ob ein Mensch in der Lage ist, aus seiner Umwelt einen Teil seiner Innenwelt zu machen, so daß er in der Lage ist, Heimat zu schaffen und unter Umständen sich aus mehreren Heimaten im Laufe seines Lebens zusammenzusetzen?“ 85 Vgl. dazu den Beitrag von Jean-Christophe Bailly im vorliegenden Band. 86 Vgl. Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen: Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen, statt einer Einleitung, S. 45: „Der Raum der Heimat wäre durch eine Spannung zwischen einem solchen, begriffen als Container, dessen Grenzen es zu verteidigen gilt, und einem als verschiebbar und veränderbar konzipierten Raum zu kennzeichnen.“ Vgl. ferner Epple, Angelika: Horst Seehofer kriegt im Raum die Kurve. 87 Vgl. den Beitrag von Benjamin Immanuel Hoff und Konstanze Gerling-Zedler im vorliegenden Band. 88 Vgl. den Beitrag von Peter Cachola Schmal im vorliegenden Band.

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bzw. von neuen Heimaten zu gestalten. Heimat ist in diesem Sinne ein nie abgeschlossenes Projekt oder ein Laboratorium: Heimat muss immer neu gebaut und gestaltet werden. Die Herausgeber dieses Bandes plädieren für ein solches plurale, offene und performative Heimat-Verständnis und möchten es hiermit zur Debatte stellen.

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Heimat global: Einleitung | 41

ZITIERTE FILME Beste Zeit, D 2007. Regie: Marcus H. Rosenmüller. Drehbuch: Karin Michalke. Kamera: Helmut Pirnat. Musik: Gerd Baumann. Darsteller: Anna Maria Sturm, Rosalie Thomass, Ferdinand Schmidt-Modrow, Florian Brückner u.a. Produktionsfirma: Monaco Film GmbH (Hamburg). Beste Gegend, D 2008. Regie: Marcus H. Rosenmüller. Drehbuch: Karin Michalke. Kamera: Helmut Pirnat. Musik: Gerd Baumann. Darsteller: Anna Maria Sturm, Rosalie Thomass, Ferdinand Schmidt-Modrow, Florian Brückner u.a. Produktionsfirma: Monaco Film GmbH (Hamburg). Beste Chance, D 2014. Regie: Marcus H. Rosenmüller. Drehbuch: Karin Michalke, Marcus H. Rosenmüller. Kamera: Stefan Biebl. Musik: Gerd Baumann. Darsteller: Anna Maria Sturm, Rosalie Thomass, Volker Bruch, Ferdinand Schmidt-Modrow, Florian Brückner, u.a. Produktionsfirma: Lieblingsfilm GmbH (München), H & V Entertainment GmbH (MünchenGeiselgasteig). Die Geschichte vom Brandner Kaspar, D 2008. Regie: Joseph Vilsmaier. Drehbuch: Klaus Richter. Kamera: Joseph Vilsmaier. Musik: Christian Heyne. Darsteller: Franz Xaver Kroetz, Michael Herbig, Lisa Maria Potthoff, Peter Ketnath, u.a. Produktionsfirma: Concorde Filmverleih GmbH (München), Perathon Film und Fernseh GmbH (Grünwald). Heimat, D 1981-1984. Regie: Edgar Reitz. Drehbuch: Edgar Reitz, Peter F. Steinbach. Kamera: Gernot Roll. Musik: Nikos Mamangakis. Darsteller: Gertrud Bredel, Willi Burger, Marita Breuer, Michael Lesch, Dieter Schaad, Rüdiger Weigang, Karin Rasenack u.a. Produktionsfirma: Edgar Reitz Filmproduktion GmbH (München). Hierankl, D 2003. Regie: Hans Steinbichler. Drehbuch: Hans Steinbichler. Kamera: Bella Halben. Musik: Antoni Komasa-Łazarkiewicz. Darsteller: Johanna Wokalek, Barbara Sukowa, Josef Bierbichler, Peter Simonischek u.a. Produktionsfirma: Avista Film Herbert Rimbach (München). Sommer in Orange, D 2011. Regie: Marcus H. Rosenmüller. Drehbuch: Ursula Gruber. Kamera: Stefan Biebl. Musik: Gerd Baumann. Darsteller: Petra Schmidt-Schaller, Amber Bongard, Bela Baumann, Georg Friedrich u.a. Produktionsfirma: Roxy Film GmbH & Co. KG (München); Odeon Pictures GmbH (München-Geiselgasteig). Soul Kitchen, D 2009. Regie: Fatih Akin. Drehbuch: Fatih Akin, Adam Bousdoukos. Kamera: Rainer Klausmann. Musik: Pia Hoffmann, Klaus Maeck. Darsteller: Adam Bousdoukos, Moritz Bleibtreu, Birol Ünel, Pheline Rog-

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gan, Lucas Gregorowicz, u.a. Produktionsfirma: Corazón International GmbH & Co. KG (Hamburg). Sushi in Suhl, D 2012. Regie: Carsten Fiebele; Drehbuch: Jens-Frederik Otto. Kamera: Gero Steffen. Darsteller: Uwe Steimle, Julia Richter, Ina Paule Klink, Deborah Kaufmann u.a. Produktionsfirma: StarCrest Media GmbH (Frankfurt am Main). Wer früher stirbt ist länger tot, D 2006. Regie: Marcus H. Rosenmüller. Drehbuch: Marcus H. Rosenmüller, Christian Lerch. Kamera: Stefan Biebl. Musik: Gerd Baumann. Darsteller: Markus Krojer, Fritz Karl, Jule Ronstedt, Jürgen Tonkel u.a. Produktionsfirma: Roxy Film GmbH & Co. KG (München).

I. Historische und politische Semantik

Nation vs. Natalität Historische Bedingungen und epistemologische Schichten von ‚Heimat‘ Hans Ulrich Gumbrecht

In einer Welt, deren elektronische Technologie den Stellenwert von Raum in der menschlichen Existenz deutlich herabgestuft hat, liegen, anscheinend paradoxalerweise, die Sehnsucht und der Anspruch auf einen je spezifischen Ort als Mitte individueller oder kollektiver Erfüllung, liegt also jene Dimension, die man im Deutschen ‚Heimat‘ nennen kann, einigen der zentralen politischen Probleme zugrunde. Hoffnung auf Erfüllung in diesem Sinne soll etwa die sogenannten ‚Migrantenströme‘ nach Europa in Bewegung gesetzt haben, die unversehens zu einer neuen Völkerwanderung angeschwollen sind, während die Verweigerung und die Besitzgefühle der jeweils Ansässigen sie zum Auslöser eines spannungsvollen Konflikts machen. Zugleich hat es seit Jahrzehnten kaum mehr ein Problem der internationalen Politik gegeben, das nicht in einem unmittelbaren oder wenigstens atmosphärischen Zusammenhang mit dem Streit zwischen Juden und Muslimen um das Territorium des heutigen Israel als Land ihres Ursprungs und ihrer Zukunft stand. Auch die entsprechenden Lösungshorizonte lassen sich mit dem Begriff ‚Heimat‘ assozieren. Etwa die noch vor einigen Jahzehnten kaum vorstellbare Identitätsform, in der man zugleich mehreren Heimaten – ohne Zwang zu einer Priorität – verbunden ist (genau dies entspricht dem Selbstgefühl, um das sich der ehemalige Fußballnationalspieler Mesut Özil in Deutschland betrogen fühlte). Oder das Zusammenleben von nicht nur kulturell verschiedenen Gruppen in einem Raum, den sie alle als Heimat ansehen können. Wenn genau dies mittlerweile den schwarzen und den weißen Südafrikanern gelingt, oder den Mitgliedern der regionalen Maori-Kultur und den Nachkommen meist britischer Einwanderer in Neuseeland, dann müsste sich eine solche Matrix

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des Alltags zum Beispiel auch in Israel finden und verwirklichen lassen. Nichts ist heute also brennender gegenwärtig als ‚Heimat‘, und doch können wir das Wort nicht hören oder gebrauchen ohne den Eindruck, dass es aus einem langen Prozess der Vergangenheit hervorgegangen ist, dessen Phasen in widerspruchsvoller Komplexität zum Vorschein kommen. Jenen historischen Prozess haben Edoardo Costadura und Klaus Ries in der Einleitung des Bandes Heimat gestern und heute eindrucksvoll und mit vielen Herausforderungen zum Weiterdenken beschrieben.1 Ihre Vorgabe möchte ich in einer neuen Version der Geschichte von ‚Heimat‘ aufnehmen. Dabei teile ich erstens die implizite Voraussetzung, dass es um eine Geschichte in genealogischer Form gehen muss, das heißt um die Darstellung einer Kontinuität von Veränderungen, die mit der Formel einer ‚Entwicklung‘ oder der Identifikation einer dominanten ‚Richtung‘ unvereinbar ist; zweitens werde ich – wie auch Costadura und Ries – meine Rekonstruktion nicht strikt begriffsgeschichtlich halten, sondern auf die Strukturen jeweiliger Wissensordnungen und auf sozialhistorische Bewegungen öffnen. Was aber neben einigen alternativen Einschätzungen hinsichtlich des historischen Ablaufs und neben der Frage, warum sich in dem deutschen Wort ‚Heimat‘ eine Semantik entfaltet hat, zu der es kein genaues Äquivalent in anderen europäischen Sprachen gibt, die folgenden Überlegungen von denen meiner Vorgänger unterscheidet, ist vor allem der Versuch, unserer Vergangenheit Perspektiven einer Lösung für die mit der Dimension von ‚Heimat‘ verzahnten politischen Probleme der Gegenwart abzugewinnen. Er wird auf den Vorschlag hinauslaufen, einen früher normativen Begriff der ‚Nation‘ durch das räumliche nicht begrenzte Konzept der ‚Natalität‘ zu ersetzen. Dahin führen Thesen zu vier historischen Situationen, deren Relevanz sich aus dem spezifischen Ansatz ergibt: zum Übergang zwischen Mittelalter und früher Neuzeit; zur sogenannten ‚Sattelzeit‘ von ungefähr 1780 bis 1830; zu den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg; und zu unserer eigenen Zeit im immer noch frühen einundzwanzigsten Jahrhundert. Dass dieser auf politische Orientierung ausgerichtete Ansatz ungewöhnlich (ja vielleicht sogar unverantwortlich) wirken mag in einer Umwelt, die das Vertrauen verloren hat, ‚aus der Geschichte lernen‘ zu können, macht ihn zu einer intellektuellen Provokation. *

1

Vgl. Costadura, Edoardo/Ries, Klaus: Heimat – ein Problemaufriss, In: Dies. (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, S. 7-23.

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Frühe Belege für Vorformen des Wortes ‚Heimat‘ lassen sich schon im elften Jahrhundert ausmachen, doch erst nach 1500 etablierte sich der bis heute gängige Unterschied zwischen dem indivuellen ‚Heim‘ und ‚Heimat‘ als Ort einer auch affektiv wahrgenommen Zugehörigkeit für eine Gruppe von Menschen.2 Die Differenz taucht vor allem in der Sprache Martin Luthers auf, der seine Leser immer wieder daran erinnern wollte, dass sie „im Himmel eine Heimat finden konnten“, die ihnen „die Erde nicht gibt.“3 Vom Beginn an also stand die neue Bedeutung von ‚Heimat‘ unter dem Zeichen eines Verlusts, wie er wahrscheinlich als Folge grundlegender epistemologischer Verschiebungen in der menschlichen Selbstreferenz aufgetreten war. Während des Mittelalters hatte die Selbstreferenz in Analogie zu den Schöpfungsmythen aus der Genesis sowohl das Bewusstsein (die ‚Seele‘) als auch den Körper der Menschen eingeschlossen. Im Blick auf den Körper verstanden sie sich als Teil einer Welt der Dinge, die sie umgab und ihnen jeweils spezifische Orte zuwies. Die neuzeitliche Gleichsetzung von Menschsein und Bewusstsein jedoch, welche in Descartes’ Formel „Cogito ergo sum“ ihre bündige Form finden sollte, setzte eine ontologische Distanz zwischen der menschlichen Existenz (als Bewusstsein) und ihrer materiellen Umgebung durch, mit der Menschen im Verhältnis zu den Dingen Außenbeobachter wurden, Außenbeobachter, die selbst aktiv den Dingen Sinn zuschrieben (oder ‚abgewannen‘), statt solches Wissen als Inhalt göttlicher Offenbarung entgegenzunehmen. Aus dieser Begegnung von ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ aber ergaben sich keine festen Orte für die Menschen in der Welt mehr, schon deshalb nicht, weil das Bewusstsein eben inkompatibel mit der Dimension des Raums ist. So könnte die besondere Sehnsucht und auch der kollektive Eindruck eines grundlegenden Verlusts jene Voraussetzung gewesen sein, auf die der Begriff ‚Heimat‘ reagierte. Er wurde intensiviert und vielleicht zum ersten Mal erlebbar während der Reformation als einem politischen Ereignis, dem es unter anderem um eine Subjektivierung in der Auslegung der göttlichen Offenbarung ging. Das reformatorisch-politische Prinzip des „Cuius regio eius religio“, nach dem die Konfession des Herrschers über die Konfession seiner Untertanen ent2

Vgl. den Eintrag s.v. „Heimat“ im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm.

3

Vgl. Luthers Auslegung zum ersten Brief des Paulus: „Ihr seid hier nicht Bürger, Herren, Regenten, sondern ihr habt eine andere Bleibe, wo eure Heimat ist, im Königreich Gottes, wo Gott der Vater ist, Christus der Erbe und ihr Miterben Christi“. Zitiert nach Martin Luther, Der erste Brief des Paulus an Timotheus, der Brief des Paulus an Titus, der erste Brief des Petrus, der erste Brief des Johannes, Göttingen 1983, S. 238239.

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scheiden sollte, konfrontierte viele von ihnen mit der Herausforderung, den Ort ihrer Geburt zu verlassen und eine neue Heimat zu finden – was offenbar zu einem vorher nie existierenden Gefühl der Mangels an Zugehörigkeit führte. Dies, meine ich, war der frühneuzeitliche Zusammenhang, in dem sich der Begriff ‚Heimat‘ zum ersten Mal in seiner grundlegenden Form artikulierte, die allerdings noch nicht an den Nationenbegriff als ihrem Horizont und ihre Voraussetzung gebunden war. * Eine solche Verfugung zwischen ‚Heimat‘ und ‚Nation‘ vollzog sich erst innerhalb der Emergenz des sogenannten ‚historischen Weltbilds‘ während des für die Ausdifferenzierung der Moderne entscheidenden halben Jahrhunderts von 1780 bis 1830. Als ihren Ausgangspunkt kann man einen in Dokumenten jener Zeit deutlich werdenden neuen Habitus der Selbstbeobachtung beim Akt der Weltbeobachtung – oder, wie es Niklas Luhmann formulierte: der ‚Beobachtung zweiter Ordnung‘4 – unter den Intellektuellen jener Zeit auffassen. Einem Beobachter zweiter Ordnung wird unvermeidlich bewusst, dass die aus seinen Weltinterpretationen hervorgehenden Erfahrungen vom jeweils eingenommenen Standpunkt abhängen und dass sich also um jeden Gegenstand der Beobachtung eine potenzielle Unendlichkeit der Auslegungen und Erfahrungen entfalten kann, was zunächst eher existenzielle Unsicherheit denn euphorische Gefühle der Freiheit oder Unabhängigkeit hervorrief. Im Gegensatz zu intensiv erlebter und auch häufig beschriebener Verunsicherung (etwa in Heinrich von Kleists Briefen anlässlich der sogenannten ‚Kant-Krise‘ seines Lebens) vollzog sich die Lösung des Problems gleichsam hinter dem Rücken der Denker um 1800. Erst im Rückblick haben wir eine tiefgreifende epistemologische Verschiebung als Reaktion auf den aus Beobachtung zweiter Ordnung entstandenen Komplexitätsüberschuss identifzieren können – und als ersten Schritt hin zur Ausbildung des historischen Weltbildes. Wenn bis um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, wie die gerade damals sich intensivierende Faszination der Enzyklopädien belegt, die dominierende Textform der Wissensdarstellung voraussetzte, dass es zu jedem Gegenstand eine verbindliche und kanonische Darstellung geben müsse, nahmen bald narrative Stukturen in der Wissensdarstellung überhand. Zur Antwort auf die 4

Luhman, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 92-164. Vgl. auch Gumbrecht, Hans Ulrich/Chinchilla Pawling, Perla/Mazzucchelli, Aldo (Hrsg.): Beobachtung zweiter Ordnung im historischen Kontext. Niklas Luhmann in Amerika, München 2013.

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Frage etwa, was Frankreich sei, wurde nun die Geschichte Frankreichs; für biologische Arten sollten ihre jeweiligen Evolutionen stehen; und selbst die Phänomenologie des Geistes geriet dem jungen Hegel zu einer Narration. Michel Foucault hat mit Blick auf diese Veränderung von einer „Historisierung alles Seienden“ („historicisation des êtres“ 5) gesprochen. Bereits um 1830 war dann aus jener Matrix das historische Weltbild geworden, mit seiner spezischen Vergangenheitsdimension, von der sich jede neue Gegenwart absetzte; mit seiner offenen und zur Gestaltung aufgegebenen Zukunft; und, zwischen dieser Zukunft und jener Vergangenheit, mit seiner Gegenwart, die man als „nicht wahrnehmbar kurzen Moment des Übergangs“6 erlebte. Erst auf dieser Grundlage bildete sich der noch heute vertraute Begriff der ‚Nation‘ in zwei deutlich voneinander abgesetzten Versionen aus. Jene Nationen, deren politsche Welten aus einer bürgerlichen Revolution unumkehrbar verändert hervorgegangen waren (vor allem also England, Frankreich und die Vereinigten Staaten), sahen sich nun mit ihren Bürgern zu einer – potentiell globalen – Verbreitung der eigenen Formen und Werte als Zukunftsaufgabe berufen. Hier lag der temporale Rahmen für Kolonialismus und Imperialismus während der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, mit dem sich jeweilige ‚Heimaten‘ in alle denkbaren Richtungen ausdehnten, um tendenziell (aber natürlich nicht faktisch) deckungsgleich mit dem Planeten zu werden. In solcher Expansion verloren die sich als Repräsentanten der Aufklärung verstehenden Nationen zunehmend die Bedeutungen und Konnotationen von ‚Heimat‘, um sich der Form des (damals noch nicht verwendeten) Begriffs der ‚Natalität‘ anzunähern, auf den ich später im Hinblick auf unsere Gegenwart Bezug nehmen werde. In jenen Gesellschaften hingegen, die ohne bürgerliche Revolutionen und in einigen Fällen auch ohne die von ihnen propagierten politischen Formen geblieben waren (Spanien, Italien, Deutschland etwa), wurden die kollektiven Selbstreferenzen nicht expansiv, sondern wandten sich auf – mittelalterliche oder antike – Vergangenheiten zurück, in die sie Idealbilder ihrer selbst projizierten. So vollzog sich eine zent5

Die Formulierung „historicisation des êtres“ fiel in einer der von mir besuchten Foucault-Vorlesungen. Vgl. aber auch das Kapitel „Geschichte“ in: Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 2003, S. 439-447, hier S. 441: „Die Dinge haben zunächst eine eigene Historizität erhalten, die sie von jenem kontinuierlichen Raum befreit hat, der ihnen die gleiche Chronologie wie den Menschen auferlegte“.

6

In seiner Schrift Le Peintre de la vie moderne (1863) erfasst Baudelaire die modernité wie folgt: „La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent“ (vgl. Baudelaire, Charles: Le peintre de la vie moderne, In: Ders.: Œuvres complètes, texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois, Paris 1976, II, S. 683-724, hier S. 695).

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rale Geste der ‚Romantik‘ als kulturhistorischem Moment, welche die Konvergenz von ‚Nation‘ und ‚Heimat‘ beförderte, beide mit kollektiven Träumen auflud und an Stelle einer Expansion die eigenen politischen und kulturellen Grenzen stärker konturierte. Dass es, anders als in Italien oder Spanien, in Deutschland nur außerordentlich vage historische und geologische Orientierungen für den imaginierten Verlauf solcher Grenzen gab, mag die besondere Faszination der stets zu Kontraktion und Konkretisierung tendierenden Heimat-Dimension und die davon abhängige semantische Sonderentwicklung verstärkt haben. Vor allem aber setzte der Rückblick auf die Vergangenheiten als ideale Heimat den Temporalisierungsimpuls des historischen Weltbildes in Formen von ‚Geschichte‘ um, die im Kontrast zu den Fortschrittsideologien des expansiven nationalen Imperialismus standen. Jene anderen Strukturen zeigten oft eine Affinität zur Narration der (nicht nur christlichen) Erlösung: ein Zustand von Erfüllung (das Bild der antiken oder mittelalterlichen Nation als idealer Heimat) sollte durch ein Ereignis im Stellenwert der ‚Erbsünde‘ (etwa durch die Reformation) verlorengegangen sein; mit dem stellvertretenden Leiden und dem Tod unschuldiger nationaler Opfer (meist dem Tod von Gefallenen verlorener Kriege) war angeblich ein Versprechen auf Erlösung und Wiederherstellung der glücklichen Ursprungssituation erworben worden; und so fühlten sich Teile nationaler Gesellschaften (in Italien seit dem späten neunzehnten Jahrhundert, in Deutschland spätestens nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs) in Situationen hoffenden Wartens auf die zeitlich nie festgelegte Verwirklichung des Versprechens auf Erlösung durch Rückkehr der idealen Heimat. * Wenn sich also innerhalb der übergreifenden Institutionaliserung des historischen Weltbildes zwei deutlich verschiedene Formen nationaler Geschichte als Kontexte für verschiedene Konnotationen und Funktion der Dimension von Heimat ausgeprägt hatten, so blieben deren politisch-ideologische Aufladungen und Konturen während des neunzehnten Jahrhunderts noch überwiegend in einem Stadium der Latenz, aus der erst ab der Zeit um 1900 schrittweise explizite Begriffe, Standpunkte und Systeme der Welterklärung wurden. Auch am Anfang dieser Entwicklung mögen eine epistemologische Verschiebung und ihre existenziellen Auswirkungen gestanden haben. Was die Philosophiegeschichte als Beginn der Phänomenologie (vor allem im Stil des Denkens von Henri Bergson und Edmund Husserl) beschreibt, können wir wissensgeschichtich als jenen Punkt verstehen, wo der Glaube an die Fähigkeit des (frühneuzeitlichen) Subjekts, seine eigene Welt adäquat und allgemein nachvollziehbar zu beschreiben,

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definitiv verloren gegangen war. Eben deshalb setzten die emblematischen Phänomenologen mit dem Programm einer introspektiven Analyse des kognitiven Apparats der Menschen ein, den als unvermeidlichen Filter jeder Weltwahrnehmung zu berücksichtigen habe, wer von unseren gefilterten Erfahrungen auf die ungefilterte Wirklichkeit der Welt schließen wolle. Heute wissen wir, dass die Phänomenologie – trotz ihrer zentral inspirierenden Rolle für die westliche Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts – den Weg zurück zur Weltgewissheit entgegen ihren Absichten auch innerhalb ihrer eigenen Diskurse und Debatten nie mehr gefunden hat. Im gesellschaftlichen Alltag wurde die sich verbreitende existentielle Unsicherheit, wie sie sich aus der epistemologischen Situation ergab, vor allem verstärkt durch das Erlebnis und die Folgen des Ersten Weltkriegs: etwa aufgrund der neuen technologischen Komplexität der ‚Materialschlachten‘, wo individueller Mut und Tapferkeit nichts mehr auszurichten vermochten, ebenso wie in der Implosion überlieferter Muster und Hiercharchien des sozialen Verhaltens. In seinem 1916 (zunächst in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft) veröffentlichten Buch Die Theorie des Romans entwickelte der Philosoph und Literaturwissenschaftler Georg Lukács den Begriff der „transzendentalen Obdachlosigkeit“7, mit dem er selbst zwar primär die Enstehung und Entwicklung des Romans seit dem späten achtzehnten Jahrhundert erklären wollte, den wir aber im Abstand von genau hundert Jahren als eindrucksvolle Verdichtung einer epochalen Sehnsucht der Zeit Lukács’ nach ‚Heimat‘ verstehen können. So gesehen ist es durchaus plausibel, dass er sich noch in jener frühen Phase seines Lebens entschied, auf den Marxismus zu bauen, der den Menschen in der Utopie von der kommunistischen als einer klassenlosen Gesellschaft eine national entgrezte Heimat versprach (unter Aufhebung ihrer „Obdachlosigkeit“) – und immer noch verspricht. Dem Marxismus standen seit dem Ende des Ersten Weltkriegs als ideologischer Gegenhorizont die Positonen und philosophischen Versuche der ‚konservativen Revolution‘ gegenüber, von denen zwar viele zu dem sich damals konstituierenden Faschismus neigten, die jedoch nicht insgesamt mit dem Faschismus oder einer Vorgeschichte gleichzusetzen sind. Während Kommunismus (und Sozialismus) – wie übrigens auch der Imperialismus des neunzehnten Jahrhunderts – bei der paradoxalen Entgrenzung des Heimatbegriffs auf die Dynamik des Fortschritts setzten, waren Wege zu neuer existenzieller Sicherheit für die Denker der konservativen Revolution nicht selten Wege zurück in die Vergangenheit oder in elementare Situationen der Existenz. Während der zwanziger Jahre gewann Karl-Friedrich Blunck, 7

Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Frankfurt a. M. 1989, S. 32.

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der nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zum ersten Vorsitzenden der Reichsschrifttumskammer werden sollte, zahlreiche Leser mit historischen Romanen, die zurück in die schwülstig beschriebene Idealwelt und Heimat einer nordischen Frühzeit führten. Zugleich vollzog sich in jenen Jahren, vor allem in Sein und Zeit aus dem Jahr 1927, Martin Heideggers einziger als Buch konzipierter Veröfffentlichung, seine – polemisch gegen Descartes und jede Philosohie des Bewusstseins gekehrte – Rückkehr zur existenzial-ontologischen Reflexion über den Raum. Sie führte später zu Essays und Vorträgen wie Bauen Wohnen Denken von 1951, wo Heidegger – zunächst kontraintuitiv – eine Priorität des Wohnens gegenüber dem Bauen zu postulieren versucht, um damit die Forderung zu begründen, dass dem Bauen die Intuition eines ontologisch wie existenziell richtigen Verhältnisses zwischen Körper und einem jeweiligen Ort vorausgehen müsse, wir können auch sagen: eine Intuition des jeweiligen Ortes als ‚Heimat‘. * Es bedürfte vieler Seiten und Worte, um die Überzeugung zu begründen oder gar zu belegen, dass wir heute in einer post-ideologischen und post-historischen Gegenwart leben. Doch vielleicht genügt auf der einen Seite der Verweis auf die Absenz von kohärenten, hartnäckig Totalitäts- und Wahrheitsansprüche vertretenden Ideen-Systemen, die in der heutigen Welt breite Resonanz finden könnten (man muss Donald Trump aus vielen Perspektiven kritisieren, aber der Vorwurf, ein Ideologe von totalisierender Kohärenz zu sein, trifft ihn nicht), während auf der anderen Seite die einzige Partei der Volksrepublik China die Begriffe und Embleme der dort immer noch offiziellen marxistischen Ideologie weitgehend aus dem Alltag zurückgezogen hat. Zugleich gilt das historische Weltbild zwar weiter als alternativenloser epistemologischer Rahmen der Geschichtswissenschaft und als (oft vorbewusste) Prämisse westlich-parlamentarischer Politik (Parteien können nicht ohne Konzeptionen der ‚Zukunftsgestaltung‘ auskommen), doch die Zukunft unseres Alltags scheint von Gefahren besetzt, die sich langsam und unvermeidlich auf uns zubewegen, die Vergangenheit überflutet (nicht zuletzt aufgrund elektronischer Speichermöglichkeiten) die Gegenwart, statt hinter ihr zurückzubleiben, und zwischen jenen blockierten Zukünften und dieser aggressiven Vergangenheit hat sich die ehemals ‚unmittelbar kurze‘ Gegenwart in eine breite Gegenwart der Simultanitäten verwandelt. Anders formuliert: Aus der Zeitlichkeit des historischen Weltbildes ist die langsame Zeit der breiten Gegenwart, die sich nicht mehr von der Vergangenheit in die Zukunft bewegt, sondern in hektischer interner Unruhe verharrt (darauf bezog sich Jean-

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François Lyotard mit seiner ironischen Fomulierung von der „mobilisation générale“8). Sollte nun die These zutreffen, dass jene Begriffe von ‚Heimat‘, die in der westlichen (und später fortschreitend ‚global‘ werdenden) Kultur seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert dominiert hatten, im Zusammenhang mit verschiedenen Konzeptionen und Narrationen der ‚Nation‘ aus dem historischen Weltbild hervorgegangen waren, dann müsste die Beobachtung von der postideologischen und post-historischen Gegenwart eigentlich zur Diagnose einer Existenz ohne die Dimension von ‚Heimat‘ führen. Ihre Bestätigung könnte in dem eingangs erwähnten Eindruck liegen, dass uns der ‚Heimat‘-Begriff heute aus der Vergangenheit zu erreichen scheint. Doch wir sind auch mit vielfältigen Formen einer neuen Sehnsucht nach elementaren Gewissheiten und Orientierungen konfrontiert, die nicht allein Donald Trump zur Macht und der AfD zu ihrem erstaunlichen Aufstieg verholfen haben, sondern sich am anderen Ende des politischen Spektrums in einem ökologischen Radikal-Pessismismus zu artikulieren scheinen. Woher kommt diese Sehnsucht nach Gewissheit als Matrix verschiedenster politischer Positionen und existenzieller Haltungen der Gegenwart? Im Prinzip lässt sie sich wohl als Reaktion auf eine Überforderung durch die breite Gegenwart der Simultanitäten erklären, wo alle denkbaren Möglichkeiten des Verhaltens präsent und mithin wählbar sind. In einer anderen Version der Gegenwartsanalyse können wir die Emergenz desselben Sachverhalts als Transformation eines Alltags als Feld von Kontingenz in einen Alltag erzählen, der als Universum von Kontingenz erlebt wird. Als ‚Feld der Kontingenz‘ sollte der Bürger-Alltag in den frühen demokratischen Gesellschaften eine Privatheit und Freiheit der Lebensgestaltung (‚Kontingenz‘) sein, der umgeben und begrenzt war von einer Dimension des ‚Notwendigen‘ und von einer Dimension des ‚Unmöglichen‘. ‚Notwendig‘ im Sinne von Bedingungen des individuellen und sozialen Lebens, die als gegeben und mithin als nicht veränderbar hinzunehmen waren; ‚unmöglich‘ im Sinne eines Überschusses des menschlichen Vorstellungsvermögens im Verhältnis zu den realen menschlichen Existenzmöglichkeiten (wir können uns ‚Allgegenwart‘, ‚Allwissenheit‘ oder ‚ewiges Leben‘ vorstellen, aber haben solche Vorstellungen in der Vergangenheit ausschließlich mit Göttern assoziiert). Nicht ausschließlich, aber in vielen Fällen aufgrund der von elektronischer Technologie erschlossenen Handlungsmöglichkeiten sind jene selbst nicht-kontigenten Rahmen der Kontingenz als Situation individueller Wahl und Entscheidung heute in einen Schmelz-Prozess eingetreten. Wenn das Geschlecht, in das man geboren war, früher als Schicksal (oder einfach als ‚not8

Der Begriff mobilisation générale war zentral in dem Seminar „Une autre modernité“, das Jean-François Lyotard 1988 in Siegen abgehalten hat.

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wendig‘) erlebt wurde, so hat transsexuelle Chirurgie die Hoffnung eröffnet, dass diese Differenz eines Tages ins Belieben der Individuen rücken könnte; auf der anderen Seite ist selbst die früher allein theologische Vorstellung von einem (physisch) ewigen Leben mittlerweile zu einer Forschungsaufgabe für die Medizin geworden. Dieser Übergang unserer Lebenssituation von einem Feld zu einem Universum von Kontingenz hat ein enormes Potenzial neuer Freiheiten eröffnet. Aber zugleich scheint uns die Fülle der in der breiten Gegenwart zugänglichen Freiheiten oder Möglichkeiten zu überfordern – und zwar ganz unabhängig vom je individuellen Grad der Bildung. Ich bin überzeugt, dass die dominante einschlägige Reaktion in einer Sehnsucht nach Lebenssituationen liegt, die uns Orientierungen geben und das Gefühl, sich ‚an ihnen festhalten‘ zu können, in einer Sehnsucht auch, die sich unter anderen durch die mittlerweile allgegenwärtigen Tendenzen zu politischem ‚Fundamentalismus‘ artikuliert. Dazu gehört der Wunsch nach einer räumlichen Lebensituation, nach einer ‚Heimat‘ im weitesten Sinn, in der wir ‚wohnen‘ können, in der sich also unser Verhältnis zur physischen Welt als richtig und deshalb lebbar erweist. Tatsächlich hat sich der Begriff ‚Heimat‘ in unserer breiten Gegenwart über den ‚angestammten und ererbten‘ Ort des Lebens hinaus auf Orte erweitert und verschoben, die uns nicht mehr – wie im Mittelalter – von der „Schöpfung“ zugewiesen scheinen, sondern die wir wählen. Dies mag die meist vorbewusste Motivation der sogenannten ‚Migrantenströme‘ sein. Wo Heimat aber von Abstammung und Erbe abgekoppelt ist, da wird der gesamte Planet Erde zur Heimat aller Individuen. Nicht mehr, wie implizit im neunzehnten Jahrhundert unterstellt war, als Grenze der Expansion einer bestimmten westlichen Lebensform (die den ‚Weltbürger‘ mit seinem herablassenden Anspruch hervorgebracht hatte, sich aufgrund seiner überlegenen Bildung ‚überall zuhause zu fühlen‘), sondern als Recht eines jeden Menschen, den für ihn als Individuum richtigen Ort zu finden und zu bewohnen – das konvergiert und vielleicht ja positiv vorbereitet ist von der Energie des Kapitals, die profitabelsten Orte für seine Investition weitgehend unbehindert zu finden. Im Blick auf solche Entgrenzungen des Heimatrechts hat Hannah Arendt in ihrem Buch Vita activa oder vom tätigen Leben von 1958 den Begriff der „Natalität“ vorgeschlagen.9 Er war damals mit ausgelöst vom Erstaunen über die ersten Erdtrabanten (seit 1957) und die darauf reagierende Insistenz, allein den Planeten Erde als Ort der Menschen anzusehen. Hinzu kam bei Ahrendt die Forderung, dass jede individuelle Geburt Vorbedingung und Beginn eines Neuanfangs sein dürfe und solle. Ahrendts Impuls zu folgen, muss nicht heißen, dass Gesellschaften darauf verpflichtet werden, alle Migranten dauerhaft aufzuneh9

Vgl. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2013, S. 18.

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men. Öffnung und Integration können durchaus an bestimmte Bedingungen gebunden sein, etwa an den Erwerb einer jeweiligen Sprache oder eines bestimmten (Aus)Bildungsniveaus. Dagegen sollte nun – am Ende der Zeit des historischen Weltbilds – das aus Vergangenheiten vor der jeweiligen Geburt ererbte Recht auf Zugehörigkeit zu bestimmten Gesellschaften und Kulturen ausgeblendet werden. Wir wären politisch heute weiter, wenn ‚Heimat‘ nicht mehr – im Sinne des aus dem neunzehnten Jahrhunderts stammenden Nationenbegriffs – primär oder überhaupt ein Ort sein müsste, an dem eigene Vorfahren gelebt haben, sondern allein ein Ort, wo all jene Menschen eine Chance zu wohnen haben, die sich dort aufgehoben und zuhause fühlen. Gewiss, daraus erwüchse eine neue Intensität in der Herausforderung, gemeinsam mit Menschen ganz anderer kultureller oder religiöser Orientierungen zu existieren – weniger wegen eines intrinsischen Werts von Diversität, sondern weil das Versprechen von Natalität als Heimat nur unter der Prämisse einer Simultanität und Gemeinsamkeit des Verschiedenen ihre Aussicht auf Verwrklichung hat. Vielleicht wird es nie dazu kommen, dass sich so verstandene Natalität als Heimat institutionalisiert und an die Stelle der Nationen tritt. Doch schon die bloße Vorstellung von Natalität als permanenter Offenheit und permanentem Neuanfang, von Natalität als einem hellen normativen Leitbild könnte uns weiterhelfen.

LITERATUR Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben [1958], München 2013. Baudelaire, Charles: Le peintre de la vie moderne [1863], In: Ders.: Œuvres complètes, texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois, Paris 1976, II, S. 683-724. Costadura, Edoardo/Ries, Klaus: Heimat – ein Problemaufriss, In: Dies. (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, S. 7-23. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge [1966], Frankfurt a. M. 2003. Gumbrecht, Hans Ulrich/Chinchilla Pawling, Perla/Mazzucchelli, Aldo (Hrsg.): Beobachtung zweiter Ordnung im historischen Kontext. Niklas Luhmann in Amerika, München 2013. Luhman, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995. Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik [1916], Frankfurt a. M. 1989.

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Luther, Martin: Der erste Brief des Paulus an Timotheus, der Brief des Paulus an Titus, der erste Brief des Petrus, der erste Brief des Johannes, Göttingen 1983.

Heimat und das Janusköpfige des Nationalen Benjamin-Immanuel Hoff und Konstanze Gerling-Zedler

Im September 2017 lud die Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU) Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierende ein, gemeinsam das Thema Heimat im Spannungsfeld von Globalisierung und neu aufloderndem Nationalismus auszuloten. Selten war eine langfristig geplante Konferenz so tagesaktuell – ist sie es auch heute noch. Nur wenige Tage später zog im Ergebnis der Bundestagswahl 2017 die sogenannte Alternative für Deutschland (AfD) mit über 90 Abgeordneten in den Deutschen Bundestag ein. Nachdem im Frühjahr 2018 die längste Phase in der Regierungsbildung Nachkriegsdeutschlands abgeschlossen wurde, übernahm der bis dahin als bayerischer Ministerpräsident amtierende CSU-Politiker Horst Seehofer das neugebildete Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat. Soviel Heimat war selten im politischen Diskurs, doch zeigte der Konflikt des Frühsommers 2018 um das bundesdeutsche Grenzregime, dass unter der Flagge der ‚Heimatpolitik‘ unterschiedliche Schiffe segeln können. Orientieren sich die einen auf Rückbesinnung in einer sich vermeintlich immer schneller drehenden Welt von Globalisierung und Technisierung, fokussieren andere auf einen diskursiven Frame-Wechsel. Darin wird die klassische Regional- und Landespolitik im föderalen Bundesstaat als ‚Heimatpolitik‘ neu definiert. Dritte wiederum definieren Heimat sowohl ethnisch als auch anti-modernistisch. Im Anschluss an nationalistische und national-konservative Politiken, als deren Vorbild die ungarische Regierungspolitik Viktor Orbans beispielhaft angesehen werden kann, wird eine tektonische Verschiebung im bisherigen bundesdeutschen Werte- und Politikverständnis angestrebt. Während die AfD diese Zielstellung programmatisch offen formuliert, scheinen die CSU und ihr nahestehende Teile der CDU – mit dem Ziel, die Zustimmungsbasis der AfD erodieren zu lassen – eine Positionsveränderung vornehmen zu wollen. Wie sich zeigt, befasst sich eine wissenschaftliche Tagung über ‚Heimat‘ daher keines-

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wegs mit weltfremden Debatten im Elfenbeinturm. Vielmehr ist sie ein Ort, an dem ins Auge des gesellschaftlichen Diskurses geschaut wird. Dass an der Friedrich-Schiller-Universität der alte Diskurs über Heimat neu geführt wird, ist eine Zwangsläufigkeit, ist er doch auf das Engste mit der wissenschaftlichen Tätigkeit an der Salana oder dem Collegium Jenense verquickt. Erinnert sei an die Frühromantiker, mit deren Wirken die Universität Jena für kurze Zeit zum „eigentlichen Sitze der geistigen Bestrebungen in Deutschland“1 aufstieg. Vor mehr als 200 Jahren machten sie Jena zu einer globalen Metropole der Dichtung und Philosophie. Sie rissen die Trennwände zwischen Literatur und Alltagserfahrung nieder und luden jede Tätigkeit mit poetischer Bedeutsamkeit auf. In ihrem Gefolge wurde der Begriff der Heimat neu reflektiert und zu einer Idylle verklärt, die sich dem Siegeszug von Industrie, Empirie und Rationalität bewusst verweigern sollte, wie im 2016 erschienenen Sammelband Heimat gestern und heute, herausgegeben von Costadura und Ries, nachgelesen werden kann.2 Dieser Band gab bereits einen Vorgeschmack auf die Interdisziplinarität, mit der das Thema „Heimat“ behandelt werden kann und wohl auch muss. Die Aula der Universität Jena dominiert das Gemälde Auszug der deutschen Studenten in den Freiheitskrieg von 1813 von Ferdinand Hodler. Dieses oft beschriebene Gemälde ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Es verweist darauf, dass Geschichte nie abgeschlossen und stets von Ambivalenzen bis hin zu ironischen Widersprüchen geprägt ist. „In unseren Tagen scheint ein jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen“3, sagte Marx am 14. April 1856 in London – daran hat sich auch in den vergangenen 161 Jahren nichts geändert. Das Hodler-Gemälde wird in diesem Beitrag zunächst für zwei Exkurse genutzt. Daran schließt sich ein Blick auf den jährlich von Wissenschaftlern der FSU im Auftrag der Landesregierung Thüringens erhobenen Thüringen-Monitor an. Im letzten Abschnitt wird gezeigt, dass auch eine gesellschaftliche Linke mit der Renaissance des Heimatdiskurses nicht hadern muss. Vielmehr ist sie bestens für diesen Diskurs gerüstet.

1

Steffens, Henrik: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben, Bd. IV, Breslau 1841, S. 20.

2

Costadura, Edoardo/Ries, Klaus (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, S. 14f.

3

Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke [= MEW], Berlin/DDR 1961, Band 12, S. 3-4.

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ERSTER EXKURS: VON DEN „HÖHEN VON SEDAN“ ZUM HÄNDEREICHEN IN VERDUN Das Werk Auszug der deutschen Studenten in den Freiheitskrieg von 1813 wurde von der Gesellschaft der Kunstfreunde von Jena und Weimar in Auftrag gegeben. Es versinnbildlicht den anti-napoleonischen Kampf. Es steht in seinem Bezug auf die Studenten auch für die frühe Burschenschaftsbewegung und wurde 1909 in der Universität enthüllt. Nur fünf Jahre später forderte der Jenaer Literaturnobelpreisträger Rudolf Eucken, der im Übrigen Mitglied der Gesellschaft der Kunstfreunde von Jena und Weimar und somit einer der Auftraggeber war, die sofortige Entfernung des Gemäldes. Der Grund: Im Sommer 1914, wenige Wochen nach Beginn des zerstörerischen Ersten Weltkrieges, unterzeichnete der Künstler Ferdinand Hodler nach der Bombardierung der Kathedrale von Reims durch deutsche Truppen eine Petition, die diese Zerstörung französischen Kulturgutes zutreffend als Barbarei brandmarkte. Während Hodler die Universalität der Freiheit der Kunst zu verteidigen bereit war, sah Eucken – immerhin Literaturnobelpreisträger und damit quasi ernanntes Mitglied der Internationale der Kulturschaffenden – keinen Wert im Schutz französischen Kulturgutes. Der Sozialdemokrat Alfred Grotjahn formulierte seinerzeit spöttisch, wie u. a. Hosfeld in seiner Tucholsky-Biografie erinnert: „Man wird sich ein Verzeichnis bisher geschätzter Personen anlegen müssen, die durch den Krieg eine akute Geistesverwirrung erlitten haben.“4 Doch Eucken war beileibe nicht allein mit seiner Auffassung. Die Zahl der Intellektuellen, die 1914 in Deutschland in einen nationalistischen Kriegstaumel gerieten, war groß. Euckens Schriftstellerkollege Thomas Mann notierte „Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden“5, und der Theaterkritiker Alfred Kerr schrieb: „Hunde dringen in das Haus – Peitscht sie raus!“6 Um der Wahrheit Rechnung zu tragen, muss zugegeben werden, dass selbst Heroen der Sozialwissenschaft wie Max Weber, Georg Simmel oder Werner Sombart vom Kriegstaumel nicht frei waren. Auch wenn, wie Hans-Ulrich Wehler in Band 4 seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte feststellt, kaum ein anderer den leidenschaftlichen Ausbruch Thomas Manns zu übertreffen vermochte. 4

Hosfeld, Rolf: Tucholsky: Ein deutsches Leben. Biographie, München 2012, S. 76.

5

Mann, Thomas: Gedanken im Kriege. In: Ders.: Essays. Bd. 1: Frühlingssturm 18931918, Hrsg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt a. M. 1993, S. 197.

6

Kessler, Harry Graf: Das Tagebuch, Bd. 5 :1914-1916, Hrsg. von Günter Riederer und Ulrich Ott, Stuttgart 2008, S. 31.

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Am Ende wurde Euckens Wunsch, das Gemälde zu entfernen, nicht entsprochen. Verhüllt durch Bretter überstand es die Kriegsjahre und war ab 1918 wieder zugänglich. Die Lehre aus dieser Anekdote ist zunächst, dass auch Künstlerinnen und Künstler vor Irrwegen des Nationalismus nicht gefeit sind. Und dass manchmal nur eine Handvoll Bretter genügt, um Verirrungen unschädlich werden zu lassen. Das Hodler-Werk und die Kontroverse darum verweisen uns freilich in der rückblickenden Betrachtung darauf, dass der Weg, auf dem die deutschen Studenten auszogen, vom anti-napoleonischen Befreiungskrieg mehrheitlich in nationalistischen Hass und die Katastrophen des 20. Jahrhunderts führte. Seit 1815 Avantgarde der deutschen Nationalbewegung, wurzelnd in den Freiheitskriegen, trugen die deutschen Burschenschaften mit dem Wartburgfest, das sich 2017 zum 200. Mal jährte, und dem Hambacher Fest 1832 zur organisierten Vertretung nationaler, radikal-republikanischer Forderungen bei. Dass die Proklamation der Grundrechte des deutschen Volkes in den kommenden einhundert Jahren mit einer dramatischen Überhöhung des Deutschen einhergehen würde, war im Wartburgfest ebenso wenig natürlich angelegt, wie im Hambacher Fest. Dennoch entstand im Gefolge eines deutschen Nationalismus eine von Hass getriebene Erbfeindschafts-Psychose. Ihre Ursache hatte sie in der Überhöhung des Deutschen und der Entwertung anderer Völker. Diese Vorstellung war in wichtigen Protagonisten und Theoretikern dieser Zeit bereits angelegt. Insbesondere Ernst Moritz Arndt, um dessen Namensgebung einer deutschen Universität es jüngst eine notwendige Kontroverse gab, aber auch Johann Gottlieb Fichte waren Stichwortwortgeber anti-französischer Ressentiments. Beispielhaft sei Arndts bereits 1813 erschienene Schrift Über Volkshaß und über den Gebrauch einer fremden Sprache zitiert. In ihr droht bereits der Titel an, was das Werk enthält: „Ich will“, so Arndt, „den Haß gegen die Franzosen, nicht bloß für diesen Krieg, ich will ihn für lange Zeit, ich will ihn für immer. Dann werden Teutschlands Gränzen auch ohne künstliche Wehren sicher seyn, denn das Volk wird immer einen Vereinigungspunkt haben, sobald die unruhigen und räuberischen Nachbarn darüber laufen wollen. Dieser Haß glühe als die Religion des teutschen Volkes, als ein heiliger Wahn in aller Herzen, und erhalte uns immer in unserer Treue, Redlichkeit und Tapferkeit.“ 7 Diese Art bellizistisches Gedankengut, das unter den Burschenschaftern kursierte, führte letztlich auf den „Höhen von Sedan“ wie auf den Feldern von Verdun zu Abertausenden Toten im Namen der Heimat. Es bedurfte des Schreckens 7

Arndt, Ernst Moritz: Über Volkshaß und über den Gebrauch einer fremden Sprache, Leipzig 1813, S. 18 f.

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zweier Weltkriege, damit entstand, was heute als deutsch-französische Freundschaft zum Kernbestand unserer europäischen Identität gehört. Es muss daran erinnert werden, in einer Zeit, in der die Achse Berlin-Paris nicht mehr so selbstverständlich erscheint wie noch vor etwa 20 Jahren.

ERINNERN IM NACHGANG ZUR BUNDESTAGSWAHL 2017 Auch an den Jenenser Studenten, die 1813 gegen Napoleon auszogen, zeigt sich das Janusköpfige des Nationalen: Ohne die Akzeptanz der Universalität des Geltungsanspruchs der Menschenrechte, was impliziert, dass diese Menschenrechte überall, also räumlich unbegrenzt quasi in jeder Heimat zu gelten haben, besteht zwischen der Forderung nach nationaler Freiheit und Selbstständigkeit und der radikalen Ablehnung des Anderen keine Grenze. Schon die Romantik verstand sich als Gegenbewegung zu den Umbrüchen, die mit der Französischen Revolution und in ihrem Gefolge einhergingen. Sie reflektierte, idyllisierte und poetisierte die Heimat bewusst gegen die als zu kalt empfundene Rationalität der Moderne. Die gleiche Gegenbewegung zeigte sich in dem „Heimat-Hype um 1900“, wie Costadura und Ries darstellen, in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Die „Industriemoderne“ als zweite Moderne führte zur Entstehung unterschiedlichster Gegenbewegungen, wie beide zeigen. Im Naturschutz oder Heimatschutz waren sie eine zeitlich versetzte Reaktionsbewegung auf diese Modernisierungsprozesse, „die zunehmend in nationalistisches und dann auch in völkisches, ja, sogar militaristisches Fahrwasser gerät.“8 Wohin dies führt, zeigte das im Nationalsozialismus ideologisch aufgeladene, antimodernistische Heimatverständnis des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der deutsche Heimatbegriff, den es in anderen Sprachen in dieser Form überhaupt nicht gibt, wurde mit biologistischen und rassistischen Begründungen untersetzt und definierte Zugehörigkeit. Dies markierte für die Ausgegrenzten – sofern sie nicht ihre Heimat verlassen konnten, die ihnen aber als Heimat ideologisch verweigert wurde – letztlich den Weg in die Konzentrationslager und damit in den sicheren Tod. Blut und Boden, Rasse, Biologie wurden, so Costadura/Ries, an Heimat gebunden – der Staat selbst zur Heimat erklärt. Erst die Befreiung vom Nationalsozialismus durch die Alliierten stellte die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte wieder her. 8

Costadura, Edoardo/Ries, Klaus: Heimat – ein Problemaufriss, In: Dies (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, S. 7-23, hier: S. 11.

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In dialektischer Ironie entsteht freilich genau durch die Ausgrenzung im nationalsozialistischen Heimatverständnis ein neuer Heimat-Begriff, der bis heute Wirkung behält. „Die massive Fluchtbewegung [im Nationalsozialismus] schafft nunmehr ein neues Heimatverständnis oder neue Reflektionen über Heimat […], nämlich ‚Heimat im Exil‘, das Heimatverständnis der Exilanten, der Thomas Mann, Stefan Zweig, Lion Feuchtwanger, Herrmann-Neiße, u.a. Dieses neuartige Reflektieren über Heimat (kann man eine neue Heimat im Ausland, in der Fremde finden?) ist das Produkt eines mindestens hundert Jahre alten, vielleicht um 1830/40 im Vormärz einsetzenden Reflektionsprozesses, in welchem Heimat als metaphysische Größe diskutiert wurde.“9 Wenn der AfD-Politiker Alexander Gauland einen Schlussstrich unter die deutsche Geschichte ziehen wollte, stolz auf die „Leistungen der Wehrmacht“ ist und den Holocaust einen „Fliegenschiss“ der Geschichte nennt, dann ist es immer und immer wieder nötig, an diese tragischen Linien zu erinnern. Und es entsteht die Notwendigkeit, den Begriff der Heimat zu entmystifizieren – ihn dadurch dem Zugriff rechtspopulistischer oder offen rechtsextremer Instrumentalisierung zu entziehen.

ZWEITER EXKURS: „MEINE HEIMAT DDR“ ODER DIE INSTRUMENTALISIERUNG DEUTSCHER GESCHICHTE ZUR KONSTRUKTION EINER „SOZIALISTISCHEN NATION“ Ein Landespolitiker der Partei Die LINKE, eine Landesregierung, in der Die LINKE, SPD und Grüne zusammengeschlossen sind, stehen vor der historischen Notwendigkeit, über das komplizierte Verhältnis der Partei- und Staatsführung der DDR zu Heimat und Nation nicht zu schweigen. Die DDR war ein Staat, der nicht zur Nation wurde und die Heimat deshalb als Nationsersatz entdeckte. Auf dieser Grundlage sollte Legitimation für den Staat hergestellt werden. Dabei war das DDR-Heimatverständnis stets gekoppelt – nie widerspruchsfrei – an die positive Bezugnahme auf die internationalistische Tradition der sozialistischen Bewegung. Zudem war die DDR in fast besinnungsloser Treue verankert in der sozialistischen Staatengemeinschaft. Welche Folgen dies hatte, zeigte die uneingeschränkte Unterstützung der Niederschlagung emanzipatorischer Bewegungen und Aufstände in den sozialistischen Staaten. Sei es 1953 in der DDR selbst gewesen oder 1956 in Ungarn, 1968 in der

9

Ebd., S. 15.

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Tschechoslowakei oder Anfang der 1980er-Jahre in Polen. Diese Staatengemeinschaft verkörperte die Materialisierung der metaphysischen Idee des Übergangs in die sozialistische Zukunft, die Realität werden sollte und wurde – zumindest in den Beschlüssen der Partei- und Staatsführungen. Der Autor und die Autorin dieses Textes sind in der DDR in sehr unterschiedlichen Milieus aufgewachsen. Staatsnah der eine, staatsfern und kirchlich orientiert die andere. Auch wenn die Kinderhymne von Brecht zum kulturellen Kanon gehörte, hießen die Liedzeilen der DDR-Kindheit z. B. in Unsere Heimat: „[…] Und wir lieben die Heimat, die schöne und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehört.“

oder in Gute Freunde: „Sie schützen unsre Heimat Zu Land, zur Luft und auf der See, Sie schützen unsre Heimat Zu Land, zur Luft und auf der See. Gute Freunde, gute Freunde, Gute Freunde in der Volksarmee.“

Freilich war die räumliche Begrenztheit der Heimat offensichtlich, denn in OstBerlin endeten alle Querstraßen zur Straße, in der der Autor wohnte, Richtung Nordwesten in Sackgassen. Darüber nachgedacht hat der Autor erst 1989, als sich die neue Heimat räumlich erweiterte und die Heimat DDR verloren ging. Nicht alle empfanden in gleicher Weise, manche gegensätzlich. Schließlich war das der Vater eines Mädchens, der Mitte der 1980er-Jahre in den Westen ausreiste. Die beiden konnten sich fortan nur noch über die Mauer hinweg zuwinken – sofern es behördlicherseits keinen Ärger gab. Hierzu formulierte anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2002 der Schriftsteller Wolfgang Hilbig zutreffend: „Man hatte mir plötzlich mit staatlicher Gewalt und, das war bald darauf zu erkennen, mit Waffengewalt, eine Heimat verschafft, und man hatte mich nicht gefragt, ob ich diese Heimat haben wollte. Man hatte versucht, mit Gewalt ein Heimatgefühl in mir zu erzwingen – wenn es ein Mittel gibt, in einem Menschen, in seinem Herzen, in seinem Kopf, ein sogenanntes Heimatgefühl dauerhaft auszuschließen, dann ist es genau dieses

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Mittel staatlicher Gewalt.“10 Das Offensichtliche, wovon also zunächst zu sprechen wäre, ist die seitens der Staatsführung von den DDR-Bürgern geforderte Loyalität zur Staatsdoktrin. Sowie zum Verständnis der DDR als sozialistischer Nation, wie diese im Zuge der Verfassungsänderung 1974 und dem 25. Jahrestag der DDR dann staatsoffiziell verstanden wurde. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist zudem die von Widersprüchen und Ambivalenzen geprägte ideologische Debatte innerhalb der SED und der DDR-Wissenschaft über die Frage, worauf sich die DDR als ‚sozialistische Nation’ in der deutschen Geschichte beziehen könne. Das ersichtlich nicht einfach umzusetzende Bestreben der DDR-Staats- und Parteiführung, über den Umweg der Auslöschung des gesamtdeutschen Bewusstseins zu einem eigenen Staatsvolk mit eigener nationaler Identität zu gelangen, erzeugte fruchtbare wissenschaftliche Erkenntnisse. Leider liegt dies vielfach außerhalb der Wahrnehmung, da die DDR-Forschung bislang überwiegend eine Forschung über die SEDDiktatur, also Aufarbeitungsforschung ist. Bemerkenswert ist dies deshalb, weil die Frage, wie in den beiden deutschen Teilstaaten mit dem Heimat- und Nationenbegriff gearbeitet wurde und wie er in der deutsch-deutschen Kontroverse politischen Konjunkturen unterlag, vielleicht auch ein interessanter Aspekt dieser Tagung hätte sein können oder an anderer Stelle einmal beleuchtet werden könnte. Einem möglichen Vorwurf aufmerksamer Leser, ob man sich mit diesem Exkurs zu weit von Hodlers Gemälde entfernen würde, ist zu begegnen. Gewählt wurde ein Seitenweg über den preußischen Generalleutnant Scharnhorst, Militärreformer und wesentlicher Akteur der Befreiungskriege. Er nahm eine bedeutende Rolle bei der Suche in der DDR nach Vorbildern ein, die z. B. für eine historisierende Legitimation der Nationalen Volksarmee über die Rote Ruhrarmee und die Roten Matrosen dienstbar waren. Im Zentrum einer solchen Betrachtung, die hier naturgemäß nur kurz ausfallen kann, steht die 1944/45 im mexikanischen Exil entstandene Schrift Der Irrweg einer Nation des späteren DDR-Kulturministers Alexander Abusch.11 Gunnar Decker zeichnet in seiner hervorragenden Monographie über das sogenannte Kulturplenum der SED von 1965 dessen gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen sowie Wirkungen, ein klares Bild der tragischen Rolle des Dogmatikers Abusch.12 10 Hilbig, Wolfgang: Literatur ist Monolog, 2002, https://www.deutscheakademie.de/de/ auszeichnungen/georg-buechner-preis/wolfgang-hilbig/dankrede (20.09.2017). 11 Abusch, Alexander: Der Irrweg einer Nation, Berlin 1950. 12 Decker, Gunnar, 1965. Der kurze Sommer der DDR, München 2015.

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Wie Wernicke in einem lesenswerten Aufsatz über das Preußen-Bild in der DDR ausführt, brachte „die vom NS-Regime verschuldete Katastrophe […] in allen Teilen der Gesellschaft tiefgreifendes Nachdenken über deren Ursache hervor. Dabei wurde nicht übersehen, dass die einfache Abwälzung der Schuld auf den Nazismus zu kurz griff, denn auch der hatte ja nicht wurzellos in der deutschen Gesellschaft emporsprießen können. Und da boten sich – wie es nach Katastrophen üblich ist – einige einfache Lösungen an, die in allen Besatzungszonen ihre Kolporteure fanden.“13 Zwei zentrale Lösungswege, die Abusch in seinem Werk aufgreift, seien hier betrachtet: Einerseits das Preußen-Bild, denn der preußische Militarismus hatte nun als wesentliche Ursache für Kadavergehorsam und Untertanengeist zu dienen, sowie andererseits ein Bild von Martin Luther als Totengräber der Nation, der Verkörperung der Gegenrevolution und reaktionärer Haltungen. Beide Bilder wurden im Verlauf der DDR-Geschichte revidiert. Hinsichtlich des Preußen-Bildes gab es durchaus zahlreiche Linien – von einer grundsätzlichen Ablehnung des preußischen Erbes, manifestiert in der Person von Friedrich II., über eine differenzierte Betrachtung preußischer Modernisierungen u.a. im Staatswesen, repräsentiert durch Freiherrn vom Stein, oder im Militärapparat in Form des bereits genannten Generals von Scharnhorst oder seinem Zeitgenossen von Gneisenau, bis hin zu positiven Einschätzungen hinsichtlich preußischer Geschichte. Stets aber spielten politische Interessen eine wichtige Rolle, wenn es zu Akzentverschiebungen in der Bewertung von Personen oder geschichtlichen Ereignissen kam.

ZWISCHEN PREUSSISCHEM KADAVERGEHORSAM UND DEUTSCH-SOWJETISCHER FREUNDSCHAFT Das ursprüngliche Narrativ des militaristischen Preußen bot nicht nur Anknüpfung an die traditionelle Ablehnung preußischer Obrigkeitsstaatspolitik durch die politische Linke unterschiedlicher Parteiencouleur, sondern hatte, wie Wernicke darlegt „für die Arbeiterparteien KPD und SPD [als] vereinfachte Schuldzuweisung den positiven Effekt, daß sie die Arbeiterschaft aus der Schußlinie der prin-

13 Wernicke, Kurt: Der arge Weg der Erkenntnis. Zum Umgang mit dem Preußen-Bild in der DDR, In: Berliner LeseZeichen 12 (2000), http://www.luise-berlin.de/lesezei/ blz01_01/blz00_12/text05.htm (20.09.2017).

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zipiellen Kritik heraushalten konnte“.14 Zugleich konnte auf diesem Wege auch die Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone moralisch legitimiert werden. Es bedurfte freilich eines moderateren, weil differenzierteren PreußenBildes, um historisch abgesicherte Vorbilder für die Legitimierung entstehender DDR-Staatlichkeit zu erhalten. Auf die so hergestellte Legitimationskette der preußischen Generäle Scharnhorst u. a. für die Gründung der zunächst Kasernierten Volkspolizei und späteren NVA ist bereits verwiesen worden. Der Rückgriff auf diese Vorbilder bot – quasi als Beifang – zugleich eine weitere historische Legitimationskette: die staatlich vorgegebene „deutsch-sowjetische Freundschaft“ als Weiterführung preußisch-russischer Kooperation in den napoleonischen Befreiungskriegen. Diese Stichworte müssen genügen. Auf die Rezeption Friedrich II. in Form der zum Standardwerk sich herausbildenden Monographie von Ingrid Mittenzwei kann hier nicht eingegangen werden. Sie muss jedoch Erwähnung finden, denn anders als die Entscheidung Honeckers, durch Rückgriff auf die Bezeichnung Friedrich II. als „Friedrich dem Großen“ und die Wiederaufstellung des Friedrich-Denkmals unter den Linden, war Mittenzweis Untersuchung wissenschaftlich abgesichert und nicht instrumentell intendiert 15. Die DDR-Bevölkerung machte sich im Übrigen auf diese erneute Volte der Staats- und Parteiführung – wie üblich – ihren eigenen Reim: Unterschiedlichen Quellen nach wurde in Berlin die Wiederaufstellung des Reiterstandbildes von Friedrich II. mit den Worten kommentiert: „Lieber Friedrich, steig hernieder und regiere Preußen wieder. Lass in diesen schweren Zeiten lieber unsern Erich reiten.“16

14 Wernicke, Kurt: Der arge Weg der Erkenntnis. Zum Umgang mit dem Preußen-Bild in der DDR, In: Berliner LeseZeichen 12 (2000), http://www.luise-berlin.de/lesezei/ blz01_01/blz00_12/text05.htm (20.09.2017). 15 Mittenzwei, Ingrid: Friedrich II. von Preußen: eine Biographie, Berlin 1979. 16 Zitiert nach Lau, Karlheinz: Friedrich II. – Friedrich der Große. Die DDR und der Preußenkönig, 2012, http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/ 144983/friedrich-ii-friedrich-der-grosse?p=all- (26.10.2018).

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LUTHER – FÜRSTENKNECHT ODER REVOLUTIONÄR UND DEUTSCHLANDPOLITISCH GEWANDELTE MÜNTZER-BILDER Das Luther-Bild der DDR war einerseits geprägt von der dichotomen Gegenüberstellung des „Fürstenknechts“-Luther im Verhältnis zum Bauernführer Thomas Müntzer, der die eindeutig positive Bezugsfigur lieferte (Mühlhausen liegt übrigens wie Jena in Thüringen, woran an dieser Stelle mit Blick auf kulturtouristische Interessen erinnert sei). Dabei war auch das Müntzer-Bild übergeordneten politischen Konjunkturen unterworfen. Wurde ursprünglich Thomas Müntzer als erster deutscher Revolutionär skizziert, der für die Einheit Deutschlands gekämpft hatte, wurde diese Perspektive mit der Konstituierung einer auf die DDR als sozialistische Nation bezogenen Staatlichkeit und Verabschiedung von gesamtdeutschen Vereinigungsszenarien zu einem Teil der angestrebten eigenständigen Geschichtstradition. Die DDR inszenierte die Jubiläen des 400. Geburtstags von Philipp Melanchthon im Jahre 1960, des 450. Jahrestags der Reformation sowie im selben Jahr die 900-Jahr-Feier der Wartburg als kulturtouristische und polit-historische Ereignisse. Luther wurde der Figur des ‚Fürstenknechts‘ partiell entkleidet und zum Initiator eines revolutionären Prozesses von nationaler Bedeutung, womit er sich auch im Verhältnis zu Thomas Müntzer einordnen ließ. Diese Inszenierungen waren freilich mit weniger Irritationen verbunden als der Coup, den Erich Honecker landete, als er quasi ohne Vorwarnung 1983 anlässlich des 500. Geburtstages von Luther als von einem der bedeutendsten Söhne Deutschlands sprach. Honecker stellte nicht nur das vorherrschende vereinfachte Luther-Bild, das bis dahin die Schulbücher dominierte, in Frage, sondern auch die Kirchen in der DDR vor enorme Herausforderungen, die sich auf einmal in staatsoffizielle Aktivitäten eingebunden sahen, die ohne Zweifel instrumentellen Charakter hatten. Sie spitzten zudem innerkirchliche Kontroversen über den Umgang mit der Staatsführung und über die Rolle der Kirchen im Verhältnis zur DDRGesellschaft zu. Was Honecker mit seinem „Coup“ gelang, war in jedem Falle, dem LutherJubiläum auch in der Bundesrepublik einen zusätzlichen Impuls zu geben. Die internationale Öffentlichkeit, die er sich mit Blick auf die Königshäuser der Niederlande, Dänemarks u.a. erhofft hatte, blieb freilich aus. Das heute noch bestehende Kabarett Die Distel kommentierte die staatsoffiziellen LutherFeierlichkeiten und das neue Luther-Bild 1983 ironisch mit den Worten:

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„Kuddeldaddeldu, immer schnieke und schmuck Und passend jekleidet vom Kiel bis zum Trupp Kommt heute Abend im Lutherlook. Ein Mönch, wie stolz das klingt: Denn Luther is unser schon immer jewesen Schon wejen der Thesen, denn 95 auf einen Schlag hatten wir nicht mal zum 30. Jahrestag. Kurz mit Herrn Luther – is alles in Butter.“

HEIMAT ALS MEHRDIMENSIONALER BEGRIFF UND NOTWENDIGER FOKUS INTERDISZIPLINÄRER FORSCHUNG Die vorstehenden Exkurse sollen untermauern, was für die Organisatoren dieser Tagung ersichtlich Ausgangspunkt der Zusammenstellung des Tagungsprogramms war: Heimat ist ein multidimensionaler Begriff, der interdisziplinär bearbeitet werden muss, um ihm gerecht werden zu können. Ihm gerecht zu werden, ist zweifellos notwendig. Denn im gegenwärtigen politischen Alltag oszilliert die Verwendung des Begriffs Heimat – je nach politischem Kontext – zwischen Vorurteilen von links und mystifizierender Instrumentalisierung von rechts. Dadurch erscheint Heimat oftmals in einer kulturellen Verengung verhaftet, in einer Entweder-oder-Logik: als Dichotomie des Eigenen und des Fremden. Dies erinnert an den zum Klassiker mutierten Ausspruch des Galliers Methusalix im Asterix-Band Das Geschenk Cäsars: „Ich hab’ nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden da sind nicht von hier!“

Im rechtspopulistischen Spektrum geht Heimat einher mit der Vorstellung von ethnischer Kohärenz, die zur Grundlage staatlicher Souveränität erklärt wird. Das Eindringen des Fremden in das Eigene provoziert Ängste vor kultureller Überfremdung und dem Verlust von existentiellen Sicherheiten. In diesem Zusammenhang beobachten wir die Revitalisierung des Mythos vom geeinten christlichen Abendland, dem schon Novalis und Schlegel mit Blick auf die politischen Verhältnisse des frühen 19. Jahrhunderts nachtrauerten – mit Karl dem Großen als zentralem Bezugspunkt.

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In Anknüpfung an solche restaurative Ansätze der Romantik wurde der abendländische Raum patriotisch aufgeladen und gegen die Ideen der Französischen Revolution gerichtet oder als Verbindung von Antike, Christentum, germanischen und romanischen Völkern definiert, wobei die slawischen Völker jedoch explizit ausgeschlossen wurden, bis schließlich Oswald Spengler 1918 den „Untergang des Abendlandes“ als Zivilisation prognostizierte17. Auch heute ist der Begriff des „Abendlandes“ als Vokabel der Ausgrenzung wieder virulent und wird gezielt eingesetzt, um Länder islamischen Glaubens zu deklassieren. Auf Auswüchse islamistischen Fundamentalismus antworten Teile der westlichen Öffentlichkeit mit einem Diskurs der Ausgrenzung, der Grundwerte und Menschenrechte allein für den Westen reklamiert. In diesem Diskurs wird bewusst die suggestive Kraft verschwiegen, mit der der Orient über Jahrhunderte auf die europäische Kultur einwirkte. Ohne die Vermittlung der arabischen Hochkultur wäre zum Beispiel das Erbe der Antike in Europa in Vergessenheit geraten. An anderer Stelle, in einem kleinen Beitrag über Konservatismus, haben die Autoren dieses Textes darauf hingewiesen, dass der Ministerpräsident von Thüringen, Bodo Ramelow, dem vorsätzlichen Irrtum einer christlich-jüdischen abendländischen Leitkultur, der sich die Muslime anzupassen hätten, den interreligiösen Klammerbegriff der „abrahamitischen Religionen“ entgegensetzt 18. Unsere Wertetraditionen beziehen sich normativ auf die Aufklärung und kulturell auf die unterschiedlichen Einflüsse des Christentums, des Judentums und der arabischen Philosophie und Kultur. Bereits Goethe formulierte im West-östlichen Diwan: „Wer sich selbst und andere kennt ǀ Wird auch hier erkennen: | Orient und Okzident | Sind nicht mehr zu trennen.“19

17 Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes, Mannheim 2011. 18 Vgl. Hoff, Benjamin-Immanuel: Konservatismus – Bedeutsames Korrektiv gegenüber technischen Allmachtsphantasien, In: Ostthüringer Zeitung, 21.10.2016. 19 Goethe, Johann Wolfgang: West-östlicher Divan, „Aus dem Nachlass“, In: Ders.: Werke. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz (Hamburger Ausgabe), Bd. 2, München 1981, S. 121.

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HEIMAT: UNIVERSALER STATT SEGREGIERTER ODER EXKLUSIVER MÖGLICHKEITSRAUM Es gehört zu den großen Herausforderungen der Gegenwart, so wichtige Begriffe wie Heimat kognitiv und affektiv so zu besetzen, dass sie von allen als Möglichkeitsraum verstanden werden. Im Einleitungsbeitrag ihres Sammelbandes Heimat gestern und heute verweisen Costadura und Ries auf die 2016er Jahrestagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft, die unter der Überschrift heimatlos/Verlust und Traumatisierung – Sehnsucht und Hoffnung durchgeführt wurde.20 Verlusterfahrungen und Traumatisierungen sind für ein ostdeutsches Bundesland wie Thüringen – also einem Gemeinwesen mit einer überwiegenden Population von Deutschen mit „sozialistischem Migrationshintergrund“, wie es im SPIEGEL einmal hieß – auch heute noch prägend. Seit 2002 wird mit dem Thüringen-Monitor eine jährliche Bevölkerungsbefragung in Thüringen vorgenommen. Hintergrund dieser Langzeitbeobachtung, die es in dieser Form in keinem anderen deutschen Bundesland gibt, war die übereinstimmende Entscheidung der politischen Akteure, auf die Schändung der Erfurter Synagoge nicht allein mit den üblichen Betroffenheitsritualen zu reagieren, sondern eine evidenzbasierte Ursachenforschung und empirische Beobachtung des gesellschaftlichen Bewusstseins vorzunehmen. Im Kontext des im Jahre 2014 gewählten Themenschwerpunkts Die Thüringer als Europäer wurde erneut die Frage erhoben, ob die Befragten sich „in erster Linie als Thüringer, Ostdeutscher, Deutscher oder als Europäer“ fühlen. „Die Identifikation mit einer dieser Bezugsgruppen gewinnt ihre Bedeutsamkeit dadurch“, so die Forschergruppe um Heinrich Best, „dass sie die Verhältnisse der Menschen zu ihrem sozialen Umfeld rahmt. Die Erhebung der Gruppenidentifikation kann darüber Aufschluss geben, wie und entlang welcher Dimensionen das soziale Nah- und Fernfeld in Eigen- und Fremdgruppen eingeteilt wird. Dieser sozialpsychologische Mechanismus ist relevant, da entlang der Gruppeneinteilungen auch Abwertungen von Fremdgruppen und Aufwertungen von der Eigengruppe sowie diverse Zuschreibungen und Stereotypen vorgenommen werden.“21

20 Costadura/Ries: Heimat – ein Problemaufriss, a.a.O., S. 8. 21 Best, Heinrich u.a.: Die Thüringer als Europäer. Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2014, Jena/Erfurt, S. 21, https://www.thueringen.de/mam/th1/tsk/thuringen-monitor_ 2014.pdf (26.10.2018).

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Die regionale Identität ist, wie die Ergebnisse aus 2014 zeigen, von erheblicher Relevanz. Knapp die Hälfte der Befragten äußerte, dass sie sich vorrangig als Thüringer sehen. Etwas mehr als ein Viertel gab an, sich als Deutscher zu sehen, weitere 14 Prozent sahen sich als Ostdeutsche, während sich 8 Prozent als Europäerin oder Europäer einordneten. Diese Selbstzuschreibungen sind über die Zeitläufte der Erhebungen stabil. Die Selbstzuschreibung als Thüringer ist unabhängig vom sozialen Status und überwiegt in allen Sozialkategorien, während die Selbstbeschreibung als Europäer/-in eine starke Korrelation zum höchsten Bildungsabschluss hat. Zwar liegt sie auch hier mit 17 Prozent hinter dem Selbstbild als Thüringer/-in oder Deutschen, dennoch hat der Bildungsweg auch einen Einfluss auf die Wahrnehmung von Europa als Möglichkeitsraum, zum Beispiel durch Mobilitätschancen. In einem vergleichsweise umfangreichen Beitrag würdigte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 16. November 2016 den Thüringen-Monitor, der im vergangen Jahr unter der Überschrift Gemischte Gefühle: Thüringen nach der ‚Flüchtlingskrise‘ stand, wobei der Begriff „Flüchtlingskrise“ nicht leichtfertig dem öffentlichen Diskurs folgend verwendet, sondern bewusst in Anführungszeichen gesetzt wurde.22 Es zeigt sich, dass in dem, was der Thüringen-Monitor weiterhin bestehende „Ost-Deprivation“ nennt, die Wiedervereinigung noch nicht abgeschlossen ist. Ostdeutsche – unabhängig von der individuellen sozialen Lage – fühlen sich in der Bundesrepublik weiterhin nicht in ihrer Lebensleistung anerkannt, trauern in diesem Sinne einer Heimat nach und bewerten aus dieser Perspektive das, was Heinrich Best und Kolleg/-innen in der Konsequenz „für Ostdeutschland spezifische Belastungen für die Integration“ nennen.23 Die deutsche Einheit sei, so die Erkenntnis des letztjährigen ThüringenMonitors, von „intakten Solidaritätsnormen einer nationalen Gemeinschaft“ getragen worden.24 Deshalb ist trotz Massenarbeitslosigkeit Ost und zum Teil erheblichen Unzufriedenheiten in Ost wie West nie von einer „Vereinigungskrise“ gesprochen worden. Im Gegensatz dazu und im Kontext nicht nur allein hinsichtlich des Ausmaßes, wie Best u. a. formulieren, „einer Zuwanderung von 22 Locke, Stefan: ,Gutmenschen‘ und ‚Dunkeldeutsche‘. Für viele Ostdeutsche ist die Wiedervereinigung noch immer nicht abgeschlossen, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.11.2016, S. 10. 23 Best, Heinrich u.a.: Gemischte Gefühle: Thüringen nach der „Flüchtlingskrise“. Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2016, Jena/Erfurt, S. 108, https://www.thueringen. de/mam/th1/tsk/thuringen-monitor_2016_mit_anhang.pdf (26.10.2018). 24 Ebd.

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über einer Million Flüchtlingen und Asylsuchenden, weit überwiegend mit einem von der deutschen Bevölkerung markant unterschiedlichen soziokulturellen Hintergrund“, sondern auch im Hinblick auf die spezifischen Umstände ihres Grenzübertritts und der politischen Entscheidungen „über ihren Eintritt in das Gebiet deutscher Verwaltungshoheit“ wurde von einem großen Teil der Öffentlichkeit einschließlich politischer Verantwortlicher ein ‚Kontrollverlust‘ konstatiert, der zugespitzt als ‚Staatsversagen‘ in den öffentlichen Diskurs Eingang fand.25 Die Normen der deutschen Einheit, von Willy Brandt mit den ihm für den 10. November 1989 zugeschriebenen Worten „es wächst zusammen, was zusammen gehört“ für die Ewigkeit festgehalten, hatten als Zusammenwachsen zweier als Einheit empfundener Heimaten ersichtlich tiefgreifendere Solidaritätswirkung als die universellen humanitären Normen für die Aufnahme von Flüchtlingen, die kurzlebiger und eingeschränkter wirken. Unter anderem daraus erklärt sich der in der Regel nicht durch Fakten untermauerte Stigmatisierungsund Krisendiskurs. Dennoch kommen wir nicht umhin, zu konstatieren, dass zum kollektiven Gedächtnis der Ostdeutschen das geradezu paradoxe Gefühl einer spezifischen Heimatlosigkeit in der eigenen Heimat. Einerseits Reaktion auf Transformationsbrüche, die als Verlusterfahrung wahrgenommen werden. Andererseits Verzicht auf Idealisierung eines Landes, dessen Grenzen man sich wohl bewusst war. Der Korridor bleibt die Fokussierung auf Wohlfahrt und Möglichkeiten, die in der neuen kapitalistischen Gesellschaft ökonomischer Logik unterworfen sind. Der letztjährige Thüringen-Monitor zeigte erneut die gemischte Situation einer stabilen Demokratiezufriedenheit, die von Migrationsbewegungen unbeeindruckt bleibt, bei einer erheblichen demokratieskeptischen bis demokratiefeindlichen Minderheit, die rund 20 Prozent der Befragten ausmacht. Obwohl die OstDeprivation eben keine vom sozialen Status abhängige Einstellung ist, zeigt sich dennoch, dass die Bewertung der Demokratie stark von verteilungspolitischer Benachteiligung bestimmt ist: Unter Personen, die die deutsche Einheit negativ bewerten, also Verlusterfahrungen ihrer ostdeutschen Heimat beklagen und die Einschätzung vertreten, dass Ostdeutsche von den Westdeutschen als ‚Menschen zweiter Klasse‘ behandelt werden, gibt es nur 14 Prozent zufriedene Demokraten, aber 41 Prozent Demokratieskeptiker. Hier wirken ebenfalls über lange Zeiträume eingeschliffene Gefühle der Benachteiligung und Ressentiments. „Relative Deprivation, die aus Gruppenvergleichen resultiert, in denen die Eigen25 Vgl. dazu auch: Alexander, Robin: Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Inneren der Macht, München 2017.

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gruppe als benachteiligt wahrgenommen wird, mag die Ursache dafür sein, dass auch im Hinblick auf ihre Positionen in den Status- und Einkommenshierarchien begünstigte Sozialkategorien demokratiefeindliche Einstellungen vertreten“, wie die Wissenschaftler um Heinrich Best konstatieren 26. Denn ein Ergebnis des Thüringen-Monitors 2016, das mit vergleichbaren Ergebnissen einer sächsischen Untersuchung unter dem Titel Sachsen-Monitor korreliert, ist durchaus besorgniserregend: 20 Prozent der Thüringer höheren und leitenden Angestellten und Beamten stimmen der Aussage zu, dass eine Diktatur im nationalen Interesse unter bestimmten Umständen die bessere Staatsform sei. „Dies ist“, wie Best u. a. festhalten, „der höchste Wert unter allen Berufsgruppen. [Einer] Berufsgruppe, von der man eigentlich ein besonderes Loyalitätsverhältnis zur demokratischen Ordnung erwarten dürfte.“ Unter Bezug auf den Kasseler Soziologen sprechen die Autoren des Thüringen-Monitors von den „Verbitterten der Mittelschicht“, deren Einstellung zu Diktatur und Demokratie aus einem Deprivationsempfinden gespeist werde.27 Die Versperrung von Möglichkeitsräumen durch Ausgrenzung infolge nationaler Abschottung, sozialer Segregation in Form von Gentrifizierung in den Städten oder auch durch Deprivation gesellschaftlicher Eliten, die sich nicht topographisch, sondern politisch und gesellschaftlich heimatlos fühlen, sind Erweiterungen des Diskurses um Heimat, dem auch nach Abschluss der Jenaer Konferenz nachgespürt/nachgegangen werden muss.

„LINKS IST DA WO KEINE HEIMAT IST“: EINE WIDERREDE. Gleichzeitig zwingt die Welle national-populistischer Bewegungen in Europa dazu, auch linke Gewissheiten zu überdenken, nein mehr noch, in Frage zu stellen. „Links ist da wo keine Heimat ist“, lautet die Antwort der politischen Linken in Deutschland auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus: „Insbesondere für eine kritische Philosophie weltverändernder Praxis schien und scheint das Schlusswort ‚Heimat‘ [in Ernst Blochs ‚Prinzip Hoffnung‘] so unmöglich, unbrauchbar, tabu zu sein. – In der Tat, für die Linke ist ein positiver Bezug auf ‚Heimat‘ vollkommen indiskutabel; das ist die politische Konsequenz eben des 26 Vgl. Best, Heinrich u.a.: Gemischte Gefühle: Thüringen nach der „Flüchtlingskrise“. Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2016, Jena/Erfurt, S. 73 https://www.thueringen. de/mam/th1/tsk/thuringen-monitor_2016_mit_anhang.pdf (26.10.2018). 27 Ebd.

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Miss-, wie auch Gebrauchs der Heimatideologie, wie sie in die deutsche Geschichte eingeschrieben ist“28, formuliert Roger Behrens. Behrens knüpft damit an eine länger bestehende Kontroverse in der politischen Linken, nicht zuletzt über folgende Aussage im Kommunistischen Manifest an: „Den Kommunisten ist ferner vorgeworfen worden, sie wollten das Vaterland, die Nationalität abschaffen. Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben. Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie. […] In dem Maße, wie die Exploitation des einen Individuums durch das andere aufgehoben wird, wird die Exploitation einer Nation durch die andere aufgehoben. Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander.“29 Diese Aussagen haben stark divergierende Interpretationen hervorgerufen. So versuchte der sozialdemokratische Reformist Eduard Bernstein die Formel: „Die Arbeiter haben kein Vaterland“ dahingehend zu interpretieren, dass es sich um eine Momentaufnahme im Manifest handeln würde und dass Marx und Engels folglich einen Prozess beschreiben wollten: „Der Satz, dass der Proletarier kein Vaterland hat, wird von dem Augenblick an, wo, und in dem Maße modifiziert, als derselbe als vollberechtigter Staatsbürger über die Regierung und Gesetzgebung seines Landes mitzubestimmen hat, und dessen Einrichtungen nach seinen Wünschen zu gestalten vermag.“30 In seiner Skizze über Marx stellt Lenin hingegen zum gleichen Sachverhalt fest, dass es „in den entwickelten imperialistischen Ländern […] daher vollkommene Wahrheit (sei) […], dass die ‚Arbeiter kein Vaterland haben‘ und dass die ‚vereinte Aktion‘ des Proletariats wenigstens der zivilisierten Länder, eine der ersten Bedingungen seiner Befreiung’ ist.“31 Während Heimat in dieser Kontroverse mit Nation identifiziert und gleichgesetzt wird, lädt Behrens in seiner Bloch-Interpretation den Heimat-Begriff jedem 28 Behrens, Roger: Anmerkungen zu Blochs Kategorie und Begriff der Heimat, gegen das bloße Wort, einschließlich einer Kritik der um das Utopische verkürzten virtuellen Räume des Pop, S. 2, o.O., o.J., https://docplayer.org/24615447-Roger-behrensvoraus-das-schwierige-schlusswort-seite-1.html (26.10.2018). 29 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Das kommunistische Manifest, In: MEW, Bd. 4, Berlin 1961, S. 459-493, hier: S. 479. 30 Bernstein, Eduard: Die deutsche Sozialdemokratie und die türkischen Wirren, In: Die Neue Zeit, 1/4 (1896-1897), S. 108-116, hier S. 111 f. 31 Lenin, Wladimir Iljitsch: Karl Marx – kurzer biographischer Abriss, In: Ders.: Werke, Bd. 21 Berlin/DDR 1975, S. 2f.

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Bezug zur Nation vollkommen entkleidend idealistisch auf und formuliert: „Insofern ist Blochs Heimatbegriff keine Kategorie der Tatsächlichkeit, keine ökonomische Kategorie vom Standort, keine politische Kategorie der Nation, erst recht keine politische Kategorie des Nationalismus oder Chauvinismus. Die von Bloch in den Blick genommene Heimat hat kein Blut und keinen Boden, ganz wörtlich, denn sie ist ja nicht von dieser Welt […]; sie ist eine Kategorie der Möglichkeit, ähnlich dem Begriff vom Reich der Freiheit […]. Heimat ist […] Horizont einer materialistischen Geschichtsphilosophie der Praxis.“32 In dieser Lesart steckt ein interessanter Ansatzpunkt – die Beschreibung von Heimat als Möglichkeitsraum, die vorstehend bereits angesprochen wurde. Die Kontroverse um den Heimatbegriff und die Ablehnung jeder positiven Bezugnahme auf die mit Heimat identifizierten Verlusterfahrungen, die weite Teile der Gesellschaft und insbesondere der traditionell der politischen Linken nahestehenden Milieus angesichts von Entgrenzung aufgrund von Globalisierung und technischem Fortschritt machen, führt zu der sozialen Entkopplung der progressiven Milieus. Mit den Worten von Hillebrand: „Es ist diese ideologische Entfremdung zwischen den linken Parteien und ihrer historischen Wählerbasis, die im Wesentlichen die schlechten Wahlergebnisse der linken Mitte erklärt. Während die Parteien und Funktionäre sich in zentralen wirtschaftlichen und sozialen Fragen im Sinne von Globalisierung, Europäisierung, Entgrenzung und Liberalisierung positionieren, halten Teile der Unterschicht an Nationalstaat, Patriotismus und traditionellen Werten fest“.33 Diesen Befund bestreiten kann man kaum, auch wenn man daraus solche und solche Schlussfolgerungen ziehen kann. Es ist nach der Bundestagswahl 2017 und dem großen Erfolg der AfD wiederholt zutreffend darauf hingewiesen worden, dass mit einem ‚Rechtsruck‘ in Richtung AfD nichts zu gewinnen ist. Dies würde bedeuten, auf der Tanzfläche der AfD nach deren Takt sich zu bewegen. Die linken Parteien können mit dem ‚Rechtsblinken‘ nur verlieren. Entweder sie biegen ab, dann hören sie auf, links zu sein. Oder sie blinken nur, dann ist das Blinken nicht mehr als ein Hinweisgeber auf das rechte Original. 32 Behrens, Roger: Anmerkungen zu Blochs Kategorie und Begriff der Heimat, gegen das bloße Wort, einschließlich einer Kritik der um das utopische verkürzten virtuellen Räume des Pop, S. 10 f. http://alt.rogerbehrens.net/bloch.pdf (27.09.2017). 33 Hillebrand, Ernst: Aber wir lieben euch doch alle! Die Entkoppelung zwischen linker Politik und ihren traditionellen Wählern wächst immer weiter. Belehrungen nach Gutsherrenart

werden

daran

nichts

ändern,

In:

IPG-Journal,

18.07.2016,

https://www.ipg-journal.de/schwerpunkt-des-monats/die-linke-global-wo-funktioniert -es/artikel/detail/aber-wir-lieben-euch-doch-alle-1521/ (26.10.2018).

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Aber es gibt für die politische Linke auch keinen Anlass, der Illusion zu erliegen, der Wandel von Milieus, Werten und gesellschaftlicher Diskurse hätte auf sie keinen Einfluss. Wenn die linken Parteien Mehrheiten für eine andere Politik erringen wollen, dann weder gegen noch ohne die ‚historische Wählerbasis‘, von der Ernst Hillebrand schreibt. Dann wird man erstens nicht umhin kommen, eine progressive politische Erzählung zu entwickeln, die Begriffe wie Sicherheit (als den legitimen Wunsch nach Sicherheit vor den großen Risiken des Lebens, seien sie nun Krieg, Gewalt, Armut oder Diskriminierung) und Heimat (als ebenso legitimen Wunsch nach einem Leben in verlässlichen familiären, sozialen, ökonomischen und institutionellen Arrangements) nicht meidet und tabuisiert, sondern kognitiv und affektiv auf eine Weise besetzt, die Zustimmung für eine progressive Politik wirbt. Zweitens wird man gehalten sein, eine politische Agenda aufzusetzen, die dieser Wählerbasis ein Leben in Sicherheit ermöglicht. Eine Politik der offenen Grenzen für diejenigen, die aus ihrer Heimat fliehen, kann man nicht ernsthaft verteidigen, ohne zugleich einen positiven Begriff von Heimat zu haben. Heimat ohne Deutschtümelei zu denken – darin haben uns möglicherweise Menschen mit Migrationshintergrund etwas voraus. Und vielleicht besteht darin ein Grund, dass moderne Konservative in der migrantischen Community in Teilen anschlussfähiger sind als Mitte-Links, denn sie thematisieren sowohl die Ausgestaltung von Möglichkeitsräumen, die (neue) Heimaten bieten, als auch den Appell, diese Möglichkeiten zu nutzen. Damit sollen Anschlüsse an Tugendbegriffe hergestellt werden, die zur Legitimation des modernen Konservatismus gehören. Was fehlt in diesem Narrativ, ist die Thematisierung tatsächlicher ökonomischer Gerechtigkeitsbedingungen, die mehr als Chancengerechtigkeit sein müssen, nämlich Chancengleichheit. Das Postulat „Links ist da, wo keine Heimat ist“, wäre demnach abzulösen durch die empathische Aussage: „Links ist da, wo Menschen eine sichere Heimat (auch in der Fremde), damit Zukunft und Möglichkeitsräume“ haben. In diesem Sinne birgt die Diskussion um die Heimat für die politische Linke mehr Möglichkeiten als die reflexhafte Abwehr zur Selbstvergewisserung.

LITERATUR Abusch, Alexander: Der Irrweg einer Nation, Berlin-DDR 1950. Alexander, Robin: Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Inneren der Macht, München 2017.

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Heimat-Ambivalenzen Bewahren und Vernichten, Fürsorge und Verbrechen Friedemann Schmoll

In der Berufung auf Heimat changierten die damit einhergehenden Versprechen und Intentionen beständig zwischen Fürsorge und Verbrechen – in ihrem Namen wurde diskriminiert und gemordet, geschützt und gerettet. In der Gebrauchsgeschichte des Begriffes kippte das Anliegen, Eigenes und Vertrautes bewahren zu wollen, regelmäßig in militant-xenophobe Wendungen gegen Fremdes. Heimat fungierte alsbald als ideologisch aufgeladene Abwehr- und Abschottungsformel, sodass sich vordergründig durch und durch Widersprüchliches – Regression und Utopie, Glück und Verbrechen, Humanisierung und Barbarei – um dieses eigentümliche deutsche Wortgeschöpf lagerte. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen solche Wendungen und Prozesse des Hinübergleitens in entfesselte Brutalität. Ausgangspunkte dabei bilden Bedingungen der inneren und äußeren Heimatlosigkeit, in denen Entfremdung als Überfremdung, Mobilität als Entwurzelung und Migration als gescheiterte Beheimatungsversuche erfahren und gedeutet werden. In seine Deutschen Stichworte nahm Klaus Heinrich anno 1984 auch die „Gemütlichkeit“ mit auf. Gemütlichkeit – zweifelsohne ein Signal- und Losungswort deutscher Befindlichkeiten, schillernd irgendwo im mentalen Vorgartenidyll zwischen selbstzufriedener Feierabendseligkeit, lauschigen Schrebergartenkulissen, warmherziger Seelentiefe und kollektiv gestimmtem geselligen Wohlbefinden. Allerdings, so schickte der Berliner Religionswissenschaftler sei-

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nen Überlegungen voraus: „‚Gemütlichkeit‘ ist kein harmloses Wort.“1 Er verwies auf dessen Unübersetzbarkeit, weshalb es denn auch einen „nationalen deutschen Abdruck in zahlreichen fremden Sprachen“ hinterlassen habe. Französisch: „La Gemütlichkeit“, Englisch „The Gemütlichkeit“. Unversehens ersteht da auch eine behagliche Heimat-Topographie deutschen Seelenfriedens. Gemütlichkeit, abgeleitet vom ‚Gemüt‘. Mit diesem Codewort deutscher Gestimmtheiten ließ sich seit der Aufklärung immer wieder Skepsis mobilisieren gegen die Vorherrschaft eines allzu nüchtern-abstrakten Verstandes.2 Es löste sich im 19. Jahrhundert aus seinen zunächst pietistischen Gebrauchskontexten, wurde durch die Romantik in Stellung gebracht gegen den Primat heruntergekühlter Rationalität und umschrieb vage so etwas wie einen kollektiven Gefühlshaushalt. Alsbald avancierte ein deutsches Gemüt zum emotionsgetränkten Synonym für das, was Wilhelm Heinrich Riehl als den „wunderbaren Organismus einer ganzen Volkspersönlichkeit“3 ausgemacht hatte – für eine kollektiv gestimmte Volksseele, Volkscharakter, Verbundenheit in Gemeinschaft, für die Nation als eine Gemüts- und Kulturgemeinschaft. Auch der von den Nationalsozialisten vertriebene Sprachhüter Adolf Storfer sprach 1935 in Wörter und ihre Schicksale von der „Verlötung der Begriffe Deutschtum und Gemüt“4. Ähnliches ließe sich nun fast uneingeschränkt auch von der Heimat sagen. Wie ‚Gemüt‘ und ‚Gemütlichkeit‘ verweist auch dieses Wörtchen unscharf, aber entschieden auf etwas sonst kaum Sagbares, auf etwas vielleicht ja doch elementar Menschliches und reklamiert in einer ansonsten entzauberten und funktionalisierten Welt Gefühl und Gemeinschaft. Bei Klaus Heinrich sucht man übrigens die Vokabel Heimat vergeblich – auch wenn sie ungenannt immerzu präsent scheint. Heinrich würde die ‚Gemütlichkeit‘ gern als Belanglosigkeit abhaken, wenn sie denn nicht eben mehr als nur biedere Spießerbehaglichkeit umfasse: „Aber das wäre noch harmlos und würde ein aktuelles Stichwort ‚Gemütlichkeit‘ nicht rechtfertigen, hätte dieses Wort nicht in der jüngeren deutschen Geschichte ein ungemütli1

Heinrich, Klaus: Gemütlichkeit, In: Ders.: Deutsche Stichworte. Anmerkungen und Essays, hsrg. v. Horst Kurnitzky und Marion Schmid, Frankfurt a. M. 1984, S. 47-53, hier S. 47.

2

Vgl. von Xylander, Cherice: Gemüt, In: Lauschke, Marion/Schneider, Pablo (Hrsg.): 23 Manifeste zu Bildakt und Verkörperung, Berlin 2018, S. 77-88.

3

Riehl, Wilhelm Heinrich: Die Volkskunde als Wissenschaft. Ein Vortrag, In: Ders.: Culturstudien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1859, S. 205-229, hier S. 215.

4

Storfer, Adolf Josef: Wörter und ihre Schicksale, Berlin u. a. 1935, S. 152.

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ches Revers bekommen, nämlich ‚Brutalität‘, und wäre es nicht mit diesem Revers zusammen zum Charakteristikum einer spezifisch nationalen Mentalität geworden, die ich vorwegnehmend als die der „Bande“ bezeichnen will; der aus dem pietistischen Gebrauch des Worts verdrängte ‚Mut‘ kehrt in entstellter Form zurück: als ein der Sublimierung unzugängliches, von seiner ‚gemütlichen‘ Kehrseite hinfort nicht mehr wegdenkbares Brutalverhalten.“5

Die Kehrseite ist eine grausame Nachtseite, Gemütlichkeit und Barbarei bilden also zwei Facetten einer Geschichte – eben auch einer deutschen HeimatGeschichte. Gemüt, Gemütlichkeit und Heimat. Diese Wortgefäße blieben über lange Zeitläufte hinweg gleich, aber ihr Sinn, ihre Bedeutungen und die Erfahrungen, die in sie eingeschrieben wurden, änderten sich beständig. An dieser Stelle interessieren weniger ihr semantisches Ineinandergreifen, sondern vielmehr die Energien, die sie zu entfalten vermochten, also das, was Klaus Heinrich als den Moment des „Umschlags von Gemütlichkeit in Brutalität, von Brutalität in Gemütlichkeit“6 festmachte – der Umschlag, das Kippen, Hinübergleiten. Die Inspektion dieses Vorgangs erscheint auch für die Heimat erhellend. Es geht also im Folgenden um die mitunter unmerklichen, womöglich ja auch offenkundigen Verwandlungen von Fürsorge in Verbrechen, um Wendungen vom Heimeligen, vom Heimisch-Vertrauten ins Unheimliche.7 Unter welchen Bedingungen wird Heimat zum Störfall? Was passiert bei diesem ‚Umschlag‘ von Gemütlichkeit in Brutalität? Ist das eine Verwandlung von etwas in ein anderes? Eine Mutation? Oder trifft eher die Bestimmung als „Chamäleon Heimat“, 8 das sich vielfach verfügbar anpasst an jedwelche historische Bedingungen deutscher Geschichte – mal als politischer Sprengsatz und Terror, mal als folkloristisches Konsumgut, als Rückzugs- und Kompensationsraum, als verlorenes Paradies oder Utopie. • Da ist zum einen die entschiedene Intention der Ausgrenzung, um Eigenes zu schützen – die Tendenz, in Berufung auf Heimat Fremdes als Feindliches auszuweisen. Heimat präsentiert sich regelmäßig als mentale Maschinerie zur Verteidigung einer gleichermaßen fürsorglich wie militant gehüteten Sphäre

5

Heinrich, Gemütlichkeit, S. 47.

6

Ebd., S. 49.

7

Vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche, In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V (1919), S. 297-324.

8

Vgl. Bausinger, Hermann: Chamäleon Heimat – eine feste Beziehung im Wandel, In: Schwäbische Heimat (2009), H. 4, S. 396-401.

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der Eigenheit, deren Berührungsängste mit jedwelchem Fremden in Abwehr und Brutalität umschlagen. • Zum anderen ist da aus der elenden Perspektive der Heimatlosigkeit die Hoffnung auf Beheimatung, das Versprechen auf Schutz, Sicherheit und Stabilität, auf Anerkennung und Zugehörigkeit, auf verlässliche Sicherheit, auf ein Zuhause, das mehr ist als ein Dach über dem Kopf. In Berufung auf Heimat wurde geliebt, geschützt, gesorgt; im Namen der Heimat wurde vertrieben, gemordet, vernichtet. Diesen Ambiguitäten soll im Folgenden nachgegangen werden. Es geht zunächst um einige Beobachtungen aus der europäischen Geschichte des Heimwehs, als aus dem Zustand der Heimatlosigkeit und eines unstillbaren Leidens an der Fremde Exzesse der Gewalt hervorbrachen. Sodann folgen Schlaglichter aus der Geschichte des deutschen Heimatschutzes, als aus Anliegen des Bewahrens und Schützens von Natur und Kultur eine Legitimation der Vernichtung erwuchs. Beschlossen werden diese Skizzen mit dem Versuch, die daraus resultierenden Überlegungen zu Eigenem und Fremdem in Korrespondenz bringen mit aktuellen Mobilisierungen zweierlei Heimaten: Heimat, die einerseits als Kampf- und Abschottungsformel gegen alles Fremde in Stellung gebracht wird und andererseits die Aufgabe der Beheimatung von Heimatlosen, die zu einer der dringlichsten gesellschaftlichen Herausforderungen avanciert.

1. HEIMWEH UND VERBRECHEN – „HEIM!“ Die Dissertationsschrift Heimweh und Verbrechen von Karl Jaspers aus dem Jahre 19099 bildet einen vorläufigen Schlusspunkt von Versuchen, dieses eigentümlich zehrende Symptom Heimweh medizinisch, psychologisch, anthropologisch, völkerpsychologisch oder forensisch zu fassen.10 In jedem Fall stand 9

Jaspers, Karl: Heimweh und Verbrechen (= Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 35), Leipzig 1990 [1909] (zugl. Dissertation an der Universität Heidelberg 1909).

10 Vgl. u.a. Greverus, Ina-Maria: Heimweh und Tradition, In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 61 (1965), S. 1-31; Bronfen, Elisabeth: Fatale Widersprüche, In: Jaspers, Karl (Hrsg.): Heimweh und Verbrechen, München 1996, S. 7-25; Gröf, Siegfried: Diagnose Heimweh. Begriffsgeschichtliche Betrachtungen zu einem Phänomen zwischen Wissenschaft und Literatur, In: Lange, Thomas/Neumeyer, Harald (Hrsg.): Kunst und Wissenschaft um 1800, Würzburg 2000, S. 89-108; Bachhiesl, Sonja Maria: „Heim-

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‚Heimweh‘, das zunächst in den alemannischen Dialekt Eingang und erst im 18. Jahrhundert in die Hochsprache Aufnahme fand, stets als pathologischer Befund zur Disposition. Jaspers Auseinandersetzung basierte auf einer Reihe spektakulärer Kriminalfälle, die er als Anlass nahm, um die psychosozialen Folgen des Verlustes von Heimat zu reflektieren. Sein Ausgangspunkt ist die Beobachtung eigentümlicher Ambivalenzen: „Schon lange haben die mit unglaublicher Grausamkeit und rücksichtsloser Brutalität ausgeführten Verbrechen Interesse erregt, die man von zarten Geschöpfen, jungen und gutmütigen, noch ganz im Kindesalter befindlichen Mädchen ausgeführt sah.“11 Zarte Geschöpfe, grausamste Gewalt. Die Rede ist hier zum einen von sich im 19. Jahrhundert häufenden Kindsmorden, die junge Dienstmädchen an ihnen anvertrauten Säuglingen begingen. Zum anderen von Brandstiftungen, mehrheitlich von jungen Männern begangen. Beide Male ging es um ungestilltes Heimweh, das zu Gewalt trieb. Kindliche Wesen, psychisch labil aufgrund ungestillter Sehnsucht nach Geborgenheit, verwaist und unbehaust, entladen ihren Schmerz des Nicht-NachhauseKönnens in brutaler Gewalt. Brandstiftung (die Zerstörung fremder Heimat durch die reinigende Kraft des Feuers) und vor allem Kindsmord (die Ermordung ihnen zur Obhut anvertrauter Kinder), so lauteten die Tatbestände, durch welche die Delinquentinnen ihr Ziel zu erreichen suchen, nachdem sie Geborgenheit und Zuwendung entbehren mussten. Es war die Erfahrung abweisender Fremde, die in der Vorstellungswelt der Betroffenen umgekehrt die idealisierte Heimat als einzig möglichen Aufenthaltsort erscheinen ließ. Auch dann, wenn diese nie eine war, die auch Geborgenheit zu spenden vermochte. Wie bei der Blassen Apollonia 1845 in der gleichnamigen Erzählung von Hermann Kurz. Da die eigene Familie nicht genügend Auskommen hatte, musste sich das junge Mädchen auswärts als Kindsmagd verdingen. Zuhause hatte sie stets Abweisung erfahren, dennoch zog es sie nun gleichsam magisch zurück: „Aus diesem kümmerlichen Leben sog ihr angebornes sehnsüchtiges Wesen immer mehr Nahrung; ihr Heimweh, das früher gleichsam heimatlos gewesen war, nahm jetzt eine bestimmte Richtung, alle ihre Gedanken waren nach der Heimat, nach den Ihrigen gewendet.“12

weh und Verbrechen“ – ein Beitrag von Karl Jaspers zur Kriminalpsychologie, In: Archiv für Kriminologie 223 (2009), S. 98-107; Bunke, Simon: Heimweh. Studien zur Kultur- und Literaturgeschichte einer tödlichen Krankheit, Freiburg 2014. 11 Jaspers, Heimweh, S. 1. 12 Kurz, Hermann: Die blasse Apollonia, In: Ders.: Erzählungen. Bd. 1, Stuttgart 1858, S. 345-357, hier S. 351.

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Der „Drang nach Heimath, der immer wilder und heftiger wurde, [...] zerrüttete ihren Geist. [...] In ihren ungeordneten Gedanken verfiel sie darauf, wenn das Kind stürbe, so würde ihre Herrschaft sie als unnütz nach Hause schicken. So scheint es, daß nach und nach, nur wie dämmernd, der Wunsch in ihr aufgestiegen sei, es möchte das Kind und mit dem Kinde sie selbst erlöst werden.“13 Aus Heimweh begeht sie schließlich einen Kindsmord, der ihr Erlösung verhieß: „Sie gab nichts zur Antwort, als Heim!“ 14 Eine ungesunde Erfahrung der Fremde wurde hier zum Humus für Gewalt. Für die Forensik des 19. Jahrhunderts stand die Frage im Mittelpunkt, wie es denn um die Schuldfähigkeit der Delinquentinnen bestellt sei, wenn diese eine derart überwältigende Heimat-Sehnsucht zur grausamen Tat trieb. Begonnen hatte die Suche nach Erklärungen für die Heimwehkrankheit jedoch schon 1688 mit der Basler medizinischen Dissertation von Johannes Hofer De Nostalgia, Oder Heimwehe. An dieser Stelle interessieren vor allem die Relationen von Heimat und Fremde, Vertrautheit und Entfremdung, die im über 200-jährigen HeimwehDiskurs thematisiert wurden. Heimweh wird zunächst von Hofer und alsbald von vielen anderen als Krankheit mit drastischen somatischen Auswirkungen beschrieben. Es erscheint eben nicht nur als dissonantes Gefühl oder als depressive Verstimmung. Die Krankheit besitzt die Macht, den Körper zu befallen und kann zum Tode führen, wenn nicht eine Rückkehr in die verlorene Heimat erfolgt. Die untrüglichen Symptome: trauriges Umherirren, überempfindliches Fremdeln gegenüber unbekannten Sitten und Gewohnheiten, Schlaflosigkeit, Überempfindlichkeit, Hang zur Melancholie, Ablehnung unvertrauter Speisen, infolgedessen Abmagerung und Auszehrung. Wie gesagt: Bleibt die Behandlung in der einzig möglichen Form baldiger Heimreise aus, kann der Tod erfolgen. Der anfänglich kursierende Name „Schweizer Krankheit“ (morbus helveticus) reklamierte den Anspruch auf eine spezifisch helvetische Welterfahrung. Johannes Hofer glaubte die Ursachen physiologisch in überreizten Nervenbahnen und dadurch verstörten „Lebensgeistern“ gefunden zu haben, die krankhafte Einbildungskraft erzeuge. Und jene gereizten Nervenbahnen seien dort im Gehirn zu suchen, wo auch die Idee des Vaterlandes zu lokalisieren sei. Wenige Jahre später verlagerte Johann Jakob Scheuchzer die vermeintlichen Ursachen in ein allerdings nur vordergründig Äußeres. Er machte den für die Schweizer ungewohnten Luftdruck im Flachland verantwortlich. Sie bewohnten den „obersten Gipfel von Europa“; dort atmen sie eine „reine, dünne / subtile Luft, welche wir auch selbst in uns essen / und trinken / durch unsere Land13 Ebd., S. 352. 14 Ebd., S. 356.

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Speisen / und Getränke / welche eben denselben Luft enthalten.“ 15 Es handelt sich bei dem Luftdruck also nur um ein vermeintlich Äußeres, weil die Luft eben beständig zwischen Innen und Außen zirkuliert und die Schweizer die Gebirgsluft gewohnt seien, die alles und also auch ihre Speisen, Milch und Käse, durchdringe und in ihnen vertraute Speisen verwandle. Um 1800 ebbte das medizinische Interesse an der Heimweh-Krankheit ab, nachdem sie längst als allgemeinmenschliche Symptomatik identifiziert worden war. Jetzt keimte auch eine völkerpsychologische Neugier. Der Psychiater Willers Peter Jessen notierte 1841 im Encyclopädischen Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften: „Heimweh ist nicht nur bei den meisten europäischen Völkern, sondern auch bei den Indianern, Ungern, Sibiriern, Grönländern, Eskimos u. s. w. beobachtet worden. [...] Vorzugsweise scheint aber die Disposition zur Nostalgie bei Völkern, wie bei Individuen, gebunden zu seyn an eine geringe Stufe der Civilisation [...].“16 Während der primitive „Wilde“ an die ihm vertraute Umwelt gefesselt sei, so Jessen, habe der „wahrhaft Gebildete, der Naturforscher, der Gelehrte, der Weltweise [...] in der ganzen Welt seine Heimath.“17

Also: In dieser Deutung ist es eine individuationsresistente Primitivität, die es verunmöglicht, sich einer fremden Umwelt zu öffnen und sich weltläufig anzueignen. Nachdem Bildung in diesem Deutungsrahmen einen konstitutiven Bestandteil darstellt, wird Heimweh eine Krankheit vor allem der pauperisierten und sozial deklassierten unteren sozialen Schichten. Diesem Credo sollte auch Jaspers folgen. Für ihn bewirkt die geistige Enge der Geburtsheimat eine gleichsam im Primitiven verhaftete Beschränktheit des Empfindens. Jaspers bezieht sich explizit auf Peter Willers Jessen, der bereits 1841 auf den Mangel an innerer Freiheit und Stärke als Humus der HeimwehKrankheit hinwies: „Wer zu geistig freiem selbsttätigem Leben erwacht ist, vermag überall auf der Welt seine eigene Existenz mit der Umgebung in Einklang zu setzen. Wer zu solcher Selbsttätigkeit nicht gelangt ist, bleibt gleichsam mit der ihn umgebenden Außenwelt verwachsen, alle 15 Scheuchzer, Johann Jakob: Von dem Heimwehe, In: Ders.: Beschreibungen der Naturgeschichten des Schweizerlands, Bd. 1, Zürich 1706, S. 57-62, hier S. 58. 16 Jessen, Peter Willers: Nostalgia, In: Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften, Bd. 25, Berlin 1841, S. 292-323, hier S. 297. 17 Ebd., S. 298.

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Gefühle und Gedanken sind in ihr festgewurzelt, [...] und mit seiner Heimat verliert er gleichsam die Hälfte seines Ichs.“18

Die Fremde bleibt abweisend und verschlossen, weil sie nie erlernt wurde und deshalb immer nur auf das Eigene zurückweist. Wenn die Bindung an das Eigene zur Fessel wird, dann entfaltet sich das Unheimliche – als Affekt der Unsicherheit und Angst: fehlende Souveränität gegenüber Unvertrautem sucht Entladung in Gewalt. Aus dieser pathogenen Fixierung erwuchs das tödliche Zusammenspiel aus Heimweh und Verbrechen – je unversöhnlicher die fremde Außenwelt mit einer unfreien Innenwelt kontrastiert, desto radikaler der Drang sie wieder in eins zu setzen. Mit allen Mitteln. Ungestilltes Heimweh – entfesselte Brutalität; zarte Geschöpfe – barbarische Gewalt. Zwei Anhaltspunkte aus dieser europäischen Heimweh-Geschichte sollen also festgehalten und nachdrücklich unterstrichen werden, weil diese Erfahrungen von Migration und Beheimatung in den aktuellen Debatten um Flucht, Vertreibung und Migration offenkundig keinen Eingang finden. Da ist zum einen die Einsicht, welche Bereitschaft zu Zerstörung und Vernichtung sich zu entfalten vermag, wenn es nach dem Verlust von Heimat beim unfreiwilligen Aufenthalt in der Fremde keine Anerkennung, keine resonanten Erfahrungen durch die Anderen gibt – wenn Zugehörigkeit verweigert wird und die Fremde einen nicht aufnimmt. Die Heimweh-Erfahrungen veranlassten Elisabeth Bronfen zu „einer doppelten Mahnung“: „Sie lassen uns nicht nur erfahren, wie der Verlust von Heimat ganz plötzlich und unerwartet Gewalt und Verbrechen hervorrufen kann. Sie drängen uns auch die Erkenntnis auf, dass einer zur Plombe erstarrten Vorstellung von Heimat der Ausbruch von Gewalt immer eingeschrieben ist.“19

Und da ist zum anderen der Hinweis, was eine regressive Bindung an Heimat ohne Öffnung zur Welt anzurichten vermag. Fehlende Weltläufigkeit, wenn die Fremde nicht erlernt und angeeignet – nicht zur Heimat gemacht – werden kann. Dann tragen Imaginationen des Heimatlichen als Kehrseite das Verbrechen, die Bereitschaft zu rücksichtlosem Exzess in sich – dann drängt das Unheimliche als verdrängter Anteil des Heimisch-Vertrauten zum Ausbruch. In jedem Fall, so ein

18 Jessen: Nostalgia, S. 298. 19 Bronfen: Fatale Widersprüche, S. 25.

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vorläufiges Resümee: Über Heimat kann im Grunde nur aus dem Zustand der Heimatlosigkeit Auskunft gegeben werden.

2. BEWAHREN UND VERNICHTEN: AUS DER GESCHICHTE DES DEUTSCHEN HEIMATSCHUTZES Heimweh als Leiden an der Fremde – das betraf historisch in einem Jahrhundert der Transformation und der Bewegung, der Mobilität und Migration vor allem unterbürgerliche Schichten. Just in dieser Zeit, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, formierte sich nun auch eine dezidiert bildungsbürgerliche Bewegung als Reflex auf Erfahrungen des Verlusts – der Heimatschutz.20 Unter dem programmatischen Leitbild Heimat als einer Klammer, die Natur, Gesellschaft und Kultur nicht auseinander dividierte, verschrieb sie sich in einer als unkontrolliert erfahrenen Entfaltung der Industriemoderne dem Schutz von Natur und Landschaft, aber auch dem Bewahren traditionaler Lebensformen und regionaler Kultur, der Denkmalpflege und mancherlei mehr. Sie bildete den intellektuellen und institutionellen Kern einer breiten Heimatbewegung, die sich in allerlei Strömungen und Spielarten der Heimatliteratur und Heimatarchitektur, regionalistischen und zivilisationskritischen Anliegen, Heimatmuseen, Heimatkunde etc. artikulierte. „Jeder Mensch sollte lernen sich irgendwo zu Hause zu fühlen.“ 21 So trug Ernst Rudorff – Pianist und Privatier – 1880 sein Postulat in dem epochemachenden Aufsatz Ueber das Verhältniß des modernen Lebens zur Natur vor. Es war dies zunächst eine schlichte Antwort auf ein diffuses Unbehagen angesichts der Zumutungen der Moderne, ihrer Destruktionspotenziale, den Zerfallsprozessen und grassierenden Entfremdungserfahrungen sowie der mit Hilfe von Wissenschaft und Technik nunmehr menschenmöglichen Unterwerfung der Natur. Ein schlichter Satz, zweifelsohne getragen von einem Sound gewisser Unschuld, der Bindung statt Beziehungslosigkeit versprach: „Jeder Mensch sollte lernen sich irgendwo zu Hause zu fühlen.“ Allerdings: Rudorffs Appell erfolgt in einem bestimmten Kontext; er fügte alsbald hinzu, man solle doch die „Dinge und

20 Vgl. z.B. eindrucksvoll Oberkrome, Willi: „Deutsche Heimat“. Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen (1900-1960), Paderborn 2004. 21 Rudorff, Ernst: Ueber das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur, In: Preussische Jahrbücher 45 (1880), S. 261-277, hier S. 272.

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Menschen lassen, wo sie hingehören“.22 „Dinge und Menschen lassen, wohin sie gehören“. Ob Natur oder Gesellschaft, Küchenschellen und Waldohreulen, Thüringer Handwerker und Waldbewohner, Armuts- oder Arbeitsmigranten – alles hat in diesem Weltbild einen angestammten, unverrückbaren Platz, sollte also einem unduldsamen Imperativ der Standortgerechtigkeit und Ortsgebundenheit unterliegen. Dem Anliegen des Heimatschutzes – getragen von antimodernistischer Skepsis, einer bildungsbürgerlichen Verachtung moderner Massenkultur und beseelt von restaurativen Ideen der politischen Romantik – wohnte natürlich seit Anbeginn seiner Institutionalisierung ein unmissverständlich konservativ bis reaktionärer Drall inne. Der Heimatschutz verteidigte, so Ernst Rudorff, das „Malerische und Poetische der Landschaft“, wie sie „das langsame Walten der Geschichte [...] hat werden lassen.“23 Anders gewendet: Es ging um Korrekturen an einem ungeregelten Fortschritt, der sich rücksichtslos über alles Vorgefundene hinwegzusetzen schien. Der Heimatschutz stellte das ‚Gewordene‘ der traditonalen Welt dem ‚Gemachten‘ der Moderne gegenüber, das ‚Gewachsene‘ und Organische dem Künstlichen und Konstruierten. Rudorff: „Je plötzlicher und gewaltsamer eine abstracte Theorie diesem Gewordenen aufgezwängt wird, je mathematischer sie verfährt, je radicaler sie die Scheidung jener Elemente in einzelne Kategorien vollzieht, die einem bestimmten praktischen Zweck dienen, um so sicherer vernichtet sie auch alle Physiognomie, allen Reiz individuellen Lebens. [...] In dem Allen offenbart sich ein schonungsloser Realismus, der da, wo das Aufopfern der ästhetischen Rücksicht mit nur einigem Verständniß und ebenso viel gutem Willen zu vermeiden gewesen wäre, Barbarei genannt zu werden verdient, dessen Berechtigung aber in vielen anderen Fällen, wo eine dringende praktische Forderung dem Anspruch des Gemüths gegenüber steht, kaum wird angezweifelt werden können.“24

Seit seiner Gründung 1904 sollte sich der Bund Heimatschutz dem Ziel verschreiben, wie es in seiner Satzung hieß, „die deutsche Heimat in ihrer natürli-

22 Rudorff, Ernst: Heimatschutz, In: Grenzboten 56 (1897), S. 401-414 u. S. 455-468, hier S. 464. 23 Ebd., S. 262. 24 Rudorff, Verhältnis, S. 262 f.

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chen und geschichtlich gewordenen Eigenart zu schützen“.25 Der Schutz von Eigenart als Antwort also auf „Durchschnittsart und Dutzendware“26 der Moderne. Mit dieser Wendung „deutsche Heimat“ hatten sich freilich Sinnzusammenhänge eingeschrieben, die durchaus klärungsbedürftig erscheinen. Eine deutsche Heimat? Ging das überhaupt – Staat oder Nation als Heimat? Müsste da nicht angemessener von einer Vielfalt deutscher Heimaten im Plural die Rede sein? Zumindest hatte sich Heimat stets konstituiert als eingegrenzte und überschaubare Ausschnitt-Welt des Vertrauten, die freilich kaum ‚deutsch‘ sein konnte, sondern eben viel, viel kleiner – der Hof, auf dem man geboren wurde, das Dorf, in dem man Heimatrecht genoss, das Wiener Stadtviertel, aus dem ein Jean Améry vertrieben werden sollte, die Region der Mundart, die man verstand und in der man sich verstanden wusste, die vertraute Landschaft mit ihren Farben und Gerüchen, unverwechselbare Speisen. Aber ein „Deutschland“? Nicht zuletzt hatte sich die Heimatschutzbewegung auch formiert als Reflex auf politische und kulturelle Zentralisierungsprozesse nach der Reichsgründung, als regionalistische Unter- und Gegenströmung gegen die Nation. Es bedurfte offenkundig der Gelöstheit des Migranten und der Lauterkeit des Geflüchteten, um wie der Anarchosyndikalist Rudolf Rocker27 auf die Schieflage verquerer Konstruktionsabsichten hinzuweisen, wenn – wie in dieser Vorstellung der „deutschen Heimat“ – emotionale Energien der Heimatgefühle auf die abstrakte Idee der Nation übertragen werden. „Denn Heimatgefühl ist nicht Patriotismus, ist nicht Liebe zum Staat, nicht Liebe, die in der abstrakten Vorstellung von der Nation ihre Wurzel findet.“28 Es sei die Erfahrungsintensität von Kindheit und Jugend, welche inneres Empfinden mit äußerer Wirklichkeit verwachsen ließe. „Die Heimat ist sozusagen das äußere Kleid, des Menschen, an dem jede Falte innig vertraut ist.“29 Aus seiner antinationalistischen Position insistiert er auf strikte Trennung von Heimat- und Nationalgefühl.

25 Satzungen des Bundes Heimatschutz, festgestellt auf der begründenden Versammlung am 30. März 1904 in Dresden, In: GStAPK, I. HA., Rep. 87B, Landwirtschaftsministerium, Nr. 3132, Bl. 25. 26 Rudorff, Heimatschutz, S. 461. 27 Der Fingerzeig zu Rockers Heimatüberlegungen kam durch den Blogbeitrag von Nahyan Niazi: „Heimatgefühl. Ein kurzer Abriss der Biographie Rudolf Rockers hilft uns vielleicht weiter bei der Suche danach, was Heimat ist“ in der Blogreihe Nachdenken über Heimat auf der Website philosophie.ch (13.08.2018). 28 Rocker, Rudolf: Die Entscheidung des Abendlandes, Hamburg 1949, S. 281. 29 Ebd.

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„Es ist gerade das ‚Nationalbewußtsein‘, welches die zarten Knospen des wahren Heimatgefühls verzehrt, da es stets bestrebt ist, alle Eindrücke, welche der Mensch durch die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der heimatlichen Erde empfängt, gleichzuschalten und in eine bestimmte Form zu pressen. Es ist dies das unvermeidliche Ergebnis jener mechanischen Einheitsbestrebungen, die in der Wirklichkeit nur die Bestrebungen des nationalen Staats sind. Der Versuch, die natürliche Zuneigung des Menschen zur Heimat durch die pflichtgemäße Liebe zur Nation ersetzen zu wollen […] ist eine der groteskesten Erscheinungen unserer Zeit, denn das sogenannte Nationalbewußtsein ist nichts anderes als ein aus machtpolitischen Erwägungen propagierter Glaube, welcher den religiösen Fanatismus vergangener Jahrhunderte abgelöst hat […]. Heimatliebe kennt keinen ‚Willen zur Macht‘, ist frei von jener hohlen und gefährlichen Überheblichkeit dem Nachbarn gegenüber, die zu den eisernen Belangen jedes wie immer gearteten Nationalismus gehört. Heimatliebe treibt weder praktische Politik noch verfolgt sie irgendwelche staatserhaltenden Ziele. Sie ist lediglich der Ausdruck eines inneren Empfindens, das ebenso ungezwungen wie die Freude des Menschen an der Natur hervortritt, von der die Heimat ein Teil ist. So betrachtet, verhält sich das Heimatgefühl zu der staatlich verordneten Liebe zur Nation wie ein echtes Erzeugnis zu einem in der Retorte hergestellten Ersatzprodukt.“30

So verstanden müsste Heimat im Plural also durchaus als sinniger und angemessener erscheinen – Heimaten. Aber: Das tönt bereits in mündlicher Rede etwas angestrengt. Dieser Plural scheint sich schon sprachlich gegen seine Verwendung zu sperren und kommt nur mühselig über die Lippen. Obwohl es im 21. Jahrhundert längst vielen Lebenswirklichkeiten entsprechen mag, an mehrere Orte, soziale Gruppen oder Kulturen gebunden zu sein, findet Heimat tatsächlich selten im Plural Gebrauch. Dies mag schon insinuieren, dass es ohnehin ja nur – im essentialistischen Sinne Rudorffs jedenfalls – eine unverrückbare und unverhandelbare echte Heimat geben kann und geben darf. An dieser Stelle soll jedoch der Umschlag eines rationalen und legitimen Anliegens – in diesem Fall die Sorge um Natur und Geschichte, aus der eine Fürsorge des Bewahrens erwuchs – in einen irrationalen Kult des Eigenen von Interesse sein. Der Umschlag also von „Eigenart“ in „arteigen“. Die „deutsche Heimat in ihrer natürlichen und geschichtlich gewordenen Eigenart zu schützen“, dies erschien zunächst unmissverständlich als konservatives, weil eben zunächst konservierendes Anliegen. Aber nicht nur. Die Frage nach der Natur – neben der sozialen zweifelsohne eine Schlüsselfrage moderner Gesellschaften – legte sich

30 Ebd., S. 282.

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vor dem Ersten Weltkrieg durchaus quer zu den gängigen politischen Lagern. 31 Um 1900 formierte sich um dieses Engagement eine Szene, deren Buntheit es durchaus mit der Bio-Diversität eines Trockenrasens auf den Muschelkalkhängen rund um Jena aufnehmen kann. Da tummelten sich konservative Bildungsbürger und tümelnde glühende Rassisten vom Schlage eines Hermann Löns, der den Naturschutz schon damals weniger „als eine rein naturwissenschaftliche Bewegung“ verstanden wissen wollte, sondern als „Kampf für die Gesunderhaltung des gesamten Volkes, ein Kampf für die Kraft der Nation, für das Gedeihen der Rasse.“32 Da gab es sensible Aristokratinnen, ausstiegswillige Anarchosyndikalisten oder sozialdemokratische gesinnte Naturschriftsteller. Karl Liebknecht hielt flammende Reden für den Naturschutz vor dem Preußischen Landtag und klagte mit sozialpolitischen Argumenten die Teilhabe aller sozialen Klassen an Natur und Landschaft ein. Das Anliegen des Schutzes von Natur, Landschaft oder Heimat bewegte honorige Bürger, emanzipierte Bürgerinnen, sozialistische „Naturfreunde“, zivilisationsmüde Freaks und manche mehr. Es war dies ein Nebeneinander von nervösen Suchbewegungen, Aufbrüchen und ansteckenden Reformideen; es gab rund um den Heimat-Kern Strömungen voller Widersprüche und gegenläufiger Tendenzen: hemmungsloses Zukunftsvertrauen neben untergangsgläubigem Kulturpessimismus, hie nationalistisches Säbelrasseln – dort umtriebige Aktivitäten im internationalistischen Geist humanisierender Völkerverständigung wie auf zwei internationalen Heimatschutz-Kongressen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Paris und Stuttgart. Was alle diese unterschiedlichen Bewegungen miteinander verband, war schlicht die Frage, wie die von Menschen bewohnte Welt denn eigentlich verfasst sein sollte. Diese Polyphonie von Heimatklängen, die Heterogenität einer durchaus bunt schillernden Szene, wich nach dem Ersten Weltkrieg einer eher faden MonoKultur des nur mehr Eigenen und der Verpflichtung auf Einstimmigkeit. Jetzt war in der Auseinandersetzung mit „Heimat“ eine unmissverständlich völkische Verengung, eine dominant werdende Biologisierung von Heimat als ethnischer Lebensraum, zu konstatieren. Mit den völkischen Radikalisierungen nach der Weltkriegsniederlage erschien nun in den Heimat-Entwürfen Fremdes primär als feindlich. Jetzt entfaltete sich in aller Deutlichkeit der Doppelcharakter der Hei31 Vgl. Schmoll, Friedemann: Bedrohliche und bedrohte Natur. Anmerkungen zur Geschichte des Natur- und Heimatschutzes im deutschen Kaiserreich, In: Mares, Detlev/Schott, Dieter (Hrsg.): Das Jahr 1913. Aufbrüche und Krisenwahrnehmungen am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Bielefeld 2014, S. 47-70. 32 Löns, Hermann: Naturschutz und Rassenschutz, In: Ders.: Nachgelassene Schriften, hrsg. v. Wilhelm Deimann, Bd. 1, Leipzig 1928, S. 486-491, hier S. 486.

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matidee. Da war eben nicht nur die integrative Funktion, das Versprechen auf eine intakte Welt gemeinschaftlicher sozialer Erfahrung, Vertrautheit und Bindung. Nun zeigte sich in aller Unbedingtheit die Mechanik der Ausgrenzung im Verbund mit ethnopolitischen Projekten der Homogenisierung. Das Kriterium der natürlichen oder kulturellen ‚Eigenart‘, das in Form unverwechselbarer, vielfältiger Landschaften oder lokaler Sitten und Gebräuche gegen die Nivellierungs- und Uniformierungstendenzen der Moderne verteidigt werden sollte, lieferte ein alsbald biologistisch aufgeladenes Kriterium, um Artfremdes von Arteigenem zu scheiden. Wenn Heimat als die geschlossene und überschaubare Welt erschien, in der alles seinen Platz hatte und jeder wusste, wohin er gehört, dann drängte dies umgekehrt zur Frage: Wer und was gehörte dazu und wer und was eben nicht? In dieser Beschränktheit im Eigenen schlummerte das ideologische Potential des Heimatbegriffs, das sich nunmehr in aller Radikalität entfalten sollte. Hatte sich in der Besänftigungsformel ‚Heimat‘ zunächst die Erfahrung von Entfremdung artikuliert, wurde alsbald ‚Überfremdung‘ diagnostiziert: Als wesensfremdes Feindbild zum in Boden und Landschaft verwurzelten Volksmenschen im Nationalsozialismus erschien jetzt das Stereotyp des wurzellosen und als Nomade umherziehenden Juden. Wer wandert, muss in einer Kultur, deren Leitbild die Verwurzelung darstellt, suspekt erscheinen. Wer wandert, erscheint gegenüber der Umwelt als bindungs- und beziehungslos, ergo verantwortungslos, parasitär, kurzum: minderwertig. Hier wurde Heimat zur Legitimation der Vernichtung. Somit liegt also die Darstellung deutscher Heimat-Geschichte als Geschichte eines deutschen Sonderwegs nahe. Ihre Entwicklung scheint sich auszunehmen wie eine eindeutige Linie aus der Romantik zu den nationalkulturellen und spätestes seit 1918 strikt völkisch gespeisten Heimatschutzbegründungen bis hin zum Blut- und BodenKult des Nationalsozialismus. Vor allem nach 1918, spätestens nach 1933 also, war die tragische Mutation einer Bewegung, die sich dem Anliegen des Bewahrens und Schutzes des Lebendigen verschrieben hatte, zur Erfüllungsgehilfin einer Ideologie der Vernichtung deutlich – da hatte sich ein unmissverständliches Hinübergleiten von Grün nach Braun vollzogen. Der Heimatschutz-Aktivist Hans Schwenkel anno 1933: „Was das nationale Deutschland will, das will und wollte schon immer der Heimatschutz in seinem Teil: Unser Eigenleben verteidigen und erhalten, der internationalen Farblosigkeit, der rein technisch-wirtschaftlichen Lebensauffassung, dem Amerikanismus, entgegenwirken, der Entwurzelung steuern und die Entwurzelten wieder in den Heimatboden pflanzen, also dem Menschen zu einer neuen, bewussten Verbindung mit der Heimat und ihren Gütern verhelfen. Steht doch die deutsche Kultur auf dem Spiel, und die städtische

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Gleichmacherei drohte die wertvollsten und heiligsten Dinge zu verschlingen, die einem Volk allein die Kraft gaben, sich selbst treu zu bleiben und in Zukunft zu bestehen.“ 33

Auch hier ist es die strikte Verriegelung im Eigenen, welche den Umschlag von Fürsorge zur Gewalt vorantreibt. Ein Kernbegriff, der diese Biologisierung des Gesellschaftlichen ermöglichte, war eben jener der ‚Eigenart‘, der bei allen Heimat-Konjunkturen einen semantischen Kern bildet – ob er nun als Eigenschaft natürlicher oder kultureller Phänomene angerufen wird. In jedem Fall signalisiert er so etwas wie ‚bedrohte Identität‘ und drängt zu einer dreifachen Frage – zur Frage nach dem Eigenen und Heimischen, welche immer auch die Frage nach dem Anderen, dem Fremden, impliziert, sowie – drittens – zur Frage nach den Beziehungen, die zwischen beiden unterhalten werden sollen. 34 Eigenart also, im Grunde eine wünschenswerte Eigenschaft, aber erneut kein harmloses Wort. Ungezählte Kunstgalerien und Werbeagenturen nennen sich so, wenn ihnen kein wirklich origineller Name einfallen will. Nicht suspekt, sondern freudvoll-bereichernd präsentiert sich Eigenart auf dem Esstisch, wenn Slow Food die Rede anstimmt von regionaler Geschmacksvielfalt und der unverwechselbaren Eigenart lokaler Nahrungsmittel. In distinguierten Kreisen manifestiert sich das gute Leben im einmaligen ‚Terroir‘ eines ausgesuchten Tropfens unverwechselbarer Eigenart, sodass dem Inhalt der Flasche bereitwillig der Status einer individuellen Persönlichkeit eingeräumt wird. Auf alle Fälle: Eigenart und Lokaltypik sind hier gegen eine Uniformierung und Standardisierung des Geschmacks die Garanten für eine biologische und kulturelle Vielfalt, die in tätigkultivierender Auseinandersetzung des Handlungswesens Menschen mit der Natur entstanden ist. Vielfalt statt Einfalt; das Eigenartige tritt hier mit wohlschmeckender Überzeugungskraft auf als Gegenspieler gegen das Eigenschaftslose und Austauschbare. Es handelt sich zweifelsohne um eine wirkmächtige Kategorie, die jedoch begrifflich und systematisch weitgehend konturlos blieb und bleibt. Dennoch ist sie heute mit einem Grad von Verbindlichkeit etwa im Bundesnaturschutzgesetz als Auftrag präsent, Natur in ihrer Vielfalt, Eigenart und Schönheit zu schützen

33 Schwenkel, Hans: Heimatschutz im nationalen Deutschland, In: Mein Heimatland. Badische Blätter für Volkskunde, ländliche Wohlfahrtspflege, Denkmal- und Heimatschutz 20 (1933), S. 227-242, hier S. 230 f. 34 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Das Eigene und das Fremde, In: Zeitschrift für Philosophie 43/4 (1995), S. 611-620.

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und zu erhalten.35 In Anbetracht seiner Wirkmächtigkeit bei Vorgängen der Grenzziehung und Wertbildung hat der Begriff der ‚Eigenart‘ bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit hinsichtlich seiner Herkunft und begrifflichen Genese erhalten.36 Der Begriff ist dem semantischen Feld der ‚Eigenschaft‘ zuzuordnen. Er fungiert als Benennung für Charakteristisches, Eigenheiten, Unverwechselbares und enthält sowohl die Bedeutungsschattierungen des Bemerkenswerten, Wesentlichen und Charakteristischen wie auch der Eigentümlichkeit, die seit 1800 tendenziell eine stärker werdende abwertende Akzentuierung durch die Betonung des Sonderbaren oder Unregelmäßigen, also Normabweichenden erhielt. Wie angedeutet: Angesichts seiner Präsenz und Wirkmächtigkeit erscheint es durchaus eigenartig, wie wenig lexikalische, etymologische oder begriffsgeschichtliche Spuren diese Vokabel hinterlassen hat. ‚Eigenart‘ wird 1862 im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm lediglich kurz aufgerufen, woraufhin der Verweis auf das lateinische „proprietas“ und „eigenheit“ erfolgt. Zu dieser wird signifikant bemerkt: „wir verbinden, wenigstens heute, mit eigenheit mehr die vorstellung von besonderheit, die auch seltsamkeit sein kann […].“37 Würdigende Konnotationen wie Besonderheit, Originalität, ontische Eigenschaften oder Merkmale fehlen. Eine Bemerkung in der Neubearbeitung des Grimmschen Wörterbuchs von 1993 lässt aufhorchen. Nun wird Eigenart eingeordnet als „Modewort […] um 1900“.38 Offenkundig also schien es unter den historischen Bedingungen der Entfaltung moderner Industriezivilisationen mit ihren Tendenzen der Standardisierung, der Nivellierung und Funktionalisierung im Besonderen Sinn und Plausibilität für Schutz und Verteidigung natürlicher oder kultureller Eigenart zu entfalten. 35 Vgl. z.B. Körner, Stefan: Das Heimische und das Fremde. Die Werte Vielfalt, Eigenart und Schönheit in der konservativen und in der liberal-progressiven Naturschutzauffassung, Münster 2000. 36 Vgl. z.B. Kirchhoff, Thomas: Kultur als individuelles Mensch-Natur-Verhältnis. Herders Theorie kultureller Eigenart und Vielfalt, In: Weingarten, Michael (Hrsg.): Strukturierung von Raum und Landschaft. Konzepte in Ökologie und der Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse, Münster 2005, S. 63-106; Jax, Kurt: Haben Ökosysteme eine Eigenart? Gedanken zur Rolle des Eigenart-Begriffs in naturwissenschaftlich geprägten Naturschutzdiskussionen, In: Fischer, Ludwig (Hrsg.): Projektionsfläche Natur. Zum Zusammenhang von Naturbildern und gesellschaftlichen Verhältnissen, Hamburg 2004, S. 135-163. 37 Eigenheit, In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 3, Leipzig 1862, Sp. 97. 38 Ebd., Bd. 7, Sp. 388-389.

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Die Aufklärung kannte die schöne Wendung der ‚Merkwürdigkeit‘, auch der Lokal-Merkwürdigkeit im Sinne des Bemerkenswerten oder Denkwürdigen. Alexander von Humboldt griff Muster der Physiognomik auf und übertrug sie auf das Landschaftliche, er identifizierte den eigentümlichen Charakter oder den Naturcharakter einer Landschaft.39 Im Wort ‚Charakter‘ wiederum sind die Bedeutungen als ‚Eingeprägtes‘, das eine Gedächtnisleistung voraussetzt, und das ‚Gepräge‘ als Wesenszug einer Landschaft, einer Stadt oder auch ihrer Einwohner miteinander verknüpft. In den sich formierenden Heimatbewegungen des späten 19. Jahrhunderts bezogen sich Vorstellungen von ‚Eigenart‘ gleichermaßen auf Phänomene der Natur wie in Rückbezug auf Herder 40 der Kultur. Somit ließ sich beides betreiben – eine Kulturalisierung der Natur wie eine Naturalisierung der Kultur, etwa in der Idee einer gleichsam naturhaften Eigenart traditioneller Volkskultur. Gegen vordergründige Nivellierungs- und Homogenisierungstendenzen ökonomischer, gesellschaftlicher und kultureller Modernisierung setzten Bewegungen des Heimat- und Naturschutzes die Vorstellung von Eigenart und das Ideal der biologischen und ästhetischen Vielfalt als Parameter für eine lebenswerte Umwelt. Biologische wie kulturelle Vielfalt waren in Auseinandersetzung des weltoffenen Handlungswesens Mensch und seinen kulturellen Möglichkeiten mit den Bedingungen höchst differenter globaler Naturverhältnisse entstanden. Sie manifestierten sich kulturell in Form identifizierbarer und unverwechselbarer Kulturlandschaften, spezifischer lokaler Gewohnheiten, Mundarten, Lebensformen als bewährte Strategien der Lebensbewältigung mit ihrer Vielfalt von Bewirtschaftungsformen, Bau- und Wohnformen, Handwerken, Ernährungspraktiken etc. In dem historischen Moment, da diese Vielfalt bedroht schien, erfolgte auch eine Rückbesinnung auf diese Traditions- und Identitätsbestände, die nun in vielfältigster Erscheinungsform gegen Standardisierungstendenzen der Moderne verteidigt werden sollten: als stammliche, landschaftliche, biologische, ethnische, kulturelle ‚Eigenart‘, in der Regel aufgeladen mit einem organizistischen, der Natur abgelauschten Vokabular der Verwurzelung, Standortgerechtigkeit, Territorialität. Die Kategorie der Eigenart erscheint bis zur Beliebigkeit verfügbar – von der Eigenart des kirchlichen Dienstes über jene der Honigbiene, des Urmenschen oder der weiblichen Seele, eines Individuums oder Kollektivsubjektes, des Lokalen, einzelner deutscher Stämme oder des Nationalen, des Volkstums und der Volkskultur, der Schwäbischen Alb oder des Böhmerwaldbauers, des Schulneulings oder der amerikanischen Predigt, Minder- oder Mehrheiten – so eine knap39 Ausführlicher vgl. Jax, Ökosysteme. 40 Vgl. Kirchhoff, Kultur.

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pe, willkürliche Auswahl von in Buchveröffentlichungen mit Eigenart verknüpften Themen. Die Berufung auf Eigenart signalisiert dabei potenziell Gefährdung und Schutzbedarf. Und sie intendierte per se immer auch eine Bestimmung der Beziehung zum Anderen, zum Fremden, eine Bestimmung der Beziehung zwischen Heimat und Welt: Eigenart und Fremdgut im luxemburgischen Bauerntum,41 Die Schweizer sind anders. Die Erhaltung der Eigenart – eine Frage der nationalen Existenz42 oder etwas gelassener Die Schweiz. Eigenart und Weltverbundenheit.43 Die relationalen Größen Heimat und Eigenart als Sphären und Merkmale des Eigenen benötigen also stets eine Bezugsgröße des Anderen. Wer Heimat sagt, zieht per se Grenzen zwischen der vertrauten, der überschaubaren und verstandenen Welt des Eigenen und einer Fremde als unwägbare, unvertraute, unverstandene Welt der Anderen. Wenn es um die Vielfalt von Beziehungsmöglichkeiten zum Fremden geht (als Erweiterung oder Bereicherung des Eigenen, als Erwartung der Unterordnung an eine wie auch immer imaginierte Leitkultur oder Anpassung durch Assimilation, als abwertende oder idealisierende Überhöhung, als xenophobische Haltung, aus der Angst, Abwehr und Vernichtung resultieren etc.), dann ist also auch für die Geschichte des deutschen Heimatschutzes jener signifikante Umschlag zu verzeichnen von Fürsorge zu Gewalt.

3. EIGENES UND FREMDES, BEHEIMATUNG UND WELTOFFENHEIT Mit den Problemlagen und Herausforderungen des anbrechenden 21. Jahrhunderts erscheint Heimat erneut als hitzige und wie immer unscharf-vieldeutige Reizvokabel – in rechtspopulistischen Bewegungen als militantes Abwehrsignal und Drohgebärde, in strukturschwachen Regionen des ländlichen Raums als Verlust- und Niedergangsindikator, in Integrationsdebatten als Anspruch auf Beheimatung im Sinne von Zugehörigkeit und Anerkennung. So vehement der Begriff auch der Dekonstruktion und Begriffskritik unterzogen wird, so zuverlässig flackert das Reden über Heimat immer wieder auf als Krisensymptom. Man mag dieses Phänomen ablegen mit der Diagnose, dass sie dann beschworen wird, 41 Winandy, Adolf M.: Eigenart und Fremdgut im luxemburgischen Bauerntum, Dissertation an der Universität Hamburg 1943. 42 Guggenbühl, Adolf: Die Schweizer sind anders. Die Erhaltung der Eigenart – eine Frage der nationalen Existenz, Zürich 1967. 43 Egli, Emil (Hrsg.): Die Schweiz. Eigenart und Weltverbundenheit, Konstanz 1958.

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wenn das, was sie vermitteln will, realiter ohnehin abhanden gekommen und verloren ist – als Verlustanzeige. Man mag sie, wie Paul Parin, als Ersatz identifizieren, als Platzhalter in der „Bedeutung einer seelischen Plombe. Sie dient dazu, Lücken auszufüllen, unerträgliche Traumen aufzufangen, seelische Brüche zu überbrücken, die Seele wieder ganz zu machen. Je schlimmer es um einen Menschen bestellt ist, je brüchiger sein Selbstgefühl ist, desto nötiger hat er oder sie Heimatgefühle, die wir darum eine Plombe für das Selbstgefühl nennen.“44 Nichtsdestotrotz werden regelmäßig mit Verweis auf Heimat legitime Bedürfnisse und Problemlagen thematisiert. Erneut erfüllt gegenwärtig das Reden über Heimat die historisch aus Modernisierungsprozessen bekannten funktionellen Leistungen als Stabilisierungsfaktor und Kompensationsphänomen in Zeiten beschleunigten Wandels und sozialer Erosionsprozesse. Heimat erscheint also wieder einmal ein Krisenstabilisator – sei es als strategisches politisches Handeln durch die Einrichtung von Heimatministerien, als folkloristische Deko und Konsumartikel, als Leit- und Lightkultur, als privater Rückzugsraum, als kollektives Fremdeln, das in mentalen und räumlichen Bollwerken des Eigenen kuriert werden soll. Zweierlei Anhaltspunkte aus den historischen Erfahrungen der aufgezeigten Sequenzen aus der Geschichte des Heimwehs und der Bewegung des deutschen Heimatschutzes sollen festgehalten werden: Zum einen ist da der Hinweis darauf, welche Sprengsätze gedeihen, wenn die Vorstellungen der eigenen Heimat nur fixe Käfig-Ideen sind – unbeweglich, weltabgewandt, desinteressiert, immun gegen Wandel und verschlossen gegenüber Welt. Es sind dies Imaginationen von Heimat, die den Humus für eine monokulturelle Züchtung des Eigenen bilden und die als Kehrseite die Bereitschaft zu Exzess und Gewalt am Fremden in sich tragen. Zum anderen sollte gezeigt werden, was die Erfahrung von Heimatlosigkeit anrichten kann, was verweigerte Beheimatungsansprüche womöglich evozieren. Hier hält ‚Willkommenskultur‘ als rituelle Geste für den Augenblick des Ankommens nicht lange vor. Und auch der Rede von Integration haftet etwas Mechanisches an; sie scheint dem Vokabular von Sozialingenieuren entsprungen. Jedenfalls erscheint die Erwartung von Integration zu begrenzt, um Erfahrungen von Flucht und Vertreibung angemessen zu beantworten. Da muss es tatsächlich um eine umfassendere Form von ‚Beheimatung’ gehen als ein Vorgang, der die Vorgeschichte der Menschen mitbedenkt und umfassender auf das zielt,

44 Parin, Paul: Heimat, eine Plombe. Rede am 16. November 1994 in Wien beim 5. Symposium der Internationalen Erich Fried Gesellschaft, In: Ders.: Heimat. Eine Plombe. Mit einem Essay von Peter-Paul Zahl, Hamburg 1996, S. 7-18, hier S. 18.

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was dem Wohl der Heimatlosen, aber auch der aufnehmenden Gesellschaft dienlicher wäre: Anerkennung, Zugehörigkeit, Bindung. Wiewohl es für Migranten nicht nur eine Heimat geben kann, sondern mehrere geben muss, welche die Teile ihres gebrochenen, zerrissenen Lebens miteinander verbinden können – Heimaten in der Vergangenheit und Beheimatungsmöglichkeiten für eine offene Zukunft. Ein Ankommen in einem neuen Land und die Wiederaufnahme abgerissener Lebens-Kontinuität bedarf der resonanten Anderen und ihrer Empathie für eine Perspektive bei der Bewältigung von Übergängen und der Erschließung neuer Lebens-Räume, in denen Fremdes und Eigenes miteinander plausibel in Beziehung gesetzt werden kann. Ansonsten wird die Situation des Dazwischen – zwischen einer verlorenen Heimat und einer noch fremden Welt – zu einem unerträglichen Dauerzustand. Wie im Fall eines jungen Jesiden, mit dem Kerstin Klinkmüller, eine Jenaer Studentin der Volkskunde (Empirische Kulturwissenschaft) im Rahmen eines Interviewseminars ein Gespräch führte. Mit den Augen der Anderen, hieß die Aufgabe, bei der Erleben und Erfahrung deutscher Alltage aus der Perspektive von Migranten rekonstruiert werden sollte. Der junge Flüchtling – 19 Jahre alt, er lebte mit seiner Mutter zusammen und wollte aus seinem Leben etwas machen – flocht ins Gespräch fast unbemerkt einen Schlüsselsatz ein: Er sehne sich unentwegt zurück ins Asylbewerberheim – nicht in die Heimat also, die er hinter sich gelassen hatte, sondern in den institutionellen Raum des Übergangs. Warum erschien dieser als Halt und Ankerpunkt? Weil er sich dort, bei den Wartenden, verstanden fühlte, nicht fremdelte, wie ansonsten in seinem Alltag, wo er oft Ablehnung, mindestens Unverständnis erfuhr, seine Geschichten niemanden interessierte, und als er in der Straßenbahn einer älteren Frau seinen Sitzplatz geben wollte, seines Aussehens wegen zurückgewiesen wurde. Das Asylbewerberheim als Heimat? Die Welt jedenfalls, in der er sich außerhalb bewegte, blieb ihm fremd und unverstanden. Aus der Geschichte der Migration wissen wir hinlänglich: Wenn der Katstrophe der Vertreibung eine zweite der Ablehnung und Abweisung folgt, sind weitere Katastrophen vorprogrammiert.

LITERATUR Bachhiesl, Sonja Maria: „Heimweh und Verbrechen“ – ein Beitrag von Karl Jaspers zur Kriminalpsychologie, In: Archiv für Kriminologie 223 (2009); S. 98-107. Bausinger, Hermann: Chamäleon Heimat – eine feste Beziehung im Wandel, In: Schwäbische Heimat, 4 (2009), S. 396-401.

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Bronfen, Elisabeth: Fatale Widersprüche, In: Jaspers, Karl: Heimweh und Verbrechen, München 1996, 7-25. Bunke, Simon: Heimweh. Studien zur Kultur- und Literaturgeschichte einer tödlichen Krankheit, Freiburg 2014. Egli, Emil (Hrsg.): Die Schweiz. Eigenart und Weltverbundenheit, Konstanz 1958. Eigenheit, In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Dritter Band, Leipzig 1862, Sp. 97. Eigenart, In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. 7. Bd., Sp. 388-389. Freud, Sigmund: Das Unheimliche, In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V (1919), 297-324. Greverus, Ina-Maria: Heimweh und Tradition, In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 61 (1965), S. 1-31. Gröf, Siegfried: Diagnose Heimweh. Begriffsgeschichtliche Betrachtungen zu einem Phänomen zwischen Wissenschaft und Literatur, In: Lange, Thomas/Neumeyer, Harald (Hrsg.): Kunst und Wissenschaft um 1800, Würzburg 2000, S. 89-108. Guggenbühl, Adolf: Die Schweizer sind anders. Die Erhaltung der Eigenart – eine Frage der nationalen Existenz, Zürich 1967. Heinrich, Klaus: Gemütlichkeit, In: Ders.: Deutsche Stichworte. Anmerkungen und Essays, hrsg. v. Horst Kurnitzky und Marion Schmid, Frankfurt a. M. 1984, S. 47-53. Hofer, Johannes: Dissertatio medica de Nostalgia, oder vom Heimwehe, Basel 1688. Jaspers, Karl: Heimweh und Verbrechen (= Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik, 35), Leipzig 1909 (zugl. Dissertation Universität Heidelberg 1909). Jaspers, Karl: Heimweh und Verbrechen, In: Ders.: Gesammelte Schriften zur Psychopathologie, Berlin 1990 (1909), S. 1-84. Jaspers, Karl: Heimweh und Verbrechen. Mit Essays von Elisabeth Bronfen und Christine Pozsár (= Splitter, 21), München 1996. Jax, Kurt: Haben Ökosysteme eine Eigenart? Gedanken zur Rolle des EigenartBegriffs in naturwissenschaftlich geprägten Naturschutzdiskussionen, In: Fischer, Ludwig (Hrsg.): Projektionsfläche Natur. Zum Zusammenhang von Naturbildern und gesellschaftlichen Verhältnissen, Hamburg 2004, S. 135163.

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Jessen, Peter Willers: Nostalgia, In: Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften, Bd. 25, Berlin 1841, S. 292-323. Kirchhoff, Thomas: Kultur als individuelles Mensch-Natur-Verhältnis. Herders Theorie kultureller Eigenart und Vielfalt, In: Weingarten, Michael (Hrsg.): Strukturierung von Raum und Landschaft. Konzepte in Ökologie und der Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse, Münster 2005, 63-106. Körner, Stefan: Das Heimische und das Fremde. Die Werte Vielfalt, Eigenart und Schönheit in der konservativen und in der liberal-progressiven Naturschutzauffassung, Münster 2000. Kurz, Hermann: Die blasse Apollonia, In: Ders.: Erzählungen. Erster Band, Stuttgart 1858, S. 345-357. Löns, Hermann: Naturschutz und Rassenschutz, In: Ders.: Nachgelassene Schriften, hrsg. v. Wilhelm Deimann, Erster Band, Leipzig 1928, S. 486-491. Oberkrome, Willi: „Deutsche Heimat“. Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen (1900 – 1960), Paderborn 2004. Parin, Paul: Heimat, eine Plombe. Rede am 16. November 1994 in Wien beim 5. Symposium der Internationalen Erich Fried Gesellschaft, In: Ders.: Heimat. Eine Plombe. Mit einem Essay von Peter-Paul Zahl, Hamburg 1996, S. 7-18. Piechocki, Reinhard/Wiersbinski, Norbert (Bearb.): Heimat und Naturschutz. Die Vilmer Thesen und ihre Kritiker (= Naturschutz und Biologische Vielfalt, 47), Bonn 2007. Riehl, Wilhelm Heinrich: Die Volkskunde als Wissenschaft. Ein Vortrag, In: Ders.: Culturstudien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1859, S. 205-229. Rocker, Rudolf: Die Entscheidung des Abendlandes, Hamburg 1949. Rudorff, Ernst: Ueber das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur, In: Preussische Jahrbücher 45 (1880), 261-277. Rudorff, Ernst: Heimatschutz, In: Grenzboten 56 (1897), S. 401-414 u. S. 455468. Scheuchzer, Johann Jakob: Von dem Heimwehe, In: Ders.: Beschreibung der Natur-Geschichten des Schweizerlands, Bd. 1, Zürich 1706, S. 57-62. Schmoll, Friedemann: Bedrohliche und bedrohte Natur. Anmerkungen zur Geschichte des Natur- und Heimatschutzes im deutschen Kaiserreich, In: Mares, Detlev/Schott, Dieter (Hrsg.): Das Jahr 1913. Aufbrüche und Krisenwahrnehmungen am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Bielefeld 2014, S. 47-70. Schwenkel, Hans: Heimatschutz im nationalen Deutschland, In: Mein Heimatland. Badische Blätter für Volkskunde, ländliche Wohlfahrtspflege, Denkmal- und Heimatschutz, 20 (1933), S. 227-242.

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Storfer, Adolf Josef: Wörter und ihre Schicksale, Berlin/Zürich 1935. Waldenfels, Bernhard: Das Eigene und das Fremde, In: Zeitschrift für Philosophie 43/4 (1995), S. 611-620. Winandy, Adolf M.: Eigenart und Fremdgut im luxemburgischen Bauerntum, Diss. Univ. Hamburg 1943. Xylander, Cheryce von: Gemüt, In: Lauschke, Marion/Schneider, Pablo (Hrsg.): 23 Manifeste zu Bildakt und Verkörperung, Berlin 2018, S. 77-88.

Heimatdiskurse und Gewalt Werner Nell

Unter der Überschrift Die ganze Weihnacht soll es sein notiert Alexander Kluge im Unterkapitel Scheinfrieden seiner Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff aus dem Jahr 1975 stichwortartig: „Ihr Schematismus, ihre Rigidität. Aber die existiert nicht ohne das ganze Weihnachtsgefühl – Lämmer in Island werden von ihren Hirten noch vor dem Schneesturm in eine warme Scheune gebracht.“1 Ähnlich wie das Weihnachtsfest, das in seiner gefühlslastigen Ausstrahlung in der Sichtweise Alexander Kluges nicht nur eng mit den Erfahrungen der Not, der Sorge und der Bedrohung verbunden ist, sondern – zumal in der deutschen Sozial- und Mentalitätengeschichte2 – seinen besonderen Reiz gerade auch aus den Gefährdungen des Friedens und der Familie im Erlebnis der Kriegsweihnacht3 gewinnt, ist auch die besondere Gefühlslage der Heimat vielfach, vielleicht sogar durchgängig an die spezifische Gegebenheit eines Bedrohtseins bzw. einer Gefährdung durch Gewalt gebunden; einer Gewalt, die von au1

Kluge, Alexander: Kommentare zum antagonistischen Realismusbegriff, In: Ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt a. M. 1975, S. 187-250, hier S. 192.

2

Vgl. dazu Weber-Kellermann: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 1974, S. 223-243, die dort nicht nur die spezifische bürgerliche Fassung der Weihnachtsfeiern in Deutschland beschreibt, sondern auch den „Siegeszug“ des Weihnachtsbaums im Schatten des deutsch-französischen Krieges 1870/71 hervorhebt; vgl. ebd., S. 226.

3

Für die Grundierung der Weihnachtsbräuche in Erfahrungen der Gewalt, des Ausschlusses und der Unheimlichkeit und deren im 19. Jahrhundert erfolgende Zivilisierung vgl. das Kapitel Ritual und Gewalt in Hauschild, Thomas: Weihnachtsmann. Die wahre Geschichte, Frankfurt a. M. 2012, S. 125-163.

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ßen droht, im Inneren lauert und beide Kraftfelder in wechselseitigen Stärkungen miteinander verbindet. Kluge notiert dazu: „Kriegsweihnacht. 24.12.42 in Stalingrad; die eingekesselte Armee improvisiert Behelfschristbäume.“ 4

I. Dieser durch die „Behelfschristbäume“ repräsentierte Versuch zur Bewältigung, zumindest Kaschierung, einer Not-Lage und die ebenfalls dadurch wenigstens „behelfsweise“ symbolisierte Gemeinschaftserfahrung5 gewinnen ihren besonderen Glanz, zumal in der Erinnerung der Davongekommenen oder aus ihrer Kindheit erwachsen Gewordenen, erst Recht in den Imaginationen der Nachwelt, durch die in der hier angesprochene Verbindung von Zuhausesein (weit entfernt) und Gefährdung (ganz nah) erkennbare Verschränkung von existentiell erfahrener Angst bzw. Not mit einer Sehnsucht nach Normalität und Sicherheit. Geschütztwerden und Aufgehobensein angesichts existentiell drohender Gefahr, ja die Hoffnung auf Erlösung aus ihr, finden sich in ähnlicher Weise auch in der Ausstrahlung von „Heimat“6 wieder, wobei nicht zuletzt Groteske und Kitsch,7 4

Kluge, Kommentare, S. 193.

5

Für die imaginäre Dimension jeglicher Gemeinschaftsvorstellung und das damit notwendigerweise verbundene Regressionspotential vgl. immer noch Plessner, Helmut: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a. M. [1924] 2001, S. 58-78.

6

Aus der Fülle der hierzu vorhandenen Literatur vgl. Greverus, Ina-Maria: Auf der Suche nach Heimat, München 1979; Bausinger, Hermann: Auf dem Weg zu einem neuen, aktiven Heimatverstädnis. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte, In: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): Heimat heute (= Der Bürger im Staat 33), Stuttgart u.a. 1983, S. 11-27; Flusser, Vilém: Heimat und Heimatlosigkeit. Das brasilianische Beispiel, In: Dericum, Christa/Wambolt, Philip (Hrsg.): Heimat und Heimatlosigkeit, Berlin 1987, S. 41-50; Krockow, Christian Graf von: Heimat. Erfahrungen mit einem deutschen Thema, Stuttgart 1989; Lipp, Wolfgang: Heimat in der Moderne. Quelle, Kampfplatz und Bühne von Identität, In: Weigand, Katharina (Hrsg.): Heimat. Konstanten und Wandel im 19./20. Jahrhundert. Vorstellungen und Wirklichkeiten, München, S. 51-72; Schmidt, Thomas E.: Heimat. Leichtigkeit und Last des Herkommens, Berlin 1999; Hecht, Martin: Das Verschwinden der Heimat. Zur Gefühlslage der Nation, Leipzig 2000; Türcke, Christoph: Heimat. Eine Rehabilitierung, Springe 2006; Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen: Heimatdenken. Konjunkturen und Konturen, Statt einer Einleitung, In: Dies. (Hrsg.):

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im Falle des Krieges8 ebenso wie im Falle der Heimat, so dicht neben einander stehen, ja ineinander verwoben sind, dass die entsprechend gestalteten Bilder und Vorstellungen für die Ansprache realer Erfahrungen ebenso anschlussfähig sind wie für deren ideologische Übermalung, für propagandistische Ausbeutung und nicht zuletzt auch mentalitätenmäßige Einlagerung.9 Dabei leben beide Gestaltungsweisen, die symbolische Repräsentation eines Imaginären ebenso wie die symbolische Repräsentation eines Realen in Bildern der Heimat sowie die von ihnen ausgehenden Impulse und auch die von ihnen dann mehr oder weniger stark ausgefüllten Resonanzräume, inklusive der damit verbundenen Tendenzen zur Regression und zum Ausagieren von Gewalt, 10 von jener gleichermaßen das Heimatgefühl wie die Weihnachtserwartungen charakterisierenden, ja diese im Wesentlichen ausmachenden gefühlsmäßig starken Aufladung, die in einer Mischung aus Schauer (Angst vor dem Untergang) und einem damit verbundenen Genuss (Angekommensein, Errettung, Schutz und zumindest punktuell dann immer auch ‚Sieg‘) besteht und u. U. sogar die Grenze zu einer Art metaphysischer Erschütterung berühren, wenn nicht gar überschreiten kann. Es handelt sich dabei durchaus um das Gefühl einer aufs Irdische beHeimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007; Schüle, Christian: Heimat. Ein Phantomschmerz, München 2017, sowie die immer noch lesenswerte Textsammlung von Cremer, Will/Klein, Ansgar: Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven, Bonn 1990. 7

In welchem Maß sich diese Mischung auch in aktuellen Inszenierungen und Kommentierungen von „Heimat“ finden lässt, zeigt sich u.a. bei Schüle, Heimat.

8

So ja dann auch in entsprechenden Postkartenmotiven etwa zur Kriegsweihnacht 1942 zu erkennen. Aus der Fülle der bei Google Images angebotenen Postkarten sei nur auf eine verwiesen: https://www.google.de/search?q=kriegsweihnacht+1942&tbm=isch& tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwjGh6O57JfWAhXJ0RoKHUT4D2wQ7A kINw&biw=1093&bih=482#imgrc=o0vgO6BwaSWLJM (09.09.2017).

9

Vgl. Friedländer, Saul: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. München/Wien 1984, S. 12-15; die sich dann z. B. in der Vorstellung wiederfindet, „Heimat“ sei etwas spezifisch „Deutsches“, etwas, das nur die Deutschen so ganz empfinden (und schätzen) könnten; vgl. dazu Krockow 1989; aktuell Ataman 2018.

10 „Es gibt“, so führt Hauschild in das o.a. Kapitel ein, „keine totale Kultur, in der ein einziger ‚Diskurs‘, eine einzige Verhaltensregel jede menschliche Regung durchdringt. Es gibt nur ‚unsichere Feste‘ mit einer ‚umkehrbaren Gewaltsamkeit‘, wie Michel Foucault über die öffentlichen Hinrichtungen jener Zeit [der frühen Neuzeit – W.N.] schreibt, eine ‚Masse von Diskursen‘, in denen sich die Konfrontation zwischen […] Mitleid und Barbarei entlädt.“ (Hauschild, Weihnachtsmann, S. 126)

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zogenen Erhabenheit,11 das sowohl gleichermaßen das Pathos und den Glanz dieser Erfahrungen von Weihnachten und Heimat12 ausmacht als auch gerade durch die Vorstellung einer diese bedrohenden Grenzlage sowie durch die damit einher gehenden Erfahrungen und Vorstellungen der Gefährdung und ggf. auch Errettung zustande kommt.13 „Gerade noch vor dem Abgrund gerettet!“ mag hier das Motto lauten, was im Falle Karl Mays dann bspw. auch noch eine Familie, zu Unrecht und von bösen Mächten im Hintergrund getrennt, wieder zusammenführen kann: „Sein Glaube“, so heißt es in der Reiseerzählung Weihnacht! (1897) von dem am Ende wieder in der Heimat angekommenen Familienvater Hiller, „wurzelt in den harten Leiden der Vergangenheit wie eine starke Wettertanne, die ihre Wurzeln tief in die Felsenritzen senkt und darum Halt für jeden Sturm besitzt. […] Die Frau, welche einst […] der Verzweiflung nahe war, die Ärmste der Armen in Hunger und Kälte […], sie ist jetzt ein Engel der Bedürftigen, eine Retterin der Elenden, ein Trost für alle, die sich um Schutz und Hilfe an sie wenden, und besonders zur heiligen Weihnachtszeit […]. Dann kommen sie herbei, die Greisen, die Siechen, die Armen, die Leidtragenden […]; für jeden liegt ein Geschenk unter dem strahlenden Lichterbaume.“14

II. Insoweit lassen sich die von Thomas Hauschild geschilderten Vorgänge des Erlebens von und im Umgang mit Weihnachten während der Nazizeit auch zur Erkundung der mit ‚Heimat‘ verbundenen Ambivalenzen und deren regressiver 11 Vgl. Lyotard, Jean-Jacques: Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen. Kritik der Urteilskraft §§ 23-29, München 1994. 12 Entsprechend handeln populäre Weihnachtgeschichten von der Rekonstruktion der Weihnacht in der Fremde, ihrer Rettung angesichts der Gefahr und auch von der Kampfbereitschaft zu ihrer Verteidigung, nicht zuletzt in Abenteuerromanen und Erzählungen des Kolonialzeitalters; vgl. exemplarisch Karl Mays autobiographisch kolorierten Roman Weihnachten! (1897), auch als Weihnachten im wilden Westen populär. 13 Es handelt sich also dabei durchaus um liminale Erfahrungen, von der Art wie sie bereits Mircea Eliade und später dann Victor Turner beschrieben haben. Vgl. Eliade, Mircea: Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Frankfurt a. M. 1998, S. 38-43; Turner, Victor: Dramas, Fields, and Metaphors. Symbolic Action in Human Society, London 1974. 14 May, Karl: Weihnacht! Reiseerzählung, Freiburg 1897, S. 622.

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Auflösung bzw. Gestaltung durch Gewalt nutzen. Mehr noch, sie konturieren gerade in ihrer Engführung auch noch einmal die wechselseitige Aufladung beider Imaginations- und Erfahrungsräume des Festes und des Ortes und das angesichts der räumlichen und zeitlichen Grenze beider Lagen mit dieser Gefühlaufladung noch einmal gesteigerte Gewaltpotential (inklusive vermeintlicher Rechtfertigungsmöglichkeiten).15 Deren Inszenierung als außerordentlicher Ort bzw. als außerordentliche Zeit bestimmt sich auch im Blick auf eine mögliche Verteidigung gegen Bedrohung (von innen und von außen) und macht zugleich die Besonderheit der jeweiligen Erfahrung erst aus, auch ihren Glanz 16 und die vermeintliche Einzigartigkeit der Gefühle zumal aus der Erinnerung und im Bewusstsein ihres nachmaligen Verlorenseins:17 „In Nazideutschland wurde gegen jede Form des zivilen bürgerlichen Brauchs eine rüde Kultur der öffentlichen Gemeinschaftlichkeit eingeführt, die im Kriegführen gipfelte – das hat anscheinend den Rückfall zu kollektiven Formen des Weihnachtsfeierns befördert und die in Sachen Weihnachten zwischen den Familien errichteten Grenzen der Parzellierung durchbrochen: Geschenksendungen an die Frontsoldaten statt in der Familie […], Weihnachtsumzüge und pathetische Weihefeiern im germanischen Stil mit vielkörperlicher Ritualistik, mit Tannengrün und arischen Symbolen. […] Die Menschen, die gerade noch das jüdische Lichterfest des tiefen Winters gefeiert hatten, Hanukka, wurden vertrieben und vernichtet.“18

III. Vor diesem Hintergrund lassen sich Heimatgefühle und Heimatkonzepte, zumal dort, wo sie kulturell modelliert oder diskursiv erzeugt werden, als eine gruppen15 Juden stehen dann nicht nur als die „Fremden“, sondern auch noch einmal als die nachmaligen „Mörder“ des in der Krippe liegenden Jesuskindes am Pranger. 16 Zur Rolle und maßgeblichen Funktion ästhetischer Inszenierung im Blick auf die Schaffung der „Volks-“ als Erlebnisgemeinschaft vgl. Reichel, Peter: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, München/Wien 1991. 17 Auf den prinzipiell mit jeder Primärerfahrung von Heimat verbundenen Verlustcharakter verweist in Aufnahme der berühmten Wendung von Bloch: „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1977, S. 1628, vgl. zuletzt Türcke, Heimat. 18 Hauschild, Weihnachtsmann, S. 147.

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spezifisch ausgerichtete und ggf. topographisch, auch dann „völkisch“ ausgemalte Form der im Anschluss an Sigmund Freud von Michael Balint beschriebenen „Angstlust“ bestimmen.19 Nicht nur, dass ihrerseits die wie immer auch sozial, kulturell, historisch oder imaginär gesetzten Grenzen der Heimat mit den ambivalenten Gefühlen der Angst und Lust besetzt werden. Vielmehr und vielfach speisen sich auch im Blick auf Heimat Glanz und Wehmut, Emphase und Schmerz, aber eben auch Verletzung, Kampfbereitschaft und Wut, Lust und Aggression, im Wesentlichen aus der Vorstellung von deren Verletzung oder Verlust. „Störungen“ der Heimat wecken damit ebenso unmittelbar Aggression wie die besondere sakrale Aura des Weihnachtsfestes geradezu nach Verletzung ruft20 und beide Erwartungsräume sich zugleich erst gegen deren Abwehr durch Abschottung und Kampfbereitschaft richtig profilieren und entsprechend wohligbedroht entfalten können. Die von Sigmund Freud am Beispiel des ambivalenten Umgangs mit Tabuverboten beobachtete „Versuchungsangst“,21 also eine ebenso „real“ in den Gefühlslagen und Erwartungen vorhandene wie zugleich symbolisch zu überdeckende Aggression22 im Umgang mit den in der eigenen Vergangenheit und ihren Orten eingelagerten Erfahrungen, Besessenheiten und Faszinosa, lässt sich in 19 Vgl. Balint, Michael: Angstlust und Regression [1960], Stuttgart 62009. 20 Vgl. Allert, Tilman: Weihnachten als Ritual: Zauber, Zumutung und Zäsur, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.12.2010. http://www.faz.net/aktuell/politik/weihnachten -als-ritual-zauber-zumutung-und-zaesur-11083006.html?printPagedArticle=true#page Index_0 (19.07.2018). 21 „Die Tabuvorschriften […] verraten […] sehr deutlich, was sie verbergen wollen, die Feindseligkeit gegen den Toten, die jetzt als Notwehr motiviert ist. Einen gewissen Anteil der Tabuverbote haben wir als Versuchungsangst verstehen gelernt. Der Tote ist wehrlos, das muß zur Befriedigung der feindseligen Gelüste an ihm reizen, und dieser Versuchung muß das Verbot entgegengesetzt werden.“ Freud, Sigmund: Totem und Tabu, In: Ders.: Werkausgabe in zwei Bänden, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1978, S. 201-328, hier S. 251. 22 Ich folge hier dem von Jacques Lacan entwickelten RSI-Schema, das die Ebenen des Realen und Symbolischen so aufeinander bezieht, dass die Leistungen eines Gestaltungsfeldes des Imaginären sowohl erkennbar als auch dessen Formen lesbar werden; vgl. Lacan, Jacques: Das Seminar Teil 11: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten 1978; Nemitz, Rolf: Lacans Schemata. Vom borromäischen Dreierknoten zum borromäischen Viererknoten, In: Lacan Entziffern, 21.8.2013. https://lacan-entziffern. de/topologie/vom-dreierknoten-zum-viererknoten-ueber-die-verbindung-zwischendem-rsi-seminar-und-dem-sinthom-seminar/ (01.07.2018).

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Heimatdiskursen vielfach in der Konzentration, Sorge und Verteidigung der Friedhöfe bzw. der Totenruhe „in der Heimat“ wiederfinden, womit zugleich deren Verletzung durch ‚andere‘ auch entsprechend skandalisiert und ggf. mit Hilfe von Gewalt gerächt, verhindert oder provoziert werden kann. Gewalt lässt sich in dieser Hinsicht dann auch wieder als ‚Arbeit an der Heimat‘ honorieren. 23 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch daran, dass der Siegeszug des ‚deutschen‘ Weihnachtsbaums an den Krieg von 1870/71 gekoppelt war, als ein regionaler Brauch aus dem Elsass durch die oberste Heeresleitung in alle Lazarette übertragen wurde (und werden konnte) und anschließend seinen Weg in die innersten Kreise des Gefühlshaushalts im ‚ganzen‘, gerade erst geschaffenen Deutschen Reich zu finden vermochte: „richtig populär auch im Kleinbürgertum“, so Ingeborg Weber-Kellermann in ihrer Studie zur „deutschen Familie“, „wurde er [der Weihnachtsbaum – W. N.] erst nach dem Krieg von 1870/71, als er auf den Wunsch des preußischen Königs in den Unterständen und Lazaretten aufgestellt worden war. Danach allerdings vollzog sich seine Ausbreitung mit lawinenartigem Tempo, – von den Städten mit ihren verschiedenen Bevölkerungsschichten auch auf die Dörfer.“24 Faktoren, die hier den Siegeszug des Weihnachtsbaums begründen und die zugleich von seiner gefühlsmächtigen Ausstrahlung zeugen, verweisen zugleich auf die damit verbundenen Möglichkeiten zu seiner ideologischen und kommerziellen Ausbeutung. Zudem lassen sie sich als Angebote zu einer kulturellen, auch sozial und individuell besetzbaren Aufladung als Symbole und Versprechen einer nach ihren Verletzungen wieder ‚heil‘ gewordenen Welt erkennen und lassen sich dann so auch in den Konstitutions-, Vermittlungs- und Rezeptionsprozessen des Heimatlichen wiederfinden. Vor dem Hintergrund einer als abgründig modellierten Gefährdungslage für Heimat, Zugehörigkeit und auch Fest schaffen sie erst die Gefühlsladung eines zeitlich bestimmten Ereignisses oder biographisch bzw. kollektiv besetzten Raums, die sich dann gerade im Blick auf die postulierte Gefährdung nicht nur bewähren muss, sondern von daher auch erst ihren Glanz als unerwartet geschenktes und deshalb im Besonderen auch zu verteidigendes, ggf. erst durch Gewalt zu sicherndes Glück erhält. Entsprechend aggressiv sind die Reaktionen auf die Störung des Weihnachtsfestes, ebenso auf die Störung der

23 Zur Engführung von Heimatschutz und Friedhofsgestaltung vgl. bspw. Holzner, Barbara: Vom Kirchhof zum Waldfriedhof. Entwicklung der christlichen Friedhofsgestaltung in der Schweiz und in Deutschland, In: Heimatschutz Sauvegarde 4 (2006), S. 25. 24 Weber-Kellermann, Die deutsche Familie, S. 226.

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Heimat, und legitimieren damit auch in besonderer Weise ‚robuste‘ Reaktionen bis zum Gewaltexzess.

IV. Erst die Umstände, dass diese symbolische Ordnung einer ‚heilen Welt‘ in Zeit und Raum gegen die Erfahrung des Todes, gegen die Schrecken des Krieges und gegen einen ggf. eindringenden ‚Erbfeind‘ gewonnen und geschaffen werden konnte oder gegen diese zu behaupten/zu verteidigen ist, stärken nicht nur den Attraktionscharakter von Heimatvorstellungen, sondern ermöglichen auch ihre Affinität zum Kitsch und begründen zugleich eine grundlegend mit Heimatvorstellungen verbundene, vielfach allerdings bewusst-unbewusst ausgeblendete Aggressions- und Gewaltbereitschaft, wie sie ganz wohlmeinend dann auch aktuell (wieder) vorgetragen werden kann. So erläutert die georgische Germanistin Nugescha Ganidse die Besonderheit der georgischen „Heimatliebe, wie wir sie verstehen“: „Unser Patriotismus ist nicht aggressiv gegen andere gerichtet“, um einige Sätze später ganz arglos anzufügen: „Andererseits fühlt sich Georgien bis heue in seiner nationalen Existent bedroht“.25 Folgt man den Überlegungen, die Saul Friedländer dem ästhetischen Widerschein des Nazismus unter den Stichworten Kitsch und Tod gewidmet hat, so kommen die mit Heimatvorstellungen verbundenen und in entsprechenden Diskursen aktualisierten regressiven und aggressiven Impulse, die sich dann in Gewaltpräferenzen, deren Umsetzung und Legitimation niederschlagen, gerade aus der Verschlingung der gefühlsbesetzten Widersprüche von Erlösungshoffnung und Tod zustande und zielen auf eine ästhetisch erzeugte, kulturell codierte und ggf. dann sozial und politisch getragene Erhebungserfahrung, „wobei die Faszination durch den Kontrapunkt des Todes und der Vernichtung zu einem Erschauern wird.“26

V. Holzschnittartig und sehr abstrakt lässt sich diese mit der stets gefährdeten Stellung des Menschen in der Welt verbundene Mischung aus Faszination und Ter25 Gagnidse, Nugescha/Schuchard, Margret: Grigol Robakidse (1880-1962). Ein georgischer Dichter zwischen zwei Sprachen und Kulturen, Aachen 2011, S. 7. 26 Friedländer, Kitsch und Tod, S. 34.

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ror mit Hilfe der von Hans Blumenberg entwickelten Wirklichkeitsbegriffe27 fassen. In Zeiten einer auf Evidenz oder Transzendenz hin ausgerichteten Weltvorstellung wurde sie in Richtung eines tragischen Heroismus ausgezogen, so dass Individuen und Kollektive in ihrem Untergang („Nibelungen“) oder als Sieger bzw. Helden gezeigt werden konnten. Demgegenüber erscheint sie unter den unbestimmteren, letztlich auf Selbststabilisierung hin angelegten Vorgaben der Moderne allenfalls als problematisches Verhältnis, was, wenn es denn nicht wie etwa in Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei (1796) als solches gestaltet, reflektiert und gerettet werden soll oder kann,28 entweder in Form der Groteske oder aber auf die Weise populärer Ansprachen oder ideologischer Aufladungen in Erscheinung tritt. Als Verbindung zwischen diesen beiden letztgenannten Nutzungsmöglichkeiten lässt sich politischer und/oder konsumorientierter Kitsch, sei er nationaler, regionaler oder sonstwie Heimat bezogener Ausrichtung, bestimmen, dessen Zutat dann u. U. auch noch deren ideologisches oder kommerziellen Wirkungspotential noch erhöht. Der so erzeugte Schauer, inzwischen durchaus auch massenmedial und popkulturell zugerichtet, etwa in Heimatfestivals, groß angelegten Gesangsrunden oder Feuerwerken, die sich wie Der Rhein in Flammen bei Koblenz nicht immer leicht von Kriegsbildern unterscheiden lassen,29 können so als Momente der 27 Blumenberg, Hans: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, In: Jauß, Hans Robert (Hrsg.): Nachahmung und Illusion. Kolloqium Gießen Juni 1963. Vorlagen und Verhandlungen (= Poetik und Hermeneutik I), München 1983, S. 9-27, hier S. 1012. 28 Vgl. dazu den Schluss dieser Traum- bzw. Albtraum-Erzählung: „Meine Seele weinte vor Freude, daß sie wieder Gott anbeten konnte – und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn waren das Gebet. Und als ich aufstand, glimmte die Sonne tief hinter den vollen purpurnen Kornähren und warf friedlich den Widerschein ihres Abendrotes dem kleinen Monde zu, der ohne eine Aurora im Morgen aufstieg; und zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, vor dem unendlichen Vater; und von der ganzen Natur um mich flossen friedliche Töne aus, wie von fernen Abendglocken.“ Jean Paul: Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei, In: Ders.: Sämtliche Werke in zwölf Bänden, Bd. III, München 1985, S. 270-275, hier S. 275. 29 Für

ein einschlägiges

Beispiel siehe:

https://www.google.de/search?q=rhein+

in+flammen+koblenz&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=0ahUKEwiwyN2Sm9Pc AhVOGsAKHVKiDrUQ_AUICigB&biw=1002&bih=413#imgdii=HXr0D5n59DGF vM:&imgrc=NaE9o7GhSpvyOM: (01.07.2018).

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Mobilisierung, auch der imaginären Beruhigung oder Erhebung von Gefühlen und zugleich aber auch der Differenz-Setzung gegenüber Anderen und anderen Heimaten wahrgenommen werden und entsprechend wirken. Es handelt sich – gerade im Blick auf die bereits historisch mit Heimaten verbundenen Setzungen und Kämpfe,30 ebenso aber auch im Blick auf mögliche gegenwärtige oder zukünftige Mobilisierungen von Heimatbegehren und Heimatvorstellungen also durchaus um eine ‚Büchse der Pandora‘, in die hineingegriffen wird, wenn Heimat ausgestaltet, eingefordert, geschaffen oder gar verteidigt werden soll.

VI. Vor dem Hintergrund einer grundlegenden, mit der Moderne31 verbundenen, in den Zusammenhängen des 19. und dann 20. Jahrhunderts zunehmend in die Lebenswelten aller Bevölkerungsgruppen eingreifenden Unruhe der Moderne 32 geht es in der Orientierung an Heimat und ihrer Setzung immer auch um das Bemühen der Ausschließung des Störenden, Fremden und Bedrohlichen, wobei unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und unterschiedliche soziale Lagen in unterschiedlicher Weise davon betroffen sind und auch über unterschiedliche Potentiale und Erfahrungen zu ihrer Bewältigung verfügen. Letztlich geht es dabei

30 Für eine Übersicht der Heimatschutz- und Kampfbewegungen vgl. Gebhard/Geisler/ Schröter, Heimatdenken. 31 Auf die von Baudelaire angesprochenen Erfahrungen des Transitorischen, Flüchtigen und Kontingenten als der einen Seite konstitutiver Merkmale (in der Kunst) der Moderne kann ich hier genauso wenig eingehen wie auf deren andere konstitutive Seite, die sich Baudelaire zufolge als die Vorstellung des Unbeweglichen und Ewigen findet. Gerade dieser letzte Aspekt beschreibt denn auch den Bedarf nach Glanz, Totalität und Beständigkeit, der von Heimat ebenso wie von mythisch gegründeten sakralen oder weltlich-politischen („nationalen“) Festen und Gedenkanlässen bedient werden soll und der in seiner Dringlichkeit (und Künstlichkeit) doch gerade auch von deren Gefährdetheit und Unzulänglichkeit berichtet. Zur Begriffsgeschichte noch immer Gumbrecht, Hans Ulrich: Modern, Modernität, Moderne, In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart, Bd. 4, Stuttgart 1978. S. 93-131. 32 Vgl. für viele Berman, Marshall: All that is solid melts into air. The experience of modernity, New York/Toronto 1988; Wagner, Peter: Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin, Frankfurt a. M./New York 1995.

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immer um die „ärgerliche Tatsache der Gesellschaft“33 selbst, ja in der Figur des „Heimat-Fremden“34 tritt noch einmal im Besonderen der noch ärgerlichere Umstand einer Realität im Ganzen hervor, die in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit ebenso wenig überschaubar wie handhabbar erscheint wie sie den eigenen Bedürfnissen Rechnung zu tragen vermag. „Für Nachrichten über Tatsachen ist ab 16 Uhr“, so heißt es im Blick auf den Heiligen Abend bei Kluge bündig: „kein Platz.“35 Dem entspricht das bei Weber-Kellermann beschriebene Weihnachtsfest, das – so viel sei hier als Parallele gezogen – im gleichen Zeitraum (in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts), unter den gleichen Bedingungen (Dynamik einer die Grundlagen einer vermeintlich „guten alten Zeit“ erschütternden Entwicklung zur Industriemoderne) und nicht zuletzt mithilfe der gleichen Prozeduren seinen Siegeszug antritt wie sie auch die Konstitution und die Konjunkturen der Heimatorientierungen seit der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufweisen: „Das Entzünden des Weihnachtsbaums hinter verschlossenen Türen im Kreise der Kleinfamilie […] entsprach dem Bedürfnis nach Intimität und Abschließung nach außen, das kennzeichnend war für das bürgerliche Familienleben des 19. Jahrhunderts.“36 Lichterglanz und Grenzziehung spielen in beiden Raumkonzepten – real und imaginär – eine ebenso wichtige Rolle wie Prozeduren und Zeitgestaltung.

VII. Weihnachtsabend und Heimatfest als Repräsentation des Habens einer bestimmten Heimat und damit eines bestimmten Ortes (gegenüber anderen) in der Zeit zeigen sich in dieser Perspektive in einem Korrelationsverhältnis, sodass sich Symbole und Verfahren ebenso sehr entsprechen wie die damit verbunde33 Dahrendorf, Ralf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle [1958], Opladen 131974, S. 17. 34 Simmel, Georg: Exkurs über den Fremden, In: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908], Berlin 1968; Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie [1932], Frankfurt a. M. 1981; Waldenfels, Bernhard: Heimat in der Fremde, In: Ders.: In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt a. M. 1985, S. 194-211. 35 Kluge: Kommentare, S. 193. 36 Weber-Kellermann: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 1974, S. 226.

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nen Gefühlsladungen und auch das Ausschließungsbegehren. Weber-Kellermann spricht in ihrer Studie von einem „fast liturgisch anmutenden Festprogramm“ und eben jenen Funktionen, die diese Prozeduren der Zeit-, Raum- und Sozialitätsgestaltung auch im Zusammenhang einer festlich-repräsentativen Besetzung von Heimat wahrnehmen: „unter Benutzung zahlreicher traditioneller Requisiten (grüner Zweig und Licht, gemeinsamer Gesang und Spiel, Geschenke, gemeinsames Mahl, gemeinsamer Trunk) gestalten die Eltern als Frucht langer Vorbereitungen einen Abend familiärer, verinnerlichter Harmonie, mit der sie alle Konflikte beschwichtigen und für einige Stunden die Utopie einer heilen Welt hervorzaubern möchten.“37 Wenn wir die Eltern gegen den Landesvater, heute das Patronat einer Landesregierung, den Vorsitz einer Landrätin oder auch die Förderung des Events durch eine Firma bzw. einen anderen Werbeträger tauschen, sind wir bei aktuellen Heimatfesten, und mir scheint im Blick auf die Gewalt in Heimatdiskursen in diesem Zusammenhang wichtig, dass sich die Inszenierung des Schönen und Heimeligen implizit nur gestalten und erleben lässt über die gleichzeitig mitlaufende Nicht-Repräsentation des Unheimlichen und Gefürchteten, so dass sich die damit in Rechnung zu stellende (unsichtbare) Gewalt als Medium und Bezugsfeld von Ausschluss und Einschluss gerade in ihrer Nicht-Thematisierung als der eigentliche Stoff der Gefühlslagerung und so auch des Wohlgefühls und Schauderns zugleich erkennen lässt. Umso schlimmer, wenn es dann Flüchtlinge oder Asylbewerber sind, die alkoholisiert die ansonsten grundsätzlich nüchternen einheimischen Besucher eines lokalen Heimatfestes stören. Bemerkenswert ist schließlich auch, dass es sich in beiden Fällen: Weihnachtsfest und Heimatbewegung um die gleiche Trägerschaft handelt, wobei die von Friedrich H. Tenbruck beobachtete „kulturelle Vergesellschaftung“ als Folie in der Konstitution von Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert von ihren beiden Seiten aus zu sehen ist: „Indem die Eigensphäre einer säkularen Kultur mit eigenem und wachsenden Publikum entsteht, vollzieht sich ein kultureller Vergesellschaftungsprozess, der bisherige regionale, soziale, ständische und religiöse Differenzen, wenn nicht ausschaltet, so überbrückt.“ 38

37 Ebd. 38 Tenbruck, Friedrich: Bürgerliche Kultur, In: Neidhard, Friedhelm/Lepsius, Rainer M./Weiß, Johannes (Hrsg.): Kultur und Gesellschaft (= Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 27), Opladen 1986, S. 263-285, hier S. 272.

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VIII. Heimat wird im Zuge dieses Vorgangs zu einer weiteren Welt kultureller Selbstverständigung, zum einen also ein Feld der Selbstbestimmung und ein Raum, innerhalb dessen sich Individuen und soziale Gruppen verorten können, zumindest die Fragen ihrer Zuordnung und ihrer Möglichkeiten zur Gestaltung ihrer Lebenswelten thematisieren und ggf. reflektieren können. Zum anderen wird sie damit aber eben auch zu einem Aushandlungs- und ggf. Konfliktfeld, dessen Konstitution Gewalt ebenso sehr auszuschließen sucht wie diese zugleich den Vollzug von Gewalt einfordern, legitimieren, scheinbar unausweichlich machen kann. „Eher gilt ja“, so noch einmal Tenbruck, „dass die Deutung von Wirklichkeit, wenn sie laufendes Objekt kultureller Arbeit wird, fraglich und strittig wird.“39 Beide Phänomene, der Siegeszug des Weihnachtsfestes und die Popularisierung bzw. Generalisierung von Heimatvorstellungen, zumal in ihrer medialen Ausgestaltung durch Kulturwaren wie Lese- und Liederbücher, Postkarten, Musiken, Trachten, unterschiedliche handwerkliche Artefakte und regionale Besonderheiten (erzgebirgische Weihnachten) führen nicht nur Heimatbewegung und Festtagsgestaltung zusammen, sondern zeigen sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zugleich als Produkte einer sowohl sozial sich entfaltenden wie ökonomisch und politisch durchaus Beschränkungen erfahrenden und sich damit in unterschiedliche Lagerungen ausdifferenzierenden bürgerlichen Kultur, 40 innerhalb deren – ähnlich wie dies Benedict Anderson für die Konstitution der imaginären Gemeinschaft der Nation beschrieben hat – Lehrer, Pfarrer und andere Vertreter eines bildungsorientierten mittleren Bürgertums zunächst als Instrukteure hervortreten.41 Im Fall der Heimat und über den Tag hinaus kommen dann ritualisierte Feierstunden und Feste, Vereinsgründungen, Naturschutz, Traditi-

39 Ebd., S. 265. 40 Der von Friedrich Tenbruck hierzu vorgestellte, auf Kommunikation, Reflexivität und Bildung hin angelegte Grundriss bürgerlicher Kultur (ebd.) findet in eben diesen Differenzierungen und Restriktionen dann nicht nur seine Grenzen, sondern erfährt durch eben diese Begrenzungen dann auch Zuspitzungen in unterschiedliche Richtungen, von Lebensreform und Esoterik bis zu kämpferisch-revolutionären Formen auf der rechten und linken Seite des politischen Spektrums. 41 Vgl. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Frankfurt a. M./New York 1988.

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ons- und Denkmalpflege42 hinzu, nicht zuletzt eine von Laien gleichermaßen wie von Fachleuten betriebene Volkskunde. Die damit verbundenen, als Verknüpfung lokaler mit übergreifenden nationalen, dann auch globalen Entwicklungen erkennbaren Perspektiven43 zielen zum einen auf die Verfestigung, die Institutionalisierung und potentiell die Universalisierung von Heimatkonzepten und Ansprüchen. Zum anderen bieten sie dann auch Anlass für deren Instrumentalisierung und Ideologisierung. Auch in diesem Bereich ist mit Friedrich Tenbruck zu konstatieren, dass das Feld bürgerlicher Kultur auf andere soziale Schichten übergreift, Ansprüche und Vorstellungen sich auf die Arbeiterbewegung ebenso auswirken44 wie auf den Adel und potentiell dann auch ‚alle anderen‘ ansprechen, potentiell selbst diejenigen, denen weder Land noch Aufenthaltsrechte zustehen, so dass sich hier nicht nur von einer Globalisierung von Heimat sprechen lässt. Vielmehr verbindet sich mit einer Universalisierung des Heimatbegriffs und -anspruchs45 auch eine Ausweitung der mit der Heimatkonstitution grundlegend verbundene Gewaltbelastung auf andere Regionen, ggf. im Weltmaßstab, die sich in ihrer universalen Dimension immer wieder (und fast überall) gerade auch in ihren Ansprüchen auf Heimatverteidigung zeigt,46 Bereitschaft dazu fordert und entsprechende Akteure erfolgreich mobilisieren kann. In diesem Sinn stellt Heimat als Konzept, Anspruch, Versprechen und Forderung eine der ebenso attraktiven wie leicht entzündbaren Problemkonstellation in einer globalisierten Welt dar.

42 Entsprechende Hinweise bei Tenbruck, Bürgerliche Kultur, S. 269 f. auf die Funktion der Museen für die Autonomisierung bürgerlicher Kultur ließen sich in dieser Hinsicht auf volkskundliche Museen und deren intendierte und zugleich begrenzte Ausstrahlung auf die Landbevölkerung übertragen. 43 Für die neuere Diskussion um „Glokalisierung“ vgl. Robertson, Roland: Glokalisierung. Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit, In: Beck, Ulrich (Hrsg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 192-220. 44 Vgl. den Arbeiterschriftsteller Ernst Preczang, der um 1888 zur Bedeutung der Arbeiterbewegung schrieb: „Für Zehntausende ist sie auch eine neue seelische Heimat geworden, wurde sie rein menschlich zu lebendig-freudevollem Daseinsinhalt.“ (zit. n. Bausinger, Heimatverständnis, S. 213) 45 Vgl. dazu Klose, Joachim: Heimatschichten, In: Ders. (Hrsg.): Heimatschichten. Anthropologische Grundlegung eines Weltverhältnisses, Wiesbaden 2014, S. 19-46 sowie die in diesem Band zusammengestellten weiteren Beiträge. 46 Vgl. Kittler, Friedrich: „De Nostalgia“, In: Pott, Hans-Georg (Hrsg.): Literatur und Provinz. Das Konzept ‚Heimat‘ in der neueren Literatur, Paderborn 1986, S. 153-168.

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IX. Aggression und Regression sind freilich nicht nur zentrale Komponenten dessen, was als Heimat konzipiert (und imaginiert) wird, sondern bilden auch den Stoff und die Impulse für deren soziale und ggf. geopolitische Ausformung, zumal auch Anlass für die Externalisierung von Gefährdung und Verlust auf „Andere“. Heimat in einem einfachen Sinne leben, heißt zunächst immer auch Heimat setzen und verteidigen. Demgegenüber bedarf es, soll die damit verbundene Gewaltaffinität nicht ausgeführt oder gestärkt werden, eines reflektierten HeimatKonzepts, das gerade, wenn eine möglicherweise vorhandene anthropologische Grundierung neben sozialen und historischen Faktoren berücksichtigt werden soll, eben in dieser Perspektive die anthropologisch beschreibbare „natürliche Künstlichkeit“47 einer solchen Zuordnung in Rechnung stellt. Wenn Helmuth Plessner an dieser Stelle von der „konstitutiven Heimatlosigkeit des menschlichen Wesens“ spricht: „Die Idee des Paradieses, des Standes der Unschuld, des goldenen Zeitalters, ohne die noch keine menschliche Generation gelebt hat (heute [1928 – W.N.] heißt die Idee Gemeinschaft) ist der Beweis für das, was dem Menschen fehlt und für das Wissen darum, kraft dessen er über dem Tier steht“,48 so kann dies zum Ausgangspunkt einer Heimat-Konzeption genommen werden, die nicht so sehr die Gesetztheit der Heimat als vielmehr ihren Konstruktionscharakter und damit zugleich die Möglichkeit „es könnte auch alles anders und anderswo sein“ mitberücksichtigt. Angesichts der Macht der Gewalt, die von Heimatkonzepten ausgeht, mit ihnen verbunden ist und sowohl nach innen wie nach außen wirkt und feststellbar ist, könnte mit dem Wissen um diesen Konstruktions- und Vorläufigkeitscharakter der Heimat allerdings auch die davon ausgehende Einladung oder Nötigung zur Gewaltanwendung innerhalb von Heimatkonzepten gemäßigt werden. Offensichtlich war das Wissen um diesen prekären, temporären Charakter räumlicher Zugehörigkeit in der Vormoderne schon deshalb vertrauter, weil Heimat weniger verbreitet und für viele gar nicht erfahrbar war, zugleich aber auch weil angesichts der Unsicherheiten und Unwägbarkeiten des Lebensvollzugs 49 und

47 Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch [1928], Berlin/New York 1975, S. 309. 48 Ebd. 49 Vgl. dazu bereits für die vormodernen Welten Europas Delumeau, Jean: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg 1985; für die Gegenwart: Bude, Heinz: Die Gesellschaft

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nicht zuletzt durch das Wissen um die Transzendenzgebundenheit menschlicher Existenz (auch der Großen, der Herrscher und Staaten) die Flüchtigkeit des Lebens und Vorläufigkeit des Ortes den Menschen vertrauter waren. Dies gilt zumindest, soweit wir es wissen und wenn wir der viel zitierten Bemerkung Hugo von Sankt Viktors trauen wollen: „Delicatus ille est adhuc cui patria dulcis est; fortis autem iam, cui omne solum patria est; perfectus vero, cui mundus totus exsilium est.“50

X. Zu Recht haben Edoardo Costadura und Klaus Ries in der Einleitung des von ihnen 2016 herausgegebenen Sammelbandes Heimat gestern und heute die mit Heimat-Vorstellungen verbundene Mehrdeutigkeit und Gefährdungslage hervorgehoben51 und deshalb auch auf die Diskursgebundenheit von Heimatvorstellungen hingewiesen. Heimat stellt sich in dieser Hinsicht als Suchbewegung, Kippfigur, Sonde und Spiegel dar und wie alle Gegebenheiten der Kultur zugleich auch als Handlungsfeld, Medium und Zeugnis der Barbarei: Gewalt im häuslichen und nachbarschaftlichen Nahbereich, von Missbrauch der Hausbewohner über die Kirmesschlägerei bis zum Pogrom. Massaker und Verrat sind ebenso heimatgebunden bzw. verbunden wie die von Friedemann Schmoll unter dieser Perspektive angesprochene Thüringer Heimatfront,52 von der ein Faden bis zu den Morden des NSU führt und zu weiteren fremdenfeindlichen Gewalttaten (bis heute). Wolfgang Kaschuba hat in diesem Zusammenhang im Spiegel-Gespräch Ende 2016 Heimat „eine sehr reale, oft brutale Konstruktion“ genannt: „ein der Angst, Hamburg 2014; Bauman, Zygmunt: Die Angst vor dem anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache, Berlin 2016. 50 Hugo von Sankt Viktor: Didascalicon. De Studio Legendi [ca. 1127 n.d.Z.]. Studienbuch Lateinisch-Deutsch, Freiburg 1997, hier Caput XIX, S. 268; „Ich selbst“, so schreibt der vermutlich aus Thüringen stammende Kleriker und Pariser Gelehrte (um 1095-1141) weiter, „habe schon seit meiner Kindheit in der Fremde gelebt, und ich weiß, mit welchem Kummer die Seele mitunter den kärglichen Fleck einer armseligen Hütte verlässt, ich weiß aber auch mit welcher Freiheit sie später die marmornen Wohnsitze und getäfelten Säle verachtet.“ (Ebd., S. 269) 51 Ebenso dort Schmoll, Friedemann: Orte und Zeiten, Innenwelten, Aussenwelten. Konjunkturen und Reprisen des Heimatlichen, In: Costadura, Edoardo/Ries, Klaus (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, S. 43-46. 52 Vgl. ebd., S. 45.

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Recht auf einen Platz im Ortgefängnis, im Spital oder auf dem Friedhof.“ 53 Tatsächlich handelt es sich bei Heimat, wenn der Begriff denn von seiner zunächst engeren Funktion als Bezeichnung eines Rechtsinstituts abgelöst wird, um einen – wie Costadura und Ries beobachten – Thematisierungs-, dann auch Reflexionsbegriff.54

XI. Hermann Bausinger hat dazu die Stationen der Begriffsgeschichte von Heimat mit Bezug auf deren Funktionen innerhalb der gesellschaftlichen und politischen Diskurse seit Beginn des 19. Jahrhunderts nachgezeichnet und dabei zunächst deren Rolle als „Beschwichtigungsangebot“ und „Besänftigungslandschaft“, als Identifikations- und Kompensationsmöglichkeit herausgearbeitet. 55 Auch hat er bereits dort auf die Möglichkeiten einer Indienstnahme von Heimatvorstellungen und -ansprüchen für Mobilisierung und Kampf hingewiesen. Heimat als kulturelle Konstruktion ist in dieser Hinsicht immer schon ein Gebilde aus Realität (sozial, historisch) und Imagination, wobei aus der Sicht des Individuums wie der Gruppe situative und idiosynkratische Momente nicht nur zusammentreffen, sondern vielfach den Ausschlag geben, freilich schrecken diese zur Bewältigung als bedrohlich erscheinender Situationen und auch zur Überdeckung der in bestimmte Erfahrungen eingeschriebenen Unsicherheit, Polyvalenz und Angst im Falle der Not auch vor radikaler Gewalt und (Selbst-)Destruktion nicht zurück. Diese Ambivalenz und die damit verbundene Zuspitzungsmöglichkeit in Richtung gesellschaftlicher Zerstörung machen das Konzept und seinen Bezugsrahmen nicht nur zu einer Herausforderung kultureller Handlungsräume und Diskurse im oben mit Tenbruck angesprochenen Sinn einer bürgerlichen Kultur. Vielmehr rücken die Vorstellungen und Diskurse von Heimat damit auch in jenen Zusammenhang ein, den Klaus Eder als „polemogene Funktion symbolischer Identifikation“ bezeichnet hat56 und als „paradoxe Form kultureller Ge-

53 Musall, Bettina/Wellershoff, Marianne: Die Psychologin Beate Mitzscherlich und der Migrationsforscher Wolfgang Kaschuba diskutieren den schwierigen Begriff Heimat, In: DER SPIEGEL Wissen 6 (2016), S. 16-20, hier S. 16. 54 Vgl. ebd., S. 11. 55 Bausinger, Heimatverständnis, S. 212 f. 56 Eder, Klaus: Integration durch Kultur? Das Paradox der Suche nach einer europäischen Identität, In: Viehoff, Reinhold/Segers, Rien T. (Hrsg.): Kultur. Identität. Euro-

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meinsamkeit“ benennt: „ein Konsens, der Dissens über eben diesen Konsens ermöglicht und damit erneut Konsens möglich macht. Kultureller Konsens hat also eine Doppelfunktion: diese Reproduktion zu ermöglichen und zugleich in Frage zu stellen“57. Diese freilich bedürfen, wenn denn gesellschaftlicher Streit nicht in Krieg und Bürgerkrieg führen soll, einer Mäßigung, die Eder mit der Konstruktion eines inhaltlich minimalistisch konzipierten, formalisierten Diskursfeldes befördern möchte, innerhalb dessen Identitätsarbeit und Identitätskommunikation58 im Sinne eines „tagtäglichen“ Managements vollzogen und gefördert werden soll – freilich relativierend, revidierbar, polyphon und ohne gesetztes Ende. Heimat und Heimatdiskurse, so ist es oben beschrieben worden, bieten gerade in diesem Zusammenhang ein entsprechendes Kraftfeld an, das gesellschaftliche Kommunikation anstoßen und entsprechend auf Trab halten kann. Sie bieten aber auch sowohl in ihrer diskursiven Rahmung als auch in ihrer ggf. auf Ausschließlichkeit gründenden Verfasstheit ebenso den Anlass und Motive genug, ein solches Handlungsfeld aufzusprengen, statt Gewalt entlasteter Verständigung die Drohung und den Gebrauch von Gewalt so zu legitimieren und zu vollziehen, dass gesellschaftliche Verständigung zerstört wird. In welchem Maße dabei die mit der Setzung von Ortsgebundenheit59 als Entleerung einer Vorstellung von Heimat erfahren wird und eine durch Gewalt erzeugte Ortsverschiebung zugleich zu einer Füllung der Vorstellung (freilich am falschen Ort) führen kann, hat Alexander Kluge in einer seiner Neuen Geschichten (1978) beschrieben: „Die Heimat“, so lautet die Überschrift, „liegt da, wo meine Produktionsstätte ist, wo meine Arbeit liegt.“ Berichtet wird vom Fronturlaub des Obergefreiten Eilers 1941, der „Um 17 Uhr an Heiligabend bei seiner Familie“ 60 und auch die nächsten Tage Feiertagsgeschäfte und Alltag mit seiner Familie und in der Nachbarschaft verbringt, allerdings „Dem Sinn dieser Freizeit ist nicht recht beizukommen. […] Das Leben in diesem kleinen Ort hat für Individuen keinen Sinn. Das fällt einem Frontkämpfer auf, der doch für sein momentanes Verhalten an der Front jeweils Zwecke angeben kann, so wie der Gegner nach Zwecken vorgeht, pa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion, Frankfurt a. M. 1999, S. 147-179, hier S. 169. 57 Ebd., S. 150. 58 Vgl. ebd., S. 176. 59 Vgl. Treinen, Heiner: Symbolische Ortsbezogenheit. Eine soziologische Untersuchung zum Heimatproblem, In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 17/1 (1965), S. 73-97, 254-297. 60 Kluge, Alexander: Neue Geschichten. Hefte 1-8. ‚Unheimlichkeit der Zeit‘, Frankfurt a. M. 1978, S. 243.

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die sich an der Vereitelung unser Zwecke messen.“61 Es macht den Stachel dieser Erzählung aus, dass durch die Verschiebung des Krieges, die Front als Heimat, die eigentliche Heimat aber als Fremde erfahren wird. Reziprozität erscheint in der projektierten Kampfhandlung ebenso gewährleistet wie Sinn, der sich auf die Sicherung der Kampfbereitschaft richtet, sich somit in die Rahmensetzung des Kriegs als Gewalthandlung einfügt, während die Erfahrung der Heimat, zu deren Verteidigung der Krieg doch aufgeboten, zumindest dadurch legitimiert werden soll, sich als Sinnlosigkeit zeigt. „Es hatte doch alles keinen richtigen Zweck“, sagt sich Eilers im Blick auf seinen Besuch in der Heimat. Erst als er an die Front zurückkehrt, findet er sich in seiner Welt, seiner Heimat wieder: „Nach einstündiger Fahrt […], von den Bahngleisen fort, die mit der Heimat verbinden, dann ein Fußmarsch […], ist Eilers wieder bei seinen Leuten. Die taktischen Zeichen an den Wegstrecken, die Ortsschilder sind ihm bekannt. Endlich die heimatliche Stellung, an der er selbst im Dezember gebaut hat.“62 Nun, wieder an die Front zurückgekehrt, findet Eilers Sinn und damit auch Heimat wieder: „Meine Heimat ist da, würde Eilers sagen, wenn er überhaupt darüber reden würde, wo ich den persönlichen Eindruck habe, dass alles Sinn und Zwecke hat und die Zusammenarbeit klappt. Das kann man vom gewesenen Weihnachtsfest nicht sagen.“63 Unter den Bedingungen der Moderne, dazu gehört auch eine Verteidigung der Heimat an einer tausende von Kilometern entfernten, und mit modernster Technik nur in einigen Tagesreisen erreichbaren Front, entkoppeln sich Ort und Sinn, während die Sinnorientierung bei den Menschen bleibt, mit ihnen nomadisiert und so am fremden Ort aufs Neue Heimat schafft. In seiner ideologischen Rechtfertigung dient der Krieg der Verteidigung der Heimat. Kluges Kämpfer dagegen findet seine Heimat an der Front, der gegenüber die Heimat sinn-leer und zweck-los erfahren wird. Eben in dieser Verschiebung der Heimat und durch die Entkoppelung von Ort und Sinn wird aber auch so noch einmal die Koppelung von Heimat und Gewalt erkennbar, nunmehr in einem durchaus technischen und zugleich existentiellen Sinn. Noch einmal Eilers: „Dagegen muss ich es [Sinn und Zweck – W.N.] hinsichtlich der Stellung, die wir hier ‚um jeden Preis‘ halten, behaupten. Ich hätte sonst überhaupt nichts mehr übrig.“64

61 Ebd. 62 Ebd., S. 244. 63 Ebd. 64 Ebd.

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XII. Dass auch Gewalt nicht ohne Sinn auskommt, weder auf der Ebene der Akteure noch zu ihrer Legitimation, und so auch unverzichtbar hinsichtlich ihrer Erkundung bleibt, hat Jan Philipp Reemtsma in seiner großen Studie zu Vertrauen und Gewalt (2008) eindringlich vorgestellt: „Menschen handeln nie einfach instrumentell, stets ist ein ‚existenzielles‘ Moment im Spiel.“65 Im Falle der Heimat dürfte dieses existentielle Moment zunächst in der Verbindung von Ort und Sinn bestehen, eine Vorstellung von Heimat, die freilich gerade dann Gewalt nicht ausschließt, wenn es um das Haben eines Ortes als Heimat geht, dem die Gefährdung dann ebenso eingeschrieben ist wie die Nötigung bzw. Bereitschaft zu seiner Verteidigung. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit Heideggers existentialistisch gefasster Ortverbundenheit66 beschreibt Emmanuel Levinas gerade die ortsgebundene Heimat als einen Kampfplatz „Das Eingepflanztsein in eine Landschaft, die Verbundenheit mit dem Ort, ohne den das Universum bedeutungslos würde und kaum existierte – eben dies ist die Spaltung der Menschheit in Einheimische und Fremde.“67 und er setzt dagegen im Sinne einer vita activa auf die abstrahierende und entbettende Macht der Technik, die „uns […] dem Aberglauben des Orts“ entreißt.68 Alexander Kluges Bericht zeigt aber auch hier noch einmal die Macht der Technik von ihrer anderen Seite, ihrer weitergehenden Ermächtigung zu weiterer Destruktivität. Auch eine technisch entbettete Heimat, soweit ist auch in diesem Zusammenhang das von Reemtsma angesprochene „existentielle Moment“ in jeder Handlung anzusprechen, also auch im Hinblick auf das Ausagieren von Gewalt, nötigt dazu oder bietet zumindest die Möglichkeit, am entfernten Ort mit ihrer Hilfe Sinn zu schaffen, Heimat zu finden und zwar nicht nur gegen die Gewalt, sondern auch in ihr und mit ihr. Dementsprechend lässt sich – jeweils dann auf mediale Darstellung, literarische oder sonst wie gestaltete Imagination und so auch auf Reflexion bezogen –

65 Reemtsma, Jan-Philipp: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 107. 66 Vgl. dazu Günzel, Stephan: Heimat und Raum. Die Herkunft des Ortsprimats im Raumdiskurs aus der Heimatkunde, In: Bauer, Jenny/Gremler, Claudia/Penke, Niels (Hrsg.): Heimat – Räume. Komparatistische Perspektiven auf Herkunftsnarrative, Berlin 2016, S. 27-43, hier S. 38 f. 67 Levinas, Emmanuel: Heidegger, Gargarin und wir [1963], In: Ders.: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt a. M. 2017, S. 173-176, hier S. 175. 68 Ebd.

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das Verhältnis von Heimat und Gewalt zumindest in drei Dimensionen ansprechen: Das folgende, im Anschluss an Reemtsmas Kategorien entwickelte Dreifelder-Schema mag dabei als Matrix für eine Literaturauswahl und Zuordnung ebenso nützlich sein wie für die Bestimmung und Analytik der von diesen repräsentierten bzw. angestoßenen oder inszenierten Diskurse: Tabelle 1: Heimatdiskurse und Gewalttypologien raptiv Heimatdiskurse Innenraum

Von außen

Nach außen

Gewalttypologie dislozierend

Sexuelle Gewalt/ Missbrauch

Ausschluss aus der Familie; Aussiedlung

Überfall durch Räuber, Barbaren, Fremde Nötigung zur Exogamie

Vertreibung

„Junge Krieger“69; Kolonisierung: z. B. Deutsche im Osten

autotelisch Depression; Selbstverstümmelung, Selbstmord; Anzünden des eigenen Hauses Massaker

Gewalt als Initiation70; Selbstauflösung lokaler Gemeinschaften durch intendierten „Untergang“ (Nibelungen)

Gewalt kann dabei als Medium gesehen werden, das im inneren Raum Heimat schaffen und zerstören kann; ebenso wirkt sie von außen als Heimat ermöglichend, gefährdend, hervorbringend und vernichtend. Jeweils sind dabei historische, topographische, deskriptive und normative Impulse bzw. Rahmensetzungen ebenso zu berücksichtigen wie deren jeweils imaginäre Überformung, Überbietung und auch ggf. auch Aufhebung, mitunter auch Legitimation und Delegi-

69 Nach Elwert, Georg: Kein Platz für junge Wilde, In: DIE ZEIT, 26.03.1998. https://www.zeit.de/1998/14/Kein_Platz_fuer_junge_Wilde (01.07.2018). 70 Vgl. Ders.: Die rüden Krieger, In: DIE ZEIT, 21.09.2000. https://www.zeit.de/2000/ 39/Die_rueden_Krieger (01.07.2018).

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timation. Nicht zuletzt ist Heimat auch ein Ort, von dem aus Gewalt von innen, die aus der Heimat kommt, nach außen zielt und transportiert wird. Alle drei Gewaltpotentiale, soweit sie mit der ebenso räumlichen wie historischen, sozialen und nicht zuletzt imaginären Konstruktion von Heimat verbunden sind, hängen miteinander zusammen, können einander ebenso stabilisieren wie konterkarieren und sind wie das Phänomen der Gewalt selbst keineswegs einfach zu bestimmen.71 Sie bedürfen zu ihrem Verständnis, so hat dies ja auch Reemtsma gezeigt, in analytisch-theoretischem Zugriff vielfach der Konkretion eines Beispiels, das sich natürlich in der Kriminologie finden lässt, ebenso aber auch in künstlerischen, nicht zuletzt literarischen Gebilden, die durch ihre gesetzte Rahmung mehr Rationalität und damit auch u. U. mehr Erkenntnis bieten können als die facta bruta der Realität,72 deren Unzugänglichkeit gerade im Blick auf Gewaltanwendung und Gewaltbelastung vielfach im Vordergrund steht.73 Die Verbindung von Heimatbedarf und Gewaltbereitschaft dürfte dabei umso schärfer in Erscheinung treten, je umfassender die in der Konzeption der Moderne angelegte Aufgabe zur Selbst-Steuerung in einer entzauberten diesseitigen Welt als Zumutung und als Vorgang einer Entbettung (ohne Baldachin) 74 erfahren wird, zu deren Bearbeitung individuelle oder auch soziale Handlungsmacht nötig wäre und im gewünschten Ausmaß nicht vorhanden ist. Solange Heimatvorstellungen an die jenseitige Seite einer himmlischen Heimat oder als Vorschein eschatologischer Deutung in dem Sinne real waren, in dem sie zugleich unerreichbar schienen, war wohl auch noch eine Grenze erkennbar, die soziale Energie organisieren und das Begehren nach Heimat als einem Himmel auf Erden – und sei es um den Preis von Massenmord – in Schach halten konnte. Vor 71 Vgl. Sofsky, Wolfgang: Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M. 1996. 72 Für einen einschlägigen Ausgangspunkt in literaturwissenschaftlicher Hinsicht vgl. Wertheimer, Jürgen: Ästhetik der Gewalt. Ihre Darstellung in Literatur und Kunst, Frankfurt a. M. 1986. 73 Um hier nur ein Beispiel zu nennen, sei auf Ludwigs Tiecks Novelle Hexensabbat von 1831 verwiesen; vgl. Nell, Werner: Fixierungen und Phantasmata. Sinn-Zerstörung im romantischen Dispositiv bei Ludwig Tieck und Théophile Gautier, In: Kasper, Norman/Strobel, Jochen (Hrsg.): Praxis und Diskurs der Romantik 1800-1900, Paderborn 2016, S. 141-157. 74 Vgl. Soeffner, Hans-Georg: Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen, Weilerswirt 2000; Nell, Werner: Heimat ohne Baldachin – Zumutungen der Moderne, In: Marszalek, Magdalena/Nell, Werner/Weiland, Marc (Hrsg.): Über Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit, Bielefeld 2018, S. 357-390.

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dem Hintergrund radikaler Versprechungen und in Anwendung gewaltiger und gewalttätiger Mittel zu seiner Umsetzung auf Erden führen auch die Wege über die Heimat – Karl Poppers Warnung ist hier aufzunehmen – stattdessen in die Hölle. Auf der Suche nach einem neuen, zeitgemäßen Heimatbegriff hatte Hermann Bausinger 1983 von einem, wie er seinerzeit schrieb, „recht sicheren Kriterium dafür“ gesprochen, „ob Heimat noch immer als Arsenal schöner Überlieferung verstanden wird […] oder als die Idee menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen.“75 Er hatte damals „Gastarbeiter“, ausländische Arbeitsimmigranten, im Blick und stellte die Frage, ob auch für sie – wie heute für Asylsuchende, Geflüchtete und Menschen ohne Papiere – ein Platz benannt werden könnte, der ihnen „Heimat“ sein kann? Inzwischen ist Heimat allerdings auch wieder Kampfbegriff geworden. Der „polemogene“ Charakter der kulturell und diskursiv erzeugten Heimatvorstellungen zielt aktuell nicht mehr, wie Klaus Eder dies nahelegen wollte, auf die Erzeugung von Dissens und dessen kommunikativer Einhegung und Förderung im Sinne einer rational sich orientierenden Öffentlichkeit. Stattdessen wird die Frage der Heimat erneut als kämpferische Auseinandersetzung um die Lebensverhältnisse und die Aufenthaltsberechtigung an einem Ort verstanden. Aktuelle völkisch-nationalistische Besetzungen und Inszenierungen des Begriffs und der damit verbundenen Vorstellungen zielen durchaus auf ein Zündeln mit den Möglichkeiten des Bürgerkriegs. Polemogen lässt sich so auch als Hinweis auf die Gefährlichkeit eines Bürgerkriegs verstehen, der in und um die „Heimat“ beginnt. Dem Rechnung tragend, muss Bausingers Kriterium von 1983, ohne dass dies inzwischen falsch geworden wäre, um einen weiteren Aspekt ergänzt werden: Ein zeitgemäßer Heimatbegriff muss sich auch dem Kriterium stellen, inwieweit die in Heimatvorstellungen und -postulaten implizierte Gewalthaltigkeit und damit verbunden die Konfliktträchtigkeit der jeweils eigenen Konzepte zu erkennen sind und in welchem Maße die damit verbundenen Gefährdungen, im Sinne Christian Graf Krockows auch Selbstgefährdungen,76 dadurch in Rechnung gestellt und öffentlich reflektiert werden können.

75 Bausinger, Heimatverständnis, S. 216. 76 Vgl. Krockow, Christian Graf von; Gewalt für den Frieden? Die politische Kultur des Konflikts, München 1983.

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Heimat ohne Ausländer! Sächsische Impressionen und nachdenkliche Reflexionen zum Konnex von Lokalpatriotismus, Populismus und Fremdenangst Justus H. Ulbricht

Die folgenden Bemerkungen1 sind nicht allein aus der Lektüre wissenschaftlicher Publikationen gewonnen, sondern auch aus den persönlichen Erfahrungen als Moderator von Asyl-Debatten, die zwischen 2014 und 2017 in vielen Kommunen Sachsens stattgefunden haben.2 Dazu kommen diverse Erlebnisse auf Dresdens Straßen und in persönlichen Gesprächen, bei denen man in Dresden und Sachsen versucht zu verstehen, was denn eigentlich dort geschieht.3 „Ist Sachsen anders?“ fragten zum Jahresbeginn 2017 auch die Sächsischen Heimat-

1

Dieser Beitrag ist die geringfügig überarbeitete und erweiterte Fassung meines Jenaer Referats. Die Anmerkungen versuchen, die wichtigste Literatur anzuführen, die bestimmte Kontexte des aktuellen Nachdenkens über Heimat thematisiert. Diese Kontexte sind für das Verständnis meines Gegenstandes unverzichtbar, werden hier jedoch aus Platzgründen nur angedeutet, nicht ausgeführt.

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Der Verfasser war von 2013 bis 2016 Freier Mitarbeiter der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung im Projekt „Kommune im Dialog“ (K!D). In diesem Zusammenhang moderierte er etwa 70 Bürgerforen und -debatten; fast ausschließlich zum Thema „Asyl und Migration“.

3

Vgl. dazu nun auch das Dresdner Heft. Beiträge zur Kulturgeschichte mit dem Titel Wie die ‚BRD‘ nach Sachsen kam (= Dresdner Hefte 36 [2018], H. 133 [1/2018]).

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blätter4 – und ähnlich klingen die Titel diverser Podiumsdiskussionen in sächsischen Kommunen. Die hier angestellten Überlegungen sind also empirisch gesättigt, doch hoffentlich noch distanziert und reflektiert genug, um das Phänomen einer ‚Empörungsbewegung‘ wie PEGIDA5 oder die massive Abwehr unseres gesellschaftlichen und politischen Systems in breiten Kreisen der sächsischen, ja der ostdeutschen Bevölkerung insgesamt, angemessen zu deuten. Der Zufall wollte es, dass die NPD mit einem ihrer Plakate zur Bundestagswahl 2017 ein Stichwort für die folgenden Betrachtungen geliefert hat: „Heimat statt Zuwanderung“ lautete der Slogan, mit dem die Nationaldemokraten flächendeckend gerade in Mitteldeutschland warben. Bereits im Juli 2014 hatte die NPD-Fraktion im Sächsischen Landtag den gleichnamigen Antrag zur „Eindämmung“ der Zuwanderung eingereicht, der jedoch im freistaatlichen Landesparlament keine Mehrheit fand.

VORGESCHICHTEN Wer heute im Jahre 2017 über Heimat spricht und sich vor Ort für deren Erhalt und Ausgestaltung einsetzt, tut dies nicht allein in ganz aktuellen gesellschaftspolitischen Zusammenhängen, sondern auch vor einem bestimmten historischen Hintergrund.6 Vor 68 Jahren wurde die Charta der deutschen Heimatvertriebenen verabschiedet. Seit etwa 2000 existiert in der Bundesrepublik eine breite Debatte über das Schicksal der Vertriebenen sowie über die Frage, wie diese Nachkriegsgeschichten adäquat museal darzustellen seien. Diejenigen aber, die 4

Ist Sachsen anders? Nachdenken über Heimat und Identität, Demokratie und Politik [= Sonderausgabe der Sächsischen Heimatblätter, 1/2017].

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Dazu liegen einige wichtige, freilich recht unterschiedlich argumentierende Studien vor; vgl. Geiges, Lars/Marg, Stine/Walter, Franz (Hrsg.): Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft, Bielefeld 2015; Patzelt, Werner J./Klose, Joachim: Pegida. Warnsignale aus Dresden, Dresden 2016; Rehberg, Karl-Siegbert/Kunz, Franziska/Schlinzig, Tino (Hrsg.): Pegida. Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und „Wende“-Enttäuschung? Analysen im Überblick, Bielefeld 2016; Heim, Tino (Hrsg.): Pegida als Spiegel und Projektionsfläche. Wechselwirkungen und Abgrenzungen zwischen Pegida, Politik, Medien, Zivilgesellschaft und Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2017.

6

Vgl. auch Ulbricht, Justus H.: Heimat, ein Wort, ein Ort – zwischen Sehnsucht und Gefährdung, In: Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz e. V., 1 (2017), S. 27-35.

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Flucht und Vertreibung noch selbst erlebt haben, werden immer weniger. So fehlt unserer Gesellschaft künftig nicht nur ein bestimmter Erfahrungsschatz, sondern auch das Interesse an den alten Geschichten nimmt weiter ab. Hunderte sogenannte ‚Heimatstuben‘ verwaisen inzwischen, und man fragt sich, wohin die liebevoll über Jahrzehnte gesammelten Sachzeugen vergangener Vertreibungsgeschichten dann kommen sollen.7 Vor 28 Jahren wurde der Vereinigungsvertrag geschlossen, der aus zwei deutschen Staaten einen neuen Nationalstaat mit einer freilich oftmals nach wie vor geteilten Erinnerung gemacht hat.8 Die Frage, wie sich die – immer noch ‚neue Bundesbürger‘ genannten Deutschen – in diesem Staat fühlen, ist durch die Wiedervereinigung weder befriedigend beantwortet noch vom Tisch. 9 Viele Menschen in ‚Ostdeutschland‘ jedenfalls fühlen sich unbehaust, unzufrieden oder unverstanden, folglich nicht beheimatet im emphatischen Sinn des Wortes.10 Wohlgemerkt: Deprivations- und subjektive Entwertungserfahrungen sowie das Gefühl des ‚Abgehängtseins‘ legitimieren nicht die aggressive Abwehr ‚des Fremden‘ oder Formen von chronischem, undifferenziertem und manchmal sehr aggressivem Eliten- und Systemmisstrauen. Doch diese Gefühle bilden den Resonanzraum neuer gesellschaftlicher Erfahrungen mit Zuwanderung und Migration und werden im Übrigen von neuen und alten Rechten gezielt genutzt und politisch instrumentalisiert. Volker Weißʼ Buch Die autoritäre Revolte. Die

7

Dazu Fendl, Elisabeth: Mehr als Museen. Die (musealen) Sammlungen der deutschen Heimatvertriebenen, In: Volkskunde in Sachsen 26 (2014), S. 185-202.

8

Als kritische Bestandsaufnahme siehe: Sabrow, Martin/Eckart, Rainer/Flacke, Monika/Henke, Klaus-Dietmar (Hrsg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung. Dokumentation einer Debatte, Bonn 2007. Umfassend: Rudnick, Carola S.: Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik, Bielefeld 2011.

9

Vgl. die kritische Zwischenbilanz von Bahrmann, Hannes/Links, Christoph (Hrsg.): Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit – eine Zwischenbilanz, Berlin 2005.

10 Diese Einschätzungen sind je nach Generationszugehörigkeit zu differenzieren; vgl. Ahbe, Thomas/Gries, Rainer: Geschichte der Generationen in der DDR und in Ostdeutschland. Ein Panorama, Erfurt 2007.

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Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes11 könnte uns darüber ebenso informieren wie neuere Publikationen zum Populismus.12

HEIMAT UND WELT Freie und offene Gesellschaften wie unsere verlangen von ihren Bewohnern ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und Orientierungsfähigkeit in der „neuen Unübersichtlichkeit“13 der Verhältnisse. Wir leben schon längst in einer „Weltrisikogesellschaft“,14 also auf einem Planeten voll großer Unsicherheit. Eben deshalb haben in unserer auf den ersten Blick friedlichen, saturierten und sicheren deutschen Gesellschaft viele Menschen soziale Angst. 15 Dies trifft auch und gerade auf diejenigen Angehörigen der Mittelschicht zu, die genau wissen, was sie zu verlieren haben und die die soziale Fallhöhe in unserer Konkurrenzgesellschaft kennen. Wer hingegen schon ‚unten‘ ist oder sich am Rande der Gesellschaft fühlt, hat oft die Hoffnung verloren, da wieder herauszukommen. Die zunehmende, bis zur Verarmung führende Unsicherheit der Lebensverhältnisse (Prekariarität) im unteren Drittel des Arbeitsmarktes schafft ebenso wenig Vertrauen in die eigene Zukunft wie die Erfahrung, dass makroökonomische Prozesse von unseren politischen Eliten kaum mehr gesteuert werden können. Der Wiener Intellektuelle und Satiriker Karl Kraus hat einmal sarkastisch bemerkt, 11 Weiß, Volker: Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017. Vgl. auch Wagner, Thomas: Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten, Berlin 2017; Speit, Andreas: Bürgerliche Scharfmacher. Deutschlands neue rechte Mitte, Bonn 2017. 12 Populismus, ein freilich an den Rändern unscharfer Begriff, ist inzwischen ein europäisches Phänomen. Er gehört zu den Kontextbedingungen des neuen Heimatdiskurses, kann hier jedoch als eigenständige politisch-weltanschauliche Bewegung nicht expliziert werden. Dazu Zick, Andreas/Küpper, Beate: Wut – Verachtung – Abwertung. Rechtspopulismus in Deutschland, Bonn 2015; Müller, Jan-Werner: Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin 2016; Beigel, Thorsten/Eckert, Georg (Hrsg.): Populismus. Varianten von Volksherrschaft in Geschichte und Gegenwart, Münster 2017. 13 Habermas, Jürgen: Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien. In: Ders.: Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt a. M. 1985, S. 141-163. 14 Beck Ulrich: Weltrisikogesellschaft – Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Bonn 2007. 15 Ausgezeichnet dazu ist Bude, Heinz: Gesellschaft der Angst, Bonn 2015.

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Psychoanalyse sei die Krankheit, für deren Therapie sie sich halte. Ähnliches ließe sich auch für die Globalisierung konstatieren, die für bedeutend mehr Menschen eine Gefahr ist als für diejenigen, die sie als Chance nutzen können. Diese allgemeinen Einschätzungen entfalten in Regionen eine besondere emotionale und schließlich auch politische Virulenz, die nach 1989 einen radikalen Umbau sämtlicher Erwerbsstrukturen zu verkraften hatten. Vielen Managern dieses Umbaus war wohl zu wenig bewusst, dass auch der Verlust eines Betriebes, von dem man wusste, dass er nicht effektiv und erfolgreich produziert, oder den man nicht unbedingt besonders schätzte – dass also das Verschwinden des alten Arbeitsplatzes nach 1989 einen immensen Vertrautheitsverlust hervorgerufen hat. Denn in diesem Betrieb hatte man – nie bedroht von Arbeitslosigkeit – manchmal über Jahrzehnte gearbeitet und seine Lebenszeit verbracht. Der Betrieb hatte zudem die Kinderversorgung und das Ferienangebot geregelt, war ein Ort auch der ‚kleinen Fluchten‘ aus Mangelwirtschaft und politischer Zwangsbeglückung – und das ‚Kollektiv‘ fühlte sich oftmals wirklich so und war zudem der soziale Ort des kommunikativen Bearbeitens – sprich des Betriebsklatsches – mit dem man Mangel- und Deprivationserfahrungen, politische Enttäuschungen und Sehnsüchte besprechen konnte. Und ein im Rahmen der DDR-Wirtschaft durchaus erfolgreiches Unternehmen wurde offiziell ausgezeichnet, gewürdigt, von den politischen Kadern belobigt – kurzum: geschätzt.

ERLEBNIS UND ERINNERUNG DER TRANSFORMATION Die Erfahrungen mit der sogenannten „friedlichen Revolution“ sind je nach familiärer Lage, den eigenen Erlebnissen und den biographischen Prägungen höchst unterschiedlich. Und ebenso different sind die politischen Folgerungen, die man daraus zieht. Zugespitzt könnte man formulieren, dass wir heute – 28 Jahre nach der Wiedervereinigung – die soziale und politische Quittung bekommen für die Vorgänge der frühen 1990er Jahre. Damals wurden für die neuen Bundesbürger nahezu sämtliche Alltagsroutinen und bis dahin gültige Gewohnheiten entwertet, ebenso wie oftmals die gesamte Biographie. Vertraute, wenn auch nicht geliebte, DDR-Verhältnisse schwanden über Nacht. Demokratie wurde möglich und eingeführt – ging jedoch einher mit einer massiven sozialen De-

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stabilisierung. Die neue Freiheit kam auch als Markt – mit neuen Chancen, aber in aller Härte und mit unkalkulierbaren Risiken.16 Solche Erfahrungen überwintern gerade in den Familiengedächtnissen und werden dann revitalisiert, wenn aktuelle Erlebnisse im neuen System bedrohlichen, undurchschaubaren, vor allem aber einen nicht sicher kalkulierbaren Charakter annehmen. Dies trifft in besonderem Maße für die Flüchtlingsbewegungen der letzten Jahre sowie die Dauerkrisen des Kapital- und Geldmarktes zu. Zudem wirkt die Berliner Republik als weitgehend utopie- und visionslose Gesellschaft wenig inspirierend. Wir scheinen – alltagssprachlich ausgedrückt – ‚so vor uns hin zu wurschteln‘. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass die eher skeptischen, wenn nicht gar resignativen Rückblicke vieler Bürger auf die letzten 28 Jahre mit der Attitüde einer Mehrheit der politisch Verantwortlichen kollidieren, die die neue Berliner Republik und die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse der letzten drei Jahrzehnte nahezu ausschließlich als Erfolgsgeschichten preisen und allzu deutliche Kritik daran abweisen. Gerade die aktuellen Asyl-Debatten stellen in aller Schonungslosigkeit und Direktheit die Frage, inwieweit unser Gemeinwesen intern intakt ist, welche echten politischen und ökonomischen Partizipationsmöglichkeiten Bürger haben (oder erst einmal nur sehen) und wie Teile unsere Funktionseliten agieren und wahrgenommen werden. – Und sie stellen nicht zuletzt auch die Frage nach der Zukunft unserer heimatlichen Lebensverhältnisse.

„WIR IN SACHSEN…“ Unverzichtbar ist an dieser Stelle eine kurze Anmerkung zu bestimmten Formen regionaler Identität, nämlich zum viel beschworenen ‚Sachsen-Patriotismus‘. Dass man seine Stadt und Region mag, aus der man kommt, in die man hingezogen ist und in der man lebt, ist vollkommen in Ordnung – und dieses HeimatGefühl wird immer wichtiger in Gesellschaften, die faktisch viel unterwegs sind.17 Denn Heimat verheißt und bedeutet ja Zugehörigkeit, Vertrautheit, Si16 Vgl. zu diesen Erfahrungen und Themen das in Anm. 3 genannte Dresdner Heft, in dessen Beiträgen sich die wichtigste aktuelle Literatur zu den Facetten der Transformationserfahrungen und -prägungen seit 1989 finden lässt. 17 Vgl. die anregende Studie von Joisten, Karen: Einführung: Der Mensch als Heim-Weg und der Prozess des Verheimens. Ein kleiner Streifzug durch heimatliche Gefilde, In: Pöttering, Hans-Gert/Klose, Joachim (Hrsg.): Wir sind Heimat. Annäherungen an einen schwierigen Begriff, Sankt Augustin/Berlin 2012, S. 13-29.

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cherheit und ein alltägliches Wohlfühlen.18 Johann Gottfried Herder hat einmal gesagt: „Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss.“ Und ganz ähnlich formulierte Christian Morgenstern: „Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird.“ Je mehr Neubürger und Fremde jedoch in meiner Heimat leben, umso öfter werde ich mich wohl erklären müssen (und der andere sich auch). Und je mehr ich mich eigentlich entheimatet fühle, ohne weggezogen zu sein, also unbehaust in der eigenen Gesellschaft, umso engstirniger und engherziger kann der berühmte Satz buchstabiert werden: „So geht sächsisch!“ 19 Weltoffenheit und Neugier auf andere Kulturen schwinden dann recht schnell oder werden erst gar nicht eingeübt; sie bleiben ein Ideal in Festreden und Hochglanzprospekten, doch sind sie kaum oder mindestens zu wenig Realität im Alltag. Es geht wohlgemerkt nicht darum, ein ausgeprägtes sächsisches Selbstbewusstsein oder die Liebe zu diesem Land pauschal unter Verdacht zu stellen – im Gegenteil. Nur dürften wir aktuell in einer Situation sein, die uns zwingt, genauer zu bedenken und anderen zu vermitteln, wie ‚sächsisch‘ wirklich geht und wie offen wir gegenüber Gästen und Fremden sein müssen, ohne uns selbst zu verlieren. 20 Es geht also um einen kulturellen Lernprozess, in den wir selbstbewusst einbringen können, was wir schon erreicht haben und was wir in unserem Land unter den Bedingungen einer offenen Gesellschaft ohne Krieg sozial und politisch gelernt haben. Die immer noch vorhandene ‚Ostalgie‘ ist eine mögliche Antwort auf emotional-soziale Problemlagen im Umgang mit ‚dem Fremden’.21 Eine andere sind 18 Vgl. den einschlägigen Titel aus einer anderen Region: Meiners, Uwe (Hrsg.): Sehnsucht nach Geborgenheit. Heimatbewußtsein in Stadt und Land Oldenburg, Oldenburg 2002. 19 „So geht sächsisch“ ist ein Slogan des Landesmarketings in Sachsen; vgl. die Website https://www.so-geht-saechsisch.de/ 20 Vgl. als Denkanstoß Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen: Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007, S. 9-56. – Die Warnung vor dem Begriff „Heimat“ ist so alt wie die Debatte darüber. Vgl. die seinerzeit klassische Studie von von Bredow, Wilfried/Foltin, Hans-Friedrich: Zwiespältige Zufluchten. Zur Renaissance des Heimatgefühls, Berlin, Bonn 1981. 21 Knapp zur Ostalgie informiert Ahbe, Thomas: Ostalgie. Zum Umgang mit der DDRVergangenheit in den 1990er Jahren, Erfurt 2005. Vgl. auch Ludewig, Alexandra: ‚Ostalgie‘ und ‚Westalgie‘ als Ausdruck von Heimatsehnsüchten. Eine Reise in die Traumfabrik deutscher Filme, In: Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen

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die fremden- und islamfeindlichen Stimmungen22 in den ostdeutschen Regionen, leider auch in Sachsen.23 Sie sind jedoch auch ein Zeichen dafür, dass viele Menschen weder dem Projekt der Moderne, noch dem der deutschen Wiedervereinigung – und auch nicht der Demokratie – mehr trauen. Das Unbehagen an der Gegenwart, diffuse Ängste vor der Zukunft und mangelnde Erfahrungen mit anderen Kulturen gehen eine problematische emotionale und moralisch hoch aufgeladene Mischung ein24 und es entsteht dabei ein Bild „deutscher Heimat“, das „Andere“, „Fremde“ und „Muslime“ (von denen es in Ostdeutschland nur wenige gibt) rigoros ausgrenzt. Der Ton wird dann rauer,25 bis hin zur offenen Verachtung all derjenigen, die man „hier nicht haben will“. Das ermuntert aggressionsbereite Mitbürger und überzeugte Rechtsradikale ebenso wie bestimmte Politiker, deren Ideen zum Syndrom des Populismus gehören, der aktuell in mehreren Demokratien Europas – wie auch in den USA – politisches Kapital anhäuft. Seit nunmehr fast vier Jahrzehnten wandelt sich die Bundesrepublik zum Einwanderungsland26 mit einer multikulturellen Bevölkerung,27 deren emotionale und politische Bindungen bzw. Bindungssehnsüchte vollkommen heterogen sind. Das verändert überall in unserem Land nicht allein die konkreten Lebensumstände und Formen des Zusammenlebens, sondern auch das wissenschaftliche und öffentliche Nachdenken über Geschichte28 und Gesellschaft, Traditionen (Hrsg.): Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007, S. 141-160. 22 Eine streitbare Denkanregung dazu ist Bahners, Patrick: Die Panik-Macher. Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift, München 2011. 23 Versachlichend zum Thema Islam in Sachsen trägt bei das Buch von Hakenberg, Marie/Klemm, Verena (Hrsg.): Muslime in Sachsen. Geschichte, Fakten, Lebenswelten, Leipzig 2016. 24 Höchst anregend und den Blick klärend ist eine kleine Studie eines Philosophen zum Thema; vgl. Ott, Konrad: Zuwanderung und Moral, Stuttgart 2016. 25 Das scheint ein generelles Problem zu sein; vgl. die anregend-polemische Studie von Schindler, Jörg: Die Rüpel-Republik. Warum sind wir so unsozial? Frankfurt a. M. 2012. 26 Meier-Braun, Karl-Heinz: Deutschland, Einwanderungsland, Frankfurt a. M. 2002; Ders.: Einwanderung und Asyl. Wichtige Fragen, München 2015. 27 Der Begriff „Multikultur“ ist unterdessen in die Kritik geraten; man spricht nun von „Interkultur“. Dazu und zum neuen intercultural turn der Debatte vgl. Terkessidis, Mark: Interkultur, Bonn 2010. 28 Anregend dazu Georgi, Viola B./Ohlinger, Rainer (Hrsg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Bonn 2009.

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und stetige Veränderungen, über Herkunft, Heimat29 und andere Formen sozialer Zugehörigkeit. Wir sind dabei vor allem aufgefordert, der Hyperinflation des ‚Identitätssprechs‘ Einhalt zu gebieten,30 unsere Heimatpflege und -forschung im gesellschaftspolitischen Kontext von Ausländerfeindlichkeit und Migration zu diskutieren und uns ständig zu fragen, welche Traditionen wir wieder beleben oder an welche wir anknüpfen wollen, um die Identität und den Wert unserer Arbeit in und an der Heimat zu legitimieren. Engagiert ist jenen entgegenzutreten, die von Heimatschutz,31 Heimatliebe und Heimatpflege sprechen, dahinter jedoch ihre ultrakonservativen oder gar rechtsradikalen Ansichten verbergen. 32 Dass die Aufmerksamkeit für die eigene Heimat den Respekt gegenüber Fremden (die manchmal allerdings schon von Geburt aus unsere Landsleute sind) mit einschließt, sollte sich von selbst verstehen und wird in Reden gerne beschworen. Doch in vielen Gemeinden halten sich die Heimatvereine oftmals für nicht zuständig, wenn es um die Belange der Integration von Zugereisten, Heimatlosen oder Ausländern geht. Moderne Heimatpflege hat sich jedoch an einem inter- oder transkulturellen Dialog zu beteiligen, der das friedliche Zu29 Dazu Binder, Beate: Beheimatung statt Heimat: Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit, In: Seifert, Manfred (Hrsg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ‚Heimat‘ als Argument im Prozess der Moderne, Leipzig 2010, S. 189-204; Götz, Irene: Nationale und regionale Identitäten. Zur Bedeutung von territorialen Verortungen in der Zweiten Moderne, ebd., S. 205-218. 30 Vor einem inflationären, unpräzisen Gebrauch des Identitätsbegriffs warnte schon vor längerer Zeit Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000; vgl. auch die kritische Wertung des „Identitätswahns“ bei Meyer, Thomas: Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede, Frankfurt a. M. 2002.; Maalouf, Amin: Mörderische Identitäten, Frankfurt a. M. 2000; Sen, Amartya: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, München 32015. – Es ist wohl kein Zufall, dass eine neue Debatte über „Identität“ losbrach, als nach 1989 in Europa manche Mauern und Grenzen fielen. Das Wiedererstarken nationalistischer Diskurse in zahlreichen Gesellschaften gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang. 31 Der „Thüringer Heimatschutz“ ist bekanntlich eine rechtsradikale Organisation. 32 Die Identitäre Bewegung zeigt seit über zwei Jahren auf Demonstrationen ein Transparent mit der Aufschrift „Heimatverliebt. Die Identitären“. Auf PegidaDemonstrationen findet sich gehäuft das Schild „Heimatliebe ist kein Verbrechen“. In Teilen der ‚Linken‘ wiederum wird eine oft unaufgeklärte Distanz zum Heimatbegriff gepflegt, den man glaubt – aufgrund seiner in der Tat schwierigen Bedeutungsgeschichte – generell meiden und stigmatisieren zu müssen.

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sammenleben unterschiedlicher Menschen, differenter Ethnien und auf den ersten Blick fremder Kulturen in unserem Land garantieren könnte. Die Selbstmusealisierung unserer deutschen Geschichte allein leistet hier zu wenig. Damit rückt ein weiterer Aspekt in den Fokus der Aufmerksamkeit. Es existieren mannigfaltige Möglichkeiten, Heimat neu zu finden und zu entwerfen.33 Schon der konservatorische Erhalt des Althergebrachten im Brauchtum, in der Literatur, der Mundart, im Dorf- oder Stadtbild, in der Kulturlandschaft und gar in der Religion ist eine Konstruktion, denn im Festhalten entwirft man Bleibendes für eine Zukunft. Das aber bedeutet, dass die Bemühung um die Heimat gesellschaftspolitisch wach sein und sich politisch positionieren muss. Die fatale Politisierung der Heimat in vergangenen Epochen, besonders radikal im Dritten Reich,34 problematisch auch noch in der DDR, verleitet manchen dazu, Begriff und Sache der Heimat sowie die eigene Arbeit vollkommen zu entpolitisieren – zumindest rhetorisch und argumentativ. Doch einmal abgesehen davon, dass die meisten heutigen Heimatfreunde zugleich Staatsbürger und Zeitgenossen sind, folglich manifeste politische Interessen besitzen (das ist nichts Neues und zudem vollkommen legitim), darf man eines nicht vergessen: Unser Reden über Heimat muss – wie es in einem Essay von Thomas E. Schmidt heißt – „Leichtigkeit und Last des Herkommens“35 thematisieren, also jegliche falsche Idyllisierung meiden. Es muss lebensweltlich geerdet sein – auch und gerade für eine junge Generation, die mit dem Gebaren manches älteren Heimatfreundes oftmals zu Recht wenig anzufangen weiß. Heimat sei „eine Denkfigur des Innehaltens“, lesen wir als Schlusssatz in Thomas E. Schmidts bereits erwähnten Reflexionen,36 und dies verweist darauf, dass man mit dem Worte „Heimat“ eine Haltung der bewussten Entschleunigung bezeichnen kann, nach der sich viele Menschen sehnen. Nicht umsonst war Sten Nadolnys Roman Die Entdeckung der Langsamkeit37 vor einigen Jahren der Renner auf dem Buchmarkt. Nachhaltigkeit nennen andere den Versuch, der rasanten Beschleunigung des Warenverkehrs und der Vernutzung der Ressourcen auf Dauer zu begegnen und an uns die Frage zu stellen, was wir denn unseren 33 Vgl. Egger, Simone: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden, München 2014; sehr anregend ist auch Schlink, Bernhard: Heimat als Utopie, Frankfurt a. M. 2000. 34 Am Beispiel Westfalens vgl. Ditt, Karl: Raum und Volkstum. Die Kulturpolitik des Provinzialverbandes Westfalen 1923-1945, Münster 1988. 35 Schmidt, Thomas E.: Heimat. Leichtigkeit und Last des Herkommens, Berlin 1999. 36 Vgl. Schmidt, Heimat, S. 112. 37 Nadolny, Sten: Die Entdeckung der Langsamkeit, München 1983.

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Kindern von den Schätzen dieser Erde übriglassen wollen. 38 Vielfach und zunehmend ist Atemlosigkeit – real wie intellektuell – die Signatur einer Modernität, deren oftmals bewusstloses Funktionieren den Euphemismus ‚Globalisierung‘ trägt. Euphemismus – weil wir bisher weder die Menschenrechte noch die Gewinne erfolgreich globalisiert haben, aber recht gut die Vernichtung von Ressourcen, den Lifestyle des Westens, den Müll, miserable Arbeitsbedingungen, also Ausbeutung in jeder Hinsicht. Heimat stattdessen als nett zurechtgemachtes folkloristisches Interieur, sozusagen als Ofenbank mit Volksmusik – das wäre der Tod eines Engagements für das Heimatliche in und außer uns. Heimatideologie, Heimat als Kunstgewerbe und Folklorismus drohen auch heute noch reale Widersprüche zu überkleistern, statt sich kritisch in den Widersprüchen einzunisten und lebenswerte Alternativen zum „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ (wie Weber den Kapitalismus nannte) zu erfinden und zu erproben. Die Folklorisierung der Heimat, oft als Notanker wirtschaftlich rückständiger (oder sich rückständig fühlender) Gebiete offensiv betrieben und als Tourismusförderung geschönt, macht sicherlich Freude und tut keinem weh – in der Tat liegt dann dort ein Problem. Denn Heimatpflege ist kein defensives Geschäft (wenn auch oft in der Defensive), sondern meint bürgerschaftliches Engagement im demokratischen Streit von Meinungen und Interessen, und dies gegen die viel beschworenen Sachzwänge und deren Verwalter. Ein solches zivilgesellschaftliches Engagement in demokratischer Absicht hieß früher „Patriotismus“39 – auch dies ein vielfach missbrauchter Begriff. Aber wir sollten uns vielleicht doch einmal die Zeit nehmen, gemeinsam darüber zu streiten, ob wir den Begriff ‚Patriotismus‘ auf den Müllhaufen der Geschichte werfen wollen oder mit neuem, sozusagen bundesrepublikanischen Inhalt wieder beleben möchten.40 38 Vgl. dazu den Beitrag von Karsten Gäbler (Heimaten der Nachhaltigkeit) in diesem Band. 39 Interessant ist, dass nicht nur der Begriff „Heimat“, sondern auch der des „Patriotismus“ in den letzten Jahren wieder eine Konjunktur hat. Anregend ist hier Kronenberg, Volker: Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine weltoffene Nation, Wiesbaden 22006; vgl. auch Ders.: Patriotismus 2.0. Gemeinwohl und Bürgersinn in der Bundesrepublik Deutschland, München 2010; s. auch aus kluger konservativer Perspektive Lammert, Norbert (Hrsg.): Verfassung. Patriotismus. Leitkultur. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, Hamburg 2006. Vgl. auch Fuhr, Eckard: Wo wir uns finden. Die Berliner Republik als Vaterland, Berlin 2005. 40 Vgl. dazu den anregenden Band von Ruge, Undine/Morat, Daniel (Hrsg.): Deutschland denken. Beiträge für die reflektierte Republik, Wiesbaden 2005.

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In der berühmten Unzeitgemäßen Betrachtung Friedrich Nietzsches mit dem Titel Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben heißt es: „erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen.“41 Weniger pathetisch klingt dies beim Kulturhistoriker Bernd Hüppauf: „Entgegen einem verbreiteten Vorbehalt ist es notwendig zu betonen, dass Heimat durch ihre Konkretheit und Nähe einen Schutz vor Ausgrenzungen durch Stereotype und Etikettierungen bietet [...]. Wenn sich die Politik zum Agenten unhumaner Entwicklungen und vorgeblich alternativloser Gesetze, wie zum Beispiel denen der Globalisierung, macht, ermöglicht Heimat eine Distanz und Gegenposition. […] Nur wenn Heimat weder als Raum von Polis noch als Gegensatz zum Politischen verstanden wird, ist sie aus dem Ghetto der Nostalgiker und Ideologen befreit.“42 Es bleibt also wichtig „wo man hingehört“.43 In diesem Sinne hat Heimat Zukunft,44 wozu man jedoch den Begriff selbst erst einmal rehabilitieren muss,45 denn der problematische Schlagschatten der Vergangenheit reicht weit. Gerade in der „flüchtigen Moderne“46 aber bleibt Heimat „Suchbild und Suchbewegung“.47 Folglich versuchen viele Menschen, das „Verschwinden der Heimat“ 48 aufzuhalten – sei es in ihrer Umwelt oder in ihrem Innenleben. Dabei muss nun

41 Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (Unzeitgemäße Betrachtungen II). Kapitel 1, In: Ders.: Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino, Band 1, München 1988, S. 253. 42 Vgl. Hüppauf, Bernd: Heimat – die Wiederkehr eines verpönten Wortes. Ein Populärmythos im Zeitalter der Globalisierung, In: Gebhard.: Heimat, S. 109-140; hier 114. 43 Hofmeister, Klaus/Bauerochse, Lothar (Hrsg.): Wissen, wo man hingehört. Heimat als neues Lebensgefühl, Würzburg 2006. 44 Klose, Joachim/Lindner, Ralph (Hrsg.): Zukunft Heimat, Dresden 2012. 45 Ein Rehabilitierungshelfer könnte Christoph Türcke sein; vgl. Ders.: Heimat. Eine Rehabilitierung, Springe 2006. 46 Baumann, Zygmunt: Leben in der flüchtigen Moderne, Frankfurt a. M. 2007. 47 Liptay, Fabienne/Marschall, Susanne/Solbach, Andreas (Hrsg.): Heimat. Suchbild und Suchbewegung, Remscheid 2005. Dieser Sammelband versucht, Figurationen und Spuren des Heimatlichen in der Literatur und im Film dingfest zu machen und zum Sprechen zu bringen. 48 Hecht, Martin: Das Verschwinden der Heimat. Zur Gefühlslage der Nation, Leipzig 2000.

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kein „Deutschlandgefühl“49 aufkommen, denn es reicht, die begrifflichen, politischen, weltanschaulichen und psychologisch-emotionalen „Heimatschichten“50 bei sich und anderen offen zu legen. „Heimat gestern und heute“51 bleibt also eine Aufgabe, und dies Projekt widerspricht einer jüngst geäußerten Meinung, das Wort und die Sache „Heimat“ sei nicht positiv zu besetzen. Die „Funktionsweise“ dieses Begriffs ist „die der Ausgrenzung“.52 Solche eine Einschätzung wird zwar der problematischen Begriffs- und Verwendungsgeschichte von „Heimat“ ansatzweise gerecht, verfehlt aber den existentiellen Stellenwert von Heimat im Seelenhaushalt zahlreicher unserer Mitmenschen – ohne dass man diese umstandslos dem „reaktionären“ oder gar „faschistischen“ Lager zurechnen könnte. Ob es nicht auch eine „Linke Heimat“53 geben könnte, bleibt also auf der politischen Agenda (nicht nur der GRÜNEN) – dies zumal, weil eher rechts stehende Milieus und Parteien unserer Gesellschaft beharrlich versuchen, „Heimat“ für sich zu reklamieren. Einer, der seine letzte Heimat in einem Grab bei Schloss Gripsholm in Schweden gefunden hat, der freiwillig aus dem Leben schied, weil er sein erzwungenes Exil nicht überleben konnte, schrieb 1929 einen kleinen Text mit dem schlichten Titel Heimat. Dieser Kurt Tucholsky war – wie sein Vorfahr Heinrich Heine – um den Schlaf gebracht, wenn er an Deutschland dachte. Doch er träumte unverdrossen weiter: „Wer aber weiß, was die Musik der Berge ist, wer die tönen hören kann, wer den Rhythmus einer Landschaft spürt … nein, wer gar nichts spürt, als das er zu Hause ist; daß das sein Land ist, sein Berg, sein See, auch wenn er nicht einen Fuß des Bodens besitzt [der hat Heimat] […] es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik, und aus diesem Gefühl heraus 49 Mohr, Reinhard: Das Deutschlandgefühl. Eine Heimatkunde, Berlin 2005. 50 Klose, Joachim (Hrsg.): Heimatschichten. Anthropologische Grundlegung eines Weltverhältnisses, Wiesbaden 2013. 51 Costadura, Edoardo/Ries, Klaus (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016. 52 Vgl. den Artikel Das Fremde als Bedrohung mit dem Untertitel „Der sehr deutsche Begriff ‚Heimat‘ klingt harmlos. Doch progressiv besetzt werden kann er nicht. Seine Funktionsweise ist die der Ausgrenzung.“ So Patrick Gensing in der taz vom 07.11.2015. 53 Vgl. Saxer, Marc: Linke Heimat. Wie die Progressiven den Begriff Heimat für sich besetzen sollten, in: Internationale Politik und Gesellschaft, 05.03.2018. http://www.ipgjournal.de/schwerpunkt-des-monats/heimat/artikel/detail/linke-heimat-2614/ (05.07.2018).

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lieben wir dieses Land. […] Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen – wir fühlen international. In der Heimatliebe von niemand […]. Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir. Und in allen Gegensätzen steht – unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert – die stille Liebe zu unserer Heimat“.54

LITERATUR Ahbe, Thomas/Gries, Rainer: Geschichte der Generationen in der DDR und in Ostdeutschland. Ein Panorama, Erfurt 2007. Ahbe, Thomas: Ostalgie. Zum Umgang mit der DDR-Vergangenheit in den 1990er Jahren, Erfurt 2005. Bahners, Patrick: Die Panik-Macher. Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift, München 2011. Bahrmann, Hannes/Links, Christoph (Hrsg.): Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit – eine Zwischenbilanz, Berlin 2005. Baumann, Zygmunt: Leben in der flüchtigen Moderne, Frankfurt a. M. 2007. Beck, Ulrich: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Bonn 2007. Beigel, Thorsten/Eckert, Georg (Hrsg.): Populismus. Varianten von Volksherrschaft in Geschichte und Gegenwart, Münster 2017. Binder, Beate: Beheimatung statt Heimat: Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit, In: Seifert, Manfred (Hrsg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ‚Heimat‘ als Argument im Prozess der Moderne, Leipzig 2010, S. 189204. Bredow, Wilfried von/Foltin, Hans-Friedrich: Zwiespältige Zufluchten. Zur Renaissance des Heimatgefühls, Berlin, Bonn 1981. Bude, Heinz: Gesellschaft der Angst, Bonn 2015. Costadura, Edoardo/Ries, Klaus (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016. Ditt, Karl: Raum und Volkstum. Die Kulturpolitik des Provinzialverbandes Westfalen 1923-1945, Münster 1988. Egger, Simone: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden, München 2014.

54 Tucholsky, Kurt: Heimat, [1929], In: Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden, hrsg. v. Gerold-Tucholsky, Mary/Raddatz, Fritz J., Reinbek 1975, Band 7, S. 312-314.

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II. Hermeneutik der Weltbeziehung

Heimat als anverwandelter Weltausschnitt Ein resonanztheoretischer Versuch Hartmut Rosa

Im Folgenden möchte ich den Versuch unternehmen, ‚Heimat‘ aus der Perspektive der Resonanz-Theorie zu denken. Ich bin nämlich der Auffassung, dass beide Begriffe – Resonanz und Heimat – voneinander profitieren können. In meinem Buch1 habe ich immer wieder versucht, den Heimat-Begriff aufzunehmen, ohne eine für mich befriedigende Lösung zu finden. Deshalb freue ich mich über die Gelegenheit, diesen Versuch erneut zu wagen. Ich denke, dass man den Begriff ‚Heimat‘ umdeuten kann bzw. sollte, nicht zuletzt um das identitäre, harmonistische, mit dem Herkunftsmilieu verknüpfte Heimat-Verständnis zu überwinden. Man kann ‚Heimat‘ – so meine Annahme – als ein bestimmtes Weltverhältnis begreifen, als eine bestimmte Art und Weise, auf Welt Bezug zu nehmen. Daraus schöpft der Begriff seine Attraktivität – in politischer und anderer Hinsicht, und auch im medialen Diskurs. Heimat ist eine bestimmte Weise, in der Welt zu sein. Darin liegt meiner Ansicht nach die Grundidee von Heimat, und das möchte ich in drei Schritten vorführen. Zuerst möchte ich kurz erläutern, wie man dieses Weltverhältnis soziologisch untersuchen kann: Auf welche Weise nehmen Menschen Bezug auf die Welt bzw. wie sind sie in die Welt gestellt? Es handelt sich natürlich um eine phänomenologische Grundidee, die es zu konzeptualisieren gilt. In einem zweiten Schritt werde ich meine eigene Konzeption der ‚Resonanz‘ erläutern, aus der heraus ich meinen Heimatbegriff entwickeln möchte: Heimat ist demnach die Hoffnung oder das Versprechen, eine Resonanzbeziehung zur Welt einzugehen. Meistens wird diese Idee auf eine spezifische Weise missverstanden, derart nämlich, dass man 1

Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt a. M. 2016.

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sie harmonistisch auffasst, indem man also Resonanz als ‚Konsonanz‘ versteht und damit das positive Versprechen von ‚Heimat‘ – etwa in dem Sinne, wie es Ernst Bloch entwickelt hat – letztlich unterläuft. Deshalb möchte ich in einem dritten Schritt darlegen, warum die Idee von ‚Heimat‘ gerade in der Moderne entsteht und ein bestimmtes Versprechen birgt, das freilich in der Realität nie eingelöst wird – jedenfalls bisher noch nicht eingelöst worden ist. Zum Schluss werde ich einen Vorschlag machen, wie man es vielleicht doch einlösen könnte.

1. Die Ausgangsidee meiner Ausführungen, wie auch meines Resonanz-Buches, besteht in der Erkenntnis, dass Menschen immer schon auf eine Welt bezogen sind, dass sie in eine Welt hineingestellt oder „zur Welt sind“, wie das bei Merleau-Ponty heißt. Das ist gewissermaßen eine menschliche Grund- bzw. Urerfahrung, die möglicherweise die Entwicklung des Bewusstseins strukturiert. Sie besteht (so Merleau-Ponty) im Gefühl, dass „etwas da“, dass „etwas gegenwärtig“ ist.2 Wenn wir z.B. aufwachen oder wenn wir aus einer Ohnmacht wieder zu uns kommen, gibt es eine Phase, in der noch keine Klarheit über das ‚Ich‘ herrscht und auch nicht über das, was „da draußen ist“. Das ist nicht ein Gedanke, sondern eine Primärerfahrung. Da ist etwas! Und dieses „da ist etwas“ geht dem ‚Ich‘ und der Welt voraus. Daraus entwickeln sich dann sozusagen ontogenetisch ein erfahrendes Subjekt und eine erfahrene Welt. Wenn ich von Weltbeziehung rede, meine ich nicht eine Relation, innerhalb derer es einerseits das Subjekt und andererseits die Welt gibt, und sich dann die Frage stellt, wie die beiden aufeinander bezogen sind. Ich meine vielmehr, dass man es umgekehrt denken muss: Aus der Beziehung und in der Beziehung entsteht erst ein Subjekt und dann eine Welt, die in irgendeiner Weise wahrgenommen werden oder uns begegnen kann. Die Frage, die sich dann aus phänomenologischer Perspektive, aber auch beispielsweise bei Plessner stellt, ist: Was ist der Mensch? Was ist das Subjekt? Was ist das Bewusstsein? Was ist die Welt? Mein Anliegen ist es, diese Frage soziologisch zu wenden. Also zu fragen: Welche Differenzen gibt es in der Art dieser Weltbeziehung. Wenn man die Primärerfahrung so fasst: etwas ist da, etwas ist gegenwärtig; dann ist die spannende Frage: Wie ist dieses Etwas beschaffen? Ist es eine Bedrohung? „Oh! Da ist was!“ Oder ist es eine Verlockung? „Ah! Da ist was?!“ Wir kennen das alle. Und die Frage lautet: Wodurch wird diese Grundbezogenheit, diese Grundfigur des Bezogen-Seins, aus der heraus 2

Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, S. 209.

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wir zu Subjekten werden, beeinflusst? Wie ist ihre Qualität beschaffen? Als Bedrohung? Als Verlockung? Als Indifferenz? „Da ist was, aber es interessiert mich nicht“. Meine These lautet: Die Qualität dieser Beziehung hängt vom gesellschaftlichen Rahmen ab. So mag sie in christlichen Kulturkreisen anders als in fernöstlichen sein; in ländlichen Kontexten anders als in städtischen; vielleicht gestaltet sie sich für alte Menschen anders als für junge, vielleicht für Männer anders als für Frauen, etc. Solche Differenzen müssen überhaupt nicht biologisch gedacht werden, sondern sie können habituell sein. Mein Ansatz lässt sich demnach als Soziologie der Weltbeziehung umschreiben. Wie differenziert sich milieuspezifisch, geschlechterspezifisch, kulturell, die Art dessen, was „da ist“, aus? Welche Unterschiede lassen sich nachweisen? Ich stelle mir vor, dass in dieser Hinsicht auch die Sozialstruktur eine entscheidende Differenz ausmachen kann. Denn ein Faktor, der mich dabei interessiert, ist die Frage nach der „Weltreichweite“. Meine These lautet: Moderne Gesellschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass Menschen systematisch versuchen, ihre Reichweite über das, was da ist, über das, was als Welt erscheint, auszudehnen. Wenn man über viele ökonomische Mittel verfügt, hat man eine entsprechend große Weltreichweite. Wenn das Bankkonto überzogen ist, ist die Weltreichweite hingegen relativ klein – nicht nur die geografische, sondern auch die über die Dinge, die man unter Kontrolle bringen oder verfügbar machen kann. Es ist folglich anzunehmen, dass sich sozialstrukturell entsprechende Unterschiede ergeben in der Art und Weise des In-die-Welt-gestellt-Seins oder AufWelt-bezogen-Seins. Sobald sich Bewusstsein und Kommunikation entwickeln, gehen menschliche Wesen von der Grunderfahrung aus, dass etwas da ist, dass etwas gegenwärtig ist. Man kann jetzt untersuchen, wie sich die Beziehung zu diesem „Etwas“ entwickelt. Hierbei handelt es sich nicht in erster Linie um eine kognitive Beziehung. Die Weltbeziehung ist eben nicht ein Weltbild. Das Weltbild kommt erst in einem späteren Schritt. Bei dem, was uns als Welt begegnet, kann man drei verschiedene Formen, drei Modi der Beziehung unterscheiden – drei Modi der primären Bezugnahme auf das, was da oder gegenwärtig ist. Der erste ist der Modus der Indifferenz: Da ist etwas, aber ich sehe es gar nicht oder es interessiert mich nicht oder es bedeutet mir nichts. Vieles ist ständig gegenwärtig, aber wir entwickeln keine „gefärbte Qualität“ der Beziehung mit den Dingen. Wir sind in diesem Modus in eine Welt gestellt, die uns nichts angeht, die uns nichts sagt, die uns nicht anspricht. Der zweite Modus ist der Modus der Repulsion. Das, was da ist, ist gefährlich. Repulsion kann allerdings zwei Seiten haben:

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Entweder etwas bedroht mich (z.B. ein Tiger); 3 oder ich lehne etwas ab (z.B. einen Fremden). Das, was da ist, ist gefährlich oder aber ich lehne es ab. Da sind z.B. Fremde in meiner Heimat und die lehne ich ab, ich will sie da nicht haben. Das wäre ein repulsiver Modus der Weltbeziehung. Die Quelle der Repulsion kann also im Subjekt oder aber in der Welt sein. Der dritte ist dann sozusagen der attraktive Modus der Weltbeziehung, nämlich: „da ist etwas, das scheint mir interessant und attraktiv“. Dabei kommt ein Moment von intrinsischem Interesse, vielleicht sogar von Libido, ins Spiel. Das, was da ist, scheint attraktiv zu sein und könnte mich interessieren. Meine These lautet nun: Wenn man in eine Welt hineingestellt ist, auf die man dominant in den Grundmodi der Indifferenz oder der Repulsion bezogen ist, erzeugt dies ein Gefühl oder sogar eine Situation der Entfremdung. Indifferenz und Repulsion liegen relativ nah beieinander. „Das sagt mir gar nichts, damit kann ich gar nichts anfangen“ und „das bedroht mich, das ist mir zuwider“ gehen relativ schnell ineinander über. In meinem Buch habe ich beide Einstellungen unter dem Modus der Entfremdung gefasst (konzeptuell eine nicht leichte Entscheidung). Indifferenz und Repulsion sind für mich erst einmal das Gegenteil von Resonanz, weil Resonanz etwas ist, das entsteht, wenn ich auf eine positive, auf eine intrinsische Weise mit Welt verknüpft bin – wenn ein gewisses Moment von Attraktion ins Spiel kommt. Aber es ist eben nicht nur Attraktion oder nur Harmonie, sondern Resonanz, d.h. eine spezifische Weise des Auf-WeltBezogen-Seins, die man genauer betrachten muss. Entfremdung und Resonanz sind also zwei Gegenbegriffe. Wenn man nun Entfremdung, mit Rahel Jaeggi und Michael Theunissen, als eine Beziehung der Beziehungslosigkeit definiert, so muss man fragen: Was ist ein nicht entfremdetes Weltverhältnis? Was ist eine Beziehung der Beziehungen? Oder: Was ist eine bezogene Beziehung? Das ist meine Ausgangsfrage. Der Resonanz-Begriff ist meine Antwort auf diese Frage.

2. In der Diskussion, die sich aus der Publikation des Resonanz-Buches entwickelt hat, musste ich feststellen, dass der Begriff ‚Resonanz‘, zwei Fallen hat. Die eine 3

Ob ein Mensch glücklich ist, kann er laut Adorno dem Wind ablauschen (Adorno, Theodor: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 2003, S. 54). Wenn man nämlich nachts schläft und der Wind streift ums Haus, stellt sich die Frage, ob man sich geborgen in den Armen des Windes fühlt oder bedroht durch eine Kraft, die das Haus wegreißen will.

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besteht darin, dass man Resonanz einfach als Harmonie und Konsonanz versteht, ähnlich wie man auch den Heimat-Begriff harmonistisch deuten kann, bei dem man gleich identitäre Affekte mutmaßt. Das ist bedauerlich, weil die Diskussion dann immer an einer falschen Stelle beendet werden kann. Das andere Problem besteht darin, dass man jede Art von Wechselwirkung als Resonanz bezeichnet. Aktion-Reaktion sei schon Resonanz: Das meine ich aber auch nicht. Wenn mir ein Ziegel auf den Kopf fällt, hinterlässt er eindeutig einen Eindruck. Das ist eine Form der Weltbeziehung, aber das ist keine Resonanz-Beziehung. Deshalb muss man genau hinschauen und fragen: Was meint Resonanz als spezifische Form des In-der-Welt-Seins? Ich gehe nun davon aus, dass es vier Elemente sind, die eine ResonanzBeziehung definieren. Das erste Element einer Resonanzbeziehung besteht darin, dass mich etwas berührt oder bewegt oder ergreift, und zwar in dem Sinne, dass es für mich etwas bedeutet und mich anspricht. „Da ist etwas, das zu mir spricht“. Es spricht zu mir, oder es affiziert mich. ‚Affizieren‘ kommt von ‚afficere‘ und die Wurzel davon ist ‚adfacere‘ – etwas wird mir angetan, etwas berührt, ergreift bzw. bewegt mich. In diesem Sinne kennt jeder eine ResonanzErfahrung, wenn nämlich etwas – eine Melodie, ein Geruch, ein Gedanke – uns plötzlich irgendwie affiziert. Das reicht aber per se noch nicht hin. Das zweite Moment besteht darin, dass wir darauf antworten. Das tun wir übrigens schon leiblich. In dem Moment, wo uns eine Idee oder ein Mensch oder eine Melodie oder ein Baum oder ein Geruch anspricht, reagieren wir darauf leiblich, vielleicht mit einer Gänsehaut, vielleicht mit Tränen in den Augen, vielleicht mit erhöhtem Pulsschlag, aber es ist fast immer eine leibliche Reaktion dabei. Der Begriff ‚Emotion‘ kommt von ‚emovere‘: Wir bewegen uns nach außen, wir gehen auf die Welt zu. Entscheidend für das ‚Resonanz‘-Moment ist, dass es zu einer zweiseitigen Bewegung kommt. Es wird eine Beziehung hergestellt, die dynamisch ist. Ich gehe auf die andere Seite zu. Am besten ist dieser Emotionsbegriff über das auf den Psychologen Bandura zurückgehende Konzept der Selbstwirksamkeit zu fassen.4 Resonanz ist nicht einfach ein passives Berührtoder Angesprochen-Werden, sondern auch ein aktives Entgegengehen. Ich erreiche auch die andere Seite. Ich kann etwas damit machen. Ich kann die Melodie verarbeiten; vielleicht singe ich sie mit oder ich fange an, mitzuklopfen. Schon die Annahme, Musikhören sei nur passiv, ist völlig falsch. Selbst wenn ich Musik höre, erfahre ich eine gewisse Form von Selbstwirksamkeit, weil ich eine

4

Vgl. Bandura, Albert: Self-Efficacy: Toward a Unifying Theory of Behavioral Change, In: Psychological Review 84 (1977), S. 191-215.

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Melodie nur erkenne, wenn ich gleichzeitig Retention und Protention5 erzeuge. Ich höre das, was schon verklungen ist und greife auf das, was noch kommt voraus. Vielleicht fange ich an, den Rhythmus mitzuklopfen, und wenn ich aus dem Konzertsaal gehe, singt es in mir weiter. An dieser Stelle entsteht ein Moment von Selbstwirksamkeit, obgleich es noch relativ vage ist. Resonanz bei einem Vortrag oder Aufsatz entsteht übrigens da, wo man sich nicht mehr zwingen muss zuzuhören oder weiterzulesen, wo man plötzlich merkt: „das ist interessant, was gesagt wird, das bringt mich auf eine Idee“. Dann fange ich an, selber zu denken. Das ist „Selbstwirksamkeit“. Da, wo sich Resonanz ereignet (vielleicht auch auf einer Tagung), erfolgt sodann immer eine Transformationswirkung. Dies ist das dritte Element einer Resonanzbeziehung. Wenn uns etwas wirklich berührt oder ergreift oder bewegt und wir darauf selbstwirksam antworten, verändern wir uns dadurch, zumindest ein wenig. In der Soziologie kann man das gut ersehen, beispielsweise aus der Biografie-Forschung. In ihren biografischen Interviews berichten fast alle Menschen von entscheidenden Resonanzerfahrungen. Sie sagen etwa: „Da ist mir dieser Mensch (oder dieses Buch) begegnet“; oder: „ich habe diese Erfahrung gemacht im Ausland“. Und oft fügen sie dann hinzu: „das hat etwas mit mir gemacht“. Die Geschichte endet immer damit, dass sie sagen: „danach war ich irgendwie ein anderer oder eine andere“. Das kann manchmal dramatisch sein: In erzählten Biografien ist es häufig so, dass man Wendepunkte erzählt. Es kann aber auch etwas Kleines sein. Wenn man ein Buch liest, mit dem man in irgendeiner Form in Resonanz tritt, denkt man hinterher ein wenig anders, z.B. über Heimat. Wenn unsere Heimat-Tagung Resonanzmomente erzeugt, denken wir hinterher ein bisschen anders über ‚Heimat‘, als wir das vorher getan haben. Wenn wir hinterher ganz genau das Gleiche denken wie vor der Tagung, dann haben wir keine Resonanz erfahren. Deshalb scheint mir der Resonanz-Begriff auch Potenzial für den Heimatdiskurs zu haben. Ich glaube nämlich, dass uns das Resonanzkonzept hilft, aus der Dichotomie von Identität und Differenz auszubrechen. Es gibt einerseits die Identitätstheorien, für die das Fremde letzten Endes immer ein Problem bleibt, es sei denn, es wird nostrifiziert. Auf der anderen Seite betont das „Differenzdenken“ stets die Unaufhebbarkeit der Differenz, was in gewisser Weise auch richtig ist. Resonanz ist gar nicht möglich, wenn das Differente nicht different bleibt. Dennoch kann das Identitäre nur durch Brückenbauen verändert werden. Resonanzerfahrungen setzen voraus, dass man nicht der bleibt, der man war. Und das 5

Vgl. Husserl, Edmund: Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, hrsg. v. Rudolf Bernet, Hamburg 1985.

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würde ich gerne allen, die an Heimat hängen und Heimat verteidigen wollen, mit auf den Weg geben. Wenn sie denken, dass sie einen irgendwie geformten Raum einfach abschließen und dann für immer bleiben können, was sie waren, dann verlieren sie Heimat. Jedenfalls dann, wenn Heimat Resonanzqualität haben soll. Wenn man einem anderen, einem unaufhebbar anderen, begegnet, das mit einer anderen Stimme spricht, und man mit einer eigenen Stimme darauf antwortet, hat dies zur Folge, dass man nicht seine eigene Stimme verliert und seine eigene Identität aufgibt, sondern dass sie transformiert werden. Dasselbe gilt für die andere Seite. Wenn die andere Seite ein Berg ist, stellt sich die zweifelsohne schwierige Frage, ob der Berg auch reagiert. Sicher ist zumindest, dass das, was der Berg für mich ist, sich dabei verändert. Wenn ich mit einem Berg in Resonanz trete, ist er hinterher in meiner Wahrnehmung nicht mehr der gleiche, wie er ursprünglich war. Das vierte Element schließlich ist ein unaufhebbares Moment der Unverfügbarkeit, was mir auch für den Heimat-Diskurs relevant zu sein scheint. Unverfügbarkeit bedeutet, dass man Resonanz nicht erzwingen kann. Ganz gleich, was man tut, kann man nicht sicherstellen, dass sich Resonanz ereignet – im Dialog, in der Liebe, im Musikhören. Wir können „dispositional“ versuchen, eine Haltung einzunehmen, in der wir uns erreichen lassen und antworten. Wir haben in der Regel so etwas wie Resonanz-Achsen. Für mich persönlich ist Musik eine solche Achse, die es mir immer wieder ermöglicht, ein Moment der Berührung und des Antwortens zu erfahren. Andere Achsen können beispielsweise die Religion oder die Natur sein. Sie verlaufen individuell unterschiedlich. Selbst wenn wir uns darauf einigen, dass für viele Musik eine Resonanz-Achse ist, ist es für den einen Wagner, für den zweiten Schönberg, für den dritten Metallica oder Alligatoah. Die Resonanz-Achsen verlaufen also immer anders und können mehr oder weniger stabilisiert werden. Das Zustandekommen von Resonanz ist aber dadurch nicht garantiert. Sie können Wagner-Fan sein und teure Karten für Bayreuth kaufen. Sie kommen endlich in Bayreuth an und ausgerechnet an dem Tag ist Ihnen übel. Sie haben Streit im Büro oder mit dem Ehepartner, und es passiert in und mit Ihnen gar nichts, obwohl Sie sich gerne davon überzeugen möchten, dass Sie doch etwas Außergewöhnliches erfahren haben. Unverfügbarkeit von Resonanz bedeutet, dass sie sich nicht instrumentell herstellen oder erzwingen lässt. Und wenn sie sich ereignet, kann man nicht vorhersehen, was dabei herauskommt. Das ist für mich entscheidend, weil sich auf dieser Grundlage ein Differenzkriterium zur kapitalistischen Moderne konstruieren lässt, insofern als alle Formen der Optimierung, der Qualitätskontrolle und der Qualitätssteigerung immer darauf angelegt sind, sicher zu stellen, dass man genau weiß, was herauskommt. Wissen-

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schaft ist ein sehr gutes Beispiel dafür. Bei einem wissenschaftlichen Vorhaben wie beispielsweise einer Resonanz-Theorie kann man nicht im Vorhinein sagen, ob und was und wie und wann etwas dabei herauskommt. Es kann sein, dass ich mich zehn Jahre umsonst abmühe, oder ich komme zu einem Ergebnis, das eine ganz andere Form hat als das, was ich angenommen habe. Die Logik der Drittmittelforschung legt hingegen fest bzw. verlangt, dass ich genau sage, in welchen Schritten, mit welchem Forschungsdesign, in welchen Zeitabschnitten ich welche Art von Ergebnissen produziere. Das ist ein Versuch, Verfügbarkeit herzustellen. Nicht nur in Bezug auf die Dauer des Projekts, sondern auch in Bezug auf die Erkenntnisse. Man kann diese Problemdiagnose auch auf den Schulunterricht anwenden. Ich kann Kompetenzen einigermaßen zielgerichtet vermitteln, vielleicht optimieren und kann sagen, ich brauche drei Wochen, dann können die Schüler etwas Bestimmtes. Aber wenn die Schüler mit irgendeinem Unterrichtsstoff in Resonanz treten, z. B. mit einem Gedicht, kann ich nicht vorher wissen, was sie aus dem Gedicht machen. Das Ergebnis von Resonanz-Prozessen gehört zu den Momenten der Unverfügbarkeit. Das sind also die vier Grundmomente der Resonanzbeziehung: erstens Affizierung (etwas berührt mich); zweitens Emotion (ich erfahre mich als selbstwirksam antwortend); drittens ich verwandle mich und die Gegenseite verwandelt sich auch, zumindest insofern, als sie Teil meiner erfahrenen Welt ist. Und viertens, dieser Prozess hat zwei Punkte der Unverfügbarkeit: Ich kann nicht garantieren, dass Resonanz eintritt und ich weiß nicht, was dabei entsteht. Davon ausgehend kann man noch einige weitere Überlegungen anstellen. Damit Menschen überhaupt resonanzfähig werden, brauchen sie zweierlei – und auch das ist für den Heimat-Diskurs von Relevanz. Sie müssen zum einen offen genug sein, um überhaupt einem anderen begegnen zu können, um sich affizieren oder ‚anrufen‘ zu lassen. In Zusammenhang mit der so genannten Flüchtlingsdiskussion hört man häufig, insbesondere bei den Menschen, die große Bedenken haben, Sätze wie: „Ja, wenn wir eine Million Flüchtlinge ins Land lassen, dann müssen wir uns ja ändern.“ Und da möchte ich sagen: ja klar! Genau das müssen wir! Das ist die Idee des Lebendig-Bleibens, des Resonanz-Fähig-Seins. Man kann das übrigens anhand von Instrumenten deutlich machen, weil Resonanz ein Begriff aus der Akustik ist. Nehmen wir zwei Klangkörper, z.B. eine Gitarre und eine Geige. Da kann man sehr schön sehen, dass Resonanz-Fähigkeit zwei Dinge voraussetzt: das erste ist, der Gegenstand muss irgendwie offen sein, damit er zum Klingen gebracht werden, damit er affiziert werden kann. Wenn man die Gitarre oder die Geige völlig verschließt, klingt der Körper nicht. Wenn er aber völlig offen ist, weil er porös ist, z.B. aus Styropor, klingt er auch nicht. Resonanz-Fähigkeit stellt sich genau dann ein, wenn eine prekäre Balance zwischen

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Offenheit und Geschlossenheit hergestellt ist. Die zweite Grundvoraussetzung, um resonanzfähig zu sein, nenne ich eine eigene Stimme entwickeln. Es geht also nicht einfach darum, dem anderen, das andrängt, ausgeliefert zu sein, sondern antworten zu können in einer Form, die transformiert. Jetzt kann man noch eine weitere Reihe von Bedingungen – auch das ist womöglich interessant für den Heimat-Diskurs – angeben, unter denen Menschen resonanzfähig sind. Natürlich gibt es z.B. rein physische Voraussetzungen. Autismus – so hat man lange Zeit gedacht – ist eine Form der nicht vorhandenen, der behinderten oder verhinderten emotionalen Resonanz-Fähigkeit. Empathische Zuwendung wird problematisch interpretiert und mit Repulsion beantwortet. Inzwischen gibt es aber auch Gegenthesen, die besagen, dass es sich eher um eine Übersensibilität handelt, um eine Abwehrstrategie gegen eine zu starke Berührung. Wenn Sie zu offen sind und sich von allem affizieren lassen, wird das auch zu einem Problem. Möglicherweise gibt es also neuronale Voraussetzungen, um Resonanz-Fähigkeit zu entwickeln. Es gibt gewiss auch psychische Voraussetzungen. Wenn Menschen die Erfahrung gemacht haben, dass ‚berühren‘ ‚verletzen‘ heißt und dadurch traumatisiert worden sind, dann antworten sie mit Schließung. „Bloß nicht!“ Auf gar keinen Fall will ich berührt oder affiziert werden. Vermutlich gibt es aber auch räumliche Bedingungen für ResonanzFähigkeit. Hier kommt die Natur ins Spiel. Es gibt so gut wie keine seriösen Untersuchungen darüber, ob Naturräume, z. B. Wasser, die soziale und die psychische Resonanz-Fähigkeit erhöhen können. Hier ist Vorsicht geboten. Man kann sehr schnell in den Bereich der Esoterik abdriften und spekulativ werden. Dennoch kann man zumindest behaupten, dass gewisse bauliche und räumliche Kontexte, bedingt durch kulturelle Dispositionen, möglicherweise resonanzförderlicher sind als andere. Und schließlich steht meines Erachtens außer Zweifel, dass es bestimmte zeitliche Voraussetzungen gibt, damit Resonanz eintreten kann. Zeitdruck ist etwas, das eine dispositionale Resonanzorientierung verhindert. Wenn ich schnell ein Ziel erreichen muss, schnell vom Bahnhof zur Universität rennen muss, hat dies zur Folge, dass ich mit nichts und niemandem in Resonanz treten kann und will. Ich möchte eben nicht von einem schönen Bild oder dem Vogelgezwitscher oder von dem Obdachlosen auf der Straße aufgehalten werden. An dieser Stelle ist es mir wichtig festzuhalten, dass ich nicht behaupte, die Welt solle in allen Hinsichten resonant sein oder eine gute Gesellschaft befinde sich immer in Resonanz mit irgendwas. Es ist gerade umgekehrt: Jede Kulturleistung – nicht nur die Kulturleistung der Moderne – beruht darauf, dass die Menschen den Resonanz-Modus, in dem sie sich von Kind an befinden, unter-

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brechen können, dass sie die Fähigkeit zur Verdinglichung haben, zur Ausbildung eines instrumentellen Verhältnisses zu Welt. Das ist die eigentliche Kulturleistung! Deshalb wäre es abwegig zu verlangen, dass alle und überall in Resonanz sind. Problematisch wird es aber dort, wo wir dispositional, das heißt sozusagen im ‚Default Mode‘ der Weltbeziehung, an die Welt stets in einem Verdinglichungsmodus herantreten, wenn die Welt uns grundsätzlich als Punkt der Aggression erscheint, den es wissenschaftlich zu wissen, technisch zu beherrschen, politisch zu regulieren, ökonomisch verfügbar zu machen gilt. Instrumentelle Weltverhältnisse oder Zeitdruck zwingen uns in einen solchen Modus, der Resonanz unwahrscheinlich macht. So auch Konkurrenzdruck. In dem Moment, in dem ich mit Ihnen konkurriere, kann ich nicht mit Ihnen in Resonanz treten. Ich kann mit Menschen entweder „resonieren“ oder konkurrieren. Wie ist es aber im Sport? Da kann ich konkurrieren und resonieren. Selbst als Boxer, gerade als Boxer. Fußball erzeugt ebenfalls gleichzeitig ein Konkurrenz- und Resonanzverhältnis. Solche Formen von Resonanz sind nur möglich, wenn bzw. weil der Kontext bzw. der Resonanzraum das Spiel ist. Da, wo der Hintergrund Spiel ist, können Resonanz und Konkurrenz sich neben- und miteinander entwickeln. Denn das Spiel trägt den Zweck in sich, es hat selbst gerade keinen instrumentellen Charakter. Aber da, wo dieser Spielkontext fehlt und ich mit Menschen nur konkurriere, kommt keine Resonanz zustande. Und schließlich ist Angst grundsätzlich ein Resonanz-Verhinderer. In dem Moment, in dem ich Angst habe, schließe ich mich. Ich will Affizierung vermeiden, ich will mit dem anderen nicht in Resonanz treten, sondern ihm meine Bedingungen aufzwingen. Ich interpretiere die gegenwärtige politische Tendenz, Mauern und Zäune, Selbstschussanlagen oder andere Festungen zu bauen, als Ausdruck und Folge eines prekärisierten Weltverhältnisses, das von Angst dominiert ist. Auch das hat etwas mit Heimat zu tun. Wer ausschließt und wegschließt, will sich nicht affizieren lassen von dem Anderen. Ich vermute, dass solche Abwehrmechanismen hauptsächlich dann eingesetzt werden, wenn man der eigenen Stimme nicht traut, wenn das Vertrauen, dass man mit eigener Stimme auf die Welt antworten kann, verloren gegangen ist. Eine Resonanzerfahrung ist eben keine Echo-Erfahrung. Wenn ich nur das Gleiche bzw. das Eigene nochmal höre, erfahre ich keine Resonanz. Resonanz bedeutet: Da spricht etwas mit eigener Stimme zu mir, was ein Anderes ist, und nicht: ich verstärke meine eigene Stimme. Ein stark erscheinender Einwand gegen die Resonanz-Theorie ist der Verweis auf die Nationalsozialisten. Sie waren vielleicht, wie es einmal jemand mir gegenüber formuliert hat, „Resonanz-Weltmeister“. Haben sie mit ihren Liedern, mit den Fahnen, den Uniformen und den Fackeln, und auch mit den von ihnen

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transportierten Ideen nicht einen gewaltigen Resonanz-Raum erzeugt? Vor dem Hintergrund der Nürnberger Reichsparteitage bekommt das Wort ‚Resonanz‘ einen unheimlichen Beiklang. Das ist tatsächlich ein Problem. Ich bin allerdings der Auffassung, dass die Nazis nicht Resonanz erzeugten, weil sie alles, was anders war, nicht hören und mithin unhörbar machen wollten. Ich sehe in dieser Hinsicht durchaus Parallelen zu Trump und Pegida: „Der Islam gehört nicht hierher, die Schwarzen wollen wir nicht, usw.“. Wenn aber das Andere stumm gemacht wird, hat dies zur Folge, dass auch die eigene Stimme nicht mehr hörbar wird.6 Sie wird nicht als individuelle Stimme hörbar. Anstelle der eigenen Stimme ist nur noch Eines, nur noch eine identitäre Stimme innerhalb eines gewaltigen Echo-Raums hörbar. Das ist überhaupt keine Resonanz, wie ich sie verstehe. Resonanz sind zwei Stimmen, die miteinander so in Kontakt treten, dass sie sich transformieren. Dieses transformative Moment kommt nicht zustande, wenn man Heimat identitär oder harmonistisch denkt. Die Resonanz-Idee zeigt vielmehr einen Weg auf, wie man Identitäten einerseits als Ausgangspunkt anerkennen, andererseits aber als transformationsoffen denken kann. Ich nehme schließlich an, dass es drei Dimensionen der Resonanz-Beziehung gibt. Auch das scheint mir wichtig für den Heimat-Diskurs. Zum einen gibt es die horizontale Dimension, das heißt konkret die Resonanzbeziehung zwischen Menschen. Die Moderne hat die Tendenz, Resonanz nur zwischen Menschen zu denken: Das einzig Antwortende, das was wirklich antwortet und sich mittransformiert, sind andere Menschen, denen ich begegne, z.B. in Liebe. Die Moderne denkt Liebesbeziehungen nicht als ökonomische oder sonstige Nutzenverhältnisse oder Abhängigkeitsverhältnisse, sondern als Resonanzbeziehungen. Es sollen zwei Stimmen sein, wie es bei Rilke heißt: „aus zwei Saiten eine Stimme ziehen“. Dasselbe gilt für Eltern-Kind-Verhältnisse. Die Kinder sollen nicht ökonomisch genutzt oder disziplinarisch abgerichtet werden, sondern man will ihre Stimme rein entfalten, indem man ihnen einen Resonanzboden bietet. Das ist eine dominante moderne Idee (ob das immer so umgesetzt wird, ist natürlich eine andere Frage). Auch Freundschaftsbeziehungen denken wir uns auf diese Art. Die Resonanz-Theorie ermöglicht damit auch eine Differenzierung zwischen Freundschaft und Bekanntschaft. Mit Freunden will ich in Resonanz treten, weil sie, anders als Bekannte, natürlich auch widersprechen sollen: Ich will mich von ihnen berühren lassen, sogar im Innersten, und transformieren. Der Freund oder die Freundin sollen mir sagen, was ihnen an mir nicht passt oder was ihnen auf6

Eine ganz ähnliche Deutung schlägt auch Erich Fromm vor, vgl. Die Furcht vor der Freiheit, In: Ders.: Gesamtausgabe Bd. 1: Analytische Sozialpsychologie, München 1999, S. 217-394.

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fällt. Ich möchte in ihnen einen Widerpart finden. Streit und Widerspruch gehören essenziel zur Resonanz. Insofern ist auch die moderne Demokratie-Idee eigentlich eine Resonanz-Konzeption. Demokratie gibt jedem von uns eine Stimme, nicht mit der Vorstellung, dass wir sie abgeben und dann für die nächsten vier Jahre vergessen, sondern mit dem Versprechen, dass wir sie hörbar machen können, sodass wir mit den anderen Stimmen in einen Austausch treten und uns dabei auf ein Gemeinsames hin transformieren können. Die horizontale Resonanz-Achse ist also die zwischen Subjekten: sie umfasst die Sphären Liebe, Freundschaft, Politik und Erziehung. Wir können aber auch zu Dingen in Resonanz treten, von Dingen angesprochen werden. Ich bezeichne dies als diagonale Resonanz. Es gibt unendlich viele poetische und philosophische Entwürfe, die die Möglichkeit und Erfahrbarkeit eines resonanten Dingverhältnisses postulieren: „schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort“ (Eichendorff); oder: „die Dinge singen, hör’ ich so gern“ (Rilke); oder: „die Dinge beobachten uns“ (Merleau-Ponty); bei Sartre (im Ekel) bildet der Protagonist mit Steinen, Wurzeln, etc. eine Art von innerer Beziehung aus, die durchaus nicht immer angenehm, sondern auch irritierend, ekelerregend und widersprechend sein kann. Es ist aber nicht eine Beziehung der Beziehungslosigkeit, sondern eine „bezogene Beziehung“. In diesem Zusammenhang scheint es mir wichtig, dass auch und vor allem die Arbeit diagonale Resonanz stiftet. Marx würde sagen: Wir gewinnen unser Weltverhältnis, indem wir uns an einem widerspenstigen, widerständigen Andern abarbeiten, und dieses Andere spricht mit eigener Stimme. Wenn mein Vater, der Bäcker war, über einen Teig spricht, beschreibt er eine solche diagonale Resonanzbeziehung. Dabei sind beide Seiten der Selbstwirksamkeit deutlich sichtbar: Als Bäcker habe ich einen Einfluss darauf, wie das Brot herauskommt, aber es entzieht sich auch immer etwas; der Teig ist irgendwie eigensinnig, man muss ihm genug Zeit geben und ihn „gehen lassen“. Das Brot kommt jedes Mal anders aus dem Ofen. Freilich nicht, wenn ich computerisiert backe (aber da wird auch die Resonanzqualität unterlaufen). Ich dachte lange Zeit, das sei nur bei Bäckern der Fall, bis ich Schreiner über das Holz – über die Maserung, über den eigensinnigen Charakter des Holzes7 –, und Gärtner über Pflanzen und Frisöre über Frisuren oder Programmiererinnen über Programmcodes habe sprechen hören. Allen ist die Erfahrung der Widerständigkeit der Materie gemeinsam. Auch für uns, die wir mit Worten arbeiten, ist der Text ein widerständiges Material. Der Text sagt immer etwas Anderes als das, was wir 7

Richard Sennetts Handwerksbuch liefert dafür anschauliche Beispiele. Vgl. Sennett, Richard: Handwerk, Berlin 2008.

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eigentlich sagen wollten. Deshalb ist Schreiben ein so schwieriger Prozess: weil immer ein Moment der Unverfügbarkeit eintritt. Wir setzen uns hin und wollen schreiben und wir stellen fest, dass der Text seine eigene Sprache spricht. Wenn ich dann endlich fertig bin, steht irgendein Misch-Ding zwischen dem Text und mir selbst auf dem Papier – und ich denke beispielsweise anders über Resonanz, als bevor ich das Buch geschrieben habe. Diagonale Resonanzbeziehungen beschreiben also Resonanzen zu den Dingen, zum Raum, zum materiell Widerständigen. Drittens gibt es das, was ich vertikale Resonanz nenne. Wenn man vom ‚in der Welt-Sein‘ spricht oder (mit Merleau-Ponty) von der Erfahrung, dass etwas gegenwärtig ist, geht es letztlich um den Sinn für das Ganze. In diesem Zusammenhang finde ich Karl Jaspers Begriff des „Umgreifenden“ sehr hilfreich. Wie ist meine Beziehung zur umgreifenden Realität beschaffen? Welche Beziehung habe ich zum Leben? Oder zur Welt? Oder zur Wirklichkeit? Oder zur Geschichte? Oder zur Natur? Menschen in allen Kulturräumen suchen eine existenzielle Vergewisserung ihrer Beziehung zur umgreifenden oder letzten Realität. Man kann dies mit Martin Buber als die Frage formulieren:8 Was liegt an der Wurzel unserer Existenz oder unseres In-der-Welt-Seins? An diesem Punkt steht man an der Schwelle zu religiösen Fragestellungen. Soziologisch betrachtet vermittelt Religion die Idee, dass an der Wurzel unserer Existenz ein Resonanzverhältnis liegt. Da ist einer, der hört und sieht uns. Er hat – wie es in Kirchenliedern heißt – an uns gedacht noch bevor wir da waren. Er hat uns bei unserem Namen gerufen oder uns den Lebensatem eingehaucht. Religion – die christliche Religion, aber auch das Judentum oder der Islam – formuliert die Idee, dass wir im Grunde unseres Daseins in einer Resonanzbeziehung stehen mit einem Anderen, das übrigens unverfügbar ist. Denn in dem Moment, in dem wir glauben zu wissen, was Gott sagt, scheitert alle Resonanz. Wie Bruno Latour es einmal formuliert hat: Die Basis religiöser Erfahrungen besteht darin, dass wir berührbar sind und dadurch verwandelt werden können.9 Darin und dadurch fühlen wir uns lebendig. Aber in dem Moment, wo ich Religion definiere und Dogmen oder Glaubens-Sätze formuliere, versagt (so Latour) die religiöse Erfahrung. Anders gesagt: Es kommt keine Resonanz zustande. Vertikale Resonanz findet man aber auch in anderen Bereichen. Die modernen Subjekte finden sie häufig in der Natur. Beim Beten schließt man die Augen, man versucht zwischen seinem Innersten und dem umgreifenden Ganzen eine 8

Vgl. Buber, Martin: Das dialogische Prinzip, Gerlingen 1994.

9

Vgl. Latour, Bruno: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2014, S. 416-419.

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Resonanzbeziehung, einen vibrierenden Resonanzdraht herzustellen und spürbar zu machen. Bei Naturerfahrungen findet man das gleiche Phänomen. Manche Menschen sagen: „ich muss mal wieder in den Wald“. Für viele Deutsche sind Wälder und Berge Orte der Selbstfindung, die mit Heimatgefühlen verbunden sind. Manche Menschen sagen auch: „ich muss ans Meer“, oder „ans Wasser“, „um mich selber zu spüren“. Sogar die Wüste eignet sich für solche Erfahrungen: Die Stille der Wüste und die Weite des Meeres lässt Menschen sich selbst spüren oder hören. Das ist die gleiche Empfindung: ich finde mich, ich höre mein Inneres nur in diesem Raum da draußen, im umgreifenden Raum, wenn die Wellen des Ozeans heranrauschen, etc. Auch hier entsteht also eine Achse zwischen Innen und Außen. Neben der Natur ist Kunst die zentrale Resonanzsphäre der Moderne, für die allermeisten modernen Subjekte ist sie vermutlich stärker als die Religion. Peter Sloterdijk hat einen schönen Aufsatz darüber geschrieben: Wo sind wir, wenn wir Musik hören?10 Sind wir da eigentlich in uns oder außer uns? Beim Musikhören, sogar beim Heavy Metal Hören, schließen viele die Augen und dann gehen sie irgendwie nach innen und nach außen. Die Musik kommt von draußen und sie umgibt uns, sie umgreift uns und sie ist zugleich ganz tief in uns drin, gleichsam näher als der eigene Atem. Auch Geschichte – geschichtliche Betrachtung, zumal aus einer marxistischen Perspektive – kann vertikale Resonanzerfahrungen auslösen. Wir sind Teil einer lebendigen Geschichte, die durch uns hindurchfließt und in gewisser Weise antworten wir mit unserer Existenz darauf und wir beeinflussen sie auch. Bekannt ist Marx’ Formulierung aus dem Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte, nachdem Menschen zwar durchaus ihre Geschichte (selbst) machen, aber unter Bedingungen und Voraussetzungen, die sie ihrerseits nicht zu kontrollieren vermögen. Das bedeutet, dass wir als Menschen zwar historische Selbstwirksamkeit erfahren können, dass aber die Geschichte doch auch unverfügbar bleibt, indem der Geschichtsstrom oder die Entfaltung der Produktivkraft durch uns hindurch geht, sodass die Geschichtserfahrung die Form eines Verbunden-Seins mit der letzten Realität insgesamt annimmt. Deshalb darf man die dritte Resonanzsphäre nicht außer Acht lassen, wenn man politische Probleme und mithin auch den Heimat-Diskurs verstehen will. Was suchen Menschen? Achsen der Vergewisserung einer Resonanzbeziehung zum Leben oder zur Welt insgesamt.

10 Vgl. Sloterdijk, Peter: Wo sind wir, wenn wir Musik hören?, In: Bernius, Volker/Rüsenberg, Michael (Hrsg.): Sinfonie des Lebens. Funkkolleg Musik, Mainz 2011, S. 289-300.

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Die Moderne ist geprägt von dem Versuch, Welt in Reichweite zu bringen, sie verfügbar zu machen. Dieser Prozess des Verfügbarmachens gewinnt eine strukturelle Eigenlogik durch „dynamische Stabilisierung“, d. h. dass sich die moderne Gesellschaft nur durch permanente Steigerung in ihrer Struktur stabilisieren kann. Dieser Versuch, Welt in Reichweite zu bringen, hat eine eigenartige Umschlagsseite: Die Welt wird dabei unlesbar oder stumm und letzten Endes entfremdet. Daher die Grundangst der Moderne, die darin liegt, dass wir die Welt zwar verfügbar gemacht haben, aber dass wir sie gerade dadurch als schweigende Welt erfahren. Die „Geburt des Absurden“ (Camus) 11 ereignet sich in dem Moment, in dem wir feststellen, dass wir nicht anders als in die Welt hineinschreien können, dass sie aber zurück schweigt. Sie steht uns letzten Endes (so Camus) feindlich und gleichgültig gegenüber. In den Frühschriften bzw. in den philosophisch-ökonomischen Manuskripten definiert Marx diese paradigmatische Entfremdungserfahrung als fünffache Entfremdung.12 Weber spricht bekanntlich von Entzauberung: Die Rationalisierungsprozesse der Moderne bewirken, dass die Welt nicht mehr singt und ihre Antwort-Qualität verliert. Die Kritische Theorie ist ebenfalls durchzogen von der Sorge, dass Welt verdinglicht bzw. entfremdet wird. Die Angst geht um, dass die Welt stumm wird, sich zurückzieht. Mit Hans Blumenberg kann man sagen, dass sie „unlesbar“ wird.13 Deshalb deute ich Heimat als die urmoderne Gegenidee zur Entfremdung der Welt.

3. Heimat soll also die Welt sein, die nicht schweigt, nicht entzaubert, nicht entfremdet ist, die uns nicht starr gegenüber steht als etwas, das wir nur verfügbar machen wollen. Heimat ist die Idee, dass es einen Weltausschnitt gibt, der antwortet und mit dem wir in Resonanz treten können. Die Grundlage dieser Vorstellung finden wir geistesgeschichtlich in der Empfindsamkeit und in der Romantik. Unsere Konzepte von Liebe, Freundschaft, Religion, von Kunst, von Natur und sogar von Politik, basieren in hohem Maße auf Elementen, die in der Ro11 Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Reinbek bei Hamburg 1997. 12 Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 (Pariser Manuskripte), In: Marx-Engels-Werke (MEW), Ergänzungsband 1, Berlin 1968, S. 465-588. 13 Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1986.

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mantik und der Empfindsamkeit als Resonanzvorstellungen formuliert worden sind. Die Ästhetisierung und Emotionalisierung der Weltbeziehung, das Verlangen danach, dass uns sogar noch das Badezimmer oder der Bettvorleger ansprechen sollen, so dass wir damit in Resonanz treten können, ist kulturell äußerst wirksam. Heimat wird zum Inbegriff der Vorstellung, dass es einen Weltausschnitt geben muss, der so etwas wie ein Resonanz-Hafen in einer ansonsten auf Optimierung, Steigerung und Verdinglichung getrimmten Welt sein kann. Deshalb spreche ich von Heimat als von einem „anverwandelten Weltausschnitt“. Ich behaupte, dass Resonanz eine Beziehung zur Welt darstellt, die nicht Aneignung ist, sondern „Anverwandlung“. Etwas hat mich so berührt, dass ich mich dadurch verwandelt habe. Ich habe manche Bücher im Schrank stehen, die ich mir materiell angeeignet habe, weil ich sie gekauft habe. Und ich habe Bücher im Schrank stehen, die ich mir anverwandelt habe: Nachdem ich sie gelesen und durchgearbeitet habe, bin ich ein Anderer geworden. Demnach soll Heimat die Idee sein, dass es einen Weltausschnitt gibt, den ich mir anverwandelt habe, der mir antwortet, mit dem ich in Resonanz treten kann. Die Kritische Theorie hat nicht nur die Diagnose von Verdinglichung und Entfremdung geliefert, sondern sie hat immer auch eigentümlich „wabernde“ Begriffe dagegengestellt. Bei Adorno ist von einem „mimetischen“ Weltverhältnis die Rede. Walter Benjamin hat den schillernden und ambivalenten Begriff der „Aura“ eingeführt. Weber entwickelt den Begriff des „Charismas“ als Gegenbegriff zur Entzauberung. Marcuse spricht sogar von einem „erotischen“ Weltverhältnis als Alternative zum prometheischen, verdinglichenden Weltverhältnis der Moderne. Meine Frage lautet deshalb: Was ist ein erotisches, auratisches, charismatisches, mimetisches Weltverhältnis? Wie sieht es aus? Meine Antwort lautet: Es ist ein resonantes Weltverhältnis. Was könnte also Heimat sein? Heimat ist meiner Ansicht nach die Verheißung, dass es einen anverwandelbaren, einen antwortenden Weltausschnitt gibt. Interessanterweise stellen wir uns Heimat in aller Regel so vor, dass wir aus der Fremde in sie zurückkehren, dass wir in ihr ‚ankommen‘. Sehr häufig ist es der Herkunftsort, wo sogar der Bach und der Baum zu mir sprechen und wo die Gerüche mich an etwas erinnern: Hier passiert etwas in mir, weil ich mir diesen Ort einst anverwandelt habe, weil die Dinge in eine Art von Antwortverhältnis mit mir treten. Bloch sagt von der Heimat, sie sei etwas, „das allen in die Kindheit scheint“.14 Das ist nicht überraschend. Wenn Heimat als ein Weltausschnitt aufgefasst werden soll, mit dem wir in Resonanz treten, dann ist es kein Zufall, dass 14 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung Bd. 3, Frankfurt a. M. 1973, S. 1628.

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wir Heimat mit der Kindheit assoziieren. Kinder sind von Natur aus Resonanzwesen. Bevor sie Sprach- und Vernunftwesen sind, sind Kinder Resonanzwesen, die versuchen, Antwortverhältnisse zu etablieren. Man kann in die Embryonalphase zurückgehen und sagen, dass schon der Embryo in einem Resonanzverhältnis steht.15 Das geborene Kind versucht in Resonanz zu treten und stellt irgendwann fest, dass die Stimme ein Resonanzinstrument sein kann und auch der Blick. Was das anbetrifft, gibt es das eindrückliche Still-face-Experiment, das Joachim Bauer „Mobbing an der Wiege“ nennt:16 Wenn man bei einem Säugling an das Bettchen tritt und einfach nicht reagiert, keine Grimassen macht, keine Gesten, keine Laute von sich gibt, dann ist das Kind in höchstem Maße irritiert und verliert völlig seine Fassung. Das ist außerordentlich interessant. Es bedeutet, dass Kinder erst durch Resonanz-Beziehungen zu Subjekten werden. Dies stimmt überein mit der schon von George Herbert Mead gegebenen Antwort auf die Frage, wie ein Mensch zum Subjekt wird, wie er oder sie ein Ich-Gefühl entwickelt.17 Die Antwort lautet: durch Resonanz-Beziehungen. Das Wiedererkennen im Blick signifikanter Anderer und der Austausch von Gesten erzeugen ein Subjektbewusstsein. Deshalb möchte ich behaupten, dass Kinder immer als Resonanzwesen in die Welt gehen. Je erwachsener wir werden, umso mehr lernen wir, instrumentelle oder verdinglichte Weltbeziehungen einzunehmen. Deshalb scheint Heimat das Weltverhältnis zu sein, das wir aus der Kindheit kennen. Bloch sagt aber auch, Heimat sei etwas, „worin noch niemand war“. Die Moderne hat keine resonante Welt geschaffen, und vielleicht können wir eine solche Welt auch gar nicht schaffen. Eichendorff kennt dieses Gefühl: Beim Blick aus der fremden Welt auf diese fremde Welt entsteht die Vorstellung einer anderen Welt, einer Herkunftswelt, die diese Antwortqualität gehabt haben könnte, die aber immer schon verloren ist. In diesem anderen Land ist noch keiner gewesen, weil die Moderne nur stumme und verdinglichte Weltverhältnisse erzeugt. Das ist entscheidend, denn die reale territoriale Heimat (auch das wusste Eichendorff) war und ist natürlich alles andere als ein Resonanz-Hafen. Wenn man in das eigene Heimatdorf zurückkehrt, kehrt man in eine Welt zurück, die bei weitem nicht singend, sondern oft stumpf, gleichgültig und sehr häufig repressiv ist. Nicht zuletzt machten und machen Frauen diese Erfahrung, 15 Vgl. etwa Sloterdijk, Peter: Sphären I: Blasen, Frankfurt a. M. 1998, S. 298 f und 487 f. 16 Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, München 2006, S. 107. 17 Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft: Aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a. M. 1968.

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denn in den meisten traditionellen Herkunftsorten wurde den Frauen nicht erlaubt, eine eigene Stimme zu entwickeln. Ein Anverwandeln von Welt im Sinne von Selbstwirksamkeit war für sie dort überhaupt nicht möglich. Deshalb birgt der reale Herkunftsort im allerseltensten Fall eine Resonanzqualität. Und deshalb kennt die Moderne nicht nur das ‚Heimweh‘, sondern ebenso sehr und vielleicht noch stärker das ‚Fernweh‘. Bei Eichendorff wird man erneut fündig. Von ihm gibt es nämlich nicht nur Heimat-Gedichte, sondern auch Fernweh-Gedichte. Ein Gedicht trägt sogar den Titel „Fernweh“: Darin äußert das Ich die Vermutung, vielleicht als Hoffnung, dass anderswo die Welt singen oder rauschen könnte. Was folgt daraus? Dass unter den Bedingungen der Moderne die Rückkehr in die angestammte Welt, in die alte Heimat, keine Resonanz-Verheißung sein kann. Man muss also ein anderes Heimatverständnis postulieren, wonach es für jede und jeden möglich sein kann, eine neue Heimat zu finden als den Ort, an dem Resonanz möglich ist – den Ort, wo die eigene Stimme hörbar wird und eine Antwort erfährt: Finde den Beruf, der zu dir passt, wo du mit dem Material in ein Resonanz-Verhältnis treten kannst! Finde die Menschen, die du liebst, mit denen du zusammen sein willst! Finde die Musik, die zu dir passt! Finde die Religion, die dich erfüllt! Heimat ist in diesem Sinne ein zu schaffender Ort, an dem Welt anverwandelbar ist. Dass Heimat häufig territorial aufgefasst und mit Herkunft verbunden wird, hängt, wie ich zu zeigen versucht habe, vermutlich mit der Natur von Kindheitserfahrungen zusammen. Es geht aber, anders als es jene Auffassung nahelegt, darum, einen eigenen, neuen Ort zu finden und Resonanz-Achsen entstehen zu lassen. Heimat ist dennoch kein Absolutum. Die komplette Anverwandlung von Welt als einem Ort, der nichts Widerständiges mehr bietet, den ich komplett verfügbar gemacht habe, könnte, selbst wenn sie möglich wäre, keine Resonanz mehr erzeugen. Das wäre nur noch ein Echo-Ort. Deshalb ist Heimat immer schon das Verlorene. Heimat ist ein Anderes, mit dem ich in Beziehung treten kann. Wenn ich sie mir komplett erschließen, komplett anverwandeln würde, könnte ich damit nicht in Resonanz treten. Gemäß der Steigerungslogik der Moderne kann kapitalistische Wirtschaft nur existieren, wenn sie permanent beschleunigt, innoviert und wächst. Wenn sie nicht mehr wächst, wird der Beschleunigungs- und Innovationsdruck nur noch erhöht. Das ist die strukturelle Wirklichkeit der Moderne. Kulturell werden moderne Gesellschaften von dem Verlangen getrieben, mehr Welt in Reichweite zu bringen. Wir richten unser Leben darauf aus, mehr Welt erreichbar zu machen: Mit dem Smartphone habe ich alle meine Freunde und das ganze Wissen in der Hosentasche; mit viel Geld kann ich mir eine Yacht kaufen oder sogar zum Mond fliegen. In der Großstadt habe ich alle möglichen Dinge in Reichweite, die

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ich im Dorf nicht zur Verfügung habe. Wir wollen also Welt in Reichweite haben. Warum? Der Grund ist, dass wir von der Hoffnung getrieben werden, dass wir auf diese Weise den Weltausschnitt finden, mit dem wir in Resonanz treten können, die Musik hören oder das Buch lesen, die uns endlich Resonanz erschließen werden, etc. Die Vergrößerung von Weltreichweite wird, so meine These, ihrerseits von der Hoffnung auf Resonanz angetrieben. Sie hat sich aber so verselbstständigt, dass sie zum blinden Vermehrungs- oder Steigerungszwang geworden ist, der Resonanz-Möglichkeiten, Anverwandlungsmöglichkeiten am Ende wieder untergräbt. Ob man diese Pathologie durch Demokratie beheben kann, ist die große Frage. Bei Hannah Arendt und bei Ernst Bloch finden wir die Idee, dass wir die Welt nur im gemeinsamen politischen Handeln in ein Resonanz-Verhältnis bringen können. Demokratie würde dann nicht bedeuten, Stimmen zu aggregieren oder Interessenkonflikte auszutragen und sich durchzusetzen, sondern auf andere Stimmen zu treffen, die unüberbrückbar Anderes sagen, die aber so miteinander ins Gespräch kommen, dass sich alle Seiten verändern und Welt als selbstwirksam gestaltbar erlebt wird. Heimat – so mein Fazit – kann man nur demokratisch und immer wieder dynamisch herstellen, man kann sie niemals einfach finden oder einfach haben.

LITERATUR Adorno, Theodor: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 2003. Bandura, Albert: Self-Efficacy: Toward a Unifying Theory of Behavioral Change, In: Psychological Review 84 (1977), S. 191-215. Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, München 2006. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1973. Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1986. Buber, Martin: Das dialogische Prinzip, Gerlingen 1994. Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Reinbek bei Hamburg 1997. Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit, In: Ders: Gesamtausgabe, Bd. 1: Analytische Sozialpsychologie, München 1999, S 217-394. Husserl, Edmund: Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, hrsg. v. Rudolf Bernet, Hamburg 1985. Latour, Bruno: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2014.

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Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 (Pariser Manuskripte), In: Marx-Engels-Werke (MEW), Ergänzungsband 1, Berlin 1968, S. 465-588. Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft: Aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a. M. 1968. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt a. M. 2016. Sennett, Richard: Handwerk, Berlin 2008. Sloterdijk, Peter: Sphären I: Blasen, Frankfurt a. M. 1998. Sloterdijk, Peter: Wo sind wir, wenn wir Musik hören?, In: Bernius, Volker/Rüsenberg, Michael (Hrsg.): Sinfonie des Lebens. Funkkolleg Musik, Mainz 2011, S. 289-300.

Das Gegenteil des Exils Jean-Christophe Bailly

In einem Kapitel von Schwindel. Gefühle schildert der Erzähler (oder W. G. Sebald selbst), wie ihn einmal, als er sich in Limone sul Garda aufhielt, der Lärm deutscher Touristen unter dem Fenster seines Hotelzimmers dazu brachte, sich „in diesen schlaflosen Stunden nichts sehnlicher [zu wünschen], als einer anderen oder, besser noch, gar keiner Nation anzugehören.“1 Ich glaube, jeder Urlaubsreisende, ganz gleich, welche Staatsangehörigkeit in seinem Pass eingetragen ist, kennt aus eigener Erfahrung ähnliche Situationen und das Wut- oder Schamgefühl, das sie auslösen. Während sich die Wut leicht nachvollziehen lässt, sind die Gründe für das Sich-Schämen ungleich interessanter, implizieren diese doch, dass zu dem beschädigten Bild, das der aufgedrehte, brüllende Touristenpulk abgibt, ein Gegenbild existiert, von dem man vielleicht noch nicht gewusst hatte, dass man es in sich trug und das sich jetzt bemerkbar macht. So heftig die Ablehnung auch sein mag: Hinter dem einen, hässlichen Bild kommt, gleichsam wie ein Wasserzeichen, ein anderes zum Vorschein. Innerlich und ohne feste Umrisse, ist es das Bild eines anderen Landes – eines Landes, dessen Einwohner sich nicht so benehmen würden und dessen Sprache, wenn auch eigentlich identisch, eine ganz andere Klangfarbe hätte. In Sebalds Erzählung allerdings kommt dieser Gedanke oder Anflug eines Gedankens nicht wirklich zum Tragen, sondern wird sogleich überdeckt von der Annahme einer Universalität des Verfalls: Weil alle Völker gleichwertig sind und es gleichermaßen verstehen, sich in Selbstgefälligkeit zu rekeln, ist der Wunsch, der sich einstellt, einer nach absoluter Nichtzugehörigkeit, nach der reinen, staatenlosen Vereinzelung. Diesem gedanklichen Impuls, der in der Darstellung unmittelbar auf die schlicht ablehnende Reaktion gegenüber den Touris1

Sebald, W. G.: Schwindel. Gefühle, Frankfurt a. M. 1990, S. 111.

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ten folgt, haften indes – zumindest in Sebalds Erzählung – keinerlei positive Konnotationen an, und ebenso wenig ist er einem generischen Begriff von Menschheit verpflichtet. Die Bilanz fällt vielmehr auf ganzer Linie negativ aus, sei es gegenüber dem Ursprungsland, sei es gegenüber der Menschheit insgesamt: Der sich bietende Rundumblick ist desaströs und lässt dem Bewusstsein nur noch Flucht und Abschottung. Es ist dies eine durchaus aktuelle Einstellung. Sie kann als charakteristisch für eine Zeit gelten, in der Konzepte wie ‚Nation‘ und ‚Menschheit‘ seit langem das Kielwasser jenes Fortschrittsstrebens verlassen haben, das sie im Zuge der Französischen Revolution einst lanciert hatte. Was man zuallererst feststellen kann, ist die Ferne, in die für uns jene gestaltgebenden Mächte gerückt sind, die Begriffen von ‚Nation‘ und ‚Menschheit‘ einmal Beständigkeit und Energie verliehen haben. Ob es sich um den genos des Vaterlandes handelt oder um die Idee einer Weltgemeinschaft – die hervorgerufene Assoziation ist nicht mehr die eines hohen Gutes oder einer Errungenschaft, sondern die eines unabwendbaren Schicksals: So wird einerseits die Globalisierung, die weit davon entfernt ist, den Charakter eines belastbaren Projekts anzunehmen, eher als eine Folge negativer Effekte „erlitten“, als im Bewusstsein der Menschen irgendeine Form der Identifikation oder des Antriebs zu stiften. Zugleich hat auch das lange als eine Art Garantie empfundene Gefühl, einer Nation anzugehören, heute an Selbstbewusstsein verloren und gestaltet sich vor allem als Ersatzkonstruktion oder als imaginärer Rückzugsort angesichts der Folgen der Globalisierung. Die Nervosität derjenigen, die sich an die Nation klammern, ist ein sicheres Zeichen dieser Destabilisierung. In der Vergangenheit lagen die Dinge freilich ganz anders. Victor Hugo beispielsweise konnte in jenem Elan von Großzügigkeit, der die Misérables trägt, von dem Arbeiter Fleury erklären, dieser „wolle nicht, dass es auf der Erde auch nur einen Menschen gebe, der ohne Vaterland sei.“2 Soweit das Zeugnis eines Zeitalters, in dem Patrioten vor allem solche waren, die darum stritten, dass mit ihnen, durch sie und über ihnen eine treuhänderische Macht des Zusammenschlusses existieren konnte, die patrie eben, verstanden als eine weitherzige und zugleich anspruchsvolle Mutter. Man muss unterstreichen, wie pluralistisch das ist, was Hugo als die „Idee der Nationalitäten“3 bezeichnet, die nämlich überhaupt nur durch die Anerkennung eines Rechts ins Leben gerufen werden, das keine andere Nation ausgrenzt. Die jüngeren nationalen Befreiungskriege (na2

Hugo, Victor: Les Misérables, Paris 1985, S. 517: „il ne voulait pas qu’il y eût sur la terre un homme qui fût sans patrie“, deutsche Übersetzung K.P.E.

3

Ebd.: „l’idée des nationalités“.

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mentlich in Algerien und Vietnam) waren die letzten Regungen dieses Zeitalters, während wir Heutigen von dieser gleichzeitig ‚brüderlichen‘ (auf Kampf beruhenden) und ‚mütterlichen‘ (in den Vorstellungen von Beheimatung und Schutz) Konzeption abgerückt sind, mit Ausnahme einiger Stellen auf der Erde, wo Spannungen oder sogar Kriege diese Konzeption aufrecht erhalten. Das beinahe kindliche Empfinden des Arbeiters und Revolutionärs aus den Misérables ist von der Herrschaft einer nurmehr formalen, antriebslosen Zugehörigkeit abgelöst worden, die vergeblich versucht, durch Gedenkfeiern wieder in Schwung zu kommen und die ihre letzten Kraftreserven aus großen kommerziellen Sportereignissen zieht. Auf das Zeitalter der ersehnten Zugehörigkeit folgt das Zeitalter einer diffusen Empfindlichkeit. Umso glanzloser und undefinierter ist die Situation, als das, was diese aufrichten und hin zu einem Größeren oder Strahlenderen (wie Europa oder der Welt insgesamt) führen könnte, den letztlich engen Schranken eines Raumes verhaftet bleibt, der zwischen Anwandlungen von Humanität und Reglementierungen schwankt und über dem noch dazu das Schreckgespenst technokratischer Uniformisierung schwebt. Die politische Landschaft einer um sich greifenden Verdrossenheit, die auf den ersten Blick trist erscheinen mag, ist vor allem das Ergebnis eines langen Prozesses der Delegitimierung, der sowohl die nationalen Denkmodelle als auch die revolutionäre Perspektive ihrer Überwindung betrifft. Wenn das 19. Jahrhundert als Epoche des Erstarkens von Nationen, aber zugleich auch und im Zuge dessen als Geburtsstunde der „Internationalen“ erscheint, stellt sich das 20. Jahrhundert hingegen, jedenfalls seit dem Trauma zweier Weltkriege und dann nach dem ebenfalls traumatischen Niedergang des Kommunismus, als das Jahrhundert eines zweifachen Legitimitätsverlusts dar: Weder die Instanz der Nation noch das tragende Deutungsmodell der Überwindung von Grenzen sind unbeschadet aus ihm hervorgegangen. Auf das Zeitalter der Hymnen folgte eine Ära des Misstrauens, deren skeptische Schlagkraft dadurch verstärkt wird, dass Zukunftsversprechen immer wieder nicht in Erfüllung gehen, sondern sich als falsch herausstellen. (Es versteht sich von selbst, dass dieser Gegenüberstellung des 19. und 20. Jahrhunderts etwas Schematisches anhaftet und dass sich manches Merkmal der einen Epoche auf die andere übertragen ließe, sei es in Form von Vorboten oder im Gegenteil in Form von Relikten und Spuren. Aber global betrachtet, oder besser: dynamisch betrachtet, bleibt diese Gegenüberstellung gültig.) Allzu viele Ruinen überragen heute einen Raum, der eigentlich als pulsierende Baustelle gedacht war, und die lyrische Vorstellung einer Welt von Erbauern ist der prosaischen Wirklichkeit visionsloser Administration gewichen. In eben dieser Landschaft, in der die Feuer jedes fernen Ziels erloschen sind (selbst der von Reglementierungswahn und Unaufrichtigkeit überschwemmte

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‚europäische Aufbauprozessʻ gerät ins Stocken), wohnt man einer Art zwanghaft-obsessiver Wiederkehr des Musters der ‚nationalen Identität‘ bei, die angesichts der Aufhebung der Unterschiede jetzt wie eine Fahne geschwenkt wird, als wäre sie der rettende Ausweg. Im selben Moment, wie die Nation an Wert und Geltung verliert, kehrt sie in ihrem Beschwörungspotenzial wieder, und wenn es heute ein Gespenst gibt, das umgeht in Europa und vielleicht in der Welt, dann ist es das Gespenst eines wiederkehrenden Nationalismus. Grundattribut dieses nationalistischen Affekts ist das Ressentiment: Anstatt in Freiheit zu gedeihen und sich dabei neue Lebensformen zu erschließen, verdichtet und verfestigt sich das Nationalgefühl zu einer ins Leere laufenden Wiederholung dessen, was es selbst als geerbtes Kapital betrachtet. Und was anfänglich nur nostalgisches Auf-der-Stelle-Treten und Stagnation ist, verwandelt zuletzt seine Beharrlichkeit in Aktion, wenn nämlich die Abkapselungs- und Ausgrenzungseffekte sich zu einem System zusammenschließen. Dass ein solches System inmitten der Staaten selbst errichtet werden könnte, darin besteht die Gefahr, die große Gefahr der heutigen Zeit, und natürlich verhält es sich so, als wäre hier ein gigantischer Gedächtnisverlust am Werk. Dass es richtig war, den patriotischen Instinkten und dem patriotischen Drängen in einem langwierigen Prozess den Boden zu entziehen, gerät in Vergessenheit, während etwas, das die eigene Sinnlosigkeit längst bewiesen hatte, wieder im Kurs gestiegen ist. Von einem solchen Hintergrund hebt sich das Gebrüll ab, das ich eingangs anhand der Passage bei Sebald aufgerufen habe. Dieses Gebrüll ist nicht von sich aus als Slogan oder als Forderung zu verstehen, aber in ihm artikuliert sich die gesättigte Selbstzufriedenheit des ausschließenden Systems: Man sieht eine von sich selbst faszinierte Kraft der Zugehörigkeit, die sich auf diese Weise ungeniert neu zusammenrauft und verbreitet. Zwischen dieser exaltierten und grölenden Form der Vergemeinschaftung, zwischen diesen kleinen, punktuellen ‚WirFormen‘ der Touristengruppen und Anhänger einerseits, dem größeren und umfassenderen ‚Wir‘ der nationalen Gemeinschaft andererseits, die sich feierlicheren Inszenierungsformen verschreibt, bestehen verschiedene Bande, die bislang glücklicherweise nur in unregelmäßigen Abständen aktiviert werden. Heißt das aber, dass nach den verheerenden Weltkriegen zwischen den Nationen und der nachfolgenden Phase des Willens zum friedlichen Aufbau nichts mehr übrig bleiben darf oder kann von jener „Idee der Nationalitäten“ Victor Hugos und der Menschen seiner Zeit? Heißt es, dass nur ein Wille zur Entdifferenzierung oder im Gegenteil der nostalgische und lärmende Zauber von Zugehörigkeitsbekundungen und von Abkapselungsbewegungen als stilprägende Merkmale einer Epoche infrage kommen? Mit anderen Worten: Hat sich das, was die Vorstellung von der patrie einmal zu erträumen, ins Auge zu fassen, zu

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ahnen ermöglichte, gänzlich erschöpft, um nur noch in böswilligen oder erstarrten Zeichen greifbar zu werden? Und treibt nicht der Rückgriff auf Werte und die Jagd nach Symbolen der Identifikation eine ganz andere Identität hervor, die das alte Vaterland ablöst und als Traum von seiner andauernden Verbindlichkeit zu denken wäre? Dieser Fragenkomplex begegnet uns in seinen Implikationen, auch in seinen Aporien, auf Schritt und Tritt. Ob es sich um unsere Reaktion auf die wiederholte Anrufung des patriotischen Musters handelt (die zurückliegenden Wahlen in Frankreich waren, von dieser Warte aus betrachtet, ermüdend, weil sich jeder Kandidat als Künder einer notgedrungen sublimierten Form der patrie zu geben bemühte, die natürlich ganz falsch klang) oder ob durch das, was ich das „Rätsel der lokalen Tonalität“ nenne, die Frage nach Herkunft, Art und Entstehung von allem und jedem aufkommt, was uns begegnet – immer geht es um Identitäts- oder Existenzfragen, was auf dasselbe hinausläuft. Vor jeder Genreszene, jedem Landschaftsgemälde, in jedem Winkel eines jeden Landes stellt sich immer wieder die Frage nicht nach einem Label, auf dem zum Beispiel ‚Frankreich‘ oder ‚Deutschland‘ stehen würde oder ‚Japan‘ oder ‚Chile‘, sondern eine unaufdringlichere, intimere und verbindlichere Aussage, die auf etwas wie ein ‚Land‘, vielleicht sogar auf eine ‚Heimat‘ hinausliefe. Was hier eigentlich auf dem Spiel steht, ist nichts weniger als die Existenz des Eigenen, mithin die Möglichkeit und die Verifizierbarkeit des Eigenen. Damit bewegen wir uns am Gegenpol des Gebrülls, der Absichtserklärung und sogar auch am Gegenpol der An-Eignung. Das Eigene (das französische Wort propre entspricht dem, was die deutsche Sprache mit dem Begriff des ‚Eigenen‘ umreißt) ist tatsächlich nicht etwas, das man besitzen oder umfassen könnte, es ist weder Status noch Zusatz noch Eigenschaft, sondern es geht mit dem einher, was ganz bei sich ist. Es wird ausgestrahlt von dem, was ist, es ist – vorbegrifflich – das So-Sein dessen, was so ist, das ‚dergestalt‘ von dem, was sich ‚dergestalt‘ verhält. Als solches operiert das Eigene geräuschlos. Es ist die Art und Weise, wie das, was ist, sich in einem unabschließbaren Prozess in sich selbst ablagert. Und die Überraschung ist nicht gering, wenn man anerkennt, dass das Eigene sich selbst in vielfältigen Gegenständen erkennt, die es um sich versammelt und dass es somit eine russische, deutsche, französische, spanische, persische, bantuische usw. ‚Eigenschaft‘, ‚Eigenheit‘ oder ‚Identität‘ – diese Worte überlagern sich hier vollkommen – geben muss. Zweifelsohne ist die Sprache die unmittelbarste Form dieser Identität, dieses Eigenen, das recht eigentlich das Unteilbare ist, welches sich all diejenigen teilen, die sich ihm nähern. Aber jenseits der Sprache artikulieren zahlreiche Zeichen und Gegenstände das Singen – oder besser: das Summen – des Eigenen, und sie tun dies wie die Sprache, das heißt ohne jemals nur Archiv oder Vorratslager zu sein, sondern eher ein Labor, das

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stets neue Tests und Versuche durchführt und Ergebnisse erfasst. Dass das Eigene das Labor der eigenen Bildung ist oder sein kann, dass es als solches im vollinhaltlichen Sinne Bildung darstellt, darin liegt der von diesen Überlegungen intendierte Sinn, von dem aus man sich auf etwas (wieder) einlassen könnte, was sicherlich nicht mehr patrie hieße, was aber – an einem neuen, noch unbetretenen Ufer – gewissen Inhalten und Grundlegungen dieses Konzepts eine Rückkehr ermöglichen könnte. Die Konfiguration dieses Eigenen ist eigentümlich: Indem es eine Art Gemeinschaft der Perzepte bildet, ist das Eigene all denjenigen gemeinsam, die es streifen und wahrnehmen, und es konstituiert und erhält sich eben ausschließlich durch dieses In-Berührung-Kommen, anders gesagt: durch die Erfahrung, welche die beteiligten Individuen mit ihm machen. Erst im Zuge der Individuationsprozesse, d. h. im Laufe der einzelnen gelebten Leben tritt das Land in Erscheinung, und es bilden sich zwischen ihm und denjenigen, die in ihm das Licht der Welt erblickt haben, die mächtigen und unauflöslichen Bande der Herkunft aus. Mit Herkunft ist nichts anderes dokumentiert als Herkunft selbst. Sie unterscheidet sich von der Zugehörigkeit, ist der Ursprung, der aber seinerseits nur das ist, was den Weg frei macht für unsere Bestimmung: Wir kommen in einer bestimmten Weise und in einem bestimmten Klima auf die Welt, aber wir verharren nicht, sondern wir brechen auf, sind nur da, um zu gehen, egal ob in weite Fernen oder nicht. Aber an welchem Punkt wir uns auch auf der Skala zwischen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit verorten, eines steht fest: Unsere Herkunft begleitet uns; treu wie unser Schatten holt sie uns zuweilen in Momenten ein, in denen wir nicht damit rechnen. Die auf diese Art mit uns selbst eingegangene und in uns verankerte Bindung ist der Stoff, aus dem die Erinnerungen gemacht sind, die uns von der Zeit unserer Bildung bleiben; daraus ist auch unsere Sprache gemacht. ‚Heimat‘, das ist oder das könnte – vor jeder Wertzuschreibung und vor jeder symbolischen Ableitung – die Gestalt oder die Auffächerung der Eindrücke davon sein, was uns in Empfang genommen hat. Um dieses zu benennen, hat Anatoli Smelianski, langjähriger Leiter des TschechowKunsttheaters Moskau, in einem bemerkenswerten Text das Konzept der „ZeitHeimat“4 erfunden, das er übrigens sogleich einer anonymen Freundin zuschreibt. Es lohnt, die entsprechende Passage, in der dieser Ausdruck vorkommt, vollständig zu zitieren: „Eine Freundin unterscheidet zwischen zwei Bedeutungen des Wortes ‚Heimat‘: ‚OrtHeimat‘ und ‚Zeit-Heimat‘. Was die Ort-Heimat ist, weiß jeder. Aber Zeit-Heimat? Je4

Im Französischen: „patrie-temps“, Anm. d. Ü.

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mand ist während des Krieges in der Sowjetunion, in einer Provinzstadt geboren. Woran erinnert er sich? Eine kleine sowjetische Nachkriegsstadt kommt aus heutiger Sicht einem Albtraum gleich. Keine Ablenkung, nichts zu essen. Die einzige Attraktion: ein riesiger Müllhaufen im Hof, über den die Kinder hinüberspringen können. Zuweilen fallen sie hinein. Das ist der einzige Zeitvertreib. Und dennoch betrachte ich diese Zeit, d.h. meine Kindheit, als eine der glücklichsten Zeiten meines Lebens. Warum? Meine Antwort lautet: Das ist die Zeit-Heimat. Das war meine Zeit, und ich werde keine zweite mehr davon haben.“5

Augenfällig, ja offensichtlich ist der Nexus zwischen Zeit-Heimat und Kindheit, also ihre Verbindung zum Lernen und zur Bildung. Die Zeit-Heimat besteht in einem diskontinuierlichen Zusammenfügen von Gegenständen und Eindrücken, das mit der Herkunft einhergeht. Als solche ist die Zeit-Heimat rein individuell, sie ist das unveräußerliche Gut eines einzigartigen Beginns. Sie ist die Form, die diesen Beginn umgeben und angeregt hat. Als solche geht sie über diesen Beginn hinaus, indem sie zur Erinnerung wird, und die Kindheitserinnerungen, die im Laufe des Lebens wiederkehren, sind ihr Zeugnis und ihr Refrain. Nicht wir leben in der Zeit-Heimat, sondern sie wohnt uns inne, und die Anlässe, die sie erwecken und sie einholbar machen, bilden – auch wenn sie das evozieren, was nicht wiederkehren kann – immerhin eine Reihe von Echos, die ihren Ursprung in der Gegenwart haben, in der wir uns bewegen. Gewiss beschränkt sich die Existenz nicht darauf, aber immerhin kann man sagen, dass eine Existenz, der (zumeist durch die Ausübung von Gewalt) die Ressource ihrer Herkunft abhanden gekommen ist, eine verstümmelte Existenz ist. Der Beginn jener Erzählung, die wir sind – der Erzählung, die jeder Einzelne von uns ist –, verliert sich im Nebel oder in der Watte der Geburt, aber darüber hinaus entspinnt sich ab den allerersten (bewussten und unbewussten) Eindrücken das Geflecht dessen, was uns ausmacht. Diese Momente und die Orte, denen sie entsprechen, zurückerlangen zu können bedeutet nicht so sehr, der Nostalgie nachzugeben, als vielmehr den frühesten Phasen unserer Entwicklung ihre Dynamik zurück zu geben. Wie der Auszug von Smelianski zu denken anregt, findet man die beste Definition von Zeit-Heimat dann, wenn man ein feines Ohr für das entwickelt, was mit den Kindheitserinnerungen wieder hervorkommt. Das Beispiel, das mir in den Sinn kommt, um solche Formen von Wiederkehr zu veranschaulichen, ist die Berliner Kindheit von Walter Benjamin, insbesondere diese wunderbare Passage aus dem Kapitel „Die Mummerehle“, in der die Diffe5

Smelianski, Anatoli: Tout dépend de la mise au point, In: Les Conférences d’une saison russe, Arles 1995, S. 135-147, hier S. 145-146, Übersetzung K.P.E.

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renz markiert wird zwischen dem, was lautstark als ‚Geschichte‘ widerhallt und dem, was in der Intimität des Bewusstseins die Tiefenstruktur vergangener Jahre vorüberfließen lässt. Benjamin sagt, er halte das 19. Jahrhundert „wie eine leere Muschel“ an sein Ohr. Dann geschieht Folgendes: „Was höre ich? Ich höre nicht den Lärm von Feldgeschützen oder von Offenbachscher Ballmusik, auch nicht das Heulen der Fabriksirenen oder das Geschrei, das mittags durch die Börsensäle gellt, nicht einmal Pferdetrappeln auf dem Pflaster oder die Marschmusik der Wachtparade. Nein, was ich höre, ist das kurze Rasseln des Anthrazits, der aus dem Blechbehälter in einen Eisenofen niederfällt, es ist der dumpfe Knall, mit dem die Flamme des Gasstrumpfs sich entzündet und das Klirren der Lampenglocke auf dem Messingreifen, wenn auf der Straße ein Gefährt vorbeikommt. Noch andere Geräusche […].“6

Beim Wiederlesen – oder besser: beim Wiederhören – dieser Passage, die ihrerseits die Konturen eines Hörerlebnisses umreißt, komme ich nicht umhin, sie mit einer Formel von Francis Ponge in Verbindung zu bringen, die uns für sich genommen schon einen ganzen Tag beschäftigen könnte, die aber hier, im Kontext unserer Benjamin-Evokation, auch unserer Evokation von Anatoli Smelianski, außerordentlich hell und präzise klingt. Die Formel ist auf eine Art berühmt, aber meines Erachtens noch nicht berühmt genug. Sie lautet: „Die stumme Welt ist unsere einzige Heimat.“7 Ohne Zweifel würde diese Maxime vor allem innerhalb von Ponges Poetik zu ihrem vollen Recht kommen, aber man sieht, wie sehr sie geeignet ist, in einer Reihe mit Benjamins Kohleneimer und dem Abfallhaufen des russischen Jungen ihren Platz einzunehmen. Was der Begriff der ZeitHeimat eröffnet hatte, erweitert Ponges Satz um die Dimension einer nach außen gerichteten Projektion des Selbst, und von dieser „Extimität“ aus findet und liefert er uns das Wort Heimat, aus dem er allerdings den mit ihm verbundenen Furor herausgeschält hat. Mit dieser Heimat, die sich in der mitteilungslosen Welt der Dinge entfaltet, betreten wir jene verwunschene Sphäre, die uns vor allem die Kindheit mitgibt, nicht durch Phantome und Gespenster, sondern gemäß der unmittelbaren Gestalt dessen, was uns umgibt. Diese Gestalt ist ein Rätsel, und wenn man ‚Heimat‘ in diesem Sinn in ihrem Innersten versteht, dann wird sie der reinen Außenwelt, die uns empfangen hat, zum Verwechseln ähnlich. Dieses Außen, das sich von der nächsten Nähe zur weitesten Ferne erstreckt, ist die Ge6

Benjamin, Walter: Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Gießener Fassung, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2000, S. 9.

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„Le monde muet est notre seule patrie“, Ponge, Francis: Le grand recueil, Bd. 2: Méthodes, Paris 1961, S. 195, Übersetzung K.P.E.

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stalt der Welt, die wir bei unserer Geburt berührt haben. Es ist die lebenslang fortgesetzte Durchquerung der sinnlich wahrnehmbaren Welt, die jedoch eben vielleicht nicht immer mit der Achtsamkeit und dem Feingefühl erfolgt, die in der Unbeholfenheit jenes Alters liegen, in dem alles immer und noch Entdeckung, schwebende Erfahrung ohne Rest und Ablagerungen jeglicher Art ist. Abbildung 1: Otto Freundlich „geschlossene Kontur“, „offene Kontur“

Quelle: Institut Mémoire de l’Édition Contemporaine (IMEC), Caen, Detail.

Das Paradox besteht dann wohl darin, dass das, was uns als das Eigene erscheint, sich einnistet auf der glatten Oberfläche der Dinge. Denn dergestalt ist unsere Bleibe: weder ein Wartezimmer noch ein Wachposten, sondern eine Schwelle. Wir bewohnen eine Schwelle, die sich ausweitet. Im Vergleich mit dieser Schwelle muss die Heimat, wie sie sich im Zeitalter der Nationen herausgebildet hatte, wie sie durch den Krieg entstellt wurde und durch den schematischreflexartigen Rückgriff auf Privileg und Ausgrenzung weiterhin entstellt wird, als ein Wille zur Unbeweglichkeit erscheinen. Anstatt sich zu bewegen, bleibt dann die Schwelle fest verankert, sie blockiert. Und die Zeit-Heimat, welche die erste Schwelle darstellt, wird inhaltsleer. Alles, was sich in ihr verdichtet und die Möglichkeit der Beziehung vorstrukturiert hatte, wird in Beschlag genommen zugunsten einer nach außen hin abgeschirmten Identität. Was wir noch erfinden müssen, ist das, was der Maler Otto Freundlich, kurz bevor er denunziert und in

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ein Vernichtungslager gebracht wurde, in dem er den Tod fand, in einem letzten Manuskript die „offene Kontur“ genannt hat.8 Die Zeichnung, die das Konzept der „offenen“ gegenüber der „geschlossenen Kontur“ einführt, könnte nicht klarer sein (Abbildung 1). Man sieht eine stilisierte menschliche Silhouette, deren Umriss für eine Menge kleiner Pfeile unterbrochen wird, die nach außen dringen. Dergestalt ist die Anschauungsform des Eigenen, das wir dieser Silhouette zufolge in größere Maßeinheiten überführen können – bis hin zur Heimat, als die sich jene Ausdehnung bezeichnen ließe, wohin all diese Pfeile streben. Es handelt sich aber eben um ein bloßes Streben oder um einen Traum – wie Hölderlin uns in Erinnerung ruft, wenn er festhält, dass „der freie Gebrauch des Eigenen das schwerste ist.“9 Aus dem Französischen übersetzt von Karl Philipp Ellerbrock.

LITERATUR Bailly, Jean-Christophe (Hrsg.): L’ineffacé: brouillons, fragments, éclats, Ausstellungskatalog, Abbaye d’Ardenne, Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine (IMEC), 29. Oktober 2016-26. Februar 2017, Saint-Germainla-Blanche-Herbe 2016. Benjamin, Walter: Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Gießener Fassung, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2000. Hugo, Victor: Les Misérables, Notice et note de Guy et Annette Rosa, Paris 1985. Ponge, Francis: Le grand recueil, Bd. 2: Méthodes, Paris 1961. Sebald, W. G.: Schwindel. Gefühle, Frankfurt a. M. 1990. Smelianski, Anatoli: Tout dépend de la mise au point, In: Les Conférences d’une saison russe, Arles 1995, S. 135-147.

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Dieses Manuskript stammt aus dem Nachlass Freundlichs, der im Institut Mémoire de l’Édition contemporaine (IMEC) in Caen verwahrt wird. Die entsprechende Seite mit der Zeichnung, die „offene“ und „geschlossene Kontur“ gegenüberstellt, habe ich in dem Ausstellungskatalog L’Ineffacé, IMEC, 2016 abgedruckt.

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Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. III, Die Briefe. Briefe an Hölderlin. Dokumente, hrsg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1992, S. 460, Hervorhebungen im Original.

Heimat als subjektive Konstruktion Beheimatung als aktiver Prozess Beate Mitzscherlich

Heimat erscheint uns heute als ein genuin psychologischer Begriff, ein zutiefst persönliches Gut, das mit den Bewegungen und vor allem mit den Identifikationen der eigenen Biographie zu tun hat. Das war allerdings nicht immer so. Der deutsche Heimatbegriff hat einen kulturgeschichtlichen Bedeutungswandel hinter sich, der nicht nur mit allgemeinen Prozessen der Modernisierung und Industrialisierung zusammenhängt, sondern auch mit spezifisch deutschen historischen Konstellationen – der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848, der (im europäischen Vergleich) verspäteten Nationenbildung und dem daraus (bis heute) erhalten gebliebenen starken Einfluss von Regionen bzw. kleineren politischen Verwaltungseinheiten. Ursprünglich war ‚Heimat‘ ein juristisch und ökonomisch definierter Begriff, ein geographisch konkret lokalisiertes und zu bemessendes Gut (siehe z. B. bei Jeremias Gotthelf: Die neue Heimat kostete ihn wohl tausend Gulden). Erst im Zuge der Industrialisierung, der ‚Freisetzung‘ von Menschen aus landwirtschaftlichen Bezügen, ist Heimat zunehmend in die Innenwelt der Subjekte verlagert worden. Die ‚Heimat‘ ist erst seitdem wir eben nicht mehr sesshaft auf und von einem seit Generationen besessenen und bewirtschafteten Stück Land leben – vom äußeren zum inneren Tatbestand, zum ‚Gefühlsgegenstand‘ und zur Ideologie geworden, sie ist darin vielfältig romantisiert, ideologisiert und eben auch missbraucht worden. Mit dem (bedrohten) Heimatgefühl lässt sich auch heutzutage für oder gegen fast alles argumentieren. Wenn heute in Deutschland über Heimat gesprochen wird, geht es immer um eine bestimmte Qualität von Beziehung, eine starke emotionale (Ver-)Bindung zu einem Herkunfts- oder Wohnort, einer Region, einem Land, sozialen Gemeinschaften und deren als ‚Kultur‘ konzeptualisierten, durchaus heterogenen Lebensformen, Gewohnheiten, Regeln.

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Insofern erscheint Heimat – als in der subjektiven Innenwelt konstruierter Bezug zum äußeren Raum – natürlich ein geeigneter Gegenstand der Psychologie, die als – von der Philosophie unabhängige – eigenständige Fachdisziplin wissenschaftsgeschichtlich ja ebenfalls eine recht späte Entwicklung ist. Sie begründete ihren Ausgangspunkt in den Laboren Fechtners und Wundts letztlich darin, dass die vermeintlich mysteriöse Innenwelt genauso exakt zu vermessen, klassifizierbar und (experimentell) beeinflussbar sei, wie es der Geographie, Physik und Biologie in Bezug auf die Außenwelt gelungen war. Freud und Jung ergänzten die experimentelle Bewusstseinsforschung mit der Kartographierung der unbewussten Prozesse – der menschlichen Tiefsee, in der es auch immer noch Neues zu entdecken gibt, die freilich in der akademischen Psychologie allerdings meist lieber vernachlässigt wurde und wird. Einige kognitive, systemische und sozialkonstruktivistische Wenden später ist die Psychologie heute eher eine Beziehungswissenschaft als eine Wissenschaft vom Individuum, ähnlich wie die moderne Biologie: Subjektives Erleben und Verhalten wird als Ausdruck von Wechselwirkungen zwischen biologischen bzw. genetischen Voraussetzungen, sozialen Prozessen und Prozessen der Informationsverarbeitung betrachtet. Heimat ist dennoch in der Psychologie kein akademisch konzeptualisiertes und vermitteltes Konzept und es gibt – nach wie vor – recht wenige empirische Untersuchungen, die zum Gegenstand machen, wie Heimatbezüge subjektiv hergestellt, aufrecht erhalten, vielleicht auch aktiv verändert werden (können). Als ich Mitte der 1990er-Jahre begann, mich mit diesem Thema zu beschäftigen, gab es zwar einerseits eine stark empirisch ausgerichtete ‚Ökopsychologie‘, anderseits nur einen einzigen Sammelband politischer Psychologen über ‚Heimat‘, die sich weitgehend darin einig waren, dass man diesen ‚belasteten‘ Begriff nicht mehr benutzen sollte.1 Heute ist Heimat zwar wieder in aller Munde, es gibt aber nach wie vor nur wenige empirisch-psychologische Studien zur subjektiven Konstruktion von ‚Heimat‘: die meisten davon stammen aus dem Bereich der Migrationsforschung, teilweise auch der Therapieforschung- also aus der Auseinandersetzung mit Phänomenen ‚gebrochener‘ Heimaterfahrung. Dabei könnte die empirische Auseinandersetzung erheblich beitragen zu einer Entmystifizierung ideologischer Heimatkonzepte, vielleicht aber eben auch Erkenntnisse dazu beisteuern, wie Beheimatung unter den Bedingungen von Mobilität, Migration und globaler Vernetzung aussieht und gelingen kann.

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Belschner, Wilfried u.a. (Hrsg.): Wem gehört die Heimat? Beiträge der Psychologie zu einem umstrittenen Phänomen, Opladen 1995.

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HEIMAT ALS SUBJEKTIVES KONZEPT Fragt man Menschen danach, was für sie Heimat ist, was sie unter diesem Begriff verstehen bzw. analysiert man Texte von Menschen über (ihre persönliche) Heimat systematisch, sieht man schnell, dass Heimat ein multidimensionales Konzept ist, in dem einige Dimensionen sehr zentral sind. Die zentralste ist das Heimatgefühl: In meiner eigenen Untersuchung, haben alle befragten Personen Heimat in Verbindung mit einem positiven Heimatgefühl gebracht, auch in anderen, quantitativen sozialwissenschaftlichen Befragungen wird das Heimatgefühl als zentral für die Konstruktion von Heimat erkennbar. Heimatgefühl wird fast ausschließlich positiv, als Geborgenheit, Sicherheit, Vertrautheit in Bezug auf Menschen und räumliche Umgebungen beschrieben. Gelegentlich wird es darin als Kontrasterfahrung – im Gegensatz zu fremden, un-heimatlichen Umgebungen konstruiert, nur sehr selten wird Heimat mit negativen Gefühlen von Enge, Langeweile, Bedrückung, sozialer Kontrolle assoziiert, die aber durch die Erfahrung von (dann zunächst schöner) Fremde, von Weggehen und Wiederkommen auch relativiert werden können. Das Heimatgefühl bezieht sich dabei (fast) immer auf sozial definierte Umgebungen, in denen sich räumliche und soziale Dimension durchdringen. Das sind zum einen biographische Herkunftsorte oder Orte, an denen man lange gelebt und wesentliche Bindungserfahrungen gemacht hat, die aber in der Vergangenheit liegen und zu denen man u. U. ‚heimkehren‘ kann, (weil dort beispielsweise noch Teile der Herkunftsfamilie, Partner, Freunde leben). Räumliche Herkunftsorte sind nicht (mehr) Heimat, wenn es keinen emotionalen und sozialen Bezug (sei es auch nur erinnert) dazu (mehr) gibt. Im Zuge mobiler Lebensläufe lebt aber ein wachsender Teil von Menschen nicht mehr an ihrem Herkunftsort, und daher bezeichnet eine größere Zahl von Menschen heute eher den gegenwärtigen ‚Lebensmittelpunkt‘ als Heimat, wenn dort ausreichend soziale Bezüge und befriedigende Handlungs- und Lebensmöglichkeiten existieren. Viele Menschen entscheiden aber auch nicht mehr zwischen Herkunfts- und gegenwärtigen Wohnort, sondern nennen mehrere Heimaten (neben- oder biographisch nacheinander), was in der deutschen Sprache ursprünglich nicht vorgesehen war, da Heimat als ‚Einzahlwort‘ galt; erst seit einigen Jahren gestattet auch der DUDEN das Sprechen und Schreiben über Heimaten. In beiden Zusammenhängen hat Heimat eine starke soziale Konnotation, menschenleere oder besser beziehungsleere Orte werden auch dann nicht zur Heimat, wenn ich dort oft bin und mich gut auskenne. Heimat können auch ausschließlich soziale Zusammenhänge: die Familie, eine Partnerschaft, eine religiöse Gemeinde, ein Chor sein, deren Zu-

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sammensein oder -treffen sich aber natürlich vor dem Hintergrund bestimmter Orte abspielt. Neben den faktischen räumlich-sozialen Lebens-Orten kann sich Heimatgefühl allerdings auch auf imaginäre Orte (das himmlische Jerusalem, das ewige Rom, „die Berge“, der „Süden“) bzw. tatsächliche ‚Innenwelten’ beziehen. Insbesondere ältere Menschen bezeichnen spirituelle Zusammenhänge („den Glauben“, „die Kirche“, „bei Gott“), jüngere gern auch utopische Konstellationen („eine Welt ohne Krieg“ „eine gerechte Welt“) als „wahre“ Heimat. Hier wird das Heimatgefühl nicht nur mit Transzendenz- und Kohärenzerfahrungen verknüpft, sondern diese Art Heimaten dienen einerseits zur Weltdeutung, andererseits als Entwurf besserer, ‚heilerer‘ Weltzusammenhänge. Neben diesen verdichteten „Heimatdimensionen“ werden auch konkrete sozialgeographische, landschaftliche, kulturelle und politische Bezüge mit Heimat verbunden. Darüber hinaus wird Heimat als Kontrasterfahrung in Bezug auf Fremde und Heimatverlust oder auch als Erfahrung kultureller Vielfalt dargestellt. In Bezug auf Politik wird dabei häufig die Vereinnahmung oder ideologische Instrumentalisierung des persönlich eher lebensweltlichen Heimatbegriffs erfahren und als bedrohlich erlebt.

HEIMAT ALS GEFÜHL UND BEDÜRFNIS Wenn wir dem Heimatgefühl näher auf den Grund zu gehen versuchen, müssen wir zunächst nach der Funktion von Gefühlen im Leben von Menschen fragen. Für die Psychologie dienen emotionale Prozesse letztendlich der schnellen, Kognitionen und der damit verbundenen rationalen Reflexion vorauseilende, sie begleitende, u. U. auch beeinflussende Bewertung von Beziehungen und Situationen, die uns hilft, schnell zu handeln und zu reagieren. Emotionen sind neurophysiologisch in den ältesten Teilen des Gehirns lokalisiert und gehen mit vielen biologisch relevanten Prozessen einher, der Ausschüttung von Hormonen, Neurotransmittern, Hemm- und Botenstoffen: Sie bewegen uns im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie führen fast immer zu motorischen Reaktionen wie An- oder Entspannung, Flucht, Abwehr, dem körperlichen Aufsuchen von oder Wegbewegen aus (räumlich lokalisierten) Situationen. Insofern knüpft das Heimatgefühl möglicherweise an ein verhaltensbiologisches Programm an, das die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus (1979) als „Prinzip Territorialität“ bezeichnet

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hat.2 Wir sind nicht nur durch die Tatsache, dass wir in einem Körper existieren, auf physikalische und geographische Räume bezogen; auch unsere soziale Organisation ist fast immer räumlich bezogen, unterscheidet nicht nur fremd und vertraut, sondern verknüpft das mit nah und fern, ‚links‘ und ‚rechts‘, ‚oben‘ und ‚unten‘. Heimat ist in diesem Sinn nicht nur ein Raum territorialer Vertrautheit, ein Raum, in dem wir Orte und Wege – den kürzesten Weg zum Ziel, aber auch mögliche Umwege – kennen, sondern auch ein Raum von „Kennen, Gekanntund Anerkannt-sein“ (Greverus),3 von sozialen Wechselbeziehungen, die auf geteiltem Raum oder räumlicher Nähe, gemeinsamen Handeln und dieses bestimmende Regeln beruhen. Die Verbindung zu solchen vertrauten Räumen ist nicht nur wesentliche Voraussetzung für Verhaltenssicherheit und Handlungsfähigkeit, sondern wir versichern uns darüber auch einer basalen Zugehörigkeit zur Gruppe, die über lange Phasen der Menschheitsgeschichte überlebenswichtig war. Auch in modernen, individualisierten Gesellschaften bleiben diese emotionalen Basisvariablen nicht nur wichtig und bestimmen unser Verhalten und unsere Entscheidungen, sie scheinen auch eine wesentliche Voraussetzung psychischer Gesundheit zu sehen. Schon in der vergleichsweise – zumindest sprachlich und kulturell – unkomplizierten innerdeutschen Migration nach der Wende stiegen bei allen von Ost nach West bzw. West nach Ost migrierenden Gruppen Werte für Depressivität und Ängstlichkeit signifikant an. Erst wenn Vertrautheit wieder hergestellt war, wenn Menschen im Fragebogen ankreuzten: „Ich habe neue Freunde gefunden“, sanken die Werte auf das vor dem Umzug bestehende Niveau.4 In der Migrationsforschung wird über den Akkulturationsschock oder die Akkulturationskrise geschrieben, die interessanterweise erst dann auftreten, wenn basale Anpassungsleistungen (Wohnung, Essen, Arbeit, Aufenthalt) erbracht sind und den Migrierenden bewusst wird, dass sie in einem nach anderen sozialen Regeln funktionierenden Land gelandet sind. Es besteht eben keine spontane Übereinstimmung zwischen inkorporierten Verhaltensmustern und der neuen Umgebung, wie sie im ‚Heimatgefühl‘ signalisiert wird und als Sicherheit, Vertrautheit, Geborgenheit erfahren wird. In meiner Untersuchung habe ich als die wesentlichen Dimensionen des Heimatgefühls eben diese drei herausgearbeitet: „Sense of community“ ist die 2

Greverus, Ina-Maria: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen, Frankfurt a. M. 1972.

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Greverus, Ina-Maria: Auf der Suche nach Heimat, München 1979, S. 13.

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Grulke, Norbert u.a. (Hrsg.): Migration in die Depression? Innerdeutsche Migration und psychische Befindlichkeit, In: Psychosozial 95 (2004), S. 97-106.

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Erfahrung sozialer Zugehörigkeit, Einbindung, des „Kennen, Gekannt- und Anerkannt-seins“. „Sense of Control“ ist die damit einhergehende Erfahrung von Verhaltenssicherheit und Handlungsfähigkeit (ich weiß, wie etwas geht, auf welchem Weg ich zu welchem Ziel komme, was ich tun muss, um etwas Bestimmtes zu erreichen). „Sense of Coherence“ hat schließlich mit subjektiver Sinngebung, Interpretation – auch der Interpretation von Brüchen und Widersprüchen zu tun, der Gewissheit hier am richtigen Platz ‚angekommen‘ zu sein, auch über die Erfahrung gelingender sozialer Einbindung hinaus.

BEHEIMATUNG ALS INDIVIDUELLER PROZESS Im Zuge meiner Untersuchung bin ich – vom eher statischen – Heimat-Begriff zunehmend zum Begriff der ‚Beheimatung‘ übergegangen, der eben die Prozesshaftigkeit und das Handeln in Bezug auf einen als Heimat betrachteten oder zur Heimat zu machenden (sozialen) Raum betont. Unter den Bedingungen von Modernisierung, Mobilität und Migration wird Beheimatung zum permanenten Prozess des Sich-Verbindens mit Orten, Menschen, kulturellen und geistigen Bezugssystemen und damit zur lebenslangen Aufgabe. Heimat ist also kein ‚Gut‘ mehr, das man oder frau ‚hat‘, keine ‚Immobilie‘ (und auch die wechseln heutzutage recht schnell den Besitzer, häufig ohne dessen physische Anwesenheit), sondern etwas, was immer wieder hergestellt, emotional besetzt und reflektiert werden muss – ähnlich wie beispielsweise auch ‚Identität‘. Das trifft auch auf Menschen zu – in Deutschland sind das nach wie vor bis zu 40 % der Bevölkerung – die vergleichsweise sesshaft sind und nie weiter als 40 km von ihrem Herkunftsort weggegangen bzw. nach Phasen der Ausbildung dorthin zurückgegangen sind. Auch deren (soziale) Umgebungen verändern sich permanent und werden inzwischen auch im ländlichen Raum von globalen Konstellationen- wie Klimaveränderung, Finanzen, der globalen Verteilung von Arbeit oder Migration beeinflusst. Umso mehr gilt das für Menschen, die selbst mobil sind bzw. auch sein müssen, aus beruflichen Gründen, als Arbeitsmigranten oder als Flüchtlinge aus einem der Kriegs- oder Krisengebiete, die nicht nur Anpassungsleistungen erbringen, sondern sich neue Heimaten ‚zu eigen‘ machen müssen. Die neuen ‚Nomaden‘ – nach allem was wir wissen, sind wir als Spezies über Jahrtausende eben dies gewesen – finden sich nicht nur in den Vorstädten der großen ‚Arrival Cities‘, sondern auf dem Arbeits-, Wohnungs- und Beziehungsmarkt beinahe jeder Großstadt in Europa. Welche Strategien nutzen Menschen, um sich in neuen – räumlichen, sozialen und kulturellen – Umgebungen zu beheimaten? Im Grunde genommen sind

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es Strategien, die mit den drei zentralen Dimensionen von Heimat korrespondieren: Zunächst braucht es – analog zum „sense of control“ – praktischgegenständliches Handeln bzw. Strategien, die existentielle Sicherheit und Handlungsfähigkeit (wieder) herstellen: Ein Dach über den Kopf, ein Arbeitsplatz, eine Aufenthaltsgenehmigung, das Einrichten von Wohnungen oder Bepflanzen von Balkons, das Erlernen von Wegen, Prozeduren, der Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser, Geld, medizinischer Behandlung. Wie (schnell) einem das gelingt, ist ebenfalls sehr stark von materiellen bzw. anderen Ressourcen, wie z. B. Bildung, Sprachkenntnis, formalen und informellen Qualifikationen abhängig. Zum zweiten braucht es – im Sinne des „sense of community“ – kommunikative Strategien, die Einbindung und Zugehörigkeit (wieder) herstellen. ‚Erfahrene‘ Migranten ziehen nicht nur dahin, wo bereits andere Migranten aus der eigenen Herkunftskultur leben und erfolgreich angekommen sind, Wohnungen und Arbeitsplätze gefunden haben und vielleicht vermitteln können, sondern wo eben auch emotionaler Austausch und kulturelle Vergemeinschaftung gelingt. Auch Schwaben in Berlin, EU-Angestellte in Brüssel, Expatriots in Mallorca oder Lissabon schaffen sich ihre Communities: Begegnungsräume, Plattformen für sozialen Austausch und Unterstützung. Orthodoxe jüdische Gemeinden in den USA unterstützen jüdische Neuankömmlinge nicht nur bei der Wohnungs-, Arbeits- und Schulsuche; sie beherbergen auch Dienstreisende, die am Sabbat nicht weiterreisen dürfen, und feiern mit ihnen; sie vermitteln so eine starke Erfahrung von Zugehörigkeit und Heimat – egal wohin man kommt. Drittens spielen – im Sinne des „sense of coherence“ – auch die geteilten Überzeugungen und Werte, Religion, die (Re-)Konstruktion von Sinn und (gemeinschaftliche) Kohärenzerfahrung eine Rolle: Viele Auswanderer und „Heimatvertriebene“ sind in der neuen Heimat religiöser, als sie es vor der Auswanderung waren, weil Religion als ‚innere‘ Heimat und emotionaler Halt – gerade in der Situation der Fremde – erfahren werden kann. Darüber hinaus stiftet Religion auch Gemeinschaft, zumindest zwischen denen, die sich als ‚ähnlich gläubig‘ erfahren. Wenn man Biographien verschiedener Menschen betrachtet, finden sich auch unterschiedliche ‚Typen‘ bzw. Bewegungsformen hinsichtlich des HeimatThemas. Tatsächlich gibt es nach wie vor eine große, im öffentlichen Diskurs eher unterrepräsentierte Gruppe, die auf Sesshaftigkeit orientiert ist, üblicherweise im Umfeld ihres Herkunftsortes geblieben oder nach einer kürzeren oder längeren Ausbildungsphase dahin zurückgekehrt ist. Hier ist die Vertrautheit räumlicher und sozialer Bezüge, auch das Eingebundensein in eine als lokal verstandene Tradition sehr prägend, soziale Beziehungen werden als ‚gewachsen‘ beschrieben, viele Regeln des Zusammenlebens als selbstverständlich erfahren,

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die Verhaltenserwartung an ‚Fremde‘ bzw. ‚Zugezogene‘ ist, dass sie sich diesen, meist ‚ungeschriebenen‘ Regeln anpassen. Insbesondere Menschen mit längeren Bildungsbiographien, Angehörige wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, kultureller oder politischer Eliten bleiben aber zumeist nicht am Ort und kehren auch eher selten (oder erst im Ruhestand) in ihre Herkunftsregionen zurück. Ortswechsel werden hier als Mittel der Selbstveränderung und (beruflichen) Entwicklung gesehen und teilweise – wie der Ruf an eine größere Universität oder ein Karriereschritt in die Konzernzentralen – aktiv angestrebt, zumindest aber als Nebenwirkung solcher Entwicklungen scheinbar leicht – wenn auch gelegentlich mit entsprechenden psychischen bzw. psychosomatischen Nebenwirkungen – in Kauf genommen. Die Herkunftsheimaten werden im besten Fall dankbar bzw. nostalgisch als Ausgangspunkt der eigenen ‚Karriere‘, häufig aber – im Vergleich zur eigenen Expansion – als zu eng, rückständig, zurückgeblieben wahrgenommen bzw. beschrieben. Die daraus resultierende soziale Distanz wird zwar räumlich konnotiert – der Abstand zwischen ‚Provinz‘ und ‚Leuchtturm‘-Regionen, hat aber eher mit soziologischen Kategorien wie Status, Bildungs- und Einkommensdifferenzen zu tun, was die ‚zurückgebliebenen‘, häufig aber eben auch ‚zurückgelassenen‘ Menschen durchaus empfindlich registrieren.5 Ausdruck von Ressourcenreichtum ist auch das „multilocal living“ – es gibt mehrere Orte, die – nacheinander oder nebeneinander – nicht nur bewohnt, sondern auch sozial und kulturell integriert und damit als Heimat internalisiert wurden. Nicht nur der russische Adel im 19. Jahrhundert pendelte zwischen Stadtpalais und Sommersitz, auch heutige Eliten besitzen oft mehrere Wohnungen in den großen Metropolen und diverse Rückzugsorte. Multiple „Heimaten“ spielen aber auch für Menschen mit Migrationshintergrund, Kinder aus bi-kulturellen Partnerschaften usw. eine wichtige Rolle. Neben den realen Orten des eigenen Aufwachsens, werden eben auch die Heimaterzählungen der Eltern – bzw. deren Vermeiden – zu einem wichtigen Bezugssystem – wie übrigens auch schon bei den Kindern deutscher „Heimatvertriebener“ aus den ehemaligen Ostgebieten. Das Interessante an dieser Art von Heimatkonstruktionen ist, dass Heimat hier noch mehr als der subjektiv erfahrene „emotional map“ in der Stadt des realen Aufwachsens ein imaginärer Ort ist. Heimat ist hier ein mit Geschichten, Bildern, Ideen, Symbolen besetzter Ort, der mit der Realität Schlesiens, Anatoliens, Russlands oder auch der ehemaligen DDR gar nicht (mehr) viel zu tun haben muss, aber dennoch starke Gemeinschafts- und Kohärenzerfahrungen erzeugt. 5

Vgl. dazu: Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims. aus dem Französischen von Tobias Haberkorn, Frankfurt a. M. 2016.

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Schließlich gibt es auch noch den Typus des Dauernomaden, für den es kein Ankommen, sondern nur die ewige Suche nach Heimat gibt. Ein Teil dieser Menschen würde vermutlich „Heimat“ als eine für sie nicht relevante Kategorie beschreiben, für andere ist sie vielleicht gerade deshalb „überwertige“ Idee. In meiner (mittelschichtdominierten) Empirie sind die „Totalverweigerer“ von Heimat Mitte der 1990er-Jahre eher die Ausnahme gewesen. Unter BilliglohnArbeitsnomaden oder Dauerbewohnern von Flüchtlingslagern mag Heimat heute zwar eine zentrale Sehnsucht, aber eine faktisch nicht erreichbare Realität sein. Dort wo die eigene Existenz bedroht ist, geht es zuerst ums Überleben, nicht um Heimat. Das gilt sogar noch retrospektiv, wie es die Essays Jean Amérys zeigen:6 Eine Heimat die einem nicht nur Zugehörigkeit abspricht, sondern nach der Existenz trachtet, hinterlässt nicht nur einen Phantomschmerz, sondern existentielle Leere. Diese Art Heimatverlust hat nicht nur mit absolutem Mangel an Ressourcen, sondern auch mit traumatischen Erfahrungen zu tun.

HEIMAT ALS KOLLEKTIVES KONZEPT Wie im vorigen Abschnitt schon angeklungen, ist Heimat nicht nur ein individuelles Konzept, das Erfahrungen von Übereinstimmung oder Un-Stimmigkeit aus den Umgebungen der eigenen Biographie verdichtet, sondern stellt damit gleichzeitig eine Basis für kollektive Identifikationen dar. Heimat als „Ort von Kennen-, Gekannt- und Anerkannt-Werden“,7 definiert sich immer auch über selbstverständliche, in Frage gestellte oder abgesprochene Zugehörigkeit. Wenn ich aufgrund äußerer Merkmale, meiner Religion, sprachlicher Besonderheiten oder auch nur meines Namens als „Fremde“ identifiziert werde, kann ich mich zwar individuell genauso selbstverständlich in meiner vertraut gemachten Umgebung bewegen – und tatsächlich gibt es ja „unterhalb“ der dominanten, „nationalen“ oder regionalen, autochthone und homogene Herkunft simulierenden Oberflächen, beispielsweise ein türkisches Berlin, ein kroatisches oder italienisches München, eine sorbisches Lausitz (obwohl dort inzwischen mehrheitlich deutsch gesprochen wird) und auch immer noch ein jüdisches Chemnitz (obwohl die meisten Gemeindemitglieder den Nationalsozialismus nicht überlebt haben und die heutige Gemeinde zum Großteil aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert ist) – berechtigt dieser Ort aber dann auch zur Wahrnehmung voller Bürger6

Améry, Jean: Wie viel Heimat braucht der Mensch?, In: Ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977, S. 74-101.

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Greverus, Auf der Suche nach Heimat, S.13.

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also auch Mitspracherechte? Selbst in ethnisch und sozial vergleichsweise homogenen Gemeinschaften werden Unterschiede gemacht zwischen „Etablierten und Außenseitern“,8 viele Organisationen privilegieren Mitarbeiter nicht nur nach Motivation und Leistung, sondern auch nach Dauer der Zugehörigkeit, in sesshaften dörflichen Gemeinschaften erben Kinder nicht nur den Hof, sondern häufig auch den (guten oder schlechten) Ruf ihrer Eltern. Immer dann, wenn das Leben an Orten mit einer überdauernden Gruppenzugehörigkeit verknüpft wird, kommt es zu Verwerfungen zwischen „Einheimischen“ und „Zugereisten“, deren faktischer Gehalt nur darin besteht, dass die einen (etwas) früher da waren als die anderen bzw. „der Zufall der Geburt“ mit bestimmten Rechten verknüpft wird. Heimat erscheint in diesem Denken als System konzentrischer Kreise, wobei oft die als letzte „eingewanderte“ Gruppe die Funktion des „Grenzwächters“ übernimmt. In Deutschland sind es nach der „Flüchtlingskrise“ neben den Ostdeutschen – die selbst der Bundesrepublik erst 1990 in der Mehrheit eher nicht als politisch Verfolgte sondern eher als Wirtschaftsflüchtlinge „zugewandert“ sind – interessanterweise auch die in den 90er Jahre zugewanderten und lange für nicht integrierbar gehaltenen Russlanddeutschen, die am lautesten gegen muslimische Zuwanderung auftreten. Absehbar sollen allerdings auch die heute so bedrohlich dargestellten islamischen und demokratiefernen arabischen Länder als Bollwerk gegen die Armutswanderung aus dem christlichen (kolonialisierten) Afrika dienen. Hier geht es eben nicht mehr um die Psychologie von Heimat bzw. um Heimat als utopischen Möglichkeitsraum individueller und gesellschaftlicher Entwicklung, sondern ganz klar um ökonomische Privilegien und politische Rechte. Da der zu verteilende „Kuchen“ scheinbar nicht für alle reicht, muss ausgeblendet werden, dass viele auch kein Brot zum Essen bzw. Angst ums nackte Überleben haben. Hier ist das Heimatkonzept plötzlich wieder ganz bei sich selbst bzw. bei seiner historischen Herkunft: Das Heimatrecht, der Zugang zu gemeinschaftlichen Ressourcen, bleibt denen vorbehalten, die am Ort Besitz haben oder (zumindest) dort geboren sind. Kulturell gesehen ist dies ein Rückschritt im Vergleich zu der in der Französischen Revolution unter viel Blutvergießen geborenen Idee der Bürger- und Menschenrechte, die unabhängig von der Herkunft und dem Ort der Geburt gelten.

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Elias, Norbert/Scotson, John: Etablierte und Außenseiter, Frankfurt a. M. 1993.

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HEIMAT EXKLUSIV ODER INKLUSIV: ZUGEHÖRIGKEIT ODER AUSGRENZUNG Im Grunde genommen steht also Heimat unter den Bedingungen einer globalisierten Welt vor dem gleichen Problem, das einst lokale dörfliche Gemeinschaften, früh prosperierende Städte und später Staatsgebilde bzw. Nationen hatten: Wer wird eingelassen? Wer muss draußen bleiben oder wird sogar verjagt? Wer bekommt Gastfreundschaft und wer ein Bleiberecht, weil er vielleicht sogar Nutzen bringt? Wer darf partizipieren? Wer bekommt etwas ab vom Wohlstand, wer wird versorgt, wenn er sich selbst nicht (mehr) helfen kann? Allerdings werden traditionelle, man könnte auch sagen mittelalterliche Lösungen – Mauern bauen, Zunftrollen, Hospize oder Lager für die Armen vor den Toren des Gemeinwesen – dem Ausmaß des Problems in einer globalisierten Gesellschaft, in dem weltweit mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind – die meisten davon außerhalb Europas – kaum gerecht werden. Hier ist in erster Linie die Politik vor eine extrem komplexe Aufgabe gestellt, die kaum lösbar erscheint, wenn nicht auch wirtschaftliches Handeln stärker beeinflusst werden kann bzw. Ressourcen gerechter verteilt werden können. Ein Teil der Aufgabe ist allerdings tatsächlich auch (sozial)psychologischer Natur: Wie unterstützt und befördert man individuelle Beheimatungsprozesse von Menschen und deren soziale Integration? Wie können sich Gemeinschaften öffnen, ohne ihren basalen Zusammenhalt und ihre Tragfähigkeit zu verlieren? Wie lernen Einzelne zu akzeptieren und in Person des anderen zu respektieren, dass es unterschiedliche Regel- und Wertesysteme gibt, und wie verständigt man sich über gemeinsame Regeln, die im Zusammenleben von Verschiedenen gelten sollen? Das ist ja schon in Ehen, die ja zumeist zwischen kulturell, ökonomisch und bildungsmäßig relativ ähnlich sozialisierten Menschen geschlossen werden, nicht ganz einfach, umso mehr in viel größeren, (meist) urbanen Gesellschaften, wo die Heterogenität der Lebensverhältnisse erheblich größer ist und der Zugang zu Bildung, sprachliche Fähigkeiten und materielle Ressourcen höchst ungleich verteilt sind. Ganz sicher ist das – auch in psychologischer Hinsicht – nicht mit ein paar Stunden Heimat-Therapie, einzeln oder in der Gruppe, zu lösen. Viel eher ist es eine gesellschaftliche Aufgabe, in der nicht unsere, sondern zukünftige Generationen, diejenigen, die mit der Selbstverständlichkeit von ethnischer, kultureller, religiöser Vielfalt aufgewachsen sind, bessere Lösungen entwickeln werden. Wir heute allerdings sind verantwortlich dafür, wie die Weichen gestellt werden: Wer heute ausgrenzt, beschädigt nicht nur Menschen, sondern die Idee von Heimat als in erster Linie sozialem Zusammenhang. Wer zu wenig über gesellschaftlichen Zusammenhalt und diesen organisierende Regeln, aber auch über Gerechtigkeit und die Vertei-

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lung von begrenzten Ressourcen nachdenkt, beschädigt sie auch. Heimat ist ein Ort guten Zusammenlebens von verschiedenen Menschen. Wer das negiert, muss wieder Lager bauen. Heimat ist darin auch immer unvollkommen und letztlich eine Utopie, die es anzustreben gilt: Es geht um den Umbau der Welt zur Heimat, „etwas das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“.9

LITERATUR Améry, Jean: Wie viel Heimat braucht der Mensch? [1966], In: Ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977, S. 74-101. Applegate, Celia: A nation of provincials. The German idea of Heimat, Oxford 1990. Bausinger, Hermann: Heimat in einer offenen Gesellschaft, In: Cremer, Will u.a. (Hrsg.): Heimat: Analysen, Themen, Perspektiven, Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 249/I, Bonn 1990, S. 76-90. Baumann, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt a. M. 1995. Belschner, Wilfried u.a. (Hrsg.): Wem gehört die Heimat? Beiträge der Psychologie zu einem umstrittenen Phänomen, Opladen 1995. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Gesamtausgabe, Bd. 5.1., Frankfurt a. M. 1985. Bronfenbrenner, Urie: Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente, Frankfurt a. M. 1989. Cremer, Will u.a. (Hrsg.): Heimat: Analysen, Themen, Perspektiven, Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 249/I, Bonn 1990. Elias, Norbert/Scotson, John: Etablierte und Außenseiter, Frankfurt a. M. 1993. Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn, Frankfurt a. M. 2016. Fuhrer, Urs/Kayser, Florian: Bindung an das Zuhause. Die emotionalen Ursachen, In: Zeitschrift für Sozialpsychologie 1992, S.105-118. Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a. M. 1995. Gotthelf, Jeremias: Erlebnisse eines Schuldenbauers, Berlin 1854. Greverus, Ina-Maria: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen, Frankfurt a. M. 1972. Greverus, Ina-Maria: Auf der Suche nach Heimat, München 1979. 9

Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1985, S. 1628.

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Grulke, Norbert u.a. (Hrsg.): Migration in die Depression? Innerdeutsche Migration und psychische Befindlichkeit, In: Psychosozial 95 (2004), S. 97-106. Mitzscherlich, Beate: Heimatlos im eigenen Land? Wie Ausländerhass entstehen kann, In: Wie die BRD nach Sachsen kam. Dresdner Hefte 133 (2018), S. 4150. Mitzscherlich, Beate: Heimatverlust und Wiedergewinn. Psychologische Grundlagen, In: Leidfaden. Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer 3 (2016), S. 413. Mitzscherlich, Beate: Heimat. Kein Ort. Nirgends, In: Klose, Joachim (Hrsg.): Heimatschichten. Anthropologische Grundlegung eines Weltverhältnisses, Wiesbaden 2013, S. 47-67. Mitzscherlich, Beate: Bedrohte Zugehörigkeit. Beheimatung in einer sich verändernden Welt, In: Edding, Cornelia/Kraus, Wolfgang (Hrsg.): Ist der Gruppe noch zu helfen?, Opladen 2006, S. 61-76. Mitzscherlich, Beate: Die psychologische Notwendigkeit von Beheimatung, In: Bucher, Anton A./Gutenthaler, Andreas (Hrsg.): Heimat in einer globalisierten Welt, Wien 2001, S. 94-109. Mitzscherlich, Beate: Von der globalisierten Welt zum sicheren Ort? Überlegungen zum Zusammenhang von Armut und Heimat, In: Sozialpädagogische Impulse 4 (2001), S. 11-15. Mitzscherlich, Beate: Heimat ist etwas, was ich mache. Eine psychologische Untersuchung zum individuellen Prozess von Beheimatung, Herbolzheim 2000. Schlink, Bernhard: Heimat als Utopie, Frankfurt a. M. 2006. Saunders, Doug: Arrival City. How the largest migration in history is reshaping our life, London 2011. Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2000. Virilio, Paul: Der negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung. Aus dem Französischen von Brigitte Weidmann, Frankfurt a. M. 1995. Zschocke, Martina: Mobilität in der Postmoderne. Psychische Komponenten von Reisen und Leben im Ausland, Würzburg 2005.

Heimat ohne Tamtam Ortsgebundenheit und Fernweh in der Kleinstadt Frank Eckardt Öffentliche Diskurse über Heimat bedienen sich zumeist bestimmter Klischees, die sich auf Grundlage stereotypischer Vorstellungen auf Raum beziehen. Insbesondere die unberührte Landschaft fungiert dabei als der Hintergrund für das Inszenieren von Heimat. Assoziiert werden die unverbrauchte Natur, die Sauberkeit der Luft, die Nähe zu dem ‚Guten‘ und ‚Echten‘ im Leben und eine allzu harmonische Gemeinschaft. Dass weder das Landleben jemals so einträchtig und bewahrenswert war, noch dass das heutige Verhältnis der Mehrheit der Menschen in Deutschland zur Natur auf diese Weise angemessen beschrieben wird, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Wenn man den Begriff der Heimat in einer dennoch produktiven Weise nutzen will, um sich über das Herstellen einer positiven Haltung der Bürger zu ihrem Lebensraum zu informieren, dann sind dennoch Begründungen notwendig, um eine Ideologisierung des Heimatbegriffs zu verhindern. Damit soll nicht gesagt werden, dass der Begriff ‚Heimat‘ als solches problematisch und zu vermeiden wäre. Insistiert wird hier lediglich auf einer analytischen Verwendung des Heimatbegriffs, der einen inhaltlichen Mehrwert über seine gesellschaftliche Bedeutung rekonstruieren soll. Dazu soll im Zentrum der folgenden Betrachtungen die Frage nach der Ortsgebundenheit stehen, die wiederum in weitergehende Diskurse eingebettet werden muss. Der Begriff der Ortsgebundenheit wird aus zwei Gründen gewählt: Zunächst erlaubt er die Betonung der Raumbezüglichkeit der Heimatdiskussion, die zwar subkutan immer ‚mitschwingt‘, wenn von Heimat die Rede ist – zumeist im Sinne eines ‚dörflichen‘, ‚ländlichen‘ und ‚gemeinschaftlichen‘ Raumes –, aber nie explizit reflektiert wird. Des Weiteren erlaubt die Ortsgebundenheit einen Anschluss an internationale Forschungen, die sich als ‚place attachment‘ in unterschiedlichen disziplinären Diskursen übersetzen lässt. Die Grundthese, die hier

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verfolgt werden soll, ist, dass sich die Produktion von Ortsgebundenheit als ein komplexer und aktiver Prozess darstellt, der nur zu einem geringeren Teil mit den Ortsspezifika einer bestimmten Lokalität zu tun hat, welche aber wiederum auch nicht unerheblich sind. Deutlich werden sollte, dass eine Nationalisierung des Konzepts der Ortsgebundenheit angesichts der Parallelität der Ergebnisse der internationalen Forschung unbegründet ist. Die deutsche Beharrlichkeit in der Behauptung, man könne den Begriff ‚Heimat‘ nicht übersetzen, wird durch die Diskussion um den Raumbezug des Heimatgefühls widerlegt. Deutsche unterscheiden sich in ihren Bemühungen, einen sinnhaften Bezug zu ihrem Lebensraum zu schaffen, nicht von anderen Menschen weltweit. Relevanter sind die Unterschiede in den räumlichen Kontexten, in denen sie das tun. Nach einer Darstellung der unterschiedlichen Forschungen zur Ortsgebundenheit ist deshalb die Differenzierung nach unterschiedlichen Raumformen notwendig. Hierbei wird sich in der deutschen Raumforschung traditionell auf die Größe von Orten fokussiert, wonach Menschen in Großstädten vermeintlich auf andere Weise ein Gefühl von Beheimatung entwickeln, als dies auf dem Dorf geschieht. Während die Kontrastierung von Dorf und Großstadt in der Stadt- und Ruralsoziologie weit verbreitet ist, werden Kleinstädte hingegen kaum zur Kenntnis genommen. Diese Raumkategorie ist aber umso interessanter, da diese die duale Logik einer ‚Urbanisierung des Landlebens‘ gegenüber einer ‚Verdörflichung der Stadt‘ irritiert. Diese Irritation soll genutzt werden, um die Prozesshaftigkeit von Raumproduktionen in den Mittelpunkt der Argumentation zu stellen. Eingebettet wird dies in die Beobachtung der neuen weltweiten Städteordnung, die sich durch das hohe Maß des ‚global flow‘ an Informationen, Gütern, Dienstleistungen, Menschen und Ideen ergibt und die eine neue hierarchische Raumordnung hervorgebracht hat, und in der es neue Zentralisierungen und Prozesse der Peripherisierung gibt. Der folgende Beitrag geht davon aus, dass man nur verstehen kann, wie Menschen sich einen Ort aneignen und sich dort zu Hause fühlen, wenn diese Raumaneignung im Licht der globalen Restrukturierung von Räumen betrachtet wird. Anhand eines Beispiels aus Thüringen soll dabei verdeutlicht werden, wie sich die Bedeutung von ‚Heimat‘ von einem essentialistischen Verständnis zu einer reflektierten Ortsgebundenheit entwickeln kann.

WAS BINDET MENSCHEN AN ORTE? In der aktuellen Heimatdiskussion wird zumeist eine normative Perspektive eingenommen. Demnach fühlen sich Menschen an ihren Herkunftsorten am ehesten

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zu Hause und dieser ist sozusagen ihr ‚natürlicher Lebensraum‘. An jenem Ort zu leben scheint aber nicht nur das Beste zu sein, sondern ergibt in dieser Sichtweise automatisch auch eine Garantie dafür, dass Menschen sich am ehesten dort wohl fühlen, wo sie aufgewachsen sind. Mit dem Rückbezug auf den Herkunftsort als Ort der Kindheit und Jugend geht einerseits eine Verklärung dieser beiden Lebensphasen einher, die sich leicht als eine retrospektive Flucht vor der Komplexität der Gegenwarts- und Zukunftsgestaltung entlarven lässt. Andererseits ist zu sagen, dass die räumliche Sozialisation, die in dieser Zeit stattgefunden hat, einen erheblichen Einfluss nicht nur auf die kognitive Fähigkeit des Menschen zur Orientierung im Raum insgesamt, sondern auch auf die emotionale Matrix der Raumempfindung hat. Hierbei ist davon auszugehen, dass bestimmte Erfahrungen in der räumlichen Sozialisation bleibenden Einfluss haben, auch wenn es in späteren Lebensphasen notwendig ist, dass sich das kognitive Raumverhalten an Mobilität und Ortswechsel anpasst. Ist es dann aber so, dass die ersten Orte als solche prägend sind und gegen diese Prägung ‚kein Mittel ankommt‘? Die Ausrichtung auf einen einzigen Ort, etwa die elterliche Wohnung, bringt eine solche Prägung nur in dem Sinne zum Ausdruck, dass einzelnen Orten in der Perspektive des Individuums eine symbolische Bedeutung zugeschrieben wird. Es könnte sich dabei auch um andere Orte handeln, doch die Zuschreibung von emotionalen Bedeutungen ist das eigentliche raumsozialisatorische Muster, das hier zum Tragen kommt.1 Orten eine positive oder negative Bedeutung zuzuschreiben, ist aber nur eine Form der Raumsozialisation, und mitunter nicht die wichtigste. Seit den 1920er Jahren und den Arbeiten von Martha Muchow geht man davon aus, dass Kinder sich ihre Handlungsräume aktiv eröffnen, während sie sich in sich kontinuierlich vergrößernden Kreisen immer weiter von ihrem Wohnort entfernen. Auf diese Weise sind Heranwachsende in der Lage, sich über den Prozess der Entfernung und Rückkehr zu einem Ausgangspunkt als eigenständige Individuen wahrzunehmen, die sich durch gelungene Ausflüge in die Umgebung selbstbestätigen können, und zudem für ihr späteres Leben ein Prinzip von Raumorientierung erlernen, das universell einsetzbar ist. Diese Raumsozialisation erfordert einen aktiven Prozess der kognitiven und emotionalen Raumproduktion, d.h. Kinder und Jugendliche müssen Routen, Orientierungspunkte, begehrenswerte Zielorte, Angsträume und Fantasiewelten für sich miteinander verbinden. Dabei lernen sie, wie Vorstellung und Wirklichkeit, erlaubte Zutrittsorte und verbotene Räume, Grenzen zwischen ihnen und den Erwachsenen, Grenzen zwischen sozialen und ethnischen Gruppen und viele weite1

Vgl. Hofmann, Romy: Urbanes Räumen. Pädagogische Perspektiven auf die Raumaneignung Jugendlicher, Bielefeld 2015.

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re Trennlinien sich ihnen gegenüber kenntlich machen und wie sie damit umzugehen haben. Im Allgemeinen bezeichnet man diese Form der Raumsozialisation als Raumaneignung. Wenn sie gelingt und die Ausflüge in die weite Welt mit einem ‚Happy End‘ – weil sie immer wieder den Weg nach Hause finden – belohnt werden, können sich Zuschreibungsprozesse ereignen, die einzelne Orte positiv besetzen. Wenn aber die Raumaneignung scheitert, wird das Zuhause als beklemmend, eng, angsterfüllend erlebt oder eben das Umfeld als ein solches, sodass das Zuhause zu einer ‚Trutzburg‘ wird. Gegen die Theorie der Raumaneignung wurde, nicht zuletzt von den Nationalsozialisten polemisiert.2 Sie impliziert ein paradoxes Raumverständnis, denn nur wer sich frei von Zuhause wegbewegen kann und darf, wird gerne zurückkommen. Gelungene Raumaneignungen setzen ein hohes Maß an Freiheit und eine Offenheit des Zuhauses für die Wiederkehrer voraus. Auch die internationale Forschung zum „place attachment“3 hebt bis heute hervor, dass vor allem Vertrauen und Offenheit als entscheidende Faktoren identifiziert werden können, die zulassen, dass eine Person sich einen Ort auf Dauer kognitiv, emotional und durch sein Verhalten aneignen kann, sodass eine Ortsverbundenheit entstehen kann. Sozialpsychologisch4 gesehen entsteht eine solche Ortsbindung, indem die Bedeutung der sogenannten schwachen (in der Regel nicht-familiären) Beziehungen zwischen Menschen für wichtig erachtet werden, zu denen auch die Erfahrungen gehören, die Kinder und Jugendliche außer Haus machen. Dies bestätigt sich insbesondere in Bezug auf Migranten und deren soziale Netzwerke. 5 2

Vgl. Faulstich-Wieland, Hannelore/Faulstich, Peter: Lebenswege und Lernräume. Martha Muchow: Leben, Werk und Weiterwirken, Weinheim 2012.

3

Vgl. Lewicka, Maria: Place attachment: How far have we come in the last 40 years?, In: Journal of environmental psychology 31/3 (2011), S. 207-231.

4

Vgl. Sandstrom, Gillian M./Dunn, Elizabeth W.: Social Interactions and Well-Being. The Surprising Power of Weak Ties, In: Personality and social psychology bulletin 40, 7 (2014), S. 910-922.

5

Vgl. Ryan, Louise: Migrants’ social networks and weak ties: accessing resources and constructing relationships post-migration, In: The sociological review 59/4 (2011), S. 707-725; Wells, Karen: The strength of weak ties: the social networks of young separated asylum seekers and refugees in London, In: Children’s geographies 9/3 (2011), S. 319-330; Windzio, Michael/Zentarra, Annabel: Die kleine Welt der starken und schwachen Bindungen. Der Beitrag der Sozialkapital- und Netzwerktheorie zur Integrationsforschung, In: Bicer, Emis/Windzio, Michael/Wingens, Mathias (Hrsg.): Soziale Netzwerke, Sozialkapital und ethnische Grenzziehungen im Schulkontext, Wiesbaden 2014, S. 49-73.

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Mit der Entdeckung der Raumaneignung von Kindern gehen aber auch Annahmen einher, die zumindest aus heutiger Sicht problematisch erscheinen. Die Betonung der aktiven Raumproduktion als Ausgangspunkt für die Diskussion um die Ortsgebundenheit ist vollkommen richtig als Absage an die Debatte über Werte und nationale Narrativen verstanden worden. Jedoch ist nicht erkannt worden, dass die Bewertung von Orten nicht unabhängig von Ortsnarrativen stattfindet. Die Theorie der Raumaneignung ergibt sich aus der Erforschung einer sozialökologischen Sichtweise auf das Mensch-Raum-Verhältnis, das vor allem von einem situativen und konkreten Bezug zwischen Mensch und Umwelt ausgeht, wonach sich die entscheidenden Faktoren für die menschliche Interaktion aus der direkten Umgebung ergeben. Eine solche Perspektive wird weiterhin von der Umweltpsychologie vertreten, aber von vielen heutigen Stadtforscher/innen abgelehnt, da sie die Bedeutung von nicht-konkreten bzw. abstrakten Prozessen der Bedeutungskonstitution ausblenden. Das Einfallstor für die Ideologisierung des Gefühls von ‚Zuhause-Sein‘ hat mit eben jenen Sinnebenen menschlicher Raumproduktion zu tun, die sich aus ortsunabhängigen Narrativen, wie dem Regionalen und dem Nationalen, speisen. In der internationalen Forschung6 wird davon ausgegangen, dass multiple Prozesse des „place attachment“ notwendig sind, damit ein Ort sich positiv aneignen lässt und sich abstrakte und konkrete Ortsbezüge gegenseitig unterstützen können, so dass sich parallele Konstruktionen von emotionalen Geografien, (multi-)lokal wie überörtlich, entwickeln.

GLOBAL ORTLOS In der Nachkriegsmoderne hat mit der Automobilisierung der Stadt eine erhebliche Veränderung in der Logik der Raumaneignung und im Muster der Raumsozialisation bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt. In der Pädagogik7 kam schon früh der Begriff der ‚Insel-Sozialisation‘ auf, der beschreiben sollte, dass Kinder nicht mehr selbständig zur Schule gehen und sich ihre direkte Umgebung nach und nach aneignen, sondern durch Personentransport von einer zur anderen ‚Insel‘ ‚springen‘, um Freund/innen zu treffen, Sport zu treiben und zur Schule zu gehen. Sie begleiten ihre Eltern beispielsweise beim Einkauf und auf Reisen, so dass Entfernungen als geographischer Maßstab in ihrer Erfahrbarkeit relativiert werden. 6

Ebd.

7

Vgl. Kögler 2015.

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Während die Mobilisierung des Raums durch die Automobilisierung und ihre Konsequenzen für die Raumsozialisation weitgehend anerkannt sind, sind andere Prozesse, die die individuelle und gesellschaftliche Raumproduktion in ihrer bisherigen Form in Frage stellen, bislang wenig reflektiert worden. Hierzu gehört sicherlich die Virtualisierung von Raum, die an die Mobilisierung der Stadt anschließt. Man könnte sie als die imaginative Form der Verinselung bezeichnen, die allerdings nicht mehr zwangsläufig zu einem physisch beschreibbaren Raum zurückführt. Hier ist die strukturelle Ursache für die Vereinsamung und soziale Fragmentierung zu suchen. Der virtuelle Raum wird oftmals noch als abgekoppelt oder additiv zu den ‚realen‘ Räumen betrachtet, ohne dass dabei die Phasenhaftigkeit von Raumproduktionen berücksichtigt wird. Die virtuelle Stadt8 radikalisiert die Möglichkeit, sich von einem Ausgangsort zu emanzipieren, ihn zu überwinden und neu zu entdecken, ohne dass noch ein ‚Mami-Taxi‘, Straßenbahnen oder eigene körperliche Anstrengung notwendig sind. Entfernungen fallen als Grenze und als Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Menschen aus den dazwischenliegenden Räumen aus. Anthropologisch vollzieht sich dieser Prozess der neuen Raumsozialisation durch eine doppelte Raumimagination: Einer Entortung durch ein ‚Einzoomen‘ in virtuelle Räume folgt eine ReOrientierung an realen Orten. Damit ist urbanistisch ein permanentes Spiel von Ortlosigkeit und Ortskonstruktion nachzuvollziehen, das sich auch als Interchangieren zwischen ortlosen Räumen und verortbaren Räumen fassen lässt. Mit der Überwindung von Entfernung ist die Virtualisierung nur eine logische Konsequenz moderner Raumproduktion, die als Befreiung von lokalen Fesseln und als Versprechen auf ein selbstbestimmtes Leben andernorts motiviert ist und gesellschaftliche und individuelle Unsicherheit hervorbringt. Das Internet setzt damit das Auto in seiner Funktion als Sehnsuchtsvehikel der Moderne fort und ist ohne seine emotionale und imaginäre Logik nicht zu verstehen. Es greift das kindliche Raumaneignungsverhalten auf. Insbesondere die Suchmaschinen des Internets versinnbildlichen die Kontinuität des Ausschwärmens und der glücklichen Rückkehr, mithin einer emotionalen Raumeroberung, die auch schon das Kind der 1920er-Jahre und der chauffierte Grundschüler der Nachkriegsmoderne motivierte. Diese Zielorientierung ist aber wesentlich radikaler in seiner binären Raumkategorisierung. Schon das Auto hat eine deutliche Hierarchisierung des Raumes geschaffen, doch das Internet erzwingt eine permanente 1-0Entscheidung: Will man einer Route folgen oder nicht, klickt man ‚weiter‘ oder schließt man ein Fenster. ‚Surfen‘ – also der Versuch, sich auf Wellen im Inter8

Vgl. Bourdin, Alain/Eckardt, Frank/Wood, Andrew: Die ortlose Stadt. Über die Virtualisierung des Urbanen, Bielefeld 2014.

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net (auf-)halten zu können – ist die fehlleitende Metapher für die häufigste Tätigkeit im virtuellen Raum. Vielmehr wird mit einem Ziel und einer am Prinzip der Effizienz orientierten Bewegung eine Reterritorialisierung virtueller Welten angestrebt. Die binäre Raumordnung des Internets, die sich jede/r aneignet, reproduziert ein umfassenderes Raumordnungsprinzip der virtualisierten Gesellschaft, die nicht an nationalen, regionalen oder urbanen Grenzen Halt macht. Die neue urbane Ordnung bildet sich in der globalisierten Welt durch eine Zentralisierung aus, die mit dem binären Raumverständnis des Internets kompatibel ist bzw. dieses Raumverständnis kommunikativ, imaginär und emotional unterstützt und voraussetzt. Das schon oben beschriebene Paradox der Raumaneignung bestätigt sich hier wiederum: Je mehr Menschen sich in die virtualisierte Raumproduktion begeben, desto stärker wird ihr Bedürfnis nach einem Ankunftsort, der manchmal nichts weiter sein muss als der Raum, mit dem sie weiter global vernetzt sein können. Die Virtualisierung des Raumes bedeutet daher, dass ein Gefühl für das Weggehen und Zurückkehren einerseits nicht mehr so bedeutend ist und die Orte andererseits so sein müssen, dass beides trotzdem immer möglich ist. Die binäre Logik der Virtualisierung besteht in ebendieser Anschlussfähigkeit, die vorhanden ist – oder gerade nicht. Die Zentralisierung bedeutet, dass die Bedeutung von Orten daran gemessen wird, wie sehr diese die maßgeblichen Lebensbereiche des Individuums prägen können. Zentrale Orte im virtuellen Zeitalter sind deshalb nicht ortsgebunden, sondern hängen vielmehr davon ab, inwieweit sie einen sozialisatorischen Effekt ermöglichen. Lernprozesse haben sich durch den Wegfall von Entfernungsgeographien erheblich verschnellert und verbreitert. Die Navigation in den unendlichen Räumen des Wissens wird zur eigentlichen Raumstrategie.

KONTEXT PERIPHERIE Was bedeutet das für die bestehenden Orte, wie können sie in der virtualisierten Gesellschaft ein Zuhause bieten? In den meisten Diskussionen wird auf unterschiedliche Aspekte der örtlichen Versorgung, Gestaltung, auf soziale und wirtschaftliche Daten oder den demographischen Wandel hingewiesen. Bei diesen Einordnungen werden durchaus differenzierte Überlegungen angeführt, die auch die emotionale Seite der Ortsanbindung miteinbeziehen. Viele planerische und politische Programme haben sich daran orientiert und gehen davon aus, dass eine städtebauliche, stadtplanerische oder gestalterische Haltung gegenüber diesen Einflussfaktoren notwendig ist. Obwohl es vermutlich keine Alternative zu einer

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solchen pragmatischen politischen Positionierung, der zufolge man durch lokales Handeln Menschen an einen Ort binden kann, gibt, ist doch eine gewisse Skepsis angebracht. Es ist zu offensichtlich, dass die ‚Abstimmung mit den Füssen‘ – also der Wegzug aus manchen Regionen der neuen Bundesländer oder des Ruhrgebiets – zeigt, dass trotz jahrzehntelangem Bemühen, die gewünschten Effekte nur begrenzt eintreten. Im Sinne der oben ausgeführten Betrachtungsweise greifen bisherige Planungen die Einsicht in die neue Logik der de- und reterritorialisierten Räume nicht auf. Zwei wichtige Konsequenzen aus der veränderten, virtualisierten Ortsproduktion müssten der Anschluss an die zentralisierte Raumproduktion der unterschiedlichen ‚global flows‘ einerseits und die Einsicht einer Gefahr der Peripherisierung als Ausgangspunkt für das gesellschaftliche Engagement andererseits sein. Der Begriff der Peripherie kommt ursprünglich nicht aus der Raumplanung oder -forschung. Sein Ursprung im Bereich der internationalen Politik lässt sich auf die sogenannte Dependenz-Theorie zurückführen, wonach die Weltordnung in ein nördliches Zentrum und eine südliche Peripherie eingeteilt ist.9 Zwischen Zentrum und Peripherie besteht ein ungleiches Verhältnis, weil die wirtschaftliche Entwicklung des Zentrums auf Kosten einer Unterentwicklung der Peripherie erfolgt. Auch wenn im Kontext der raumplanerischen Übernahme des Peripherie-Begriffs über eine solche Kausalität in der Regel kein Konsens besteht, kann von der Peripherie-Diskussion in der Politikwissenschaft gelernt werden, dass die Beschreibungen von peripheren Räumen auch durch ein Entwicklungsverständnis geprägt sind, das Interferenzen zwischen Zentrum und Peripherie behauptet, und dass eine politische Aufgabe darin bestehen sollte, die Unterschiede zwischen diesen beiden Räumen auszubalancieren. Diesem Peripherie-Verständnis sind in den 1990er-Jahren viele Akteur/innen und Wissenschaftler/innen in raumbezogenen Disziplinen gefolgt. Vor allem auf der Ebene der Europäischen Regionalpolitik, die die peripheren Räume als förderungsfähig kategorisierte, spielte der Begriff der Peripherie eine wichtige Rolle. Aus diesem Grunde wurden nach der deutschen Wiedervereinigung die neuen Bundesländer als „peripher“ beschrieben.10 Die geringe wirtschaftliche Integration des Osten Deutschlands in den Weltmarkt wurde als ein Ausdruck eines umfassenden Transformationsprozesses gesehen, der sich auf alle Orte in den neuen Bundes9

Vgl. Kappel, Robert: Kern und Rand in der globalen Ordnung: Globalisierung, Tripolarität, Territorium und Peripherisierung, In: Peripherie 15/59-60 (1995), S. 79-117.

10 Vgl. Müller, Katharina: Transformation als Peripherisierung, In: Berliner Debatte Initial 3 (2002), S. 17-26; Schmidt, Rudi: Peripherisierung Ostdeutschland, In: Oswalt, Philipp (Hrsg.): Schrumpfende Städte. Ein Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes, Ostfildern 2004, S. 58-63.

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ländern gleichermaßen bezog und deshalb zu flächendeckender Schrumpfung der Einwohnerzahlen und den damit zusammenhängenden sozialen Probleme führte.11 Nach wie vor kann man sagen, dass die Erforschung der ostdeutschen Räume stark von der Annahme geprägt wird, dass die Peripherisierung der Ausgangspunkt für die räumlichen Schrumpfungsprozesse ist und die peripheren Städte von Abhängigkeiten gegenüber den wirtschaftlichen Prozessen in den Zentren geprägt sind.12 Die Erforschung peripherer Räume hat sich seit den 2000er-Jahren aber auch erweitert und neue Themengebiete aufgegriffen. Diese Perspektiverweiterung korrespondiert mit verschiedenen Beobachtungen, die eine Kategorisierung von Räumen spezifischer zu betreiben versucht. Hierzu gehört die Erkenntnis, dass Peripherien nicht unbedingt geographisch weit entfernt sein müssen, wie dies bei den ‚abgehängten‘ Regionen im Osten Deutschlands der Fall ist. Mit der Publikation von Prigge (1998)13 wurde deshalb provokant behauptet, dass die Peripherie überall sei. Richtigerweise wurde darauf hingewiesen, dass sich Peripherisierungen auch in relativer Nähe zu ‚boomenden‘ Städten und Regionen finden lassen. Periphere Städte sind somit durch ihre entlegene Lage vielmehr sinnbildlich geprägt, da sie von den wichtigen Innovationsprozessen der Ökonomie abgekoppelt sind. Diese Peripherisierung übersetzt sich auch in eine geographische Abkoppelung, weil etwa Investitionen in die Infrastruktur ausbleiben.14 Die sozialgeographische Raumordnung beruht somit nicht auf einer dualen Zentrums-Peripherie-Struktur, die sich nur durch lokale Studien vor Ort beschreiben ließe. Des Weiteren haben neuere Studien gezeigt, dass bestehende Raumkategorien wie ‚Land‘ und ‚Stadt‘ durch die Peripherisierung trotzdem nicht bedeutungslos werden. Es stellt sich vielmehr heraus, dass die unterschiedlichen vorhandenen Raumtypologien andeuten können, in welcher Weise und in welcher Intensität sich die Peripherisierung auf dem Land sowie in Klein- oder Mittelstädten auswirkt. Die Relativierung der Skalen11 Vgl. Barlösius, Eva/Neu, Claudia (Hrsg.): Peripherisierung - eine neue Form sozialer Unsicherheit?, Berlin 2008. 12 Vgl. Bernt, Matthias/Liebmann, Heike (Hrsg.): Peripherisierung, Stigmatisierung, Abhängigkeit? Deutsche Mittelstädte und ihr Umgang mit Peripherisierungsprozessen, Wiesbaden 2013. 13 Prigge, Walter: Peripherie ist überall, Frankfurt a. M. 1998. 14 Vgl. Kühn, Manfred: Abgehängt? Peripherisierung und Chancen derEntperipherisierung von Klein- und Mittelstädten, In: Emunds, Bernhard/Czingon, Claudia/Wolff, Michael (Hrsg.): Stadtluft macht reich/arm. Stadtentwicklung, soziale Ungleichheit und Raumgerechtigkeit, Marburg 2018, S. 155-176; Kühn, Manfred: Peripherisierung und Stadt. Städtische Planungspolitiken gegen den Abstieg, Bielefeld 2016.

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Differenzen bedeutet nicht, dass peripherisierte Orte ungeachtet ihrer Größe auf gleiche Weise betroffen sind und den gleichen Weg wählen, um auf die Peripherisierung zu reagieren.15 Dennoch kann insbesondere in Bezug auf die Abwanderung vor allem für das peripherisierte Land eine besondere Problematik identifiziert werden.16 Die Schwierigkeit abgehängter Land-Kommunen liegt vor allem auch in der ubiquitären Verbreitung eines urbanen Lebensstils, mit dem insbesondere das peripherisierte Land nicht mithalten kann. Aus der Differenz zum erwarteten urbanen Lebensstandard ergibt sich ein peripherer Lebensstil, bei dem mediale Vermittlungen sozialisatorische und raumorientierende Funktionen übernehmen, die klassischerweise in Städten aus einer gelebten Urbanität entstehen.17 Insbesondere in Bezug auf die Integration von Geflüchteten und den Umgang mit dem ‚Anderen‘ im Sinne einer Diversität der Lebensstile stellt sich dabei die Frage, ob periphere Räume einen Lebensstil bedingen, der die für die Ansiedlung notwendige Offenheit aufweist, die neben der Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen, Bildungs- und Wohnangebote erforderlich ist.18 Einen ersten Hinweis darüber kann die von den Einwohnern vor Ort selbst bekundete Zufriedenheit geben. In einer vom Bundesinstitut für Stadt-, Raum- und Bauforschung durchgeführten Befragung19 wird bestätigt, dass die wirtschaftliche Lage vor Ort und der Wohnstatus eine wichtige Rolle für die Zufriedenheit mit dem eigenen Wohnort spielen. Konstatiert wird dabei auch, dass sich die Nähe zu Großstädten positiv auswirkt. Internationale Studien unterstreichen jedoch vor allem die Be15 Vgl. Bernt, Matthias: Peripherisierung, Schrumpfung und Governance. Handlungsansätze der Stadtpolitik in sechs deutschen Mittelstädten, In: Haus, Michael/Kuhlmann, Sabine (Hrsg.): Lokale Politik und Verwaltung im Zeichen der Krise?, Wiesbaden 2013, S. 256-273; Bernt/Liebmann, Peripherisierung. 16 Vgl. Neu, Claudia: Urbanisierung, Peripherisierung und Landflucht 3.0, In: Eichert, Christof/Löffler, Roland (Hrsg.): Landflucht 3.0. Welche Zukunft hat der ländliche Raum?, Freiburg 2015, S. 18-33; Keim, Karl-Dieter: Peripherisierung ländlicher Räume, In: Aus Politik und Zeitgeschichte 37 (2006), S. 3-7. 17 Vgl. Eckardt, Frank: Eine periphere Gesellschaft. Regionalentwicklung zwischen Erfurt und Weimar, Marburg 2002. 18 Vgl. Bürk, Thomas/Fischer, Susen: Zuwanderung aus dem Ausland. Eine Perspektive für Städte des peripherisierten Raums?, In: Bernt, Matthias/Liebmann, Heike (Hrsg.): Peripherisierung, Stigmatisierung, Abhängigkeit? Deutsche Mittelstädte und ihr Umgang mit Peripherisierungsprozessen, Wiesbaden 2013, S. 178-192. 19 Vgl. Gatzweiler, Hans-Peter: Klein- und Mittelstädte in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, Stuttgart 2012.

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deutung der Abgelegenheit (remoteness) für die emotionale Ortsbindung.20 Die ökonomische Peripherisierung wird in der Wahrnehmung der Bewohner als geographische Abgeschiedenheit erfahrbar. Die Distanz zu urbanen Zentren ist dann besonders schwer zu ertragen, wenn eine geringere allgemeine und infrastrukturelle Versorgung des eigenen Ortes im Vergleich zu anderen vorhanden ist.

HEIMAT THÜRINGEN Die Beschäftigung mit dem Bundesland Thüringen liefert uns in diesem Zusammenhang viele Stichworte, um ein essentielles Verständnis von Ortsgebundenheit für seine Bürger/innen zu formulieren. Die Landschaft ist beeindruckend und überall präsent. Sie als Identitätsstifterin anzunehmen, funktioniert aber nur teilweise, weil sie im Flächenstaat nur von bestimmten Perspektiven aus wahrnehmbar wird und in ihrer räumlichen Morphologie divers ist. Die Städte – vielleicht mit Ausnahme von Erfurt – kann man ebenfalls als landschaftlich eingebettet wahrnehmen. Naturbezüge müssen nicht reflexiv hergestellt werden, sondern ergeben sich aus direkter Erfahrbarkeit und sind somit in der Wahrnehmungsgeographie nicht der Urbanisierung unterworfen. Von einer verstädterten Landschaft kann hier nicht gesprochen werden, von einer postmodernen Stadtlandschaft bestenfalls entlang der Autobahn Frankfurt-Dresden - und auch hier nur zwischen Weimar und Erfurt. Die immer wieder diskursiv beschriebene Städte-Kette Eisenach-Gotha-Erfurt-Weimar-Jena-Gera existiert in Planungsdiskursen, aber sie hat nicht zur Auflösung der modernen Städte-Geographie mit ihrer Zentrumsorientierung zugunsten eines vernetzten städtisch-suburbanen Raumkontinuums geführt, wie es zu Zeiten der „Postmetropolis“ 21 zu erwarten wäre. Die funktionale, räumliche und narrative Verschmelzung der Städte Thüringens zu einem Bezugsraum für Politik, Gesellschaft und vor allem Wirtschaft ist zwar in Anlehnung an andere Metropoleregionen in Deutschland durchaus zu einem politischen Gedanken geronnen, diesem fehlt aber weitestgehend die Umsetzungsperspektive. Nicht zuletzt hat die Kontroverse um die Gebietsreform gezeigt, dass Thüringen keine gewachsene postmetropolitane Landschaft hat, sondern an einem ‚gewachsenen‘ Raumbezug festgehalten hat. 20 Vgl. McKnight, Matthew L. u.a.: Communities of Place? New Evidence for the Role of Distance and Population Size in Community Attachment, In: Rural sociology 82/2 (2017), S. 291-317. 21 Vgl. Soja, Edward W.: Postmetropolis. Critical studies of cities and regions, Oxford 2000.

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Dennoch sind an einer Lesart Thüringens Zweifel angebracht, nach der die Phase der modernen Raumordnung bereits (vollständig) überwunden worden ist. Nach wie vor lassen sich moderne Raumstrukturen erkennen, die klare Unterscheidung zwischen Land und Stadt und sogar eine vormoderne Dominanz der Landschaft in der Raumwahrnehmung der Bewohner und Betrachter nahelegen. Nach den Kategorien der Raumplanung gehören ca. 90 Prozent der Fläche Thüringens zum ländlichen Raum und 764 der insgesamt 849 Thüringer Gemeinden gelten als ländlich geprägt. Doch die Einordnung als ‚Land‘ bezeichnet die eigentliche räumliche Kategorie, die Thüringen ausmacht, nicht treffend. Anstelle einer Zuordnung zum ‚ländlichen Raum‘ wäre es korrekter, wenn die Kleinstadt als eigentliche raummorphologische Struktur Thüringens in den Blickwinkel fiele, denn von den 2,17 Millionen Menschen leben zwei Drittel in Gemeinden von weniger als 1.000 Einwohner/innen. Ob es sich hierbei nur um große Dörfer, Siedlungen oder Durchgangsorte handelt, spielt für die Beurteilung dieser Raumkategorie zunächst keine Rolle. Sie lediglich als ‚ländlich‘ zu bezeichnen, missachtet aber die Tatsache, dass sich ihr Bestehen nicht mehr auf eine weitgehend verlorengegangene agrarwirtschaftliche Funktion beschränkt, sondern nach einer neuen Existenzberechtigung sucht. Die Klein- und Kleinststädte Thüringens stellen keine ‚Miniatur-Versionen‘ eigentlicher Städte dar, durch die sich eine Vergleichbarkeit zu den urbanen Zentren Erfurt, Jena oder Weimar auf kleinerer Basis ergeben würde. Kleine urbane Räume kennzeichnen sich durch eine eigene raison d'être, die sich durch eine besondere sozio-ökonomische Struktur und eine andere Art der Ortsbindung auszeichnet. Der Unterschied zwischen Stadt und Kleinstadt zeigt sich in Thüringen insbesondere an der Unfähigkeit dieser Orte, ihre Einwohner/innen an sich zu binden. Das Thüringer Amt für Statistik dokumentiert diese Entwicklung anhand der Einwohnerzahlen: So hat sich der Einwohnerverlust seit der Wiedervereinigung bis ca. 2006 relativ gleichmäßig auf den Freistaat ausgewirkt, und ist insgesamt wohl in erster Linie der Anbindung an den Weltmarkt zuzuschreiben. Doch auch der ‚Flow‘ an Bildern aus einem ‚anderen Leben‘ hat zu einer veränderten Geburtenrate und der Verbreitung suburbaner Lebensstile geführt. 22 Vereinfacht kann man diese Phase im Sinne der oben ausgeführten Logik der globalen Flüsse als Prädominanz der Deterritorialisierung bezeichnen. Ab Mitte der 2000er Jahre ist es mancherorts gelungen, Territorialität zurück zu gewinnen und Anschluss an den so genannten gobal flow von Menschen in den Sozialformen von Studierenden, Touristen, Arbeitnehmern und anderen zu finden.

22 Vgl. Eckardt: Periphere Gesellschaft, 2002.

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Abbildung 1: Ungleiche Entwicklung in Thüringen

Quelle: Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft.

Den Städten Erfurt, Weimar und Jena ist es offensichtlich gelungen, sich neu zu definieren und auf unterschiedliche Weise als Orte so zu rekonstruieren, dass sich dies im Anstieg der Einwohnerzahl widerspiegelt. Diese Re-Territorialisierungen ergeben sich nicht in erster Linie durch eine Zuwanderung, etwa durch Migration. Vielmehr sind sie als Produkt vielfältiger Beziehungen der Städte zur globalen ‚Wahrnehmungslandschaft‘ zu sehen. Städte können sich dort behaupten, wenn es ihnen in einer global-national medialisierten Urbanität, die mit codierter Symbolik agiert, gelingt, um dauerhaft dort Aufmerksamkeit zu finden. Die Inhalte der globalen Ortskommunikation sind offensichtlich in den drei Fällen unterschiedlich, aber sie folgen dem Code der jeweiligen Sphäre (Wissen, Kultur, Arbeit, Urbanität). Und dieser Code ist auch den Räumen Thüringens nicht fremd, die mit Einwohnerverlust zu kämpfen haben. Während in einer modernen Raumordnung die Schaffung von ökonomischen Standortvorteilen entscheidend ist, muß jedoch im heutigen Raum des „global flow“ vor allem eine ortsspezifische Semantik entwickelt werden, die die jeweilige Kleinstadt auf die imaginäre Landkarte der vernetzten Weltgesellschaft setzt. Viele Städte haben

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darauf reagiert, Marketing-Konzepte entwickelt und suchen nach einer neuen Identität.23 Der entscheidende Faktor, um die räumliche Bifurkation Thüringens zu verstehen, scheint die binäre Logik der globalisierten und virtualisierten Raumproduktion zu sein. Thüringen vollzieht innerhalb kürzester Zeit eine Neuordnung von Raum nach dem Prinzip der neuen Zentralität und Peripherie, das nicht zuletzt in den Bevölkerungsstatistiken als Ordnungsprinzip erkennbar ist. In dieser Hinsicht ist die statistische Beschreibung auch irreführend, weil die Zentralisierung als Lebensprinzip selbst im tiefsten Thüringer Wald zugange ist. Ebenso lassen sich periphere Räume in den Wachstumsstädten erkennen, die zwar in geographischer Nähe zu den global vernetzten Räumen von Universitäten, Unternehmen, Kultur und Politik bestehen, diese Nähe aber keinen Anschluss impliziert. In den Städten Erfurt, Weimar und Jena ist es lediglich besser möglich, die persönlichen Virtualisierungen symbolisch im öffentlichen Raum repräsentiert zu sehen. Damit gelingt es diesen Städten bis zu einem gewissen Grad, ein sogenanntes „delinked milieu“24 zu etablieren und auch emotional zu beheimaten. Für die meisten Menschen ist es aber nicht unbedingt wünschenswert, diesem Milieu anzugehören oder dessen Lebensstil nachzueifern. Nach rationaler Abwägung geht es nicht darum, Möglichkeiten der Lebensplanung an jenes entkoppelte Milieu zu binden, sondern es als einen Ort der Produktion eines virtuellen Raums erleben zu können, durch den man mit seinen eigenen Lebensvorstellungen navigieren will.

PERIPHERES UND ZENTRALES CAMBURG Die Gleichzeitigkeit und ‚Gleichortigkeit‘ von Peripherisierungen und Zentralisierungen durch die Virtualisierung von Räumen kann zu einer physischen Reterritorialisierung – u. a. durch Einwohnerzuwachs – führen. Zumeist ist die Rückgewinnung von Raum aber eher ein subtilerer, handlungs- und wahrnehmungsprägender Prozess, der sich teilweise gestalterisch und oftmals personifiziert äußert, und der in vielen Fällen mit dem Entstehen von neuen sozialen Netzwerken zu tun hat. Als Beispiel für diesen eher flüchtigen Prozess, der sich 23 Vgl. Eckardt, Frank: Suhl ohne Sushi. Das Leben in einer Kleinstadt in Ostdeutschland heute – Ergebnisse einer Sozialraumwerkstatt, In: sozialraum.de 7/1 (2015), https://www.sozialraum.de/suhl-ohne-sushi.php (10.07.2018). 24 Vgl. Dürrschmidt, Jörg: Everyday lives in the global city. The delinking of Locale and Milieu, London 2002.

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nicht so schnell in quantifizierbaren Fakten niederschlägt, mögen einige Beobachtungen aus Camburg dienen. Die Kommune mit 2.600 Einwohnern im Nordosten Thüringens bietet alles, um eine Einordnung in eine periphere Ortschaft zu begründen. Peripher ist sie zunächst durch ihre geographische Lage im Saale-Holz-Landkreis und somit als Teil einer schrumpfenden ostdeutschen Region. Die Entwicklungen nach der Wiedervereinigung, die eine wirtschaftliche Restruktierung erforderlich machten, führten zu einer Konkurrenzsituation, der sich die vormalige DDR-Industrie nicht gewachsen sah. Das Zementwerk, die Stahl- und Spanfabriken mussten wie die Bierbrauerei schließen. Investoren aus dem Westen kauften teilweise Immobilien zu sehr günstigen Preisen und die emblematische Mühle der Stadt ist seit Jahren ungenutzt. Camburg wurde auch verkehrstechnisch recht bald ‚abgehängt‘: Die direkte Eisenbahnverbindung von Camburg nach Zeitz und Gera, die erst in den 1980er Jahren eingerichtet worden war, wurde wieder stillgelegt, weil sie nicht mehr für die Belieferung der Fabriken genutzt wurde. Die Peripherisierung setzte sich auch noch auf andere Weise um: Es vollzog sich eine kulturelle Abkoppelung von wichtigen gesellschaftlichen Prozessen, während sich eine Neu-Definition des Ortes nur langsam nachzeichnen lässt. Camburg geht nahezu nahtlos in eine Vielzahl kleinere Orte über oder ist mit diesen über eine kurze Reichweite verbunden. Die Erkenntnis, dass eine Verbesserung der Situation auch eine effiziente Planung und politische Unterstützung benötigt, mag zum Zusammenschluss der Orte Dornburg, Dorndorf-Steudnitz, Camburg, Tümpling, Stöben, Posewitz, Zöthen, Döbrichau, Döbritschen, Hirschroda, Wilsdorf, Schinditz und Wonnitz im Jahr 2008 geführt haben. Diese politische Integration hat aber keineswegs die lokalen Identitäten abgelöst oder auch nur miteinander versöhnt. Die mentale Peripherisierung hat dazu geführt, dass man sich auf ein essenzielles Selbst-Verständnis zurückgezogen hat. Dazu muss man sagen, dass Camburg in einer sehr schönen Landschaft liegt, die von der Saale mit Kalksteinhügeln und Flusswiesen geprägt ist und dem zu entsprechen scheint, was seit dem 19. Jahrhundert als eine ‚romantische‘ Landschaft verstanden wird. Mit einem Rückbezug auf dieses vorhandene ‚Bild-Setting‘ ist es der Stadt tatsächlich gelungen, sich einen erneuten Anschluss an die mobile und virtuelle Welt zu verschaffen. Der Fahrradtourismus – insbesondere am Fluss – sowie Aktivitäten auf dem Wasser beleben den Ort während der warmen Jahreszeiten. Wirtschaftlich wurde das bislang aber nur mit dem Unternehmen KanuToursCamburg umgesetzt, das verschiedene Freizeitangebote für Touristen schafft, ansonsten fehlt es noch an Gaststätten oder Hotels, die den Trend verstärken und nutzen könnten. Die Verkehrsanbindung Camburgs könnte durch den guten Anschluss an das regionale Straßennetz auch für eine solche Redefini-

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tion des Ortes im Kontext des Tourismus sprechen. Jedoch ist der Ort wirtschaftlich wegen der erfolgreichen Ansiedlung von Unternehmen der Metall- und Kunststoffverarbeitung, der Produktion von Tiernahrung sowie vielerlei Handwerksbetriebe nicht unbedingt auf eine touristische Wiederentdeckung angewiesen. Deshalb kommt es zu der widersprüchlichen Entwicklung, dass eine industrielle Anbindung an die überregionalen Märkte unternommen wird, während eine kulturelle Peripherisierung zu großen Teilen aufrecht erhalten wird. Das bedeutet, dass die an sich global codierbare Saale-Landschaft zwar Semantiken eines ‚romantischen‘ Lebensgefühls transportieren, aber die Wiedererkennung desselben in der lokalen Ortskonstruktion nicht erfolgen kann. Damit bekommt das Romantische eine ephemere Bedeutung, die nicht re-territorialisiert wird. Anstatt im Ort neue Ausflugslokale für die globalisierten Radler aus Jena und dem Rest der Welt aufzubauen, werden die letzten lokalen Cafés geschlossen. Man zieht sich auf das Private zurück und schließt die Netzwerke vor Ort, sodass sich eine hohe Konsistenz und Lokalität nicht als Ressource für Austausch, sondern für die Kontrolle des Zugangs zu den sozialen Beziehungen fungiert. Das ist auch der ideale Einfallsort für die Ideologisierung der Ortsbindung. Es dürfte nicht verwundern, dass der AfD-Kreisverband „Gera-Jena-Saale HolzlandKreis“ Familienfeiern und Bürgerstammtische im ehemaligen Camburger Baumarkt an der Tümplinger Straße organisiert.25 Die Kulisse der Stadt wird für eine narrative Einbindung in eine explizit re-traditionalisierende Politik genutzt, die anscheinend an diesem Ort eine Bestätigung für emphatische Heimatverbundenheit sieht. Wie sehr dies eine Abkehr von einer modernen Form von Zugehörigkeit und Ortsverbundenheit bedeutet, deutet der Einzug eines vermeintlichen Reichsbürgers in den Ortsrat an.26 Die Symbolik der räumlichen Wiedererkennung, die in Zeiten der Virtualisierung so wichtig ist, kann sogar noch genauer gefasst werden: Es zeigt sich in der Burg Camburg, die zwar bereits im 12. Jahrhundert erstmals aktenkundig erwähnt wurde, von der aber heute nur noch der dreißig Meter hohe Bergfried bewahrt ist. Die übrigen Gebäudeteile der Burg stammen aus dem vorletzten Jahrhundert und sind als ‚Kinder ihrer Zeit‘ schon damals Beispiele früher Re-Traditionalisierung gewesen. Heute könnte sich die 25 AfD feiert Sommerfest, In: Thüringische Landeszeitung online, 25.08.2017, https://m.tlz.de/web/mobil/jena/detail/-/specific/AfD-feiert-Sommerfest-1145979139, (02.10.2018). 26 Gerüchte um Reichsbürger im Stadtrat, In: Ostthüringische Zeitung online, 7.06.2018 https://jena.otz.de/web/jena/startseite/detail/-/specific/Geruechte-um-Reichsbuergerim-Stadtrat-1744630163, (02.10.2018).

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Burg wiederum als Ort in die globale Bilderwelt einspeisen, doch gelingt dies mit lediglich 20.000 Touristen pro Jahr kaum. Um codierbar zu sein, wären eine Aktualisierung von Gestaltung und Erscheinungsform, sowie eine erhöhte Kundenfreundlichkeit – etwa mit einem Café und einem modernem Museumsshop – notwendig, diese werden jedoch nicht angestrebt. So bleibt die Burg, weil sie als Besitz der Stadt ökonomischen Zwängen weitgehend entzogen ist, in ihrer Authentizität unreflektiert und abseits vom Kampf um allgemeine Aufmerksamkeit. Abbildung 2: Bahnhof Camburg (Saale), Stellwerk Cs

Quelle: Wikimedia Commons. (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bf_Cam burg_Stellwerk_Cs.JPG?uselang=de; Urheber: Blaufisch123.)

Dabei ist Camburg auch zentralisiert. Dazu gehört nicht nur die wirtschaftliche und verkehrstechnische Anbindung, sondern auch eine kulturelle Rekonstitution der Ortsanbindung. Am augenscheinlichsten wird dies dort, wo die noch national ausgerichtete Moderne ihre Ruinen hinterlassen hat. Hierzu gehört etwa das alte Stellwerk, das durch die heutigen Steuerungsformen der Eisenbahn nutzlos geworden ist. Die Berliner Künstlerin Natalia Irina Roman etwa hat sich mit einer Gruppe von Studierenden der Bauhaus-Universität Weimar die Aufgabe gestellt, zumindest zeitweilig eine anderen Blick auf diesen Ort zu werfen, indem sie die ästhetischen Qualitäten dieses Raumes offenzulegen versuchte. Wesentlich intensiver wirken sich die Arbeiten von zwei Engländern aus, die sich den Umbau des alten Bahnhofs und die Einrichtung einer Gaststätte an dieser Stelle vorge-

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nommen haben.27 Die deutlichste Zweiteilung zwischen Peripherie und Zentralität wird aber gerade in Bezug auf den Umgang mit der Ortsgeschichte deutlich. Da wäre auf der einen Seite ein Verein, der sich als Heimatkreis in der Grafschaft Camburg konstituiert hat, auf der anderen Seite das Museum Camburg, das schon 1949 im alten Amtshaus eröffnet wurde. In den Ausstellungsräumen können die Besucher vielfache Einblicke in die Handwerks- und Industriegeschichte von Stadt und Region gewinnen. So kann man zum Beispiel eine komplette Stellmacherwerkstatt, eine Böttcherei, eine Schusterei, eine Buchbinderei, eine vollständige Drogerie, alte Gefängnisräume und viele Exponate betrachten. Durch diese Anschaulichkeit der Geschichte, vor allem auch der Industrialisierung und der Welt der Arbeit insgesamt, bietet der Ort ein Narrativ an, das sich nicht auf eine - wie auch immer zu beschreibende - Tradition beruft, die von erfahrener Geschichte entkoppelt wäre, sondern den Anschluss an die Codifizierung von Arbeit und Industrie als Erbe und bewahrenswerte, ‚intangible‘ Erinnerung zulässt. Eine solche Anbindung an die Neu-Entdeckung manueller Arbeit im Zeitalter der Virtualisierung entspricht den Versuchen einer reflektierten Wiedergewinnung von Anschaulichkeit und Erfahrbarkeit von Orten, wodurch sich ortsübergreifende Erzählungen im postindustriellen Kontext erst verdeutlichen lassen. Während sich einerseits ein Heimatverein sozusagen auf das lokal Spezifische fokussiert und die Ortsbindung als einen Akt der Suche nach historischen Details von lokaler Bedeutung herstellen möchte, ist das Museum mit seinem Narrativ des Arbeitens ein Diskursangebot für die Selbstversicherung in der virtualisierten Welt, die die Aushandlung zwischen Imagination bzw. Ortsentfremdung und Arbeit bzw. Ortsbindung benötigt.

FAZIT Sich in einer globalisierten Welt ‚zu Hause‘ zu fühlen ist kein einfaches Unterfangen. Die Virtualisierung von gesellschaftlichen Prozessen ermöglicht ein anderes Raumverständnis, das mit Entfernung und Geographie nur bedingt beschreibbar ist. Die Kunst scheint zu sein, die Phasenhaftigkeit von Orten besser zu verstehen und Schattierungen des Gefühls von ‚Zuhause-Sein‘ zu zeichnen, ohne an dem Anspruch zu scheitern, sich mit einem Ort identifizieren zu müs27 Wie zwei Engländer den Camburger Bahnhof retten wollen, In: Thüringer Allgemeine online,

20.03.2017,

https://www.thueringer-allgemeine.de/web/zgt/leben/detail/-

/specific/Wie-zwei-Englaender-den-Camburger-Bahnhof-retten-wollen-849664343, (02.10.2018).

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sen. Ortsidentifikation würde bedeuten, dass Lebensentwurf, Lebensumstände, Angebote und Möglichkeiten der jeweiligen Person, die zudem hinreichend mit virtuellen Alternativen abgeglichen wurden, dazu führen, dass eine Kongruenz zwischen Person, Ort und Vorstellungsräumen entsteht. Eine solche Anforderung dürfte in Zeiten geringer kultureller Diversität und kontrollierten Austausches, mit einem Wort: in der prämodernen Ortschaft, noch denkbar sein. Für heute kann eine Identifikationsanforderung nur als überfordernd gewertet werden. Vielmehr gilt, dass insbesondere Kinder und Jugendliche erlernen zu navigieren, wie sie Mobilität, Virtualität und die Suche nach einem Ort – zum Bleiben und Weggehen zugleich – miteinander verbinden können. Auch dies ist kein einfaches Unterfangen. Die Anerkennung dieser Herausforderung würde bedeuten, dass man Orte in schrumpfenden Regionen durchaus als zentrale Orte verstehen könnte, wenn sie in ihrer Anbindung an sinnstiftende Vorstellungen, Konzepte, Bilder und Sehnsüchte gesehen würden, statt sie mit retraditionalisierten Vorstellungen von Landschaft von den globalen Wahrnehmungsgeographien abzukapseln. Insbesondere für Jugendliche und deren Raumsozialisation dürfte es entscheidend sein, wie sehr ihnen ermöglicht wird, an diesen virtualisierten Räumen teilzuhaben. Wie eine Vergleichsstudie28 über das Aufwachsen in drei peripheren Kleinstädten in Thüringen gezeigt hat, ist es nicht entscheidend, dass Kindern und Jugendlichen vor Ort all das geboten wird, wozu sie in der (großen) Stadt Zugang hätten. Entscheidend ist, dass aus einer peripheren Lage zumindest der virtuelle Zugang zu zentralen Orten der Gesellschaft erreichbar ist, so dass man sich über die Nachteile der abgelegenen Lage und Defizite in Infrastruktur und Versorgung hinwegsetzen (sie also deterritorialisieren) kann. Wenn dies nicht möglich ist, wird die Kleinstadt zum Gefängnis und nichts kann die jungen Leute mehr dort halten, weder die Landschaft noch die Familie oder ein noch so guter Job. Die Rückkehr – imaginär oder physisch – gelingt ebenfalls nur, wenn eine Ortsanbindung nicht das Aushandeln der Ortsverbundenheit ermöglicht und ein permanentes Interchangieren zwischen den verschiedenen Welten möglich bleibt. Das muss mit sozialen Netzwerken sowie durch ästhetisch-gestalterische Elemente symbolisch im Raum erkennbar sein, um die Sicherheit herzustellen, dass man nicht nur vor dem Computer und eingeschlossen in den eigenen Wänden zu Hause so sein darf, wie man gerne möchte.

28 Vgl. Eckardt, Frank: Rurbanität als Sozialraum. Jugendliche in der Thüringer Peripherie und die Verhandlung eines urbanen Lebensstils, In: Langner, Sigrun/FrölichKulik, Maria (Hrsg.): Rurbane Landschaften: Perspektiven des Ruralen in einer urbanisierten Welt, Bielefeld 2018 (i. E.).

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Heimat oder das Projekt vom Glück auf Erden Renate Zöller

Es ist offensichtlich: Die Heimat ist ‚in‘, sie liegt im Trend. Es gibt unzählige Lokale, Agenturen, Geschäfte, die mit dem Begriff spielen, Heimat-Magazine, Heimat-Blogs; moderne Heimat-Filme; Trachten sind wieder modern; Speisen aus der ‚Heimat‘ – also regional produziert – werden immer beliebter; Tim Mälzer schrieb ein Kochbuch Heimat. Und in Wien gibt es sogar ein ChinaRestaurant mit dem Namen Heimat. Offenbar lockt viele Menschen statt Jet-Set und Fernweh das vermeintlich ‚einfache Leben‘ im Einklang mit der Welt, in der wir leben, die Rückkehr zu einer heilen Natur, zu Achtsamkeit, gesunder Ernährung. Es sind Klischeevorstellungen, die den meisten Menschen beim Stichwort Heimat als erstes in den Sinn kommen: blühende Alpenlandschaften, gemütliche, rustikale Gaststätten mit brennendem Kamin und Hirschgeweihen an den Wänden, Geselligkeit. Aber diese Klischeevorstellungen scheinen ein inneres Bedürfnis vieler Menschen anzusprechen – und erweisen sich damit als gutes Marketinginstrument. Als Marketinginstrument dient die Heimat auch immer wieder in der Politik. Üblicherweise wird die Liebe zur Heimat vom rechten politischen Spektrum genutzt. So romantisch und harmlos die Symbole auch daherkommen, politisch gesehen wird die Heimat häufig missbraucht, um die Wertvorstellungen einer meist kleinen, sich als Hüter und Bewahrer stilisierenden Gruppe absolut zu setzen und ‚fremde‘ Menschen auszugrenzen, wobei Sorgen in massiver Weise zu Bedrohungsängsten verdichtet werden. Ein Verlust von Heimat ist das gängige Menetekel. Die Alternative für Deutschland etwa sieht sich in dieser Rolle. Alexander Gauland schrieb am 25. April 2018, die Bürger in Deutschland „fürchten den Verlust ihrer Heimat durch die anhaltende Zuwanderung“.1 Die Aufgabe der 1

Gauland, Alexander: SPD hat beim Familiennachzug Bezug zur Realität verloren,

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AfD sei es seiner Ansicht nach „Deutschland wieder auf den Weg zurück zu führen, der auch unseren Kindern und Enkeln ein Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand in ihrer Heimat garantiert“.2 Doch längst ist Heimat politisch nicht mehr eindeutig zu verorten. In Österreich nahm Grünen-Politiker Alexander van der Bellen im Wahlkampf 2016 der FPÖ das politische Instrument aus der Hand, indem er selbst mit seiner Heimatverbundenheit warb. Und im Oktober 2017 sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Tag der Deutschen Einheit: „Die Sehnsucht nach Heimat – nach Sicherheit, nach Entschleunigung, nach Zusammenhalt und Anerkennung –, die dürfen wir nicht den Nationalisten überlassen.“3 Ob Heimatverbände, Umweltaktivisten oder so genannte Wutbürger – jeder findet heute eine eigene Interpretation. Für die einen ist Heimat eine Nostalgie, etwas Verlorengegangenes oder Bedrohtes. Für andere ist sie eine Utopie, ein Lebenskonzept, steht für Entschleunigung, Selbstbestimmung, Engagement. Die einen wollen sie durch Abgrenzen schützen, die anderen, indem sie sie öffnen für Neues. Lässt sich Heimat unter diesen Umständen überhaupt definieren?

1. HEIMAT, INDIVIDUELL Es gibt eine Heimat, die sich all diesen Einordnungen entzieht. Es ist die Heimat des Individuums. Sie kommt zum Vorschein, wenn die Menschen über ihre persönlichen Wurzeln nachdenken und darüber, wie diese sie geprägt haben. Für mein Buch Was ist eigentlich Heimat?4 habe ich viele Menschen befragt, was Ihnen Heimat bedeutet und am Ende entstand ein buntes Kaleidoskop aus Eindrücken. Fest steht: Mit den gängigen Bildern aus der Fernsehwerbung hat die Erinnerung der Menschen wenig zu tun. Ja, die Heimat kann in einer wunderschönen Berglandschaft liegen, aber ebenso gut in der Großstadt oder an jedem https://www.afd.de/alexander-gauland-spd-hat-beim-familiennachzug-bezug-zur-reali taet-verloren/ (30.07.2018). 2

Gauland, Alexander/Meuthen, Jörg: AfD – Die Bürgerbewegung wird fünf Jahre alt, https://www.afd.de/meuthen-gauland-afd-die-buergerbewegung-wird-fuenf-jahre-alt/ (30.08.2018).

3

Steinmeier, Frank-Walter: Rede zum Festtag der deutschen Einheit, 03.10.2017, http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Re den/2017/10/171003-TdDE-Rede-Mainz.html (07.10.2018).

4

Zöller, Renate: Was ist eigentlich Heimat?, Berlin 2015.

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anderen Ort auf der Welt. Meine Protagonisten sprechen von Geborgenheit, manchmal auch von Enge, immer von Vertrautheit. „Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl“, singt Herbert Grönemeyer.5 Und doch wird die Heimat in den Erinnerungen meiner Gesprächspartner verortet und in der Regel auch zeitlich eingegrenzt. Für Reinhard beispielsweise steht tatsächlich die hügelige schlesische Landschaft im Vordergrund seiner sehr emotionalen Erinnerungen. Als Fünfjähriger musste er Schlesien mit seinem Vater und den Brüdern zusammen verlassen. Zu diesem Zeitpunkt war seine Heimat bereits vollständig verändert, größtenteils zerstört. Seine Mutter war kurz zuvor gestorben, die meisten Dorfbewohner bereits geflohen, viele Häuser verwüstet. Vermutlich hat sich deshalb besonders die Landschaft eingeprägt, die unverändert schön blieb. Der Neuanfang bei Bielefeld war sehr hart für die Familie und die Kinder hungerten und froren erbärmlich. Entsprechend schwer tat sich Reinhard damit, dort eine neue Heimat zu finden. Auch wenn er zeitweilig durch seine Familie abgelenkt war - im höheren Alter wurde die Sehnsucht immer größer. Als er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion endlich seinen Geburtsort besuchte, fand er fremde Menschen vor, deren Sprache er nicht versteht, die meisten Häuser sind abgerissen und neue gebaut worden. Nur der Bach fließt wie eh und je durchs Dorf. Den Verlust ihrer Heimat haben alle meine Gesprächspartner als einen fundamentalen Bruch erlebt. Nicht nur diejenigen, die gezwungenermaßen, sondern auch diejenigen, die aus freien Stücken gingen. Viele junge Leute zieht es zunächst in die weite Welt. Yuan etwa, geboren 1961 in Peking, floh als 29-Jährige weniger aus politischen Gründen, als vielmehr vor dem Alltagstrott ins Ausland. Ihr Leben schien vorbestimmt: Sie war Dozentin an der Universität und sah im kommunistisch regierten Land keine Möglichkeit, eine andere Arbeitsstelle zu finden. Der Kulturschock war groß. In China hatte sie auf kleinstem Raum mit der Familie zusammengelebt. In Deutschland fühlte sie sich einsam, hatte Heimweh. Und doch fand sie nach und nach hier ihr neues Zuhause. Ihr stand der Weg offen, wieder zurück zu kehren. Aber nach und nach entfremdete sie sich immer mehr von dem Leben in Peking. Sie könne nicht mehr dort leben, glaubt sie. Bis heute aber hat sie auch keine neue Heimat gefunden, sondern fühlt sich entwurzelt. Noch schwerer fällt der Verlust, wenn er erzwungen ist. Ric etwa, ein schwuler Latino aus San Diego, brach durch sein Coming-out mit der konservativen Gesellschaft, in der er aufgewachsen war. Die Menschen in seiner Umgebung 5

Grönemeyer, Herbert: Stand der Dinge, Videoalbum/DVD, Electrola/EMI/Grönland Records, 2000.

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verstanden ihn nicht, es wurde ihm unmöglich, mit ihnen zu leben. Man könnte sagen, seine Heimat verschloss sich vor ihm. Der Bruch wiegt bis heute schwer, es ist Ric wichtig, keine Bindung mehr an einem Ort aufzubauen. Heute empfindet der Tänzer und Dramaturg seinen Körper als seine Heimat. Seinen Besitz hat er so reduziert, dass er ihn beim letzten Umzug innerhalb Berlins auf dem Gepäckträger seines Fahrrads transportieren konnte. Die Entfernung spielt dabei keine Rolle – wohl aber die Unumkehrbarkeit. Meine Protagonistin Christel beispielsweise musste nach dem Zweiten Weltkrieg als Elfjährige ihren Geburtsort Wollseifen verlassen, weil es zum Übungsgelände für das britische Militär erklärt wurde, das die nahe gelegene ehemalige NSOrdensburg als Kaserne nutzte. Der Verlust war besonders traumatisch durch die Tatsache, dass über ihn nicht öffentlich geklagt werden durfte: Während den Vertriebenen aus Schlesien oder dem Sudetenland ein finanzieller Lastenausgleich zustand, mussten sich die Wollseifener mühsam eine Entschädigung für die verlorenen Grundstücke erkämpfen. Christels Familie zog ins Nachbardorf und lebt bis heute nur wenige Kilometer entfernt. Dennoch hat sie die Sehnsucht nach ihrer Heimat nie verlassen. So individuell ist die Heimat, dass sie die Frage aufwirft: Gibt es denn überhaupt noch einen gemeinsamen Nenner? Heimat verbinden die meisten Menschen mit Sicherheit, vertrauten Gewohnheiten, Beständigkeit. Aber nicht einmal diese gängige Vorstellung lässt sich verallgemeinern. Drago etwa träumt von der kleinen, improvisierten Siedlung aus umgebauten Bussen an der kroatischen Adria, in denen er als Kind wohnte. Als Jugoslawien zerfiel, kam er nach Deutschland. Er ist Sinto und lebt heutzutage in Köln, hat Familie, einen Job bei einer Sicherheitsfirma, eine Wohnung. Trotzdem ist er unglücklich und fühlt sich nur noch als halber Sinto, dem die Werte seiner Vorfahren verloren gegangen sind. Zu diesen Werten gehörte die Freiheit, in einem Bus zu wohnen, den die Familie – zumindest theoretisch – jederzeit zu einem anderen Ort fahren könnte. Eine Gemeinsamkeit scheint auf der Hand zu liegen: Die meisten Menschen verbinden die Heimat mit ihrer Kindheit oder Jugend, als sie noch unbeschwert auf die Hilfe und den Schutz ihrer Eltern vertrauten. „Heimat ist der Raum, in dem wir uns sicher bewegen können“, sagte Beate Mitzscherlich in unserem Interview für mein Buch.6 Offenbar fällt es als Erwachsener schwer, ein solches Maß an grenzenlosem Vertrauen und Geborgenheit zuzulassen. Während der Beheimatungsprozess als Kind gar nicht wahrgenommen wird, die Heimat uns einfach geschenkt wird, müssen wir sie uns als Erwachsene bewusst erobern, 6

Zöller, Heimat, S. 164.

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Strategien anwenden, um ein soziales Netz zu knüpfen und finanzielle Sicherheit zu gewinnen. Und doch lässt sich auch diese Verallgemeinerung nicht aufrecht erhalten. Meine Protagonistin Tanja beispielsweise fand erst als Erwachsene Heimat. Die junge Bosnierin wurde von ihrer Mutter als Kleinkind über Waldpfade aus dem belagerten Sarajevo getragen und kam nach Deutschland. Sie hatte keinerlei Erinnerungen an ihren Geburtsort. Aber in Deutschland fühlte sie sich nie völlig angenommen. Viele Jahre lang wurden sie und ihre Familie nur geduldet und durften Berlin nicht verlassen. Erst als 18-Jährige bekam sie einen Pass und reiste mit ihren Eltern erstmals zu den Großeltern nach Sarajevo. Es habe sie eine ungemeine Erleichterung ergriffen, als sie die Autotür öffnete und erstmals einen Fuß auf bosnischen Boden setzte, erinnert sie sich. So fand sie als junge Erwachsene schließlich doch noch Heimat. Während ihre Familie in Berlin blieb, lebt Tanja heute als praktizierende Muslimin in der bosnischen Hauptstadt. Am Ende scheint es allein die Geborgenheit, Vertrautheit zu sein, die allen Erinnerungen an und Bestrebungen nach Heimat gleichermaßen innewohnt. Eine kleine, überschaubare Welt bietet sie, so wie sie es in ihren historischen Anfängen schon tat.

2. HEIMAT, HISTORISCH Im Mittelalter war Heimat eine klar definierte, örtlich begrenzte Lebenswelt – vergleichbar mit unserem ‚ständigen Wohnsitz‘. Durch Geburt, Heirat oder den Kauf eines Grundstücks erwarb man sich das Heimatrecht. Die Familie vermachte ihren Besitz ihrem Ältesten. Für den Erben bedeutete das aber nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Mit der Heimat ging ein Versorgungsanspruch einher und so war man im Dorf füreinander zuständig. Die Fürsorge für die Eltern verstand sich von selbst und das Nachbarschaftsrecht regelte die Pflege von Hilfsbedürftigen. Wer länger in die Fremde ging oder sich an einem anderen Ort ansiedelte, verlor das Heimatrecht. Seither hat dieser ursprüngliche rechtlich-rationale Heimatbegriff jedoch einen grundlegenden Wandel erfahren, – der ebenfalls aus unserem heutigen Heimatempfinden nicht mehr weg zu denken ist. Die Heimat wandelte sich im späten 18. und im 19. Jahrhundert, im Zeitalter der Industrialisierung, der Revolution und der europäischen Nationalismen, zu dem romantisierten Bild einer intakten Welt – die als von Modernisierung und Industrialisierung bedroht oder sogar bereits verloren galt.

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Ein einschneidendes Ereignis waren die Napoleonischen Kriege, die im Gefolge der französischen Revolution nahezu auf den gesamten europäischen Kontinent übergegriffen (1796-1814). Sie brachten nicht zuletzt für die Deutschen massive Veränderungen mit sich. Der Historiker Klaus Ries sagt: „Plötzlich wurden Grenzen am Reißbrett kartiert, statt sich, wie bisher, an Sprachen, Dialekt, historisch Gewachsenem zu orientieren.“7 Das verunsicherte und führte zu einer Neubewertung genau dieser Eigenarten. Auch die Gründung des Nationalstaates 1871 wurde vor diesem Hintergrund etwa vom Heimatschützer und Folkloreforscher Friedrich Salomon Krauß als Bedrohung durch Nivellierung empfunden.8 Fremde ist das Gegenstück zu Heimat. Und die Industrialisierung führte dazu, dass Fremde in dem Leben der Menschen Einzug hielt. Sie gestaltete die europäischen Gesellschaften komplett um. Alte Dorfstrukturen zerbrachen, es bildeten sich neue Zentren, zu denen die Menschen auf der Suche nach Arbeit kamen. Die Infrastruktur änderte sich mit der Entwicklung der Dampfkraft und damit der Eisenbahn grundlegend. Nun konnten die Menschen in Massen auch große Distanzen zurücklegen. Die Landflucht glich vielerorts einer Völkerwanderung, ganze Dörfer starben aus. Am neuen Ort aber herrschten lange Zeit chaotische Zustände. In den Städten war das Zusammenleben eine große Herausforderung: Es gab ein Überangebot an Arbeitskräften und die Löhne waren entsprechend niedrig. In der Regel lagen die Arbeitszeiten bei 14 Stunden täglich, Kinderarbeit war gang und gäbe. Es mangelte an Wohnraum für die Zugezogenen. Aufgrund unzureichender hygienischer Verhältnisse kam es immer wieder zu Seuchen. Die Trinkwasserversorgung war ein großes Dilemma für die Städte, ebenso wie die Abwasserentsorgung. Das Arbeiterleben war hart und entbehrungsreich. Entsprechend wurde die Heimat idealisiert: Heimat, das war die vermeintlich heile Welt im Einklang mit einer vermeintlich intakten Natur. Dabei war das Leben auf dem Land niemals leicht gewesen. Und auch die Zurückgebliebenen empfanden ihre Heimat als bedroht. Hatte der Bauer schon seit Generationen sein Feld nach der Tradition der Väter bewirtschaftet, tauchten jetzt plötzlich Investoren auf, die das Land kaufen und hier Kohle abbauen wollten. Und diese Investoren zerstörten nachhaltig die Umwelt. Wälder wurden abgeholzt, durch Bergbau sanken ganze Landstriche ab, Boden und Flüsse wurden durch die Fabrikabwasser verseucht. Dazu kamen Hungersnöte. Ein besonders 7

Zöller, Heimat, S. 16.

8

Vgl. Burt, Raymond L.: Friedrich Salomo Krauß (1859-1938). Selbstzeugnisse und Materialien zur Bibliographie des Volkskundlers, Literaten und Sexualforschers mit einem Nachlassverzeichnis, Wien 1990.

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prägendes Jahr war 1815, als in Indonesien auf der Insel Sumbawa der Vulkan Tambora ausbrach und eine Woche lang Magma und Gas spuckte9. In Europa fiel 1816 der Sommer aus, es gab Unwetter und Überschwemmungen, die Preise für Getreide stiegen dramatisch. Es kam zu einer riesigen Hungersnot, besonders in den Alpen. In der Schweiz wurde berichtet, dass die Menschen Gras aßen. All diese Faktoren – das harte Leben sowohl in den Industriezentren als auch auf dem Land – führten dazu, dass mehr und mehr Menschen ihr Glück im Ausland suchten. Im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert kam es zu regelrechten Massenauswanderungen, zunächst vor allem nach Osteuropa – nach Russland, Rumänien, Ungarn und andere – und später nach Amerika. Friedrich Naumann hielt 1916 fest, zwischen 1821 und 1912 seien aus Deutschland 5,45 Millionen Menschen nach Amerika gegangen.10 Auswanderung war schon damals ein riesiges Geschäft, das sehr professionell betrieben wurde. Es gab Auswandererhäuser in Bremerhaven und Hamburg – mit Unterkünften, Duschen, Restaurants, und teilweise wurde sogar Rücksicht auf Religionsgruppen genommen. Die Werber tourten durch ganz Europa, auch Polen oder Russland, und verbreiteten oftmals völlig unrealistische Versprechungen. Bei ihrer Ankunft bot sich den Immigranten häufig ein ganz anderes Szenario – die Arbeit war hart, die Integration sehr mühsam, oft auch das Wetter ungewohnt. Die Ausgewanderten idealisierten in ihren Briefen die Heimat und trugen damit ganz wesentlich zu ihrem verklärten Bild bei. Die industrielle Revolution und die Modernisierung der Gesellschaften führten also zu einer steigenden Zahl von Heimatlosen – dazu zählen sowohl die ins Ausland Abgewanderten, wie auch die Landflüchtlinge und die Dagebliebenen, deren Umwelt sich drastisch veränderte. Angesichts all dieser Krisen und Bedrohungen wurde „Heimat“ zur Zeit der Jahrhundertwende um 1900 zu einem verheißungsvollen Losungswort. Vom eng umrissenen Begriff als Besitzstand und rechtliche Absicherung war er weit weggerückt und zum Muster für eine heile Welt geworden. Nicht alle aber hatten in blühenden Alpenlandschaften gewohnt – die doch bis heute unsere Vorstellung von Heimat prägen. Die Verknüpfung von Heimat und einer regelrecht überhöhten Natur ist ein Produkt der Romantik, deren Epoche zwischen 1795 bis etwa 1848 angesetzt wird – genau zur Zeit der großen Umbrüche also. Die Romantiker aber prägten erst das Bild einer verlorenen, schönen, erstrebenswerten, naturverbundenen 9

Vgl. Behringer, Wolfgang: Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte, München 2015.

10 Naumann, Friedrich: Die amerikanische Neutralität, In: Ders. (Hrsg.): Die Hilfe. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst 22 (1916), S. 125 ff.

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Heimat. Sie vertraten die Auffassung, dass durch die Verstädterung und die beginnende Industrialisierung der Mensch auf der Welt die Geborgenheit verlor. Sie flohen die Welt, sie ergingen sich in Melancholie und Todessehnsucht. Romantik – das bedeutete auch den Traum von einer idealen, vergangenen Welt, undatiert aber vorzugsweise mittelalterlich angehaucht, ohne einen konkreten Ort aber immer verbunden mit der Natur. Für Goethe, Eichendorff oder Novalis spielte die Natur eine mystische Rolle als eine Art verletzlicher Organismus. Den Menschen verstanden sie als einen Teil dieses Organismus. Entsprechend galt es, die Natur zu schützen – tötet der Mensch die Natur, stirbt er selbst. Diese Vorstellung begleitet bis heute viele Umweltaktivisten – und Heimatschützer. Die Sehnsucht nach Heimat war weit mehr als eine reine Nostalgie. Die Heimatbewegung des späten 18. und des 19. Jahrhunderts war vielmehr eine Art Protestbewegung. Die Industrialisierung drohte völlig auszuarten. Die rasche Entwicklung der neuen Produktionsmechanismen barg die Gefahr der rücksichtslosen Ausbeutung von Mensch und Natur. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden in den großen europäischen Industrie-Nationen (allen voran im Deutschen Kaiserreich) die ersten Sozialgesetzgebungen eingeführt. Die Heimatschutzbewegung stemmte sich gegen diese Auswüchse. Sie säte Zweifel an dem „Höher! Schneller! Weiter!“, das die Fortschrittsgläubigen predigten. Sie rief die Menschen auf, sich auf das Althergebrachte, auf die gemeinsamen Werte, zu besinnen und der Natur wieder zuzuwenden. Man kann sagen: Die Heimatschützer waren in gewisser Weise die Globalisierungsgegner der damaligen Zeit. Es handelte sich hierbei um eine heterogene Gruppe, in der man sowohl ökologische Denkansätze avant la lettre als auch völkisch-nationalistisches bzw. antisemitisches Gedankengut (etwa bei Adolf Bartels) finden konnte.11 Im September 1911, kurz vor dem Ausbruch des Ersten

11 Vgl. Ulbricht, Justus H.: Heimat, ein Wort, ein Ort – zwischen Sehnsucht und Gefährdung, In: Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz 1 (2017) [Naturschutz, Heimatgeschichte, Denkmalpflege und Volkskunde], S. 27-25, hier S. 29. Zu Adolf Bartels vgl. Oesterhelt, Anja: „Große deutsche Heimat“. Adolf Bartels, die Heimatkunst und Weimar, In: Bomski, Franziska/Seemann, Hellmut Th./Valk, Thorsten (Hrsg): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung, Göttingen 2014, S. 55-71. Als exemplarisch darf in dieser Hinsicht die Figur des Musikers und Naturschützers Ernst Rudorff angesehen werden. Vgl. dazu Knaut, Andreas: Ernst Rudorff und die Anfänge der deutschen Heimatbewegung, In: Klueting, Edeltraut (Hrsg.): Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung, Darmstadt 1991, S. 20-49; sowie Brachmann, Jan: In

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Weltkriegs, fand in Salzburg eine deutsch-österreichische Tagung für Denkmalschutz und Heimatpflege statt. Der damalige Landeshauptmann Prälat Winkler sagte, wer seine Heimat schütze, schütze sein Wohl und die Zufriedenheit. Deshalb sei es nötig, die Heimat in ihrer Eigenartigkeit, ihren Sitten, ihren Gebräuchen und der Bauweise zu erhalten.12 Damals beschlossen die Vertreter der beiden Länder, dass sie zusammenarbeiten wollten, um diese Merkmale der regionalen Identitäten zu erhalten. Wenig später zogen sie Seite an Seite in einen Krieg, in dem der Begriff von Heimat bereits radikal politisch missbraucht wurde. Der Erste Weltkrieg war für ganz Europa eine höchst traumatische Erfahrung. Verdun ist bis heute ein Sinnbild für den Schrecken des festgefahrenen Stellungskriegs. In sinnlosen Grabenkämpfen wurden Millionen Soldatenleben geopfert. Die Soldaten erlitten grauenhafte Verstümmlungen und Verletzungen durch Giftgas. Mit dem Kriegsende wurde ganz Europa völlig umgestaltet. Deutschland wurde zu massiven Reparationszahlungen verurteilt und das Militär verbreitete die Dolchstoßlegende. Das Habsburger Reich brach 1918 zusammen und wurde aufgeteilt. Der Bedeutungsverlust Österreichs war eklatant und traumatisierend. Dazu kam eine reelle Not, die durch die Neuordnung entstand. Der Verwaltungsapparat in Wien war plötzlich viel zu groß und musste abgebaut werden, sehr viele Menschen verloren ihre Arbeit. Gleichzeitig fehlten nunmehr die Rohstoffbasen, die den Wohlstand begründet hatten: die böhmische Kohle etwa oder die galizischen Kornfelder. Vor diesem Hintergrund mutierte Heimat vollends zu einer völkischen Idee. Alles Fremde wurde nicht nur abgelehnt, sondern als Bedrohung wahrgenommen und sollte zerstört werden. Auch die vermeintlichen Fremdkörper innerhalb der Gesellschaft wurden bekämpft, die Juden, Homosexuelle, Roma und Sinti, politisch Andersdenkende. In Anknüpfung an die völkische Heimatbewegung der Jahrhundertwende wurde Heimat zu einer biologistisch-rassistischen Kampfvokabel. Die Nationalsozialisten machten sich den Patriotismus und Nationalismus der Heimatschützer zunutze und schrieben sich geschickt deren Errungenschaften auf ihre eigene Fahne: Sie erließen 1933 das erste Tierschutzgesetz und 1935 welcher Heimat wollen wir leben?, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.10.2018, S. 12. 12 Vgl. Gemeinsame Tagung für Denkmalpflege und Heimatschutz, Salzburg, 14. und 15. September 1911, Stenographischer Bericht, Die Denkmalpflege, Berlin 1911, S. 34. http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/stenographischer_bericht1911/0038?sid=289d 13bac5c3eab715382c6b4a0b5a54 (30.08.2018).

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das erste Reichsnaturschutzgesetz. Beide waren schon seit Jahren vorbereitet worden. In den folgenden Jahren radikalisierten die Heimatschützer ihre Bestrebungen, der Heimatbegriff verkam zu einer Blut-und-Boden-Ideologie. Eine angeblich „reine“ arische Rasse sah sich dazu berufen, über die Untermenschen in Osteuropa zu herrschen, beziehungsweise sie sah sich im Recht, deren Land einzunehmen. Die Deutschen empfanden sich als ein „Volk ohne Raum“ und fanden es selbstverständlich, sich Lebensraum im Osten zu erobern und dort die Menschen als Arbeiter zu nutzen, umzusiedeln oder und nicht zuletzt auszurotten. Die menschenverachtende Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten basierte auch auf diesem kruden Verständnis von Heimatrecht. Am 18. Februar 1943 forderte Propagandaminister Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast den „totalen Krieg“. Damit hob er die Unterscheidung zwischen der Heimat und der Front auf, und er erklärte die „Heimatfront“. Die gesamten Produktionsmittel und die gesamte Arbeitskraft der Zivilbevölkerung wurden Bestandteil des Kriegsapparats. Alles diente der Vernichtung des Gegners.13 Angesichts dieser Verirrungen und Tragödien blieb von der deutschen Heimat nur ein Trümmerfeld. Im gesellschaftlichen, intellektuellen Diskurs war sie über Jahrzehnte verpönt. Nach der unguten Verknüpfung von NS-Staat und Heimat sollte nun ein rationaleres Verhältnis zur Staatsangehörigkeit angestrebt werden. Die Zugehörigkeit zur Heimat sollte nicht mehr auf Sprache oder Abstammung basieren, sondern auf einem gemeinsamen Bekenntnis zu Demokratie und Meinungsfreiheit. „Verfassungspatriotismus“ statt „Deutschland, Deutschland über alles!“ Gleichzeitig war die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Geborgenheit und Sicherheit, also nach Heimat, wohl nie größer. Die Menschen waren zutiefst verunsichert. Sie lebten in Trümmerlandschaften. Nicht nur die Häuser waren zerbombt, auch die Gesellschaft war zerstört. Traditionen, Werte, Moralvorstellungen – alles war infrage gestellt. Die Menschen flohen in eine Scheinwelt. Heimatfilme und Heimatbücher hatten Hochkonjunktur. Die Handlung fand immer vor dem Krieg statt, als die Welt noch in Ordnung und das Familienleben noch intakt gewesen sei. Einige Filme haben bis heute Kultstatus, etwa Ich denke oft an Piroschka, 1955 von Kurt Hoffmann gedreht,14 oder Der Förster vom Sil13 Goebbels, Joseph: Rede im Berliner Sportpalast vom 18. Februar 1943, In: Frankfurter Zeitung, 20.02.1943, S. 7; abgedruckt in: Ders., Goebbels Reden 1932-1945, hrsg. v. Helmut Heiber, Bindlach 1991, S. 203-205. 14 Ich denke oft an Piroschka, D. 1955. Regie Kurt Hoffmann. Drehbuch: Per Schwenzen, Hugo Hartung. Musik: Franz Grothe. Darsteller: Liselotte Pulver, Gunnar Möller,

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berwald (Echo der Berge) von Alfons Stummer aus dem Jahr 1954.15 Das Schema gleicht den Erzählungen von Rosegger oder Ganghofer. Auch im Förster vom Silberwald droht die Gefahr von Außen. Der Förster kämpft um den Erhalt seines geliebten Waldes im „Hochmoos“, der gerodet und an Investoren verkauft werden soll, und verliebt sich dabei in die Tochter des Hofrats. Doch deren ehemaliger Verehrer aus Wien will die Liebe verhindern. Am Ende der Erzählungen ist die Welt meist wieder ‚in Ordnung gebracht‘. Die Idylle hat gesiegt. Neben solch nostalgischer Weltflucht war Heimat aber auch ein sehr konkretes, unerschöpfliches Thema, vor allem unter den Vertriebenen. Bis zu 14 Millionen Menschen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zwangsumgesiedelt16. In Deutschland wurde die ganze Bevölkerungsstruktur verändert. In MecklenburgVorpommern waren 41 Prozent der Bevölkerung Vertriebene, in Bayern 21 Prozent, in Schleswig-Holstein 33 Prozent. Es entstanden ganze Städte aus Vertriebenenlagern, etwa Geretsried in Bayern, Trappenkamp in Schleswig-Holstein oder Espelkamp in Nordrhein-Westfalen. Die Neuankömmlinge hatten es nicht leicht, schließlich litt auch die einheimische Bevölkerung unter den Kriegsfolgen. Mehr als die Hälfte des Wohnraums in den Städten war zerbombt, die Ernährungssituation sehr angespannt. 1946/47 kam es in zu dem berüchtigten ‚Hungerwinter‘, Tausende Menschen starben. Da blieb wenig Platz für Mitleid und Hilfsbereitschaft. Viele Vertriebene fühlten sich isoliert und hatten große Schwierigkeiten, sich im Nachkriegsdeutschland eine neue Heimat aufzubauen. Die Unmöglichkeit, die ‚alte Heimat‘ auch nur zu besuchen, trug sicherlich auch zur Idealisierung bei. Freundlicher und erträglicher wurde diese Nostalgie für viele erst, als der Kalte Krieg vorbei und die Grenzen gen Osten geöffnet waren. Heute kann jeder Vertriebene (wenn er das will) seine ‚alte Heimat‘ jederzeit besuchen. Dabei machen viele die Erfahrung, dass sie von den neuen Besitzern ihrer Häuser sehr wohlwollend empfangen werden. Tatsächlich gibt es oft Parallelen: In Schlesien und Ostpreußen leben heutzutage Polen, die seinerzeit ebenso aus ihren Heimat-

Wera Frydtberg, Gustav Knuth, u.a. Produktion: Georg Witt-Film GmbH (MünchenGeiselgasteig). 15 Der Förster vom Silberwald (Echo der Berge), Ö. 1954. Regie: Alfons Stummer. Drehbuch: Alfred Solm, Alfons Stummer. Musik: Viktor Hruby. Darsteller: Rudolf Lenz, Anita Gutwell, Erik Frey, Hermann Erhardt u.a. Produktion: Rondo-Film (Wien). 16 Aust, Stefan/Burgdorff, Stephan: Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Bonn 2003.

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gebieten im heutigen Belorus und der Ukraine vertrieben wurden und den Verlust-Schmerz kennen17. Auch gesellschaftliche Umbrüche führten dazu, dass die Heimat neu diskutiert wurde. Die 68er-Generation prangerte die Fehler der Väter an, brach mit alten Traditionen und Werten. Sie schaffte damit auch die Bedingungen für eine Neubewertung des Heimat-Begriffs und räumte dadurch den Weg für junge Menschen und politisch Andersdenkende frei, sich die Heimat zurückzuerobern. Besonders in den 80er Jahren schritten dann die neuen Heimatschützer zur Tat, indem sie gegen Umweltzerstörung auf die Straße gingen. Die Anti-AKWBewegung ist ein Symbol dafür, der gelbe Aufkleber mit den Worten „Atomkraft? Nein danke!“ war überall gegenwärtig, auch auf den Schulranzen von Jugendlichen. Die politische Einordnung in ‚rechte’ und ‚linke’ Aktivisten versagte hier. Der erfolgreiche Protest gegen ein geplantes Atomkraftwerk in Wyhl in Baden-Württemberg etwa vereinte Bauern, Intellektuelle, Kleriker, Künstler, Menschen aus ganz Deutschland.18 Tatsächlich konnte der Bau verhindert werden. All die Aktivisten, die Heimat als einen lebenswerten Ort gestalten wollen, sei es durch Umweltinitiativen, soziale Aktivitäten, Vereine, regionale Projekte, sie alle haben eine aktive Vorstellung von Heimat geprägt – Heimat als etwas, das ich schaffe, indem ich meine Nahwelt gestalte. Neu ist dieses Streben nicht. Im Gegenteil: Eigentlich knüpften die heutigen Heimatschützer damit an ihre Vorläufer Ende des 19. Jahrhunderts an.

3. HEIMAT HEUTE Heute ist Heimat für die meisten Menschen, wie beispielsweise eine neuere Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach gezeigt hat,19 wieder positiv be17 Hryciuk, Grzegorz (Hrsg): Wysiedlenia, wypędzenia i ucieczki 1939-1959. Polacy, Żydzi, Niemcy, Ukraińcy. Atlas ziem Polski (Aussiedlungen, Vertreibungen und Fluchtbewegungen 1939-1959. Polen, Juden, Deutsche, Ukrainer. Atlas der Gebiete Polens), Warschau 2008. Oder siehe auch: Alexander, Manfred: Kleine Geschichte Polens, Stuttgart 2003. 18 Hager, Carol: The Grassroots Origins of the German Energy Transition. In: Hager, Carol/Stefes, Christoph (Hrsg): Germany’s Energy Transition. A Comparative Perspective, Basingstoke 2016, S. 1-26. 19 Petersen, Thomas: Heimat und Heimatministerium, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.04.2018.

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setzt, sie steht für Geborgenheit, Sicherheit, Verlässlichkeit, Eigeninitiative. Das Hirschgeweih in der Kneipe und Fußmatten mit dem Aufdruck „Heimat“ sind ein entspannter Ausdruck dafür. Heimat, das sind für die Meisten die Menschen, mit denen man sich identifiziert, die Sprache, Mentalität, Vergangenheit oder Zukunftspläne teilen. Und doch ist der Begriff auch heute vor Missbrauch nicht gefeit. Soll man die Heimat öffnen und Fremde zu Vertrauten werden lassen, oder soll man sich abschotten? Wie viel Fremde verträgt die eigene Heimat? Gehören Pizzerien und Döner-Imbisse dazu? Bei allen Überlegungen, die Heimatfans treffen, müssen die zwei Weltkriege, die Umwälzungen danach, der Völkermord immer mitgedacht werden. Die Soziologin Beate Binder warnt, über Heimat zu reden sei niemals harmlos! Denn mit dem Rekurs auf sie werden „immer auch Vorstellungen einer imaginären Gemeinschaft wie auch Abgrenzung gegen ein fremdes Außen hergestellt.“20 Tatsächlich steht die eben erst rehabilitierte Heimat gerade durch den starken Zuzug von Flüchtlingen und Asylsuchenden in den vergangenen Jahren zugleich auch wieder vor einer großen Herausforderung. Viele Fragen tauchen auf. Wie können wir die Neuankömmlinge in unsere Gesellschaften integrieren, wie viel Anderssein wollen wir zulassen, auf welchem Wertekodex müssen wir bestehen? Nicht alle Flüchtlinge aus den Krisengebieten dieser Welt suchen eine neue Heimat. Manche suchen in Europa vielleicht einfach nur Frieden, Rechtssicherheit, eine Perspektive für ihre Kinder. Viele von ihnen wollen wieder zurück in ihre Herkunftsländer, sobald das möglich ist. Das ist allerdings auch eine Frage der Zeit. Je länger eine Familie in Europa bleibt, umso unwahrscheinlicher ist, dass sie zurückkehren möchte. Wenn einmal Kinder oder Enkel geboren sind, dann wir die Rückkehr schwierig. Für die nachfolgende Generation ist es wichtig, sich dort eine Heimat aufzubauen, wo sie geboren sind – in Europa. Das Wort Heimat ist deutsch – die Sehnsucht nach ihr aber ist universell. Angesichts von Globalisierung und Migrationsbewegungen ist es an der Zeit, den Heimatbegriff neu anzupassen. Im Mittelalter wurde man in seine Heimat hineingeboren, es war ein sehr klar umrissener Ort. Im Laufe der Jahrhunderte wurde dieser Ort immer mehr idealisiert und abstrahiert. Am Ende entstand so etwas wie eine kitschige „Spazierwelt“, wie der Kulturwissenschaftler Hermann

20 Binder, Beate: Beheimatung statt Heimat. Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit, In: Seifert, Manfred (Hrsg.): Zwischen Emotion und Kalkül. Heimat als Argument im Prozess der Moderne, Leipzig 2010, S. 189-204, hier: S. 192.

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Bausinger sagte.21 Heute sind sich viele Wissenschaftler darüber einig, dass man sich Heimat schaffen muss. Sie ist nicht mehr einfach da. Es reicht nicht, an irgendeinem Ort zu wohnen, man muss sich auch mit dem Ort und den Menschen dort verbinden. Heimat ist insofern eine Aufgabe, der sich nicht nur jedes einzelne Individuum, sondern auch jede Gesellschaft stellen muss. Wenn Heimat nicht mehr selbstverständlich ist, dann muss man sie sich erobern! Die Gespräche mit meinen Protagonisten haben mir gezeigt, dass das offenbar sehr schwer ist. Selbst Zugewanderte, die sich völlig am neuen Ort integriert haben, in ein Netz aus Familie und Freunden gebettet sind, auch diese sehnen sich manchmal nach ihrem früheren Leben zurück, als die Beziehungen noch einfacher, die Zugehörigkeiten klarer waren. Es reicht nicht, sich zu engagieren. Es hilft, wenn man sich angenommen und geliebt fühlt. Und es heilt die Wunden, wenn man seine frühere Heimat zumindest besuchen kann. Die freie Wahl des Ortes – und darin die Möglichkeit der Rückkehr eingeschlossen – scheint mir nach Abschluss meines Buches eine entscheidende Rolle bei der Suche nach Heimat zu spielen. Wer vom Leben irgendwo ,hingespültʻ wurde, tut sich schwer, dort Wurzeln zu schlagen. Werner, den ich auf der paradiesischen Insel Sark kennengelernt habe, hat sich sehr bewusst für ein Leben mit seiner großen Liebe Phyllis auf der Kanalinsel entschieden. Dabei sprach zunächst alles gegen diese Hochzeit. Werner war im Zweiten Weltkrieg als junger Soldat auf der Insel stationiert, Phyllis musste ihm als Übersetzerin helfen. Als er in Kriegsgefangenschaft war, schrieben sie sich Briefe. Schließlich heiratete sie ihn heimlich auf dem Festland und brachte ihn – kurz vor seiner Rückentsendung nach Deutschland – zurück auf die Insel. Viele Insulaner waren zunächst entsetzt. Doch schnell fand der liebenswerte, fleißige Mann Anschluss. Heute ist er ein angesehenes, völlig integriertes Gemeindemitglied. Werner empfindet sich als durch und durch deutsch und ist stolz auf seine vermeintlich deutschen Tugenden – die Effizienz, die Logik, die er noch seinen Enkeln beigebracht hat. Am liebsten trägt er deutsche Volkslieder vor, wenn er im Gemeindehaus auf dem Akkordeon oder dem Klavier für die Insulaner spielt. Und es mangelt nicht an Zuhörern. Vielleicht ist Werner gerade deshalb so gut integriert, weil er so unverkrampft mit seiner deutschen Herkunft umgeht: Seine Nostalgie ist ohne Schmerz. Sicher auch, weil er die Liebe der Sarkesen zu ihrer Heimat teilt. Sark ist seine Wahlheimat, sie muss nichts ersetzen, keine Lücke schließen; sie muss 21 Vgl. Bausinger, Hermann: Heimat in einer offenen Gesellschaft, In: Kelter, Jochen (Hrsg.): Die Ohnmacht der Gefühle. Heimat zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Weingarten 1986, S. 76-90, hier: S. 76.

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einfach nur für das aktuelle Leben taugen. Werner hat ein ganz einfaches Rezept für andere Heimatsuchende: das Gewonnene zu genießen. „Mir ist bewusst, dass ich alles habe, die Frau, die ich liebe, eine Familie, Freunde, ein schönes Zuhause. Und ich freue mich jeden Tag darüber“, sagt er: „Dort, wo man glücklich ist, da ist für mich Heimat.“

LITERATUR Alexander, Manfred: Kleine Geschichte Polens, Stuttgart 2003. Aust, Stefan/Burgdorff, Stephan (Hrsg.): Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Bonn 2003. Bausinger, Hermann: Heimat in einer offenen Gesellschaft, In: Kelter, Jochen (Hrsg.): Die Ohnmacht der Gefühle. Heimat zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Weingarten 1986, S. 76-90. Behringer, Wolfgang: Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte, München 2015. Binder, Beate: Beheimatung statt Heimat. Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit, In: Seifert, Manfred (Hrsg.): Zwischen Emotion und Kalkül. Heimat als Argument im Prozess der Moderne, Leipzig 2010, S. 189204. Brachmann, Jan: In welcher Heimat wollen wir leben?, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.10.2018, S. 12. Burt, Raymond L.: Friedrich Salomo Krauß (1859-1938). Selbstzeugnisse und Materialien zur Bibliographie des Volkskundlers, Literaten und Sexualforschers mit einem Nachlassverzeichnis, Wien 1990. Gauland, Alexander: SPD hat beim Familiennachzug Bezug zur Realität verloren, https://www.afd.de/alexander-gauland-spd-hat-beim-familiennachzugbezug-zur-realitaet-verloren/ (30.07.2018). Gauland, Alexander/Meuthen, Jörg: AfD – Die Bürgerbewegung wird fünf Jahre alt, https://www.afd.de/meuthen-gauland-afd-die-buergerbewegung-wirdfuenf-jahre-alt/ (30.08.2018). Grönemeyer, Herbert: Heimat, In: Stand der Dinge, Videoalbum/DVD, Electrola/EMI/Grönland Records, 2000. Hager, Carol: The Grassroots Origins of the German Energy Transition. In: Hager, Carol/Stefes, Christoph (Hrsg): Germany’s Energy Transition. A Comparative Perspective, Basingstoke 2016, S. 1-26. Hryciuk, Grzegorz (Hrsg): Wysiedlenia, wypędzenia i ucieczki 1939-1959. Polacy, Żydzi, Niemcy, Ukraińcy. Atlas ziem Polski (Aussiedlungen, Vertrei-

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bungen und Fluchtbewegungen 1939-1959. Polen, Juden, Deutsche, Ukrainer. Atlas der Gebiete Polens), Warschau 2008. Knaut, Andreas: Ernst Rudorff und die Anfänge der deutschen Heimatbewegung, In: Klueting, Edeltraut (Hrsg.): Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung, Darmstadt 1991, S. 20-49. Naumann, Friedrich: Die amerikanische Neutralität, In: Ders. (Hrsg.): Die Hilfe. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst 22 (1916), S. 125-126. Oesterhelt, Anja: „Große deutsche Heimat“. Adolf Bartels, die Heimatkunst und Weimar, In: Bomski, Franziska/Seemann, Hellmut Th./Valk, Thorsten (Hrsg): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung, Göttingen 2014, S. 55-71. Steinmeier, Frank-Walter: Rede zum Festtag der deutschen Einheit, 03.10.2017, http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Stein meier/Reden/2017/10/171003-TdDE-Rede-Mainz.html (07.10.2018). Ulbricht, Justus H.: Heimat, ein Wort, ein Ort – zwischen Sehnsucht und Gefährdung, In: Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz, 1 (2017) [Naturschutz, Heimatgeschichte, Denkmalpflege und Volkskunde], S. 27-25. Zöller, Renate: Was ist eigentlich Heimat?, Berlin 2015.

ZITIERTE FILME Der Förster vom Silberwald (Echo der Berge), Ö. 1954. Regie: Alfons Stummer. Drehbuch: Alfred Solm, Alfons Stummer. Musik: Viktor Hruby. Darsteller: Rudolf Lenz, Anita Gutwell, Erik Frey, Hermann Erhardt u.a. Produktion: Rondo-Film (Wien). Ich denke oft an Piroschka, D. 1955. Regie Kurt Hoffmann. Drehbuch: Per Schwenzen, Hugo Hartung. Musik: Franz Grothe. Darsteller: Liselotte Pulver, Gunnar Möller, Wera Frydtberg, Gustav Knuth, u.a. Produktion: Georg Witt-Film GmbH (München-Geiselgasteig).

III. Heimat gestalten

Die Schule „pflegt die Verbundenheit mit der Heimat in Thüringen und in Deutschland“ Der Heimatbegriff im Bildungsauftrag des modernen Schulwesens Gregor Reimann, Sophie Seher und Michael Wermke

Das 1993 verabschiedete Thüringer Schulgesetz enthält in § 2 zum Bildungsund Erziehungsauftrag der Thüringer Schulen zwei auffällige Formulierungen: So habe die Schule „die Verbundenheit mit der Heimat in Thüringen und in Deutschland“ zu pflegen und die Schülerinnen und Schüler dazu anzuhalten, „sich im Geiste des Humanismus und der christlichen Nächstenliebe für die Mitmenschen einzusetzen“1, die die unbefangene Leserschaft stutzen lässt.2 1

Siehe Ministerium für Bildung, Jugend und Sport: Thüringer Schulgesetz vom 6. August 1993 (GVBl. S. 445) in der Fassung der Bekanntmachung vom 30. April 2003 (GVBl. 238), zuletzt geändert durch Artikel 5 des Gesetzes vom 31. Januar 2013 (GVBl. 22, 23). Im § 2 ‚Gemeinsamer Auftrag für die Thüringer Schulen‘ heißt es: „Die Schule erzieht zur Achtung vor dem menschlichen Leben, zur Verantwortung für die Gemeinschaft und zu einem verantwortlichen Umgang mit der Umwelt und der Natur. Sie pflegt die Verbundenheit mit der Heimat in Thüringen und in Deutschland, fördert die Offenheit gegenüber Europa und weckt das Verantwortungsgefühl für alle Menschen in der Welt. […] Dabei werden die Schüler darauf vorbereitet, Aufgaben in Familie, Gesellschaft und Staat zu übernehmen und dazu angehalten, sich im Geiste des Humanismus und der christlichen Nächstenliebe für die Mitmenschen einzusetzen.“

2

Siehe hierzu auch: Kästner, Karl-Hermann: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Anke, Hans Ulrich/Couzinet, Daniel/Traulsen, Christian, Tübingen 2011, S. 314 f.

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Dient die Präambel des Thüringer Schulgesetzes unter dem Vorzeichen eines im wiedervereinigten Deutschland neugegründeten Bundeslandes dem Ziel, unterschiedliche, wenn nicht gar divergierende bildungstheoretische wie -politische Traditionen aufzugreifen und zu harmonisieren; so ist es unverkennbar, dass der ‚Geist des Humanismus‘ auf die sozialistisch geprägte Tradition der ehemaligen DDR und der ‚Geist der christlichen Nächstenliebe‘ hingegen auf die christliche Prägung der alten Bundesrepublik zu beziehen ist. Wie die beiden, an sich weit auseinanderliegenden Wertebegründungsmodelle philosophisch, theologisch und schließlich auch bildungstheoretisch systematisch in Beziehung zu setzen sind, bleibt im Schulgesetz unbestimmt. Vermutlich handelt es sich hier um einen symptomatischen Sprachgebrauch in administrativen Texten, die zugleich einer (bildungs)politischen Intention folgen. Entscheidend ist aber, dass zwischen den beiden unterschiedlichen Traditionslinien ein gleichberechtigtes, wenn man so will: versöhntes Verhältnis hergestellt werden soll. Mit seiner exponierten Formulierung zum Heimatbegriff geht das Schulgesetz über den Formelkompromiss bezüglich der Wertebegründung schulischer Bildung hinaus. Zunächst lässt die Verwendung sowohl assoziative Bezugnahmen auf das Verständnis der sozialistischen Heimat der DDR wie auch auf das Heimatverständnis insbesondere konservativ-politischer Prägung der Bundesrepublik zu.3 Aber welche unterschiedlichen Lesarten von Heimat werden hier zusammengeführt? Ist der Heimatbegriff nicht vielmehr politisch zu sehr korrumpiert, als dass die ‚Verbundenheit zur Heimat‘ noch als ein Bildungsziel formuliert werden sollte? Oder lässt man sich in der eigenen semantischen Füllung des Begriffs Heimat zu sehr von den historischen Erblasten dieses Begriffs leiten, so dass man sich diesen Begriff nur in einer nationalistischen und damit exkludierenden Verengung denken kann?4 3

Zum Vergleich des Heimatverständnisses in der frühen Bundesrepublik und in der DDR vgl. Oberkrome, Willi: ‚Deutsche Heimat‘. Nationale Konzeptionen und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in WestfalenLippe und Thüringen (1900–1960), Paderborn/München/Wien/Zürich 2004; speziell zum sozialistischen Heimatverständnis s. Schlegelmilch, Arthur: ‚Sozialistischer Patriotismus‘, in: BIOS 27 (2014), 61-77.

4

Zum Heimatbegriff in theologisch und bildungstheoretischer Perspektive s. KleebergHörnlein, Sylvia E./Reimann, Gregor/Wermke, Michael: Zwischen ‚irdischer‘ und ‚ewiger Heimat‘. Der Heimatbegriff in systematisch-theologischen Kontexten und als Thema religionspädagogischer Bildungsforschung, In: Costadura, Edoardo/Ries, Klaus (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, 145-160.

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Im Folgenden wollen wir uns diesen Fragestellungen nähern. Hierzu werden im 1. Abschnitt die Anfänge der Heimatkundedidaktik resp. der didaktischen Ingebrauchnahme des Heimatbegriffs zu Beginn des 19. Jahrhunderts anhand der seit den 1980er-Jahren entstandenen disziplingeschichtlichen Studien rekonstruiert. Im 2. Abschnitt steht die Diskussion um das Verständnis des Heimatkundeunterrichts am Ende des Kaiserreichs im Mittelpunkt. Im 3. Abschnitt wird der in der Weimarer Republik an das Fach Heimatkunde gerichtete bildungspolitische Anspruch näher untersucht. Eduard Sprangers ideologische Deutung des Heimatbegriffs, die die Verbindung zwischen der Weimarer Republik, dem sog. dritten Reich und der frühen Bundesrepublik herstellt, wird im 4. Abschnitt behandelt. Die Abschnitte 5 und 6 sind gewissermaßen parallel zu lesen, geht es hier doch um die zeitgleiche Entwicklung des Heimatverständnisses in Bildungskontexten in Westdeutschland und der DDR. In Abschnitt 7 wird der Heimatbegriff in den aktuellen Schulgesetzgebungen der Bundesländer im Allgemeinen und im abschließenden 8. Abschnitt wird der Heimatbegriff im Thüringer Schulplan und im Lehrplan für das Fach Heimat- und Sachkunde im Speziellen untersucht.

1. HEIMATKUNDE UND WELTWISSEN – DIE ANFÄNGE DES HEIMATKUNDEUNTERRICHTS IN DER DISZIPLINGESCHICHTSSCHREIBUNG DER SACHKUNDEDIDAKTIK Insbesondere die Arbeiten des Duisburger Erziehungswissenschaftlers Hartmut Mitzlaff (geb. 1949) stehen für das Ringen der Grundschuldidaktik um eine zeitgemäße Didaktik des Sachkundeunterrichts mit dem als ideologisch sehr belastend eingeschätzten Erbe der sog. ‚alten Heimatkunde‘.5 Seiner 1985 an der Universität Dortmund eingereichte Dissertationsschrift Heimatkunde und Sachkunde. Historische und systematische Studien zur Entwicklung des Sachunterrichts. Zugleich eine kritische Entwicklungsgeschichte des Heimatideals im deutschen Sprachraum wird der Verdienst zugesprochen, die These „vom ‚durchweg reaktionären Ursprung‘ des Heimatkundeunterrichts“ im frühen 19. Jahrhundert widerlegt und zugleich den Nachweis erbracht zu haben, dass die damaligen An-

5

Rauterberg, Marcus: Die ‚alte Heimatkunde‘ im Sachunterricht. Eine vergleichende Analyse der Richtlinien für den Realienunterricht der Grundschule in Westdeutschland von 1945 bis 2000, Bad Heilbrunn 2002.

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sätze des Heimatkundeunterrichts zu den pädagogisch fortschrittlichsten ihrer Zeit gehörten.6 So ist das Bemühen der Disziplingeschichtsschreibung der Sachkundedidaktik davon geprägt, die liberalen und aufklärerischen Aspekte der Anfänge der Heimatkunde im frühen 19. Jahrhundert herauszuarbeiten und das Fach Sachkunde in diese pädagogische Tradition zu stellen. Der Begriff Heimatkunde („Heimathskunde“) wurde vermutlich 1816 erstmalig von dem Theologen und Lehrerbildner Christian Wilhelm Harnisch (17871864) als Bezeichnung für einen neu konzipierenden Lernbereich im Volksschulunterricht gebraucht.7 In diesem Fach sollte, so Mitzlaff, die im unmittelbaren Lebensraum der Schülerinnen und Schüler angesiedelten Inhalte verschiedener Wissensbereiche wie Geografie, Geologie, Tier- und Pflanzenkunde (die sog. Realien), aber auch politische Gliederung sowie lokale Geschichte und Kultur durch konkret-sinnliche Erfahrung und selbsttätiges Handeln erschlossen werden. Dieser Wissenszugang über die Nahraumerfahrung geht zurück auf Johann Heinrich Pestalozzis pädagogisches Konzept des kindgemäßen Unterrichts. Das Modell des Weltverstehens ‚vom Nahen zum Entfernten‘, vom ‚Kleinen zum Großen‘ setzte im Nahbereich des Elternhauses an, behandelt die regionale Landschaft, die Kreisstadt und öffnete sich schließlich der Heimatprovinz. Heimatkunde stellt so die „erste lokale und provinzbezogene Stufe der Weltkunde“ dar.8 Nach Mitzlaff ist für Harnischs Verständnis von Heimatkunde dessen aufklärerische, emanzipatorische Intention kennzeichnend: ein kosmopolitischer Ansatz, der ausgehend von der Kenntnis der eigenen Lebenswelt zu einem umfassenden Weltwissen führen sollte. Bemerkenswert ist hierbei die nüchterne Unterscheidung, die Harnisch zwischen Heimat und Vaterland getroffen hat: „Heimath und Vaterland ist hier scharf zu unterscheiden: Heimath ist die Geburtsgegend, als Geburtsort, Geburtskreis, Geburtsprovinz; das Vaterland geht so weit, als gemein6

Mitzlaff, Hartmut: Heimatkunde und Sachkunde. Historische und systematische Studien zur Entwicklung des Sachunterrichts. Zugleich eine kritische Entwicklungsgeschichte des Heimatideals im deutschen Sprachraum, Diss. Universität Dortmund 1985.

7

Harnisch, Chr[istian] Wilhelm: Leitfaden beim Unterricht in der Weltkunde, In: Der Schulrath an der Oder, 8. Lieferung 1816, S. 27-63, darin ‚Kunde der Heimat‘, S. 3863; zu Harnisch s. Mitzlaff, Hartmut, Die erste ‚Heimathskunde‘ von Chr. Wilhelm Harnisch (1787–1864), In: Kaiser, Astrid/Pech, Detlef (Hrsg.), Basiswissen Sachunterricht, Bd. 1: Geschichte und historische Konzeption des Sachunterrichts, Hohengehren 22008, S. 73-80.

8

Mitzlaff, ‚Heimathskunde‘, S. 76.

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schaftliches Denken in gemeinschaftlicher Sprache reicht. Der Schlesier, der Märker, der Württemberger, der Westfale haben verschiedene Heimathen, aber nur ein Vaterland, nämlich Deutschland.“9

Harnischs Ansatz wurde insbesondere von Friedrich August Finger (1808-1888) aufgegriffen, der das Fach in einem propädeutischen Sinne als Vorbereitung für den späteren Geographieunterricht konzipierte. Das von Finger entwickelte sog. Weinheimer Modell des Heimatkundeunterrichts ist nach Hartmut Mitzlaff „der Prototyp einer sachbetonten, auf den lokalen Erfahrungs- und Nahraum konzentrierten, geografie-propädeutischen und kindorientierten Heimatkunde mit aufklärerisch-realistischen Aufklärung.“10 Hervorzuheben ist die bereits bei Harnisch angelegte Öffnung der Heimatkunde zu einer Weltkunde. So verband Harnisch den Heimatkundeunterricht mit der Erziehung zum „thätigen Staatsbürger“, der aufgrund seiner Kenntnis der Welt, ihrer biologischen, geophysikalischen und politischen Zusammenhänge, zu einer angemessenen, d.h. liberal-nationalpatriotischen Einstellung gegenüber seiner Heimat und seinem Vaterland gelangt. Explizit wandte sich Harnisch aber, so Mitzlaff, gegen die „Vergötterung des Vaterlandes“ und gegen einen „Nationalwahn“.11 Religiöse Bildung war bei Harnisch, für den offenbar die Möglichkeiten wissenschaftlicher Erforschung der Welt nicht im Widerspruch zu religiösen Schöpfungsvorstellungen standen, in harmonischer Weise mit dem aufklärerischen Konzept heimatkundlicher Bildung verknüpft.12 Die aufklärerisch-rationalen und kosmopolitischen Tendenzen der Heimatkunde konnten sich jedoch nicht durchsetzen. Der Anspruch, in der Volksschule den Zusammenhang von Ursache und Wirkung – sei es in natur-, kultur- oder gesellschaftswissenschaftlicher Hinsicht – in didaktisch elementarisierte, aber doch rationale Erklärungsmodelle zu überführen, weckte den Widerstand der 9

Harnisch, Chr[istian] Wilhelm: Die Weltkunde: Ein Leitfaden bei dem Unterricht in der Erd-, Miner- [sic], Stoff-, Pflanzen-, Thier-, Menschen-, Völker-, Staaten- und Geschichtskunde, Breslau 41827, S. 31 f.

10 Mitzlaff, Hartmut: Elementarunterricht zwischen Propädeutik und Kindorientierung – F.A. Fingers (1808–1888) Weinheimer ‚Heimatskunde‘ von 1844, In: Kaiser/Pech (Hrsg.): Basiswissen, S. 85-89, hier S. 86, im Original hervorgehoben. 11 S. hierzu ausführlicher Mitzlaff, ‚Heimathskunde‘, S. 79. Nach Mitzlaff führte die Verkopplung von Heimat- und Staatsbürgerkunde bei Harnisch zu einer Öffnung des Heimatkundeunterrichts für die spätere national-patriotische Vereinnahmung des Faches. 12 Vgl. Mitzlaff, ‚Heimathskunde‘, S. 75.

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Kirche und der staatlichen Obrigkeit. Die Widerstände, so Horst Schaub, erreichten „ihren Höhepunkt nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution 1848 in den Stiehlschen Regulativen von 1854, in denen die H[eimatkunde] für die Volksschule und die Lehrerbildung ausgeschlossen wurde.“13 Hingegen wurde der Religionsunterricht „‚als Vermittlungsinstanz für eine christlich-patriotische Gesinnung‘ und für die Abwehr liberaler Gedanken in Anspruch genommen“ und ins Zentrum des Schulunterrichts und der Ausbildung der Volksschullehrer gestellt.14 Unter dem Druck der Industrialisierung der Gesellschaft wurde in dem Preußischen Schulaufsichtsgesetz von 1872 Heimatkunde schließlich als Teil des Fachs Geographie in der Mittelstufe der Volksschule zugelassen.15 So durchlief der Heimatbegriff in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen grundlegenden Bedeutungswandel: „War noch für Harnisch und andere frühe Pädagogen die Heimatkunde eine wirkliche Erkundung und Aneignung der Umwelt und Lebenswelt, so wurde nun ‚Heimat‘ als restauratives, romantisierendes Schlagwort etabliert, das vor allem die Auswirkungen der industriellen Revolution abmildern sollte. Der Heimatbegriff […] wurde zum Projektionsbegriff für diverse, politischen und gesellschaftlichen Bedürfnissen angepasste Inhalte, oft auch für irrationale Sehnsüchte.“16

Heimatkundliche Bildung wurde nun in erster Linie als patriotische Gesinnungsund Gemütsbildung verstanden, verbunden mit der Aufgabe, ein Bindeglied für die Gesellschaft des noch jungen, zweiten deutschen Kaiserreiches zu schaffen. Der Heimatgedanke wurde, so Horst Schaub, „in der Volksschulpolitik des Wil13 Schaub, Horst: Art. Heimatkunde, In: Keck, Rudolf W./Sandfuchs, Uwe (Hrsg.): Wörterbuch Schulpädagogik. Ein Nachschlagewerk für Studium und Schulpraxis, Bad Heilbrunn 1994, S. 149-152, S. 150. Die von Ferdinand Stiehl (1812–1878) verfassten ‚Preußischen Regulative für das Volksschul-, Präparanden- und Seminarwesen vom 1., 2. und 3. Oktober 1854‘ sollten das Volksschulwesen und die Volksschullehrerausbildung in Preußen neu organisieren. 14 Collmar, Norbert: Schulpädagogik und Religionspädagogik. Handlungstheoretische Analysen von Schule und Religionsunterricht, Göttingen 2004, S. 117; mit Bezug auf Lämmermann, Godwin: Religion in der Schule als Beruf. Der Religionslehrer zwischen institutioneller Erziehung und Persönlichkeitsbildung, München 1985, S. 219. 15 Vgl. Schaub, Heimatkunde, S. 150. 16 Faehndrich, Jutta: Entstehung und Aufstieg des Heimatbuchs, In: Beer, Mathias (Hrsg.): Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung, Göttingen 2010, S. 55-83, hier S. 61.

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helminischen Obrigkeitsstaates aufgegriffen und zum Kern einer affirmativen, religiösen und nationalen Gesinnungsbildung gemacht. Gottesfurcht, religiöse Herzensbildung, Heimat- und Vaterlandsliebe waren die vom Kaiser selbst verkündeten Normen der Volksbildung.“17

2. HEIMAT UND HEIMATKUNDE IM BILDUNGSPOLITISCHEN DISKURS DES AUSGEHENDEN KAISERREICHES Der folgende Abschnitt wendet sich dem im ausgehenden Kaiserreich geführten Diskurs um den Heimatkundeunterricht und dessen Einführung als eigenständiges Unterrichtsfach an den Volkschulen zu.18 Der Diskurs lässt sich anhand des von Edmund Scholz verfassten Lexikonartikels „Heimatkunde“ aus dem 1906 in zweiter Auflage erschienenen Enzyklopädischen Handbuch der Pädagogik, herausgegeben von dem renommierten Jenaer Pädagogen Wilhelm Rein (18471929), recht gut rekonstruieren. Dieser Artikel entstand in Zeiten der Debatte um die Einführung des Heimatkundeunterrichts als Pflichtfach an den Volksschulen. In diesem Beitrag wandte sich Scholz gegen einen ausschließlich naturwissenschaftlich orientierten Heimatkundeunterricht und plädierte mit viel Nachdruck für eine angemessene Berücksichtigung kulturgeschichtlicher Anteile. Mit seiner Argumentation sieht sich Scholz in der geografiepropädeutischen Tradition des Heimatkundeunterrichts von Finger, auf den er sich auch ausdrücklich bezieht. Ihm und bedingt auch Harnisch folgt er in der didaktischen Forderung, dass die Gegenstände des heimatkundlichen Unterrichts der direkten Umwelt bzw. dem sich allmählichen Ausweiten des Erfahrungsbereichs der Kinder (Prinzip der Lebensnähe, Prinzip der konzentrischen Kreise) zu stammen haben.19 Gleichwohl strebt Scholz in seinem pädagogischen Konzept von Heimatkunde eine Synthese zwischen einem aufklärerisch-rationalen und einem romantisch gefärbten emotionalen Zugang zum Heimatkundeunterricht an. So sei es dessen Aufgabe, „in den Kindern ein klares Bild der Heimat zu erzeugen, das nicht nur den Verstand erhellt und befruchtet, sondern auch das Herz zu erwär17 Schaub, Heimatkunde, S. 150. 18 Zur europäischen Debatte um den Heimatbegriff s. Schlimm, Anette: Eine ‚entente cordiale‘ für den Schutz der Heimat? Europäische Kooperationsversuche von Landschafts- und Heimatschützern vor dem Ersten Weltkrieg, (2015) http://www.europa. clio-online.de/essay/id/artikel-3784#_ftn24 (04.10.2018). 19 Vgl. Scholz, Edmund: Art. Heimatkunde, In: Rein, Wilhelm (Hrsg.): Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Langensalza 21906, S. 149-175, S. 171 f.

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men und das Gemüt zu vertiefen geeignet ist.“20 Auch sein Verständnis von Heimat ist geprägt von der Vorstellung von einer starken Emotionalität: „Die Heimat ist das Stück Erde mit seinen natürlichen und menschlichen Verhältnissen, welchem dem einzelnen die ersten nachhaltigen, stets von einem starken Gefühlston begleitenden Eindrücke verdankt, die bei allem Wechsel des Innenlebens einen bleibenden Grundzug seiner Individualität bilden. Sie gleichen der Summe des Selbstangeschauten und Selbsterlebten, sei es auf dem Wege der Erfahrung oder des Umganges gewonnen, gehöre es der Gegenwart oder der Vergangenheit an.“21

Als Gewährsmann für die emotionale Aufladung des Heimatbegriffs dient Scholz der schon zu jener Zeit bekannte Architekt und Mitbegründer des ‚Deutschen Bundes Heimatschutz‘ Paul Schultze-Naumburg (1869-1949), dessen Annahme er teilt, dass „die Heimat als Gefäß unserer Volksseele der aufmerksamen Pflege bedürfe, damit nicht eines Tages der letzte Rest von Heimatliebe – die Wurzel unserer Kultur – verflogen sei“.22 Scholz sieht die Notwendigkeit einer allgemeinen Einführung des heimatkundlichen Unterrichts als unstrittig an, entscheidender ist für ihn die Frage nach dem Verhältnis von natur- und kulturkundlicher Heimatkunde und nach dem Selbstverständnis von Heimatkunde als ein unterrichtliches Prinzip oder ein Unterrichtsfach. Entscheidend für die Beantwortung der Fragen ist Scholzʼ Verständnis von Heimat in der Wahrnehmung von Kindern. So beschreibt Scholz – in dem Sinne, dass „kaum eine ‚Heimat‘ der anderen gleicht“23 – Heimat als ein „geographisch-historisches Individuum“, das sich nicht nur aus den „heimatlichen Erscheinungen des Pflanzen-, Tier- und Menschenlebens, wie es sich auf dem heimatlichen Schauplatze abspielt und jeweilig dem Kinde darbietet“ zusammensetzt, sondern „ganz besonders die kulturgeschichtlichen Erscheinungen der Heimat berücksichtigt“.24 So besteht für ihn Heimatkunde aus den zwei gleichberechtigten und eng aufeinander bezogenen, aber unterscheidbaren Formen des Räumlichen und des Zeitlichen. Offenbar ging es Scholz darum, ein zu eng na20 Ebd., S. 153. 21 Ebd., S. 151. 22 Ebd., S. 150. Das Zitat von Schultze-Naumburg wurde nicht geprüft. SchultzeNaumburg, der 1907 den ‚Deutschen Werkbund‘ mitbegründete, lehnte u. a. den Bauhausstil als ‚undeutsch‘ ab und wandte sich Mitte der 1920 Jahre der nationalsozialistischen Ideologie zu. 23 Ebd., S. 157. 24 Ebd., S. 153.

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turkundlich ausgerichtetes Fachverständnis von Heimatkunde abzuwehren bzw. den Anspruch auf einen auch kulturgeschichtlichen Heimatkundeunterricht zu stärken. In Hinblick auf die Verhältnisbestimmung von Heimatkunde als Unterrichtsfach oder als unterrichtliches Prinzip weist Scholz Heimatkunde als natur- und kulturkundlich propädeutischer Unterricht in den ersten zwei Schuljahren (als Teil des Anschauungs- und Gesinnungsunterricht) eine zentrale Bedeutung zu: „Ein anderer als heimatkundlicher Unterricht ist bei Beginn der Schulzeit des Kindes psychologisch nicht denkbar. Was in dem in die Schule eintretende Kinde geistig sich regt, ist Heimat.“25 Über die Schulanfangsjahre hinaus bildet Heimatkunde ein unterrichtliches Prinzip, das nicht nur den Fächern Erdkunde und Geschichte im Verlaufe der gesamt Schulzeit unterliegt, wie Scholz ausführlich erläutert, sondern alle Fächer einschließlich des Sprach-, Mathematik- und Kunstunterricht sowie letztlich das gesamte Schulleben umfasst: „Es wird immer in erster Linie daran festzuhalten sein, daß die Heimatkunde alle Gebiete des heimischen Natur- und Menschenlebens, erstere mehr auf den unteren Stufen, letztere mehr im späteren Unterrichte, gleichmäßig zu berücksichtigen hat, um am Schlusse der Schulzeit nicht allein ein räumliches Heimatbild, sondern ein tiefes Heimatwissen in der Seele des Zöglings zu erzeugen, welches von starken Heimatgefühlen begleitet, das Wollen in verschiedener Hinsicht bestimmt.“26

Scholz argumentiert in seinem Artikel überwiegend aus entwicklungspsychologischer und fachdidaktischer Perspektive: ‚Heimat‘ bildet quasi die anthropologische Essenz des Kindes. Ihm liegt es an einer angemessenen Wahrnehmung der aus Erwachsenensicht beschränkte Verstehensmöglichkeiten des Kindes und hält sich dabei an pädagogische Prinzipien von Pestalozzi und Diesterweg. Auch wenn er sich auf seinerzeit gängige konservative bis reaktionäre Argumentationen bezieht und sich hierbei in die Gefahr eines nationalistischen Heimatbegriff begibt, wird man ihn nicht als Vertreter einer obrigkeitstreuen oder völkischen Erziehungsdoktrin bezichtigen können. In seiner Konzeption spielen nationalistische Ideen einer Erziehung zur Heimat- und Vaterlandsliebe keine explizite Rolle – im Mittelpunkt seiner pädagogischen Überlegung steht das Kind in seiner 25 Ebd., S. 153. Scholz ergänzt in einer Fußnote die Bemerkung: „Daß dies von Kindern großer Industrieorte infolge des häufigen Wohnungswechsels nicht ausnahmslos gilt, kann diese Wahrheit nicht beseitigen.“ 26 Ebd., S. 169.

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Beziehung zu seiner Heimat. Gleichwohl hat Scholz Heimat zu einem dominierenden pädagogischen Leitbegriff erhoben, dem sich alle pädagogischen Bemühungen zu unterwerfen haben. Heimatkunde bedeutet für Scholz nicht allein eine kindgemäße Annäherung und Auseinandersetzung mit der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler, sondern der Unterricht zielt auf eine affektive Gesinnungsbildung und öffnet damit den Weg für die nationalchauvinistische Okkupation dieses Unterrichts. Bezeichnenderweise spart Scholz eine Verhältnisbestimmung von Religionsunterricht und Heimatkundeunterricht aus. ‚Religion‘ kommt bei ihm nur im Zusammenhang der möglichen kulturgeschichtlichen Bedeutung bzw. ihrer didaktischen Verzweckbarkeit in den Blick. So können biblische Geschichten als „Gesinnungsstoffe“ wie Fabeln und Märchen dienen, die Wahrnehmung der architektonischen Gestaltung der Heimatkirche schärft den Blick für „die reine Formen“ und auf die „aus christlichem Geist erwachsene Wohltätigkeitsveranstaltungen“ als Beispiel menschlicher Sozialformen lohnt es hinzuweisen.27 Faktisch bedeutet dieser Anspruch die Unterordnung aller Bildungsgüter, einschließlich der religiöser Bildung und Erziehung, unter das Prinzip der Heimatkunde; so stehe „noch für die örtlichen Lehrpläne in Religion, Geschichte, Wirtschaftskunde u.a. ein weites Feld für eingehende Überlegungen offen.“28 Die Frage, wie sich die gesinnungsbildende Aufgabe des Heimatkundeunterrichts zum christlich-sittlichen fundierten Bildungsauftrag der Schule im Allgemeinen und des Religionsunterrichts im Speziellen als „Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterlande“29 verhält, wird ausgespart; oder anders formuliert: Die in dem Heimatkundekonzept intendierte Ablösung von Religion und Kirche in ihrer sozialintegrativen Funktion durch einen nationalistisch aufgeladenen Heimatbegriff wird nicht thematisiert. Zwei Jahre später, 1908, führte Preußen den Heimatkundeunterricht als verpflichtendes Unterrichtsprinzip ein. In der ministeriellen Weisung an die Schulaufsichtsbeamten bzgl. der Didaktik des Heimatkundeunterrichts heißt es dann etwas nüchtern: „Die Heimatkunde ist überall sorgfältig zu pflegen. Dies gilt nicht nur vom erdkundlichen Unterrichte, auch die heimatlichen Geschichten, heimatlichen Sagen, Denkmäler, Bauten u.a. sind zu berücksichtigen; die Kinder müssen ferner die in ihrer Heimat hauptsächlich 27 Ebd., S. 154, 168, 169. 28 Ebd., S. 168 f. 29 So die berühmte Formulierung aus der Kabinettsordre Kaiser Wilhelm II. vom 1. Mai 1889, zit. n. Grethlein, Christian: Religionspädagogik, Berlin/New York 1998, S. 410.

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vorkommenden Pflanzen, Tiere, Gesteine kennen lernen und zu dieser Kenntnis nach Möglichkeit auch im Freien auf Spaziergängen u[nd] dergl[eichen] geführt werden.“ 30

3. HEIMAT UND HEIMATKUNDE IN DER PREUSSISCHEN SCHULGESETZGEBUNG IN DER WEIMARER REPUBLIK ALS BEITRAG ZU DER ‚EINEN GESELLSCHAFT‘ Im folgenden Abschnitt soll der Heimatbegriff des Heimatkundeunterrichts, der in der preußischen Schulgesetzgebung in der Weimarer Republik als Schulfach eingeführt wurde, untersucht werden. Lehrpläne besitzen einen hohen normativen Geltungsanspruch, v.a. in Hinblick auf die Unterrichtsgestaltung und auch auf Schulbuchgestaltung oder die Lehrerbildung. Die Lehrpläne eröffnen zwar noch keine Blick in die unterrichtliche Praxis, lassen aber Rückschlüsse auf die mit dem jeweiligen Unterrichtsfach verbundenen curricularen und auch bildungspolitischen Ambitionen des Gesetzesgebers zu. Nach dem Ende des deutschen Kaiserreichs schreibt die Reichsverfassung, die sog. Weimarer Verfassung, von 1919 im Artikel 146 die Grundschule als gemeinsame Schuler aller Kinder für die ersten vier Schuljahre fest, auf der dann das weiterführende Schulwesen aufbaut. Das kurz vor der Reichsschulkonferenz 1920 verabschiedete Reichsgrundschulgesetz richtet die vierjährige Grundschule als rechtlich verbindliche Schulform ein und schafft zugleich alle anderen alternativen Beschulungsformen (Vorschulen, Privatunterricht durch Hauslehrer etc.) ab. Zur selben Zeit wird Heimatkunde als verbindliches Unterrichtsfach für die Volksschule eingeführt. Die Reichverfassung sieht zwar in Artikel 146 die Möglichkeit eines entkonfessionalisierten Volksschulwesens vor, faktisch bleiben jedoch die Volksschule und mit ihr die Volksschullehrerbildung konfessionell gegliedert.31 1921 und 1922 werden in Preußen unter Kultusminister Konrad Haenisch (1876-1925, SPD) und seinem Nachfolger Otto Boelitz (1876-1951, DVP) zwei Richtlinien für die Lehrpläne der Volksschule erlassen: Am 16. März 1921 er-

30 Per Ministerialerlass vom 31.01.1908, Weisungen betreffend die Schulrevisionen, In: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 50 (1908), S. 379-384, hier S. 382 f. 31 S. hierzu ausführlich Wermke, Michael: Die Konfessionalität der Volksschullehrerbildung in Preußen. Ein Beitrag zum Schulkampf in Weimarer Republik, Leipzig 2016.

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scheinen die Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die vierjährige Grundschule und am 15. Oktober 1922 die Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die vier oberen Jahrgänge der Volksschule. Im Einklang mit dem Anspruch der Reichsverfassung bestimmen die Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die Grundschule als allgemeines Bildungsziel, den „Kindern eine grundlegende Bildung zu vermitteln, an die sowohl die Volksschule der vier oberen Jahrgänge wie der mittleren und höheren Schulen mit ihrem weiterführenden Unterricht anknüpfen können.“32 Die Richtlinien greifen reformpädagogische Impulse auf, insofern in ihnen festgelegt ist, dass in der Grundschule die „Auswahl der Unterrichtsstoffe in erster Linie durch die Fassungskraft und das geistige Wachstumsbedürfnis der Kinder, in zweiter Linie durch ihre Bedeutung für das Leben bestimmt“ werden. Die Wissensstoffe und Fertigkeiten sollen deswegen nicht bloß vermittelt werden, „sondern möglichst alles, was die Kinder lernen, [soll] von ihnen innerlich erlebt und selbsttätig erworben werden.“ Aller Unterricht hat „die Beziehungen zur heimatlichen Umwelt der Kinder sorgsam zu pflegen“. Erst für die oberen Jahrgänge der Volksschule, die in die Arbeitswelt hinüberführen, folgt, „daß die Lehrpläne mehr als die der Grundschule die Bedürfnisse des Lebens berücksichtigen müssen.“ Wobei sofort hinzugefügt wird, dass „aber auch hier das Bildungsbedürfnis der Altersstufe und die Aufgabe stetiger und gleichmäßiger Förderung der kindlichen Gesamtentwicklung […] entscheidend [sind].“33 Der Unterricht in der Grundschule umfasst neben den traditionellen Fächern Religion, deutsche Sprache, Rechnen, Zeichnen, Gesang, Turnen und Nadelarbeit für Mädchen nun auch das neue Fach Heimatkunde. Der „heimatkundliche Anschauungsunterricht“ steht insbesondere im Anfangsunterricht der ersten beiden Schuljahres im Mittelpunkt, bei denen „eine strenge Scheidung der Lehrfächer nach bestimmten Stunden“ nicht vorgeschrieben und „vielmehr ein Gesamtunterricht zuzulassen“ ist. Auch „die Unterredungen und Belehrungen über Religiöses und Sittliches“ können zum „heimatkundlichen Anschauungsunterricht“ in Beziehung gesetzt werden.34 Für das dritte und vierte Schuljahr ist Heimat32 Der Preussische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung: Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die Grundschule, In: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung 63 (1921), S. 185-188, hier S. 186. 33 Der Preussische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung: Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die oberen Jahrgänge der Volksschule, In: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung 63 (1921), S. 171-179, hier S. 172. 34 Der Preussische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung: Richtlinien Grundschule, S. 186.

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kunde als eigenständiges Unterrichtsfach vorgesehen, das der Vorbereitung des späteren erdkundlichen, naturkundlichen und geschichtlichen Unterrichts dienen soll.35 In den ersten beiden Schuljahren hat der Heimatkundeunterricht seine Stoffe „der näheren Erfahrungswelt der Kindes“ zu entnehmen: „Haus, Hof und Garten, Schulhaus und Schulhof, Straße und Hain, Feld, Wiese und Wald, das häusliche und das Schulleben, die Arbeit im Haus, in Handwerk, Gewerbe, Landwirtschaft, Gartenbau, je nachdem, wie die Heimat diese Dinge zur Anschauung und Beobachtung darbietet.“36 Im Vordergrund steht die Vorbereitung auf den späteren erdkundlichen, naturkundlichen Unterricht; der landeskundliche und geschichtliche Anteil des Heimatkundeunterrichts tritt deutlich zurück. An den Richtlinien lässt sich beobachten, wie jenseits der bildungspolitischen Debatten um die Konfessionalität des Volksschulwesens das Verhältnis der religiösen zu den nicht-religiösen Unterrichtsinhalten bzw. des Religionsunterrichts zu den anderen Unterrichtsfächern in der Praxis des Volksschulunterrichtes bestimmt gewesen ist. Hierbei zeigt sich, dass den Bildungsgütern des Religionsunterrichts keineswegs mehr eine Vorrangstellung gegenüber den anderen Fächer hinsichtlich einer bekenntnishaften Grundierung des Schulunterrichts eingeräumt wurde, sondern vielmehr, dass die kirchliche Forderung nach der Beibehaltung des Religionsunterrichts in seiner konfessionellen Gestaltung diesen zu einem schulorganisatorischen und -pädagogischen Problem werden ließ. Nach den unter Minister Boelitz erlassenen Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die oberen Jahrgänge der Volksschule vom 15. Oktober 1922 zielen die oberen vier Jahrgänge der Volksschule auf das künftige Berufsleben der Schüler ab, so „daß die Lehrpläne mehr als die der Grundschule die Bedürfnisse des Lebens berücksichtigen müssen.“37 Aber auch für die Richtlinien der oberen Volksschulklassen gilt, dass „das Bildungsbedürfnis der Altersstufe und die Aufgabe stetiger und gleichmäßiger Förderung der kindlichen Gesamtentwicklung, besonders auch nach der Gefühls- und Willensseite hin, entscheidend sein“ soll. Besonders begabten Schülern war zudem die für den Übertritt in die Aufbauschule erforderliche Bildung zu vermitteln. Wie schon die Richtlinien für die Grundschule sind die Richtlinien für die oberen Jahrgänge der Volksschule unverkennbar durch reformpädagogische Leitgedanken geprägt: Die Volksschulpädagogik ist eine ‚Pädagogik vom Kinde aus‘, die Wissensstoffe und Fertigkeiten sollen von den Kindern ‚innerlich erlebt 35 Ebd., S. 187. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 172.

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und selbsttätig erworben‘ und die Bildungsstoffe nicht lediglich vermittelt werden. Insbesondere der Arbeitsschulgedanke, wie er v.a. von Georg Kerschensteiner (1854-1932) entwickelt wurde, findet Eingang in die Lehrplanrichtlinien. Die „Eigentätigkeit der Schüler, der geistigen wie auch der körperlichen“, ist „unter Führung des Lehrers durch Beobachtung, Versuch, Schließen, Forschen und selbständiges Lesen“ zu fördern. Die „Handbetätigung der Kinder“ ist durch das Anlegen von Sammlungen, die Pflege von Tieren in Aquarien, durch Schulgartenarbeit und Werkunterricht, Wanderunterricht etc. „in möglichst weitem Umfange“ zu ermöglichen.38 Im Unterricht der Oberstufe der Volksschule ist ein eigenständiges Fach Heimatkunde in der Stundentafel nicht mehr vorgesehen, wie auch Heimatkunde als Unterrichtsprinzip nur sehr zurückhaltend zu Tage tritt. Neben dem Geschichtsunterricht, in dem die Heimatgeschichte „möglichst in allen Klassen zur Geltung kommen“ soll, ist vor allem der Erdkundeunterricht dem heimatkundlichen Unterrichtsprinzip verpflichtet. So hat er eine „Vertrautheit mit der Heimat“ und eine „Beschäftigung mit den heimatliche[n] Verhältnisse[n]“ anzustreben, „Wanderungen in der Heimat“ zu ermöglichen und auch bei der Himmelskunde ist von „den Erscheinungen, die die Heimat bietet“, auszugehen. Schließlich hat der Erdkundeunterricht den Kindern „den Gedanken des Heimatschutzes“ nahezubringen.39 Veit-Jakobus Dieterich hat darauf aufmerksam gemacht, dass in den preußischen Grundschulrichtlinien nicht mehr der Religionsunterricht „oder die religiös-sittliche Erziehung den konzentrierenden Mittelpunkt des Unterrichts bilden, diesen Platz vielmehr an den ‚heimatkundlichen Anschauungsunterricht‘ abgetreten hat“.40 Diese Beobachtung trifft allerdings in erster Linie auf den ‚Gesamtunterricht‘ des ersten Schuljahres zu, in dessen Mittelpunkt der heimatkundliche Anschauungsunterricht steht.41 Der heimatkundliche Anschauungsunterricht erhält in den ersten beiden Schuljahren aus reformpädagogischen Motiven eine Mittelpunktstellung im Fächerkanon, weil seine Stoffe „der näheren Erfahrungswelt des Kindes“ entnommen werden könne und damit die Gegenwartssi-

38 Ebd. 39 Ebd., S. 175 f. 40 Dieterich, Veit-Jakobus: Religionslehrplan in Deutschland (1870–2000). Gegenstand und Konstruktion des evangelischen Religionsunterrichts im religionspädagogischen Diskurs und in den amtlichen Vorgaben, Göttingen 2007, S. 271. 41 Gesamtunterricht meint hier eine Ergänzung zum Fachunterricht, der die Möglichkeit des fachübergreifenden Unterrichts bieten soll.

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tuation der Kinder zum Lerngegenstand erhoben werde.42 Bereits ab dem dritten Schuljahr tritt der Heimatkundeunterricht in dieser Funktion jedoch zurück und „Heimatkunde wird im eigentlichen Sinne als Vorbereitung für den späteren erdkundlichen, naturkundlichen und geschichtlichen Unterricht gepflegt.“ 43 In den oberen Klassen spielt Heimatkunde als Fach keine und als unterrichtliches Prinzip eine nur nachgeordnete Rolle. Gesinnungsbildende Intentionen finden in den Richtlinien jedoch kaum einen Niederschlag. Lediglich in den Richtlinien für den Geschichte- und Staatsbürgerkundeunterricht findet sich die Aufgabe, bei den Schülerinnen und Schülern „die Liebe zu Volk und Vaterland zu wecken“. Im Vordergrund steht jedoch das Ziel, „die Schüler mit den Haupttatsachen aus der Entwicklung des deutschen Volkes und des deutschen Staatslebens bekannt zu machen, ihnen zugleich die Grundlagen zum Verständnis der Gegenwart und des heutigen Staats zu verschaffen [und] das Bewusstsein der Mitverantwortlichkeit für das Volks- und Staatsganze […] zu wecken.“44 Heimatkunde dient in den preußischen Richtlinien keineswegs dazu, ein nationalistisches oder gar nationalchauvinistisches Bewusstsein zu schaffen; sondern das Fach bzw. das unterrichtliche Prinzip Heimatkunde versteht sich als Ausdruck eines reformpädagogischen Grundverständnis, in dessen Zentrum das Kind mit seinen Bildungsbedürfnissen und kognitiven Erschließungsmöglichkeiten steht, das sich mit zunehmendem Alter seiner natürlichen und kulturellen Umwelt öffnen und sich schließlich seiner gesellschaftlichen Verantwortung im demokratischen Staat bewusst werden soll.

4. EDUARD SPRANGER UND DIE ‚IDEOLOGISIERUNG DER HEIMATKUNDE‘ Im Mittelpunkt des vierten Abschnitts steht die Schrift Der Bildungswert der Heimatkunde des bereits zu seiner Zeit sehr bekannten Philosophen und Bildungspolitikers Eduard Spranger (1882-1964) aus dem Jahr 1923. Mit diesem Beitrag Sprangers verbindet sich der später erhobene Vorwurf der bildungstheoretischen Ideologisierung des Heimatkundeunterrichts. Sprangers Verständnis 42 Der Preussische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung: Richtlinien Grundschule, S. 186. 43 Ebd. 44 Der Preussische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung: Richtlinien obere Jahrgänge, S. 175.

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vom ‚Bildungswert‘ des Heimatkundeunterrichts hat in den 1920er-Jahren möglicherweise die verschiedenen pädagogischen Diskursräume – Lehrplan- und Schulbuchentwicklung sowie Lehrerausbildung – kaum erreicht. Allerdings erschien dieser Beitrag nach 1949 in einer nur leicht überarbeiteten Version bis 1967 in sieben Auflagen beim Stuttgarter Reclam-Verlag, wobei allen Auflagen bei der Neuausgabe 1943 der von Spranger 1938 gehaltene Vortrag ‚Volkstum und Erziehung‘ beigefügt wurde. Der Erziehungswissenschaftler Bernd Thomas identifiziert Sprangers Schrift von 1923 „eindeutig als den [ideengeschichtlichen] Beginn der Ideologisierung des Heimatbegriffs in der Weimarer Republik.“ Spranger habe, so der Vorwurf von Thomas, der nationalsozialistischen Ideologisierung des heimatkundlichen Unterrichts Vorschub geleistet, indem er (zumindest) das entsprechend Vokabular zur Verfügung gestellt habe, das sich in den späteren Studien Sprangers „immer anschlussfähiger an die nationalsozialistische Ideologie entwickelte“. 45 So resümiert Thomas: „Sprangers Beitrag zum Bildungswert der Heimatkunde ist […] angefüllt mit Vokabeln, die auch unter zeitgenössischer Rücksicht den Ideologieverdacht belegen: beispielsweise ‚Totalität‘ (wenn auch hier meist im Sinne von ‚Ganzheit‘, aber gerade nicht mit diesem neutraleren Begriff ausgedrückt), ‚Boden‘, ‚totale Einwurzelung‘, ‚metaphysische Lebenseinheit‘, ‚Elend der Großstädter‘; ‚Lokalgötter‘, ‚Alleben‘ [sic], ‚Geheimnis des Bildungswertes der Heimatkunde‘, ‚Scholle‘, ‚Großstadtnomade – ausdrücklich nach Oswald Spengler (1880-1936) – […].“46

Sprangers mögliche Zuarbeit zur nationalistischen Erziehungsdoktrin ist umso problematischer, als, wie bereits erwähnt, seine Vorstellungen zu Konzeptionen des Heimatkundeunterrichts die Entwicklung des Faches nach dem Zweiten Weltkrieg bis in der 1960er-Jahre, bzw. bis zur Ablösung des Heimatkunde45 Thomas, Bernd: Sachunterricht und seine Konzeptionen. Historische und aktuelle Entwicklungen, Bad Heilbrunn 42013, S. 22, mit Verweis auf Grotelüschen, Wilhelm: Eduard Spranger und die Heimatkunde, In: Schwartz, Erwin (Hrsg.): Von der Heimatkunde zum Sachunterricht. Prinzipien und Beispiele, Braunschweig 1977, S. 2427, hier S. 30. Thomas, Sachunterricht, S. 21. Im Sammelband Kaiser und Pech fehlt ein Beitrag zu Spranger. 46 Thomas, Sachunterricht, S. 22. Allerdings ist einzuschränken, dass sich Spranger bei der Verwendung des Begriffs Totalität explizit auf Alexander von Humboldts Begriff der „Totalität der Naturanschauung“ bezieht, vgl. Spranger, Bildungswert, S. 23. Auch der Begriff Scholle war in den 1920er-Jahren keineswegs nur völkisch konnotiert.

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durch den Sachkundeunterricht geprägt und damit die Voraussetzung für die Transformation bestimmten Gedankenguts gelegt haben. So haben die Lehrpläne in den verschiedenen Ländern der Bundesrepublik für das Fach Heimatkunde an den Volksschulen (später Grundschulen) für den Heimatkundeunterricht „nicht nur inhaltlich an die H[eimatkunde] der Weimarer Grundschule angeknüpft, „sondern sie [die Heimatkunde] vor allem mit Sprangers Schrift ‚Vom Bildungswert der H[eimat]‘ aus dem Jahre 1923“ begründet.47 Im Weimarer Krisenjahr 1923 – Ruhrkrise, Inflation, Arbeitslosigkeit – fand sich in Berlin die ‚Studiengemeinschaft für wissenschaftliche Heimatkunde‘ zusammen, auf deren Gründungsversammlung Spranger den Festvortrag „Vom Bildungswert der Heimatkunde“ hielt.48 Der Ausgangspunkt für Sprangers an sich bildungstheoretische Frage – der Bildungswert des Heimatkundeunterrichts für die Volksschule – ist zunächst ein gesellschafts- und wissenschaftstheoretischer. Angesichts einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft in unterschiedliche Schichten und Milieus und der Wissenschaft in vielfältige Disziplinen, deren Systematik sich im schulischen Fächerkanon niedergeschlagen hat, warnte Spranger vor einer zunehmenden Subjektivierung der Weltwahrnehmung, die für ihn in die Zerstörung führen muss. Der Ansatz der wissenschaftlichen Heimatkunde führt nun die unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen zusammen und fokussiert deren Blick auf den räumlich-zeitlich gebundenen Menschen, der als erlebender wie forschender Mensch wissenschaftlicher Betrachter seiner selbst ist. Wissenschaftliche Heimatkunde ist, so Spranger, „das geordnete Wissen um das Verbundensein des Menschen in allen seinen naturhaften und geistigen Lebensbeziehungen mit einem besonderen Fleck Erde, der für ihn Geburtsort oder mindestens dauerhaft Wohnplatz ist.“49 Heimat besteht für Spranger aus einer als subjektiv bedeutsam wahrgenommen Einheit von Natur und Kultur, die sich erst einem organischen Denken erschließt. Dieses Denken, das die klassischen Fächerspezialisierungen in der Wissenschaft oder Schule überwindet, eröffnet den Blick für den, mit Goethe, „organischen Zusammenhang des Lebendigen“: „Denn das Volk muß zum Totalbewußtein der Lebensbezüge in Natur und Geschichte gebildet werden, wenn es nicht bei aller Stofffülle des Wissens ungebildet bleiben soll.“50 Und Spranger fährt fort: 47 Schaub, Heimatkunde, S. 151, mit Verweis auf Grotelüschen. 48 Spranger, Eduard: Der Bildungswert der Heimatkunde. Rede zur Eröffnung der Studiengemeinschaft für wissenschaftliche Heimatkunde am 21. April 1923, Berlin 1923; zit. wird im Folgenden nach der ersten Auflage. 49 Spranger, Bildungswert, S. 9 f., im Original hervorgehoben. 50 Ebd., S. 30.

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„Von Heimat reden wir, wenn ein Fleck Erde betrachtet wird unter dem Gesichtspunkt seiner Totalbedeutung für die Erlebniswelt der dort lebenden Menschengruppe. Heimat ist erlebte und erlebbare Totalverbundenheit mit dem Boden. Und mehr noch: Heimat ist geistiges Wurzelgefühl. Eben deshalb kann die Heimat nie als bloße Natur angesehen werden: sie ist erlebnismäßig angeeignete, folglich durchgeistigte und zuletzt durchaus persönlich gefärbte Natur.“51

Heimat ist nicht, so Spranger, der bloße Ort des Geborenwerdens; sondern ein Ort wird erst zur Heimat, wenn man sich in ihn „hineingelebt“ hat: „Das tiefe Verwachsensein aller Lebensenergien mit dem Boden läßt ihn erst zur Heimat werden.“52 Die Wahrnehmung von Heimat ist bedingt durch Faktoren wie Lebensalter oder sozialem Milieu und bleibt letztlich stets individuell-subjektiv. Es besteht ein Erlebensüberzuschuss metaphysischer Art, der sich jedem wissenschaftlichen Zugriff entzieht. So öffnet eine tiefe Heimatverbundenheit das Ohr für die „metaphysische Sprache“ des heimatlichen Ortes. Und erst recht die Entwurzelung, der Verlust der Heimat führt zum metaphysischen Leid des Heimwehs, „in ihm schlummert, was über die Erde hinausreicht ins Überirdische, Unsagbare, ins Unbetretene, nie zu Betretende.“53 Der Bildungsauftrag des Heimatkundeunterrichts zielt darauf ab, das ‚naive‘ Verhältnis zur Heimat i.S. einer gefühlsmäßig, d.h. vorrationalen Heimatverbundenheit („Wurzelgefühl“) in ein gebildetes Verhältnis von Heimat i.S. eines reflektierten Heimatverständnisses („geistiges Wurzelgefühl“) zu überführen: Heimatkunde wird so „zugleich ein Erziehungsmittel für ein tieferes und reicheres Heimaterleben, wie sie für den Heimatfreund eine beglückende Bestätigung ist.“54 Die didaktische Erschließung der Heimat führt nicht allein zu einem tieferen Verstehen der eigenen Heimatbezogenheit, sondern eröffnet darüber hinaus eine metaphysische Vorstellungswelt. Das emotionale und rationale Verhältnis zur Heimat ist hierbei dialektisch aufeinander bezogen; es geht in dem angestrebten Bildungsprozess nicht darum, die naive Heimatverbundenheit zugunsten einer reflektierten Auseinandersetzung mit Heimat zu überwinden. Vielmehr hat die Bildungsanstrengung des Unterrichts zu einem vertieften Verständnis von Heimat und damit wiederum zur Stärkung der emotionalen Heimatverbundenheit zu führen: Heimatkunde „klärt den Menschen über seine Stellung im Ganzen der lebendigen

51 Ebd., S. 11, im Original z. T. hervorgehoben. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 15. 54 Ebd.

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Kräfte auf; sie erhebt die allseitige Bedingtheit seines leiblich-geistigen Lebens an einem für ihn zentralen Punkte zum Bewußtsein.“55 In dieser bildungstheoretischen Perspektive bedarf die Didaktik des Heimatkundeunterrichts einer Anzahl unterschiedlicher Bezugswissenschaften wie der der Geologie, Geographie, Mineralogie, Biologie, sowie Kulturgeschichte, Wirtschafts-, Gesellschafts- und Staatswissenschaft, Kunst- und Religionswissenschaft.56 In schulpädagogischer Hinsicht plädierte Spranger für einen Gesamtunterricht, der durch die Überwindung der Fächeraufteilung die Voraussetzung für einen transdisziplinären Unterricht schafft. Dieses „Prinzip des organischen Totalunterrichts“ sieht Spranger bereits bei Harnisch konzeptionell verwirklicht. 57 In Sprangers Fächerkanon fehlt eine religionsunterrichtliche Disziplin völlig; Theologie spielt als mögliche Deutungskraft der „Einheit aller Lebensbezüge des Menschen“ keine Rolle mehr. Damit ist auch die Annahme verbunden, dass nicht mehr der christlichen Religion die Funktion zukommt, die Einheit der Gesellschaft zu wahren, sondern es wird die Berufung auf ein der Gesellschaft gemeinsames Heimatverständnis die Fähigkeit zugesprochen, die „Totalverbundenheit“ für das deutsche Volk zu stiften: Heimat ist gefühlsmäßig erlebbar und durch wissenschaftsbasierte Bildung rational erschließbar; Heimat wird je individuell erlebt und erschlossen und bildet zugleich die gemeinsame, verbindende Erlebniswelt der Gemeinschaft. Diesem Heimatverständnis ist der Versuch positiv anzurechnen, dass Wissenschaft und Lebenswelt unter didaktischen Vorzeichen produktiv aufeinander bezogen werden, und damit verweist dieser Versuch bereits auf die in den späten 1960er-Jahren geführte Diskussion um die Wissenschaftspropädeutik auch des Volkschulunterrichts. Höchst bedenklich ist freilich die doppelte Ausgrenzung des Ansatzes: Er unterbindet jegliche Möglichkeit zur kritischen Auseinandersetzung und damit zur begründeten Abgrenzung von der vorausgesetzten Heimatverbundenheit und lässt zugleich niemanden in die Gemeinschaft hinein, der nicht über dieselbe Verbundenheit zur Heimat verfügt wie diese Gemeinschaft. Dieses Modell der gegenseitigen Verwiesenheit von Heimat und Gemeinschaft lässt einen Plural von Heimat in dieser Gemeinschaft ebenso wenig zu wie eine sich ausdifferenzierende Gemeinschaft in der einen Heimat. Spranger befindet sich in einem fatalen Zirkelschluss, wenn er einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen Heimat und Selbstbewusstsein konstruiert und es als Selbsttäuschung eines rationalistischen Denkens bezeichnet, sich aus den Determinationen seiner Heimat lösen zu können. Vielmehr führt Sprangers Ansatz 55 Ebd., S. 20. 56 Ebd., S. 10. 57 Ebd., S. 28.

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zu einer nationalistischen (jedoch noch nicht nationalchauvinistischen) Engführung, da nun gerade die Individualität in der Totalität der Volkes aufgelöst wird: „Der Weg zum Menschentum führt nur über das Volkstum und das Heimatgefühl.“58

5. VON DER HEIMATKUNDE ZUM SACHUNTERRICHT UND WIEDER ZURÜCK. DIE VERWISSENSCHAFTLICHUNG DER HEIMATKUNDE IN DER ‚ALTEN‘ BUNDESREPUBLIK Im fünften Abschnitt wird unter Bezugnahme auf die ab Mitte der 1960er-Jahren geführten bildungspolitischen Auseinandersetzungen mit dem von Spranger geprägten Heimatbegriff resp. der Heimatkundedidaktik und dessen Ablösung durch ein neues Konzept des Sachkundeunterrichts in der alten Bundesrepublik rekonstruiert. Im föderal organisierten Schulwesen der Bundesrepublik wurde die Konzeption des Faches Heimatkunde aus der Weimarer Republik wieder aufgegriffen und nahezu unverändert weitergeführt. Das Fach Heimatkunde blieb selbstständiges Unterrichtsfach der Grund- und Förderschulen. In nahezu unveränderter Form wurden die Inhalte der Lehrpläne aus den 1920er-Jahren übernommen und Eduard Sprangers Schrift Vom Bildungswert der Heimatkunde (1923) blieb bis in die 1960er-Jahre hinein die grundlegende Konzeption der bundesdeutschen Heimatkunde-Didaktik.59 Die Heimatkundedidaktik knüpfte in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik weitestgehend an Sprangers Konzeption vom „Bildungswert der Heimatkunde“ an, besonders seine Rede von Heimat als dem „Wurzelgefühl“ und der „Verwurzelung“ der Schülerinnen und Schüler in der Heimat blieben feste Begriffe in den bundesdeutschen Heimatkundelehrplänen der 1950er- und 1960er-Jahre.60 Einzelne Bundesländer (1961 Bremen, 1962 Niedersachsen) strichen zwar zu Beginn der 1960er-Jahre den Begriff der Heimatkunde zugunsten der Fachbezeichnung Sachunterricht, allerdings fehlte in den neuen Lehrplänen noch eine grundsätzliche konzeptionelle Verschiebung von der Heimat- zur Sachkunde. Vielmehr bemühte sich besonders der Schulpädagoge Rudolf Karnick (1901-1994) um eine modernisierte Heimatkunde, die zwar nicht mehr Ge-

58 Ebd., S. 32. 59 Vgl. Schaub, Heimatkunde, S. 151. 60 Vgl. Thomas, Sachunterricht, S. 23.

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sinnungsunterricht sein sollte und in der neue Unterrichtsinhalte (z. B. Verkehrserziehung) sowie -medien (z. B. Rundfunk und Fernsehen) aufgenommen wurden. In den Konzeptionen Kranicks nahm jedoch der Heimatbegriff – nun verstanden als dynamische und moderne Umwelt der Schülerinnen und Schüler – immer noch eine zentrale Stellung ein.61 Ab Mitte der 1960er fand in der Bundesrepublik eine breite fachdidaktische Debatte statt, als deren Ergebnis das Fach „Heimatkunde“ von neuen Lehrplänen zum „Sachunterricht“ abgelöst wurde. Die Hintergründe dieser Entwicklung sind dabei ebenso vielfältig wie die Ergebnisse in den Lehrplänen der einzelnen Bundesländer. Versucht man, die Genese des bundesdeutschen Sachunterrichts nachzuzeichnen, findet man einerseits eine zunehmende Kritik am Heimatbegriff als Umschreibung einer überschaubaren Nahwelt der Schülerinnen und Schüler, die sich der zunehmend wahrgenommenen Komplexität und rasanten gesellschaftlichen Entwicklung in der Umwelt der Kinder weitgehend verschloss. Und andererseits entwickelt sich auf Grundlage entwicklungspsychologischer Erkenntnisse dieser Zeit die Einsicht, dass die Schülerinnen und Schüler durch die bewusste Reduktion von Inhalten und Zusammenhängen im Heimatkundeunterricht weitgehend unterfordert wurden.62 Die Entwicklung zum Sachunterricht spiegelt ebenso die (erziehungs-)wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungsprozesse der 1960er-Jahre wider. So fand in der Pädagogik zunehmend eine Abkehr von der sog. geisteswissenschaftlichen Pädagogik, zu deren Vertretern auch Spranger gehörte, hin zu einer empirischen Pädagogik statt, die auf Erkenntnisse und Methoden aus Psychologie und Soziologie zurückgriff. Vor diesem Hintergrund sah man auch zunehmend eine wissenschaftliche Fundierung des gesamten Grundschulunterrichts und damit eine Abkehr von einem heimatkundlichen Gesamtunterricht als notwendig an. In gesellschaftspolitischer Perspektive führte der besonders im wirtschaftlichen und technischen Sektor geführte „Kampf der Systeme“ zur bildungspolitischen Notwendigkeit einer besseren naturwissenschaftlichen Schulbildung, die bereits im Grundschulunterricht verwirklicht werden sollte.63

61 Vgl. Mitzlaff, Hartmut: Auf dem Weg zu einer modernisierten Heimatkunde – Rudolf Karnick (1901–1994), In: Kaiser, Astrid/Pech, Detlef (Hrsg.): Basiswissen Sachunterricht Bd. 1.: Geschichte und historische Konzeptionen des Sachunterrichts, Baltmannsweiler 22008, S. 151-155, hier S. 152 f. 62 Vgl. Kahlert, Joachim: Der Sachunterricht und seine Didaktik, Bad Heilbrunn 32009, 167 f. 63 Vgl. Thomas, Sachunterricht, S. 28 f.

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Vor diesem Hintergrund wurde 1969 auf dem „Frankfurter Grundschulkongreß“ die Einführung des „wissenschaftsorientierten“ Sachunterrichts in den Lehrplänen der Grundschule gefordert. Der Kongress selbst war von führenden Grundschuldidaktikern und -lehrern einberufen worden, um dem „Modernisierungsrückstand“ der Grundschule entgegenzuwirken und um die Tendenzen der allgemeinen Bildungsreform der späten 1960er-Jahre auch im Grundschulbereich zu übertragen.64 Die Wissenschaftsorientierung des Sachunterrichts wurde besonders dadurch deutlich, dass einerseits die fachliche Systematik der Bezugswissenschaften – besonders Biologie, Physik und Chemie – bereits auf die Sachunterrichtslehrpläne der Grundschule übertragen wurden. Zudem wurden anderseits nun verschiedene Unterrichtsthemen des Fachunterrichts der Sekundarstufen bereits im Primarbereich behandelt.65 In der Praxis des Sachunterrichts lassen sich für die Zeit der früher 1960erJahre besonders zwei einflussreiche Konzeptionen unterscheiden, die die geforderte Wissenschaftsorientierung umsetzen sollten. Zum einen wurde der strukturorientierte Ansatz leitend innerhalb der Sachunterrichtsdidaktik. Dieser Ansatz, der aus der US-amerikanischen Lehrplanforschung übernommen wurde, ging davon aus, dass naturwissenschaftliches Wissen von den Schülerinnen und Schülern besonders erlernt werden könne, wenn diese die grundlegenden Strukturen der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin erworben hätten. Beispielsweise sollten grundlegende naturwissenschaftliche Formen wie „Teilchenstrukturkonzept, Wechselwirkungskonzept und Erhaltungskonzept“66 in der Grundschule erlernt werden, um die weitere Vermittlung fachwissenschaftlicher Inhalte anzubahnen. Zum anderen wurde von der Göttinger Arbeitsgruppe für Unterrichtsforschung 1971 eine verfahrensorientierte Konzeption vorgelegt. Dieser verfahrensorientierte Ansatz beruhte auf der Annahme, dass nicht konkrete Inhalte im Zentrum des Sachunterrichts stehen sollten, sondern vielmehr konkrete Modi der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung – wie Beobachten, Messen, Klassifizieren, Vorhersagen und Schlüsse ziehen u. a. – eingeübt werden sollen.67 In der Lehrplan- und Unterrichtsmittelentwicklung führten sowohl der struktur- als auch der verfahrensorientierte Ansatz zur zunehmenden Entwicklung von detaillierten Vorschlägen und Vorgaben von Stundengestaltungen, Materialen und Tests für die unterrichtliche Praxis, die die Lehrerinnen und Lehrer lediglich anzuwenden brauchten. Diese sog. Teacher-Proof-Arbeitsmaterialien gaben den 64 Vgl. Ebd., S. 32. 65 Vgl. Kahlert, Sachunterricht, S. 168 f. 66 Zit. n. ebd., S. 170. 67 Vgl. ebd., S. 172 f.

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Lehrkräften feste Strukturen, Inhalte und Methoden vor, sodass die Vorlagen bald in der Kritik standen, sie würden „Kinder und Lehrer unnötig festlege[n] und ihnen keinen eigenen Gestaltungsraum mehr übrig [lassen].“68 Weitere Kritik am wissenschaftsorientierten Sachunterricht, der in den 1970 veröffentlichten „Empfehlungen zur Arbeit in der Grundschule“ der Kultusministerkonferenz (KMK) als leitendes fachdidaktisches Konzept festgeschrieben wurde, entzündete sich bereits in den 1970er-Jahren an der Stofffülle und der fehlenden Anpassung der unterrichtlichen Vermittlungsprozesse an die Schülerinnen und Schüler. Beides führe „zu Überforderung und zu einem bisher in der Grundschule nicht gekannten Leistungsdruck.“69 Ab Mitte der 1970er-Jahre entwickelte sich vor dem Hintergrund dieser Kritik eine Wiedereinführung des Heimatbegriffes in den Sachunterricht, so wurde im Bayerischen Lehrplan von 1974 das Fach zur „Heimat- und Sachkunde“ umstrukturiert. Der Heimatbezug sollte die unmittelbare Lebensnähe der Schülerinnen und Schüler stärker akzentuieren und griff eine neue Orientierung auf die Kindgemäßheit des Grundschulunterrichts auf.70 In den 1980er-Jahren versuchte die KMK die unterschiedlichen Konzeptionen des Sachunterrichts bzw. der Heimat- und Sachkunde dahingehend zu vereinheitlichen, dass man eine Einseitigkeit – nur Wissenschaftsorientierung oder nur Kindgemäßheit – zu verhindern suchte und legte vier Kategorien („Schüler“, „Umwelt“, „Wissenschaft“ und „Gesellschaft“) einer ausgewogenen Lehrplanentwicklung vor. 71 In der Folgezeit entstanden zahlreiche verschiedene Ansätze des Sachunterrichts, die sich nach Joachim Kahlert in naturwissenschaftlich, sozialwissenschaftlich oder aneignungsorientierte Ansätze72 unterteilen lassen und die in ganz unterschiedlichen Maßen sich in den Lehrplänen der einzelnen „alten“ Bundesländer niederschlugen und niederschlagen. Bezeichnenderweise griffen nach der Wiedervereinigung 1990 alle „neuen“ Bundesländer (außer Brandenburg) die bayerische Bezeichnung des Faches als Heimat- und Sachkunde auf; so auch geschehen in Thüringen.73

68 Thomas, Sachunterricht, 42. 69 Schwartz, Erwin: Heimatkunde oder Sachunterricht? Keine Alternative!, In: Ders. (Hrsg.): Von der Heimatkunde zum Sachunterricht. Prinzipien und Beispiele, Braunschweig 1977, S. 9-23, hier S. 13. 70 Vgl. Schaub, Heimatkunde, S. 151 f. 71 Vgl. ebd., S. 152. 72 Vgl. Kahlert, Sachunterricht, S. 7. 73 Vgl. Schaub, Heimatkunde, S. 151.

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6. DAS FACH HEIMATKUNDE IN DER DDR: IDEOLOGISCHE PROFILIERUNG DER HEIMAT Im sechsten Abschnitt werden die Begründungsmodelle des Heimatkundeunterrichts in der in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und DDR von 1945 bis 1990 anhand der jeweiligen Schulgesetzgebungen beleuchtet. Ziel ist es, die Semantik des sozialistischen Heimatbegriffs der DDR in seiner Entwicklung und Bedeutung nachzuzeichnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte das Schulsystem in der SBZ „demokratisiert“ werden, um die „national[e] Wiedergeburt und Einheit unserer Heimat“ 74 zu erreichen. So heißt es: „Der Aufbau eines neuen friedlichen demokratischen Deutschlands – der einzige Weg zur nationalen Wiedergeburt und Einheit unserer Heimat – erfordert eine grundlegende Demokratisierung der deutschen Schule. Die neue demokratische Schule muß frei sein von allen Elementen des Militarismus, des Imperialismus, der Völkerverhetzung und des Rassenhasses. Sie muß so aufgebaut sein, daß sie allen Jugendlichen, Mädchen und Stadt- und Landkindern, ohne Unterschied des Vermögens ihrer Eltern das gleiche Recht auf Bildung und seine Verwirklichung entsprechend ihren Anlagen und Fähigkeiten garantiert.“ 75

Ab 1946 wurde das Schulwesen innerhalb der SBZ zu einer sog. demokratischen Einheitsschule umgebaut. Das bis dahin bestehende dreigegliederte Schulsystem wurde u.a. durch eine Grundschule abgelöst, in der Schülerinnen und Schüler acht Jahre lang gemeinsam unterrichtet werden sollten. Damit knüpfte man in der östlichen Besatzungszone an die bildungspolitische Konzeption der Einheitsschule an, die besonders von Johannes Tews (1860-1937) und sozialdemokratischen Bildungsreformern in der Zeit der Weimarer Republik propagiert wurde. 76 Bereits direkt nach dem Krieg setzte die Umorganisation des Volksschulwesens in der SBZ bereits ein, allerdings waren die Übergangsbestimmungen von eher allgemeinen Vorgaben bestimmt. Neben der Entnazifizierung der Lehrpläne war vor allem die Abschaffung des schulischen Religionsunterrichts eine der deutlichsten bildungspolitischen Änderungen im Nachkriegsschulsystem der 74 Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule, Mai/Juni 1946, Vorbemerkung. 75 Ebd. 76 Johannes Tews vertrat als einflussreicher Funktionär des ‚Deutschen Lehrervereins‘ vor allem die Interessen der Volksschullehrerschaft. Für diesen Verband entwickelte Tews das Konzept der sog. Einheitsschule, die sich vom Kindergarten bis zur Hochschule erstrecken sollte.

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SBZ. Zur Begründung der faktisch laizistischen Ausrichtung des Schulwesens heißt es beispielsweise in den Übergangslehrplänen für die Volksschulen der Stadt Berlin aus dem Jahr 1945: „Von der Erwägung ausgehend, daß die deutsche Schule nicht mehr zerrissen werden darf durch Glaubensbekenntnisse und Weltanschauung, wird die Schule von der Kirche getrennt. Die religiöse oder weltanschauliche Erziehung der Kinder wird in Zukunft Angelegenheit der Glaubensgemeinschaften oder weltanschaulichen Vereinigungen sein.“ Weiterhin: „Religion als ordentliches Lehrfach ist aus dem Lehrplan verschwunden. Dies bedeutet nichts anderes als eine klare Willensäußerung, alles aus der Schule herauszulassen, was Anlaß zu Gegengesetzlichkeiten bieten könnte in konsequenter Anwendung der mit Überzeugung und Aufrichtigkeit anerkannten demokratischen Einheit unseres Volkes.“77

Dagegen wurde Heimatkunde 1946 zum obligatorischen Fach in den ersten vier Jahrgangsstufen der Grundschule erklärt. In der schulischen Praxis wurde es, wie bereits in der Weimarer Republik, Teil des Deutschunterrichts. Das Konzept dieses Gesamtunterrichts, der sowohl den Kunstunterricht als auch die Heimatkunde beinhaltete, blieb bis 1990 Teil des DDR-Schulsystems. Ziel dieser unterrichtsorganisatorischen Vorgaben war es u.a., den Schriftspracherwerb der Schülerinnen und Schüler durch einen multimethodischen Unterricht zu erleichtern. 78 Die Lehrpläne und Schulbücher für die Grundschule, die direkt nach dem Zweiten Weltkrieg in der SBZ herausgegeben wurden, verzichteten zwar weitgehend auf die parteipolitische Einflussnahme, sodass die beiden DDRPädagogen Karl-Heinz Günther (1926-2010) und Gottfried Uhlig (geb. 1928) rückblickend von der Schule dieser Zeit „als autonomen, recht idyllischen Bereich abseits von den Klassenkämpfen in der Welt der Erwachsenen“ sprachen. „Da die Vertreter vieler Strömungen in der Reformpädagogik [bis zur Gründung der DDR 1949] die formale Scheinalternative zwischen Lernschule und Arbeitsschule in den Vordergrund spielten, lenkten sie von dem entscheidenden Gegensatz zwischen bürgerlicher und antifaschistisch-demokratischer Schule ab. Sie betrachteten die Schule als einen auto77 Magistrat der Stadt Berlin: Übergangslehrpläne für die Volksschulen der Stadt Berlin, Berlin 1945, S. 6 f., im Original hervorgehoben. In der Verfassung der DDR von 1949 wurde zwar den Glaubensgemeinschaften das Recht zugesprochen, innerhalb der Schule in Eigenverantwortung Religionsunterricht durchzuführen (Art. 44). Dieses Recht wurde jedoch durch verwaltungstechnische Regelungen in den 1950er-Jahren de facto und durch die Neufassung der Verfassung von 1968 de jure abgeschafft. 78 Jung, Heimatkunde, S. 43 f.

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nomen, recht idyllischen Bereich abseits von den Klassenkämpfen in der Welt der Erwachsenen.“79

Jedoch wurden nahezu alle religiösen und kirchlichen Bezüge aus den Lehrplänen entfernt. Lediglich das Weihnachtsfest wurde in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg noch im Rahmen des Heimatkundeunterrichts behandelt.80 Auch nach Gründung der DDR blieb Weihnachten zwar Thema des heimatkundlichen Unterrichts, allerdings wurde es in säkularisierender Weise als „Fest des Friedens“ bezeichnet, bevor in den Lehrplänen von 1967 die Bezeichnung Weihnachten komplett aus den Lehrplänen getilgt wurde. Diese Säkularisierung der Fest- und Feiertagskultur lässt sich auch an den traditionellen christlich begründeten Umzügen zum Martinstag (10./11. November) erkennen, die in den Heimatkunde-Lehrplänen zu „herbstliche Laternenumzüge“ umgedeutet und bereits Anfang Oktober durchgeführt wurden.81 Das weltanschauliche Profil der schulischen Bildung schärfte sich im Verlauf der 1950er-Jahre zunehmend. Blieben die Ziele und Methodik des Heimatkundeunterrichts nach dem Zweiten Weltkrieg in der SBZ und der frühen DDR weitestgehend auf die reformpädagogischen Prinzipien (Erlebnishaftigkeit, Kindgemäßheit und Anschaulichkeit) und Zielstellungen (Umwelterschließung, Fachpropädeutik und Heimatliebe) Fachkonzeptionen aus der Weimarer Republik bezogen, verlagerte sich der Zweck des Heimatkundeunterrichts zunehmend zu einer politisch-affektiven Erziehung.82 Ab 1954 zielten die Lehrpläne weniger auf fachliches Lernen und Verstehen im Unterricht, sondern auf „die Herstellung von Loyalität, staatstragenden Patriotismus und tiefer Verbundenheit mit der Partei- und Staatsführung“83 ab. Besonders deutlich wird diese konzeptionelle Änderung erneut an den Jahres- und Feiertagen im Lehrplan der Heimatkunde, in dem neben dem 1. Mai und dem Republikgeburtstag auch der „Tag der Nationalen Volksarmee (NVA)“ am 1. März, behandelt wurde.84 Diese konzeptionellen Änderungen im Heimatkundeunterricht gingen auch mit einer breiteren gesellschaftlichen und pädagogischen Debatte in den 1950erJahren um den Heimatbegriff einher. Zwar hatte es nach dem Zweiten Weltkrieg 79 Günther, Karl-Heinz/Uhlig, Helmut: Geschichte der Schule in der Deutschen Demokratischen Republik 1945 bis 1968, Berlin 1969, S. 82. 80 Vgl. Jung, Heimatkunde, S. 42 f., 78. 81 Vgl. ebd., S. 99. 82 Vgl. Schaub, Heimatkunde, S. 151. 83 Jung, Heimatkunde, S. 79 f. 84 Vgl. ebd., S. 81.

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(auch) in der DDR keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Heimatbegriff gegeben, jedoch wurde in den ersten Jahren nach Gründung der DDR der Heimatbegriff zunehmend als integrativ verwandt, um die stetige Migration in die Bundesrepublik zu unterbinden. Besonders die Berliner Pädagogin Sigrid Schwarz (1908-1997) bezeichnete Heimat in ihrer von Robert Alt (1905-1973) betreuten Dissertation Die Liebe zur Heimat. Ein wesentliches Ziel unserer patriotischen Erziehung von 1956, als „das unmittelbar gegebene natürliche und soziale Milieu[,] in welchem der Mensch aufgewachsen ist, in dem er lebt, arbeitet und kämpft“.85 Ziel der schulischen Erziehung müsse es sein, die emotionale Bindung des Einzelnen an seine nahräumliche Umwelt, seine Liebe zur Heimat, zu fördern, um so die stetige Migration von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik zu erreichen.86 Diese Definition wies der Ostberliner Historiker Erik Hühns zurück, weil sie ihm zu sehr auf die nähere Umwelt begrenzt und ohne praktische Relevanz für den marxistischen Klassenkampf war. Vielmehr entwarf er das Konzept einer „sozialistischen Heimat“, die Arbeiter und Bauern durch ihre Arbeit „nach ihren Wünschen und Bedürfnissen […] gestalten.“87 Das Ziel dieser Arbeit müsse eine klassenlose Gesellschaft im Sinne des Marxismus-Leninismus sein, denn nur durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel könne die Entfremdung der Arbeiterklasse von ihrer Arbeit überwunden werden.88 Die „sozialistische Heimat“ müsse permanent von den Werktätigen umgestaltet und weiterentwickelt werden und sei somit dem bürgerlichen (westdeutschen) Verständnis von Heimat überlegen, weil sie eine kontinuierliche sozialistische Veränderung der Welt impliziere. 89 Auch das Schulfach Heimatkunde sah Hühns im Sinne des historischen Materialismus, als Umsetzung „einer Forderung, die erstmalig im Kampf von fortschrittlichen Bürgern gegen den Feudalismus erhoben worden sei.“90 85 Zit. n. Oberkrome, Heimat, S. 377. 86 Vgl. ebd., S. 376 f. 87 Palmoski, Jan: Die Erfindung der sozialistischen Nation. Heimat und Politik im DDRAlltag, Berlin 2016, S. 80. 88 Vgl. ebd., S. 79 f. 89 Oberkrome, Heimat, S. 377. Zur Bedeutung von Erik Hühns für die Regional- und Heimatgeschichtsforschung in der DDR s. Fischer, Alexander/Heydemann, Günther (Hrsg.): Geschichtswissenschaft in der DDR, Bd. 1: Vor- und Frühgeschichte bis Neueste Geschichte, Berlin 1990, S. 275 f.; Hühnsʼ Lebensdaten konnten nicht geklärt werden. 90 Vgl. Elkar, Rainer S.: Regionalgeschichte und Frühneuzeitforschung im Verhältnis beider deutscher Staaten. Divergenzen – Parallelen – Perspektiven, In: Fischer, Ale-

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Die Ausweitung des Heimatbegriffs, wie Hühnsʼ Konzept einer „sozialistischen Heimat“ implizierte, wurde im Heimatkundeunterricht der 1950er-Jahre bezeichnenderweise nicht adaptiert. Vielmehr wurde gerade ein räumlichkleinteiliger Heimatbegriff verwandt, der auf den Wohn- und Geburtsort der Schülerinnen und Schüler bezogen blieb. Zum einen war dies eine Reaktion der sich zunehmend verfestigenden Teilung Deutschlands, die dem Anspruch der DDR-Führung, ein geeintes Deutschland zu repräsentieren, deutlich entgegenstand. Zum anderen befürchteten die Bildungspolitiker „die klare Überforderung vieler, vor allem ländlicher Bevölkerungsschichten beim überhasteten Marsch hin zum Sozialismus.“91 Mit dem Ersten DDR-Schulgesetz von 1959 wurde das Schulsystem der DDR grundlegend umstrukturiert, an die Stelle der achtjährigen Grundschule trat nun die Zehnklassige allgemeinbildende polytechnische Oberschule, kurz Polytechnische Oberschule (POS). Vom Selbstverständnis wurden mit der Umgestaltung des Schulsystems „zum ersten Mal in der deutschen Geschichte […] die Forderungen der sozialistischen Arbeiterbewegung und aller fortschrittlichen Kräfte nach einer einheitlichen Schule und nach gleichen Bildungsmöglichkeiten für alle Kinder des Volkes“92 verwirklicht. Das DDR-Bildungssystem stellte sich in die Tradition von Johann Comenius (1592-1670), Johann Pestalozzi (17461827), Adolph Diesterweg (1790-1866) und Karl Wander (1803-1879), deren „fortschrittliche Ideen […] erfüllt und weiterentwickelt“ 93 worden seien. Das Fach Heimatkunde blieb schulorganisatorisch dem Gesamtunterrichtsfach Deutsch zugeordnet und wurde nun in der sog. Unterstufe, d.h. der 1. bis 4. Klassenstufe, der POS erteilt. Auf die Ziele und Methoden des Heimatkundeunterrichts hatte die Einführung des Ersten Schulgesetzes keinen verändernden Einfluss. Nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 vollzog sich jedoch eine bildungspolitische Wende. Im Zweiten Schulgesetz der DDR, dem sog. Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem von 1965, wurde erstmals die „sozialistische Heimat“ als wesentliches Ziel der gesamten staatlichen Erziehung festgeschrieben. Nach der Maßgabe dieses Gesetzes waren die Kinder nicht nur „zur

xander/Heydemann, Günther (Hrsg.): Geschichtswissenschaft in der DDR. Bd. 2: Vorund Frühgeschichte bis Neueste Geschichte, Berlin 1990, S. 265-312, hier S. 277. 91 Jung, Heimatkunde, S. 80. 92 Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem vom 25. Februar 1965, Vorbemerkung. 93 Ebd.

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Liebe zu ihrer sozialistischen Heimat“94 zu erziehen, sondern auch „zur Bereitschaft, die Errungenschaften ihrer sozialistischen Heimat zu verteidigen.“95 Bereits auf dem VI. Parteitag der SED 1963 hatte die Staatsführung „in Geist und Wortwahl einer säkularisierten Religion“96 von den Mitgliedern ein Bekenntnis zur DDR als sozialistischem Staat eingefordert. In diesem Sinne wurden auch die Lehrpläne der Heimatkunde an das Ziel einer stärkeren Gefühlsbindung an die DDR angepasst. Methodisch geschah dies durch die Behandlung von vorbildhaften Einzelanekdoten, von moralischen Geschichten und durch das Einüben von vorformulierten Selbstverpflichtungen. Gleichzeitig wurde in den naturwissenschaftlichen Teilen des Heimatkundeunterrichts auch eine zunehmende Verwissenschaftlichung, besonders durch Experimente im Unterricht, forciert. Zudem wurden zunehmend Lernziele formuliert, die auch objektiv überprüfbar waren. Darüber hinaus wurden ab 1968 sog. Unterrichtshilfen vom volkseigenen Verlag Volk und Wissen herausgegeben, die teilweise stundengenaue Unterrichtsplanungen, Tafelanschriften und Lehrerfragen für den Unterricht enthielten. Mit diesen Maßnahmen reagierten die Schulpolitiker der DDR auf den Vorwurf, das Fach Heimatkunde sei durch seinen emotionalen Fokus auf die Erziehung zur Heimatliebe unwissenschaftlich, der auch und besonders in der bundesdeutschen Fachdidaktik der 1950/60er-Jahre die Debatte um das Fach wesentlich beeinflusste.97 Diese pragmatischen Veränderungen der 1960er Jahre prägten das Schulfach Heimatkunde bis zum Ende der DDR. Somit blieben zwei wesentliche Ziele des Heimatkundeunterrichts bestehen: 1. Die Schülerinnen und Schüler „zum Ver94 Ebd., § 11,2: „Die Kinder sind zur Liebe zu ihrer sozialistischen Heimat und zum Frieden zu erziehen. Die Freundschaft unter den Kindern aller Nationen, die gegenseitige Hilfsbereitschaft, das Gemeinschaftsgefühl, die Wahrheitsliebe und die Liebe und Achtung den Eltern und allen anderen arbeitenden Menschen gegenüber sind zu entwickeln. Durch einen sinnvollen Tagesablauf sind feste Gewohnheiten herauszubilden. Die Kinder sind daran zu gewöhnen, einfache Pflichten zu übernehmen und sich selbst zu bedienen.“ 95 Ebd., § 25,3: „Die Lehrer erziehen ihre Schüler im Geiste des Sozialismus, des Friedens, zur Liebe zur Deutschen Demokratischen Republik, zur Arbeit und zu den arbeitenden Menschen. Sie erziehen sie zur Bereitschaft, die Errungenschaften ihrer sozialistischen Heimat zu verteidigen.“ 96 Jung, Heimatkunde, S. 80. Jung verweist in diesem Zusammenhang auf die Analogie der Forderungen des SED-Parteiprogramms („2. Du sollst dein Vaterland lieben […]“) zu den Zehn Geboten. 97 Jung, Heimatkunde, S. 80 f.

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stehen, Begreifen und Lieben der heimatlichen Umwelt zu befähigen und ihnen die Bewältigung der Anforderungen, die das Leben in vielfältiger Weise an sie stellt zu ermöglichen.“98 Und 2. „[D]ie Liebe der Schüler zu ihrer Heimat und unserem sozialistischen Vaterland sowie ihre Verbundenheit mit unserem Staat und unserer Regierung zu wecken.“99 Damit blieb zwar die traditionelle Zielstellung der Heimatkunde aus der Weimarer Republik mit ihrer Trias aus Umwelterschließung, Fachpropädeutik und Heimatliebe erhalten. Doch der Ausspruch der Ministerin für Volksbildung Margot Honecker (1927-2016) auf dem VII. Pädagogischen Kongress 1970: „Die Jugend zur tiefen Liebe ihrer Heimat, der Deutschen Demokratischen Republik, zum Sozialismus zu erziehen heißt auch, sie den Imperialismus hassen zu lehren“100, macht deutlich wie sehr der Heimatkundeunterricht der DDR klassenkämpferisch überformt wurde. Im Sinne einer marxistisch-leninistischen Bildungspolitik kam dem Heimatkundeunterricht durch die Erziehung zur Liebe der „sozialistischen Heimat“ eine gesellschaftsstabilisierende Funktion zu, die jedoch angesichts der innen- und weltpolitischen Veränderungsprozesse besonders ab Mitte der 1980er zunehmend zu einer schulpolitischen Erstarrung führte.101

7. VOM „VERSTÄNDNIS FÜR DIE BEDEUTUNG DER HEIMAT“ ÜBER DIE „VERBUNDENHEIT MIT DER HEIMAT“ ZUR „LIEBE FÜR DIE BAYERISCHE HEIMAT UND DAS DEUTSCHE VOLK“ – DER HEIMATBEGRIFF IN DEN AKTUELLEN SCHULGESETZGEBUNGEN DER BUNDESLÄNDER Der folgende Abschnitt widmet sich der Verwendung des Heimatbegriffs in den aktuellen Schulgesetzgebungen in den Ländern der Bundesrepublik. Im Vordergrund stehen hierbei die Präambeln der Schulgesetze, in denen die jeweiligen Bildungs- und Erziehungsaufträge formuliert werden, die wiederum als Leitori-

98

Zit. n. Jung, Heimatkunde, S. 134.

99

Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR: Erziehung des jüngeren Schulkindes. Handbuch für Klassenleiter, Lehrer und Erzieher, Berlin 31976, S. 79, im Original hervorgehoben.

100 Ministerium für Volksbildung (Hrsg.): VII. Pädagogischer Kongreß der Deutschen Demokratischen Republik vom 5. bis 7. Mai 1970. Protokoll, Berlin 1970, S. 48. 101 Vgl. Jung, Heimatkunde, S. 151 f.

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entierungen u.a. für die Entwicklung von Lehrplänen der einzelnen Unterrichtsfächer dienen. Hier wird sich zeigen, dass der in den Schulgesetzen gebrauchte Heimatbegriff heterogene Bedeutungszuschreibungen erfährt. Die Bildungs- und Erziehungsaufträge des Schulwesens der verschiedenen deutschen Bundesländer leiten sich von den grundlegenden Werten ab, wie sie im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und in der Verfassung der einzelnen Länder niedergelegt sind. Die Schulgesetze beziehen sich explizit auf Art. 3 GG „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ So heißt es beispielsweise im Schulgesetz Hamburg (§ 1): „Jeder junge Mensch hat das Recht auf eine seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechende Bildung und Erziehung und ist gehalten, sich nach seinen Möglichkeiten zu bilden. Dies gilt ungeachtet seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen oder einer Behinderung.“102 Ähnlich lautend sind die Formulierungen in den Präambeln der Schulgesetze in Sachsen-Anhalt und Hessen. Gemäß Art. 7 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland steht „das gesamte Schulwesen […] unter der Aufsicht des Staates“ (Art. 7,1 GG). Wie der Staat unterliegt damit auch das staatliche Schulwesen dem weltanschaulichreligiösen Neutralitätsprinzip, welches das Bundesverfassungsgericht 1965 nach Auslegung von Art. 3,3 GG und Art. 4,1 GG dem Staat auferlegt. 103 Zugleich legt das Bundesverfassungsgericht 1952 die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland als eine „wertgebundene Ordnung“ 102 Das Diskriminierungsverbot findet sich auch in den Schulgesetzen Berlin und Rheinland-Pfalz, hier jedoch ohne die Nennung des Heimatbegriffs. 103 Beschluss Bundesverfassungsgericht vom 14. Dezember 1965 (BVerfGE 19, 206 [219]): „Das Grundgesetz legt durch Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 […] dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf.“ Art. 4,1 GG und 3,3 GG garantieren den Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik Deutschland Glaubens- und Bekenntnisfreiheit („Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Art. 4,1 GG) sowie diskriminierungsfreie Gleichberechtigung („Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Art. 3,3 GG).

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fest, wonach der Mensch einen „eigenen selbständigen Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind.“104 Vor dem Hintergrund der allgemeinen Schulpflicht ergibt sich hieraus für den Bildungsund Erziehungsauftrag des staatlichen Schulwesens die komplexe Aufgabe, wertorientierte Bildung und Erziehung unter der Maßgabe weltanschaulichreligiöser Neutralität in einer pluralistischen Gesellschaft zu vermitteln. Unter der Beachtung des Erziehungsrechts der Eltern lassen sich vor diesem Hintergrund „politische und sozialmoralische Erziehungsziele […] [grundsätzlich] eher rechtfertigen […] als Erziehungsziele, die die Gestaltung des eigenen Lebens betreffen“105 und damit die Persönlichkeitsentwicklung direkt beeinflussen. Basierend auf der sog. Kulturhoheit der Länder ist es deren Angelegenheit, dieser Aufgabe allumfassend nachzukommen. Dabei steht es den Ländern vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen sozialgeschichtlich gewachsenen Gegebenheiten zu, den Komplex ‚Wertorientierung‘ innerhalb des Komplexes ‚weltanschaulichreligiöse Neutralität‘ auszutarieren. Entsprechend differieren die Wert- und Normgefüge, innerhalb denen sich der Bildungs- und Erziehungsanspruch der einzelnen Länder bewegt. Vor diesem Hintergrund erfährt auch der Heimatbegriff in den aktuellen Schulgesetzen unterschiedliche Wertungen. Der Begriff ‚Heimat‘ findet sich in mehr als der Hälfte der im Jahr 2017 gültigen Schulgesetze, nämlich in denen von neun Bundesländern.106 Dabei unterscheiden sich die Kontexte, in welchen der Begriff verwendet wird. In den Schulgesetzen von Hamburg, Hessen und Sachsen-Anhalt steht ‚Heimat‘ in Bezugnahme der jeweiligen Schulgesetze auf Art. 3,3 GG. Indem sie die Aufzählung des Diskriminierungsverbots übernehmen, spricht das Hessische Schulgesetz ein eben solches Diskriminierungsverbot 104 Beschluss Bundesverfassungsgericht vom 23. Oktober 1952 (BVerfGE 2, 1 [12]). 105 Huster, Stefan: Staatliche Neutralität und schulische Erziehung. Einige Anmerkungen aus verfassungsrechtlicher und sozialphilosophischer Sicht, In: Neue Sammlung. Vierteljahres-Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft 41 (2001), S. 399-424, hier S. 412. 106 Vgl. Schulgesetz Baden-Württemberg (in der Fassung von 1983, letzte Änderung 2017), Bayern (in der Fassung von 2000, letzte Änderung 2017), Hamburg (in der Fassung von 1997, letzte Änderung 2016), Hessen (in der Fassung von 2005, letzte Änderung 2015), Nordrhein-Westphalen (in der Fassung von 2005, letzte Änderung 2016), Sachsen (in der Fassung von 2004, letzte Änderung 2017), Sachsen-Anhalt (in der Fassung von 2013, letzte Änderung 2016), Schleswig-Holstein (in der Fassung von 2007, letzte Änderung 2016), Thüringen (in der Fassung von 2003, letzte Änderung 2013).

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der Schule gegenüber ihren Schülern aus,107 während das Hamburger Schulgesetz daraus ein allumfassendes Recht auf Bildung ableitet.108 Sachsen-Anhalt schließlich begründet aus Art 3,3 GG den Auftrag der Schule zur Vermittlung von „Kenntnissen, Fähigkeiten und Werthaltungen […] [zur] Gleichachtung und Gleichberechtigung“ und nutzt somit Art. 3,3 GG zum Brückenschlag zwischen weltanschaulicher Neutralität und Werteorientierung.109 In der Bezugnahme auf Art 3,3 GG steht der Heimat-Begriff innerhalb einer komplexen, allumfassenden Aufzählung als feststehender Phrase stets verbunden mit dem Begriff ‚Herkunft‘: Heimat und Herkunft erscheinen dann als Orte der Abstammung. In den Schulgesetzen von Berlin und Rheinland-Pfalz findet sich jedoch die gleiche Aufzählung – im Hamburger Deutungskontext als allumfassendes Recht auf Bildung – ohne den Heimatbegriff. Hier umfasst allein ‚Herkunft‘ den Ort der Abstammung.110 Der Befund ist also uneinheitlich: ‚Heimat‘ und ‚Herkunft‘ werden 107 Vgl. Schulgesetz Hessen (§ 3,3): „Die Schule darf keine Schülerin und keinen Schüler wegen des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Heimat und Herkunft, einer Behinderung, des Glaubens und der religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligen oder bevorzugen.“ 108 Vgl.Schulgesetz Hamburg (§ 1): „Jeder junge Mensch hat das Recht auf eine seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechende Bildung und Erziehung und ist gehalten, sich nach seinen Möglichkeiten zu bilden. Dies gilt ungeachtet seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen oder einer Behinderung. Das Recht auf schulische Bildung und Erziehung wird durch ein Schulwesen gewährleistet, das nach Maßgabe dieses Gesetzes einzurichten und zu unterhalten ist. Aus dem Recht auf schulische Bildung ergeben sich individuelle Ansprüche, wenn sie nach Voraussetzungen und Inhalt in diesem Gesetz oder aufgrund dieses Gesetzes bestimmt sind.“ 109 Vgl. Schulgesetz Sachsen-Anhalt (§ 1,2): „In Erfüllung dieses Auftrages ist die Schule insbesondere gehalten […] den Schülerinnen und Schülern Kenntnisse, Fähigkeiten und Werthaltungen zu vermitteln, welche die Gleichachtung und Gleichberechtigung der Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Abstammung, ihrer Rasse, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Identität, ihrer Sprache, ihrer Heimat und Herkunft, ihrem Glauben, ihren religiösen oder politischen Anschauungen fördern, und über Möglichkeiten des Abbaus von Diskriminierungen und Benachteiligungen aufzuklären“. 110 Vgl. Schulgesetz Berlin (§ 2,1): „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf zukunftsfähige schulische Bildung und Erziehung ungeachtet seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Herkunft, einer Behinderung, seiner religiösen o-

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bisweilen synonym und dann wieder heteronym gebraucht, ohne dass Erklärungsmuster zu erkennen sind. Auffallend ist, dass die Bezugnahme auf Art 3,3 GG zwar gegeben, aber eklektischer Natur ist. Die Möglichkeit, sich auf diese Weise auch des Heimatbegriffs zu entledigen, nutzen nicht alle Bundesländer. Eine eigene Bedeutungsebene erhält der Begriff ‚Heimat‘ in den Schulgesetzen Schleswig-Holsteins und Sachsen-Anhalts. Schleswig-Holstein sieht das pädagogische Ziel des Staates in der Förderung des „Verständnisses für die Bedeutung der Heimat“111, während Sachsen-Anhalt zusätzlich zur Anbindung an Art 3,3 GG die „Bedeutung der Heimat in einem geeinten Deutschland und einem gemeinsamen Europa“112 zum Erziehungs- und Bildungsziel der Schule erhebt. Beide Schulgesetze rekurrieren auf ein ‚Verständnis‘ für die ‚Bedeutung der Heimat‘. Damit verbunden ist eine kognitive Auseinandersetzung darüber, was der politischen Anschauungen, seiner sexuellen Identität und der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Stellung seiner Erziehungsberechtigten.“; Rheinland-Pfalz (§ 1,1): „Der Auftrag der Schule bestimmt sich aus dem Recht des jungen Menschen auf Förderung seiner Anlagen und Erweiterung seiner Fähigkeiten, unabhängig von seiner Religion, Weltanschauung, Rasse oder ethnischen Herkunft, einer Behinderung, seinem Geschlecht oder seiner sexuellen Identität sowie aus dem Anspruch von Staat und Gesellschaft an Bürgerinnen und Bürger zur Wahrnehmung von Rechten und Übernahme von Pflichten hinreichend vorbereitet zu sein.“ 111 Vgl. Schulgesetz Schleswig-Holstein (§ 4,6): „Die Schule soll die Offenheit des jungen Menschen gegenüber kultureller und religiöser Vielfalt, den Willen zur Völkerverständigung und die Friedensfähigkeit fördern. Sie soll den jungen Menschen befähigen, die besondere Verantwortung und Verpflichtung Deutschlands in einem gemeinsamen Europa sowie die Bedeutung einer gerechten Ordnung der Welt zu erfassen. Die Schule fördert das Verständnis für die Bedeutung der Heimat, den Beitrag der nationalen Minderheiten und Volksgruppen zur kulturellen Vielfalt des Landes sowie den Respekt vor der Minderheit der Sinti und Roma. Sie pflegt die niederdeutsche Sprache. Zum Bildungsauftrag der Schule gehört die Anleitung des jungen Menschen zur freien Selbstbestimmung in Achtung Andersdenkender, zum politischen und sozialen Handeln und zur Beteiligung an der Gestaltung der Arbeitswelt und der Gesellschaft im Sinne der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.“ 112 Vgl. Schulgesetz Sachsen-Anhalt (§ 1,2): „In Erfüllung dieses Auftrages ist die Schule insbesondere gehalten […] die Schülerinnen und Schüler zu Toleranz gegenüber kultureller Vielfalt und zur Völkerverständigung zu erziehen sowie zu befähigen, die Bedeutung der Heimat in einem geeinten Deutschland und einem gemeinsamen Europa zu erkennen.“

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Heimat ist und sein kann, ohne dass eine affektive, emotionale Auseinandersetzung gefordert wird. Heimat ist das Umfeld, das es wissenschaftlich resp. sachkundlich zu erkunden gilt und aus der Reflektion über die Ergebnisse die (rational-kognitive) Erkenntnis über deren Bedeutung reift. Einen ähnlichen Weg gehen die Schulgesetze von Niedersachsen, Bremen und Brandenburg, ohne jedoch den Heimatbegriff aufzugreifen. Stattdessen sprechen sie von „regionalen Belangen“ oder dem Verständnis für das „eigene Umfeld“. 113 Auch hier verzichten einige Bundesländer auf den Heimatbegriff, ohne dass dies Einfluss auf die Formulierung des gemeinsamen Bildungszieles ‚Verständnis für die Bedeutung des Nahbereiches/der Region/des Umfeldes‘ nimmt. Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Sachsen vertreten im Gegensatz dazu eine stark emotionale Auffassung von Heimat und sehen die „Liebe zu Volk und Heimat“114 bzw. die „Heimatliebe“115 als Erziehungs- und 113 Vgl. Schulgesetz Niedersachsen (§ 2,1): „Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden […] ihre Wahrnehmungs- und Empfindungsmöglichkeiten sowie ihre Ausdrucksmöglichkeiten unter Einschluss der bedeutsamen jeweiligen regionalen Ausformung des Niederdeutschen oder des Friesischen zu entfalten […]“; Schulgesetz Bremen (§ 4,6): „Die Schule ist Teil des öffentlichen Lebens ihrer Region und prägt deren soziales und kulturelles Bild mit. Sie ist offen für außerschulische, insbesondere regionale Initiativen und wirkt im Rahmen ihrer Möglichkeiten an ihnen mit. Ihre Unterrichtsinhalte sollen regionale Belange berücksichtigen. Alle Beteiligten sollen schulische Angebote und das Schulleben so gestalten, dass die Schule ihrem Auftrag je nach örtlichen Gegebenheiten gerecht wird“; Schulgesetz Brandenburg (§ 4,5): „Bei der Vermittlung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Werthaltungen fördert die Schule insbesondere die Fähigkeit und Bereitschaft der Schülerinnen und Schüler […] die eigene Kultur sowie andere Kulturen, auch innerhalb des eigenen Landes und des eigenen Umfeldes, zu verstehen und zum friedlichen Zusammenleben der Kulturen und Völker beizutragen sowie für die Würde und die Gleichheit aller Menschen einzutreten […].“ 114 Vgl. Schulgesetz Baden-Württemberg (§ 1,2): „[…] Über die Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten hinaus ist die Schule insbesondere gehalten, die Schüler in Verantwortung vor Gott, im Geiste christlicher Nächstenliebe, zur Menschlichkeit und Friedensliebe, in der Liebe zu Volk und Heimat, zur Achtung der Würde und der Überzeugung anderer, zu Leistungswillen und Eigenverantwortung sowie zu sozialer Bewährung zu erziehen und in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit und Begabung zu fördern […].“; Nordrhein-Westphalen (§ 2,2): Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung. Die Jugend soll erzogen

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Bildungsauftrag des jeweiligen Staates. Bayern konkretisiert den Bildungs- und Erziehungsauftrag die „Schülerinnen und Schüler […] im Geist der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinn der Völkerversöhnung zu erziehen“ als Aufgabe der Schule, „Kenntnisse von Geschichte, Kultur, Tradition und Brauchtum unter besonderer Berücksichtigung Bayerns zu vermitteln und die Liebe zur Heimat zu wecken“ 116. Die stark emotionale Identifikationsrolle, die dem Heimatbegriff in diesen Schulgesetzen zukommt, zielt offenbar darauf ab, dem gegebenen, traditionellen Heimatverständnis in den jeweiligen Regionen zu entsprechen.

werden im Geist der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zur Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und zur Friedensgesinnung.“ 115 Vgl. Schulgesetz Sachsen (§ 1,3): „Die schulische Bildung soll zur Entfaltung der Persönlichkeit der Schüler in der Gemeinschaft beitragen. Diesen Auftrag erfüllt die Schule, indem sie den Schülern insbesondere anknüpfend an die christliche Tradition im europäischen Kulturkreis Werte wie Ehrfurcht vor allem Lebendigen, Nächstenliebe, Frieden und Erhaltung der Umwelt, Heimatliebe, sittliches und politisches Verantwortungsbewusstsein, Gerechtigkeit und Achtung vor der Überzeugung des anderen, berufliches Können, soziales Handeln und freiheitliche demokratische Haltung vermittelt, die zur Lebensorientierung und Persönlichkeitsentwicklung sinnstiftend beitragen.“ 116 Vgl. Schulgesetz Bayern (§ 1,1): „Die Schulen haben den in der Verfassung verankerten Bildungs- und Erziehungsauftrag zu verwirklichen. Sie sollen Wissen und Können vermitteln sowie Geist und Körper, Herz und Charakter bilden. Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung, vor der Würde des Menschen und vor der Gleichberechtigung von Männern und Frauen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt. Die Schülerinnen und Schüler sind im Geist der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinn der Völkerversöhnung zu erziehen.“ (§ 2,1): „Die Schulen haben insbesondere die Aufgabe, […] Kenntnisse von Geschichte, Kultur, Tradition und Brauchtum unter besonderer Berücksichtigung Bayerns zu vermitteln und die Liebe zur Heimat zu wecken, […].“

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8. ‚HEIMAT‘ IM BILDUNGS- UND ERZIEHUNGSAUFTRAG DES THÜRINGER SCHULGESETZES – DER HEIMAT- UND SACHKUNDEUNTERRICHT IN DER GRUNDSCHULE Im achten Abschnitt steht die Explikation des Heimatbegriffs im Thüringer Schulgesetz und im Lehrplan für den Heimat- und Sachkundeunterricht in der Grundschule im Mittelpunkt der Betrachtung. Das Schulgesetz von Thüringen leitet seinen Erziehungs- und Bildungsauftrag ebenfalls „von den grundlegenden Werten, wie sie im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und in der Verfassung des Freistaats Thüringen niedergelegt sind“ ab und definiert, wie bereits erwähnt, die Aufgabe der Schule als Pflege der „Verbundenheit mit der Heimat in Thüringen und in Deutschland“.117 Ausgehend von dem im 7. Abschnitt entwickelten Deutungsvarianten des Heimatbegriffs in bundesdeutschen Schulgesetzen wird erkennbar, dass der Heimatbegriff des Thüringer Schulgesetzes sowohl auf Identifikation angelegte sozial-affektive wie auf Reflexion und Aneignung abzielende rationale Elemente enthält. Im Vergleich zur ‚Liebe‘ kann ‚Verbundenheit‘ zwar emotionaler Natur sein, muss es aber nicht sein; jedenfalls ist ‚Heimatverbundenheit‘ weniger stark emotional besetzt wie ‚Heimatliebe‘. Zugleich beruft sich ‚Heimatverbundenheit‘ auf rationale Formen der Annäherung, Auseinandersetzung und Anverwandlung des sozio-kulturellen Nahbereichs, in denen die Kinder und Jugendlichen aufwachsen. ‚Verbundenheit‘ ist zwar emotionaler Natur und stärker als ‚Zugehörigkeit‘, beruht aber auf (veränderlichen) Beweggründen und ist aus einem Bedeutungsbewusstsein heraus erwachsen. Damit wählt das Thüringer Schulgesetz einen sehr komplexen Heimatbegriff und es stellt sich die Frage, wie sich dieser Heimatbegriff im Lehrplan für den Heimat- und Sachkundeunterricht widerspiegelt. Im Fächerkanon des Thüringer Schulwesens wird das Fach Heimat- und Sachkundeunterricht in den Grundschulen unterrichtet. Zunächst ist auffällig,

117 S. Schulgesetz Thüringen (§ 2,1): „Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule in Thüringen leitet sich ab von den grundlegenden Werten, wie sie im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und in der Verfassung des Freistaats Thüringen niedergelegt sind. Die Schule erzieht zur Achtung vor dem menschlichen Leben, zur Verantwortung für die Gemeinschaft und zu einem verantwortlichen Umgang mit der Umwelt und der Natur. Sie pflegt die Verbundenheit mit der Heimat in Thüringen und in Deutschland, fördert die Offenheit gegenüber Europa und weckt das Verantwortungsgefühl für alle Menschen in der Welt. […]“

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dass sich in dem im Lehrplan niedergelegten Bildungsziel des Faches für die Grundschule kein expliziter Bezug auf den Heimatbegriff findet. „Der Unterricht unterstützt den Schüler, sich kulturell bedeutsames Wissen zu erschließen und bildet eine zuverlässige Grundlage für eigenverantwortliches Handeln und das Lernen in den weiterführenden Schulen. Grundschule als wichtiger Ort für wissenschaftliche Grundbildung verknüpft natur- und geisteswissenschaftliche Erkenntnisse als Schritte zu einer umfassenden Bildung. Die kindlichen Fragen nach dem Objekt selbst („Was ist das?“) werden sich erweitern zu der Begründung („Warum ist das so?“), dem Werdensprozess („Wie ist das so geworden?“) und der verantwortungsvollen Nachhaltigkeit („Was kann oder darf daraus werden?“). Diesen Anspruch erfüllt insbesondere das Fach Heimatund Sachkunde.“118

Der Begriff ‚Heimat‘ taucht unabhängig von der Bezeichnung des Faches nur im Kompetenzbereich „Raum und Zeit“ auf. Hier changiert seine Funktion und damit die Bedeutungsebene von einer geographischen Ortsangabe bis zum emotional aufgeladenen Identifikationsort mit demokratischem Duktus. So bewegt sich der Begriff zwischen einer kognitiv-rationalen thematischen Auseinandersetzung im Sinne einer Sachkunde und einer emotionalen thematischen Auseinandersetzung im emphatischen Sinne des Heimatkundebegriffs. Dabei löst sich der Begriff in der Zielsetzung dieses Kompetenzbereiches auf spannende Weise von seiner historischen Bedeutungsschwere, indem sich die emotionale Bindung an die ‚Heimat‘ aus dem „Wandel“ und der „Vielfalt“ des „sozial-regionalen Lebensraumes“ ergibt: „‚Schule‘ wird er [der Heimat- und Sachkundeunterricht] nicht nur als lokale Station, sondern als sozialen Lebensraum und als Basis für weiterführende Schulen betrachten. Diesem Verständnis folgend wird er die Kenntnis kultureller Besonderheiten seiner Region in ihrem Wandel und ihrer Vielfalt überführen zu einer emotionalen Bindung zu diesem sozial-regionalen Lebensraum, zu seiner Heimat. Dazu gehören kulturelle Güter und Werte, in denen sich das Wissen früherer Generationen spiegelt. Der Schüler wird seine eigenen und fremden Kulturen, die vergangenen und die gegenwärtigen Kulturen als schützenswert achten und sie als Orientierungsrahmen menschlichen Handelns begreifen.“ 119

118 Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (Hrsg.): Lehrplan für die Grundschule und für die Förderschule mit dem Bildungsgang Grundschule. Heimatund Sachkunde, 2015, S. 5 f. Im Folgenden abgekürzt mit: LP HSK GS 2015. 119 LP HSK GS 2015, S. 17.

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Damit wird ‚Heimat‘ zu einem prospektiv-aktivierenden Begriff, der die Schülerinnen und Schüler dazu ermutigt, am Wandel ihres Umfeldes teilzuhaben und so die Zukunft der Heimat mitzugestalten. Die Erziehung zum verantwortungsvollen, aktiven und toleranten Mitglied der Gesellschaft weist zugleich in Richtung einer aktiven Demokratiebildung und verbindet damit indirekt ‚Heimatkunde‘ mit ‚Demokratiekunde‘. So heißt es zu den in der Schuleingangsphase anzubahnenden Selbst- und Sozialkompetenzen: „Der Schüler kann sich durch Sprache (Dialekt) und kulturellen Kontext in die lokale und regionale Gemeinschaft integrieren; durch die Kenntnis der eigenen Heimat auf die Heimat anderer Menschen neugierig werden; ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Geborgenseins entwickeln.“120 Damit vollzieht sich in diesem Lernfeld ein interessanter Wandel, an dessen Ende die Schüler der 4. Klassenstufe einen Heimatbegriff entwickelt haben sollen, der es ihnen erlaubt, einen unbestimmten und damit beliebigen Ort, Region oder Land als den ihren und damit als ihre Heimat zu identifizieren Diese Definition öffnet den Heimatbegriff gegenüber Schülern jedweder Herkunft und knüpft zugleich an die Definition von ‚Heimat‘ als Ergebnis des „Wandels“ und der „Vielfalt“ der regionalen Besonderheiten an. Damit weist der Thüringer Lehrplan für Heimat- und Sachkunde keinen retrospektiven, sondern einen prospektiven, aktiven und zugleich integrativen resp. inklusiven Heimatbegriff auf. Die Grundschule erscheint gemäß diesem Verständnis als Identifikationsort, als ein Ort von Heimat für alle Schülerinnen und Schüler. Der Unterricht beansprucht, die Schülerinnen und Schüler zur Partizipation an einer demokratischen Entwicklung ihrer ‚Heimat‘ zu befähigen und zielt damit auf die Bildung eines selbstbestimmten, aktiven, mündigen Bürgers ab. Heimat ist somit nicht etwas, was es zu bewahren und ggf. gegenüber anderen zu verteidigen gilt, sondern Heimat erscheint als Ort gelebter Gemeinschaft, von dem aus Zukunft gemeinsam gestaltbar wird.

9. ZUSAMMENFASSUNG: ZUR DIDAKTISCHEN LEISTUNGSFÄHIGKEIT EINES MODERNEN HEIMATBEGRIFFS Zu Beginn dieses Beitrags haben wir die Vermutung geäußert, dass es sich bei der Formulierung des Bildungsziels des Thüringer Schulgesetzes, die Schule ha-

120 Ebd., S. 21.

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be „die Verbundenheit mit der Heimat in Thüringen und in Deutschland“ zu pflegen, um eine Kompromissformel aus der Nachwendezeit handelt, die das Heimatverständnis der DDR mit dem in der Bundesrepublik gepflegten Heimatverständnis auf einen Nenner zu bringen habe. Diese Annahme greift jedoch zu kurz. Auch wenn es natürlich nicht auszuschließen ist, dass diese Formulierung assoziative Bezugnahmen sowohl auf das Verständnis der sozialistischen Heimat der DDR wie auch auf das Heimatverständnis insbesondere konservativer Prägung der Bundesrepublik eröffnet, hat der Heimatbegriff des Thüringer Schulgesetz nicht nur die ideologisch bedingten Differenzen zwischen der DDR und der Bundesrepublik, speziell in Bezug auf Heimat, überwunden, sondern bietet einen semantisch neu gefüllten Heimatbegriff als das Ferment des wiedervereinigten Deutschlands an: Thüringen ist hiernach unsere Heimat im Speziellen und Deutschland im Allgemeinen. Der Vergleich mit den Schulgesetzen anderer Bundesländer zeigt zudem, dass die Formulierung des Thüringer Bildungsziels eher moderater Natur ist: Weder hat die Thüringer Schule das Ziel zu verfolgen, den Schülerinnen und Schülern ‚Heimatliebe‘ zu vermitteln – wie dies didaktisch-methodisch auch immer bewerkstelligt werden könnte –, noch löst sie den affektiv gefüllten Heimatbegriff durch einen soziologisch gearteten Lebensweltbegriff auf. In unserer historisch-systematischen Betrachtung des Heimatbegriffs im Kontext der Heimatkundedidaktik konnten wir zeigen, dass das Schulfach Heimat- resp. Sachkunde ein äußerst flexibles Verständnis von Heimat entwickelt hat, das zwischen Polen wie ‚aufklärerisch-rational‘ und ‚emotionalmetaphysisch‘, ‚national‘ und ‚kosmopolitisch‘ oder ‚kindgemäßer Didaktik‘ und ‚Wissenschaftspropädeutik‘ oszilliert und hierbei im Wandel der Zeiten unterschiedliche Wahlverwandtschaften eingegangen ist. In der Thüringer Schulgesetzgebung wird Heimat als der Ort unserer geographisch-biologisch sowie sozio-kulturell geprägten Herkunft markiert, den wir uns bildungsmäßig zu erschließen haben, auch um zu erkennen, dass es nicht nur eine Heimat gibt: „Der Schüler kann […] Lebensleistungen von Menschen respektieren und Toleranz gegenüber ihren Kulturen entwickeln; einen Ort, eine Region, ein Land als seinen Ort, seine Region, sein Land als Heimat in seiner Besonderheit und Schönheit annehmen; in Kenntnis seines ‚Weltbildes‘ analoge Aspekte in den Welten anderer Menschen erkunden und somit ein Bewusstsein von ‚Einer Welt‘ entwickeln.“ 121

121 Ebd., S. 21.

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Heimat erscheint hierbei nicht im Gegenüber zur Welt, sondern quasi im Plural: So können wir im Oszillationsmodell der Heimatkundedidaktik die zwei weiteren Pole ‚regional‘ und ‚global‘ eintragen. Nach dem Modell des Thüringer Lehrplans wird der Heimat- und Sachkundeunterricht durch kognitive Vermittlung kultureller Werte und Güter zum Ausgangspunkt der emotionalen Erschließung der Nahwelt, woraus sich ‚Heimat‘ als Identifikationsort konstituiert. Gemäß dieser Definition müsste es bspw. auch für Migranten möglich sein, eine neue Umgebung als Identifikationsort und damit als ‚Heimat‘ wahrzunehmen. Demnach bilden Heimaten kein Gegenüber, sondern einen Teil dieser ‚einen Welt‘. Heimaten sind keine regressiven Zufluchtsstätten, sondern Gestaltungsorte gemeinschaftlichen Lebens von Menschen unterschiedlichster Herkünfte. Bei der Durchsicht der untersuchten Quellen wie auch in der Sekundärliteratur zur Geschichte des Heimat- bzw. Sachunterricht ist auffällig, dass das Verhältnis zwischen dem (christlichen) Religionsunterricht und Heimatkundeunterricht weitgehend unterbestimmt bleibt. Dieser Beobachtung soll abschließend noch eine kurze Überlegung gewidmet werden. Spätestens mit der Entstehung und Entwicklung des deutschen Nationalstaats in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert setzt sich der Heimatbegriff, erweitert um eine metaphysische Komponente, als Alternative zur christlichen Religion als Ferment der Gesellschaft durch. Das durch die Berufung auf ein Gottesgnadentum legitimierte, ständisch organisierte staatliche System ist angesichts der Modernisierungsschübe – Industrialisierung und Säkularisierung – im 19. Jahrhundert zunehmend ins Wanken geraten. Bereits im Heimatkundediskurs des ausgehenden Kaiserreichs hat sich die Heimatkundedidaktik von der Religionsdidaktik abgegrenzt. Diese Trennung hat sich bis in die Gegenwart durchgehalten und es ist nicht absehbar, wann hier eine gegenseitige Wahrnehmung wieder einsetzen kann.122 Diese Nichtwahrnehmung ist insofern bedenklich, als die Vielfalt der Menschen, die in einer globalisierten Gesellschaft nach Zugehörigkeit und Geborgenheit suchen, nicht nur auf ihrer jeweiligen Herkunft, ihren Kulturen und Ethnien basiert, sondern auch auf ihren Religionen. Der Heimat- und Sachkundeunterricht hätte demnach auch hier für Bildungsangebote zu sorgen.

122 Diese fehlende Beachtung hat zur Folge, dass im Thüringer Lehrplan für das Fach Heimat- und Sachkunde die Unterrichtsfächer Biologie, Chemie, Physik, Geographie, Geschichte, Astronomie, Deutsch, Mathematik, Musik und Kunst nicht jedoch Religionslehre für eine fächerverbindende Kooperation empfohlen werden; s. LP HSK GS 2015, S. 7.

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Die Schule „pflegt die Verbundenheit mit der Heimat in Thüringen [...]“ | 279

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Politische Heimat bei Hannah Arendt Individuelle Zugehörigkeit und das Recht auf Rechte Walter Pauly und Barbara Bushart

Selbst vertrieben – als deutsche Jüdin auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus – hat Hannah Arendt eine starke Verbindung zwischen Heimat 1 und dem von ihr postulierten Recht, Rechte zu haben, profiliert. Immerhin identifiziert sie das Recht, Rechte zu haben mit einem Leben in einem „Beziehungssystem, in dem man auf Grund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird.“ 2 Arendt reklamiert auf diese Weise für den Menschen einen „Standort in der Welt“, 3 der sich nicht im Aufenthalt an einem geographischen Ort erschöpft, sondern die „Bezüge zu der von den Menschen errichteten Welt“4 begriffsnotwendig braucht. Arendts Weltbegriff meint ein „Gebilde von Menschenhand“,5 das Resultat von Sprechen, Handeln und gemeinsamer Arbeit ist, jedoch über die bloße Bedürfnisvermittlung hinaus geht und auf der gegenseitigen freiheits- und rechtekonstituierenden Anerkennung als Gleiche beruht, die sich nicht schlicht aus dem Menschsein ergibt, sondern der „Einigung bedarf.“6 Unter dieser Voraussetzung 1

Der Begriff der Heimat zieht sich dabei wie ein roter Faden durch das gesamte arendtsche Werk; sie sei für sie selbst intellektuell zum Beispiel dann erfahrbar, wenn sie mit anderen Menschen die Welt gleich verstünde; so Arendt, Hannah: Ich will verstehen, München/Zürich 2005, S. 47.

2

Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München/Zürich 2014, S. 614.

3

Ebd., S. 613.

4

Ebd., S. 621.

5

Arendt, Hannah: Vita Activa, München/Zürich 2015, S. 66.

6

Arendt, Hannah: Über die Revolution, München/Zürich 2014, S. 250.

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können Menschen sich durch Nutzung ihrer Fähigkeit zum Neubeginn „sprechend und handelnd“7 in die Welt einschalten und damit ihre Verschiedenheit verwirklichen.8 Verliert der Mensch aber seinen Standort in der Welt, geht er Arendt zufolge seiner errungenen Gleichberechtigung und der hierüber eröffneten Möglichkeit zu freiem Handeln wie auch aller Rechte verlustig und findet sich in einem „Naturzustand“9 wieder, der durch individuelle Ungleichheit und Gewalt gekennzeichnet ist.10 Außerhalb der von Menschen errichteten Welt der Wahrnehmung menschlicher Fähigkeiten beraubt, spricht Arendt insoweit vom bloßen Menschen bar jeder Menschenrechte und -würde.11 Die Pointe ihres ebenso vorgängigen wie konstituierenden fundamentalen Rechts, überhaupt Rechte zu haben, welches Arendt deswegen als das einzige Menschenrecht bezeichnet, liegt im garantierten Zugang zu einer öffentlich gesicherten Gemeinschaft von Gleichen, in der der Mensch überhaupt erst Rechte und Relevanz haben kann, in der also seine „Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind“.12 Heimat geht für Arendt insofern über die passive Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft hinaus, als sie hierunter einen „Platz in der Welt“ 13 versteht, den man sich aktiv „geschaffen“14 hat und „der einem sowohl Stand wie Raum gibt.“15 Das Recht, Rechte zu haben sichert zunächst einmal nur den Zugang zu einer entsprechenden Umwelt und garantiert damit eine notwendige Bedingung, um sich in das „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ einzuschreiben. Heimat stellt sich her über Beiträge und Bezugnahmen zum künstlichen „Gebilde“16 der Menschenwelt, mit deren Anwachsen sich auch das sich „zu Hause fühlen“17 steigert. Von daher bedeutet Heimat für Arendt weder eine Landschaft noch ein verklärtes Gefühl, sondern ein durch verantwortliches Han7

Im Gegensatz zu dem bloßen Sich-Verhalten in Herrschaftsverhältnissen, das sich durch Konformität und Uniformität auszeichne und somit das menschliche Potential zum Neuanfang unterlaufe; Arendt, Vita Activa, S. 50 f.

8

Vgl. ebd., S. 50.

9

Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 620.

10 Ebd., S. 615. 11 Ebd., S. 616. 12 Ebd., S. 613. 13 Ebd., S. 607. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 621. 17 Ebd., S. 622.

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deln eingenommener und narrativ manifestierter Ort, in den man hineingeboren sein kann, den man aber auch als „neue Heimat“18 wählen und finden mag. Ob der Einzelne in seiner Geburtsheimat bleibt, sie gegen seinen Willen verliert oder freiwillig verlässt, ob und wo er Aufnahme findet und in welcher politischen Gemeinschaft er sich exponieren und teilhaben will, all das hängt ganz wesentlich an deren Ausrichtung und Organisation, wie sie sich laut Arendt in der jeweiligen Verfassung als gegenseitige Versprechensordnung gemeinsamer Zielverfolgung wiederfinden. Die in der Verfassung normierten Werte, der hier niedergelegte Modus des Umgangs miteinander und mit der gemeinsamen Welt sind Anknüpfungspunkte der Heimatfindung. Ganz wesentlich sind es normativierte Gehalte und verfasste Strukturen, durch die Verfassung vorgegebene und dialogisch vermittelte Wertbekenntnisse, die Arendt zufolge als Heimat gesucht und gefunden, goutiert und genutzt werden. In diesem Sinne kann vom Recht als einer Heimat gesprochen werden, die Menschen das im aristotelischen Verständnis essentielle Leben als zoon politikon ermöglicht. Das vorgelagerte Recht, Rechte zu haben, bildet dabei eine notwendige Bedingung dafür, dass selbst Staatenlose und Flüchtlinge Zugang zu einer normativ bestimmten Heimat erlangen können und nicht als „politisch gesprochen, lebende Leichname“ 19 in ihrem bloßen Menschsein verharren müssen. Arendt versteht das Recht, Rechte zu haben, als einen Schlüssel, der die Tür zur Wahrnehmung politischer Freiheitsrechte allererst öffnet und die Voraussetzung für den Genuss der Menschenrechte wie rechtsstaatlicher Garantien überhaupt bildet. Den „Verlust der Heimat“20 setzt Arendt mit einer „Ausstoßung aus der Menschheit überhaupt“21 unter dauerhafter Einbuße des politischen Status samt der Menschenrechte gleich,22 weil die bewohnbare Erde inzwischen restlos in Territorialstaaten aufgegliedert sei, die trotz völkerrechtlicher Abkommen souverän über Inklusion und Exklusion entscheiden könnten. Dabei hielten die Nationalstaaten die Menschenrechte insoweit okkupiert, als sich dieselben allein nationaler Verfassunggebung und Garantie verdankten. Arendt spricht von einer „Verquickung der Menschenrechte mit der im Nationalstaat verwirklichten Volkssouveränität“ und dem „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, 23 da die Definitionshoheit über Reichweite und Gehalt der sog. eingeborenen Menschen18 Ebd., S. 607. 19 Ebd., S. 614. 20 Ebd., S. 608. 21 Ebd. 22 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 614. 23 Ebd., S. 604f.

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rechte ausschließlich bei den Nationalstaaten liege. Dieser Umstand ist es, der zu den von Arendt untersuchten „Aporien der Menschenrechte“ 24 führt. Die herkömmlich unter den Menschenrechten verstandenen Rechte stellen sich als nationalstaatliche Gewährleistungen dar, in deren Genuss nur diejenigen gelangen, die entweder, wie im Fall der Bürgerrechte, Angehörige eines Staates sind, oder sich jedenfalls in dessen Hoheitsbereich befinden. Die Aporie der Menschenrechte liegt hiernach darin, dass der Mensch als solcher jenseits nationaler Zugehörigkeit rechtlos bleibt. Für Arendt steckt im Begriff unveräußerlicher Menschenrechte insofern eine Paradoxie, als dieser den Menschen in seiner Vereinzelung berechtigen möchte, was die reziproke Anerkennungsstruktur des Rechts vernachlässigt. Den Menschenrechtserklärungen des 18. Jahrhunderts blieben diese Paradoxien verborgen, weil sie von Anfang an „den ‚Menschen überhaupt‘ mit dem Glied eines Volkes identifizierte[n].“25 Solange „alle Menschen Staatsbürger irgendeines politischen Körpers“ 26 gewesen wären, „konnte man erwarten, daß die Menschenrechte in jeweils verschiedener Form für alle verwirklicht werden würden“27 – ein System, das mit dem Auseinanderbrechen der Vielvölkerstaaten und Vertreibungen des 20. Jahrhunderts zusammenbrechen sollte. Dadurch wurde offenbar, dass die nationalstaatliche Radizierung der Menschenrechte stets mit exkludierenden Kategorien operiert hatte und die individuelle Selbstbestimmung in Abhängigkeit von der Zuordnung zu einem Volk und dessen Selbstdefinition gehalten hatte. Die Konsequenz dieser Symbiose von Mensch und Bürger war eine Produktion von Staaten- und somit Rechtlosen in der Zwischenkriegszeit. Die damit auf der politischen Bühne erscheinende Figur des millionenfachen homo sacer (Giorgio Agamben)28 kann sich im öffentlichen Raum nicht mehr als Gleicher exponieren. All seiner Rechte entkleidet, ist er auf die Barmherzigkeit seiner Mitmenschen angewiesen, hat jedoch nie den Anspruch auf fundamentale Rechte inne und kann sich daher innerhalb der gemeinsamen Welt nicht positionieren. Spätestens nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und mit Bekanntwerden der von den Nationalsozialisten vorgenommenen industriellen Vernichtung der europäischen Juden hat sich die internationale Gemeinschaft dem Paradoxon und der Wirkungslosigkeit der Menschenrechte angenommen. Dennoch steht für 24 Ebd., S. 601. 25 Ebd., S. 604. 26 Ebd., S. 603. 27 Ebd. 28 Vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 928, die für das Phänomen der bürgerlichen Entrechtung den Begriff der Vogelfreiheit verwendet.

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Arendt die Angewiesenheit auf die Durchsetzung der Rechte gegen das Dogma des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Insbesondere das internationale Recht ist ihr zufolge nicht geeignet, das Paradoxon der Menschenrechte aufzulösen. Dies liege maßgeblich an dem direkt nach dem Zweiten Weltkrieg in der UNCharta kodifizierten Selbstbestimmungsrecht der Völker, was dazu einladen kann, exklusive Sonderwege zu beschreiten. Unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Souveränität vermochte Arendt eine rechtliche „Sphäre, die über den Nationen stünde, [...] vorläufig“ 29 nicht zu erkennen.30 Damit fehlte ihres Erachtens eine Handhabe, Staaten völkerrechtlich dazu anzuhalten, alle Menschen auf ihrem Territorium mit rechtlicher Anerkennung auszustatten. Selbst die „Errichtung einer ‚Weltregierung’“31 biete keine verlässliche Abhilfe, denn es liege „sogar im Bereich praktisch politischer Möglichkeiten, dass eines Tages ein bis ins letzte durchorganisiertes, mechanisches Menschengeschlecht auf höchst demokratische Weise, nämlich durch Majoritätsbeschluss, entscheidet, dass es für die Menschheit im ganzen besser ist, gewisse Teile derselben zu liquidieren.“32 Insofern verschärft die geballte Souveränität eines Weltstaates die Aporie der Menschenrechte, weil seine Entscheidungen über In- und Exklusion zum endgültigen Ausschluss aus der Rechtsgemeinschaft führt, da keine Aufnahmealternative zur Verfügung steht. Nahe liegt die Frage, ob nicht die neuerliche Entwicklung des Völker- und Europarechts Arendts Problemstellung zum Verschwinden gebracht hat. Hierbei könnte man an Vorschriften zwingenden Völkerrechts denken, das Staaten auch gegen ihren Willen als ius cogens verpflichtet, aber auch an völkervertraglich eingegangene Verpflichtungen oder supranationale Rechtsetzungen. Doch selbst die Annahme einer universalen Rechtsgemeinschaft kann die aufgezeigte Aporie nicht beseitigen. Die Entscheidung über die Garantie der herkömmlich als Menschenrechte bezeichneten Rechte würde auch im Falle einer verbindlichen Weltrechtsgemeinschaft ebendieser obliegen. Selbst bei globaler Verbürgung verlieren die Menschenrechte nicht ihren Charakter als positivrechtliche und immer auch souveräne Satzung, mit der eine Definitionshoheit und Verfügungsgewalt über ihre Reichweite einhergeht. Die Entscheidung über die Zugehörigkeit zum Begünstigtenkreis wird somit stets von einem kollektiv konstituierten Verband vorgenommen, der sich in Selbstdefinition bildet und entsprechend autonom agiert. Diese Kritik soll zwingenden Menschenrechtsverbürgungen nicht ihren Wert absprechen, sondern lediglich zu der philosophischen 29 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 618. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd.

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Fragestellung hinführen, wie das prinzipielle Problem einer rechtlich gesicherten individuellen Involvierung in ein kollektives Bezugssystem, das doch erst individuelle Berechtigungen statuiert und garantiert, gelöst werden kann. Arendt insistiert auf einem absoluten kollektivunabhängigen Anspruch auf individuelle Zugehörigkeit, der allein geeignet ist, die Definitionshoheit der Kollektive über die Begünstigten der Menschenrechte zu überwinden. Diesem Anliegen entsprechend wäre die Definition von Zugehörigkeit umzustellen: Nicht das bereits gebildete Kollektiv entscheidet darüber, wer ihm zugehörig sein soll, sondern das Individuum entscheidet, ob es zu dem Kollektiv gehören möchte und fordert somit eine ständige Neudefinition der Gemeinsamkeit. Dennoch ist mit dieser Faustformel nicht festgelegt, in welcher Weise das Individuum sich zugehörig wissen kann. Arendt deutet es nur an, wenn sie von einer Politik der Freundschaft spricht, die ihre Gemeinsamkeit nicht wie Brüderlichkeit im gleichen Blut, sondern im Gespräch über die Welt offenbart.33 Nur die Form der Zugehörigkeit, die zum Gegenstand die gemeinsame Welt, ihren Zustand und ihre Veränderung hat und kein „warmes Gefühl“, 34 wie zum Beispiel Mitleid, ermögliche das Handeln und Sprechen und somit das Politische. 35 Freundschaft ist also nicht Intimität, sondern die Anerkennung des Anderen als gleiches Gegenüber und die Partizipation an einer gemeinsamen Welt durch das Sprechen über sie.36 Sich in der Öffentlichkeit exponieren zu wollen und „im Zusammenleben durch Sprechen, und nicht Gewalt, die Angelegenheiten des menschlichen und vor allem des öffentlichen Lebens zu regeln“ 37, bildet also das Fundament des individuellen Zugehörigkeitswunsches. Folglich reicht eine eth33 Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten, München/Zürich 2014, S. 37. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 38 f. 36 Diese Definition der politischen Freundschaft ist zweifelsohne aristotelischen Ursprungs. Die politische philia sei der Grund der polis, sie zu bewahren das Ziel der Verfassung. Ein bindendes persönliches Element müsse jedoch auch nach der Konstitution der Rechtsgemeinschaft überdauern, da allein starrsinniges Beharren auf den Rechtsstandpunkt die Verbundenheit der Individuen eher zerstöre als fördere. Dabei sei das Entstehen der politischen Freundschaft jedoch nicht an eine gemeinsame präpolitische Identität gebunden, sondern an die Anerkennung auch des Fremden als relativ Gleichen insofern, als er ein logos-fähiges Wesen ist. Demnach stellt die polis die „Gemeinschaft von Verschiedenen“ dar, deren konstitutives Element das Zusammenleben von Menschen als Selbstzweck ist; im Einzelnen vgl. Buchheim, Hans: Politische „Phila“ bei Aristoteles, In: Der Staat 51 (2012), S. 581-590 (585 ff. m.w.N.). 37 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 615.

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nizistisch bestimmte Zugehörigkeit nicht aus, noch bildet sie den Maßstab für eine Gemeinschaft, die über das bloße Überleben hinausgeht. Das gesuchte individuelle, von kollektiver Zusprechung und Anerkennung unabhängige Recht, Rechte zu haben, ergibt sich für Arendt aus einem Axiom philosophischer Anthropologie, wonach der Mensch im aristotelischen Sinne ein gemeinschaftsbezogenes Wesen ist, weil dies ebenso seinen Fähigkeiten wie Bedürfnissen entspricht. Wenn Menschen die Zugehörigkeit zu einem menschlichen Gemeinwesen verweigert wird, entsteht hiernach ein dem Menschen nicht gerecht werdender und in diesem Sinne ungerechter Zustand, der dann auch das verweigernde Gemeinwesen negativ charakterisiert.38 Für die Einordnung des Rechts, Rechte zu haben, als subjektives Recht spricht, dass es auf eine Zuweisung an Individuen besteht und durch konkrete Inanspruchnahme aktiviert wird. Zugleich handelt es sich in seiner grundlegenden Bedeutung um ein objektives Recht, das dem Recht Legitimität verschafft und die menschliche Würde sichert. Nur auf diese Weise ist die menschliche Fähigkeit zu Politik und somit Freiheit garantiert, ohne die eine politische Gemeinschaft im arendtschen Sinne nicht bestehen kann. Die Frage nach der individuellen Zugehörigkeit ist hiermit jedoch noch nicht abschließend beantwortet: Arendt formuliert, dass jeder das Recht auf Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft habe, was in der arendtschen Begrifflichkeit zunächst einmal die Strukturvorgabe demokratischer Rechtsstaatlichkeit impliziert. Der Mensch hat hiernach das Recht zur Verwirklichung seiner ihm als zoon politikon immanenten Potentiale und Anspruch, Teil einer derartigen Gemeinschaft zu sein, und damit die Chance, Heimat zu finden, nicht mehr und nicht weniger. Noch nicht einbegriffen in diese Rechtsposition ist die Wahl einer bestimmten politischen Gemeinschaft. An Arendt lässt sich folglich die weitergehende Frage herantragen, ob ein Neuankömmling auch ein Recht auf Aufnahme in eine bestimmte, von ihm ausgewählte politische Gemeinschaft hat und inwiefern es dieser bereits bestehenden Gemeinschaft gestattet ist, die Aufnahme zu verweigern. Durch die einmal eingelöste Garantie der Zugehörigkeit an irgendeinem Ort der Welt und die damit einhergehenden Möglichkeiten, sich handelnd und sprechend in die Welt einzuschalten und diese über Zustimmung und Anerkennung seitens der anderen Gleichen zu verändern, scheint das Recht der Menschen, die Fähigkeit zum Politischen zu entfalten, bereits ausreichend gesichert. Demnach scheint dem Neuankömmling nicht das Recht der Wahl eines bestimmten Gemeinwesens zuzustehen. 38 Menke, Christoph: Zurück zu Hannah Arendt – die Flüchtlinge und die Krise der Menschenrechte, In: Merkur 806 (2016), S. 49-58, vgl. hier S. 57.

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Nun entwirft Arendt allerdings eine teils als quasi kommunitaristisch, teils als liberal eingeschätzte Konzeption39 eines horizontalen Gesellschaftsvertrages; absolute Werte und Maßstäbe jenseits der basalen Verwirklichung der menschlichen Fähigkeit zur Politik ablehnend, stellt für sie die Verfassung die Manifestation der durch Versprechen, Zustimmung und Anerkennung gefundenen Prinzipien und Werte einer partikularen politischen Gemeinschaft dar. Auf Konsens basierende politische Assoziationen bedürfen dabei zweierlei: Zunächst muss einem Mitglied die Möglichkeit gegeben sein, im Falle eines grundlegenden Dissenses aus der Gemeinschaft, in die es hineingeboren wurde, auszuscheiden, zum anderen können Erhalt und Fortentwicklung diskursiver und deliberativer Gemeinschaften nur durch aktives mitgliedschaftliches Engagement erfolgen. Teilhabe an öffentlichen Angelegenheiten erweist sich als ein Konstituens verfasster politischer Gemeinschaften, die davon leben, dass ihre Mitglieder sich für die gemeinsame Welt exponieren. Das bedeutet auch, dass ein Fortbestehen nur dann gesichert sein kann, wenn ihre Mitglieder aktiv an den öffentlichen Angelegenheiten teilnehmen. Die Möglichkeit, sich einen Platz in der Welt zu schaffen, „der einem sowohl Stand wie Raum gibt“,40 ist somit nicht nur für das Individuum, sondern nicht minder für die politische Gemeinschaft, für den Bestand ihres Rechts und ihrer Verfassung existenziell. Von daher charakterisiert es eine freie, politische Gemeinschaft geradezu, dass sie auf ständigen Neuanfang und wohl auch die Inklusion von Neuankömmlingen ausgerichtet ist. 41 Ihrem eigenen Bauprinzip, Anspruch und Selbstverständnis folgend muss sich die über ihre durch Freundschaftlichkeit gefundenen Werte definierte Gemeinschaft für Partizipation offenhalten. Insofern bildet Inklusion das Lebenselixier und die Erhaltungsbedingung dieser Form von Gemeinschaft, die auf Grund permanenter Reziprozität von individuellem Engagement und gemeinschaftlicher Resonanz fortbesteht. Verfassungsgetragene politische Heimatfindung und -erhaltung geht in dieser Reziprozität immer schon einher mit von Individuen vollzogenen Akten politischer Beheimatung. Das Recht auf Heimatfindung liefert so den Boden für eine Heimatschaffung, die damit zur Angelegenheit des Individuums wird. Diese Ableitungen führen zu Maßstäben für die Kompatibilitätsprüfung zwischen Ankömmling und bereits bestehender Gemeinschaft. Wenn es an der Ge39 Ausführlich dazu Rose, Uta-D.: Die Komplexität politischen Handelns, Waldkirch 2004, S. 265 ff. 40 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 607. 41 Dass der demos in seiner Konstitution nie starr gewesen, sondern auch historisch immer wieder Gegenstand des Diskurses ist, betont auch Wildt, Michael: Volk, Volksgemeinschaft, AfD, Bonn 2017, S. 124.

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meinschaft ist, um ihrer deliberativen Offenheit willen Aufnahmebegehrende zu akzeptieren und zu integrieren, geschieht dies gleichwohl nicht unangesehen des Individuums. Vielfach werden ethno-kulturelle Kriterien angelegt, um die Kompatibilität eines Heimatsuchenden mit der Gemeinschaft zu überprüfen. 42 Weil Arendt keine Assoziation der Intimität im Auge hat und für eine Politik der Freundschaft plädiert, die Zugehörigkeit individuell und nicht gruppenhaft bestimmt, widersprechen solche Ansätze ihrem politischen Grundanliegen. Da Menschen voneinander verschieden sind und aus ihrer eigentümlichen Individualität Pluralität resultiert, wird es für Arendt notwendig und möglich, sich im Handeln und Sprechen miteinander zu assoziieren und die Welt durch eigene Impulse zu verändern. Sie dagegen nach ethno-kulturellen Maßstäben blöckisch in Gruppen einzuteilen, widerspricht ihr zufolge dem Wesen des Menschen und damit auch jenem der Politik, das seinen Ausdruck in der Freiheit zu „erscheinen“ und sich zu exponieren findet. Die Möglichkeit, sich politisch zu engagieren, wird jedoch nur dann gegeben sein, wenn ein stabiler Raum der Freiheit garantiert ist, der Menschen allererst zu Gleichen werden lässt und die Modi des Miteinanders benennt und strukturiert. Als Vorbedingung des Politischen stellt die Verfassung, in der das Gründungsversprechen der politischen Gemeinschaft manifestiert, perpetuiert und dem verfassungsrechtlich unvermittelten Zugriff entzogen ist, die Grundordnung des Gemeinsamen dar. Die in ihr als Grundlage des politischen Lebens fixierte Ordnung des Umgangs miteinander bildet den Maßstab, an dem sich politische Handlungen orientieren müssen und ist relativ unabhängig von einem „demagogisch verhetzbaren Volkswille[n]“,43 wie Arendt ihn in seine Schranken weisen möchte. Arendts Verfassung zielt dabei nicht darauf ab, Neuankömmlingen die Zugehörigkeit zu verwehren, sie bietet vielmehr

42 Derartige Kriterien zeichnen sich dadurch aus, dass sie als präpolitisch nicht zu Disposition des Individuums stehen und somit die besondere Qualität des öffentlichen Raumes, nämlich die Souveränität des Subjekts zu entscheiden, ob und in welcher Form es sich exponieren möchte, unterminieren (vgl. Arendt, Hannah: Denktagebuch 1950-1973, München 2002, 2. Bde., hier: Bd. 1, S. 8). So eröffnet sich dem Fremden keine Möglichkeit, Freund zu werden, vgl. dazu Derrida, Jacques: Von der Gastfreundschaft, Wien 2001, S. 67. Nach traditioneller Ansicht ist der Fremde qua Geburt fremd: „[…] Ob man ihm die Staatsbürgerschaft nun gemäß dem Recht des Bodens oder dem des Blutes verleiht oder verweigert, der Fremde ist fremd durch seine Geburt, er ist gebürtiger Fremder“ (ebd.). 43 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 576.

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als Verdinglichung der politischen Kultur des partikularen Staates 44 den Anknüpfungspunkt für den individuellen Zugehörigkeitswunsch. Nur wenn das Recht und nicht unvermittelt die Menschen herrschen, wird verhindert, dass eine Gruppe von Menschen in willkürlicher Selbstbestimmung andere exkludiert. 45 Heimat ist dabei allerdings mehr als die bloß formale Aufnahme in eine als demokratischer Rechtstaat konstituierte Gemeinschaft. Sie trägt eine individuelle Komponente, die Arendt dadurch ausdrückt, dass sie Heimat als einen Platz in der Welt definiert, den man sich geschaffen hat und der einem Stand wie Raum gibt. Diese Formel eröffnet eine vom Subjekt abhängige Dimension, die dem allgemeinen Recht auf Heimatfindung nachgelagert ist, die man als die eigentliche Heimatschaffung bezeichnen könnte. Das Recht setzt hierfür notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen, indem es mit dem Recht, Rechte zu haben, Zugang und hierüber Gleichheit und politische Freiheitsrechte normiert. So kann sich der Neuankömmling im öffentlichen Raum mit seiner Meinung exponieren und um Anerkennung und Zustimmung werben. In seiner Wirkungsmacht im politischen Raum bleibt er jedoch abhängig von der Reaktion anderer Akteure. Dabei geht es nicht um eine kollektive Entscheidung über die Zugehörigkeit einzelner Personen zum politischen Verband, wohl aber um den Einfluss, den Einzelne auf die gemeinsame Welt haben. Das von Arendt postulierte Recht, Rechte zu haben, tendiert zu einem Anspruch auf Zugehörigkeit zu einer individuell ausgewählten politischen Gemein44 Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1992, S. 659. 45 Diese Forderung Arendts geht über jenes dem Menschen auf Grund seines Status als Weltbürger zukommende von Kant postulierte Besuchsrecht hinaus. Letzteres solle dem Menschen lediglich garantieren, sich „zur Gesellschaft anzubieten“ (Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden, In: Ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1 ( = Werkausgabe Bd. 11), hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1977, S. 195-253, hier: S. 214), und verlangt vom Aufnehmenden, sich gegenüber dem Fremden nicht feindlich zu verhalten und ihn dann nicht abzuweisen, wenn der Aufnahmebegehrende dadurch der Gefahr des Unterganges ausgesetzt wäre (vgl. ebd.). Statuiert wird somit jedoch ein negatives Recht, das einem atomistischen Menschenbild verhaftet bleibt; vgl. Loick, Daniel: Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts, Berlin 2017, S. 303. Das von Kant ebenfalls formulierte Gastrecht stellt sich hingegen als Privileg dar, das der Souverän Individuen gewähren kann, wozu er aber nicht rechtlich verpflichtet ist. Kritik der kantischen Positionen bei Benhabib, Seyla: Die Rechte der Anderen: Ausländer, Migranten, Bürger, Frankfurt a. M. 2008, S. 36 ff.

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schaft. Nur so kann garantiert werden, dass das menschliche Potential zum Politischen eine ordnungsadäquate Verwirklichung findet.46 Das Recht auf Rechte ist dementsprechend auch ein Recht auf Heimatfindung, kann allerdings die dem Subjekt überwiesene Komponente der Heimatschaffung nicht verbürgen, wobei diese zudem von der Resonanz der konkreten Gemeinschaft abhängt. Es obliegt der Verfassung – unabhängig vom kruden Volkswillen – die Aufnahme von Neuankömmlingen in eine Rechtsstruktur zu garantieren, die der „irreduziblen politischen Disposition“47 des Menschen durch Einräumung der Möglichkeit, sich handelnd und sprechend zu exponieren, Rechnung trägt. Arendts Konzept einer offenen politischen Gemeinschaft sind Kapazitätsfragen und -begrenzungen fremd, wie sie gegenwärtig die Debatten über die Ethik der Migration bestimmen. Das Politische ist für sie ein Bereich, der von anderen Lebensbereichen, wie dem Gesellschaftlichen und dem Privaten, abgesetzt zu betrachten ist.48 Das bedeutet, dass ökonomische Faktoren, die einen Einwand gegen die unbegrenzte Aufnahme von Neuankömmlingen darstellen, für sie keine Rechtfertigung zur Exklusion bieten. Die politische Gemeinschaft verpflichtet sich mit der Zubilligung des Rechts auf Rechte und auf Heimatfindung ihr allerdings zufolge nicht, den Aufnahmebegehrenden wirtschaftlich zu unterhalten und für die Sicherung seiner Lebensgrundlagen zu sorgen. Übrigens müssen das Recht auf Zugehörigkeit und Heimatfindung nicht lediglich territorial gedacht werden. Insbesondere in Bezug auf das Internet eröffnen sich neue Potenziale der Partizipation, die unabhängig von Territorialstaaten Individuen im Hinblick auf eine gemeinsame Idee miteinander handeln lassen.49 46 Die Virulenz ihres Appells bleibt dabei auch fast siebzig Jahre nach Erscheinen des Buches ungebrochen. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit der Situation von Asylsuchenden, Migranten und sans-papiers rekurrieren regelmäßig auf ihr postuliertes Recht auf Rechte; vgl. so z.B. Gündoğdu, Ayten: Rightlessness in the Age of Rights, Oxford u.a. 2015, S. 203 ff.; Colliot-Thélène, Catherine: Demokratie ohne Volk, Hamburg 2011, S. 148 f.; Benhabib, Die Rechte der Anderen, S. 206 ff. 47 Loick, Juridismus, S. 304. 48 Die arendtsche Forderung nach individueller Zugehörigkeit und damit einhergehenden Möglichkeiten, gemeinschaftsimmanent für Systemveränderungen einzutreten, hat gerade in Zeiten eines wiedererstarkenden national gefärbten Populismus nichts an Aktualität eingebüßt, vielmehr bleibt sie dauernde Referenz derjenigen, die sich für eine plurale politische Gemeinschaft einsetzen; vgl. etwa Wildt: Volk, Volksgemeinschaft, AfD, S. 143 ff. und Emcke, Carolin: Gegen den Hass, Frankfurt a. M. 2016, S. 218. 49 Dabei besteht das emanzipatorische Potential des Internets darin, dass es nationale oder soziale Grenzen transzendiert und Partizipation nicht mehr von der Zugehörig-

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LITERATUR Arendt, Hannah: Denktagebuch 1950-1973, München 2002, 2. Bde. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München/Zürich 2014. Arendt, Hannah: Ich will verstehen, München/Zürich 2005. Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten, München/Zürich 2014. Arendt, Hannah: Über die Revolution, München/Zürich 2014. Arendt, Hannah: Vita Activa, München/Zürich 2015. Benhabib, Seyla: Die Rechte der Anderen: Ausländer, Migranten, Bürger, Frankfurt a. M. 2008. Buchheim, Hans: Politische „Phila“ bei Aristoteles, In: Der Staat 51 (2012), S. 581-590. Colliot-Thélène, Catherine: Demokratie ohne Volk, Hamburg 2011. Derrida, Jacques: Von der Gastfreundschaft, Wien 2001. Emcke, Carolin: Gegen den Hass, Frankfurt a. M. 2016. Gündoğdu, Ayten: Rightlessness in the Age of Rights, Oxford u. a. 2015. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1992. Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden, In: Ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1 (= Werkausgabe Bd. 11), hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1977, S. 195-253. Lagasnerie, Geoffroy: Die Kunst der Revolte, Berlin 2016. Loick, Daniel: Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts, Berlin 2017. Menke, Christoph: Zurück zu Hannah Arendt – die Flüchtlinge und die Krise der Menschenrechte, In: Merkur 806 (2016), S. 49-58. Rose, Uta-D.: Die Komplexität politischen Handelns, Waldkirch 2004. Wildt, Michael: Volk, Volksgemeinschaft, AfD, Bonn 2017. keit zu einer territorial definierten politischen Gemeinschaft abhängig macht. Menschen schließen sich im Hinblick auf einen gemeinsamen Zweck zusammen, um miteinander zu handeln. In diesem Modus realisiert sich das, was Arendt als Politik bezeichnet hat; ausführlich hierzu de Lagasnerie, Geoffroy: Die Kunst der Revolte, Berlin 2016, S. 150 ff.; auch jenseits der virtuellen Welt sei eine solche Überwindung nationalstaatlicher Grenzen denkbar: Unter dem Postulat der Solidarität könnten politische Identitäten entstehen, die sich auf eine geteilte Erfahrung und nicht alleine auf Zugehörigkeit zu einer staatlich verfassten Gemeinschaft berufen; näher Loick, Juridismus, S. 306.

„Recht auf neue Heimat“ mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingsproblematik Martina Haedrich

I. VORBEMERKUNG Mit der Aussage: „Heimat weist in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit“ hat der Bundespräsident in seiner Rede am 3. Oktober 2017, dem „Tag der deutschen Einheit“, programmatisch den Weg des Zusammenlebens der Mehrheitsgesellschaft mit den hinzugekommenen Ausländern, die sich integrieren, skizziert.1 Mit „Heimat“ ist auf diese Weise ein Doppeltes erfasst: Heimat der deutschen Bevölkerung, die in ihrem gewohnten Umfeld lebt und arbeitet und dort ihre Heimat hat, aber auch jene der Ausländer, die ihre alte Heimat zurückgelassen haben und eine neue Heimat finden. Im alltäglichen Sprachgebrauch ist für Heimat der Plural unüblich. Doch schaut man auf die Menschen, die sich zur Ausübung ihrer Tätigkeit in anderen Ländern oder auf einem anderen Kontinent bewegen und Wohnung und Familie für die Zeit des Arbeitens verlassen, stellt sich die Frage, ob die verschiedenen Lebenswelten auch als Heimaten begriffen werden können. Wenn Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, einen neuen Wohnsitz annehmen und sich in ihre neue Umgebung integrieren, bedeutet das, eine neue Heimat zu suchen und zu finden. So existieren für Flüchtlinge die alte Heimat im Herkunftsland und die neue Heimat im Aufnahmeland durchaus nebeneinander und nicht alternativ. Damit können zwei oder mehrere Heimaten Teil der Lebenswirklichkeit sein und erfordern entsprechende gesellschaftliche, politische und auch 1

www.bundespraesident.de/SharedDocs/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Rede/2017/10/ 171003-TdDE-Reden (12.08.2018).

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rechtliche Einordnungen, die Ausgestaltung eines Rechts auf neue Heimat eingeschlossen. Dass das Thema Heimat nicht den Nationalisten überlassen werden darf – ein weiterer Aspekt in der Rede des Bundespräsidenten – hat die Wissenschaft längst erkannt.2 Ein Recht auf Heimat ist bis heute politisch und rechtlich umstritten, weil es mit dem Anspruch auf Rückkehr zu zwangsweise verlassenen Orten verbunden sein kann, die auf nunmehr fremdem Staatsgebiet liegen. Das Recht auf eine neue Heimat verfolgt ein anderes Anliegen. Hier geht es um vorwärtsgewandte Rechte und Pflichten, die sich in Flüchtlingsschutz und in Rechte und Pflichten zur Integration bündeln und zu einem Menschenrecht ausformen. Dabei erstreckt sich eine neue Heimat nicht allein auf den Raum im materiellen Sinne. Ordnungskategorien wie Volk, Bevölkerung oder Territorium werden durch neue Kategorien, wie Migrationsgesellschaft und Zugehörigkeit, ergänzt. So ist ein Recht auf neue Heimat mehr als eine Chiffre; es ist ein Recht in statu nascendi, in dem Rechte, wie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte, aber auch das Recht auf Freizügigkeit, Integration, Aufenthalt und Niederlassung zusammengeführt und als Schutz- und Gestaltungsinstrumente fruchtbar gemacht werden können.

II. ZIELSTELLUNG EINES RECHTS AUF NEUE HEIMAT Die Zahl der Flüchtlinge und Migranten hat sich durch Krieg, Bürgerkrieg und Terror dramatisch vervielfacht und stellt die Welt und Europa vor große Heraus-

2

Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Provenienz widmen sich dem Thema Heimat. Beispiele: Bernhard Schlink bearbeitet den Begriff Heimat ideengeschichtlich und bringt ihn mit seinem begrifflichen Pendant Exil in Verbindung: Schlink, Bernhard: Heimat als Utopie, Frankfurt a. M. 2000. Andreas Schumann untersucht in seiner Schrift Heimat denken: regionales Bewusstsein in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1815 und 1915, Wien/Köln/Weimar 2002, wie Heimat „gedacht“ wird, wie sich Vorstellungen zur Heimat im deutschsprachigen Raum niederschlagen und eine Sprachvermischung stattfindet. Edoardo Costadura und Klaus Ries (Hrsg.) präsentieren in ihrem Buch Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016 einen Diskurs von Geschichts-, Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaftlern zum Thema Heimat von der Antike bis zur Gegenwart.

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forderungen3. Heute geht es insbesondere darum, wie den Millionen Flüchtlingen, die seitdem angekommen sind, humane Lebensbedingungen und vor allem eine Perspektive geboten werden können. Für Juristen stellt sich aktuell die Frage, mit welchen rechtlichen Instrumenten und Konzepten Voraussetzungen geschaffen werden können, den Flüchtlingen und Migranten, die eine Bleibeperspektive haben, eine neue Heimat zu geben, mithin ein Recht auf neue Heimat zu gewähren. Ein solches Recht zielt auf • • •

die Stärkung wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Rechte, aber auch auf politische Teilhabe der Migranten, die Förderung der Integration von Migranten in die Gesellschaft, resp. in ein bestimmtes Gemeinwesen, die Etablierung und rechtliche Ausformung einer Zivilbürgerschaft und die Annäherung des Status der Zivilbürgerschaft an den Status der Staatsbürgerschaft.

Damit geht es nicht um die Frage nach einem Recht auf Heimat im traditionellen Verständnis, als Recht auf einen angestammten Ort4, sondern um ein Recht auf Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen im allgemeinen Sinne. Es ist danach zu fragen, wie Recht und Rechtswissenschaft einen Beitrag leisten können, um mit einem Recht auf neue Heimat Integration und Beheimatung des Flüchtlings oder 3

Weltweit befinden sich 65,6 Millionen Menschen auf der Flucht. Diese Zahl ist dem Bericht Global Trends 2017 des UNHCR entnommen, http://www.unhcr.org/5943e8a. pdf#zoom=95 (12.08.2018). Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf Flüchtlinge in Europa. Innerhalb der Europäischen Union wurden im Jahr 2016 1.259.955 Erstanträge auf Asyl gestellt (Eurostat Stand 21.07.2017, Asylum and first time applicants by citizenship, age and sex Annual aggregated data (rounded)). Zum Terminus Migration und zur ausländer- und asylrechtlichen sowie aufenthaltsrechtlichen und staatsangehörigkeitsrechtlichen Dimension der Migration siehe grundlegend die Habilitationsschriften von Thym, Daniel: Migrationsverwaltungsrecht, Tübingen 2010 und Bast, Jürgen: Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, Tübingen 2011.

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Vgl. Tomuschat, Christian: Das Recht auf Heimat, neue rechtliche Aspekte, In: Jekewitz, Jürgen u.a. (Hrsg.): Des Menschen Recht zwischen Freiheit und Verantwortung. Festschrift für Karl Josef Partsch, Berlin 1989, S. 183 ff.; Haedrich, Martina: „Heimat denken“ im Völkerrecht. Zu einem Recht auf Heimat im Völkerrecht, In: Costadura, Edoardo/Ries, Klaus (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, S. 51 ff.

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Migranten5 in die Gesellschaft zu befördern. Mit dem Verweis auf die Zielstellung eines Rechts auf neue Heimat, Integration und Beheimatung zu einem Gemeinwesen zu befördern und eine Zivilbürgerschaft zu etablieren, wird klar, dass es sich nicht um ein eigenständiges neues Recht, sondern vielmehr um einen Rechtsrahmen handelt, in den verschiedene Rechte einfließen; es ist ein Recht im Entstehen.

III. BESUCHSRECHT UND GASTRECHT IM KANTSCHEN SINNE Zur rechtsphilosophischen Grundlegung kann auf Immanuel Kant und seine Aussagen zu einem Besuchsrecht und einem Gastrecht verwiesen werden. In seinem Werk „Zum ewigen Frieden“ aus dem Jahr 1795 hat Kant konkrete Forderungen aufgestellt, die dem Menschen aus seiner Natur heraus zuzugestehen sind. Er konzipiert im Dritten Definitivartikel ein Weltbürgerrecht, das auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität erstreckt werden soll und damit ein Besuchsrecht überall auf der Erde darstellt.6 Danach genießt der Fremde dann das Recht, sich in einem anderen Staat aufzuhalten, wenn er in dem aufnehmenden Staat Schutz sucht. Der aufnehmende Staat hat die Pflicht, dem Fremden, so Kant, „nicht feindlich“ zu begegnen, solange er „sich friedlich“ verhält.7 Nicht mehr und nicht weniger. Diese Verpflichtung finden wir heute im Rechtsgrundsatz des Non Refoulement, des Zurückweisungsverbots, das in Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahr 1951 verankert ist und inzwischen als 5

Die International Organization of Migration (IOM) definiert Flüchtlinge und Migranten in einem engen Bezug zueinander. Gefasst werden darunter Flüchtlinge, Vertriebene, Wirtschaftsmigranten und Personen, die aus anderen Gründen, einschließlich der Familienzusammenführung, betroffen sind. Als Flüchtlinge werden politisch Verfolgte und Geflüchtete aus Kriegs-und Bürgerkriegssituationen erfasst. Migration wird als Bewegung einer Person oder einer Gruppe von Personen, entweder über eine internationale Grenze hinweg oder innerhalb eines Staates, begriffen, die sich über Staatsgrenzen hinweg und innerhalb eines Staates von ihrem üblichen Wohnort entfernt oder entfernt hat.

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Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (Werke in zwölf Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. XI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik I), Frankfurt a. M. 1977, S. 213 ff., S. 230.

7

Ebd.

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Völkergewohnheitsrecht gilt. Es erstreckt sich heute nicht nur auf den Flüchtlingsschutz bei politischer Verfolgung, wie es die Genfer Flüchtlingskonvention vorsieht, sondern auch auf Verfolgungen wegen Kriegs-und Bürgerkriegssituationen. Ob auch Umwelt-und Naturkatastrophen als Verfolgungssituationen anzuerkennen sind, ist noch immer umstritten, obgleich derartige Katastrophen unbewohnbares Land oder untergegangenes Land hervorbringen, die eine Neuansiedlung geradezu unabdingbar machen. Sind Staaten, zum Beispiel Inselstaaten, untergegangen oder unbewohnbar geworden, stellt sich also auch hier die Frage nach einem Recht auf neue Heimat für Umweltflüchtlinge. Dazu bietet jedoch die Genfer Flüchtlingskonvention, die auf politisch Verfolgte abstellt, keine Rechtsgrundlage.8 Auch Kriegs- und Bürgerkriegssituationen schließen Umweltkatastrophen nicht ein.9 Ein über das Besuchsrecht, d. h. über die allgemeine Hospitalität hinausgehendes Recht, sich in einem anderen Staat niederzulassen, von Kant als Gastrecht bezeichnet, kann der Fremde nicht beanspruchen, es steht ihm erst nach einer Entscheidung des Staates zu.10 Deutlich wird Kant in der „Metaphysik der Sitten“, in der es heißt: „Der Landesherr hat das Recht der Begünstigung der Einwanderung und Ansiedlung Fremder.“11 Damit hat schon Kant zwischen einem aus humanitären Gründen zwingend bestehenden Schutzrecht und dem Aufenthaltsrecht, das der Staat gewähren kann, unterschieden. An die Ideen Kants, der Schaffung eines Besuchsrechts oder Gastrechts, knüpft Hannah Arendt an. In ihrem Essay „We Refugees“ aus dem Jahr 1943 fordert sie ein Besuchsrecht im Kantschen Sinne für Flüchtlinge, die sie als Avantgarde ihrer Völker betrachtet. Sie beklagt, dass die Flüchtlinge, hier die 8

Vgl. UNHCR (Hrsg.): The State of the Worldʼs Refugees. In Search of Solidarity, Oxford 2012, S. 170.

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Sowohl der UNHCR als auch die IOM bemühen sich um Definitionen, die der Schutzgewährung aus dem Bestand der Menschenrechte dienen sollen. Als „Environmental Migrants“ werden von der IOM Personen und Personengruppen definiert, die durch Umweltveränderungen derart nachteilige Existenzverhältnisse vorfinden, die zu einem vorübergehenden oder dauerhaften Verlassen ihres Wohnortes oder Heimatstaates zwingen. IOM: Migration, Environment and Climate Change: Assessing the Evidence, Geneva 2009, 19. Bisher bietet das Völkerrecht Klima- oder Katastrophenflüchtlingen keinen Schutz. Siehe Kälin, Walter: Klimaflüchtlinge und Katastrophenvertriebene, In: Vereinte Nationen 5 (2017), S. 207 ff.

10 Vgl. Kant: Zum ewigen Frieden, S. 213 ff., S. 229. 11 Ders.: Die Metaphysik der Sitten (Werke in zwölf Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VIII), Frankfurt a. M. 1977, hier S. 309 ff., S. 325.

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jüdischen Emigranten in den USA und Kanada, sie selbst eingeschlossen, zu Staatenlosen und Heimatlosen geworden sind und damit entrechtet wurden.12 Das Völkerrecht jener Zeit stellte keine Schutzrechte zur Verfügung. Es gab keine Regelungen, die gegen Staatenlosigkeit gerichtet waren.13 Weitergeführt werden die Gedanken zur Stellung des Flüchtlings in der von ihr ein Jahr später, 1944, verfassten umfangreichen Schrift „Zionism Reconsidered“, die das Modell des Nationalstaates kritisch betrachtet. 14 Sie stellt fest, dass Nationalstaaten weder dem Sturm der Nationalisten gewachsen waren, noch das Flüchtlingsproblem beherrschten, sodass es sich nach ihrer Auffassung verbot, einen Nationalstaat in Palästina zu gründen, mithin das Staatsmodell des Nationalstaates zu übernehmen. Die Idee, alle Menschen mit gleichen Rechten auszustatten, werde, so Arendt, durch die Idee der Zionisten konterkariert, indem nur Juden, nicht aber arabische Palästinenser, zu Bürgern ihres Staates gemacht wurden. Erst 1952 erhielten die arabischen Palästinenser durch Gesetz israelische Staatsbürgerschaft. Mit ihrer Kritik ging es Hannah Arendt nicht darum, den Juden ein Recht auf neue Heimat in einem Staat Israel abzusprechen, sondern für alle Flüchtlinge in Israel Voraussetzungen zur gleichberechtigten Aufnahme in die Gesellschaft zu schaffen. Als Alternative zum Nationalstaat schlug sie eine palästinensisch-arabische Föderation vor.15 Heute beobachten wir eine Entwicklung vom traditionellen Nationalstaatsverständnis hin zu einem republikanischen Staatsverständnis. Mehr und mehr gewinnen Transformationsprozesse über die Grenzen des Staates an Bedeutung. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union lassen sich mit ihrer Aufnahme in diese Gemeinschaft auf den Prozess der Überwindung der traditionellen Nationalstaatsidee ein und nutzen den Raum für die auf der Ebene der Europäischen Union für die Entwicklung einer überstaatlichen autonom wirkenden Rechtsund Verfassungsordnung.16 Dies geschieht allerdings, ohne sich vom Status des 12 Vgl. Arendt, Hannah: We Refugees, In: Dies.: Zur Zeit. Politische Essays, Berlin 1986, S. 7-21, hier S. 7 ff., 17. 13 Erst im Jahr 1954 wurde ein Übereinkommen über die Rechtstellung der Staatenlosen geschlossen, das diesen Personen ähnliche Rechte, wie den Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention einräumt. 1961 folgte das Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit. 14 Vgl. Arendt, Hannah: Zionism Reconsidered, In: Selzer, Michael (Hrsg.): The Rejection of Jewish Normalcy, New York 1979, S. 205-237, hier S. 213 ff. 15 Ebd., Fn. 14, S. 233. 16 Vgl. Buergenthal, Thomas/Thürer, Daniel (Hrsg.): Menschenrechte. Ideale, Instrumente, Institutionen, Zürich/St. Gallen/Baden-Baden 2009, S. 358.

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Nationalstaats zu verabschieden. Die Europäische Union ist zu einem transnationalen Gebilde geworden, in denen sich innerstaatliche, supranationale und völkerrechtliche Rechtsgrundsätze und Regelungen zusammenfinden. 17 Die Staaten öffnen sich mehr und mehr und die Gesellschaften werden pluralistischer. Jürgen Bast spricht, bezogen auf die Europäische Union, von einer „Entkopplung von Hoheitsgewalt und Staatgebiet“.18 Diese hat auch Auswirkungen auf Zugehörigkeit und Staatsbürgerschaft. Migranten haben, auch ohne die Staatsbürgerschaft des Aufenthaltsstaats zu besitzen, vergleichbare Rechte, wie Teilhabe an der Daseinsvorsorge, am Arbeitsmarkt und am Bildungssystem, aus der sich wiederum Rechte der gewerkschaftlichen Mitwirkung oder dessozialen Engagements ergeben. Doch ist noch immer zu konstatieren, dass Rechte der politischen Willensbildung ausgenommen sind, die grundsätzlich nur Staatsbürgern zustehen.

IV. RECHTSGRUNDLAGEN FÜR EIN RECHT AUF NEUE HEIMAT Rechtsnormen, die in ein Recht auf neue Heimat einfließen, sind vor allem solche aus der Genfer Flüchtlingskonvention, den Menschenrechtskonventionen des universellen Völkerrechts, so aus der Konvention über bürgerliche und politische Rechte und der Konvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der europäischen Grundrechtecharta. Doch auch aus den Verträgen der Europäischen Union abgeleitetes Recht, sogenanntes Sekundärrecht, ist relevant. Schließlich sind das Grundgesetz sowie das Aufenthaltsrecht heranzuziehen.

17 Vgl. ebd., S. 268. Rainer Wahl weist darauf hin, dass dabei „Nation und Nationalbewußtsein … nicht aufgehört (haben), eine bedeutende, aber eben nicht mehr eine ausschließliche Rolle zu spielen.“ Vgl. Wahl, Rainer: Der einzelne in der Welt jenseits des Staates, In: Der Staat 40 (2001), S. 45-72, hier S. 45, 57. 18 Vgl. Bast, Jürgen: Völker- und unionsrechtliche Anstöße zur Entteritorialisierung des Rechts, In: VVDStRL Bd. 76, Berlin/Boston 2017, S. 277 ff., 279.

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V. DAS VERHÄLTNIS VON FLÜCHTLINGSRECHTEN ZU STAATSBÜRGERRECHTEN Keine andere Konvention stellt einen so engen Zusammenhang zwischen Rechten der Flüchtlinge und Rechten der Staatsbürger her wie die Genfer Flüchtlingskonvention und bietet Anknüpfungen für eine Gleichstellung der Flüchtlinge mit Staatsbürgern. Flüchtlinge nehmen nach der Konvention die Stellung von Begünstigten ein, einmal im Verhältnis zu den Staatsangehörigen des Zufluchtsstaates und zum anderen im Verhältnis zu Staatsangehörigen eines fremden Staates im Zufluchtsstaat.19 Diese Rechte umfassen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die auch auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zielen. Bezogen auf diese Rechte ist eine Gleichstellung von Flüchtlingen und Staatsbürgern in der Genfer Flüchtlingskonvention bei bestimmten Rechten bereits angelegt. Die Regelung zur Religion in Art. 4 gesteht Flüchtlingen zwar nicht direkt Religionsfreiheit zu, doch verpflichten sich die Vertragsstaaten, Flüchtlingen bei der Freiheit der Religionsausübung und des Religionsunterrichts „mindestens ebenso günstige Behandlung wie ihren eigenen Staatsangehörigen zu gewähren“. Justizielle Rechte werden den Flüchtlingen grundsätzlich in gleichem Maße wie Staatsangehörigen des Zufluchtsstaates gewährt (Art. 16). Hinsichtlich des geistigen und gewerblichen Eigentums haben Flüchtlinge ebenfalls die gleichen Rechte wie die eigenen Staatsangehörigen (Art. 14). Nach Art. 17 Abs. 3 wird die rechtliche Gleichstellung der Flüchtlinge mit eigenen Staatsangehörigen in Bezug auf die Ausübung eines bezahlten Berufes „wohlwollend in Erwägung gezogen“. Auch hinsichtlich öffentlicher Unterstützungen und Hilfeleistungen kommen den Flüchtlingen gleiche Rechte wie eigenen Staatsangehörigen zu und arbeitsrechtliche Gratifikationen, Ausbildung, Arbeit von Frauen und Jugendlichen unterliegen gleichen Regeln (Art. 24 Abs. 1a). Bei dieser Art von Gleichbehandlung kann von einer Pflicht der Staaten zur Meistbegünstigung gesprochen werden.20 So, wie die Meistbegünstigung unter Staaten darauf zielt, einen Staat oder mehrere Staaten gegenüber anderen zu privilegieren, zielt die Meistbegünstigung hier auf eine Gewährung von Vorteilen und Vergünstigungen, die auch eigenen Staatsbürgern gewährt werden. 19 Vgl. Haedrich, Martina: Völkerrechtliche und europarechtliche Grundlagen des Menschenrechtsschutzes für Flüchtlinge, In: Oppelland, Torsten (Hrsg.): Das Recht auf Asyl im Spannungsfeld von Menschenrechtsschutz und Migrationsdynamik, Berlin 2017, S. 49-73, hier S. 49 ff. 20 Vgl. Peters, Anne: Jenseits der Menschenrechte. Die Rechtsstellung des Individuums im Völkerrecht, Tübingen 2014, S. 401.

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Bedeutsam im Hinblick auf die aktuelle Flüchtlingsdiskussion ist auch die weitreichende Einräumung der Freizügigkeit für Flüchtlinge. Danach ist Flüchtlingen das Recht, den Aufenthalt frei zu wählen, und sich frei zu bewegen, vorbehaltlich der Bestimmungen, die allgemein auf Ausländer unter gleichen Umständen Anwendung finden, eingeräumt (Art. 26 GFK). Das Vereinigungsrecht (Art. 15 GFK), das Recht zum Eigentumserwerb (Art. 13 GFK) sowie die Ausübung selbstständiger Tätigkeit (Art. 18 GFK) und freier Berufe (Art. 19 GFK) wird Flüchtlingen ebenfalls in dem Maße gewährt, wie diese Rechte Ausländern eingeräumt werden. Derartige Günstigkeitsregelungen auf dem Gebiet des Völkerrechts finden sich nur noch in dem wenig später verabschiedeten Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen aus dem Jahr 1954, das dem konzeptionellen Ansatz der Genfer Flüchtlingskonvention folgt, indem über den Status der Staatenlosen befunden wird und daraus abgeleitet diesem Rechte gewährt werden. So ist zu konstatieren, dass in der Genfer Flüchtlingskonvention die Flüchtlingsrechte unter engem Bezug zu den Rechten der Staatsbürger im Aufenthaltsstaat geregelt werden. Dies ermöglicht eine annähernde Gleichbehandlung der Flüchtlinge mit den Staatsbürgern. 1. Daueraufenthaltsrechte Eine gemeinsame menschenrechtsbasierte Asyl-und Migrationspolitik zur Verwirklichung „des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ wurde mit dem im Jahr 1997 verabschiedeten Vertrag von Amsterdam konzipiert und die verbindliche Beachtung des Völkerrechts, insbesondere der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschrieben. 1999 wurde die Schaffung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) in Tampere beschlossen und der Rat mit der Erarbeitung entsprechender Richtlinienvorschläge beauftragt, die inzwischen umfangreich verwirklicht wurden. Die Europäische Union sieht heute mit dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiären Schutz und vorübergehenden Schutz vor. Das Recht der Europäischen Union hat den völkerrechtlichen Normenbestand, insbesondere der Genfer Flüchtlingskonvention und der universellen Menschenrechtskonventionen sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention in sich aufgenommen. Er ist in das gemeinsame Asylsystem eingeflossen und gilt unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur für Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern auch für Kriegs-und Bürgerkriegsflüchtlinge als subsidiär Schutzberechtigte.

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Aus den Verträgen der Europäischen Union abgeleitet, ist vor allem die Daueraufenthaltsrichtlinie21 heranzuziehen, die im Jahr 2011 auch auf Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte, wenn sie die Voraussetzungen der Richtlinie erfüllen, erstreckt wurde.22 Nach der Daueraufenthaltsrichtlinie wird die Rechtsstellung des Daueraufenthaltsberechtigten an diejenige der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten angenähert. Die Integration wird als entscheidend für die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts betrachtet. Diese Personen genießen nicht nur temporären Schutz sondern eine dauerhafte Bleibeperspektive. Nach fünf Jahren haben sie das Recht auf Daueraufenthalt und unterliegen weitgehend der Inländergleichbehandlung. Auch bei Änderung der Situation im Herkunftsland besitzen sie damit das Recht zu bleiben und dazu zu gehören. Alle diese völkerrechtlichen und europarechtlichen Regelungen sind auch Gegenstand des innerstaatlichen deutschen Rechts und haben insbesondere Eingang in das Aufenthaltsgesetz gefunden.23 Die Erlaubnis zum Daueraufenthalt auf Grundlage der Daueraufenthaltsrichtlinie ist ein Aufenthaltstitel im Aufenthaltsgesetz (§§ 9a ff.). Danach kommt den langfristig aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine privilegierte Rechtsstellung zu, die derjenigen der Unionsbürger so nah wie möglich ist. Zu verweisen ist hier auch auf das grundlegende Anliegen für die auf Dauer im Bundesgebiet lebenden Ausländern, die Integration. § 43 Abs. 1 AufenthG sagt: „Die Integration von rechtmäßig auf Dauer im Bundesgebiet lebenden Ausländern in das wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben wird gefördert und gefordert.“24

21 Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, ABl. L 132 v. 23.01.2004. 22 Richtlinie 2011/51/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2011 zur Änderung der Richtlinie 2003/109/EG des Rates zur Erweiterung des Anwendungsbereichs auf Personen, die internationalen Schutz genießen, ABl. L 132 v. 19.05.2011. 23 Vgl. Hailbronner, Kay: Asyl- und Ausländerrecht, Stuttgart 2016, Rn 283. 24 Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30.7. 2004 i. d. F. vom 25.2. 2008, BGBl. I, 162, geänd. am 20. Juli 2017, BGBl. I, 2780.

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2. Das Diskriminierungsverbot wegen Heimat aus Art. 3 Grundgesetz Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG enthält das Verbot, niemanden wegen seiner Heimat zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Desweiteren erstreckt sich das Verbot dieser Bestimmung auf Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Herkunft, Glauben und religiöse oder politische Anschauungen. Mit der Aufnahme des Terminus Heimat in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG wurde, so ist den Dokumenten des parlamentarischen Rates aus dem Jahr 1948/1949 zu entnehmen, das Ziel verfolgt, Flüchtlinge, Zugewanderte und Vertriebene, die als „Heimatfremde“ betrachtet werden, vor Diskriminierung zu schützen. Gerichtet war die Regelung vor allem auf den Schutz der Vertriebenen deutscher Volkszugehörigkeit aus den ehemaligen Ostgebieten jenseits der Oder-NeißeGrenze, die sich in der Bundesrepublik Deutschland ansiedelten.25 Gerade dieser Ansatz, Personen zu schützen, die als „Heimatfremde“ betrachtet werden, kann den heute Zugewanderten als Schutznorm dienen und die Entstehung eines Rechts auf neue Heimat befördern. Heimat wurde in einer der ersten Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen in den 1950er Jahren nicht nur als „örtliche Herkunft nach Geburt und Ansässigkeit“26, sondern auch als Gegenbegriff der „diskriminierungsgefährdenden ‚Fremdheit‘ in anderer Umgebung“ verstanden.27 So besitzt das Diskriminierungsverbot hinsichtlich Heimat große Aktualität.28 Die Bestimmung zielt ebenso auf Gleichbehandlung der Flüchtlinge und Migranten mit den Ansässigen und berührt das höchst aktuelle Thema des Zusammenlebens in einem Gemeinwesen und des Umgangs mit Geflüchteten und Migranten in der Aufnahmegesellschaft sowie auf den Integrationswillen derjenigen, die aufgenommen werden wollen. Auf Bindungen oder Verbindungen 25 JöR n. F., Bd. 1, S. 67. Der Vorschlag eines eigenständigen Grundrechts auf Heimat, im Grundgesetz verankert, wurde zwar eingebracht (Dr. Seebohm), aber auch schnell „als unmögliche rechtspolitische Forderung“ (Dr. Heuss) zurückgewiesen. Parlamentarische Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn 1948/49, 531. 26 BVerfGE 5, 17, 22; 17, 199, 203; 23,258, 262, BVerwGE 136, 131, 256. 27 Osterloh, Lerke/Nußberger, Angelika: Art. 3: Gleichheit vor dem Gesetz, In: Sachs, Michael (Hrsg.): Grundgesetz-Kommentar, München 2014, Art. 3 Rn. 295. 28 Vgl. Michael, Lothar/Morlok, Martin: Grundrechte, Baden-Baden, 2017, Rn. 829. A. A. Uwe Kischel, der beim Begriff Heimat Migranten und Zuwanderer nicht erfasst sieht und keine praktische Bedeutung erkennt. Kischel, Uwe, In: Epping, Volker/Hillgruber, Christian (Hrsg.): Grundgesetz-Kommentar, München 2017, Rn. 209.

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zum ursprünglichen Ort der Vertreibung kommt es im rechtlichen Sinne nicht an. Entscheidend ist, ob eine an das Merkmal der Heimat anknüpfende Ungleichbehandlung zur Diskriminierung führt.29 Das Diskriminierungsverbot für Heimat zielt darauf, dass eine Person an einem neuen Ort heimisch werden kann und dabei nicht diskriminiert werden darf.30 Ganz in diesem Sinne kann die Bestimmung des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG für die Beheimatung von Migranten bedeutsam sein und für die Zukunft größere Relevanz erlangen.

VI. IDEEN UND KONZEPTE ZUR BESTIMMUNG DES LANG ANSÄSSIGEN MIGRANTEN Auf den Rechtsbildungsprozess eines Rechts auf neue Heimat wirken Ideen und Konzepte, vorwiegend aus der Sozial- und Politikwissenschaft, die für die Rechtswissenschaft nutzbar gemacht und den Rechtsrahmen eines Rechts auf neue Heimat bestimmen können. 1. Denizenship Das Konzept der Denizenship wurde von dem schwedischen Migrationsforscher Tomas Hammar aus der Stellung des Denizen im feudalen England abgeleitet und für den Status des lang ansässigen Migranten entwickelt. Hammar sieht darin einen Zwischenstatus zum Status der Staatsbürgerschaft, der wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie Aufenthaltsrechte umfasst.31 Der österreichische Migrationsforscher Rainer Bauböck hat diese Idee weitergeführt und den Begriff der enhanced denizenship geprägt. Er sieht darin einen Status, der weitgehend dem Status der Staatsbürgerschaft entspricht. Verwiesen wird dabei darauf, dass Denizens den Staatsbürgern vor allem hinsichtlich der Rechte aus Rechtsschutz, sozialem Schutz und sozialen Dienstleistungen sowie Bildung gleich sind.32 Bauböck führt aber auch zahlreiche Beispiele an, bei denen Staaten 29 BVerfGE 92, 94. 30 Siehe näher Guckelberger, Annette: Recht auf Heimat im Grundgesetz, In: Wittinger, Michaela/Wend, Rudolf/Ress, Georg (Hrsg.): Verfassung-Völkerrechts-Kulturgüterschutz. Festschrift für Wilfried Fiedler, Berlin 2011, S. 122 ff. 31 Vgl. Hammar, Tobias: Democracy and the Nation State. Aliens, denizens and citizens in a world of international immigration, Avebury 1990, S. 40. 32 Vgl. Bauböck, Rainer: Citizenship and national identities in the Europe Union, Adlershot 1994.

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der wachsenden Bevölkerungsgruppe von Nichtstaatsangehörigen mehr Rechte zugestehen, so auch Wahlrechte gewähren 33 und damit politische Teilhaberechte einräumen, die sonst nur Staatsbürgern zustehen. Der Rechtswissenschaftler Jürgen Bast betrachtet Denizenship als rechtliche Form der Inklusion in eine Einwanderungsgesellschaft.34 Sicher vermag das Konzept der Denizenship der Zugehörigkeit des Migranten in ein Gemeinwesen Konturen zu geben. Insoweit lassen sich im Aufenthaltsrecht Merkmale einer Denizenship finden, doch ist nirgends erkennbar, dass dieser Status in eine rechtliche Form gekleidet ist. 2. Postnational membership Eng an die Denizenship geknüpft, sieht die Soziologin Yasemin Soysal eine postnational membership mit Blick auf die Europäische Union in der Entstehung und gründet diese auf neue „multi level polities“.35 Sie betrachtet, und das ist das Wesentliche ihres postnationalen Modells, die Rechte des Migranten losgelöst von einem spezifischen Territorium – dem Nationalstaat mit seinen Grenzen. Danach verliert die nationale Zugehörigkeit mehr und mehr an Bedeutung, wie auch der Nationalstaat an Relevanz verliert. 36 3. Ius nexi Ein ius nexi, ein Recht auf Bindungen, schlägt die Politikwissenschaftlerin Ayelet Shachar vor, das ebenfalls geeignet sein kann, eine Annäherung der Rechte der Migranten an die Rechte der Staatsangehörigen zu vollziehen. Sie spricht 33 Neuseeland gewährt mindestens nach einem Jahr und Chile nach mindestens fünf Jahren Aufenthalt das allgemeine Wahlrecht. Vgl. Bauböck, Rainer: Migration und politische Beteiligung. Wahlrecht jenseits von Staatsgebiet und Staatsangehörigkeit, In: Oberlechner, Manfred (Hrsg.): Die missglückte Integration? Wege und Irrwege in Europa, Wien 2006, S. 115-129, hier: S. 121. wahlkreis100.d/downloads/Info_Pdf/ Baubock-Mig-pol-Beteiligung.pdf (04.10.2018). 34 So der gleichnamige Titel des Beitrages von Jürgen Bast in: ZAR 10 (2013),353 ff., 353. 35 Soysal, Yasemin: Staatsbürgerschft, Postnationale Mitgliedschaft und Nationalstaat in Europa, In: Berliner Journal für Soziologie 6 (1996), S. 181-189, hier S. 181 ff., 182; Dies.: Limits of Citizenship. Migrants and Postnational Membership in Europe, Chicago 1994. 36 Vgl. ebd., S. 185.

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hinsichtlich der Staatsbürgerschaft vom Zufall der Geburt und strebt an, dass bestimmte Aktivitäten der Migranten, die Bindungen an ein Gemeinwesen ausdrücken, als Rechte auszugestalten sind. Für sie ist nicht die Staatsangehörigkeit sondern das Interagieren der Migranten in der Gesellschaft für die Einräumung von Rechten entscheidend.37 4. Stakeholder citizenship Rainer Bauböck hat bestehende Konzepte, insbesondere das der Denizenship, zu einem Konzept der stakeholder citizenship ausgeformt. In einem stakeholder sieht er eine Person, die nicht einem Gesetz unterworfen ist, ohne darauf Einfluss nehmen zu können, sondern die die tatsächliche Bindung zu einem Staat besitzt. Diese Personen sind aktiv am Gedeihen des Gemeinwesens, in dem sie leben, beteiligt.38 Verwiesen wird dabei auch auf das Kriterium der tatsächlichen Bindungen (genuine link) im Nottebohm-Urteil des Internationalen Gerichtshofs aus dem Jahr 1955.39 Gemeint ist hier die tatsächliche Verbindung und Verbundenheit des Einzelnen zu seinem Staat. Zwar fragt der Gerichtshof konkret nach der effektiven Staatsangehörigkeit, aber dabei werden die das Naheverhältnis begründenden Elemente ständiger Aufenthalt, Teilnahme am öffentlichen Leben und Bindungen, die nicht nur auf einen Staat, sondern auch auf ein Gebiet oder einen Ort bzw. auf eine Gemeinschaft bezogen sein können, herangezogen. Ebendiese Elemente sind auch für die Zugehörigkeit von Migranten relevant und können auf den Prozess der Beheimatung Anwendung finden.40 Um den Status des Migranten im Verhältnis zum Staatsbürger zu stärken, schlägt Rainer Bauböck eine Entkoppelung von politischen Teilhaberechten und Staatsbürgerrechten in Migrationsgesellschaften vor.41 Bestimmungen aus der Konvention über bürgerliche und politische Rechte, die jedem Menschen Rechte 37 Shachar, Ayelet: The Birthright Lottery. Citizenship and Global Unequality, Cambridge 2009, S. 164 ff. 38 Vgl. Bauböck, Rainer: Stakeholder Citizenship. An Idea Whose Time Has Come?, Washington 2008, S. 11. 39 Vgl. Nottebohm Case, Liechtenstein v. Guatemala, vom 6. April 1955, ICJ Reports 1955, 4/23. 40 Vgl. Haedrich, „Heimat denken“, S. 53 ff., S. 55. 41 Vgl. Bauböck, Rainer: The Changing boundaries of citizenship. The inclusion of immigrants in democratic polities, In: Martionello, Marco/Rath, Jan (Hrsg.): Selected Studies in International Migration and Immigrant Incorporation, Amsterdam 2010, S. 275-331, hier S. 275 ff., S. 277.

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verleihen und damit nicht exklusiv für Staatsangehörige gelten, wie Art. 18, das Recht auf Gedankenfreiheit, Art. 19, das Recht auf Informations- und Meinungsfreiheit und Art. 22, das Recht auf Vereinigungsfreiheit, erfassen auch Migranten. Dem Gedanken einer Entkoppelung kommt die Idee einer Entbündelung des Bürgerstatus von Christian Walter aus primär völkerrechtlicher Sicht nahe, die ebenfalls universelle Menschenrechte und die aktuelle Menschenrechtsentwicklung in den Blick nimmt. 42 Dabei sieht er nicht nur die politischen Mitwirkungsrechte, mit Ausnahme des Wahlrechts, betroffen, sondern auch die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit, die Unterstützung durch die Solidargemeinschaft und vor allem das Aufenthaltsrecht.43 5. Zivilbürgerschaft Um eine Öffnung zu mehr Rechten für Migranten in der Europäischen Union zu erreichen, brachte die EU-Kommission das Konzept der Zivilbürgerschaft – der Civic Citizenship – für langfristig Aufenthaltsberechtigte ein.44 Die Zivilbürgerschaft soll durch Anknüpfung an die Grundrechtecharta den Drittstaatsangehörigen einen Grundbestand an gemeinsamen Rechten und Pflichten ermöglichen, die wiederum Gewähr für ihre gesellschaftliche Integration bieten oder einen ersten Schritt zur Einbürgerung darstellen.45 Doch ist dieses Konzept nicht bei allen Mitgliedstaaten auf Zustimmung gestoßen. Auch der Bundesrat in Deutschland ist der EU-Kommission nicht gefolgt und hat dies damit begründet, dass Zivilbürgerschaft als Staatsangehörigkeit zweiter Klasse zu sehen ist und nicht erkennbar ist, inwieweit Partizipation durch Zivilbürgerschaft gefördert oder vielleicht verhindert wird. Erst mit der Staatsbürgerschaft, so die Auffassung des Bundesrats, wird die Teilnahme am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben möglich, sodass Einbürgerung das Ziel sein soll.46 Verkannt wird hier, dass es gerade um lang ansässige Migranten geht, die Interesse an der Mitwirkung in einem Gemeinwesen und das Bedürfnis der Zugehö-

42 Vgl. Walter, Christian: Der Bürgerstatus im Lichte von Migration und europäischer Integration, In: VVDStRL Bd. 72, Berlin/Boston 2013, S. 7-44, hier S. 7 ff., 18 ff. 43 Vgl. ebd. 44 Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament über eine Migrationspolitik der Gemeinschaft, Brüssel den 22.11.2000, KOM (2000) 757 endg. 45 Ebd., S. 19. 46 Beschluss des Bundesrates vom 17.10.2003, Drs. 439/03, Ziffn. 12 und 13.

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rigkeit haben und nicht unbedingt oder noch nicht die Staatsbürgerschaft des Aufenthaltsstaates erwerben wollen.47 Umso mehr ist auf die schon erwähnten Daueraufenthaltsrechte durch europäisches Sekundärrecht zu verweisen, das zahlreiche Rechte zur Mitwirkung und Beteiligung zum Gegenstand hat. Diese Rechte für langfristig aufenthaltsberechtigte Personen besitzen Migranten im Übrigen auch bei Änderung der Situation im Herkunftsland, so beispielsweise, wenn kein Kriegs- oder Bürgerkriegszustand mehr besteht. Auch von daher wird auf die langfristige Ausrichtung dieser Rechte abzustellen sein, die schließlich in ein auch auf Langfristigkeit orientiertes Recht auf neue Heimat einfließen können. Zivilbürgerschaft soll den Migranten, so die Idee, nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer verliehen und damit der Unionsbürgerschaft, die jeder Staatsbürger eines Mitgliedstaates der Europäischen Union besitzt, angenähert werden. Unionsbürgerschaft bedeutet Freizügigkeit im gesamten Gebiet der Europäischen Union. Damit ist es ein Recht, sich an einem Ort seiner Wahl niederzulassen. Darüber hinaus besteht das Recht, an Kommunalwahlen als aktive und passive Wahlberechtigte teilzunehmen, ein Petitionsrecht wahrzunehmen und diplomatischen und konsularischen Schutz durch alle im Hoheitsgebiet eines Drittstaates durch die dort vertretenen Mitgliedstaaten zu erlangen. Eine derart konzipierte Zivilbürgerschaft ist Ausdruck einer neuen Entwicklung im Europarecht. Rechte des Einzelnen, die sich aus der traditionellen Verknüpfung von Staat und Staatsbürger ergeben und verselbstständigen, sollen jedem daueraufenthaltsberechtigten Migranten zugänglich gemacht werden, unabhängig von seiner Staatsbürgerschaft. Damit werden Rechtsverhältnisse der Zugehörigkeit nicht auf ein bestimmtes mitgliedstaatliches Hoheitsgebiet beschränkt, sie werden entterritorialisiert.48 Ein Recht auf neue Heimat ist im Zuge der Entterritorialisierung besonders geeignet, die mit der Zivilbürgerschaft verbundenen Rechte in sich aufzunehmen, die gerade nicht an einen einzelnen Staat oder an ein staatliches Territorium, d.h. an ein Hoheitsgebiet gebunden sind, sondern davon unabhängig an denjenigen Ort, Raum oder an diejenige Region geknüpft sind, in der sich der Einzelne beheimatet weiß. Es bedarf nicht zwingend der Staatsbürgerschaft und auch nicht der Rechtsform des Staates, Heimat 47 Zu den Inhalten und Grenzen der rechtlichen, politischen und kulturellen Zugehörigkeit: Thym, Daniel: Migrationsfolgenrecht, In: VVDStRL Bd. 76, Berlin/Boston 2017, S. 169 ff., 185. 48 Vgl. Schmalenbach, Kirsten: Völker- und unionsrechtliche Anstöße zur Entterritorialisierung des Rechts, In: VVDStRL Bd. 76, Boston/Berlin 2017, S. 169-216, hier S. 245 (254).

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herzustellen; auch substaatliche Regionen vermitteln Zugehörigkeit Identität, Bindung und Heimatgefühl.49 Die mit dem Aufenthaltsstatus, vor allem dem unbefristeten Aufenthaltsrecht verbundenen Rechte, wie unbeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt, grundsätzliche Inländergleichbehandlung auf dem Gebiet des Sozialrechts, weitgehender Ausweisungsschutz sowie Recht auf Familiennachzug sind weitere wichtige Elemente für ein Recht auf neue Heimat. Die Zivilbürgerschaft nähert sich dem Status der Staatsbürgerschaft in dem Maße an, wie die Staaten bereit sind, auf der Grundlage der Menschenrechte die Aufenthaltsrechte der Migranten zu verfestigen und auszuformen.

VII. SCHLUSS Das Recht auf neue Heimat führt bestehende Rechte der Migranten zusammen und ist geeignet, neue aufzunehmen; es wirkt als Amalgam im Sinne einer Zusammenführung von Rechten. Die Zivilbürgerschaft, die besonders geeignet ist, den Rahmen eines Rechts auf neue Heimat auszufüllen, sollte nicht als Gegenstück zur Staatsbürgerschaft bzw. zur Einbürgerung, wohl aber als Korrelat verstanden werden. Das Recht auf neue Heimat ist als Rechtsrahmen eines im Entstehen begriffenen Rechts eine offene Norm, die vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Staatsbürgerschaft ist ursprünglich ein Rechtsinstitut des Nationalstaates und allein auf diesen ausgerichtet. In dem Maße, wie der Nationalstaat „zu einem faktisch gebundenen Staat“50 wird und die „Entsouveränisierung“51 voranschreitet, schwindet auch die Bedeutung der Staatsbürgerschaft und gewinnen die Zugehörigkeitsrechte für Migranten an Relevanz. Es geht dabei um die rechtliche Gestaltung von Integration und Inklusion und um ein Beheimatetsein, das auf einen Mitgliedstaat oder eine Region, aber auch auf die Europäische Union als Ganze erstreckt werden kann.

49 Vgl. Knieper, Rolf: Nationale Souveränität. Versuch über Ende und Anfang einer Weltordnung, Frankfurt a. M. 1991, S. 162. 50 Kokott, Juliane: Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen der Europäisierung und Internationalisierung, In: VVDStRL Bd. 63, Berlin 2004, S. 7-40, hier S. 7 ff., 23. 51 Entsouveränisierung begriffen als Funktionswandel des Staates, nicht als dessen Untergang: ebd., S. 22.

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Durch die Offenheit eines Rechts auf neue Heimat als Rechtsrahmen wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Heimat veränderbar und auch verschieden ist. In diesem Sinne schlägt der Historiker und Migrationsforscher Klaus Jürgen Bade „eine übergreifende gemeinsame ‚Heimat‘ und zugleich unter diesem Dach liegende unterschiedliche kulturelle ‚Heimaten‘ vor.52

LITERATUR Arendt, Hannah: We Refugees, In: Dies: Zur Zeit. Politische Essays, Berlin 1986, S. 7-21. Arendt, Hannah: Zionism Reconsidered, In: Selzer, Michael (Hrsg.): The Rejection of Jewish Normalcy, New York 1979, S. 205-237. Bade, Klaus J.: Migration – Flucht – Integration. Kritische Politikbegleitung von der ‚Gastarbeiterfrage‘ bis zur ‚Flüchtlingskrise‘. Erinnerungen und Beiträge, Internetversion/Open Access, Osnabrück 2017, https://www.imis.uniosnabrueck.de/fileadmin/4_Publikationen/PDFs/Bade_Migration.pdf (16.08. 2018). Bast, Jürgen: Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, Tübingen 2011. Bast, Jürgen: Denizenship als rechtliche Form der Inklusion in eine Einwanderungsgesellschaft, In: ZAR 10 (2013), S. 353-357. Bast. Jürgen: Völker- und unionsrechtliche Anstöße zur Entteritorialisierung des Rechts, in: VVDStRL Bd. 76, Berlin/Boston 2017, S. 277-314. Bauböck, Rainer: Citizenship and national identities in the Europe Union, Adlershot 1994. Bauböck, Rainer: Migration und politische Beteiligung. Wahlrecht jenseits von Staatsgebiet und Staatsangehörigkeit, In: Oberlechner, Manfred (Hrsg.): Die missglückte Integration? Wege und Irrwege in Europa, Wien 2006, S. 115129. wahlkreis100.d/downloads/Info_Pdf/Baubock-Mig-pol-Beteiligung.pdf (4.10.2018). Bauböck, Rainer: The Changing boundaries of citizenship. The inclusion of immigrants in democratic polities, In: Martionello, Marco/Rath, Jan (Hrsg.): Selected Studies in International Migration and Immigrant Incorporation, Amsterdam 2010, S. 275-331. 52 Vgl. Bade, Klaus J.: Migration – Flucht – Integration. Kritische Politikbegleitung von der ‚Gastarbeiterfrage‘ bis zur ‚Flüchtlingskrise‘. Erinnerungen und Beiträge, Internetversion/Open Access, Osnabrück 2017, S. 612. https://www.imis.uni-osnabrueck. de/fileadmin/4_Publikationen/PDFs/Bade_Migration.pdf (16.08.2018).

„Recht auf neue Heimat“ mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingsproblematik | 311

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Making Heimat Neue Heimaten für Einwanderer in Deutschland Peter Cachola Schmal

WAS IST HEIMAT? heimat, das land oder auch nur der landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden aufenthalt hat. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 1838

Heimat ist ein deutscher Begriff, der sich nicht gut übersetzen lässt. Weder ‚home country‘ im Englischen noch ‚patria‘ im Italienischen und Spanischen umfassen die Vielfalt der Deutungen im Deutschen. Sie meinen eher das Vaterland im patriotischen Sinne. So stand ‚home country‘ oder ‚parent country‘ für das Entsendeland der Kolonialisten im Gegensatz zur neuen ‚resident country‘. ‚Home nations‘ meint heute die Herkunft der Nationalmannschaften von den Nationen, die das United Kingdom ausmachen: England, Schottland, Wales und Nord-Irland. Im Englischen existieren neben dem ‚fatherland‘, das in germanischen Sprachen üblicher ist, auch die Begriffe ‚motherland‘ oder ‚mother country‘ (‚la madre patria‘ im Spanischen). ‚Homeland‘ ist heute fest mit dem gleichnamigen Department of Homeland Security verankert und auch mit der TV-Serie Homeland, es ist aber trotzdem kein in den USA üblicher Begriff. Auch die früheren südafrikanischen ‚homelands‘, die segregierten ethnischen Gettos, vermitteln ein politisch heikles Bild. Die politische Beraterin Peggy Noonan wetterte 2002 im Wallstreet Journal gegen die Namensgebung für diesen Geheimdienst:

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„Der Name Homeland Security irritiert eine Menge Leute, verständlicherweise. Homeland ist nicht wirklich ein amerikanisches Wort, es ist nicht etwas, das wir früher benutzten oder heute benutzen. Es hat einen leicht teutonischen Beigeschmack –Ve must help ze Fuehrer protect ze Homeland! – und Republikaner müssen immer aufpassen, dass etwas auf keinen Fall teutonisch klingt.“1

„[H]eim bezeichnet das Haus, in das man gehört“, laut Deutschem Wörterbuch, und wird gern in einer Wendung benutzt, wie in ‚Haus und Heim‘. Das passt auch mit dem englischen ‚home‘ gut, wie in ‚my home is my castle‘ oder ‚home is where the heart is‘. Doch ist mit unserem ‚zuhause‘ weit mehr als nur das Haus gemeint, in dem wir wohnen. „Wohnst du noch, oder lebst du schon?“, fragt IKEA Deutschland und meint jenes ‚wohlige‘ Gefühl, das sich (eventuell auch in einem bewusst eingerichteten) Zuhause, eben daheim, einstellt. ‚Heimatlich‘ meint das, was sich mit der Kultur des früheren Ortes der Herkunft verbinden lässt, wie der heimatliche Dialekt eines Johann Wolfgang Goethe, der sein hessisches Idiom bekanntlich nie mehr verlor, obwohl er seine Heimatstadt Frankfurt nicht sehr schätzte, und nur selten dorthin zurückreiste. Diese Heimat tragen wir in uns, es mag sogar die frühere Heimat der Eltern sein, die man gar nicht persönlich, sondern nur durch die Sprache vermittelt und aus Erzählungen kennt. So drückt es der Frankfurter Rapper Azad aus, der im kurdischen Teil Irans geboren wurde, vor 40 Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland kam und in der Frankfurter Nordweststadt aufwuchs: „Mit schmerzendem Herzen und Tränen auf den Wangen Von den Problemen gezwungen zu gehen um ein neues Leben anzufangen Sonnenaufgang im Exil seit dem ersten Jahr Obwohl ich meine Heimat fast nie sah War immer klar, wo meine Wurzeln waren“2

1

Noonan, Peggy: Rudy’s Duty: ‘Homeland ain’t no American word’, In: Wallstreet Journal, 14.06.2002, http://www.wsj.com/articles/SB122418750653241949 (24.07. 2018): „The name Homeland Security grates on a lot of people, understandably. Homeland isn’t really an American word, it’s not something we used to say or say now. It has a vaguely Teutonic ring – Ve must help ze Fuehrer protect ze Homeland!-and Republicans must always be on guard against sounding Teutonic.“

2

Azad, Leben (00:22-00:34), Album: Leben, Pelham Power Productions (3p), Frankfurt a.M. 2001, https://www.youtube.com/watch?v=woef_CmIdQ4, (11.09.2018).

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ZUM AUSSTELLUNGSTITEL: VON ‚NEUE HEIMAT‘ ZU MAKING HEIMAT ‚Neue Heimat‘ ist ein altbekannter Begriff, der sich auf die gleichnamige gewerkschaftliche Wohnungsbaugesellschaft aus Hamburg bezieht, die 1954 neu formiert und von Ernst May planerisch geleitet wurde, d. h. von ebenjenem modernistischen Stadtplaner und Architekt, der 1929 seine internationalen Kollegen zum zweiten CIAM-Kongress (Congrès International d’Architecture Moderne) mit dem Thema „Die Wohnung für das Existenzminimum“ nach Frankfurt einlud. May stellte ihnen seine ambitionierten Planungen für die Siedlungen des Neuen Frankfurt vor, die er als Leiter des Planungsamtes von 1925 bis 1930 initiierte und größtenteils selbst realisierte. Insgesamt entstanden 12.000 Wohnungen in 26 neuen Siedlungen. Die Neue Heimat Hamburg knüpfte an diese frühen Erfolge an, vereinte alle gewerkschaftlichen Baugesellschaften unter ihrem Dach und baute etliche neue Großsiedlungen. Ende der 1950er Jahre verwaltete sie über 100.000 Wohnungen. Anfang der 1980er Jahre geriet die Neue Heimat wegen eines Korruptionsskandals in Verruf und ging während der 1980er Jahre in die Insolvenz. Später stand der Begriff vor allem als Synonym für nicht mehr zu akzeptierende Trabantenstädte der 1960er und 1970er Jahre, die unter dem Stichwort „Urbanität durch Dichte“ geplant worden waren.3 Daher konnte dieser eigentlich gut passende Begriff für unseren Ausstellungstitel nicht verwendet werden, obwohl viele junge Architekten nichts mehr von der „Neuen Heimat“ wissen. Der Titel Making Heimat für unsere Ausstellung trifft zudem sowohl im Deutschen als auch im Englischen unsere Intentionen besser, denn es geht um das aktive Element beim ‚Heimat-Herstellen‘, das einerseits von den Kommunen, andererseits aber auch von den Einwanderern selbst geleistet werden muss, die sich auf dem Weg zu ihrer ‚Naturalisierung‘, der Einbürgerung als neue Deutsche, den Bedingungen ihrer neuen Heimat stellen müssen. Es ist noch ein weiter Weg bis zum ‚Germany, Immigration Country‘, auch wenn der große Schritt des ‚Germany, Arrival Country‘ 2015 auf ungeahnte Weise ausgedehnt wurde. Im Zusammentreffen mit internationalen Journalisten merkten wir dann, ob sie unseren Titel verstanden oder ob wir den Begriff ‚Heimat‘ erklären mussten. Manchmal war das gar nicht nötig. Manche Journalisten haben sofort verstanden, was gemeint war. Ansonsten mussten wir für den Begriff ‚Heimat‘ erst 3

Eine Ausstellung im Architekturmuseum der TU München im Frühjahr 2019 wird die Geschichte der Neuen Heimat aufarbeiten.

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einmal ein Äquivalent finden, was natürlich auch Sinn und Zweck des ganzen Projekts war. Wir wollten den Begriff ‚Heimat‘aus der ‚rechten Ecke‘ holen und ihn neu besetzen. Wir haben uns gefragt, wie Künstler ein Format wie die Rapmusik neu besetzen und inhaltlich umfärben oder umschreiben und etwas Neues schaffen. Das Gleiche haben wir mit dem Begriff ‚Heimat‘ zu machen versucht. Ich möchte behaupten, dass uns dies im Kontext von Kunst und Kultur recht gut gelungen ist. Es gibt seither nicht nur zahlreiche Sendungen in Rundfunk und Fernsehen, Reportagen in Zeitungen, aber auch Vortragsreihen mit Titeln wie „Heimat Großstadt“4, „Heimat Offenbach“ oder „Heimat Frankfurt“, u.v.m.5 Der Begriff ‚Heimat‘ ist in den letzten anderthalb Jahren häufig verwendet wurden. Man schien die Scheu vor den Konnotationen, die mit dem Begriff Heimat einhergehen, verloren zu haben, sowie die vermeintliche Notwendigkeit, sich für den Gebrauch einer Sprache zu entschuldigen, die eigentlich zum Repertoire der Rechten zu rechnen war. Deshalb war es uns ein zentrales Anliegen, den Begriff aus der alleinigen Benutzung einer bestimmten Gruppe herauszulösen, weil es sich um einen viel zu schönen Begriff handelt, als dass man ihn nur den Rechten überlassen sollte.6

DIE ARCHITEKTURBIENNALE 2016 IN VENEDIG Für die Architekturbiennale in Venedig wird alle zwei Jahre ein offenes Verfahren um die Kuratierung des Deutschen Pavillons organisiert. Jeder kann sich bewerben. Im Juli 2015 erfolgte die Einreichung der Vorschläge für das Folgejahr, im September 2015 fand die erste Jurysitzung statt – allein nach Aktenlage. 50 Gruppen hatten sich mit einem Konzept beworben, nach Aktenlage wurden im 4

https://difu.de/veranstaltungen/2019-01-16/meine-stadt-deine-stadt-heimat-grossstadt. html (08.10.2018).

5

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung brachte 2017 eine Serie mit dem Titel „Heimat Rhein-Main“ über gelungene Integration, z.B. am 21.07.2017 über die Griechen in Rüsselsheim: Strauch, Christoph: Heimweh war gestern, http://www.faz.net/aktuell/ rhein-main/region-und-hessen/heimat-rhein-main-als-gastarbeiter-gekommen-1511 5318.html. Vgl. ebenfalls Arning, Matthias: Zurück in Bergen. Heimat Frankfurt, In: Frankfurter Rundschau, 05.07.2008 http://www.fr.de/rhein-main/heimat-frankfurtzurueck-in-bergen-a-1176569 (08.10.2018).

6

Im März 2018 wurde sogar eigens ein Bundesheimatministerium geschaffen, wodurch der Begriff derzeit eine wiederum vollkommen neue Wendung erhält und wahrscheinlich ein erneutes endlos scheinendes publizistisches Interesse entfachen wird.

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September fünf davon eingeladen, die sich dann im Oktober der Jury persönlich vorzustellen hatten. Im September 2015 spitze sich zugleich die Situation der größtenteils aus arabischen Ländern Fliehenden zu, die in Ungarn festsaßen, sich auf ihrem Weg nach Österreich befanden und weiter die deutsche Grenze zum Ziel hatten. Angela Merkel ließ die deutschen Grenzen für Geflüchtete öffnen, ohne eine effektive Grenzkontrolle. Das war die politische ‚Hintergrundmusik‘ zu dem Moment, als wir im Oktober 2015 unser Projekt für den deutschen Pavillon in Venedig vorstellten, zum Thema der Integration von Einwanderern, und zum Umgang der Politik mit ihnen. Wir erhielten daraufhin den Zuschlag. Zum historischen Hintergrund des Deutschen Pavillons: Er steht in Venedig auf einem Hügel in den Giardini, auf einem waldigen, schönen Gelände. Die Pavillons Frankreichs und Großbritanniens liegen ebenfalls auf diesem Hügel, der den Blick hinaus auf die Lagune eröffnet. Der Hügel ist künstlich aufgeschüttet. Wie sollte es in Venedig auch anders sein? Unter ihm liegt der Bauschutt des Campanile, der im Juli 1902 eingestürzt war. Diesen Ziegelsteinschutt hat man in die Giardini transportiert und daraus einen Hügel geformt. Auf diesem Hügel errichteten 1909 die Länder England, Frankreich und Bayern ihre sehr ähnlich anmutenden Pavillons in Zusammenarbeit mit örtlichen Architekten. 1912 wurde aus dem Padiglione della Baviera der Padiglione della Germania, mit eben dieser Inschrift: „Germania“. 1938 befand Hitler den Deutschen Pavillon wegen der Gleichförmigkeit der drei Pavillons als zu wenig imposant und ordnete einen Neubau an.7 1938 wurde der bisherige Pavillon abgerissen und der Münchener Architekt Ernst Haiger baute an gleicher Stelle einen neuen – und zwar doppelt so hoch wie die der beiden europäischen Nachbarn! „Das neue deutsche Kunstausstellungsgebäude in Venedig stellt [...] eine eindrucksvolle, vornehme und würdige Repräsentation des Dritten Reiches dar“, hieß es im November desselben Jahres im Zentralblatt der Bauverwaltung.8 Seit dem Krieg setzen sich nun regelmäßig alle Kuratoren der Architektur-, wie auch der Kunstbiennale, mit diesem deutschen ‚Nazitempel‘ auseinander, eine durchaus produktive und viel Reibung erzeugende künstlerische Arbeit. Ich möchte hinzufügen, dass der Deutsche Pavil7

Vgl. Lorenz, Hildegard: Dabei sein ist alles. 100 Jahre – Geschichte eines Bauwerks, In: Merkur, 01.06.2009, https://www.merkur.de/kultur/mm-dabei-sein-alles-330696. html (08.10.2018).

8

Zentralblatt der Bauverwaltung, 02.11.1938, zitiert nach Oelze, Sabine: Der deutsche Pavillon der Biennale Venedig, In: Deutsche Welle, „Kultur“, 31.05.2011, https://www.dw.com/de/der-deutsche-pavillon-der-biennale-venedig/a-6536596 (08.10.2018).

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lon trotz seiner dubiosen Entstehungsgeschichte ein hervorragendes Ausstellungsgebäude ist. Hell und gut belichtet, mit angenehmen Proportionen der Räume, die zahlreiche Möglichkeiten zur Inszenierung lassen. Abbildung 1: Making Heimat. Germany, Arrival Country. Deutscher Pavillon, 15. Internationale Architekturausstellung – La Biennale di Venezia 2016

Foto © Kirsten Bucher

Und so haben auch wir, das Team vom Deutschen Architekturmuseum, uns am Deutschen Pavillon ‚gerieben‘ und behauptet: „Europa ist offen, Deutschland ist offen, und deshalb möchten wir bei unserem Thema Einwanderung nach Europa, Einwanderung nach Deutschland den Pavillon auch physisch großflächig öffnen“. Veränderungen an einem denkmalgeschützten Bauwerk in Venedig stellen indes ein äußerst delikates Unterfangen dar. Aber die Leiterin des Denkmalschutzamtes verstand unser Konzept und genehmigte ausnahmsweise unsere ‚radikalen‘ Maßnahmen mit der Maßgabe, dass alle Eingriffe im Anschluss an die Biennale rückgebaut würden, und dass der statisch notwendige Stahl für die großen Öffnungen sichtbar bleibe, damit jeder sehe, dass es sich um einen temporären Eingriff handele. Es wurde dann ein zugegebenermaßen massiver Eingriff: 50 Tonnen Backstein wurden aus den Wänden herausgebrochen und sollten in der Nähe des Pavillons gelagert werden, um später wieder eingebaut werden zu können. Doch ganz war das nicht zu schaffen: Etliches an der originalen Substanz ist beim Herausbrechen mit dem Presslufthammer verloren gegangen. Die Bilder des Umbaus machten dagegen Furore und wurden von der internationalen

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Presse als Embleme der gesamten Biennale aufgefasst, was sie natürlich keinesfalls waren, weil die Biennale selbst immer einen gewählten Künstlerischen Leiter (2016 war das der Chilene Alejandro Aravena) hat, während die Länder ihre Präsentation unabhängig entwickeln. Doch die italienische Presse titelte: „Die Biennale kümmert sich um die Ausgeschlossenen. Architektur ohne Grenzen.“9 und nutzte dafür das Bild von unserer Baustelle mit dem großen Schutthaufen vor der Öffnung des Hauptraums zur Lagune. Der Deutsche Pavillon, der ‚NaziPavillon‘, war also offen. Und zwar so offen, dass man ihn (vorerst) nicht wieder schließen konnte. Denn das war unsere These: Das Land ist offen und ungeschützt. Das kann man architektonisch räumlich sowohl positiv als auch negativ betrachten. Das kann man aber auch politisch sowohl positiv als auch negativ interpretieren. Im Sommer war die Atmosphäre im Pavillon sehr angenehm, der Wind wehte hindurch, die Luft war immer frisch und der Ausblick war fantastisch, die Boote und Schiffe fuhren sichtbar und hörbar vorbei. Im November hingegen war das Klima nicht mehr so angenehm, und wir mussten uns in den nicht geöffneten Raum zurückziehen. Wir sollten die originalen Steine bereithalten, daher lagerten wir Paletten mit neuen Steinen vor Ort ab, die dann als Sitzmöbel genutzt wurden. Folglich ist eine unkonventionelle Ausstellung entstanden. Es gab keine Bildschirme, keine Architekturmodelle, d.h. nichts, was man aus einem offenen Haus hätte stehlen können. Wir installierten aber Stationen für Strom und freies WLAN, ähnlich wie in den Flüchtlingsunterkünften, die in unserem Fall von Journalisten und Besuchern genutzt wurden. Da in Venedig prinzipiell selten ein stabiles WLANNetz zu finden ist, empfanden das viele als sehr praktisch. Dieser neuen Nutzung entsprechend, wurde die Ausstellung mit den ‚ubiquitären‘ weißen MonoblocPlastikstühlen bestückt.10 Der Monobloc ist der ‚Einwanderungsstuhl‘ schlechthin, es gibt ihn überall auf der Welt. Er wurde nach dem Vorbild eines italienischen Stuhls aus den 1970er Jahren hergestellt und wird ohne Copyright weltweit produziert. Wir haben unsere 150 Monobloc-Stühle günstig in Italien eingekauft, denn diese Plastikstühle sind in Deutschland inzwischen kaum noch erhältlich. Sie sollten nicht nur unseren Pavillon besetzen, sondern ‚parasitär wei9

Panza, Pierluigi: La Biennale guarda agli esclusi. Architettura senza confini, In: Corriere della sera, 25.05.2016. http://www.corriere.it/cultura/16_maggio_25/biennalearchitettura-venezia-visita-inizia-rifiuti-foto-1121c764-2283-11e6-889d-0e478b0d 5f56.shtml (12.09.2018).

10 Suzdaltsev, Jules: White Plastic Chairs Are Taking Over the World, In: Vice 28.01.2015. https://www.vice.com/en_us/article/bn5e4m/white plastic chairs - are-tak ing-over-the-world-128 (12.09.2018)

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terwandern‘, was sie auch taten. Bald wurden sie an das Aufsichtspersonal anderer Pavillons weiterverliehen, und über 100 verteilten sich nach dem Ende der Biennale in ganz Venedig. Abbildung 2: Making Heimat. Germany, Arrival Country. Deutscher Pavillon, 15. Internationale Architekturausstellung – La Biennale di Venezia 2016

Foto: © Felix Torkar

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DOUG SAUNDERS. ARRIVAL CITY Die Inspiration zu unserem Projekt stammte aus einem Buch des kanadischen politischen Journalisten Doug Saundersʼ Arrival City, dessen erste deutsche Übersetzung von 2011 den Untertitel Über alle Grenzen hinweg ziehen Millionen Menschen vom Land in die Städte. Von ihnen hängt unsere Zukunft ab trägt.11 Saunders arbeitete als Europachef der kanadischen Tageszeitung The Globe and Mail, war stationiert in London und bemerkte, dass in London ähnliche Stadtviertel wie in Shanghai, São Paulo oder Mumbai existieren. In diesen Metropolen entstehen Viertel, in denen sich Neuankömmlinge von allein zurechtfinden bzw. in denen sie sich selbst integrieren. Er stellte fest, dass zum Beispiel in Brasilien oder in China die Neuankömmlinge hauptsächlich aus den Dörfern in die Metropolen wandern. Sie landen oft in ganz bestimmten Vierteln und stoßen dort auf andere Einwanderer aus ihrem Dorf, manchmal sogar Verwandte und Bekannte, die ihnen den Weg ebnen. Das gleiche Phänomen erkannte Saunders in East-London, wo er wohnte. Dort erlebte er Konzentrationen von Menschen aus Bangladesch, die aus ein und demselben Dorf stammten. Diese persönliche biografische Verbindung zwischen Dorf- und Stadtviertelbewohnern in der Großstadt funktionierte offensichtlich auch über Landesgrenzen und Ozeane hinweg. Das war für ihn die Entdeckung des Phänomens der ‚Ankunftsstadt‘, oder besser noch des Ankunftsstadtviertels. Es handelt sich dabei um ungeplante Viertel von Einwanderern, die sich an diejenigen wenden, die vor ihnen vor Ort waren. Sie nutzen diese ‚roots‘, um neue Kontakte zu knüpfen, Jobs zu finden, Kredite zu erhalten, usw. Früher kannte man aus der Neuen Welt USA, Südamerika oder Australien viele solcher Viertel wie ‚German Town‘, ‚Little Italy‘, ‚China Town‘. Etwas Ähnliches erleben wir heute wieder in Europa. So haben wir Saunders kontaktiert und ihm erzählt, dass wir sein Buch als Grundlage für unsere Ausstellung nutzen, es aber in Teilen umschreiben möchten. Wir waren auf der Suche nach prägnanten Thesen für Deutschland, die wir bewusst plakativ formulieren und mit ihm absprechen wollten. Später wollten wir versu11 Saunders, Doug: Arrival City – Über alle Grenzen hinweg ziehen Millionen Menschen vom Land in die Städte. Von ihnen hängt unsere Zukunft ab. Übersetzt von Werner Roller, München 2011. Hinweis der Herausgeber: Die deutschsprachige Neuauflage erscheint unter dem Titel Die neue Völkerwanderung – Arrival City, München 2013. Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Arrival City – The Final Migration on Our Next World bei Alfred Knopf in Toronto, Kanada und seither in zahlreichen englischsprachigen Neuauflagen mit dem Untertitel How the Largest Migration in History is Reshaping Our World.

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chen, für diese Thesen Beispiele in Deutschland zu finden. Die Zusammenarbeit erwies sich als sehr konstruktiv und kam Saunders‘ Bekanntheit in Europa zugute, denn daraufhin wurde er häufig zu Gesprächsrunden in Deutschland und Europa eingeladen. Aus Arrival City haben wir schließlich acht prägnante Thesen, die wir für städtebaulich relevant hielten, destilliert und ausformuliert.12

8 THESEN ZUR ‚ARRIVAL CITY‘ Die erste These lautet: „Die Arrival City ist eine Stadt in der Stadt“. Einwanderer suchen ihre Chancen für gewöhnlich in städtischer Dichte und nicht in suburbanen oder gar ländlich entvölkerten Gebieten.13 Das ist ein Punkt, welcher der politischen Praxis widerspricht. Gesetze wurden erlassen, die Geflüchtete an einen bestimmten Wohnort binden und den sie drei Jahre nicht verlassen dürfen, sofern sie weiter Sozialleistungen beziehen wollen bzw. müssen. Das ist aber etwas, was dem normalen Einwanderungsverhalten widerspricht. Wir haben die zehn Städte mit den meisten Ausländern und den höchsten Ausländeranteilen kartiert. In diesen Städten stechen bestimmte Viertel heraus. An erster Stelle steht in Deutschland das hessische Offenbach, gleich dahinter befindet sich Frankfurt, mit einem Ausländeranteil von 30% bzw. 25% der Gesamtbevölkerung, respektive 48% und 52% in bestimmten Stadtvierteln. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in der gemeldeten Bevölkerung beträgt jeweils über 50%. Das ist natürlich eine komplett andere Situation als wir sie in Dresden, Weimar oder Jena vorfinden. Darin mag man einen möglichen Grund sehen, weswegen die AfD in Frankfurt nicht so stark vertreten ist wie in manchen Städten in den Neuen Bundesländern. Der Versuch zur Bildung einer lokalen Pegida-Gruppe wurde 2015 sogar wegen zu großer Widerstände aufgegeben. Die zehn wichtigsten „Arrival Cities“ Deutschlands sind Städte, die oft eine industrielle Vergangenheit mitsamt dem Zuzug von Gastarbeitern aufweisen und deswegen schon seit 40 bis 50 Jahren aktive Versuche der Einwanderung bzw. der An-

12 Die Website zu Arrival City: http://www.makingheimat.de/die-arrival-city-ist (12.09.2018). 13 Für die im Folgenden erörterten acht Thesen zur Arrival City, vgl. Cachola Schmal, Peter/Elser, Oliver/Scheuermann, Anna (Hrsg.): Making Heimat: Germany, arrival country [Ausstellungskatalog, 15. Internationale Architekturausstellung, Venedig, 28.5.2016 – 27.11.2016], Ostfildern 2016, S. 66-241.

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erkennung von Einwanderung unternehmen. Can Mereys Buch Der ewige Gast14 belegt eindrucksvoll, wie unterschiedlich Einwanderung in Deutschland und den USA sich auf die Identität des Einzelnen auswirkt. Aus den USA könnten wir lernen, wie eine neue Heimat als Ziel verstanden werden kann. Deutschland hat hingegen nach wie vor kein Einwanderungsgesetz. Es gibt keine bzw. kaum eine Möglichkeit, legal nach Deutschland einzuwandern. Daher müssen solche Bewerber einen oftmals tatsächlich nicht begründeten Flüchtlingsstatus vorschieben – was wiederum Vorwürfe seitens der einheimischen Bevölkerung hervorrufen kann. Abbildung 3:Deutsches Architekturmuseum MAKING HEIMAT. Die Arrival City ist bezahlbar

Foto: © Kirsten Bucher

Die zweite These, die wir von Doug Saunders übernehmen, lautet „Die Arrival City ist bezahlbar“, und sie besagt, dass günstige Mieten eine zentrale Voraussetzung für die Integration der ersten Generation von Einwanderern darstellen. So existieren nicht weit von Frankfurts Innenstadt Orte, wie zum Beispiel in Offenbach-Nord, wo die Mieten bisher nur wenig mehr als die Hälfte der Mieten in Frankfurt betragen, und das bei einer Entfernung von nur etwa fünf S-Bahn-

14 Merey, Can: Der ewige Gast: Wie mein türkischer Vater versuchte, Deutscher zu werden, München 2018.

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Stationen. Wir stützen unsere Thesen hierbei auf die Analysen eines der wichtigsten deutschen Internetportale für die Wohnungssuche, Immobilienscout24, denn dort sieht man die aktuell angebotenen Marktmieten, und nicht den Mietspiegel im Bestand, ein. Unsere nächste These, „Die Arrival City ist gut erreichbar und bietet Arbeit“, verstärkt noch den Grund für die hohe Zahl an Einwanderern in Offenbach, denn nicht nur günstige Mieten sind wichtig, sondern besonders mit öffentlichen Mitteln gut erreichbare Arbeitsplätze in der Nähe der eigenen Wohnung.. Arbeitsplätze entstehen in der Regel dort, wo es bereits Arbeitsplätze gibt und nicht dort, wo es keine mehr gibt. Demzufolge ist es nicht sinnvoll oder empfehlenswert zu versuchen, Menschen in Gegenden anzusiedeln, in denen weder Arbeitsplätze noch Bedarf an Arbeitsplätzen herrscht und in denen voraussichtlich auch künftig keine neuen Arbeitsplätze entstehen werden. Von der Politik subventionierte Arbeitsplätze dieser Entwicklung entgegenzusetzen, kann keine nachhaltige Lösung sein. Die Motivation für derartige Entwicklungen der Wohn- und Arbeitssituation vieler Menschen sind zum Teil auch die vielen leerstehenden und deshalb günstigen Immobilien in entfernten, vom demographischen Wandel schwer getroffenen Gebieten wie Nordhessen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt etc. Dabei wird verkannt, dass es einen triftigen Grund gab, aus dem die ursprünglich dort lebende Bevölkerung fortgezogen war. Damit sind einige Voraussetzungen für erfolgreiche Integration genannt, die sich aus empirisch gewonnenen Erkenntnissen herleiten lassen und nicht etwa das Ergebnis von politischer Lenkung sind. Politiker werden das nur ungern hören wollen. Sie bekämen lieber eine Art Checkliste, mit der sich die Frage ‚Was kann ich tun?‘ beantworten ließe. Wir erwiderten, dass es sich hierbei um gewonnene Erkenntnisse handele. Die ließen sich zwar verneinen oder verdrängen, aber es blieben Erkenntnisse. Was Politiker demnach konkret tun können, wäre, solcherlei erfolgsversprechenden Prozesse nicht zu be- oder verhindern. Zum Beispiel gibt es in Stuttgart ganze Quartiere mit einer sehr regen türkischen Einwanderungskultur, die durch den Arbeitskräftebedarf in der Automobilindustrie gewachsen ist. Da sind neue türkische-schwäbische Heimaten entstanden, verkörpert z.B. durch den Grünen-Politiker Cem Özdemir, der das Schlusswort seiner Brandrede vom 5. März 2018 an die Bundestagsabgeordneten der AfD richtete: „Am kommenden Samstag bin ich wieder in meiner Heimat. Ich fliegʼ nach Stuttgart, dann nehmʼ ich die S-Bahn, und ich lande am Endbahnhof, Bad Urach. Da ist meine schwäbische Heimat, und die lassʼ ich mir von Ihnen nicht kaputt

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machen.“15 Making Heimat betont das ‚Making‘. Es bedeutet, dass der ‚Neue Deutsche‘ sich aktiv bemühen muss, um für sich eine neue Heimat zu erschaffen. Der ‚Alte Deutsche‘ hingegen, der schon da ist, muss sich bemühen anzuerkennen, dass dieser ‚Neue‘ sich bemüht. Der Prozess des Erschaffens von Heimat verlangt eine aktive Tätigkeit beider Seiten. Die vierte These, „Die Arrival City ist informell“, wurde sehr kontrovers aufgenommen. Wir wurden für die Architekturbiennale vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit beauftragt, die damalige Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks (SPD) eröffnete auch den deutschen Beitrag auf der Biennale16 und betonte in der Pressekonferenz, dass nicht alle unsere Thesen beim Ministerium auf Gegenliebe gestoßen seien. Zum Beispiel diese These des Informellen, die „nicht gänzlich rechtskonforme Praktiken toleriere“, die könne sie schon von Amts wegen nicht akzeptieren. Wir haben als unser Beispiel aus Deutschland das gigantische Großhandelszentrum Dong Xuan Center in Berlin-Lichtenberg ausgewählt. Es gehört einem vietnamesischen Geschäftsmann. Nach der Wende haben große Gruppen nordvietnamesischer Arbeiter aus dem sozialistischen ‚Bruderland‘ in der DDR sofort ihren Aufenthaltsstatus verloren, mussten zurückreisen oder, wenn sie trotzdem bleiben wollten, sich illegal in den Untergrund begeben. Anfang der 1990er Jahre verdienten viele daher ihren Lebensunterhalt in Berlin mit dem Verkauf von geschmuggelten Zigaretten an S-Bahnstationen oder mieteten Blumenläden in S-Bahnstationen. Als sich einem Geschäftsmann die Möglichkeit bot, ein Großhandelszentrum aufzubauen, hat die Politik viele Augen zugedrückt. Das Dong Xuan Center ist nämlich nicht nur ein Großhandel: Hier kann jedermann alles nur Erdenkliche kaufen. Man kann essen gehen, seine Haare schneiden lassen, einzelne Sportschuhe und Jeans kaufen usw. Hunderten vietnamesischen Geschäftsleuten, die dort niedergelassen sind, geht es heute wirtschaftlich anscheinend recht gut, wenn man die Marken der Autos betrachtet, die sie fahren. Die Kunden kommen aus ganz Europa, gern aus dem nahen Polen oder Tschechien. Das ist rechtlich ein schwieriges Terrain, denn die angeblichen Großhändler treten auch illegal als 15 Özdemir, Cem: „Meine schwäbische Heimat lasse ich mir von Ihnen nicht kaputt machen“, In: ZEIT ONLINE, 23.02.2018. http://www.zeit.de/video/2018-02/5739 047865001/cem-oezdemir-meine-schwaebische-heimat-lasse-ich-mir-von-ihnennicht-kaputt-machen (12.09.2018) 16 Vgl. die Rede von Dr. Barbara Hendricks zur Eröffnung des Deutschen Beitrags auf der Architektur-Biennale 2016, 27.05.2016, https://www.bmu.de/rede/rede-von-drbarbara-hendricks-zur-eroeffnung-des-deutschen-beitrags-auf-der-architektur-bien nale-201/ (12.09.2108).

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Einzelhändler auf, aber man hat die Vietnamesen integriert, indem man sie Handel treiben ließ. Sie sind wirtschaftlich so aufgestiegen, dass sie inzwischen sogar wieder zu Re-Investoren in ihre ehemalige Heimat geworden sind und dort Projekte entwickeln. Die Südvietnamesen, das ist die frühere Elite, sind in den 1980er Jahren vor den sozialistischen Vietnamesen (als ,boat people‘) geflohen und im Westen der Republik gelandet. Mittlerweile haben sie sich mit einer Vielzahl von Restaurants, Friseurläden, Kosmetiksalons usw. erfolgreich etabliert. Auch sie stellen wieder Investoren im noch immer sozialistischen Vietnam. Kurz vor der Eröffnung der Biennale brannte im Dong Xuan Center eine Lagerhalle nieder, in der deutlich non-konform Kosmetik hergestellt wurde.17 Der Brandschutz war auch nicht 100% rechtskonform (es existierten keinerlei Hydranten), sodass die Feuerwehr ihre Schläuche auf dem Grundstück nirgends anschließen konnte. Die Feuerwehrleute mussten erst über eine Entfernung von 200 Metern von der nächsten Straße aus Schläuche legen, bevor sie den Brand löschen konnten. Das Dong Xuan Center war danach erstmals in Berlin in aller Munde und wies auf die Vor- und Nachteile der Nicht-Konformität von Verhältnissen hin. Zum Glück entstand kein Personenschaden. Eine weitere These, „Die Arrival City ist selbst gebaut“, die weltweit beobachtet werden kann, ist, dass Einwanderer sehr gern ihr Zuhause selbst bauen und sich auf diese Weise auch selbst integrieren. Das ist in Deutschlands Baunormungskultur kaum vorstellbar oder zu verlangen. Ein Beispiel: Der Architekt Alejandro Aravena ist in Chile durch sein Projekt, „Quinta Monroy“ berühmt geworden. Seine Firma Elemental baute dort zur Hälfte Häuser in Slums für die Bewohner, den weiteren Ausbau übernahmen die Bewohner selbst. So entstand mit geringen Investitionen eine Gruppe neuer Eigenheime für eine ‚neue Mittelschicht‘. Man kann sehen, wie verblüffend schnell halbe Rohbauten in komplett veränderte Häuser transformiert wurden. Die sechste These lautet: Ankunftsstadtteile funktionieren nur, wenn im Erdgeschoss kleinteilige Geschäftsräume verfügbar sind – „Die Arrival City ist im Erdgeschoss“ –, weil sie die Qualität des öffentlichen Raumes bestimmen. Sie bestimmen so die Frequenz im öffentlichen Raum und damit auch, ob er von der Bevölkerung angenommen wird, ob er funktioniert, ob eine schützende Sozialkontrolle herrscht. Das ging früher viel einfacher in den ‚Arrival Cities‘ der Vergangenheit, in ‚Little Italy‘ oder ‚Chinatown‘ in New York. Da war es einfacher, weil die Substanz der Bebauung eher für eine solche erdgeschossige kommerzielle Nutzung geeignet war. Inzwischen befinden sich diese Ankunftsstadtviertel in Europa in Trabantenstädten der 1970er, die keine kleinteiligen Geschäftsräu17 Die Zeitungsberichte zeigten eine Art informelle Werkstätte, kein übliches Labor.

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me mehr vorweisen und damit auch keine Frequenz mit sozialer Kontrolle ermöglichen können. Daraus entstehen ernsthafte Problemviertel, bspw. in französischen, belgischen oder niederländischen Städten. In Amsterdams Stadtviertel Biljmermeer wurden in der Folge sogar ganze Quartiere mit 1970erGroßstrukturen abgerissen, neugebaut oder radikal umgebaut, verdichtet, um die Erdgeschosse mit Geschäften und Ateliers zu beleben und die Viertel damit erst überlebensfähig zu machen. Abbildung 4: Deutsches Architekturmuseum MAKING HEIMAT. Offenbach, italienisches Einkaufszentrum Bleichstraße

Foto: © Jessica Schäfer

Eine weitere umstrittene These („Die Arrival City ist ein Netzwerk von Einwanderern“) wurde aus der Erkenntnis gewonnen, dass Einwanderer sich bevorzugt an ihren ethnischen Netzwerken orientieren und dass dort ethnisch homogene Viertel entstehen können, die für die Eigenintegration der Gruppen tatsächlich konstruktiv und wichtig sein könnten. Das hören viele nicht gern, schon seit Jahrzehnten wird sogar davor gewarnt. Die Bildung von solchen Netzwerken bzw. von ethnisch homogenen Vierteln birgt natürlich auch Gefahren, wie die Berichterstattung über sogenannte „Großclans“ in manchen Städten des Ruhrgebiets18 und in Berlin19 belegen könnte. Im Deutschland der Multi-Kulturellen18 Vgl. Westdeutsche Zeitung, 22.06.2018, https://www.wz.de/nrw/kriminelle-familien clans-so-will-duisburg-das-problem-in-den-griff-bekommen_aid-25317985

(08.10.

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Idee der 1970er-Jahre, die von den Grünen geprägt wurde und teilweise noch offiziell verhandelt wird, wird da widersprochen. Nur die Mischung sorge für Frieden, lautet eine politisch akzeptierte und weithin verbreitete Auffassung. Heute werden wir wohl kaum einen Politiker finden, der noch behauptet‚ es sei gut, wenn Rumänen bei den Rumänen wohnten, Koreaner bei den Koreanern, Syrer bei den Syrern und sie sich auf diese Weise gegenseitig helfen können. In vertraulichen Gesprächen erzählen Betreiber von großen Wohnanlagen, dass bestimmte Ethnien besser nicht miteinander gemischt werden sollten, da bestimmte Gruppen sich nicht besonders gut miteinander vertragen. Die achte und somit letzte These führt nur selten zu Einsicht und zu politischen Reaktionen im Sinne einer gezielten Investition in Bildungseinrichtungen: „Die Arrival City braucht die besten Schulen“. Die besten Schulen in den schlechtesten Vierteln würden die Einwandererkinder für die Zukunft besser qualifizieren. Damit würden diese ganz selbstverständlich zu Mitgliedern der Mittelklasse heranwachsen und ordentliche Steuerzahler werden können, die unser Sozialstaatsystem stützen. Es ist eine richtige und wichtige Forderung, aber dafür müsste heute dezidiert investiert werden. Die besten Schulen sind heute in ganz anderen Vierteln, in denen die entsprechenden Eltern wissen, wie man politischen Druck aufbaut. Der ehemalige Bundespräsident Gauck hat kurz nach der Biennale 2016 die ‚Arrival City‘ Offenbach besucht, um sie speziell für ihre Anstrengungen auf dem Gebiet der Integration von Einwandererkindern in den Schulen zu loben. Manche Politiker haben unsere Positionen vielleicht doch verstanden.

LITERATUR Arning, Matthias: Zurück in Bergen. Heimat Frankfurt, in: Frankfurter Rundschau, 05.07.2008, http://www.fr.de/rhein-main/heimat-frankfurt-zurueck-inbergen-a-1176569 (08.10.2018). 2018); vgl. auch Burger, Reiner: Problemzone Ruhrgebiet. Kriminelle Großfamilien, In:

Frankfurter

Allgemeine

Zeitung,

23.11.2015,

http://www.faz.net/aktuell/

politik/inland/kriminelle-grossfamilien-problemzone-ruhrgebiet-13926290.html (08.10.2018). 19 Die Berliner TV-Serie Four Corners behandelt das Sujet in Berlin-Neukölln. Vgl. zum Berliner Raum zudem Sundermeyer, Olaf u.a.: Arabische Clans: Wie es in der abgeschotteten Welt zugeht, In: NRZ, 02.08.2018, https://www.nrz.de/politik/wie-esin-der-abgeschotteten-welt-der-grossclans-zugeht-id214991459.html (08.10.2018).

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Azad: Leben (00:22-00:34), Album: Leben, Pelham Power Productions (3p), Frankfurt a. M. 2001, https://www.youtube.com/watch?v=woef_CmIdQ4 (11.09.2018). Burger, Reiner: Problemzone Ruhrgebiet. Kriminelle Großfamilien, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.11.2015, http://www.faz.net/aktuell/politik/ inland/kriminelle-grossfamilien-problemzone-ruhrgebiet-13926290.html (08. 10.2018). Cachola Schmal, Peter/Elser, Oliver/Scheuermann, Anna (Hrsg.): Making Heimat: Germany, arrival country (Ausstellungskatalog, 15. Internationale Architekturausstellung, Venedig, 28.05.2016 – 27.11.2016), Ostfildern 2016. Elser, Oliver/Schmal, Peter Cachola/Scheuerman, Anna: Making Heimat. Germany Arrival Country, Berlin 2016. http://www.hatjecantz.de/makingheimat-6710-0.html Goethe-Institut München: Ankündigung Weltreise mit neuen Partnerausstellungen 2018/2019 in Liverpool, Cambridge MA, Prag, Lima, Santiago, San Francisco, Karachi, Marseille, Caracas, https://www.goethe. de/de/uun/prs/p18/prm/21087884.html Goethe Institue Glasgow & Fact Liverpool: Arrival City Liverpool Toxteth, Juli 2018, https://www.fact.co.uk/projects/arrival-city.aspx Goethe Institut Tschechien & Anthropictures Prag: Arrival City: Jihozápadní město (Southwest City), September 2018. https://www.sharedcities.eu/ material/arrival-city-southwest-city/ Goethe Institut Chile & Centro Cultural GAM: Santiago Ciudad Destino. März 2019, https://www.goethe.de/ins/cl/de/kul/sup/aci.html Goethe Institut Peru / Regionalzentrum Lateinamerika. Projekt Arrival City Ciudades de Llegada“ 2017-2019, https://www.goethe.de/ins/pe/de/kul/ sup/ciu.html Goethe Institut Peru & Universidad Privada del Norte: Arrival City Lima. Ciudad Inclusiva, Oktober 2018, http://blogs.upn.edu.pe/arquitectura/ 2018/10/05/decano-upn-inaugura-la-exposicion-arrival-city-lima-ciudadinclusiva-junto-al-goethe-institut/ Harvard University, German American Conference, Panel zu Flüchtlingen und Integration von Einwanderern mit Peter Cachola Schmal und der Ausstellung „Making Heimat“ des Goethe Institut Boston: „68.5 Million: What do we owe to the forcibly displaced?“, 06.10.2018, https://whova.com/embedded/ session/gach_201810/445464/ Hendricks, Barbara: Rede von Dr. Barbara Hendricks zur Eröffnung des Deutschen Beitrags auf der Architektur-Biennale 2016, 27.05.2016,

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https://www.bmu.de/rede/rede-von-dr-barbara-hendricks-zur-eroeffnungdes-deutschen-beitrags-auf-der-architektur-biennale-201/ (12.09.2108). Lorenz, Hildegard: Dabei sein ist alles. 100 Jahre – Geschichte eines Bauwerks, in: Merkur, 01.06.2009, https://www.merkur.de/kultur/mm-dabei-sein-alles330696.html (08.10.2018). Merey, Can: Der ewige Gast. Wie mein türkischer Vater versuchte, Deutscher zu werden, München 2018; https://www.randomhouse.de/Paperback/Derewige-Gast/Can-Merey/Blessing/e526189.rhd. Noonan, Peggy: Rudy’s Duty: ‘Homeland ain’t no American word’, in: Wallstreet Journal, 14.06.2002; http://www.wsj.com/articles/SB1224187506 53241949 (24.07.2018). Oelze, Sabine: Der deutsche Pavillon der Biennale Venedig, In: Deutsche Welle, „Kultur“, 31.05.2011, https://www.dw.com/de/der-deutsche-pavillon-derbiennale-venedig/a-6536596 (08.10.2018). Özdemir, Cem: „Meine schwäbische Heimat lasse ich mir von Ihnen nicht kaputt machen“, In: ZEIT ONLINE, 23.02.2018. http://www.zeit.de/video/ 2018-02/5739047865001/cem-oezdemir-meine-schwaebische-heimat-lasseich-mir-von-ihnen-nicht-kaputt-machen (12.09.2018). Panza, Pierluigi: La Biennale guarda agli esclusi. Architettura senza confini, in: Corriere della Sera, 25.05.2016; http://www.corriere.it/cultura/16_maggio _25/biennale-architettura-venezia-visita-inizia-rifiuti-foto-1121c764-228311e6-889d-0e478b0d5f56.shtml (12.09.2018). Saunders, Doug: Die neue Völkerwanderung – Arrival City, München 2013. Strauch, Christoph: Heimweh war gestern, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.07.2017, http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/region-und-hessen/heimat -rhein-main-als-gastarbeiter-gekommen-15115318.html. Sundermeyer, Olaf u.a.: Arabische Clans: Wie es in der abgeschotteten Welt zugeht, In: NRZ, 2.8.2018 (Kriminalität), https://www.nrz.de/politik/wie-es-inder-abgeschotteten-welt-der-grossclans-zugeht-id214991459.html (08.10.2018). Suzdaltsev, Jules: White Plastic Chairs Are Taking Over the World, in: Vice 28.01.2015; https://www.vice.com/en_us/article/bn5e4m/white-plastic-chairs -are-taking-over-the-world-128 (12.09.2018).

Heimaten der Nachhaltigkeit Karsten Gäbler

Der Titel dieses Beitrages lässt sich in mindestens zweifacher Weise verstehen: Als Frage danach, wo Nachhaltigkeit ‚zu Hause‘ ist, d.h. in welchen diskursiven Kontexten sie verhandelt wird, und als Frage danach, mit welchen Ideen von Heimat man es in den Debatten um Nachhaltigkeit und nachhaltige Entwicklung zu tun hat. Die folgenden Überlegungen werden beide Aspekte in den Blick nehmen. Meine These ist dabei, dass sowohl das Reden über Heimat als auch dasjenige über Nachhaltigkeit häufig von einer – zuweilen mehr, zuweilen weniger explizit ausgesprochenen – geographischen Prämisse ausgehen: der Annahme, dass der natürliche Maßstab des guten, nachhaltigen Lebens das Kleine ist. Gelingende Mensch-Natur-Verhältnisse und eine lebenswerte Gesellschaft, so das Grundargument zahlreicher Positionen im Heimat- und Nachhaltigkeitsdiskurs, ließen sich am besten unter Bedingungen von Kleinräumigkeit und Nähe realisieren. In Bezug auf das Heimatphänomen scheinen Plädoyers für den Nahraum auf den ersten Blick wenig zu überraschen: Räumliche Bestimmungen von Heimat verweisen meist auf das Leitmotiv des Kleinen. Heimat ist dann „Nahwelt, die verständlich und durchschaubar ist“1, „selbst hergestellte Übersichtlichkeit“2, das

1

Bausinger, Hermann: Heimat und Identität, In: Köstlin, Konrad/Bausinger, Hermann (Hrsg.): Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur (= Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins, Bd. 7), Neumünster 1980, S. 9-24, hier S. 20.

2

Köstlin, Konrad: Heimat denken. Zeitschichten und Perspektiven, In: Seifert, Manfred (Hrsg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ‚Heimat‘ als Argument im Prozess der Moderne, Leipzig 2010, S. 23-38, hier S. 36.

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Glück einer „engen Lebenswelt“3 oder „resonanter“ Raum von geringer Reichweite4.5 Einem solchen traditionellen Heimatverständnis haftet dabei nicht selten der Ruf des Provinziellen, bisweilen Reaktionären an. Der Heimatbegriff steht – jedenfalls außerhalb akademischer Debatten über Heimat, in denen der Begriff reflektiert, aber kaum affirmativ verwendet wird – üblicherweise eher für kommunikative Schließung und Abgrenzung denn für Weltzugewandtheit und Offenheit.6 Anders die Nachhaltigkeit: Sie gilt als Problem einer globalen Gemeinschaft. Ein Problem, das zwar in der Nahwelt bearbeitet werden muss, aber dennoch kommunikative Öffnung und ein Verständnis des Überlokalen voraussetzt. Das ikonische „Think globally, act locally!“ der Nachhaltigkeitsdebatte kann folglich auch als Aufforderung zum Verstehen der Komplexität der Welt interpretiert werden und gerade nicht als Ausschluss derselben durch Rückzug ins Kleine. Es gäbe also gute Gründe anzunehmen, dass die Debatten um Heimat und Nachhaltigkeit mit ganz unterschiedlichen geographischen Deutungsmustern und räumlichen Horizonten operieren. Und doch ist Skepsis an einem Antagonismus von Heimat und Nachhaltigkeit angebracht: Zum einen, weil Gegenüberstellungen dieser Art häufig eine Einheit und historische Kontinuität der verglichenen Phänomene suggerieren, die empirisch kaum haltbar ist. Dies zeigt schon der Blick auf die Konjunkturen der Begriffe und mit ihnen bezeichneten Phänomene – „Heimat“ und „Nachhaltigkeit“ können zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Kontexten eben unterschiedlich gedeutet werden.7 Zum anderen aber – und darum soll es in diesem Beitrag vornehmlich gehen – spielt das Kleinräumige trotz der Bedeutung globaler Bezüge auch in den di3

Vgl. Greverus, Ina-Maria: Auf der Suche nach Heimat, München 1979, S. 7.

4

Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016, S. 618f.

5

Selbst davon abweichende Heimatkonzepte – beispielsweise der nicht-räumlichen Beheimatung in einer Sprache oder Kultur – scheinen von der geographischen Grunderfahrung eines unmittelbar vertrauten Nahraums auszugehen.

6

Dies scheint sich erst in jüngerer Zeit wieder zu wandeln, wenn eine Rückeroberung der Deutungshoheit über den Heimatbegriff von grüner oder linker Seite gefordert wird.

7

Vgl. für das Heimatphänomen z.B. Costadura, Edoardo/Ries, Klaus: Heimat. Ein Problemaufriss, In: Dies. (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, S. 7-23, hier S. 9 ff.; für die Idee der Nachhaltigkeit vgl. Grober, Ulrich: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, München 2010.

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versen Nachhaltigkeitsdebatten eine wichtige Rolle. Dezentralisierung und der Rückzug in einen Nahraum gehören beispielsweise zum Standardrepertoire utopischer (ökologischer) Kommunen;8 bei den philosophischen Gründervätern der Umweltbewegung – wie etwa Henry David Thoreau – ist die Einschränkung der Aktionsräume und die Rückkehr zum einfachen, ländlichen Leben ein Leitmotiv;9 und bioregionalistische Ansätze der ökologischen Kritik tragen das Kleine schon im Namen.10 Mit solcherlei Indizien für die Bedeutung geographischer Maßstabsfragen im Reden über Nachhaltigkeit ist nun zunächst die Frage aufgeworfen, wie die Vorzüge des Kleinen konkret begründet werden und inwieweit dabei Anschlüsse an das klassische Heimatverständnis beobachtbar sind. Es steht zu vermuten, dass der Einsatz des Kleinen in beiden Diskursfeldern auf ein grundlegendes geographisches Deutungsmuster – die Identifikation des Nahen mit dem Guten – zurückzuführen ist. Darüber hinaus weist die Inblicknahme der Argumente für das Kleine auch auf ein Problem hin, das sowohl Heimat- als auch Nachhaltigkeitsdebatten betrifft: die Zunahme einer paradox erscheinenden Gleichzeitigkeit von Offenheit und Schließung in globalisierten Lebenswelten. Man könnte sagen: Inanspruchnahmen des Kleinen haben es heutzutage mit einer konstitutiven Spannung zwischen der Globalität alltäglicher Lebensbezüge und ökologischer Problemlagen auf der einen Seite, und der identitätspolitisch scheinbar wichtigen räumlichen Abgrenzung auf der anderen Seite zu tun. Um die Frage nach den Argumenten für die Kleinheit und die sich daraus ergebenden Widersprüche sollen sich die folgenden Überlegungen drehen. Ich werde dazu in einem ersten Schritt den Versuch unternehmen, den gemeinsamen Kern der unterschiedlichen Nachhaltigkeitsdebatten freizulegen und einige Gemeinsamkeiten von Heimat- und Nachhaltigkeitsidee zu skizzieren. Im Anschluss werde ich dann zum Hauptargument kommen und anhand einer Reihe von Texten aus dem Nachhaltigkeitsdiskurs drei verschiedene Argumentationstypen für das Kleine rekonstruieren. Im letzten Teil versuche ich schließlich, die Schwierigkeiten eines zeitgemäßen Plädoyers für die Kleinräumigkeit zu diskutieren und für die Idee eines „Progressive localism“ zu werben.

8

Vgl. z.B. de Geus, Marius: Ecological Utopias. Envisioning the Sustainable Society, Utrecht 1999.

9

Vgl. Thoreau, Henry David: Walden. Or Life in the Woods, New York 1939[1854].

10 Vgl. z.B. McGinnis, Michael Vincent (Hrsg.): Bioregionalism, London 1999.

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DIE KERNIDEE DER NACHHALTIGKEIT Es ist bereits angeklungen, dass der Begriff der Nachhaltigkeit – wie derjenige der Heimat – oft vage und gelegentlich vielleicht sogar bewusst mehrdeutig verwendet wird. Mit der Einbürgerung des Begriffs in die Alltagssprache wird ‚Nachhaltigkeit‘ für alle möglichen Zwecke eingesetzt: als Synonym für ‚umweltfreundlich‘, für ‚effektiv‘ bzw. ‚wirkungsvoll‘ oder für ‚anhaltend‘ bzw. ‚dauerhaft‘. Diese vermeintliche Unbestimmtheit darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich das Nachhaltigkeitsdenken auf eine Reihe sehr konkreter Entstehungskontexte und Operationalisierungen zurückverfolgen lässt. Als Ecksteine sei hier bloß kursorisch an die Forstwirtschaft Hans Carl von Carlowitz’ erinnert, an die wachstumskritische ökologische Kritik der 1970er Jahre und schließlich an die Institutionalisierung des Begriffs in der internationalen Politik im 1987 erschienenen Brundtland-Bericht. Mit Carlowitz, dem sächsischen Oberberghauptmann und Begründer der nachhaltigen Forstwirtschaft, wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts das Wort ‚nachhaltend‘ für eine Wirtschaftsweise eingeführt, die nur so viel Holz verbraucht wie auch in vernünftigen Zeithorizonten nachwachsen kann.11 Carlowitz verdichtet damit ein kulturgeschichtlich älteres Handlungsprinzip12 auf einen einzigen Begriff und platziert die Nachhaltigkeit zunächst im Feld der Ökonomik. Nach mehr als 250jähriger kommunikativer Abwesenheit taucht der Begriff schließlich wieder in einem ganz anderen Kontext auf, nämlich im Rahmen der ökologischen Kritik der 1970er Jahre. Diese erinnert uns beispielsweise in Gestalt der 1972 erschienenen Studie The Limits to Growth13 an die Unvereinbarkeit exponentiellen Wachstums (von Wirtschaft, Bevölkerung usw.) mit einem prinzipiell begrenzten Planeten. In der Studie findet sich der Begriff der Nachhaltigkeit zwar noch eher randlich – er wird nur an insgesamt sechs Stellen im Dokument überhaupt verwendet –, aber das Nachhaltigkeitsdenken erhält mit den „Grenzen des Wachstums“ einen massiven Impuls und das Wort wird in der Folge zu einem der prominentesten Kürzel ökologischen Denkens.

11 Vgl. Carlowitz, Hans Carl von: Sylvicultura oeconomica. Anweisung zur wilden Baum-Zucht, Reprint der Ausgabe von 1713, Freiberg 2000. 12 Vgl. Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit, insbes. S. 43 ff. 13 Vgl. Meadows, Donella/Meadows, Dennis L./Randers, Jørgen/Behrens III, William W.: The Limits to Growth. A Report for THE CLUB OF ROME’s Project on the Predicament of Mankind, New York 1972.

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Der Brundtland-Bericht von 1987 schließlich stellt von ‚Nachhaltigkeit‘ als politischer Zauberformel um auf ‚nachhaltige Entwicklung‘ und definiert diese als „development […] that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs“.14 Nachhaltige Entwicklung soll also intergenerative Gerechtigkeit (diachrone Perspektive) sowie globale Gerechtigkeit (synchrone Perspektive) gewährleisten15 und – wie im Gefolge des Earth Summit von Rio 1992 prägnant formuliert wurde – Ökonomie, Ökologie und Soziales miteinander versöhnen. Bei aller Unterschiedlichkeit der Entstehungskontexte der genannten Ansätze und trotz der allseits beobachtbaren Entgrenzung des Nachhaltigkeitsbegriffs lässt sich dennoch so etwas wie ein gemeinsamer Kern der verschiedenen Konzepte identifizieren: die ‚Einrichtung überlebensfähiger Verhältnisse‘. Nachhaltigkeit meint also im elementarsten Sinne die Fähigkeit, etwas auf Dauer zu stellen – nämlich das gemeinsame Leben auf dem Planeten.16 Eine solch weite Formulierung des Nachhaltigkeitsgedankens ist deshalb wichtig, weil mit ihr auch Ansätze in den Blick geraten, die nicht mit dem Nachhaltigkeitsbegriff als spezifischem Terminus technicus operieren – weil sie beispielsweise das Konzept der nachhaltigen Entwicklung als hegemoniale Idee des globalen Nordens ablehnen,17 jedoch derselben Grundidee verpflichtet sind. Wenn im Folgenden also von ‚Nachhaltigkeit‘ die Rede ist, dann sind damit unabhängig der Selbstbezeichnungen Ansätze gemeint, die sich kritisch mit der modernen Zerstörung der planetarischen Lebensgrundlagen auseinandersetzen und prospektiv Lösungswege der ökologischen Krise aufzeigen.

NACHHALTIGKEIT UND HEIMAT Dass es inhaltliche Berührungspunkte von Heimat- und Nachhaltigkeitsdiskursen gibt, mag trotz der vermeintlich diametralen geographischen Horizonte kaum überraschen – zu sehr jedenfalls scheinen Fragen des Natur- und Umweltschutzes in der Heimatdebatte schon kanonisiert und erschöpfend behandelt worden 14 World Commission on Environment and Development: Our Common Future. Report of the World Commission on Environment and Development, New York 1987, S. 24. 15 Vgl. Grunwald, Armin/Kopfmüller, Jürgen: Nachhaltigkeit, Frankfurt a. M. 2011, S. 31-40. 16 Vgl. Grober: Entdeckung, S. 18 ff. 17 Vgl. z.B. Tulloch, Lynley/Neilson, David: The Neoliberalisation of Sustainability, In: Citizenship, Social and Economics Education 13/1 (2014), S. 26-38.

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zu sein. Ein paar Andeutungen mögen dazu genügen: Autoren wie Friedemann Schmoll etwa haben ausführlich auf die historische Verwicklung des Heimatkonzepts mit Fragen des Erhalts der natürlichen Umwelt (beispielsweise im deutschen Kaiserreich) hingewiesen.18 Bei Frank Uekötter und Joachim Radkau wurde die unheilvolle Verbindung von Natur- und Heimatschutz im Nationalsozialismus aufgearbeitet.19 Und insbesondere in jüngerer Zeit werden Heimatfragen – kritisch wie affirmativ – im Kontext des Schutzes einheimischer Spezies vor so genannten invasiven Arten thematisiert.20 Diese Wahlverwandtschaft von Heimat- und Nachhaltigkeitsdiskursen zeigt sich schließlich auch auf einer strukturellen Ebene. Fragt man nämlich nicht nach der expliziten Thematisierung von Natur, sondern rückt allgemeinere Kategorien ins Blickfeld – wie etwa Fragen nach den Konjunkturen, der narrativen Struktur und dem gesellschaftlichen Anspruch der Diskurse –, dann fallen Gemeinsamkeiten auf einer tieferen Ebene auf, wie z.B. folgende: • Der Bezug auf entweder erlebte oder zumindest antizipierte bzw. imaginierte Krisen: Die Idee der Heimat ist dabei kulturgeschichtlich eng mit Modernisierung und Modernekritik verbunden. Bereits in der einflussreichen Heimatbewegung des deutschen Kaiserreichs beispielsweise wurden mit der Modernisierung einhergehende Phänomene wie Landflucht und Urbanisierung, der Verlust traditioneller Gemeinschaft oder nicht-industrialisierter Landschaften als Zeichen eines kulturellen Niedergangs beklagt.21 Modernisierung wird hier mit Krise und drohendem Heimatverlust gleichgesetzt. Analog dazu ist für die Idee der Nachhaltigkeit die Annahme einer (ökologischen) Krisenhaftigkeit der Gegenwart und der fundamentalen Vulnerabilität menschlicher Existenz konstitutiv. Der Brundtland-Bericht etwa spricht in Bezug auf den Planeten 18 Schmoll, Friedemann: Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. 2004. 19 Uekötter, Frank/Radkau, Joachim (Hrsg.): Naturschutz und Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 2003; Uekötter, Frank: The Green and the Brown. A History of Conservation in Nazi Germany, Cambridge 2006. 20 Vgl. für eine kritische Perspektive dazu z.B. Reichholf, Josef: Naturschutz. Krise und Zukunft, Berlin 2010, S. 60 ff.; Coates, Peter: Strangers on the Land. American Perceptions of Immigrant and Invasive Species, Berkeley 2007; Eser, Uta: Strangers in Paradise. How Culture Shapes Attitudes Towards Introduced Species, In: Krumm, Frank/Vitková, Lucie (Hrsg.): Introduced Tree Species in European Forests. Opportunities and Challenges, Freiburg 2016, S. 58-67. 21 Exemplarisch dafür: Rudorff, Ernst: Heimatschutz, St. Goar 1994 [1897/1926], S. 24.

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Erde von einem „small and fragile ball“, verweist auf die Unfähigkeit der Menschheit, ihre Aktivitäten auf nicht-zerstörerische Weise in die natürlichen Prozesse einzupassen, und warnt vor den lebensbedrohlichen Konsequenzen der gegenwärtigen, nicht-nachhaltigen Lebensweisen.22 • Die Zentralität der temporalen Dimension: Für beide Konzepte ist das Verknüpfen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer übergeordneten Erzählung wesentlich, d.h. sie stellen Fragen nach dem Woher und dem Wohin ins Zentrum.23 Die klassische Heimatidee referiert auf eine Vergangenheit, die in der einen oder anderen Form zum Leitbild für das Leben in Gegenwart und Zukunft werden soll. Nachhaltiges Handeln indessen bedeutet, aus den Erfahrungen der Vergangenheit Konsequenzen zu ziehen und die langfristige Zukunft in die Entscheidungen der Gegenwart zu integrieren.24 Beide Konzepte eint also, Gegenwartserfahrungen durch Kontextualisierung in einer übergeordneten Erzählung – beispielsweise des Verlusts und der Bedrohung – mit zusätzlichem Sinn auszustatten. Sowohl der Heimat- als auch der Nachhaltigkeitsbegriff erfüllen somit eine gesellschaftliche Orientierungsfunktion. • Der normative Überschuss. Beide Konzepte sind auf Vorstellungen eines individuell wie kollektiv gelingenden Daseins bezogen, d.h. sie haben zumindest implizit eine Vorstellung vom guten, nicht-entfremdeten Leben. In Bezug auf die Heimatidee wird dies besonders in restaurativen Ansätzen sichtbar, die eine Gleichheit von Vergangenheit und Zukunft anstreben und zur Wiederherstellung des Vergangenen aufrufen. Moralische Appelle sind schließlich auch Kern der Nachhaltigkeitsdebatte, in der eine allgegenwärtige Differenz zwischen (ökologischem, ökonomischem, sozialem) Sein und Sollen konstatiert wird. Die Einrichtung überlebensfähiger Verhältnisse wird dabei mit einer Vielzahl an Handlungsaufforderungen verknüpft, die sich sowohl an Kollektive richten (z.B. Weltklimagipfel) als auch an Individuen (man denke die zahlreichen ökologischen Imperative im Alltag). Es lässt sich festhalten: Was ihre Tiefenstruktur anbelangt, weisen die Debatten um Heimat und Nachhaltigkeit einige bemerkenswerte Parallelen auf. Es scheint daher nur folgerichtig, dass Fragen nach dem Erhalt natürlicher Lebenswelten eine prominente Rolle im Heimatdiskurs gespielt haben. Nun gilt es umgekehrt 22 World Commission on Environment and Development: Common Future, S. 18. 23 Vgl. dazu in Bezug auf die Heimatdebatte Joisten, Karen: Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie, Berlin 2003, S. 24. 24 Nachhaltige Entwicklung wird deshalb nicht selten mit dem – semantisch gleichwohl zweifelhaften – deutschen Wort „Zukunftsfähigkeit“ übersetzt.

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zu fragen, welche Spuren des heimatlichen Ideals des Kleinräumigen sich in der Nachhaltigkeitsdebatte finden lassen.

DAS IDEAL KLEINRÄUMIGER LEBENSVERHÄLTNISSE Man hätte (zumindest bis vor Kurzem) meinen können, Plädoyers für das räumlich Kleine seien alles andere als zeitgemäß. Schließlich scheinen die Standarderzählungen der westlichen Moderne wesentlich Geschichten der irreversiblen Ausweitung und Zunahme globaler Verflechtungen zu sein.25 Es überrascht daher auch kaum, dass für die Kleinräumigkeit nur selten – und wenn, dann meist an den Rändern der (sozial-)wissenschaftlichen Debatte – argumentiert wurde. Autoren wie der österreichische Nationalökonom Leopold Kohr etwa machten bereits seit den frühen 1940er Jahren auf die Vorzüge der Region als politischer Organisationseinheit und Bezugsgröße des guten Lebens aufmerksam – „KleinSein oder Nicht-Sein, das ist die Frage“,26 – konnten aber ihren Exotenstatus kaum abschütteln.27 Anders in der Nachhaltigkeitsdebatte. Hier wurden spätestens im Zuge des verstärkten Bewusstwerdens einer globalen ökologischen Krise in den 1960er und 1970er Jahren Fragen des räumlichen Maßstabs nachhaltiger Lebensweisen thematisiert. Die Begründungsmuster für Kleinheit und Übersichtlichkeit können dabei ganz unterschiedlich ausfallen. Drei will ich im Folgenden besonders hervorheben: pragmatisch-technische, politische und kulturkritische. 25 Wobei diese Annahme in mehrfacher Hinsicht trügerisch ist. Erstens müssen das Kleine und das Große auch unter globalisierten Bedingungen keine Gegensätze sein, sondern stehen – wie Begriffe wie „Glokalisierung“ betonen – in einer dialektischen Beziehung (siehe dazu auch die unten folgenden Überlegungen zur Multiskalarität). Und zweitens ist das Bild einer homogenen, unilinearen Globalisierung auch empirisch kaum stimmig. Globalisierungsprozesse waren historisch nie ausschließlich Expansionsbewegungen, sondern beinhalteten – z.T. bereichsspezifisch – stets auch Phasen der Kontraktion und des Rückzugs ins Kleine(re). Vgl. dazu z.B. Osterhammel, Jürgen: Globalisierungen, In: Ders.: Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur Globalen Gegenwart, München 2017, S. 12-41, hier S. 26 ff. 26 Kohr zit. in Bauer, Dolores M.: Leopold Kohr – ein Blatt, ein Bild, ein Wort, In: Altner, Günter/Leitschuh-Fecht, Heike/Michelsen, Gerd/Simonis, Udo E./von Weizsäcker, Ernst U. (Hrsg.): Jahrbuch Ökologie 2005, München 2004, S. 258-259, hier S. 258. 27 Vgl. Kohr, Leopold: The Breakdown of Nations, London 1957.

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Pragmatisch-technische Begründungsmuster Pragmatisch-technisch sollen hier solche Begründungsmuster genannt werden, die ganz ohne ideologischen Überbau – gewissermaßen auf der grundlegenden Argumentationsebene – auf die unmittelbaren Vorzüge der Kleinräumigkeit verweisen. Sie beruhen im Wesentlichen auf der Alltagsannahme, dass kurze Wege auch einen kleineren ökologischen Fußabdruck sowie größere soziale Nähe zur Folge haben. Kleinräumig eingerichtete Ökonomien seien dementsprechend z.B. vorzuziehen, weil ihr Stoff- und Energieumsatz geringer ist als derjenige von Gesellschaften, die in globalen Austauschbeziehungen stehen und die ganze Welt in ihre Reichweite gebracht haben. Entsprechende Chiffren für solche Argumentationstypen sind etwa die Forderung nach einer „Regionalisierung der Produktion“28 oder der Appell an die KonsumentInnen, möglichst regional und saisonal einzukaufen.29 Dass diese alltägliche Raumlogik allerdings manchmal trügerisch sein kann, zeigen die inzwischen zu einer gewissen Prominenz gelangten Beispielfälle kontraintuitiver Ökobilanzen – wenn etwa der Apfel aus Neuseeland oder der Wein aus Südafrika die bessere Ökobilanz aufweisen, weil sie nicht monatelang im energieintensiven Kühlhaus gelagert oder von zahllosen Kleinerzeugern aufwändig transportiert werden müssen.30 Es ist zu vermuten, dass die Debatte um 28 Vgl. z.B. Graehl, Sven/Fichtner, Wolf/Rentz, Otto: Regionalisierung als Beitrag zur Nachhaltigkeit im Bereich der industriellen Produktion, In: Raumforschung und Raumordnung 59/1 (2001), S. 29-38; Linton, Jonathan D./Klassen, Robert/Jayaraman, Vaidyanathan: Sustainable Supply Chains. An Introduction, In: Journal of Operations Management 25/6 (2007), S. 1075-1082; Voswinckel, Themo/Kraut, Andreas/Krolle, Yannick: Regionalisierung – die Zukunft der Produktion?, In: Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb 113/1-2 (2018), S. 12-16. 29 Vgl. z.B. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen (WBGU): Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, Berlin 2011, S. 197, S. 322; Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE): Der Nachhaltige Warenkorb, Berlin 2018, https://www.nachhaltigkeitsrat.de/wp-content/ uploads/migration/documents/Broschuere_Nachhaltiger_Warenkorb_2018_Folder16.pdf (18.09.2018). 30 Vgl. Schlich, Elmar: Zur Energieeffizienz regionaler und globaler Prozessketten. Das Beispiel Wein aus Erzeugerabfüllung, In: Journal für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit 4/1 (2009), S. 68-74; Milà i Canals, Llorenç/Cowell, Sarah J./Sim, Sarah/Basson, Lauren: Comparing Domestic versus Imported Apples. A Focus on Energy Use, In: Environmental Science and Pollution Research International 14/5

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solche quantitativen Studien weniger aus Gründen, die mit dem eigentlichen Sachverhalt etwas zu tun haben, so polemisch geführt wird,31 sondern vielmehr, weil hier die althergebrachte Identifikation des Nahen mit dem Guten eine Irritation erfährt und ein eingeübtes geographisches Deutungsmuster plötzlich nicht mehr verlässlich erscheint. Es gibt im Bereich der pragmatisch-technischen Begründungsmuster noch einen zweiten Argumentationstypus. Dieser operiert nicht wie die oben genannten Beispiele in einem ausschließlich naturwissenschaftlichen Sinne mit Ökobilanzen, sondern rückt auch die sozialen Vorteile nahräumlicher Beziehungen ins Blickfeld. Prägnant zeigt sich dieses Argument z.B. an den Überlegungen des Umweltökonomen und Volkswirts Niko Paech, der über eine neue „Ökonomie der Nähe“ behauptet: „Unmittelbare Beziehungen, die über anonyme Marktinteraktionen hinausgehen, erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die Logik reiner Profit- und Kapitalertragsmaximierung von informellen sozialen Normen und Beziehungen […], durchbrochen wird. Verstärkt werden derartige Wirkungen dadurch, dass sich die Akteure mit ihrer Region, folglich auch mit der dort beheimateten Ökonomie, identifizieren.“32

Der Zusammenhang von Paechs Plädoyer für lokale, auf Eigenversorgung und Suffizienz ausgerichtete Ökonomien und der Idee der Heimat lässt sich dabei kaum übersehen: Regionalität und Kleinräumigkeit fungieren hier als Medien des sozialen Zusammenhalts und ermöglichen Vertrauen zwischen Akteuren. Lokale Gemeinschaft und das Wirtschaften in unmittelbarer Nachbarschaft gelten dann nicht nur als Mittel gegen die verheerenden ökologischen Konsequenzen des globalen Kapitalismus, sondern werden auch als Ermöglichungsfaktoren einer am Gemeinwohl orientierten Ökonomie präsentiert.

(2007), S. 338-344; Blanke, Michael/Burdick, Bernhard: Energiebilanzen für Obstimporte. Äpfel aus Deutschland oder Übersee?, In: Erwerbs-Obstbau 47/6 (2005), S. 143-148. 31 Vgl. Neubacher, Alexander: Ökofimmel. Wie wir versuchen die Welt zu retten – und was wir damit anrichten, München 2012. 32 Paech, Niko: Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie, München 2012, S. 114-115.

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Politische Begründungsmuster Der zweite Typus sind politische Argumente für kleinräumige Lebensverhältnisse. Unter ‚Politik‘ verstehe ich dabei weniger (ausschließlich) staatliche, formalisierte Prozesse der Aushandlung und Steuerung, sondern in einem ganz allgemeinen Sinne die Verständigung über die Formen der Ko-Existenz und die kollektive Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten. In diesem Sinne ‚politische‘ Begründungsmuster für Nahräumlichkeit zeichnen sich im Reden über Nachhaltigkeit dann dadurch aus, dass sie erstens einen Zusammenhang zwischen der Form des Zusammenlebens und der Fähigkeit zur Einrichtung überlebensfähiger Verhältnisse behaupten und zweitens räumlicher Nähe nicht nur einen ökologischen, sondern auch einen politischen Mehrwert zuschreiben. Exemplifizieren lässt sich dies z.B. am Ansatz des US-amerikanischen ÖkoAnarchisten und Mitbegründer des Libertären Munizipalismus, Murray Bookchin. Dreh- und Angelpunkt der im Schatten der ökologischen Krise verfassten Schriften Bookchins ist die Forderung nach einer Dezentralisierung: „If we are to survive ecological catastrophe, we must decentralize, restore bioregional forms of production and food cultivation, diversify our technologies, scale them to human dimensions, and establish face-to-face forms of democracy.“33

Der hier propagierte „Eco-Decentralism“ geht analog zu den genannten technisch-pragmatischen Ansätzen davon aus, dass räumlich ausgreifende Lebensverhältnisse eine gravierende und auf Dauer kaum tragbare ökologische Belastung darstellen. Daher seien zur Bewältigung der ökologischen Krise kleine, genau an die Tragfähigkeit der sie umgebenden Ökosysteme angepasste Kommunen zu etablieren.34 Auch wenn Bookchin sich mit konkreten naturwissenschaftlichen Begründungen wider die Zentralität und das Große zurückhält, lassen sich dennoch ein paar Anhaltspunkte seiner Kritik ausmachen. So etwa hebt er Phänomene wie den Verbrauch fossiler Energieträger durch die Mobilitätsanforderungen moderner Gesellschaften oder etwa die Versiegelung großer Flächen durch ausufernde Wohn- und Verkehrsinfrastrukturen als ökologisch problematisch hervor.35 Der entscheidende Punkt ist dabei allerdings: Bookchin leitet aus der Bestandsaufnahme ökologischer Probleme nicht etwa moralische Appelle an die 33 Bookchin, Murray: Toward an Ecological Society, Montréal 1980, S. 27. 34 Ebd., S. 68. 35 Ebd., S. 39.

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Individuen ab, ihre fragwürdigen Verhaltensweisen zu ändern, sondern fragt nach den strukturellen Ursachen der Überschreitung ökologischer Grenzen. Als solche macht Bookchin – kaum verwunderlich für einen Anarchisten – insbesondere soziale Hierarchie- und Herrschaftsverhältnisse aus: „If we are to find the roots of the present ecological crisis, we must turn not to technics, demographics, growth, and a diseased affluence alone; we must turn to the underlying institutional, moral, and spiritual changes in human society that produced hierarchy and domination – not only in bourgeois, feudal and ancient society, nor in class societies generally, but at the very dawn of civilization.“36

Hierarchisch organisierte Massengesellschaften mit einer politischen Klasse, die mit der Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten betraut ist, neigen Bookchin zufolge dazu, auch die natürliche Welt als ein Objekt von Dominanzbeziehungen zu betrachten. Die Fähigkeit, Natur als universell verfügbares „storehouse of matter“ zu betrachten, leitet sich demzufolge direkt von der Fähigkeit ab, andere Menschen als zu kontrollierendes Mittel zum Zweck anzusehen.37 Als Antidot der krisenhaften herrschaftsförmigen Gesellschaft-NaturBeziehungen schlägt Bookchin schließlich eine Rückkehr zum „menschlichen Maß“ durch die Ermächtigung lokaler, basisdemokratisch organisierter Gemeinschaften vor. Diese „ecocommunities“ sollen wahrhafte politische Teilhabe und politische Emanzipation durch face-to-face Beziehungen ermöglichen und gleichsam en passant zu einem nachhaltigeren Naturverständnis beitragen.38 Interessant ist Bookchins Vorschlag darüber hinaus auch, weil er im Gegensatz zu vielen anderen Plädoyers für Kleinräumigkeit nicht etwa ländliche Ideale vor Augen hat und einer klassischen Agrarromantik anhängt, sondern sich an der Idee der griechischen Polis orientiert.39 Bookchin bricht also mit der im ökologischen Diskurs weit verbreiteten Stadtkritik und entwickelt einen explizit um urbane Ideale der Freiheit und Selbstbestimmung herum entwickelten Munizipalismus.40 Implizit scheint er dabei – ganz nah an den Fragen der Heimatdebatte –

36 Ebd., S. 40. 37 Ebd. 38 Vgl. ebd., S. 28, S. 69, S. 110. 39 Ebd., S. 68, S. 100 ff. 40 Vgl. z.B. Biehl, Janet/Bookchin, Murray: The Politics of Social Ecology. Libertarian Municipalism, Montréal 1998, S. 53 ff.

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von einer quasi-natürlichen Maßstabsgrenze erfahrbarer bzw. basisdemokratisch steuerbarer Gemeinschaften auszugehen. Kulturkritische Begründungsmuster Der dritte Typus von Begründungsmustern für die Kleinräumigkeit der Lebensverhältnisse schließlich erhebt die bei Bookchin angelegte normative Analyse der Gegenwart zum Leitprinzip. Kulturkritische Ansätze setzen die Alltagserfahrungen eines entfremdeten, nicht-nachhaltigen Lebens in den Kontext einer historischen Metaerzählung des Verlusts. Sie beziehen ihre wertende Kraft dabei aus der behaupteten Differenz zwischen einer besseren bzw. wünschenswerteren Vergangenheit und einer demgegenüber defizitären Gegenwart.41 Die so konstruierte Verfallsgeschichte geht dabei nicht selten in einen Alarmismus über, der zur (üblicherweise gerade noch möglichen) Abwendung der Katastrophe aufruft.42 Im Kontext der Debatte um überlebensfähige Verhältnisse und das Kleine mögen zwei Beispiele diesen Argumentationstypus illustrieren: Das erste ist der britische Ökonom Ernst Friedrich Schumacher mit seiner 1973 erschienenen Studie Small is beautiful.43 Die in der deutschen Übersetzung schon im Titel prominent platzierte Forderung nach einer „Rückkehr zum menschlichen Maß“44 soll Schumacher zufolge die Entwurzelung bzw. Entfremdung des modernen Menschen kurieren, welcher durch Technologie und technokratische Herrschaft unter „einer nahezu umfassenden Vergötterung des Gigantischen“ leide.45 „Der Mensch“, so Schumacher, „ist klein, und daher ist klein schön. Wer auf Riesenhaftigkeit setzt, der setzt auf Selbstzerstörung.“46 41 Sie sind damit in gewisser Weise die schärfste Form des oben bereits genannten Krisenbezugs von Heimat und Nachhaltigkeit. 42 Vgl. zu diesem Motiv insbesondere Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a. M. 2014, S. 297 ff. 43 Schumacher, Ernst Friedrich: Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Alternativen für Wirtschaft und Technik „Small is beautiful“, Reinbek 1977. 44 Die Formel des „menschlichen Maßes“ geht dabei auf den oben bereits genannten und mit Schumacher befreundeten Leopold Kohr zurück. 45 Schumacher: Die Rückkehr zum menschlichen Maß, S. 61, S. 59. In der Forderung nach einer Rückkehr artikuliert sich im Übrigen auch die der Kulturkritik eigene „Wiederherstellungserwartung“ am deutlichsten. Vgl. dazu Konersmann, Ralf: Kulturkritik und Wiederherstellungserwartung, In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 41/1 (2011), S. 59-76, hier S. 64. 46 Schumacher: Die Rückkehr zum menschlichen Maß, S. 144.

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Der Fetisch des Großen bezieht sich Schumacher zufolge nicht nur auf ökonomische Kennzahlen wie etwa das Bruttoinlandsprodukt, sondern auch auf die scheinbare Selbstverständlichkeit, dass größere Unternehmen, größere Institutionen oder größere Nationalstaaten zwangsläufig auch bessere Unternehmen, Institutionen und Staaten sind.47 Dies jedoch ist nach Schumacher nicht nur empirisch kaum haltbar, sondern unterläuft auch ein natürliches menschliches Bedürfnis nach Übersichtlichkeit: „Während viele Theoretiker – die möglicherweise keine sehr enge Berührung mit der Wirklichkeit haben – die Größe verherrlichen, gibt es bei realistisch denkenden Menschen im täglichen Leben ein starkes Verlangen und ein Streben danach, die Vorteile der Kleinheit zu nutzen, wo immer das möglich ist: Annehmlichkeit, Menschlichkeit und Überschaubarkeit.“48

Statt auf Wachstum und Größe setzt Schumacher auf ökonomische Selbstbegrenzung und so genannte „mittlere Technologien“,49 d.h. auf dezentrale Technologien, die sinnvolle, Erfüllung bietende menschliche Arbeit nicht überflüssig machen, die einen geringeren ökologischen Fußabdruck als die Infrastrukturen der entwickelten Industriegesellschaften besitzen und in ihrer Unmittelbarkeit und Einfachheit für jedermann verfügbar sind.50 Das Credo Schumachers ließe sich dementsprechend in der Forderung nach Komplexitätsreduktion und Einfachheit zusammenfassen – eine Idee, die unübersehbare Parallelen zum Heimatdenken aufweist. Radikalisiert wird das fortschrittskritische Denken Schumachers schließlich bei Theodore Kaczynski, besser bekannt als „Unabomber“. Der BerkeleyMathematiker und spätere Terrorist Kaczynski argumentierte – als eine Art Wiedergänger der Maschinenstürmer des frühen 19. Jahrhunderts –, die Industrialisierung und zunehmende Durchdringung des Alltagslebens mit Technik hätten zu einer zunehmenden Fremdbestimmtheit des Menschen geführt. In dem als „Unabomber Manifesto“ bekannt gewordenen Text Industrial Society and its Fu-

47 Ebd., S. 58. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 140. 50 Ebd., S. 133 ff.

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ture51 von 1995 brandmarkt Kaczynski die Industrialisierung konsequenterweise als verheerenden Entwicklungspfad der menschlichen Geschichte: „The Industrial Revolution and its consequences have been a disaster for the human race. […] [T]hey have destabilized society, have made life unfulfilling, have subjected human beings to indignities, have led to widespread psychological suffering […] and have inflicted severe damage to the natural world.“52

Kaczynski knüpft mit diesem Argument nicht nur an den politischen Aktivismus der Ludditen an, sondern auch an Motive der sozialwissenschaftlichen und philosophischen Technikkritik, wie sie z.B. in den 1950er und 1960er Jahren prominent von dem französischen Soziologen und Theologen Jacques Ellul entwickelt wurden.53 Mit Theoretikern wie Ellul teilt Kaczynski die Annahme, dass Technik mehr als bloße Hardware ist – nämlich eine bestimmte, auf Effizienzsteigerung gerichtete Art des Denkens und Handelns. Mit der zunehmenden Technisierung moderner Gesellschaften komme es dabei nicht nur zu einer Bedrohung der materiellen Lebensgrundlagen, sondern – durch eine zunehmende Sinnentleerung des Lebens in der Moderne und die Zunahme von Stress54 – auch zu einer Gefährdung der psychischen Gesundheit. Ökologische Krise und Entfremdung sind bei Kaczynski also zwei Seiten ein und desselben Phänomens. Eine Bearbeitung der Krisenphänomene (d.h. die Einrichtung überlebensfähiger Verhältnisse) könne sich daher auch nicht mehr moderner Mittel bedienen, wie es etwa seit den 1990er und insbesondere in den 2000er Jahren unter Stichworten wie „ökologische Modernisierung“ oder „Green Capitalism“ diskutiert wird,55 sondern müsse in Strategien einer Rückeroberung prä-technologischer Lebensweisen bestehen.56

51 Kaczynski, Theodore J.: Industrial Society and its Future, In: Ders.: Technological Slavery. The Collected Writings of Theodore J. Kaczynski, a.k.a. „The Unabomber“, Port Townsend 2010, S. 36-120. 52 Ebd., S. 38. 53 Vgl. Ellul, Jacques: The Technological Society, New York 1964. Vgl. zu weiteren technikkritischen Bezügen Kaczynskis zudem Skrbina, David: Technological Anarchism. Reconsidering the Unabomber, In: Chromatikon. Yearbook of Philosophy in Progress 5 (2009), S. 191-201. 54 Kaczynski: Industrial Society and its Future, S. 51. 55 Vgl. z.B. Steinberg, Ted: Can Capitalism Save the Planet? On the Origins of Green Liberalism, In: Radical History Review 107 (2010), S. 7-24; Tienhaara, Kyla: Varie-

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Die regressive Ausrichtung des Manifests Kaczynskis basiert dabei letztlich auf einer evolutionstheoretischen Annahme: Die Entfremdung des modernen Menschen sei Folge des gegenwärtigen Zwangs zu einer Lebensweise, die diametral zu den gattungsgeschichtlichen Entstehungsbedingungen menschlicher Gesellschaften stehe.57 Mit anderen Worten: Durch Technisierung hätten Menschen Umwelten erzeugt, für die sie evolutorisch nicht geschaffen sind. Die Rückkehr zu einem menschlicheren Maß wird bei Kaczynski schließlich – ganz analog zu Bookchins Programm – mit der Vorstellung naturwüchsiger kleinräumiger Sozialorganisation verbunden. Diese primitiven, an Familien, Dorf- oder Stammesgemeinschaften orientierten Assoziationen sollen schließlich autonome, naturnahe Lebensweisen ermöglichen.58 Bei Kaczynski zeigt sich somit eine Grundopposition, mit der wir es auch in der Heimatdebatte zu tun haben: Moderne, fragmentierte, als unauthentisch und entfremdet erfahrene Lebenswelten werden einer – zumindest scheinbar – menschlicheren Vergangenheit gegenübergestellt. Die Strategie zur Sicherung überlebensfähiger Verhältnisse – in gleichermaßen ökologischem wie mentalem Sinne – besteht in kulturkritischen Argumentationszusammenhängen dann vornehmlich in Deglobalisierung, räumlicher Entnetzung und Enttechnisierung. Oder anders gesagt: in einer Abschottung des Kleinen.

AUF DEM WEG ZU EINEM „PROGRESSIVE LOCALISM“ Kehren wir zum Ausgang dieses Beitrages zurück. Ich hatte behauptet, dass sich im Heimatdenken und der Nachhaltigkeitsdebatte dieselbe geographische Prämisse finden lässt – die Bindung des guten, nachhaltigen Lebens an das räumlich Kleine. Wir können nun genauer angeben, wie sich die Präferenz der Kleinräumigkeit begründen lässt: von der regionalen Schließung von Stoff- und Energiekreisläufen (die den ökologischen Fußabdruck verringern soll) über die Erzeugung von Vertrauen, Solidarität und demokratischer Beteiligung durch räumliche Nähe bis hin zur Vermeidung von Entfremdungserfahrungen durch ein Leben im Kleinen. Die präsentierten Ansätze tappen also kaum – oder zumindest nicht auf ties of Green Capitalism. Economy and the Environment in the Wake of the Global Financial Crisis, In: Environmental Politics 23/2 (2014), S. 187-204. 56 Hier unterscheidet sich Kaczynski im Übrigen wesentlich von seinem Stichwortgeber Ellul: Regression stellte für Ellul keine realistische Option dar. 57 Kaczynski: Industrial Society and its Future, S. 51. 58 Ebd.

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den ersten Blick – in die in der geographischen Literatur häufig bemühte „local trap“59, d.h. die alltagsweltliche Annahme, dass das räumlich Kleine per se anderen Maßstabsebenen vorzuziehen ist.60 Laufen die dargestellten Befunde also zwangsläufig darauf hinaus, dass der Rückzug ins Kleine die einzig angemessene Handlungsstrategie zur Sicherung überlebensfähiger Verhältnisse ist? Mitnichten. Dagegen sprechen schon ganz banale Einwände, wie etwa die oben genannten kontraintuitiven Ökobilanzen oder der Dissens darüber, was „klein“ eigentlich ganz konkret bedeutet.61 Darüber hinaus darf natürlich nicht unerwähnt bleiben, dass nicht alle Varianten des Nachhaltigkeitsdenkens auf eine kleinräumige Einrichtung der Lebensverhältnisse aus sind. Ganz im Gegenteil, dem in der internationalen Politik dominanten Nachhaltigkeitsverständnis der Vereinten Nationen beispielsweise wird nicht selten der Vorwurf gemacht, am globalisierten, wachstumsorientierten Status quo festzuhalten und einen alles andere als kleinräumigen Green Capitalism zu befördern.62 So wenig es hier allerdings um die konkreten Erfolgsaussichten eines Rückzugs ins Kleine gehen kann – das wäre Gegenstand komplexer empirischer Untersuchungen –, so wenig darf die Auseinandersetzung mit Dezentralisierungsforderungen bei der von vielen Ansätzen suggerierten Binarität des Kleinen und des Großen stehen bleiben. Es ist nämlich mehr als fraglich, ob ein disjunktes Verständnis geographischer Maßstabsebenen angesichts der Multiskalarität alltäglicher Praxis, d.h. der Gleichzeitigkeit verschiedener Maßstabsebenen, hilfreich für ein zeitgemäßes Verständnis des Kleinen ist. Räumliche Bezüge des Handelns dürften nur selten ausschließlich lokaler oder globaler Art sein, sondern im Alltag werden verschiedene Maßstabsebenen miteinander verflochten und zu neuen sozial-räumlichen Arrangements kombiniert. Um zwei Beispiele aus dem Nachhaltigkeitskontext zu nennen: Die im Rahmen der bundesdeutschen Energiewende allerorten florierenden Bioenergiedör59 Vgl. Brown, J. Christopher/Purcell, Mark: There’s Nothing Inherent About Scale. Political Ecology, the Local Trap, and the Politics of Development in the Brazilian Amazon, In: Geoforum 36/5 (2005), S. 607-624, hier S. 608. 60 Am ehesten wäre das noch den kulturkritischen Argumentationen mit ihren starken normativen Setzungen zu unterstellen. 61 Kleinheit wird in den seltensten Fällen quantitativ präzisiert – was „lokal“ oder „regional“ bedeutet, bleibt in den meisten Ansätzen eigentümlich unbestimmt. 62 Dass jener auf der konkreten Alltagsebene, wie etwa in der Werbung, dann Bilder des kleinräumigen Idylls benutzt, ändert nichts an seiner grundsätzlichen Systemkonformität und ist bestenfalls eine für die Sozialwissenschaften interessante Paradoxie.

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fer und Bürgerenergiegenossenschaften verdanken ihren Erfolg zum großen Teil der Initiative lokal verankerter Gemeinschaften und zielen in materieller Hinsicht auf lokale Suffizienz, d.h. auf energetische Kleinräumigkeit. Sie sind zugleich jedoch in institutioneller Hinsicht in die nationalstaatliche bzw. europäische Energiepolitik integriert und schließen sich zu überlokalen Netzwerken zusammen. Ähnlich operieren zivilgesellschaftliche Initiativen, beispielsweise gegen Windkraft oder Braunkohle-Tagebaue. Diese fühlen sich häufig – und durchaus mit lokalpatriotischen Untertönen – dem Schutz konkreter heimatlicher Landschaften verpflichtet, verbinden sich jedoch zugleich zu nationalen bzw. internationalen Initiativen und zeigen sich überlokal solidarisch.63 Dezentralisierung und Priorisierung des Nahraums sind in diesen Fällen also gerade nicht identisch mit Abschottung und Abwehr, sondern kombinieren Offenheit und Schließung. Mit solcherlei Vernetzungspraktiken ist zwar nicht die historische Hypothek der Heimatidee – die Verbindung kultureller Essentialismen mit der Schaffung homogener Containerräume – aufgehoben, schließlich verbinden sich auch rechtsgerichtete, nationalistische Bewegungen und Parteien zu internationalen Netzwerken und kombinieren damit Offenheit („Für ein Europa“) und Schließung („der Vaterländer“). Allerdings dürften multiskalare Strategien auch dann zu den Voraussetzungen zeitgemäßer Inanspruchnahmen des Kleinen gehören, wenn mit ihnen die Vermeidung von Rückzug, Ab- und Ausgrenzung noch nicht garantiert ist. Fasst man diese Überlegungen zusammen, dann stellen alternative Modelle der Kleinräumigkeit – wie sie gegenwärtig z.B. unter Stichworten wie „Progressive localism“64 oder (in Bruno Latours eigenwilliger Diktion) „Plus-Lokales“65

63 Vgl. Becker, Sören/Naumann, Matthias: Rescaling Energy? Räumliche Neuordnungen in der deutschen Energiewende, In: Geographica Helvetica 72/3 (2017), S. 329-339, hier S. 334; Morton, Tom/Müller, Katja: Lusatia and the Coal Conundrum. The Lived Experience of the German Energiewende, In: Energy Policy 99 (2016), S. 277-287, hier S. 281 ff. 64 Der Begriff stammt ursprünglich aus der britischen Debatte um die – unter dem Deckmantel des „Localism“ den öffentlichen Sektor massiv beschneidenden – liberalkonservativen Dezentralisierungsagenda (2010 bis 2015). „Progressive localism“ bezeichnete in diesem Kontext (ganz im Sinne des vorliegenden Beitrags) „community strategies that are outward-looking and that create positive affinities between places and social groups negotiating global processes“, so Featherstone, David/Ince, Anthony/Mackinnon, Danny/Strauss, Kendra/Cumbers, Andrew: Progressive Localism and

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diskutiert werden – weniger eine Abkehr vom Großen dar, sondern vielmehr eine Abkehr vom Modell des Kleinräumigen als absolut Geschlossenem. In diesem Sinne progressive Rückbezüge auf das Kleine müssten erlauben, das integrierende Potenzial lokaler Identifikation mit einem Habitus der Offenheit und (globalen) Solidarität zu kombinieren. Sie dürften, in den oben genannten Kategorien gesprochen, aus der Krisendiagnose keine Restaurationsforderungen ableiten und müssten Erzählungen entwerfen, die Orientierung anbieten ohne zugleich Zukunftsoffenheit und die Veränderlichkeit räumlicher Konfigurationen abzustreiten.66 Entsprechende geographische Denkmuster weiter auszuloten wäre auch – und vielleicht sogar insbesondere – jenseits akademischer Debatten um Heimat und Nachhaltigkeit ein lohnenswertes Unterfangen.

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IV. Mediatisierte und narrativierte Heimat

„Heimat bewahren“ Inszenierung und Verklanglichung des rechtsextremen Heimatbegriffs durch Monumentalästhetik Yvonne Wasserloos

Von Schloss Neuschwanstein im Allgäu bis zum Hamburger Bismarck-Denkmal wird in opulenten Filmaufnahmen von Süden nach Norden ein Raum durchschritten, der in der aggressiv-pathetisch wirkenden Refrainzeile als „Deutschland, meine [alternativ: uns’re] Heimat“ definiert und vereinnahmt wird. Dieses Setting findet sich im Video zu Heimat (2016) des in der rechtsextremen Szene agierenden Deutsch-Rappers Chris Ares. Vermummte Gestalten marschierten seit 2011 einige Jahre nachts durch deutsche Städte, um im Nachgang mit klangvoluminöser Musik unterlegte Videos dieser Flashmobs über das Internet zu verbreiten. Die rechtsextreme Aktionsform Die Unsterblichen demonstrierte hier mit einem vorgetäuschten Massenaufmarsch gegen den drohenden ‚Volkstod‘ der Deutschen. Den Hang zur Überhöhung spiegeln ebenso die pompöse Musik und raumgreifende Motive aus deutscher Kultur und Natur wider, die in den Clips der Identitären Bewegung zur Propagierung ihrer Parole „Heimat – Freiheit – Tradition“ auftauchen. Rechtsextreme Vorstellungen von Heimat, ihrer Bedeutung, ihres Zustands und eines suggerierten Handlungsbedarfs werden mit ästhetischen Mitteln artikuliert, zwischen denen Monumentalität als Bindeglied dient. Für jeden dieser Akteure gilt, dass die Motive und Perspektiven nicht zufällig, sondern wohlüberlegt ausgewählt und über professionell produzierte Videos verbreitet wurden. Auffällig ist die starke Bezugnahme auf Erinnerungsorte, historische Monumentalarchitektur sowie einen häufig kampfbetonten, glorifizierenden Sound der Musik. Auf kultureller und ästhetischer Basis werden politische Botschaften artikuliert und verbreitet. Vor dem Hintergrund dieses qualita-

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tiven Anspruchs lassen sich ebenso ernst gemeinte Haltungen und Ansprüche im Hinblick auf die ‚Heimat‘ in der rechtsextremen Szene ableiten. Es ist der Frage nachzugehen, welches Begriffsverständnis dort zugrunde zu legen ist und wie es konkret durch Musik und Bilder inszeniert wird. Da die entsprechenden Medienproduktionen codiert zu lesen sind, werden vorab einige Überlegungen zu den theoretischen Voraussetzungen der ästhetischen Konzepte angestellt, um die Entschlüsselung anhand der genannten Beispiele nachvollziehen zu können.

BEGRIFFLICHKEIT UND BEWERTUNG VON „HEIMAT“ IM RECHTSEXTREMISMUS Die Heimat verweist in erster Linie auf eine soziale Lebenswelt, die durch Sprache, Sitte und Gewohnheit lokal, regional oder auch kulturell definier- und verortbar ist. Eine weitere Kategorie lässt sich mit der ‚inneren‘ oder emotionalen Heimat beschreiben, die nicht räumlich, sondern ideell gebunden ist und einen durch Vertrautheit und Zugehörigkeit definierten Rahmen markiert. Sie umfasst das Eigene sowie die Gemeinschaft von Menschen mit verhältnismäßig gleichen Interessen und Bestrebungen und grenzt es vom Fremden ab. Heimat generiert und bietet Gleiches und Gemeinsamkeit und damit Vertrautheit und Selbstbewusstsein.1 Im Rechtsextremismus erwächst ‚Heimat‘ zu einem Begriff des ‚Kulturkampfes‘, der ideologisch aufgeladen und als politische Metapher gegen das Fremde eingesetzt wird. Grundlegend in der Sprache des Rechtsextremismus sind daher Wortfelder, die im Zusammenhang mit der Vorstellung von einer von außen bedrohten Heimat stehen, wie ‚Schicksal‘, ‚Kampf‘, ‚Krieg‘, insbesondere aber ‚Raum‘.2 Der Topos taucht mit Rückbezügen zum Nationalsozialismus unter expliziter Bezugnahme auf den ‚Heimatschutz‘ seit einigen Jahren erneut

1

Vgl. Benz, Wolfgang: „Heimat“ als Metapher im Diskurs der völkischen Rechten, In: Kohlstruck, Michael/Klärner, Andreas (Hrsg.): Ausschluss und Feindschaft. Studien zu Antisemitismus und Rechtsextremismus. Rainer Erb zum 65. Geburtstag, Berlin 2011, S. 124-134, hier S. 124 f.

2

So die Verknüpfung bei Lenk, Kurt: Rechtsextreme „Argumentationsmuster“, In: Aus Politik und Zeitgeschichte 42 (2005), S. 17-22, hier S. 19.

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verstärkt auf.3 Er dient als Gegenentwurf zum demokratischen Staat. Stark verkürzt dargestellt ist eine Parallele zwischen den Rechten und der völkischen NSIdeologie durch die Vorstellung eines ‚deutschen Mythos‘ zu sehen. Dieser drückte sich im Supremat des ‚Deutschen‘ bei gleichzeitiger Ablehnung bis Ächtung des Fremden aus. Diese abstrakte Demarkationslinie wird mit konkreten Grenzen verbunden, d. h. die Bindung einer ethnisch und kulturell definierten Gruppe an ein geographisch definiertes Territorium, ähnlich den Paradigmen von ‚Lebensraum‘ und ‚Blut und Boden‘. Dieses Territorium ist nicht nur räumlich, sondern auch emotional zu verorten und wird mit dem sentimentalen wie gleichermaßen unverfänglichen Begriff der Heimat verknüpft, der mitunter als Synonym für (deutsche) Identität oder Nation benutzt wird. Aufgrund dessen impliziert Heimat die Ausgrenzung des Anderen zum Erhalt des Eigenen. Die Rechtsextremen fordern, Grenzen zu stärken und das Europa der Nationen ohne migrantisch bedingten ‚Bevölkerungsaustausch‘, nach dem Vokabular der Identitären, als in der Form einzig gültigen geographisch-kulturellen Raum bestehen zu lassen. Somit stellt „Heimat bewahren“ ein häufig apostrophiertes Postulat im rechten Lager dar. Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) untertitelt sich neuerdings mit „Die soziale Heimatpartei“. Einer ihrer Ableger, die rechtsextreme Kleinpartei Der III. Weg fordert: „Überfremdung stoppen – Heimat bewahren!“ Auch die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) warb im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2017 mit „Heimat bewahren. Unser Land, unsere Heimat“. In dieser Eigenwahrnehmung lässt sich gleichwohl ein merkwürdiges Schwanken zwischen Glorifizieren und Lamentieren feststellen. Denn latent vorhanden ist im Beharren auf das Recht auf Heimat mit der Betonung auf „unsere“ eine Abwehrhaltung vor dem Fremden bzw. die Angst oder die Vision vom Verlust der Heimat. Der Aufruf zur Verteidigung erfolgt über die bereits erwähnte mediale Präsentation, die den Nährboden zur Ästhetisierung politischen Handelns bietet. Verlustvisionen und Dystopien werden darstellbar, um daraus einen Handlungsbedarf abzuleiten.

3

Vgl. Costadura, Edoardo/Ries, Klaus: Heimat – ein Problemaufriss, In: Dies. (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, S. 7-23, hier S. 17, 22.

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ZUR „ÄSTHETIK DES VERLUSTS“ Ästhetik scheint in im alltagssprachlichen Verständnis zunächst auf das ‚Schöne‘ und die Künste begrenzt zu sein. Seit den 1970er-, mit einem enormen Schub in den 1990er-Jahren, weichen die Grenzen der Orte allerdings auf, an denen Ästhetik ihren Platz hat. Die Ästhetisierung der Welt, d. h. von Lebensart, Politik, Medien, Kommunikation entwickelt sich weiter: auch der Alltag kann transzendiert werden.4 In ästhetisch Gewendetes scheint omnipräsent zu sein, womit Ästhetik zum „Schlüsselphänomen unserer Kultur“ 5 avanciert und gleichzeitig Existenzberechtigung bedeutet. Kulturen lassen sich durch Gesten und Rituale, Symbole und Bilder ästhetisch determinieren. In der Wahrnehmung und auch Decodierung von kulturellen Zeichen wiederum erfolgt die Einordnung des Betrachters dessen, was als „schön“ oder „hässlich“ und damit auch als „richtig“ und „falsch“ gilt.6 In diesem Sinne macht Ästhetik Werte sicht- und definierbar. Auch negative Erfahrungen wie Verlust lassen sich ästhetisieren. Dies geschieht vornehmlich durch den Prozess der Monumentalisierung und der Hypertrophie. Durch die Überhöhung dessen, was verloren wurde oder verlustig gehen könnte, wird diesem eine besondere Bedeutung und Einzigartigkeit beigemessen. Zur Verdeutlichung kann hier das gepflegte Brauchtum und die Präsentation von Objekten mit Identifikationspotenzial der nach dem Zweiten Weltkrieg Heimatvertriebenen angeführt werden (Treffen, Umzüge, Kleidung oder Rituale). Bestandteile ihrer verlorenen Kultur werden als nur zu dieser allein oder zu diesem Landstrich als zugehörig gepflegt und daher in ihrer Bedeutung erhöht. Diese, wie Konrad Köstlin sie bezeichnet, „Ästhetik des Verlustes“ will keine neuen Anschauungen oder neues Wissen schaffen, sondern vorhandenes konservieren und auf eine einzige Perspektive verengen, um Verlust erfahrbar zu machen.7 Zur besonderen Verdeutlichung dieser Überhöhung und der Tragweite des Verlustes dient die Monumentalisierung des ‚bedrohtenʻ Objektes oder Raumes.

4

Vgl. Köstlin, Konrad: Eine Ästhetik des Verlusts, In: Fendl, Elisabeth (Hrsg.): Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung. Referate der Tagung des Johannes-Künzig-Instituts für ostdeutsche Volkskunde am 8.-10. Juli 2009, Münster u.a. 2010, S. 7-23, hier S. 12 f.

5

Ebd., S. 13.

6

Ebd., S. 19.

7

Ebd., S. 18 f.

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HEIMAT UND MUSIK – MONUMENTALITÄT UND EMOTIONALITÄT In der Inszenierung politischen Handelns durch Ästhetik spielt innerhalb der rechtsextremen Szene die Faszination von Monumentalität eine entscheidende Rolle. Sie ist grundlegend für die Übertragung eines auditiven wie visuellen Eindrucks zur Repräsentation von Größe, Bedeutung und Stärke, die vermeintliche Qualitäten einer Nation suggerieren. Erinnerungsorte und bauliche Erzeugnisse sind hier als Teil der Kultur und Geschichte des Landes tragende Säulen, solange sie monumental erscheinen und sich eine Verbindung von Historie, Raum und ‚Volkʻ herstellen lässt. Karl Scheffler beschrieb bereits 1907 in seiner Abhandlung zum Monumentalstil der Jahrhundertwende den Unterschied zwischen Zweck- und Repräsentationsarchitektur. Er ging von Gebäuden als von einem zu lesenden Text aus. Zweckarchitektur sei darin die prosaische, Architektur mit Kunstanspruch die poetische Sprache. Diese Sprache verband Scheffler direkt mit Emotionen: der Anblick eines Zweckbaus löse ein „ähnlich gesteigertes Lustgefühl [aus] als höre man einem guten Volksredner, einem klugen Advokaten zu“. Ein Monumentalbauwerk wirke indessen auf den Betrachter „als höre man Musik oder feierlich dahinrollende Verse.“8 Folglich war die Monumentalität der Vorkriegsarchitektur semantisch behaftet. Während Zweckbauten soziale Lebenswirklichkeiten widerspiegelten, sprach laut Scheffler aus den Monumentalbauten „der aufs Ideal gerichtete Sinn, das Temperament ganzer Gemeinschaften“ zum Betrachter.9 Architektur ist in rechtsextremen Kreisen daher Teil der Debatte zur nationalen Ästhetik, um ‚völkischeʻ Traditionen sichtbar zu machen.10 Hohe, zentrale Gebäude oder öffentlichkeitswirksame Wahrzeichen kehren als Motive in den Aktionsvideos der Identitären Bewegung stets wieder. Bundesweit wurden Örtlichkeiten erklommen und ‚erobertʻ, um dort Parolen-Banner aufzuhängen, beispielsweise „Sichere Grenzen – Sichere Zukunft“ (Brandenburger Tor, Berlin, August 2016), „Eure Politik ist Schrott“ (Bus-Monument, Frauenkirche Dresden, 8

Scheffler, Karl: Moderne Baukunst, Berlin 1907, S. 57, zit. n. Engelke, Jan: Kulturpoetiken des Raumes. Die Verschränkung von Raum-, Text- und Kulturtheorie, Würzburg 2009, S. 236.

9

Vgl. Engelke, Kulturpoetiken, S. 235 f, darin auch das Zitat von Scheffler, Moderne Baukunst, S. 236.

10 Vgl. Weiß, Volker: Bedeutung und Wandel von „Kultur“ für die extreme Rechte, In: Virchow, Fabian/Langebach, Martin/Häusler, Alexander (Hrsg.): Handbuch Rechtsextremismus, Wiesbaden 2016, S. 443-469, hier S. 454.

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Februar 2017), „Aus meinem Schoß gedeih’ / Europas neue Tyrannei“ (‚Verschleierungʻ der Imperia, Konstanz, Oktober 2017) oder „Heimat – Freiheit – Tradition“ (Hohenzollernbrücke, Köln, Januar 2018). Dass diese öffentlichkeitswirksamen Kulissen zur Betonung der ‚Bedeutungʻ der Botschaft parallel zur monumentalen, semantisch aufgeladenen Aura des Ortes ausgesucht wurden, liegt auf der Hand. Vor diesem Hintergrund ist die ablehnende Haltung extremer Kreise zur Architektur der Moderne einzuordnen. In ihrem Verständnis spiegelt diese den Verlust der Bindung an einen Raum wider. Moderne Architektur wird als urban, gesichtslos und insbesondere als internationaler Stil kritisiert und abgelehnt. Vielmehr wird sie als Beweis eines fortschreitenden Traditions- und Heimatverlustes eingeordnet. Als Gegenentwurf wird ein in der Architektur befindlicher ‚Heimatstilʻ propagiert, der mit ‚dem Volkʻ verschmolzen ist. Die ‚Entwurzelungʻ, Identitäts- und Ortlosigkeit eines Volkes werde dagegen in der Architektur nach 1945 sichtbar, wie es völkisch auftretende Autoren wie Claus M. Wolfschlag propagieren.11 Ist der Entwurf von Heimat (auch) in der rechtsextremen Szene eng an ästhetische Paradigmen angelehnt, so ist neben der Architektur die Musik eine wichtige Säule. Generell kann Heimat über Musik, über den Stil, den Klang von regionalen Instrumenten oder einem konkret konnotierten Sound evoziert werden. Daran geknüpft sind (positive) Erinnerungen oder eine Geschmacksentsprechung, was so etwas wie Geborgenheit und Vertrautheit oder in der Wahrnehmung eines ähnlichen Musikinteresses auch Identität und Vergemeinschaftung stiften kann. Das Individuum verortet sich durch das Hören und Erkennen von Musik als ihrem Ort oder ihrer Szene als (nicht-)zugehörig. Musik fungiert als Standort-Bestimmung. Darüber hinaus kann Musik als Erinnerungsort Fixierung oder Stärkung der Heimat und Ortsverbundenheit bedeuten.12 Interessant zu beobachten ist allerdings, dass bei den genannten rechtsextremen Akteuren ein anderes Konzept vorzufinden ist, in dem Musik zwar auf Heimat, aber nicht nur im ideellen, sondern auch im abstrakt räumlichen Sinne referieren soll.13 Besonders beachtenswert ist, dass mitunter die Textebene ver11 Ebd., S. 454 f. 12 Vgl. Chizzalli, Michael/Wiesenfeldt, Christiane: Heimat „hören“ und „singen“. Problemgeschichte und Potenziale des Heimatbegriffs in der Musikforschung, In: Costadura, Edoardo/Ries, Klaus: Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, S. 171-200, hier S. 186. 13 Siehe weiterführend zur Evokation und Gestaltung von (Heimat-)Räumlichkeiten in und durch Musik Chizzalli/Wiesenfeldt, Heimat, S. 187-193.

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nachlässigt und stattdessen der Sound den Part der Kommunikation übernimmt. Der Faktor der Monumentalität ist dabei entscheidend. Einerseits dient sie der Erkenntnis der Beschaffenheit einer imaginären Architektur der rechtsextremen Heimatszenarien und ihrer Medialisierung. Andererseits entlarven der Monumentalitätsaspekt und die damit einhergehende Eigenerhöhung einen Größenwahn, der neben dem Feindbilder und Untergangsszenarien heraufbeschwörenden Verfolgungswahn zu den Kernelementen rechtsextremistischer Denkweisen zählt.14

MONUMENTALISIERUNG, SELBST-ÄSTHETISIERUNG UND POPULARISIERUNG DER „NEUEN RECHTEN“ Waren politische Konzepte bislang relativ leicht zu entschlüsseln und dem rechten bis rechtsextremen Lager zuzuordnen, so markierte die Debatte um Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab (2010) und deren Nachhall den Beginn des Rucks von rechts auf die Mitte zu.15 Eine „Neue Rechte“16 erwuchs daraus, die sich umdefinierte und zur Erschaffung eines moderateren Images eine zunehmende Verschleierung rechtsgerichteten Denkens mit sich brachte. Die Unsterblichen sowie die Identitäre Bewegung bedien(t)en sich der Popkultur, um neue Konzepte der Artikulierung und Verbreitung konservativen, archaischen Denkens und Forderns aufzuwerfen und politisches Handeln zeitgemäß erscheinen zu lassen.17 Rassistische Gedankengebilde werden in eine ‚moderatereʻ, nationa14 Lenk, Kurt; Ideengeschichtliche Dimensionen rechtsextremen Denkens, In: Aus Politik und Zeitgeschichte 9-10 (1998), S. 13-19, hier S. 14. 15 Vgl. Druxes, Helga: Manipulating the Media. The German New Right’s Virtual and Violent Identities, In: Simpson, Patricia Anne/Druxes, Helga (Hrsg.): Digital Media Strategies of the Far-Right in Europe and the United States, New York/London 2015, S. 123-139, hier S. 124 f. 16 Zur Definition und kritischen Auseinandersetzung mit dem problembehafteten Begriff siehe Stöss, Richard: Die „Neue Rechte“ in der Bundesrepublik, In: Dossier Rechtsextremismus, Bundeszentrale für politische Bildung, 07.07.2016. http://www.bpb.de/ politik/extremismus/rechtsextremismus/229981/die-neue-rechte-in-der-bundesrepub lik (24.07.2018). 17 Vgl. Sieber, Roland: Von „Unsterblichen“ und „Identitären“ – Mediale Inszenierung und Selbstinszenierung der extremen Rechten, In: Braun, Stephan/Geisler, Alexander/Gerster, Martin (Hrsg.): Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, Wiesbaden 22016, S. 365-375, hier S. 365.

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listische Sprache implementiert, die einer breiteren Gesellschaftsschicht angeboten werden kann. Angesprochen wird sie über die digitalen Medien. Darin sehen sich die ‚Neuen Rechtenʻ der Erringung einer ‚kulturellen Hegemonieʻ näherkommen, indem sie ihre Positionen in gesellschaftlichen und politischen Formaten und Diskursen und nicht im ‚Kampf um die Straßeʻ durchzusetzen versuchen.18 Die mediale Präsenz des Rechtsextremismus findet seit einigen Jahren durch die intensive Nutzung des Internets und der Social Media auf einem Status statt, der als ‚modernʻ und multiplikatorisch wirksam bezeichnet werden muss. Grundlegend ist eine konzeptuelle Selbstinszenierung zur Abgrenzung von den althergebrachten Symbolen und Auftritten der bisherigen Neonazi-Szene. Bereits 2014 ist im Verfassungsschutzbericht zu lesen, dass Rechtsrock mit ShoutingTexten, harschem Sound oder undercover organisierte Konzerte an Relevanz verloren haben.19 Stattdessen setzt die ‚Neue Rechteʻ auf strategisch platzierte musikalisch-mediale Formate, um insbesondere auf ein junges Publikum einzuwirken. 1. Die Unsterblichen Die eher als Aktionsform einzustufenden Unsterblichen gingen auf die Widerstandsbewegung in Südbrandenburg zurück, die 2009 mit rassistischen Argumentationsmustern und der Parole „Demokraten bringen uns den Volkstod“ hetzten. Als Motivation und Forderungen war auf der Homepage zu lesen, dass die Unsterblichen bundesweit auf das „Schandwerk der Demokraten“ aufmerksam machen und gegen die „Verringerung“ der Deutschen und „Überfremdung“ eintreten wollten.20 Obwohl mittlerweile zumindest offiziell Vergangenheit, da im Mai 2014 als verfassungswidrig verboten, sind Die Unsterblichen durch ihr damals 2011 neuartiges Medienkonzept als modellhaft und nachwirkend für andere rechtsextreme Gruppierungen einzuschätzen. Sie bedienten sich linker oder autonomer Symbole, wie schwarze Kapuzenpullis, weiße Masken als Entlehnung der Guy Fawkes18 Vgl. Sturm, Michael: Schicksal – Heldentum – Opfergang. Der Gebrauch von Geschichte durch die extreme Rechte, In: Langebach, Martin/Sturm, Michael (Hrsg.): Erinnerungsorte der extremen Rechten, Wiesbaden 2015, S. 17-60, hier S. 24. 19 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 2014. https://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2014.pdf (24.07.2018), S. 41-43. 20 http://werde-unsterblich.info (09.05.2014). Die Seite wurde im Oktober 2014 aus dem Netz genommen.

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Masken der Occupy- oder Anonymous-Bewegung. Historisch muteten dagegen die Umzüge an, die eindeutig an die Fackelaufmärsche der SA im NS-Regime erinnern sollen. Aufmerksam machten sie auf sich durch ein bis dahin unbekanntes Format der Öffentlichkeitsarbeit. Sie organisierten Flashmobs durch ihre Heimatdörfer und -städte, die gefilmt und in professionell produzierten Videoclips per Internet verbreitet wurden.21 Diese „Nachbereitung“, wie es bei den Unsterblichen hieß, war für sie bedeutungsvoller als die Aktion selbst, um nicht nur die „Deutungshoheit nicht aus der Hand zu geben“, sondern auch ein „bezwecktes Bild“ entstehen zu lassen, demnach die Aktionsgruppe „auf kreative, friedliche und auffällige Art“ darauf hinweisen wollte, dass die deutsche Bevölkerung „nicht nur geistig und körperlich verflacht, sondern biologisch ausstirbt“, sollten sich die politischen Rahmenbedingungen „nicht grundlegend ändern.“ 22 Hier offenbart sich nicht nur eine antidemokratische Haltung, sondern auch eine rassistische und ausgrenzende Anschauung, in der der „Volkstod“ durch „Überfremdung“ den Verlust der ideellen wie geographischen Heimat bedeutet. Anhand von zwei der ersten Flashmob-Videos kann exemplarisch die audiovisuelle Ansprache an die Rezipienten verdeutlicht werden. Orte des Geschehens waren die ersten Umzüge in Sachsen, d. h. in Bautzen am 1. Mai und in Stolpen am 3. Oktober 2011.23 Bereits die Auswahl der beiden historischen Daten mit dem Tag der Arbeit, der unter den Nationalsozialisten erst zum Feiertag erhoben wurde und bis heute als Gedenk- und Demonstrationstag der Rechten benutzt wird, und dem Tag der Deutschen Einheit weist auf eine starke politische Implikation hin. Vorangestellt sei, dass diese Art von Videos stets ohne gesprochenes Wort oder gesungenen Text auskommen. Einzig über Zwischeneinblendungen von Parolen wie „Damit die Nachwelt nicht vergisst, dass Du Deutscher gewesen bist“ oder „Dein kurzes Leben mach unsterblich“ sowie die finale Einblendung der URL zur Homepage wird sprachlich kommuniziert. Im Vordergrund der Vermittlung stehen zwei andere Medien: die Musik und die Bildlichkeit. Für das Bautzen-Video konnte die Musik als ein Zusammenschnitt aus zwei verschiedenen Tracks identifiziert werden. Es handelt sich um Why Mr Anderson 21 Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.): Rechtsextremisten und ihr Auftreten im Internet, Köln 2013, S. 10 f. 22 http://werde-unsterblich.info (9.5.2014). 23 Die identischen Clips werden häufig erneut hochgeladen und sind weiterhin auf verschiedenen User-Kanälen auf YouTube zu finden, z.B. unter https://www.youtube. com/watch?v=HGoJdTbOSaw (24.07.2018) (Bautzen) oder https://www.youtube.com /watch?v=bxSbRBB65Xg (24.07.2018) (Stolpen).

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(Laufzeit 0:00-0:37) und Neodämmerung (0:37-1:53) aus dem Soundtrack zum Film The Matrix Revolutions (USA, 2003). Komponist ist der US-Amerikaner Don Davis (*1957). Offensichtlich erfolgt die Musikauswahl nicht aufgrund ihres Komponisten, sondern ihres Charakters, der sich ebenso im Stolpen-Video aufspüren lässt. Dort wird der Track Lux Aeterna benutzt. Auch hier liegt Musik aus einem Film vor: Requiem for a Dream (USA, 2000) des englischen Filmkomponisten Clint Mansell (*1963). Weder Davis noch Mansell haben – soweit nachweisbar – Berührungspunkte mit rechten oder rechtsextremen Gruppen. Folglich muss der Grund für die Auswahl im Musikstil selbst liegen, der ihn für die Zwecke der Unsterblichen brauchbar macht, denn es sind deutliche Parallelen zwischen den beiden Beispielen zu erkennen. Auffällig ist in beiden Fällen das Pendeln zwischen Sakralität und Martialität. Charakteristisch dafür ist ein voluminöser Sound. Er speist sich aus klanggesättigten Chören, die entweder Vokalisen, lateinische oder unverständliche Textbruchstücke singen. Der Fokus liegt demnach nicht auf der rationalen Vermittlung von Inhalten durch Sprachlichkeit. Vielmehr geht es um das Zusammenspiel zwischen dem sakralen Habitus des Chores und dem ebenfalls massiv besetzten Orchester. Es wird in erster Linie markiert durch eine umfangreiche Streicher- und Blechbläserbesetzung, wobei letztere dominierend hervortritt. Besonders klangintensiv wird gleichwohl das perkussive Element durch Pauken und umfangreiches Schlagwerk (Becken, Gong, Amboss) darüber gestellt und trägt vornehmlich zum martialischen Charakter bei.24 Ein weiterer Hinweis auf die Intention des Videos durch die Musikauswahl ergibt sich durch den Befund, dass Lux Aeterna ebenfalls in einem offiziellen Trailer zum zweiten Teil, The Two Towers, der Trilogie The Lord of The Rings (USA, 2002) verwendet wurde.25 Durch diesen Trailer wird klar, dass hier das Vorbild für die Klang- und ebenso Bildsprache der Unsterblichen zu finden ist. Es ist eine ähnliche Stimmung und Ästhetik in der Synchronisation von Bild und Musik vorzufinden, indem der Kampf um den filmischen Ort Mittelerde stattfin24 Die Anlage von Komposition und Klang lässt rasch die Assoziation an den Eingangschor O Fortuna aus Carl Orffs Carmina burana (1935/1936) entstehen. Für zahlreiche andere Filmkomponisten, z.B. Hans Zimmer in Mission Impossible II, diente der Chor als Vorlage. 25 Zu finden unter https://www.youtube.com/watch?v=LbfMDwc4azU (24.07.2018) ab Minute 01:41. Es handelt sich um eine Neuorchestrierung: für die die Originalfassung für Streichquartett durch Chor und Orchester ausgebaut wurden und die bereits häufiger im Rahmen von Trailern benutzt wurde, vgl. https://www.rogerebert.com/answerman/movie-answern-11172002 (24.07.2018).

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det. Wesentlich ist, dass dazu nicht nur die Musik zu einem Kino-Schlager mit hohem Bekanntheitsgrad, sondern generell Filmmusik übernommen wurde. Ein funktionales Genre kommt hier zum Tragen. Die Aufgabe der Filmmusik ist es, klanglich Emotionen zu verstärken oder zu konterkarieren, die zunächst visuell wahrnehmbar sind, um so die Bildaussage in kürzester Zeit verdichten zu können. Welche Aussagen aber durch die Kompositionsästhetik vermittelt werden sollen, wofür Lux Aeterna exemplarisch stehen kann, und was dies für den Heimatentwurf im Rechtsextremismus bedeutet, soll eine kompakte Analyse verdeutlichen. Abbildung 1: Clint Mansell – Lux Aeterna (orchestrierte Fassung, Ausschnitt) aus: Requiem for a Dream (2000)

Quelle: https://musescore.com/user/1243246/scores/1928526 (24.07.2018)

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Der lediglich zweitaktige Ausschnitt weist die wesentlichen Elemente auf. Mansell legt eine minimalistische Struktur von Melodie- und Harmonieführung zugrunde. Den unruhigen, fallenden Sechzehntelketten in den Flöten und Violinen stehen die getragenen, weiten Bögen der Chorvokalisen gegenüber. Das Ostinato-Modell im Bass (g-Moll, Es7-Dur, d-Moll) wirkt durch die Verwendung von d-Moll statt D-Dur auf der V. Stufe archaisch. Auffällig sind die fallenden Linien in sämtlichen Stimmen, die sich permanent abwärts bewegen. Gekoppelt an die Moll-Tonalität mit der Tonika g-Moll, die wie erwähnt durch die fehlende Verwendung der Dur-Dominante keine Aufhellung erfährt, entsteht der düstere Charakter, der ganz im Gegensatz zur Titelgebung Lux Aeterna steht. Er wird durch die Paukenschläge auf allen vier Zählzeiten um eine Komponente verstärkt, die etwas Statisches, gleichsam Unerbittliches mit sich bringt. Dadurch sowie durch die erreichte Dynamik im forte bis fortissimo an dieser Stelle (Takt 42f.), d. h. das Lautstärkevolumen der vollen Besetzung entsteht ein mit Wuchtigkeit behaftetes Klangbild. Diese Geste der Monumentalität prägt sich beim Hörer durch weitere musikalische Strukturen besonders ein. Einerseits durch die minimalistische, sich ständig wiederholende Anlage in der Motivik, andererseits durch das Ostinatomodell im Bass. Hinzu tritt eine gewisse, für Filmmusik nicht ungewöhnliche Formlosigkeit. Sie bietet keine Ankerpunkte, um Formenabschnitte erkennen und dadurch Musik auch rational und durch erinnern nachverfolgen zu können. Stattdessen entfaltet sich in Lux Aeterna durch die genannten technischen Prinzipien eine Sogwirkung, in die sich der Hörer fallen lassen und die Musik und ihre Wirkung zuerst emotional erfahren soll. Zu sehen ist währenddessen die durch die Städte marschierende ‚Masseʻ. In der Konnektivität zwischen der visuellen Vermittlung und der inhaltlichen Botschaft der Flashmobs deutet der zwischen Pathos und Melancholie sich bewegende Charakter der Musik den Zustand des eigentlichen Themas aus: Die Heimat scheint dem Verfall oder dem Untergang preisgegeben worden zu sein (düsteres Klangbild, rollende Abwärtsbewegungen, längere Einblendung eines Bestattungsinstituts im Bautzen-Video, 1:31-1:36). Ihr gilt es, sich kämpferisch entgegenzustellen (martialischer Gestus, Sechzehntelketten, Paukenrhythmus), was als beinahe ‚heiligeʻ Mission zur Rettung der Heimat ausgegeben wird (sakraler Charakter der Chorvokalisen). Dass dieses Ansinnen dem Rezipienten auf der emotionalen Ebene der Musik nahegebracht wird, ist durch die Analyse deutlich geworden. Hinzu kommt im Video eine zusätzliche Intensivierung der Botschaft, indem die Bildschnitte exakt mit dem musikalischen Rhythmus zusammenfallen. Infolge der Synchronisierung von auditivem und visuellem Rhythmus

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kommt es zur Steigerung der Intensität des Ausdrucks als Ansprache an die Zuschauer. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass dieses aus verschiedenen kulturellen Komponenten zusammengetragene Medienkonzept der Unsterblichen geprägt war durch eine Montagetechnik aus emotionalisierenden Versatzstücken. Die optische Ästhetik eines Trailers, die Suggestion einer marschierenden ‚Masseʻ durch geschickt gewählte Kameraperspektiven (ca. 150 bis 200 Personen waren real vor Ort), gepaart mit der präsenten, monumentalen Musik lassen die Aktionsvideos als Vorspann zu einer vermeintlich existenten, ‚höherenʻ Aufgabe erscheinen. Der sakral-martialische Gestus der Musik vermittelt auditiv etwas Heroisches, d. h. den ‚glorreichenʻ Kampf um die eigene Heimat und Kultur. Damit einher geht allerdings eine stets latent vorhandene Bereitschaft zur Gewalt. 2. Die Identitäre Bewegung Erinnerten die Unsterblichen in ihrer Sprachlichkeit und den Fackelumzügen an die Repräsentationen und Machtdemonstrationen der Nationalsozialisten in den 1930er-Jahren, so verwendet die Identitäre Bewegung eine zeitgemäße Aufmachung ihrer Parolen und visuellen Präsentation. Gleichwohl sind die Zugänge und Aussagen mit jenen der Unsterblichen durch die Gleichzeitigkeit von Untergangsstimmung und Kampfbereitschaft identisch.26 Die Identitäre Bewegung wurde 2002 in Frankreich als Génération identitaire gegründet und versteht sich als europaweit agierendes Netzwerk mit eigenen Strukturen in den einzelnen Ländern mit besonders starken Ausprägungen in Frankreich und Österreich. Seit 2012 ist sie zunächst als Internetphänomen in Deutschland mit der bereits erwähnten Parole „Heimat – Freiheit – Tradition“ aktiv und begründete sich 2014 als vor Ort agierende Gruppierung. 27 2016 rückten die Identitären in den Fokus des deutschen Verfassungsschutzes, der sie als

26 Vgl. Sieber, Von „Unsterblichen“, S. 366. 27 Wird der Anspruch der Identitären als „Bewegung“ zu gelten, häufig als gescheitert bezeichnet und die Strömung kleingehalten, so ist vergleichsweise umfangreich wissenschaftliche und aktuelle Forschungsliteratur bezüglich ihrer Positionen, Präsentationsformen und ihres Aktionismus erschienen. Der Verweis zu ausführlicheren Studien in einem neueren und größer angelegten Band mag hier genügen: Goetz, Judith/Sedlacek, Joseph Maria/Winkler, Alexander (Hrsg.): Untergangster des Abendlandes. Ideologie und Rezeption der rechtsextremen ‚Identitären’, Hamburg 2017.

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„extremistische Vereinigung“ einstufte und seither beobachtet.28 Durch ein ‚hipperesʻ Äußeres will die ‚Bewegungʻ in erster Linie junge Menschen ansprechen, unterscheidet sich im verschwörungstheoretischen und sozialdarwinistischneoliberalen Denken jedoch kaum von den ‚Alten Rechtenʻ. Als Gefahrenpotenzial wird grundsätzlich der „Austausch“ der „weißen Rasse“ durch Migrationsströme heraufbeschworen. Die Grenzen des Sagbaren werden ausgedehnt, indem nicht von „Rasse“, sondern von „Kulturen“, nicht von „Volk“, sondern von „Ethnien“ gesprochen wird. „Ethnopluralismus“ ist daher die verklausulierte Formel für einen eingefriedeten (Lebens-)Raum, der jeder Ethnie ‚naturgemäßʻ zugewiesen ist. Diese habe in diesem Raum zu leben und die Grenzen zu respektieren. „Kultur“ wird in dieser Ideologie „zu einem statischen, ahistorischen und homogenisierenden Konzept mit ausschließender Wirkung“. 29 Auch die Identitäre Bewegung verfolgt in der Nachahmung des Konzepts der Unsterblichen die Inszenierung ihres politischen Handelns über das Internet. Das Muster ist bekannt: Aktionen werden gefilmt und mit entsprechender Musik unterlegt auf YouTube und Facebook hochgeladen. Es sind zwei inhaltliche Formen der Videos auszumachen. Die erste zeigt die zuvor erwähnte ‚Eroberungʻ repräsentativer Orte zur Inszenierung des ‚Kampfsʻ gegen die ‚Überfremdungʻ, während die zweite das Gedenken an historische Ereignisse abbildet. Diese beziehen sich vorwiegend auf islamistische Terroranschläge in Europa oder an die gefallenen deutschen Soldaten im Ersten, vorrangig im Zweiten Weltkrieg. Die Musikauswahl trägt dieselbe Charakteristik des Martialischen, Kämpferischen und Sakralen wie bei den Unsterblichen. Hinzu tritt Musik mit kontemplativer Stimmung bei den Gedenkvideos.30 Als eng mit der Identitären Bewegung verbunden gilt, wie erwähnt, der Rapper Chris Ares.31 Rap auf Texte mit rechtsextremen Inhalten scheint als Musikstil durch den weder deutschen noch europäischen Ursprung diametral zum Eigenverständnis der Szene zu stehen. Daher stehen Rap und auch HipHop häufig 28 Vgl.

Bundesamt

für

Verfassungsschutz:

https://www.verfassungsschutz.de/de/

aktuelles/zur-sache/zs-2016-001-maassen-dpa-2016-08 (24.07.2018). 29 Bruns, Julian/Glösel, Kathrin/Strobl, Natascha: Die Identitären – mehr als nur ein Internet-Phänomen, In: Dossier Rechtsextremismus, Bundeszentrale für politische Bildung, 26.01.2017, http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/241438/ die-identitaeren-mehr-als-nur-ein-internet-phaenomen (24.07.2018). 30 Ein Aufsatz der Autorin zur Nutzung von Musik in den Videoclips der Identitären Bewegung befindet sich momentan in Vorbereitung. 31 Ares bezeichnet in der griechischen Mythologie den olympischen Gott des v.a. blutigen Krieges.

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unter den Anhängern der Identitären und der NPD durch ihre Verwurzelung in Afrika und den USA als ‚Migrantenmusikʻ, deren ‚völkische Identitätʻ nicht ‚deutschʻ sein könne, in der Kritik. Die Identitäre Bewegung nutzt das Potenzial der Musik stattdessen für sich durch einen Perspektivwechsel. So heißt es, dass Jugendliche von deutscher und auch internationaler Rapmusik inspiriert werden, da sie zu „Zeitgeist und Lebenswelt“ junger Menschen gehöre: „Warum sollte man also diese Art von Musik nicht einmal auf patriotische Weise interpretieren?“32 3. Chris Ares Wesentlicher Teil der Öffentlichkeit Ares’ sind Musikvideoclips, über die seine Songs nicht nur sichtbar, sondern erst rezipierbar werden, denn sie sind weder als Hardware noch auf offiziellen kommerziellen online-Plattformen erhältlich.33 Laut eigener Angaben stammt Ares, alias Christoph Zloch, aus München und ist oder war im Landkreis Ebersberg in Oberbayern ansässig. Ares ist eine gewisse Popularität im Internet nicht abzusprechen. Rund 25.600 Abonnenten und Abonnentinnen sind auf Facebook und rund 14.300 auf seinem YouTube-Kanal34 mit knapp zwei Millionen Aufrufen (Stand 24.7.2018) zu zählen. Sich selbst ordnet er weder „links“ noch „rechts“ stehend, sondern lediglich „Impressionen definierend“ ein.35 Seine Rap-Texte und seine Monolog-Videos zur aktuellen Lage auf YouTube zeigen jedoch etwas anderes, verbreitet Ares doch darin Verschwörungstheorien und nationalistische Propaganda, die er als „DeutschPatriotismus“ bezeichnet. Neben der Identitären Bewegung engagiert er sich im extremen Netzwerk Bündnis Deutscher Patrioten (BDP) und ist bereits mehrfach

32 Post vom 27.09.2016 auf dem Blog Identitäre Bewegung; http://blog.identitaerebewegung.de/macht-kaputt-was-euch-kaputt-macht (24.07.2018). 33 Download-Files laufen ins Leere, Listungen auf discogs sind als öffentliche Darstellung zu verstehen, da dort keine digitale Musik verkauft wird, aber persönlich formuliere Informationstexte von Chris Ares zu seiner EP Bastion (2017) mit dem rechten Rapper „Komplott“ nachzulesen sind. 34 CHRIS ARES OFFIZIELL, https://www.youtube.com/channel/UCRiVVk9tlEplrm czNkihyDQ/featured, You Tube beigetreten am 18.08.2013. 35 Wortlaut im Informationstext des Videoclips zum Song Heimat von Chris Ares, https://www.youtube.com/watch?v=igElzNnNKik (24.07.2018).

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auf Veranstaltungen und Kundgebungen der AfD, unter anderem mit Björn Höcke aufgetreten.36 Auch im Fall Ares’ wird die Implementierung des Rap-Genres in die Szene als tragbar durch veränderte Inhalte umdefiniert. In einem Facebook-Post der Identitären wird betont, dass sich neben dem „schmuddeligen, migrantisch geprägten Ghettorap, dem Singsang über Knast-Karrieren, Gewalt, Drogen, Kriminalität und sozialen Abstieg“ mit Ares’ Rap nun „zunehmend ein Milieu“ etabliere, welche es sich „zur Aufgabe gemacht hat, die wichtigen Fragen um unsere ethnokulturelle Identität in den Fokus zu rücken.“37 Auf seinem YouTube-Kanal sind mehrere Videos zu finden, die aufwändig produziert und näher zu betrachten sind, da sie die Heimatthematik betreffen. Meist sind sie aus historisierenden oder ästhetischen Gründen in eine schwarzweiße Optik getaucht worden. Zu sehen sind dort lokalisierbare Orte in Deutschland, die nicht nur mit einer Monumentalarchitektur, sondern auch mit geschichtsträchtigen Bezügen aufwarten können. Im Video 38 zu Invictus (2016) wurde neben einer aus der Vogelperspektive gefilmten, verschneiten Alpenlandschaft der Königsplatz in München als Hauptdrehort ausgewählt. Der von klassizistischen Bauten geprägte Platz aus dem 19. Jahrhundert sollte zunächst der Versammlung von Kultur und Kunst dienen. Hitler ließ ihn zum Zentrum und zur Weihestätte der NSDAP und des Nationalsozialismus umbauen und etablierte ihn als Kultplatz von Inszenierungen und Machtdemonstrationen. 39

36 Vgl. Nahrhaft, Max/Schindler, Anselm: Der rechte Rapper aus Ebersberg. Nationalismus in Oberbayern, In: Süddeutsche Zeitung, 03.03.2017, sowie Book, Carina: Mit Metapolitik zur „Konservativen Revolution“? Über Umfeld und Strategie der „Identitären Bewegung“ in Deutschland, In: Goetz, Judith/Sedlacek, Joseph Maria/Winkler, Alexander (Hrsg.): Untergangster des Abendlandes. Ideologie und Rezeption der rechtsextremen ‚Identitären’, Untergangster des Abendlandes, S. 113-131, hier S. 120. 37 Screenshot der Facebook-Seite der Identitären Bewegung auf dem kritisch berichtenden und sich davon distanzierendem Blog NSHIPHOP: Chris Ares, https://nshiphop. wordpress.com/2016/10/09/chris-ares (24.07.2018). 38 https://www.youtube.com/watch?v=W6ptBx1B_to (24.07.2018). 39 Vgl. Altenbuchner, Klaus Anton: Königsplatz, München, In: Historisches Lexikon Bayerns. https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/K%C3%B6nigsplatz,_ M%C3%BCnchen#Der_K.C3.B6nigsplatz_im_Nationalsozialismus_-_.22B.C3.BCro kratie_und_Kult.22 (24.07.2018). 1988 wurde der Platz in seinen Originalzustand zurückversetzt.

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In erster Linie bietet das Video 40 zu Heimat (2016) eine Fülle an Aussagen und semantischen Aufladungen zu diesem Topos auf den Ebenen von Musik, Text und Bild. Produziert wurde vermutlich der Part der Musik von Balkanoo Beatz, einem Rapper und Beat-Produzenten. Seine weitere Beteiligung am Video bleibt unklar. Als übliche Technik des Raps liegt auch hier ein Sampling mehrerer, augenscheinlich von drei Ebenen vor. Grundlegend und identifizierbar ist der Track When it all falls down von Audiomachine41 auf dem Album Magnus (Komponist Ivan Torrent, USA 2015). Er kann durchaus als populär eingeschätzt werden, hat er doch innerhalb von drei Jahren seit der Veröffentlichung auf YouTube 2015 eine Zahl von einer knappen Millionen Aufrufen erreicht. 42 When it all falls down wird auf YouTube auf zahlreichen Kanälen benutzt, die sich auf das dort so bezeichnete Genre „epic music“ konzentrieren. Zu sehen sind vorwiegend Standbilder mit Graphiken mittelalterlicher Rittermotive (Schwerter und Kämpfer) oder weite Landschaften. Für Ares’ Heimat wurde als Intro die klagende Cello-Kantilene des Audiomachine-Tracks ausgewählt. Ein Ausschnitt daraus wiederholt sich als Loop permanent im weiteren Verlauf als melodische Basis. Hinzu kommen zwei weitere, noch nicht identifizierte Samples: die Vokalise einer Frauenstimme mit einem kurzen, sich permanent wiederholenden Motiv sowie ein synthetisch erzeugtes Sinfonieorchester mit hervorstechenden Sounds von Streichern und Hörnern. Das prägende Cello-Lamento weist starke Parallelen zur Kompositionsweise von Lux Aeterna auf. Auch hier wird die Melodie hauptsächlich abwärts geführt. Die Tonalität beruht auf natürlichem g-Moll, bei dem in der Kadenz der Leitton erniedrigt ist, was den wiederum fremdartigen, archaischen Charakter ohne Aufhellung mit sich bringt. Das Orchestersampling bewirkt zwar eine klangliche Verdichtung, ist aber zu wenig voluminös gehalten, um von einem Monumentalsound sprechen zu können. Möglicherweise soll aber durch diesen Klang in Kombination mit der omnipräsenten Cello-Melodie der Bogen zur Kunstmusik geschlagen und damit eine ‚Kultivierungʻ oder ‚Veredlungʻ der Rap-Attitüde erwirkt werden. Dies könnte auch vor dem Hintergrund geschehen 40 Der Clip wurde am 17.05.2016 auf YouTube hochgeladen und zählt gegenwärtig rund 238.000 Aufrufe (Stand 24.07.2018); https://www.youtube.com/watch?v=igElzNnN Kik (24.07.2018). 41 Audiomachine nennt sich eine in Los Angeles angesiedelte Produktionsfirma für Musik zur professionelle Nutzung in Computerspielen, Werbung oder in pathetischen Filmen (Avatar, Iron Man). Seit 2012 werden unter dem Labelnamen auch selbstständige Alben veröffentlicht. 42 https://www.youtube.com/watch?v=8uB-e9qzUjE (24.07.2018).

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sein, dass sich die ‚Neuen Rechtenʻ bevorzugt als Schicht einer „geistigen Elite“43 inszenieren, die sich als entsprechend gebildet versteht, um den Anspruch auf Deutungshoheit zu wahren. Auch Ares gibt sich als Vertreter bürgerlichmusikalischer Bildung, worauf eine Textzeile aus Invictus hinweist: „Das ist einzigartig / […] als ich mit 11 Jahren Bach und Schubert lauschte / als ich Vivaldi, Schütz, Händel, Haydn und Schumann lauschte.“44 Die musikalische Textur in Heimat ist eng angebunden an die beiden weiteren Ebenen von Sprachtext und Bild, die sich gegenseitig verstärken und klar die erste Hälfte und den Abschluss des Videos dominieren.45 Prinzipiell wird der gerappte Text überfrachtet mit Informationen zur deutschen Geschichte und Gegenwart, die Ares mit dem Begriff „Gefühlswelt“ beschreibt und hier emotional konnotiert. Diese Gefühlswelt wird mit dem bereits beschriebenen visuellen wie textlichen Durchschreiten und Abstecken dessen verbunden, was unter Heimat zu verstehen ist und mit Beginn des Videos deutlich aufgezeigt wird. Eine etwas ausführlichere Analyse der ersten Sekunden ist daher lohnenswert. Als Intro sind auf das Cello-Lamento verschwommene Alltagsszenen im öffentlichen Raum aus der Gegenwart zu sehen. Besonders prominent wird das Motiv des Frankfurter Main-Towers hervorgehoben. Durch die aufwärtsgerichtete Kameraperspektive überragt der Turm den Betrachter. Hier wird nun und im Folgenden mehrfach eine visuelle Technik verwendet, die der Steigerung und Überhöhung des Motivs dient. Dieses wird in der vertikalen Achse gespiegelt und somit verdoppelt. Durch diese Motivduplikation erfolgt für den Zuschauer eine Steigerung in der Imposanz bis hin zur Monumentalisierung. Bezüglich des Main-Towers ist festzuhalten, dass er im gesamten Motivpool das einzige Gebäude moderner Architektur (Eröffnung 2000) darstellt. Dass hier die beschriebene Kritik an moderner Architektur als nicht-zugehörig zur Heimat zum Tragen kommt zeigt, dass die erste Textzeile erst auf dem nachfolgenden

43 Bruns/Glösel/Strobl, Die Identitären. 44 Textversion unter https://genius.com/Chris-ares-invictus-lyrics (24.07.2018). 45 Ab Minute 1:42 werden Stills von Personen unterschiedlicher Alters- und Gesellschaftsschichten und ausschließlich weißer Hautfarbe gezeigt, die mit Schildern mit der Aufschrift „Deutschland, meine Heimat“ posieren. Es folgen Szenen von spielenden Kindern im Wald sowie von einer Aktion für Bedürftige des BDP. Die Rückkehr zur plakativen Symbolik erfolgt ab 3:31 durch das Motiv des Adlers sowie historischen Filmaufnahmen von Trümmerfrauen bei der Arbeit.

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Motiv von Schloss Neuschwanstein (Hauptbauzeit 1862-1886) einsetzt. Als Eröffnung des Raps sowie dessen Refrainzeile ist sie besonders prägnant: 46 Nord bis Ost / Süd bis West / Von München bis Hamburg / Gefühlswelt wächst / Berlin, Stuttgart, Frankfurt, Köln / Mein Deutschland erblüht hier im Frühlingswetter / Deutschland, meine Heimat, meine Heimat / Wir schrein’s hinaus / Dein Bestes / Deutschland, uns’re Heimat, uns’re Heimat, uns’re Heimat.

Abbildung 2: Main-Tower, Frankfurt

Quelle: Chris Ares Heimat, Video https://www.youtube.com/watch?v=igEl zNnNKik (24.07.2018), Screenshot (0:11).

Abbildung 3: Schloss Neuschwanstein, Hohenschwangau, Allgäu

Quelle: Ebd., Screenshot (0:18)

Um derartigen künstlerischen Produktionen aus diesem politischen Lager keine allzu große Bühne zu bieten, seien die weiteren Auffälligkeiten komprimiert erwähnt. Bis zur zweiten optischen Systematik des Videos, die mit Fotoportraits beginnt (1:42), sind im ersten Teil in der Abfolge nach Neuschwanstein zu se46 Da der Text von Heimat im Internet nicht auffindbar oder zumindest nicht öffentlich zugänglich war, basieren die folgenden Wiedergaben auf einer eigens angefertigten Transkription. Trotz mehrfacher Überprüfung sind Hörfehler nicht gänzlich auszuschließen.

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hen: Alpen/Natur, Dresden (historische Filmaufnahmen der zerstörten Stadt), Trümmerfrauen, Bombenabwürfe, Brände, Bismarck-Denkmal Hamburg, (19011906, größtes Bismarck-Denkmal weltweit), historische Szenen von Trümmern mit Kindern davor, Friedhofsbesuch von Ares, Trachtenumzug (vermutlich in Bayern) und abschließend die Alte Oper in Frankfurt am Main (erbaut 18771880; 1944 zerstört, 1970er-Jahre Wiederaufbau, 1981 Neueröffnung). Sie wird noch einmal besonders hervorgehoben durch eine Kamerafahrt von außen in das Innere des Konzertsaals mit einem letzten Zoom auf die Bass-Orgelpfeifen auf das Wort „standhaft“. Hier schließt sich der motivische Rahmen zumindest in Bezug auf Frankfurt, indem mit dem historischen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert der Gegenentwurf zur Modernität des Main Towers eingebracht wird. Diese filmerische Passage gewinnt an Bedeutung durch die Unterlegung mit den Textzeilen der Bridge: „Unser Volk, das über lange Zeit Bestand hat / und keine Odyssee / kann uns zerstör’n / denn wir sind standhaft.“ Eine Dichotomie zwischen der gegenwärtigen und der verlorenen oder zerstörten Heimat entsteht. Werden im Text ausschließlich Orte und Städte Westdeutschlands erwähnt, so ist der Osten lediglich durch das zerstörte Dresden vertreten. Es sind die Bilder, mit der in der Neonazi-Szene stets die angebliche deutsche ‚Opferrolleʻ im Zweiten Weltkrieg betont wird. Die Motive der ‚intaktenʻ Heimat hingegen sind derartig prominent gewählt, dass durch den Wiedererkennungseffekt Vertrauen generiert wird. Als kollektive Erinnerungsorte der/des ‚Deutschenʻ symbolisieren sie die Grenzen zum Fremden. Darüber hinaus handelt es sich auf einer Metaebene um Orte, die in der deutschen Geschichte mit einer gewissen kulturellen oder politischen Bedeutung aufgeladen wurden, deren ‚rechterʻ Code jedoch nur Insidern verständlich ist.47 Heimat wird nicht nur räumlich bezeichnet, sondern erlangt als Motiv durch die Geschichte und die visuelle Monumentalität eine Bedeutungsgröße.

MUSIKALISCHE KONZEPTE DER HEIMAT In den analysierten Beispielen aus dem rechtsextremen Lager wird die Heimat durch Sound und/oder Bild in dramatischen Settings als großer, erhabener Wert dargestellt, der als durch das Fremde bedroht erscheint und zu verteidigen ist. Das Medienkonzept bedeutet daher nichts anderes als eine ästhetische Mobilmachung. Dazu wird eine geistige oder innere Heimat erbaut durch mutmaßlich 47 Verwiesen sei beispielsweise auf den Kult um Otto von Bismarck im NS-Regime und den Besuch seiner Denkmäler als aktuelle ‚Pilgerstättenʻ und Gedenkorte der Rechten.

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vertraute Musik aus Kinofilmen oder populäre Stimmungstracks, so dass von einem starken Wiedererkennungsmoment ausgegangen werden kann. In einem weiteren Schritt wird die ideologische ‚Überzeugungsarbeitʻ zur Mobilisierung mit einer ästhetischen, audio-visuellen Hyperthrophisierung und Monumentalisierung verknüpft. Dazu gehören auf der auditiven Ebene ein voluminöses Klangbild mit großer Besetzung und einer Klangcharakteristik, die sich gleichsam aus dem Sakralen (Chöre) wie Melancholisch-Historischen speist (Molltonalität, fallende Linien, archaische harmonische Wendungen). Auf der visuellen Ebene kommen Panoramabilder mit einem hohen Bezugsfaktor für das kollektive Gedächtnis hinzu. Sie fordern durch ihre Darstellung der marschierenden Masse, die Wucht der Motive (Größe und historischer Kontext) und ihrer Multiplikation die Aufmerksamkeit der Rezipienten aggressiv heraus, denn in der Intensität von Bildern und Klang findet eine Überhöhung sowohl des Dargestellten als auch der Überzeugung der/des Darstellenden statt. Durch die Parallelität des musikalischen Gestus bei den Unsterblichen, der Identitären Bewegung und Ares kann mit Bedacht von einer symbolischen Klanggestaltung der ‚deutschenʻ Heimat gesprochen werden. Ihren aktuellen Aggregatzustand propagieren rechte Kreise als brüchig, d. h. von einer äußeren ‚Vereinnahmung‘ bedroht, der mit einer aggressiven Kampf- und Verteidigungshaltung begegnet wird. Es ist der Habitus der Musik und zusätzlich wie bei Ares des Bildes, die etwas universell Großes vermitteln wollen. Dies umfasst einerseits durch den Zusammenschluss der ästhetischen und ästhetisierten Einzelkomponenten Musik, gerappter Texte, Bildmotive und Örtlichkeiten einen klar erfassbaren geographischen Raum. Gleichwohl wird er nicht als Region durch spezielle instrumentale oder vokale Signaturen dargestellt. Vielmehr erklingt die räumliche Vorstellung von etwas national und kulturell Erhabenem, der ‚Heimat Deutschlandʻ. Der medialen Inszenierung zufolge findet der Kampf um diese Heimat in der rechtsextremen Wahrnehmung bereits statt. Dieser Dystopie wird auf einer Metaebene begegnet. Mit der Verwendung des Raps und damit eines weder genuin deutschen noch europäischen Musikstiles zur Verbreitung politischer Ansichten wird der ‚geistige Raumʻ einer fremden Kultur annektiert und durch Überschreibungen vereinnahmt. Die eingeforderte Grenze zum Fremden wird selbst aktiv überschritten und durch eine Art kulturelle Eroberung die Ausdehnung des eigenen Heimat- oder Kulturraums betrieben und signalisiert. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Heimat als eigentlich xenophober Kampfbegriff innerhalb eines Kulturkampfes ästhetisch gedeutet und instrumentalisiert wird. Das Prinzip politischen Handelns im Rechtsextremismus kann verstanden werden als Prozess der Domestizierung extremistischer, diskriminieren-

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der und ausgrenzender Vorstellungen von Heimat, die durch eine medialisierte Sinnlichkeit auf Sinnhaftigkeit und Legitimation abzielen will.

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„Heimat bewahren“ | 377

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Auf ewig keine Heimat Überlegungen zu ‚Utopie‘ und ‚Heimat‘ bei Helene Fischer und Frei.Wild Thorsten Hindrichs

Auf den ersten Blick scheint im deutschsprachigen Raum kein anderes popmusikalisches Genre derart eng mit deutschtümelnder ‚Heimathuberei‘ verknüpft zu sein wie der Schlager. Insbesondere in dessen als volkstümlich etikettierten Varianten kommt kaum ein Song ohne wenigstens irgendeine Bezugnahme auf ‚Heimat‘ aus, im Gegenteil: In etlichen volkstümlichen Schlagern ist ‚Heimat‘ das zentrale Sujet schlechthin. Allerdings ist, von ausgesprochen wenigen Ausnahmen abgesehen, ‚Heimat‘ im Schlager insgesamt ein im Großen und Ganzen vergleichsweise unspezifischer Sehnsuchtsort, der über die Narrative der entsprechenden Songs jedoch auffallend häufig mit dem Aspekt des Heimwehs verschränkt und überdies zumeist auch noch mit stereotypen ‚coming of age‘Situationen verknüpft ist. In aller Regel ziehen die Protagonisten solcher Songs als junge Menschen in die Ferne bzw. sind schon dort und sehnen sich nach der heimatlichen Geborgenheit eines ‚Früher‘, die primär über Elemente wie Elternhaus, Mutter, Vater usw. markiert wird. Hinsichtlich eines konkreten ‚Ortes‘ bleibt ‚Heimat‘ im Schlager hingegen vollkommen unspezifisch und wird stattdessen als zeitlich dimensionierter Kindheitsort einer vergangenen, mutmaßlich besseren Zeit entworfen. Diese Perspektivierung von ‚Heimat‘ als eher zeitlich denn räumlich ausgerichteter Dimension erklärt dann vermutlich auch, wieso in Schlagern ‚Andere‘, möglicherweise gar ‚Fremde‘ so gut wie gar nicht als Bedrohung von Heimat verstanden werden.1 Es sind vielmehr zwei andere, einan1

In den drei Beispielen, die Eckart Höfig im Unterkapitel „Das Fremde als Bedrohung“ anführt – Rex Gildos Hey Zigeunerkönig, Die Sterne über’m Heimatland von den

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der ergänzende Aspekte, die die Protagonisten solcher Songs bedrohen und erst jetzt dann auch die zeitliche Dimension dieses Heimatkonzepts mit einer räumlichen Konkretisierung verknüpfen: das Erwachsensein(müssen) und ‚die Stadt‘. Zwar bietet ‚die Stadt‘ genügend Arbeitsmöglichkeiten zur Sicherung des finanziellen Auskommens, doch sowohl wegen ihrer Anonymität als auch wegen ihrer zahlreichen, potenziell riskanten Verführungsangebote stellt sie zugleich ein einziges großes Bedrohungsszenario dar: „Die große Stadt lockt mit Ihrem Glanz, mit schönen Frauen, mit Musik und Tanz. Doch der Schein hält nie, was er Dir verspricht, kehr endlich um, Tränen lügen nicht“.2 Mit dieser Setzung von ‚Stadt‘ als Bedrohung wird die räumliche Dimension von Heimat im Schlager ex negativo also zumindest dahingehend konkretisiert, dass mit Heimat offenbar ein ländlicher Ort gemeint ist. Auf den – weiterhin – ersten Blick scheint sich ein solcher Befund perfekt mit jenem zweifachen Klischee zu decken, demzufolge Schlager kleinbürgerlich-reaktionärer Hort einer provinziell-ländlichen Antimoderne sei, wohingegen ‚richtige‘ Popmusik für Emanzipation, Urbanität und individuelle Freiheit, mithin Moderne zu stehen habe: „In den 1960ern gab es einen guten Grund, deutsche Poptexte abzulehnen. Wo es versucht wurde, kam nämlich kein Pop heraus, sondern ein deutsches Sonderformat: der Schlager“,3 konstatierte etwa Frank Apunkt Schneider 2015, und Schorsch Kamerun blickte im Vorfeld zu den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg in der ZEIT vom 4. Juli 2017 beinahe wehmütig auf die (westdeutschen) 1980er-Jahre zurück: „Ich bin noch in einer ‚dissident diskursiven Popkultur‘ sozialisiert worden, in einer Umgebung, in der Rockmusik, Punk sowieso, per se gefühlt links war. Heute transportieren rechte Bands ihre Inhalte auf derselben ‚aggressiven Rockmusik‘ wie solche, die von Freiheit und Grenzenlosigkeit singen“. 4 Steintalern und Roger Whittakers Auf Wiedersehen, Joana –, wird ‚das Fremde‘ zwar als bedrohlich skizziert, doch statt einer deutlichen Positionierung gegenüber diesem ‚Fremden‘ wird als dramaturgische Auflösung der Konfliktstellung ‚Heimat‘ als gleichsam rettender Fluchtpunkt und damit wiederum als Sehnsuchtsort gesetzt; Höfig, Eckhart: Heimat in der Popmusik – Identität oder Kulisse in der deutschsprachigen Popmusikszene vor der Jahrtausendwende, Gelnhausen 2000, S. 143-151. 2

Holm, Michael: Tränen lügen nicht, Ariola 1974, 13 570 AT.

3

Schneider, Frank Apunkt: Deutschpop halt’s Maul! Für eine Ästhetik der Verkrampfung, Mainz 2015, S. 36.

4

Kamerun, Schorsch: „Die Hamburger hätten gegen G20 gestimmt“, Interview mit Stephan Lebert, In: ZEIT ONLINE, 04.07.2017, https://www.zeit.de/gesellschaft/2017 -07/schorsch-kamerun-g20-gipfel-hamburg-widerstand-goldene-zitronen/komplettan sicht (15.06.2018).

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Auf den zweiten, genaueren Blick allerdings liegen die Dinge längst nicht so einfach, und zwar weder „in den 1960ern“, noch in den 1980ern, noch 2018. Schlager pauschal als kleinbürgerlich-rückständig zu qualifizieren ist mit musikhistorischen Wirklichkeiten genauso wenig in Einklang zu bringen wie die Annahme, Popmusik – selbst mit deutschsprachigen Texten – sei per se fortschrittlich und emanzipatorisch oder gar ‚links‘. Georg Seeßlens Befund, dass „der Pop der Provinz und der Stadt, der Kleinbürger und des Prekariats, feministischer und intellektueller Pop, migrantischer und nationalistischer Pop ein widersprüchliches Ineinander“5 bilden, trifft aus einer synchronen Perspektive des Jahres 2018 zwar zweifellos zu, verschleiert jedoch, dass dies – in diachroner Perspektive – in gleichem Maße auch für die (westdeutschen) 1960er-Jahre stimmt. ‚Schlager‘ ist ein Terminus, bei dem sowohl aus musikwissenschaftlicher als auch aus (pop-)musiktheoretischer Perspektive ohnehin kaum hinreichend greifbar, geschweige denn begreifbar zu machen ist, was, von der Etikettierung abgesehen, einen Schlager von anderen radiotauglichen Popsongs eigentlich unterscheidet. Entsprechend schwer tut sich Peter Wicke im MGG-Artikel „Schlager“ mit dessen Definition: „Als formbildende und damit gattungsspezifisch relevante Konstante erweist sich jedoch die Ästhetik dieser Form des populären Liedes, die unabhängig von kulturellem Kontext, zeitgeschichtlichen Bezug und modischem Stilgewand einem Prinzip verpflichtet bleibt, das als Akzeptanzgewinnung durch Distanzvermeidung beschrieben werden kann. Die Distanz zwischen dem Schlager als ästhetischem Objekt und dem Hörer als Subjekt seiner Rezeption und Konsumtion wird mit allen zu Gebote stehenden Mitteln so gering wie möglich gehalten. Schlager passen sich möglichst nahtlos dem Alltag ihrer Hörer und den darin hervorgebrachten multifunktionalen Ansprüchen an. Sie bewegen sich im Rahmen von deren Hörgewohnheiten, die sie ebenso prägen wie sie sie bestätigen. Standardisierung und Stereotypisierung des musikalischen Ablaufs umgeben diese alltagsbegleitenden Lieder daher stets mit dem Schein der Bekanntheit, ohne freilich den aufmerksamkeitsheischenden Effekt der Neuheit dadurch zu untergraben.“6

Ob „Akzeptanzgewinnung durch Distanzvermeidung“, „nahtlose Alltagsanpassung“ oder „Schein der Bekanntheit“, all diese Aspekte treffen ohne Zweifel auf ‚Schlager‘ zwar zu, aber eben nicht nur auf Schlager, sondern (zumindest) auf 5

Seeßlen, Georg: Is this the End? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung, Berlin 2018 (= Critica Diabolis 251), S. 170.

6

Wicke, Peter: Artikel Schlager, In: MGG2-Sachteil Bd. 8, Kassel 1998, Sp. 10631070, hier: Sp. 1064-1065.

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radiotaugliche ‚mainstream‘-Popsongs insgesamt. Was genau jedoch einen ‚Schlager‘ von einem x-beliebigen anderen Popsong mit deutschem Text unterscheiden soll, bleibt hingegen weiterhin unklar. Indes hilft auch ein genauerer Blick auf die pophistorischen Wirklichkeiten der 1960er-Jahre (wiederum nur in Westdeutschland) in dieser Hinsicht kaum weiter.7 Wer immer sich beispielsweise Drafi Deutschers ‚Schlager‘ „Marmor, Stein und Eisen bricht“ möglichst frei von ideologischen und/oder ästhetischen Vorbehalten anhört, sollte schnell feststellen, dass es sich hierbei um nicht mehr und nicht weniger als einen einwandfreien Beatsong mit deutschem Text handelt, der sich musikalisch von seinen als ‚Pop‘ gehandelten britischen ‚Verwandten‘ in nichts unterscheidet. Ähnliches ließe sich recht problemlos für all jene sogenannten ‚Schlager‘ der 1960er- und 1970er-Jahre feststellen, die sich hinsichtlich ihrer musikalischen Faktur an den (begrifflich zugegebenermaßen ebenfalls einigermaßen unscharfen) ‚internationalen Popstandards‘ orientieren, angefangen beim Frühwerk von Cindy & Bert über die allermeisten (west-)deutschen Beiträge zum Eurovision Song Contest und die sogenannten ‚Disco-Schlager‘ der späten 1970er-Jahre bis hin zu jenen deutschsprachigen Popsongs der 1980er- und 1990er-Jahre, die (beispielsweise) von Dieter Bohlen oder Ralph Siegel produziert wurden. Wenn die Annahme zutrifft, dass keinerlei musikalische Unterscheidungskriterien auszumachen sind, die Schlager von anderem (deutschsprachigem) Pop unterscheiden, kann die Genrezuweisung in entweder Schlager oder Pop notwendigerweise nur ideologisch und/oder ästhetisch motiviert sein und erst während des Rezeptionsprozesses eines Songs vorgenommen werden. Damit ist eine so oder so vollzogene Genrezuweisung zugleich notwendig abhängig vom ideologischen und/oder ästhetischen ‚Framing‘ derer, die sie vornehmen. Nur so lässt sich jedenfalls erklären, wieso einerseits ein ganzes Set an deutschsprachigen Popsongs des sozialen Feldes ‚Deutschpop‘ verwiesen und als ‚Schlager‘ abqualifiziert wird und wieso andererseits Grenzfälle zwischen ‚Deutschpop‘ und ‚Schlager‘ von Popkritik und Popmusikforschung mit streckenweise teils hitziger Intensität diskutiert werden:8 „Derzeit besetzt Helene Fischer in Deutschland das Stadium eines Meta-Popstars, der keine andere Kritik als die einer mehr oder weniger kultivierten Verachtung zulässt, insofern sie nichts neues, nichts ‚authentisches‘ und nichts großartiges macht. Sie ist das Alles-in-allem der deut-

7

Eine musikwissenschaftlich valide und ideologiefreie Aufarbeitung der bundesdeutschen Schlagergeschichte seit 1945 steht leider weiterhin aus.

8

Zugleich dienen derlei Distinktionsdiskussionen selbstverständlich der ästhetischen und/oder ideologischen Stabilisierung des je eigenen sozialen Felds.

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schen Popkultur, und nicht zuletzt das Einigende, das ein Kollektiv immer zugleich [recte: sowohl] ästhetisch als auch ideologisch formt“.9 In der Tat scheint ausgerechnet Helene Fischer für die – wenigstens bundesdeutsche – Popkritik10 ein echtes Problem zu sein, und zwar in (mindestens) zweifacher Weise, nämlich einmal mit Blick auf das genannte Problem der Genrezuweisung und zweitens bezüglich der Inszenierung der öffentlichen Persona ‚Helene Fischer‘. Beide Weisen wiederum sind wechselseitig miteinander verschränkt, wobei hinsichtlich der ‚Inszenierung Helene Fischer‘ ein ums andere Mal zuallererst vor allem ihre aufwändigen Bühnenshows im Fokus des Interesses stehen: „Although classified as a ‚Schlagersängerin‘, Fischer has changed the image of the schlager singer progressively but radically […]. Her stage show, in which she sings, dances and even performs stunts, displaying not only great ability as a performer but also, more unusually for schlager, great sensuality“,11 heißt es bei Julio Mendívíl, und auch Barbara Hornberger und Christoph Jacke heben auf Fischers Livekonzerte ab: „[W]ahrscheinlich ist [der Schlager-Star] Fischer derzeit der einzige deutsche Star, der eine solch aufwändige Form des Live-Entertainments zeigt, die eher für US-amerikanische Topstars wie Beyoncé typisch ist“.12 Die vollkommen zutreffende Beobachtung, dass Helene Fischers „Bühnendarbietungen zumindest bei deutschen Betrachtern den Eindruck erwecken, dass sie mit internationalen Standards mithalten können“,13 liegt selbstverständlich quer zum „wohlgepflegte[n] Mythos, dass deutscher Schlager sich parasitär von den emotionalen Bedürfnissen strickpullovierter, weiblicher Mittfünfziger ohne ausreichende Englischkenntnisse ernähre“. 14 Der fortwährende 9

Seeßlen, Georg, Is this the End?, S. 115.

10 Unter Popkritik sei im Folgenden die Gesamtheit aller Texte verstanden, die sich sowohl feuilletonistisch als auch popmusikwissenschaftlich kritisch-reflektierend mit Popmusik auseinandersetzen. 11 Mendívíl, Julio: Rocking Granny’s Living Room? The New Voices of German Schlager, In: Ahlers, Michael/Jacke, Christoph (Hrsg.): Perspectives on German Popular Music, London/New York 2017 (=Ashgate Popular Music and Folk Series), S. 100-107, hier: S. 105. 12 Hornberger, Barbara/Jacke, Christoph: Zufällig gut? Über Live-Performances und Virtuositätspotentiale. Helene Fischers Berliner Auftritt im Regen, In: Phleps, Thomas (Hrsg.): Schneller, höher, lauter – Virtuosität in populären Musiken, Bielefeld 2017 (= Beiträge zur Popularmusikforschung 43), S. 65-81, hier: S. 74. 13 Balzer, Jens: Pop: Ein Panorama der Gegenwart, Berlin 2016, S. 204 f. 14 Seubert, Florian: Pop-Literatur. Zur atemberaubenden Popularität von Helene Fischers „Atemlos durch die Nacht“ (Text: Kristina Bach), vom Text ausgehend be-

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Verweis auf Helene Fischers Livequalitäten indes hilft nur zum Teil weiter, um zu verstehen, wie und warum genau es ihr letztendlich tatsächlich gelungen sein könnte, nach über siebzig Jahren deutscher Popgeschichte sämtliche bis dahin offenbar sicher geglaubten musikästhetischen und -ideologischen Kategorien ins Wanken zu bringen. Ganz abgesehen davon, dass neben Beyoncé unbedingt auch die Liveshows von Céline Dion als wenigstens zweiter, wenn nicht gar wesentlich deutlicherer Referenzpunkt für Helene Fischers (vorgeblich) internationalen Standards genügende Auftritte gesetzt werden müssten, steht ihr in dieser Hinsicht Andrea Berg im Grunde genommen in nichts nach, sind doch deren Liveshows mindestens ebenso aufwändig (und ‚international‘) produziert bzw. inszeniert und an – wiederum vor allem – Céline Dion orientiert, wie bereits ein kurzer Blick auf Bergs ‚Atlantis‘-Tournee von 2014 deutlich machen dürfte. Und doch wird eben nicht Andrea Berg, sondern Helene Fischer zugeschrieben, „das massentaugliche Genre des deutschen Schlagers von jener selbstzerstörerischen Ironie befreit“ zu haben, „mit der es auf den Befund der eigenen Kaputtheit, Spießigkeit und Irrelevanz reagiert hatte – zu beobachten im sogenannten Schlager-Revival seit den späten neunziger Jahren“. 15 Jens Balzers Verweis auf das sogenannte ‚Schlager-Revival‘ richtet die Aufmerksamkeit in diesem Zusammenhang bemerkenswerterweise wieder auf jene bereits angesprochene zeitlich diachrone Dimension im eigenartigen Verhältnis von ‚Schlager‘ und ‚Popmusik mit deutschen Texten‘. Harry Nutt macht diesen Punkt in seiner Kolumne Seelenlos durch die Luft für das Feuilleton der Frankfurter Rundschau mehr als deutlich: „Mit meinem wiederentdeckten Faible für den Schlager wollte ich herausfinden, warum ausgerechnet sie so erfolgreich ist. Ich war sogar geneigt, es wenigstens versuchsweise gut zu finden. Aber der Moment stellte sich dann doch nicht ein. Helene sang, flog durch die Lüfte und verausgabte sich, als gelte es, endlich eine hoch gesteckte Olympianorm zu schaffen. Atem- und seelenlos durch die Nacht, dieser nie nachlassende Ehrgeiz beim Versuch, Heiterkeit auszustrahlen, machte mich ungeduldig. Man konnte einer aufgekratzten IchMaschine bei der Zurüstung für eine pausenlose Aufmerksamkeitsökonomie in der digitalen Welt zusehen. Alles perfekt, keine Schnitzer wie in dem textlich eher unbeholfenen Lied der Vicky Leandros [„Wir lieben das Leben“]. Aber

trachtet, In: Deutsche Lieder. Bamberger Anthologie, 21.07.2014, https://deutsche lieder.wordpress.com/2014/07/21/helene-fischer-atemlos-durch-die-nacht/ (14.06.2018). 15 Balzer, Pop, S. 204 f.

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auch nirgends ein Ton, der der Liebe zum Leben Ausdruck verleiht.“ 16 Indem Harry Nutt „die Übertragung eines Live-Konzerts von Helene Fischer“17 hier vor der Folie seines „wiederentdeckten Faibles für den Schlager“ misst, gerät ihm Schlager zu einem zeitlich dimensionierten Sehnsuchtsort eines Früher, das zugleich eine erstaunliche Analogie zu den im Schlager der 1970er üblichen ‚Heimat‘-Narrativen bildet. Für Harry Nutt bedeutet Schlager offenbar eine Zeitheimat, zu der Helene Fischer nicht gehört und wegen der ihr von ihm attestierten seelen- und leblosen Perfektion auch gar nicht gehören kann. Diese Perfektion wiederum bezieht sich in der Inszenierung ‚Helene Fischer‘ gerade nicht allein auf ihre Bühnenauftritte, sondern auf das ‚Gesamtpaket‘ der öffentlichen Persona, die derart konsequent (und scheinbar perfekt) durchinszeniert ist, dass eine Unterscheidung zwischen (Privat-)Person und Persona so gut wie unmöglich ist: „Helene Fischer sieht aus wie jemand, der sogar beim Kacken noch wie Helene Fischer aussieht“.18 Es ist letztlich diese perfekte Inszenierung des ‚Gesamtpakets‘ der öffentlichen Persona Helene Fischer, der sie dann auch von (beispielsweise) Andrea Berg unterscheidet. Helene Fischer verfügt im Gegensatz zu Andrea Berg über keine ‚eigene‘ Biographie, denn während diese ‚im richtigen Leben‘ Andrea Zellen heißt, den Beruf einer Arzthelferin gelernt hat und neben der Bühne ein – angeblich mehr oder weniger gewöhnliches – Privatleben führt,19 scheint Helene Fischer schon immer ‚nur‘ die öffentliche Persona Helene Fischer gewesen zu sein.20 Mehr noch: Sie stellt diese Inszenierung zugleich auch deutlich aus, denn wenngleich hier nicht der Ort ist zu diskutieren, wer letzten Endes der eigentliche spiritus rector hinter der ‚Komplettinszenierung‘ Helene 16 Nutt, Harry: Seelenlos durch die Luft, In: Frankfurter Rundschau, 23.05.2018. http://www.fr.de/politik/meinung/kolumnen/helene-fischer-seelenlos-durch-die-luft-a1510589 (31.05.2018). 17 Ebd.; Harry Nutt macht nicht explizit, welche Übertragung er sich angesehen hat, aufgrund der zeitlichen Nähe dürfte es sich aber wohl um die Ausstrahlung von Helene Fischer – Live 2018 im ZDF vom 28.04.2018 handeln; vgl. https://www.zdf.de/show/ helene-fischer/helene-fischer-live-2018-100.html (11.06.2018). 18 Seeßlen, Is this the End?, S. 96. 19 Vgl. dazu exemplarisch Decker, Kerstin: Andrea Berg und der emotionale Merkelismus, In: Tagesspiegel, 06.11.2016. https://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/sonntag/ schlagerlegende-andrea-berg-und-der-emotionale-merkelismus/14753002-all.html (14.06.2018). 20 Einerseits ist über Helene Fischers Privatleben so gut wie nichts bekannt, andererseits wird das, was davon bekannt ist (ihre Geburt in Sibirien, ihre Ehe mit Florian Silbereisen usw.), zum essenziellen Teil ihrer öffentlichen Inszenierung gemacht.

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Fischer ist, so fällt doch immerhin auf, dass sämtliche Autoren der Popkritik ihr diese Rolle zuschreiben; sie ist es, die sich inszeniert: „In vollem Ernst inszeniert Helene Fischer sich stattdessen als omnipotente Schlagerkönigin neuen Typs, als weibliche Souveränin, die nicht nur unangefochten über das ihr eigene Genre herrscht, sondern dieses auch als Brückenkopf nutzt, um die gesamte Welt zu unterwerfen“.21 Weiterhin bleibt allerdings zu fragen, wie dieses „ihr eigene Genre“, über das Helene Fischer „als omnipotente Schlagerkönigin neuen Typs (angeblich) herrscht“, zu bestimmen sein könnte, wenn sie einerseits (z. B. Harry Nutt) offenbar nicht zum Schlager gehört, diesen andererseits (z. B. Jens Balzer) aber ‚befreit‘ hat und sich überdies (z. B. Peter Wicke) Schlager ohnehin nicht entscheidend von anderen radiotauglichen ‚mainstream‘-Popsongs mit deutschem Text unterscheiden. Eine (mögliche) Antwort schlägt Georg Seeßlen vor: „Vielleicht ist […] das Musical die Popform der Stunde, in der das Gewöhnliche nur in der Form der Gigantomanie überlebt. Wenn etwas garantiert sinn- und formlos geworden ist, dann wird es zu einem Musical. Das betrifft Religion, Geschichte, Literatur oder Biographie, mittlerweile aber auch die Popmusik selber. Das Ende einer Popkarriere besteht in der Vermusicalisierung. Egal, ob Udo Lindenberg, Jesus Christus, Ludwig II, ABBA […]. Das Musical […] ist Musik für Menschen, die sich ‚vollstopfen‘ müssen. Auch PopActs wie der von Helene Fischer gleichen sich der Musicalform an. Auch hier wird von allem etwas geboten und zugleich auf einen heißen Kern gezielt.“22

Nicht von ungefähr ist entweder ein Medley oder gleich gar die je komplette Darbietung internationaler Pophits („Purple Rain“ von Prince, „Flashdance“ von Irene Cara und etliche mehr) elementarer Bestandteil einer jeden Helene FischerShow, wodurch sie erstens „von allem etwas“ bietet, zweitens ihre internationale Anschlussfähigkeit demonstriert und sich drittens „als breit orientierte Entertainerin jenseits des Schlager-Genres“ zeigen kann.23 Es ist nicht zu entscheiden, ob Georg Seeßlen in diesem Zusammenhang schlicht ein – wenngleich hübscher – Lapsus unterlaufen ist, oder ob er absichtlich falsch formuliert hat, doch seine aus den vorhergehenden Überlegungen gezogene Konsequenz „‚Atemlos durch die Stadt‘ [!] wird dabei zum Rausschmeißer und zugleich zum Bindeglied in einer Endlosschleife“,24 ist durchaus be21 Balzer, Pop, S. 204 f.; Hervorhebung TH. 22 Seeßlen, Is this the End?, S. 66 f. 23 Hornberger/Jacke, Zufällig gut?, S. 78. 24 Seeßlen, Is this the End?, S. 66 f.

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zeichnend. In Helene Fischers bis dato größtem Hit „Atemlos durch die Nacht“ aus dem Jahr 2013 verdichten sich Internationalität, Inszenierung und Pop zu einem raumzeitlichen Ort, der nach gängigen Schlagerklischees niemals Heimat ist und auch niemals sein wird, aber dennoch auf Ewigkeit angelegt ist: Großstadt, Nachtleben und radikal grenzenloser Hedonismus.25 Auf klanglich-musikalischer Ebene ist „Atemlos durch die Nacht“ (Komposition: Kristina Bach) in nahezu jeder Hinsicht popkonventionell gestaltet: In gerader 4/4-Taktart folgt der Song mit den Teilen Strophe | Refrain | Strophe | Refrain | [Pseudo-]Bridge | Refrain formal dem üblichen Schema eines MainstreamPopsongs, wobei sowohl Strophe als auch Refrain zweiteilig angelegt sind. Formal und harmonisch unterscheidet sich lediglich der zwölf Takte umfassende erste Teil der Strophen ( |: I | I | vi | vi | V | V :| ) von allen übrigen, je achttaktigen Teilen ( |: IV | I | V | vi :| ), wobei sowohl die gleich gestaltete Harmonisierung von je zweitem Teil der Strophen und der Refrains als auch beider Reduktion auf je acht Takte diese Teile nicht nur formal miteinander verknüpft, sondern auch für den Eindruck (!) höheren Tempos sorgt und so auf den Aspekt der Atemlosigkeit anspielt. Ohnehin ist das Tempo des Songs mit 128 ‚beats per minute‘ (bpm) vergleichsweise hoch und orientiert sich auffallend genau am Mittel von in EDM (Electronic Dance Music) und Disco gängigen Tempi, die üblicherweise zwischen 120 und 135 bpm liegen. Der Eindruck von Geschwindigkeit wird während der Strophen und der ersten Teile der Refrains zudem noch durch eine sehr prägnante Synthesizerbegleitung gesteigert, die nicht nur den Viertelgrundschlag, sondern Achtel spielt und somit doppeltes Tempo (256 bpm) suggeriert. Bemerkenswerterweise setzt diese rasche Synthesizerbegleitung im zweiten Teil der Refrains allerdings aus, wird in Sachen Tempo dort jedoch von der Gesangsstimme abgelöst, die nun ihrerseits (größtenteils) in Achteln singt („Wir sind heute ewig…“). Hinsichtlich der melodischen Gestaltung sind es wiederum genau diese zweiten Refrainteile, die den Eindruck von gesanglicher Virtuosität suggerieren, wiewohl dies ebenfalls pure Suggestion ist, denn auch hier besteht die Melodie aus relativ einfachen, melodisch aufwärts gerichteten Tonleiterausschnitten ohne spektakuläre Intervallsprünge oder ‚Schleifen‘. In den übrigen Teilen des Songs ist die Melodie über Tonrepetitionen, Wechselnoten und kleine Intervalle – der Beginn („Wir ziehen durch die Straßen und die Clubs dieser Stadt“) arbeitet mit Terzen, die charakteristischen „oho–oho“Zeilenenden mit Sekunden – noch schlichter (und damit mitsingbarer) gestaltet, und auch der Ambitus der Melodie im Umfang einer None (h-cisʼ) bewegt sich im popkonventionellen Rahmen. Das einzige natürliche Instrument in „Atemlos 25 Fischer, Helene: Atemlos durch die Nacht, Polydor 2013 (06025 376459-5 4).

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durch die Nacht“ ist indes Helene Fischers Gesangsstimme, Synthesizer, Bass und Schlagzeug hingegen sind synthetisch erzeugt und prägen sowohl aufgrund ihrer synthetischen Klangerzeugung als auch wegen ihres Arrangements und ihrer Artikulation den Sound des Songs, der sehr eindeutig an – zeitgenössisch international erfolgreichen – EDM-Tracks im Stile von David Guetta oder Robin Schulz bzw. an Songs wie „Euphoria“, mit dem Loreen 2012 den Eurovision Song Contest gewann, orientiert ist. Es sind insbesondere die beiden Parameter Geschwindigkeit und Sound, derentwegen „Atemlos durch die Nacht“ als – 2013 eindeutig modern klingender – Dance-Track identifizierbar wird. Konsequenterweise wartet die CD-Single des Songs dann neben der „Albumversion“ gleich noch mit sechs verschiedenen ‚remixten‘ Versionen, darunter ein Remix des in der ‚House‘-Szene durchaus angesagten DJs Sean Finn, auf.26 Analog zur klanglich-musikalischen Ebene setzt auch der Songtext den ‚dance-floor‘ als zentrales Sujet, der jedoch nicht konkreter, geographisch bestimmbarer Ort, sondern sozial konstruierter ‚space‘ ist und dessen wesentliche Konstituenten Nacht, (Groß-)Stadt sowie Liebe und Lust des Augenblicks sind. Der raumzeitlich grenzenlose Hedonismus („Ich schließe meine Augen, lösche jedes Tabu […] tausend Glücksgefühle […] Alles was ich will, ist da, große Freiheit pur, ganz nah, | Nein wir wollen hier nicht weg, alles ist perfekt. […] Atemlos…“) wird zeitlich scheinbar lediglich vom Ende der Nacht begrenzt („…durch die Nacht, bis ein neuer Tag erwacht“), wäre da nicht die Lust des Augenblicks („Das ist uns’re Nacht, wie für uns beide gemacht“), in dem „wir heute ewig sind“, inklusive „tausend Glücksgefühlen“ und „großer Freiheit pur“. „Die im Text erlebte Ewigkeit existiert lediglich für den Bruchteil eines Lebens, im Wimpernschlag eines freien Falls, in den sich die Berauschten gegenseitig werfen. Schwindelfrei zu zweit allerdings: ‚Fall in meine Arme und der Fallschirm geht auf‘. Der erlebte Höhenrausch vom ‚Dach dieser Welt‘ mischt sich in den und mit dem Schwindel der ganz großen Freiheit“,27 fasst Florian Seubert diesen Aspekt zusammen. Entgegen dem scheinbaren Paradoxon der ‚heutigen Ewigkeit‘ und der scheinbaren zeitlichen Begrenztheit der Nacht (die als Zeiteinheit indes durchaus wiederholbar ist) zum Trotz bleibt die räumliche Dimension hingegen unbestimmt, und wenn nicht gar entgrenzt, dann doch wenigstens offen. Bei aller im Text etablierten „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen unser Welt“28 steht ‚die Nacht‘ nämlich nicht nur für eine Zeiteinheit, son26 https://www.discogs.com/Helene-Fischer-Atemlos-Durch-Die-Nacht/release/5165189 (15.06.2018). 27 Seubert, Pop-Literatur. 28 Ebd.

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dern meint zu gleichen Teilen die Raumeinheit eines sozial konstruierten Space des ‚big city night life‘ auf den ‚dancefloors‘ der (Groß-)Stadt, der seinerseits zum Teil eines ‚life-styles‘ erhoben werden kann und damit ebenfalls wiederholbar ist. Während der Space ‚Großstadt‘ im Songtext einzig über den Hinweis auf „das höchste Dach dieser Welt“ (ein solches ist wohl nur auf einem großstädtischen Wolkenkratzer zu finden) expliziert wird, beginnt das zugehörige Video des Songs unmittelbar mit der Etablierung des Topos ‚big city night life‘: Innerhalb der ersten beiden Sekunden bricht in der computeranimierten Kulisse einer Großstadt die Nacht herein und verwandelt diese vor dem nachtschwarzen Himmel in ein großes und künstliches Lichtermeer. 29 Die ersten Zeilen des Songs singt Helene Fischer vor dem Badezimmerspiegel einer/ihrer Wohnung, vor dem sie sich offenbar gerade für die bevorstehende Partynacht zurecht gemacht hat. In fortgesetzten Schnittwechseln zwischen weiteren nächtlichen Großstadtbildern einerseits und Helene Fischer andererseits wird gezeigt, wie sie zuerst das Badezimmer, dann die Wohnung verlässt und in ihren noblen Sportwagen steigt, mit dem sie vor der – spätestens jetzt sehr deutlich computeranimierten – Kulisse der nächtlichen Großstadt zu einem ebenfalls recht nobel ausgestattet wirkenden Club fährt, in dem sie umgehend von anderen Partygästen umringt wird. Zum Ende des ersten Refrains wechselt Helene Fischer in Begleitung zweier Freundinnen und im Taxi (sie dürfte zuvor offenbar Alkohol getrunken haben) die ‚location‘ und sitzt mit ihren beiden Freundinnen an der Bar; sie lachen, trinken und haben sichtlich eine gute Zeit. Allerdings trägt Helene Fischer eine andere Garderobe als im ersten Club, so dass letztlich nicht zu entscheiden ist, ob sich beide Clubszenen am gleichen oder an zwei verschiedenen Abenden abspielen; ‚big city night life‘ ist als ‚life-style‘ eben doch wiederholbar. Zwischen Autofahrten vor nächtlicher Großstadtskyline und Clubszenen eingeschnitten sind zwei nicht narrative, dafür umso deutlicher choreographierte Tanzsituationen, in denen die kontrolliert-ekstatisch tanzende Helene Fischer als Anführerin mehrerer Tänzerinnen entweder in einer leeren Fabriketage (was zweifellos als Anspielung auf den Tanzfilm Flashdance gelesen werden kann) oder in einer mit reichlich Stroboskoplichteffekten ausgestatteten, ansonsten aber unspezifisch gehaltenen ‚Disco‘-Umgebung zu sehen ist. Das zu Beginn des Videos suggerierte Narrativ einer ‚typischen‘ Partynacht Helene Fischers löst sich dementsprechend sukzessive zu einer kaum narrativen, sondern vor allem situativen und affektiven Darstellung des ‚big city night life‘ auf und bringt die im 29 Dass es sich angesichts der Skyline der gezeigten Stadt um Chicago handelt, ist vergleichsweise unerheblich, es geht um das Setting ‚Großstadt‘.

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Text besungene hedonistische Lust des Augenblicks so in ein zeitlich dimensioniertes Kontinuum, das über eine einzige Nacht hinausreicht. Damit allerdings gerät das in „Atemlos durch die Nacht“ entfaltete lustvolle und befreiende („große Freiheit pur“) Großstadtnachtleben zu einem Sehnsuchtsort, der in deutlichem Widerspruch zu der im konventionellen Schlager deutlich weiter verbreiteten Denkfigur der Großstadt als Bedrohung steht, vor der (beispielsweise) Michael Holm noch eindringlich gewarnt hatte. Die Deutung von Großstadt als Befreiung allein macht Helene Fischers Hit mit Blick auf die Geschichte deutschsprachiger Popmusik jedoch noch längst nicht zum einzigartigen Ausnahmefall oder gar Wendepunkt: Auch in Petula Clarks deutscher Version von „Downtown“ (1965) etwa30 oder in „Morgens um fünf“ von Mary Roos (1972),31 vor allem aber in Su Kramers „Hier ist das Leben“ von 1976 wird Großstadt mit Befreiung gleichgesetzt. 32 Im Gegensatz zu „Atemlos durch die Nacht“ aber existieren diese Beispiele in je zwei Varianten, nämlich in einer deutschsprachigen, nationalen und einer englisch- bzw. französischsprachigen, internationalen Version als „Downtown“, „Amour toujours“ und „You’ve got the power“, wohingegen Internationalität bei Helene Fischer – wie oben beschrieben – vor allem über deren Bühneninszenierung im Stil einer ‚großen‘ LasVegas-Show transportiert wird. Mehr noch: Auch die drei Songs von Petula Clark, Mary Roos und Su Kramer schließen musikalisch selbstverständlich ebenfalls an den je zeitgenössisch topaktuellen Popsound an und verweigern sich so der genannten Schlagerdefinition von Peter Wicke. 33 Der entscheidende Aspekt, der den Song „Atemlos durch die Nacht“ in der Geschichte deutschsprachiger Popmusik so besonders macht, ist dessen offensiv ausgestellte Künstlichkeit. Auf der klanglich-musikalischen Ebene wird diese über den – mit Ausnahme von Helene Fischers Gesangsstimme – konsequenten Einsatz von ausschließlich synthetisch erzeugten Klängen markiert, was für sich genommen allerdings noch kein Alleinstellungsmerkmal des Songs wäre. Doch die im zugehörigen Video gezeigte Welt des Großstadtnachtlebens ist eine durch und durch künstliche, sowohl mit Blick auf die computergenerierten Großstadtsilhouetten und insbesondere die beiden Autofahrten als auch hinsichtlich des sterilen Settings der Club-

30 Clark, Petula: Downtown [deutsch], Vogue Schallplatten 1965, DV 14297. 31 Roos, Mary: Morgens um fünf, CBS 1972, CBS S 8379. 32 Kramer, Su: Hier ist das Leben, Telefunken 1976, 6.11824. 33 Vgl. dazu exemplarisch Elflein, Dietmar: Popular Actor-Networks: „You’ve Got the Power“, In: Gruppe, Gerd (Hrsg.): Ethnomusikologie und Popularmusikforschung, Aachen 2014 (= Grazer Beiträge zur Ethnomusikologie 25), S. 167-188.

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und Tanzszenen:34 Niemand schwitzt hier, niemand schwankt aufgrund des (dennoch ins Bild gesetzten) Alkoholkonsums oder übergibt sich gar – und „Helene Fischer sieht so aus wie jemand…“,35 außerhalb und innerhalb des Videos. Damit jedoch „unternimmt [Helene Fischer] in ihrem bislang größten Hit“ weit mehr als nur „eine Neubewertung des Ewigkeitsbegriffs unter den Bedingungen des hyperbeschleunigten Digital-Native-Daseins“, wie es noch bei Jens Balzer heißt;36 vielmehr entwirft sie und/oder die Protagonistin des Songs einen virtuellen Sehnsuchtsort ‚Großstadt(nacht)leben‘, der zwar virtuell und damit offenbar ‚nicht echt‘ ist, trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – aber Sehnsuchtsort bleibt und damit als Glücksversprechen und möglicherweise auch als Utopie taugt. Vor diesem Hintergrund allerdings ist „Atemlos durch die Nacht“ alles andere als „unverbindlicher nationaler Mainstream-Pop“, der Georg Seeßlen zufolge „die Nachfolge der mittlerweile gesundgeschrumpften und zum Gewöhnlichen gewordenen Genres des Volkstümlichen in Deutschland […] antrat, ein Bekenntnis zu Deutschland ohne eindeutige Parolen – für das, alles überlagernd, der Name Helene Fischer steht –, und auf der anderen Seite ein rockistisch verschärfter völkischer Pop, der sich aus den Quellen des ‚Nazi-Rock‘ speist. Man balanciert gewissermaßen an den Grenzen, wie es die südtiroler Freiwild vormachen“.37 Mehr noch: Dass es „[z]wischen Freiwild- und Helene-Fischer-Fans keine fundamentalen Widersprüche gibt“,38 ist bislang empirisch in keiner Weise belegt und widerspräche, selbst wenn Seeßlens Diagnose tatsächlich zuträfe, den einander diametral gegenüberstehenden Heimat-/Sehnsuchtsorten von Frei.Wild und Helene Fischer in gröbster Weise. Während diese die Freiheit und Grenzenlosigkeit modernen Großstadt(nacht)lebens besingt, ‚begrenzen‘ jene deutschsprachigen Punkrock auf die Scholle des volkseigenen Landlebens und rühmen dessen „Wahre Werte“ (2010).39 Frei.Wild nimmt innerhalb der ‚neuen‘ Deutschrockszene gleich in zweifacher Hinsicht eine Sonderstellung ein:40 Zum einen ist die Band der prominen34 https://youtu.be/haECT-SerHk (16.06.2018). 35 Seeßlen, Is this the End?, S. 96. 36 Balzer, Pop, S. 203. 37 Seeßlen, Is this the End?, S. 170 f. 38 Ebd., S. 175. 39 Frei.Wild: Wahre Werte, auf: Gegengift, Rookies & Kings 2010, RK 016. 40 Vgl. Hindrichs, Thorsten, ‚Heimattreue Patrioten‘ und das ‚Land der Vollidioten‘ – Frei.Wild und die ‚neue‘ Deutschrockszene, In: Helms, Dietrich/Phleps, Thomas

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teste Vertreter der Szene und vermutlich nicht nur in ökonomischer Hinsicht Marktführer, zum anderen ist die konsequente Besetzung des Sujets Heimat ein Alleinstellungsmerkmal der Band. Frei.Wild macht Heimat in erster Linie auf textlicher Ebene zum Thema, doch auch die Bildsprache und vor allem die Inszenierung dienen als Träger des Heimatkonzepts. Konkreter Bezugsort dieser Heimat ist Südtirol, das im Song „Südtirol“ (2003) nicht nur geographisch genau markiert, sondern auch sakral überhöht und bis in alle Ewigkeit auf – den ohne Zweifel christlichen – Gott bezogen wird: „Vom Brenner bis Salurn, vom Vinschgau bis nach Osttirol erstreckt sich dieses Land, gebaut durch Gottes Hand. Nichts Schöneres als dieses, in alle Ewigkeit, gibt’s hier auf dieser Erde, seid ihr bereit?“41 Die Zugehörigkeit zu dieser Heimat bestimmt sich in den einschlägigen Songs von Frei.Wild ausschließlich über genealogisch-männliche Verwandtschaftsverhältnisse in Verbindung mit gemeinsam geteilten Werthaltungen. Ständig ist von Vätern und Söhnen, Ahnen und Erben die Rede, die entsprechenden Werthaltungen wiederum werden als „Wahre Werte“ der Heimat definiert: „Volk, Tradition und Sprache, […] Brauchtum und Glaube, […] Dialekte und Umgangssprache, […] Bräuche, Geschichten, Kunst und Sagen“. Die von Frei.Wild vorgenommene geographische und werthaltungsmäßige Konkretisierung von ‚Heimat‘ kehrt die im Schlager sowie in deutschsprachiger Popmusik üblicherweise verhandelte Perspektivierung also um und denkt ‚Heimat‘ als eher räumlich denn zeitlich ausgerichtete Dimension, die mittels entsprechender ‚Wurzel‘-Metaphorik überdies naturrechtlich legitimiert werden soll: „Wo soll das hinführen, wie weit mit uns gehen? | Selbst ein Baum ohne Wurzeln kann nicht bestehen. […] Du kannst dich nicht drücken, auf dein Land zu schauen, denn deine Kinder werden später darauf bauen. Die Wurzel des Landes, wie kann man die hassen, nur um es manchen recht zu machen, die nur danach trachten, sich selbst zu verachten?“42 In den von Frei.Wild entworfenen Bedrohungsszenarien sind es bemerkenswerterweise jedoch weder die ‚Außenwelt‘, noch ‚die Großstadt‘, die diese Heimat bedrohen, sondern ‚Andere‘, und zwar sowohl äußere als auch innere ‚Feinde‘. Während Frei.Wilds äußere Feinde hier (bislang) lediglich in historischer Perspektive verhandelt werden, stellen die inneren Feinde eine aktuelle Bedrohung dar: Die Formulierung „Werte der Heimat […] hielten so lange, so viele (Hrsg.): Typisch deutsch? (Eigen-)Sichten auf populäre Musik in diesem unserem Land, Bielefeld 2014 (= Beiträge zur Popularmusikforschung 41), S. 153-183. 41 Frei.Wild: Südtirol, auf: Wo die Sonne wieder lacht, Razorwire Records 2003, RWR 01. 42 Frei.Wild, Wahre Werte, auf: Gegengift, Rookies & Kings 2010, RK 016.

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Jahre: Bräuche, Geschichten, Kunst und Sagen. Sehe schon die Nachwelt klagen und fragen: Warum habt ihr das verkommen lassen?“ adressiert all jene, die auf derlei Werte offensichtlich wenig geben, was sich in der Welt von Frei.Wild zugleich jedoch zu einer regelrechten Dystopie auswächst: „Wo soll das hinführen, wie weit mit uns gehen? Sprache, Brauchtum und Glaube sind Werte der Heimat, ohne sie gehen wir unter, stirbt unser kleines Volk“.43 Die Beobachtung, dass die Formulierung „stirbt unser kleines Volk“ die Denkfigur des Volkstodes aufruft, wie Georg Brunner und René Gründer argumentieren, 44 ist zweifellos richtig, für vorliegenden Zusammenhang ist allerdings wesentlicher, dass in derlei Frei.Wild-Songs ein nachgerade organisches ‚Volk‘ konstruiert wird, das sich erstens sowohl über gemeinsame Werte als auch über Verwandtschaftsverhältnisse definiert, dem zweitens jedoch auch ein geographisch konkret bestimmter Raum bis „in alle Ewigkeit“ zugewiesen wird und dessen Legitimation in sakraler Überhöhung letztendlich in Gott als letzter unhintergehbarer Instanz verankert wird. Das geradezu dystopische Szenario des Heimatverlusts durch ‚Volkstod‘, das Frei.Wild zufolge offenbar in der Zukunft droht, steht dem virtuellen, den Hedonismus des Augenblicks feiernden und als Glücksversprechen möglicherweise auch utopisch entfalteten Sehnsuchtsort des Großstadt(nacht)lebens bei Helene Fischer indes nicht bloß diametral, sondern dichotom gegenüber. „Die volkstümliche Heimatideologie: das war die schreckliche und schlimme Profanisierung der Theokratie, Drittes Reich und so weiter“, formulierte Roger Behrens mit Blick auf Ernst Blochs Heimatbegriff,45 auf den dessen komplettes „Prinzip Hoffnung“ ausgerichtet ist.46 In dieser Lesart ist der von Frei.Wild propagierte, 43 Ebd. 44 Brunner, Georg/Gründer, René: „So einen Scheiß lad ich mir nicht auf mein Laptop“: Auswertung einer Studie zum Umgang von Schülern mit rechtsradikaler Musik, In: Samples 10 (2011), S. 1-33. http://www.gfpm-samples.de/Samples10/brunnergruen der.pdf, S. 5 (15.06.2018). 45 Behrens, Roger: Anmerkungen zu Blochs Kategorie und Begriff der Heimat, gegen das bloße Wort, einschließlich einer Kritik der um das Utopische verkürzten virtuellen Räume des Pop, o.O. 2006. http://alt.rogerbehrens.net/bloch.pdf (15.06.2018), S. 14. 46 „Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demo-

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mehr räumlich denn zeitlich dimensionierte Heimatbegriff weder Utopie noch Dystopie, sondern volkstümliche Ideologie; ihr dichotom gegenüber steht Helene Fischers mehr zeitlich denn räumlich dimensionierter Sehnsuchtsort Großstadt(nacht)leben als scheinbarer Pop-Utopie: „Die Popkultur aber ist […] das Profane, das mit dem Reich Gottes verwechselt wird oder sich verwechseln lässt (weder für das Profane noch das Reich Gottes schlimm)“. 47 Allerdings bleibt Helene Fischers „Neubewertung des Ewigkeitsbegriffs unter den Bedingungen des hyperbeschleunigten Digital-Native-Daseins“48 letztendlich folgenlos, denn „wir sind“ zwar „unzertrennlich“, aber leider nur „irgendwie unsterblich“.49 „Ohne die Vorstellung eines fessellosen, vom Tod befreiten Lebens“ allerdings „kann der Gedanke der Utopie nicht gedacht werden“,50 weshalb Roger Behrens aus seiner kritisch-theoretischen Perspektive recht hat, wenn er schreibt: „Die kapitalistische Welt, auch wenn sie durch technische Räume virtueller Welten erweitert wurde, bleibt um das Utopische verkürzt, um die Möglichkeit einer besseren Welt betrogen, solange die bestehenden Verhältnisse so bleiben, wie sie sind: solange sie technisch vorgeben, dass diese Kultur alles ist, was an ‚Heimat‘ bestenfalls zu erwarten ist“.51 Die in Helene Fischers „Atemlos durch die Nacht“ ausgestellte Welt des Großstadt(nacht)lebens ist, wie oben gezeigt, eine solchermaßen technisch eingerichtete, vor allen Dingen auch virtuelle Welt. Die bei Frei.Wild, wie übrigens beinahe ausnahmslos in der gesamten neuen Deutschrockszene ausgestellte Welt hingegen ist die einer scheinbar ‚echten‘ Welt, deren Inszenierung jedoch so gut als möglich verschleiert wird, indem eine scheinbare Authentizität ausgestellt wird. Hierbei reicht das Inszenierungsspektrum vom ‚authentisch‘ wirkenden Aussehen der vier Bandmitglieder, die stets mit Jeans, T-Shirt, Turnschuhen und ‚ganz normalen‘ Frisuren unterwegs sind, über den in jeder Form von Öffentlichkeit an den Tag gelegten eher kumpelhaften Habitus bis hin zu der – in konkratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Band 3, Frankfurt a. M. 1973, S. 1628.) 47 Behrens, Anmerkungen zu Blochs Kategorie und Begriff der Heimat, S. 14. 48 Balzer, Pop, S. 203. 49 Ebd. 50 Etwas fehlt… Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno. Gesprächsleiter: Horst Krüger, in: Traub, Rainer/Wieser, Harald (Hrsg.): Gespräche mit Ernst Bloch, Frankfurt a. M.1980, S. 58-77, hier: S. 68. 51 Behrens, Anmerkungen zu Blochs Kategorie und Begriff der Heimat, S. 15.

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sequenter Feedback-Schleife mit den Fans – etablierten Haltung einer vorgeblichen Ununterscheidbarkeit zwischen Privat- und Bühnenperson:52 Wo „Helene Fischer aussieht wie jemand, der sogar beim Kacken noch wie Helene Fischer aussieht“,53 die öffentliche Persona also mit der Privatperson verwechselbar wird, geht der private „heimatliebende Stehpisser“54 Philipp Burger unmittelbar von der Toilette auf die Bühne und singt als öffentliche Persona, was der Privatmensch Philipp Burger (angeblich) wirklich denkt. 55 Nicht zuletzt die Wahl des Genres Punkrock als ‚ehrlicher, handgemachter Musik‘ ohne jeden überflüssigen Schnickschnack komplettiert diese inszenierte Authentizität. Damit ist nun aber auch der von Frei.Wild elaborierte Heimatbegriff notwendigerweise ein (scheinbar!) authentischer: Heimat ist bei Frei.Wild ‚reale‘ und diesseitige, rechtspopulistische Ideologie und eben keine Utopie. Der von Helene Fischer in „Atemlos durch die Nacht“ entfaltete Sehnsuchtsort Großstadt(nacht)leben indes ist weder Heimat, noch das „um das Utopische verkürzte […], was an ‚Heimat‘ bestenfalls zu erwarten ist“, sondern eine explizite Nicht-Heimat als zeitlich dimensionierter Sehnsuchtsort der Ewigkeit, der sich weder um Tod, noch um das Jenseits schert, sondern sich der Möglichkeiten einer besseren Welt im Genuss des Augenblicks selbst ermächtigt und diesseitig aneignet: „Das ist uns’re Nacht“. Helene Fischers radikaler Hedonismus mag für Ernst Blochs noch in der Vorgeschichte lebenden Menschen wenig hoffnungsvoll klingen, versteht vom Wesen der Popmusik aber deutlich mehr als eine Band wie Frei.Wild, die Utopie kurzerhand gegen Ideologie eintauscht, nämlich „dass es in der Popkultur ganz viel Utopie gibt, aber keine Heimat“.56

52 Vgl. Hindrichs, Thorsten: „[Wie] die netten Rockerjungs von nebenan“, Interview mit Klaus Farin, In: Farin, Klaus: Frei.Wild – Südtirols konservative Antifaschisten, Berlin 2015, S. 228-233. 53 Seeßlen, Is this the End?, S. 96. 54 Engelmann, Jonas: Unverkrampfte Wurzeldenker, In: Jungle World, 30.07.2015. https://jungle.world/artikel/2015/31/52419.html (16.06.2018). 55 Vgl. das entsprechend ausgestellte Foto Philipp Burgers in Farin, Klaus: Frei.Wild – Südtirols konservative Antifaschisten, Berlin 2015, S. 319. 56 Behrens, Anmerkungen zu Blochs Kategorie und Begriff der Heimat, S. 5.

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LITERATUR Behrens, Roger: Anmerkungen zu Blochs Kategorie und Begriff der Heimat, gegen das bloße Wort, einschließlich einer Kritik der um das Utopische verkürzten virtuellen Räume des Pop, o.O. 2006. http://alt.rogerbehrens. net/bloch.pdf (15.06.2018). Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Band 3, Frankfurt a. M. 1973. Brunner, Georg/Gründer, René: „So einen Scheiß lad ich mir nicht auf mein Laptop“: Auswertung einer Studie zum Umgang von Schülern mit rechtsradikaler Musik, In: Samples 10 (2011), S. 1-33. http://www.gfpm-samples.de/ Samples10/brunnergruender.pdf, S. 5 (15.06.2018). Decker, Kerstin: Andrea Berg und der emotionale Merkelismus, In: Tagesspiegel, 06.11.2016. https://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/sonntag/schlager legende-andrea-berg-und-der-emotionale-merkelismus/14753002-all.html (14.06.2018). Elflein, Dietmar: Popular Actor-Networks: You’ve Got the Power“, In: Gruppe, Gerd (Hrsg.): Ethnomusikologie und Popularmusikforschung, Aachen 2014 (= Grazer Beiträge zur Ethnomusikologie 25), S. 167-188. Engelmann, Jonas: Unverkrampfte Wurzeldenker, In: Jungle World, 30.07.2015. https://jungle.world/artikel/2015/31/52419.html (16.06 2018). Etwas fehlt… Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno. Gesprächsleiter: Horst Krüger, In: Traub, Rainer/Wieser, Harald (Hrsg.): Gespräche mit Ernst Bloch, Frankfurt a. M. 1980, S. 58-77. Farin, Klaus: Frei.Wild – Südtirols konservative Antifaschisten, Berlin 2015. Hindrichs, Thorsten: ‚Heimattreue Patrioten‘ und das ‚Land der Vollidioten‘ – Frei.Wild und die ‚neue‘ Deutschrockszene, In: Helms, Dietrich/Phleps, Thomas (Hrsg.): Typisch deutsch? (Eigen-)Sichten auf populäre Musik in diesem unserem Land, Bielefeld 2014 (= Beiträge zur Popularmusikforschung 41), S. 153-183. Hindrichs, Thorsten: „[Wie] die netten Rockerjungs von nebenan“, Interview mit Klaus Farin, In: Farin, Klaus: Frei.Wild – Südtirols konservative Antifaschisten, Berlin 2015, S. 228-233. Höfig, Eckhart: Heimat in der Popmusik — Identität oder Kulisse in der deutschsprachigen Popmusikszene vor der Jahrtausendwende, Gelnhausen 2000. Hornberger, Barbara/Jacke, Christoph: Zufällig gut? Über Live-Performances und Virtuositätspotentiale. Helene Fischers Berliner Auftritt im Regen, In: Phleps, Thomas (Hrsg.): Schneller, höher, lauter – Virtuosität in populären

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Musiken, Bielefeld 2017 (= Beiträge zur Popularmusikforschung 43), S. 6581. Kamerun, Schorsch: „Die Hamburger hätten gegen G20 gestimmt“, Interview mit Stephan Lebert, In: ZEIT ONLINE, 04.07.2017, https://www.zeit.de/ gesellschaft/2017-07/schorsch-kamerun-g20-gipfel-hamburg-widerstand-gol dene-zitronen/komplettansicht (15.06.2018). Mendívíl, Julio: Rocking Granny’s Living Room? The New Voices of German Schlager, In: Ahlers, Michael/Jacke, Christoph (Hrsg.): Perspectives on German Popular Music, London/New York 2017 (= Ashgate Popular Music and Folk Series), S. 100-107. Nutt, Harry: Seelenlos durch die Luft, In: Frankfurter Rundschau, 23.05.2018. Schneider, Frank Apunkt: Deutschpop halt’s Maul! Für eine Ästhetik der Verkrampfung, Mainz 2015. Seeßlen, Georg: Is this the End? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung, Berlin 2018 (= Critica Diabolis 251). Seubert, Florian: Pop-Literatur. Zur atemberaubenden Popularität von Helene Fischers „Atemlos durch die Nacht“ (Text: Kristina Bach), vom Text ausgehend betrachtet, In: Deutsche Lieder. Bamberger Anthologie, 21.07.2014, https://deutschelieder.wordpress.com/2014/07/21/helene-fischer-atemlosdurch-die-nacht/ (14.06.2018). Wicke, Peter: Artikel ‚Schlager‘, In: MGG2-Sachteil Bd. 8, Kassel 1998, Sp. 1063–1070.

Plurale Heimatentwürfe im „German Heimat Film“ Identitätsangebote in „Sushi in Suhl“, „Sommer in Orange“ und „Soul Kitchen“ Sylka Scholz

Fast alle in Deutschland sozialisierten Menschen kennen sie und sind mit ihnen in Berührung gekommen: klassische Heimatfilme und daran angelehnte modernisierte TV-Serien, die in einer ländlichen Umgebung spielen. Sie laufen im Fernsehprogramm, bevorzugt in den dritten Programmen der öffentlich rechtlichen Sendeanstalt ARD, aber auch im Vorabendprogramm des ZDF. Heimatfilme sind in unserer Medienkultur weit verbreitet, doch ruft der Begriff bei den meisten in unserer Kultur aufgewachsenen Individuen vor allem Bildwelten aus westdeutschen Filmen auf, die in den 1950er-Jahren gedreht worden sind. Auf eindrucksvolle Weise belegt das künstlerische Projekt Silberwald von Christoph Girardet dass sie alle einem recht ähnlichen Schema folgen.1 Der Künstler präsentiert in einer zwölfminütigen Drei-Kanal-Projektion Fundstücke aus über 70 Heimatfilmen der 1950er und 1960er-Jahre, die er zu einer kleinen Geschichte verarbeitet hat. Gezeigt wird ein Tag im Silberwald, beginnend mit einem grandiosen Sonnenaufgang und endend natürlich mit ihrem wunderschön inszenierten Untergang. Dazwischen spielt sich die züchtige Liebesgeschichte zwischen einem strammen Jäger und einem schönen jungen Mädchen ab. Wie in einem Triptychon treten die Filmbilder in Interaktion miteinander und es werden die zentralen Strukturen und stereotypen Bilderwelten des Genres sichtbar. Dass 1

Gesehen in der Ausstellung „Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald“ im Deutschen Historischen Museum Berlin (vgl. Breymayer/Ulrich 2011).

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die idyllisch inszenierten Landschaften in scharfem Kontrast zu den zerstörten Städten der Nachkriegsgesellschaft stehen und dem Publikum für eineinhalb Stunden Entspannung vom entbehrungsreichen Alltag ermöglichen sollten, ist heute kaum noch präsent. Für die meisten Menschen sind solche Filme schlicht Kitsch und Klischee, sie gelten zudem als konservativ und scheinen eine längst überwundene patriarchale Familien- und Geschlechterordnung zu konservieren. Schaut man genauer in die Kino- und Fernsehprogramme, so ist festzustellen, dass der Heimatfilm „heute ein äußerst lebendiges, aktuelles und vielfältiges Filmgenre dar[stellt], das weit über biederen Charme und naive Naturseeligkeit hinausgeht“.2 Dafür stehen Kinofilme, die seit den 1990er-Jahren unter dem Label ‚neue Heimatfilme‘ firmieren, die das alte Bildrepertoire der Heimatfilme aufgreifen und modernisieren. In meinem Beitrag argumentiere ich, dass der klassische Heimatfilm der 1950er-Jahre nur einen kleinen Ausschnitt aus der vielfältigen Genregeschichte bildet, die mittlerweile mehr als einhundert Jahre umfasst. Der Heimatfilm gilt als ein genuin deutschsprachiges Genre, deshalb wird er international als „German Heimat Film“ bezeichnet. Mit Heinzmann, der 2016 ein Reclam Bändchen zum Heimatfilm publiziert hat, gehe ich davon aus, dass Heimatfilme eines der „wichtigsten Medien bei der Vermessung von Heimat“3 sind. In einem ersten Schritt gebe ich einen kurzen Einblick zur Geschichte des Genres und wende mich anschließend der aktuellen Entwicklung zu. Nach der politischen Wende der DDR im Herbst 1989 und der Wiedervereinigung im Oktober 1990 entstand in Deutschland ein verstärktes Bedürfnis sich mit dem Thema Heimat auseinanderzusetzen, welches sich durch die zunehmende Globalisierung und damit verbundene Migration in das vereinte Deutschland verstärkte. Untersucht wird in einem zweiten Schritt anhand von ausgewählten Filmen, welche Sinn- und Identitätsangebote Heimatfilme den nach der politischen Wende 1989 neu im Westen ankommenden Ostdeutschen (Sushi in Suhl, D. 2012, Regie: Carsten Fiebeler), den ihre Geschichte rekapitulierenden Westdeutschen (Sommer in Orange, D. 2011, Regie: Marcus H. Rosenmüller) und den Kindern der eingewanderten Arbeitsmigranten und -migrantinnen (Soul Kitchen, D. 2009; Regie: Fatih Akin) anbieten. Rekonstruiert wird, wie Heimat im Film jeweils thematisiert wird. In einem dritten und abschließenden Schritt diskutiere ich, welchen Beitrag aktuelle Heimatfilme zu einem pluralen und demokratisch fundierten Heimatkonzept leisten können. Zwar hat sich der Heimatdiskurs ab den

2

Heinzmann, Jürgen (Hrsg.): Filmgenre: Heimatfilm international, Stuttgart 2016, S. 7.

3

Ebd., S. 9.

Plurale Heimatentwürfe im „German Heimat Film“ | 401

1990er-Jahren von politischen Einteilungen in ein links-rechts Spektrum gelöst,4 doch ist eine erneute Vereinnahmung des Heimatbegriffs von rechtspopulistischen Kräften zu konstatieren.

1. KURZE GESCHICHTE DES GENRES5 Der Genrebegriff wird für die Ordnung und Vermarktung von Filme bereits seit den 1910er-Jahren verwendet. Ein Genre fungiert als „systematisches Regulativ in Produktions- und Rezeptionsprozessen“.6 Genrefilme wurden jedoch in der Filmgeschichte lange Zeit abgewertet, denn nur der Autorenfilm galt und teilweise gilt als künstlerisch wertvoll.7 Mittlerweile hat sich die Genreanalyse jedoch als Teil der Filmwissenschaft etabliert. Hickethier versteht Genres als „historisch veränderbare […] dynamische Konstruktionen“:8 Jeder neue Film, der einem Genre zugeschrieben wird, verändert es potentiell. Hickethier differenziert die Genreentwicklung in ein Phasenmodell: „Entstehung – Stabilisierung – Erschöpfung – Neubildung“.9 Dieses Modell lässt sich auch auf den Heimatfilm produktiv anwenden, der von Anfang an dem Genrekino zugerechnet wurde. Die lange Zeit vorherrschende künstlerische Abwertung von Heimatfilmen, erklärt die vergleichsweise geringe filmgeschichtliche Beachtung. Gemeinsam ist den wenigen vorliegenden Überblicksdarstellungen,10 dass sie einerseits von einem weiten Heimatbegriff ausgehen und andererseits eine ähnliche Strukturierung der Geschichte des Heimatfilmgenres vornehmen. Die Vorgeschichte des Heimatfilms beginnt mit den Volksfilmen der 1920er-Jahre. Als erste Heimatfilme gelten die Ski- und Bergfilme der 1920/30er-Jahre. Typisch für Bergfilme 4

Vgl. Costadura, Edoardo/Ries, Klaus: Heimat – ein Problemaufriss, In: Dies. (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, S. 7-25.

5

Vgl. dazu ausführlicher Scholz, Sylka: Heimat, Liebe und Familienglück. Warum Heimatfilme soziologisch betrachtet werden sollten, In: Geimer, Alexander/Heinze, Carsten/Winter, Rainer (Hrsg.): Handbuch Filmsoziologie, Wiesbaden 2018, https://doi.org/10.1007/978-3-658-10947-9_89-1.

6

Hickethier, Knut: Genretheorie und Genreanalyse, In: Felix, Jürgen (Hrsg.): Moderne Film Theorie, Mainz 2007, S. 62-104, hier S. 70.

7

Vgl. Lange, Sigrid: Einführung in die Filmwissenschaft, Darmstadt 2007; Heinzmann, Heimatfilm.

8

Hickethier: Genretheorie, S. 70.

9

Ebd., S. 71.

10 Vgl. dazu Scholz: Heimat.

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ist, dass die äußere Natur als „Spiegel und Gegenüber der inneren, menschlichen Natur“11 fungiert. Der Bergfilm nimmt ikonische Traditionen der literarischen Alpendarstellung und der romantischen Naturdarstellung in der Malerei auf und heroisiert die Landschaft. Die optisch-ästhetische Gestaltung der Bergwelt prägt bis heute die filmische Inszenierung von Landschaft. Die Nationalsozialisten knüpfen an diese Darstellungsweise an und nutzen das Genre um ihre ideologischen Botschaften in gut gemachten Unterhaltungsfilmen zu verkaufen, der Nazi-Heimatfilm gilt als eine weitere Phase in der Geschichte des Genres. Nach dem zweiten Weltkrieg erlebte das Genre seinen Höhepunkt und Heimatfilme aus den 1950ern gelten als Klassiker. In diesem Jahrzehnt manifestiert sich eine spezifische ästhetische Inszenierung, die unsere Vorstellungen von Heimat und vom Zusammenspiel von Landschaft, Natur und Gefühlen in hohem Maße geprägt hat. In den 1950ern setzt aber auch die eingangs genannte Standardisierung ein, die zu einer Erschöpfung des Genres führte. Die kritischen oder AntiHeimatfilme der späten 1960ern führten aus der Retrospektive betrachtet zu einer allmählichen Erneuerung des Genres als dessen Höhepunkt die TV-Trilogie Heimat von Edgar Reitz gilt. Die Serie gilt als späte Vollendung des Oberhausener Manifestes von 1962, dessen Prämissen zum Neuen Deutschen Film sie umsetzte.12 Zu erwähnen ist, dass aus einer solchen, nach Phasen gegliederten Genregeschichte filmgeschichtliche Entwicklungen herausfallen, die für die aktuellen Tendenzen nicht unwichtig sind. So identifiziert die Projektgruppe um Wolfgang Kaschuba13 Heimatfilme, die in der Stadt spielen, sie brechen die Verknüpfung von Heimat und idyllischer Landschaft auf. In den Stadtfilmen geht es immer auch um die Frage nach Heimat, wobei die Stadt sowohl als ein Ort der Gefährdung als auch der Freiheit und Solidarität thematisiert wird. Die Genregeschichte ab den 1990er-Jahren kann als erneute Stabilisierungsphase bezeichnet werden, die jedoch bisher kaum untersucht wurde. Ich folge der Unterteilung in drei Ausformungen, die Alexandra Ludewig (2011) in ihrer englischsprachigen Geschichte des Heimatfilmes vornimmt. In den von ihr als „ambivalent“ bezeichneten Heimatfilm (Ambivalent Heimat Film) erfolgt eine 11 Kaschuba, Wolfgang u. a.: Der deutsche Heimatfilm. Bildwelten und Weltbilder, Tübingen 1998, S. 10. 12 Vgl. Ludewig, Alexandra: Screening Nostalgia. 100 Years of German Heimat Film, Bielefeld 2011. 13 Vgl. Kaschuba: Der deutsche Heimatfilm, insbesondere Grammatikopoulos, Herbert u. a.: Stadt(Heimat)Film, In: Kaschuba, Wolfgang u. a.: Der deutsche Heimatfilm. Bildwelten und Weltbilder, Tübingen 1989, S. 173-191.

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kritische Auseinandersetzung mit dem Genre. In den sogenannten Ostalgie- und Westalgie-Filmen (Positive (Re-)Discoveries of Heimat) wird die Heimat meist komisch reflektiert und letztendlich positiv dargestellt. Die dritte Spielart der neuen Heimatfilme nimmt das Thema Heimat aus einer Migrationsperspektive und damit transkulturell in den Blick (Hyphenated Heimat). Diskutiert wird in der Filmwissenschaft, dies sei abschließend angemerkt, ob nicht auch international von Heimatfilmen zu sprechen sei.14

2. FILMISCHE IDENTITÄTS- UND INTEGRATIONSANGEBOTE IM NEUEN HEIMATFILM 2.1 Filmanalyse als kritische Gesellschaftsanalyse – Die Forschungsperspektive Bevor ich zu meinen Filmanalysen komme, möchte ich kurz auf meine Forschungsperspektive eingehen. Unter einer soziologischen Filmanalyse verstehe ich im Anschluss an Rainer Winter, einer der Pioniere auf diesem Gebiet, eine „kritische Gesellschaftsanalyse“.15 Spielfilme bieten Soziologen und Soziologinnen einen komplexen Zugang zur sozialen Wirklichkeit. Wie für Medien allgemein gilt für Spielfilme umso mehr, dass sie die soziale Wirklichkeit (mit-)konstruieren.16 Kinofilme artikulieren aktuelle Diskurse; sie sind „in gesellschaftliche Konflikte und Auseinandersetzungen eingebunden [...] und deshalb mit sozialen Bedeutungen gesättigt“.17 Entsprechend kann eine soziologische Filmanalyse, die ihren Fokus fachspezifisch auf „das Soziale“18 richtet, Einblick in aktuelle

14 Vgl. Heinzmann: Heimatfilm. 15 Winter, Rainer: Das postmoderne Hollywoodkino und die kulturelle Politik der Gegenwart. Filmanalyse als kritische Gesellschaftsanalyse, In: Heinze, Carsten/Moebius, Stephan/Reicher, Dieter (Hrsg.): Perspektiven der Filmsoziologie, Konstanz 2012, S. 41-59, hier S. 41. 16 Vgl. auch Peltzer, Anja/Keppler, Angela (2015): Die soziologische Film- und Fernsehanalyse, Berlin / Boston 2015. 17 Mai, Manfred/Winter, Rainer: Kino, Gesellschaft und soziale Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Soziologie und Film, In: Mai, Manfred/Winter, Rainer (Hrsg.): Das Kino der Gesellschaft – die Gesellschaft des Kinos. Interdisziplinäre Positionen, Analysen und Zugänge, Köln 2006, S. 7-24, hier S. 10. 18 Ebd., S. 7.

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Codierungen der Intimität, in verbreitete Ängste, ethnische Konflikte oder eben in Verhandlungen über Heimat gewinnen. Gleichwohl sind Filme kein einfaches Abbild der gesellschaftlichen Strukturen und Konflikte, diese werden in spezifische semiotische und ästhetische Strukturen übersetzt. Der diskursanalytische Zugang wurde mit Rekurs auf die von Reiner Keller (2005) formulierte wissenssoziologische Diskursanalyse präzisiert. Denn durch den zunehmenden Medienkonsum ist das Wissen über die Gesellschaft in hohem Maße medial vermittelt. Was wir über Gesellschaft wissen, so etwa Markus Schroer, „wissen wir nicht zuletzt durch den Film“. 19 Zugleich thematisiert Kino „das Mögliche", es gibt Auskunft „über das, was ist und das was möglich wäre, darüber, wer wir sind und wer wir gern wären“.20 Filme stellen demnach den Gesellschaftsmitgliedern Sinnorientierungen bereit; sie sind zudem ein wichtiges Medium der Sozialisation, der Enkulturation und der gesellschaftlichen Integration.21 Über eine parasoziale Interaktion ermöglichen sie den Zuschauern und Zuschauerinnen in Anlehnung an die Filmfiguren eigene Konflikte durchzuspielen und sich mit den Identitäts- und Sinnangeboten eigensinnig auseinanderzusetzen.22 Die deutsche Wiedervereinigung und die daraus folgende „Unheimlichkeit des vereinten Deutschlands“23 machte (auch) eine Auseinandersetzung mit der Heimatfrage notwendig. Zunächst stellte sich nur für die Ostdeutschen die Frage nach den sozialen, politischen und kulturellen Zugehörigkeiten, existierte ihr Herkunftsland doch nicht mehr. Unter einer westdeutschen bürgerlichen Diskurshegemonie, so Thomas Lindenberger, erfolgte die „Erfindung“ der Ostdeutschen.24 Doch die stereotype und meist negativ konnotierte Konstruktion des 19 Schroer, Markus: Gefilmte Gesellschaft. Beitrag zu einer Soziologie des Visuellen, In: Heinze, Carsten/Moebius, Stephan/Reicher, Dieter (Hrsg.): Perspektiven der Filmsoziologie, Konstanz 2012, S. 15-30, hier S. 18. 20 Ebd. 21 Vgl. Hoffmann, Dagmar/Mikos, Lothar (Hrsg.): Mediensozialisationstheorien. Modelle und Ansätze in der Diskussion, Wiesbaden 2010. 22 Vgl. ebd. 23 Ludewig, Alexandra: ‚Ostalgie und ‚Westalgie‘ als Ausdruck von Heimatsehnsüchten. Eine Reise in die Traumfabriken deutscher Filme, In: Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen (Hrsg.): Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts. Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007, S. 141-160, hier S. 142. 24 Vgl. Ahbe, Thomas: Ostalgie. Zum Umgang mit der DDR-Vergangenheit in den 1990er Jahren, Erfurt 2005.

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‚Ossi‘ in den 1990er-Jahren, erinnert sei an die Figur des Jammer- oder Meckerossis, führte auch zu einer notwendigen Auseinandersetzung der Westdeutschen mit ihrem Land. Thomas Ahbe konstatiert, dass nicht zuletzt die Misserfolge des westdeutschen Systems bei der ökonomischen Integration, ein Wirtschaftswunder Ost hat es (bis heute) nicht gegeben, auch die „Wir-Identität“25 der Westdeutschen nachhaltig in Frage stellte, die ebenso ein diskursives Produkt ist wie der/die Ostdeutsche. Die Heimatfrage verbunden mit der nach sozialen Zugehörigkeit stellt sich nicht nur für die Westdeutschen, sondern auch für die vor 1989 nach Deutschland migrierten Menschen, deren Integration sich freilich in der DDR und der BRD sehr unterschiedlich rechtlich, sozial und kulturell gestaltete. Lindenberger diskutiert anhand der Spielfilme über die DDR-Geschichte deren unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen: In erster Linie vermitteln sie den Westdeutschen sowie den jüngeren Ostdeutschen Wissen über das Leben in der DDR. Jedoch lassen sich insbesondere für die älteren in der DDR aufgewachsenen Generationen die in Ost- und Westdeutschland, aber auch international erfolgreichen Filme als Integrationsangebote verstehen. Sie ermöglichen den Ostdeutschen ihr historisch gewordenes Anderssein zu imaginieren und sich vom Westdeutsch-Sein abzugrenzen. Retrospektiv verhandeln die Filme auf eine je spezifische Weise die Frage, inwieweit die DDR für ihre Bewohner und Bewohnerinnen eine Heimat sein konnte. Prospektiv fungieren sie als eine „Form der Anerkennung von Zugehörigkeit im vereinten Deutschland“.26 Sie symbolisieren einen „gelungenen virtuellen Integrationsprozess“,27 der nach Lindenberger jedoch in sich widersprüchlich und prekär ist. Denn die bundesdeutsche Erinnerungskultur zur DDR-Vergangenheit steht unter westlicher diskursiver Deutungsmacht, die eine spezifische Aufarbeitung, fokussiert auf die Staatssicherheit und die DDR-Diktatur, nahelegt und andere lebensweltliche, unpolitische Lesarten diskreditiert.28 Die beschriebenen Funktionen der Spielfilme über die DDR-Geschichte lassen sich aus meiner Sicht auch auf die Spielfilme übertragen, welche die Geschichten von Menschen mit Migrationserfahrungen erzählen. Sie vermitteln den 25 Ebd., S. 20. 26 Lindenberger, Thomas: Kino als Aufarbeitung?, In: Berger, Heinrich u. a. (Hrsg.): Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen, Wien/Köln/Weimar 2011, S. 599-610, hier S. 601. 27 Ebd. 28 Vgl. auch Scholz, Sylka: Heimatgeschichte(n). Die DDR-Gesellschaft im Spielfilm „Sushi in Suhl“, In: Gerbergasse 18. Thüringer Vierteljahreszeitschrift für Zeitgeschichte und Politik, 22/4 (2017), S. 14-19.

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Zuschauern und Zuschauerinnen Wissen über die Herkunftsländer und über den oftmals komplexen und schwierigen Migrations- und Integrationsprozess. Für die heterogene soziale Gruppe der Menschen mit Migrationserfahrungen thematisieren die neuen Heimatfilme die jeweilige Geschichte und zeigen ebenso wie für die Ostdeutschen das historisch gewordene Anderssein, konstruieren neue hybride Identitäten und können im besten Fall als (virtuelle) Integrationsangebote fungieren. Konkret untersucht wird der Wandel von „Wissensregimen“ 29 bezüglich der Vorstellungen von Heimat und den damit verbundenen Sinn- und Identitätsangeboten. Es werden die diskursiven Deutungsangebote zu „Heimat“ rekonstruiert, welche die Filme formulieren. Diese können durch die grundlegende Polysemie von Filmen durchaus widersprüchlich sein. Für die soziologische Analyse ist zentral, dass die filmischen Thematisierungen von Heimat nicht bereits auf einer festen Definition von Heimat beruhen, sondern das Heimatkonzept jeweils erst hervorbringen, welches „sie zu reflektieren und definieren vorgeben“.30 Es gilt also zunächst einmal empirisch zu untersuchen, wie Heimat im Film konstruiert wird. Als sensibilisierendes Konzept im Sinne der qualitativen Sozialforschung 31 fungieren die Vorschläge von Gunther Gebhard, Oliver Geisler und Steffen Schröter, die in ihrer Rekonstruktion des Heimatdenkens feststellen, dass sich Heimatkonstruktion zwischen den Polen „Offenheit und Geschlossenheit“ bzw. „Öffnung und Schließung“32 bewegen. Diese Dichotomie könnte man als das „die jeweiligen Konzepte in ihrer historischen Spezifität organisierende Prinzip auffassen“33 und entlang der Kategorien Raum, Zeit und Identität analysieren. 34 29 Keller, Reiner: Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 2005, S. 188. 30 Gebhard, Gunter/Geisler, Oliver/Schröter, Stefan (Hrsg.): Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen, In: Dies. (Hrsg.): Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007, S. 9-56, hier S. 12. 31 Vgl. dazu Kluge, Susanne/Keller, Udo: Vom Fall zum Typus, Wiesbaden 2010. 32 Gebhard u. a.: Heimatdenken, S. 44. 33 Ebd., S. 45. 34 Die konkrete sechs Schritte umfassende Methode für eine soziologische Filmanalyse wurde im Kontext des von Prof. Karl Lenz und mir geleiteten SFB-Projektes „Transzendenz und Gemeinsinn in privaten Lebensformen“ an der TU Dresden (2008–2013) entwickelt (vgl. Scholz: Das Potential von Filmanalysen). An den in diesem Beitrag diskutierten Filmanalysen waren maßgeblich Studierende der TU Dresden beteiligt, bei denen ich mich für die Weiternutzung ihrer Forschungsergebnisse herzlich bedanke. Carolin Jäckel, Max Lewa und Hitomi Sakamoto erarbeiten die Filmanalyse zu

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2.2 Sushi in Suhl: Ein Japanrestaurant als individualisierte Heimatnische in der DDR35 Der Film Sushi in Suhl ist laut Filmwerbung eine „emotionale HeimatKomödie“.36 Gedreht wurde der Film von dem ostdeutschen Regisseur Carsten Fiebeler, der durch Kurz- und Dokumentarfilme bekannt wurde, etwa OstPunk! Too much Future (D. 2006). Erzählt wird die Geschichte des Suhler Kochs Rolf Anschütz (1932-2008). Dieser eröffnete Anfang der 1970er-Jahre im Restaurant „Waffenschmied“ eine Japanabteilung, ab 1977 gab es sogar ein kleines SentōBad. Und so servierte er seinen Gästen in der DDR-Provinz japanische Gerichte. Der Produzent Carl Schmitt hatte mit Anschütz und seinen Angehörigen eine Reihe von Vorgesprächen geführt. Jedoch hat der Film nicht den Anspruch, die Wahrheit zu erzählen. Der Film ist ein „Kunstprodukt, eine Komödie“,37 um Menschen zu unterhalten. Die Handlung fokussiert auf den gegen staatliche Widerstände durchgesetzten Aufbau als japanisches Restaurant und Anschütz’ Reise nach Japan im Jahr 1979. Der Film ist eine Koproduktion von StarCrest Media GmbH und dem MDR. Er erreichte in den Kinos gut 230.000 Zuschauer und war vor allem in Ostdeutschland ein Publikumserfolg. Er erhielt bereits 2010 den Hessischen Filmpreis für das Beste Drehbuch. Premiere feierte der Film am 28. August 2012. In der Eingangssequenz wird eine kleine mittelalterliche Stadt im Winter gezeigt, die von bergiger Landschaft umgeben ist. Schon mit dieser Einstellung wird deutlich, dass es sich nicht um einen realistischen Film handelt, war Suhl doch eine Bezirksstadt mit 40.000 Einwohnern und Einwohnerinnen. Mit diesen Sushi in Suhl (vgl. Jäckel, Carolin/Lewa, Max/Sakamoto, Hitomi: Forschungsbericht zu (Un-)Möglichkeiten von Heimat in der DDR. Diskursive Deutungsangebote im Spielfilm „Sushi in Suhl, Dresden 2014), Sommer in Orange wurde analysiert von Ulrike Jacob, Michel Kusche, Lennart Messow und Anja Wiede (vgl. Jacob, Ulrike u. a.: Forschungsbericht: Familie im Wandel – Vergleichende Filmanalyse von „So lange noch die Rosen blüh’n“ und „Sommer in Orange“, Dresden 2012) und Soul Kitchen bearbeiteten Thea Djawid, Johanna Kaboth und Christine Schlesinger (vgl. Djawid, Thea et al.: Projektarbeit: „Soul Kitchen“ – der etwas andere Heimatfilm, Dresden 2014). 35 Die folgende Filmanalyse wurde bereits publiziert in Scholz: Heimatgeschichte(n) und für diesen Artikel erneut bearbeitet. 36 Movienet Filmverleih: Presseheft Sushi in Suhl (2012), S. 18. http://www.movienet film.de/sushi/ph.pdf (24.07.2018). 37 Ebd., S. 20.

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Eingangsbildern bezieht sich der Film auf eine romantische Heimatvorstellung. In Auseinandersetzung mit den Modernisierungsprozessen um 1800 wurde für die romantischen Dichter und Schriftsteller Heimat zu einer „Wunschkategorie des Elementaren“:38 Reale Orte und paradiesische Fluchtpunkte wurden ineinander verschoben, dabei spielte der Naturbezug eine zentrale Rolle. Das romantische Heimatkonzept bezieht sich auf das Mittelalter, so wurde die damalige vermeintlich enge Gemeinschaft und die damit verbundenen menschlichen Tugenden verehrt, mittelalterliche Bräuche und Architekturen wurden wiederbelebt. Verstärkt wird das romantische Heimatkonzept im Film durch den Bezug auf ein deutsches Hausmärchen. Zudem wird die Geschichte selbst im Stil eines Märchens vom Sohn des Protagonisten als Stimme aus dem Off erzählt. Mit dem Statement, eine Geschichte über ein Land zu erzählen, welches „hinter Türmen und Mauern versteckt“ war, wird auf die Mauer und die Geschlossenheit der DDR angespielt. Die heimatliche Idylle zeigt sich auch im Innenraum des Gasthofes mit dem mittelalterlich anmutenden Namen „Waffenschmied“. Gäste und Gastwirt kennen sich, man bildet eine harmonische Gemeinschaft. Eingebunden in dieses Heimatkonzept ist auch die Familie. Rolf Anschütz fungiert als Wirt und Repräsentant des Gasthofes auf der Vorderbühne, auf der Hinterbühne agiert Ehefrau Ingrid, der Sohn Robert bewegt sich meist in Sichtweite der Mutter. Wohn- und Arbeitsort fallen demnach wie in mittelalterlichen Gesellschaften zusammen. Problematisch ist, und dies ist das Handlungsmotiv des Filmes, dass in diesem Land nichts Neues passiert. Alles ist „wie immer“: Anschütz kocht die immer gleichen Thüringer Speisen und erhält für die Gerichte nur wenig Anerkennung. Er ist jedoch, dies wird in der Eingangsszene deutlich, hoch ambitioniert, etwa Neues auszuprobieren. Jedoch hindert ihn die DDR-Bürokratie, repräsentiert durch die staatliche Handelsorganisation (HO) der DDR, seine beruflichen Ziele zu entfalten.39 Eher durch Zufall wird Anschütz von seinem Sohn auf die Speisen des fernöstlichen Japans aufmerksam gemacht und besorgt sich ein Buch über Die Sitten der Völker, welches das Japan des 19. Jahrhunderts beschreibt. Nun beginnt seine exzessive Auseinandersetzung mit dem japanisches Essen, die es ihm ermöglicht, sein Verständnis von Kochen als „Kunst und Büh-

38 Gebhard u. a.: Heimatdenken, S. 15. 39 Das Familienrestaurant „Waffenschmidt“ wurde, wie viele vorher private Gaststätten in der DDR als sogenannte Kommissiongaststätte der Handelsorganisation (HO) von der Familie weiter betrieben und unterstand damit aber den staatlichen Auflagen und dem Volkswirtschaftsplan der DDR.

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ne“ umzusetzen. Zunächst kocht er nur privat im Hinterstübchen für seine männlichen Freunde und beweist sein Improvisationstalent. „Aus nichts was machen“ ist sein Credo in der sozialistischen Planwirtschaft, die als Mangelwirtschaft liebevoll und detailreich ins Bild gesetzt zeigt. Dynamik gewinnt die Geschichte als ein japanischer Gastwissenschaftler der Universität Jena, Dr. Hayashi, im Waffenschmied auftaucht und japanisches Essen bestellt; denn über die Kochexperimente von Anschütz war in der Regionalzeitung ein Artikel veröffentlicht worden. Hayashi bringt Anschütz bei, original japanisch zu kochen und besorgt auch entsprechende Zutaten. Die Szene des gemeinsamen Kochens ist als ein kultureller Austausch inszeniert: Sushi gegen Leberwurstbrot; Kräuterlikör gegen Old Whisky. Über Hayashi und in Abgrenzung zu seiner Ehefrau Ingrid wird Rolfs Vorstellung von Heimat als offen und neugierig für das Fremde inszeniert. Ingrid steht hingegen für ein regionales und geschlossenes Heimatkonzept. Sie will thüringisch kochen und ihre kleine Familie zusammenhalten, sie möchte keine Konflikte mit dem Handelsbetrieb der DDR und steht Rolfs Experimenten kritisch gegenüber. Tradition und Weltoffenheit werden im Film mit je einem Geschlecht verbunden. So repräsentiert die Frau die tradierte Vorstellung einer implizit patriarchalen Heimat,40 eine Konstruktion, die sich in vielen Heimatfilmen wiederfindet. Im Vergleich mit der ehrgeizigen, jungen und modisch gekleidete HODirektorin Elke Malaschke, die als Karikatur dargestellt wird, verkörpert Ingrid Anschütz das Weiblichkeitsideal des Films: eine berufstätige Frau und Mutter mit Bodenhaftung, welches auffällig dem DDR-Frauenideal der 1970er-Jahre entspricht.41 Die eigenständigen Aktivitäten von Rolf Anschütz ermöglichen der DDR unerwartet die gewünschten Handelsbeziehungen mit Japan. Deshalb erlaubt die HO-Führung ihm seinen Ambitionen weiter zu verfolgen. Anschütz inszeniert mit staatlicher Erlaubnis eine fremde, exotische Welt in der geschlossenen DDR. Auf dieser Bühne kann er seine Kochkunst zelebrieren und versucht, sich immer weiter zu perfektionieren. Parallel zum Aufstieg der Japanabteilung zerfällt die Familie: Ingrid verlässt ihren Mann mit dem gemeinsamen Sohn und Rolfs Vater, der für die Zufuhr von frischem Fisch aus dem regionalen See für das Sushi zuständig war, stirbt. 40 Vgl. Büttering, Elisabeth: Frauenheimat Männerwelt. Die Heimatlosigkeit ist weiblich, In: Cremers, Willi/Klein, Ansgar (Hrsg.): Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven, Bonn 1990, S. 416-437. 41 Dölling, Irene: Der Mensch und sein Weib. Frauen- und Männerbilder. Geschichtliche Ursprünge und Perspektiven, Berlin 1991.

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Neue Schwierigkeiten entstehen als der japanische Kaiser Anschütz einen Orden für seine Leistungen für die “Völkerverständigung“ zwischen der DDR und Japan verleihen möchte. Nach einigem Hin und Her darf Anschütz schließlich nach Japan reisen. Auf der Reise kommt es zur Wendung und Transformation des Heimatkonzeptes, denn das echte Japan entspricht so gar nicht den Vorstellungen des Thüringers. Statt des erträumten Paradieses landet Anschütz mit dem Flugzeug in der Millionenstadt Tokio. Keine idyllische Landschaft mit Kirschblüten erwartet ihn, sondern eine moderne Großstadt geprägt von Hochhäusern, Schnellstraßen, Verkehrs- und Menschenströmen. Anschütz fühlt sich in dieser Umgebung sehr fremd. Auch die aufgetischten Speisen entsprechen nicht seinen Vorstellungen. Und bei einem gemeinsamen Essen mit Dr. Hayashi wird er von anderen Gästen als Ausländer beschimpft. Anschütz ruft ihnen aufgeregt und erzürnt entgegen, dass er der „erste Japaner aus Suhl, Deutsche Demokratische Republik“ sei und konstruiert damit eine paradoxe oder – anders ausgedrückt – eine hybride Identität. Er erweitert sein regionales Identitätskonzept nun um den Staat, den er selbst repräsentiert. Jedoch scheitert er mit dieser neuen Identität und bricht mit einem Kreislaufkollaps zusammen. Das Japan des 19. Jahrhunderts, welches er in Suhl inszenierte, hat nichts mit dem Japan des 20. Jahrhunderts zu tun und so sehnt er sich nach Thüringen zurück in „mein Japan“. Anschütz erkennt, dass er zu viel Kraft und Zeit in seine Obsession investiert und deshalb Familie sowie Freunde verloren hat, die er zurückgewinnen möchte. Vor dem Hintergrund der Distanz und des Verlustes erlangt die regionale Heimat eine neue Bedeutung. Anschütz kehrt freiwillig in seinen „Käfig“, so Hayashi, zurück. Und so ist es schlüssig, dass der Film mit einer Panoramaeinstellung auf die nun sommerliche Kleinstadt endet. Das Heimatkonzept von Anschütz erfährt also eine Schließung, es ist jedoch anders als das seiner Frau Ingrid individueller: Das selbst kreierte Japan wird in die regionale Heimat eingeschlossen. In dieser individuell hergestellten Nische lebt Anschütz bis zum Ende der DDR und bewirtet – laut Film – annähernd zwei Millionen Gäste. Wie sein Leben nach der Rückkehr aus Japan in den letzten zehn Jahren der DDR weiterging, thematisiert der Film nicht. 2.3 Sommer in Orange: Kampf um und Versöhnung im bayrischen Dorf Der Film Sommer in Orange spielt in einer alternativen Kommune in den 1980er-Jahren und setzt sich ironisch mit dem Aufwachsen in alternativen Lebensformen auseinander. Er ist laut Eigenwerbung „eine Culture Clash-Komödie über jene Zeit, als Selbsterfahrung noch kein Mainstream und die bayerische

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‚Seele‘ noch nicht lässig war“.42 Laut Presseheft hat der bayrische Regisseur Marcus H. Rosenmüller „das Genre des modernen Heimatfilms geschaffen“. 43 In der Tat gilt er als einer der Erneuerer des Genres. 44 Bekannt wurde er mit dem Überraschungserfolg Wer früher stirbt, ist länger tot (D. 2006). Der Film Sommer in Orange beruht auf einer wahren Geschichte: den Kindheitserinnerungen der Drehbuchautorin Ursula Gruber und des Produzenten Georg Gruber, die in einer Sannyasin-Kommune aufwuchsen. Er ist eine Koproduktion von Odeon Pictures, Roxy Film und des Bayrischen Rundfunks. Er erreichte im Kino ca. 570.000 Zuschauer, mehr als doppelt so viele wie Sushi im Suhl und erlebte seine Premiere am 18. August 2011. Der Film ist aus der Perspektive des Mädchens Lili erzählt, die sich nach einer vollständigen Familie sehnt. Immer wieder erscheinen im Film Traumsequenzen, welche Lilis noch ‚heile‘ Familie zeigen, bestehend aus Mutter, Vater und zwei Geschwistern. Die Handlung setzt mit Lilis 12. Geburtstag ein, den sie gemeinsam mit ihrer Familie und der Kommune in Berlin-Kreuzberg feiert. Der Tag wird zu einem Aufbruch, denn ein Kommunenmitglied hat einen alten Bauernhof im bayrischen Talbichl geerbt und die Kommune beschließt umzuziehen und dort ein Therapiezentrum zu eröffnen. Während Lili den Verlust ihrer städtischen Heimat erleidet, von ihr aus, hätte das Leben immer so weiter gehen können, finden die erwachsenen Kommunarden und Kommunardinnen eine neue Heimat. Mit der Wahl des Ortes, einem bayrischen Dorf, schließt der Film an einer Deutung von Heimat als einem beschaulichen, dörflichen Leben in einer schönen, idyllischen Landschaft an, wie sie sich im 19. Jahrhundert als Gegenbild zur Großstadt herausbildete.45 Stärker als Sushi in Suhl knüpft der Film an die Inszenierungsstrategien der klassischen Heimatfilme an, die er ironisiert. Ziel ist jedoch keine grundlegende Kritik, sondern das Genre für das Gegenwartskino zu entstauben. Inszeniert wird eine Begeisterung für das dörfliche Idyll und eine spirituelle Naturbeziehung. Der für klassische Heimatfilme typische Kontrast

42 Majestiv Filmverleih: Presseheft Sommer in Orange (2011), S. 6. http://www.majes tic.de/presse/orange/sommer%20in%20orange%20presseheft%202011-06-17.pdf (24.07.2018). 43 Ebd., S. 24. 44 Vgl. Ludewig: Screening Nostalgia. 45 Vgl. Schmoll, Friedemann: Orte und Zeiten. Innenwelten, Aussenwelten. Konjunkturen und Reprisen des Heimatlichen, In: Costadura, Edoardo/Ries, Klaus (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, S. 25-47.

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von Stadt und Land46 wird durch die Westberliner Kommune-Mitglieder auf der einen Seite und die Dorfbewohner und Dorfbewohnerinnen auf der anderen Seite verkörpert. Der Film dreht sich zum einen um den Konflikt über die angemessene Lebensführung zwischen der alternativen Kommune und der konservativen, katholischen Dorfbevölkerung. Zum anderen besteht eine Kontoverse zwischen Lili und ihrer Mutter Amrita, verhandelt werden Fragen der Sozialisation und des Kindswohls. Durch den Umzug auf das Land gerät Lili in eine tiefe Identitätskrise, sie steht im Mittelpunkt der Filmerzählung. Die Mutter befindet sich auf einer spirituellen Suche nach sich selbst und verliebt sich auf einer Erweckungsveranstaltung in den Bhagwanjünger Prem Bramana. Lili fühlt sich von ihrer Mutter im Stich gelassen und blickt sehnsüchtig auf die funktionierende, konservative und katholische Nachbarsfamilie des Bürgermeisters. Symbolisiert wird die Vernachlässigung durch den leeren Kühlschrank in der Kommune, dem der reich gedeckte Mittagstisch der Bürgermeisterfamilie gegenübergestellt wird. Sie verkörpert das traditionelle Heimatkonzept, in das eine patriarchale Geschlechterordnung eingeschrieben ist: Der Ehemann und Vater ist erwerbstätig und Ernährer der Familie, die Mutter ist Ehe- und Hausfrau und für die Erziehung des Sohnes zuständig. Der Film zeigt Lilis Suche nach Heimat, Identität und Zugehörigkeit. Während die Kommune sich vom Dorf abgrenzt und nach eigenen, insbesondere freien sexuellen Regeln lebt, ist Lili gezwungen, sich in die dörfliche Schulklasse zu integrieren. Dort wird sie aufgrund ihrer Andersartigkeit, die sich sowohl auf ihre orange Kleidung als auch auf ihr im Verhältnis zu den gleichaltrigen Dorfkindern individualisiertes Verhalten bezieht, ausgegrenzt und diskriminiert. In der geschlossenen Dorfgesellschaft wird ein Fest vorbereitet, gewöhnlich der Höhepunkt in einem Heimatfilm, in deren Kontext die latenten Konflikte aufbrechen.47 Lili gelingt es durch die Hilfe des Postboten, der sich von der freien Lebensweise der Kommune angezogen fühlt und sich in die Kommunardin Leela

46 Vgl. etwa Strobel, Ricarda: Heimat, Liebe und Glück: Schwarzwaldmädel, In: Faulstich, Werner/Korte, Helmut (Hrsg.): Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, Frankfurt a. M. 1995, S. 148-170; Trimborn, Jürgen: Der deutsche Heimatfilm der fünfziger Jahre. Motive, Symbole und Handlungsmuster, Köln 1998. 47 Vgl. Seeßlen, Georg: Durch die Heimat und so weiter. Heimatfilme, Schlagerfilme und Ferienfilme der fünfziger Jahre, In: Berger, Jürgen/Reichmann, Hans P./Woronesch, Rudolf (Hrsg.): Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, S. 136-164.

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verliebt hat, gemeinsam mit ihrem Bruder in der Musikkapelle des Dorfes mitspielen zu dürfen. Lili ist hin und her gerissen zwischen ihrem Verlangen nach der Geborgenheit in einer ganz ‚normalen‘ Familie, die sie durch die fürsorgliche Bürgermeisterfrau erfährt, welche ihre Nöte erkennt und sie zum Mittagessen einlädt, und der Liebe zu ihrer Mutter und dem Bekenntnis zur Kommune. Symbolisiert wird dieser Konflikt durch den permanenten Kleidertausch: Zu Hause trägt Lili die orange Kleidung der Sannyasin-Kommune, in der Schule hingegen einen traditionellen Rock im Blaudruck, eine weiße Bluse und Zöpfe. Sie versucht sich mehr und mehr den Bräuchen der Dorfbevölkerung anzupassen, während sie zu Hause den alternativen Lebensstil ihrer Wohngemeinschaft pflegt. Währenddessen ist der Bau des Therapiezentrums weit vorgeschritten und die Einweihung soll durch Prem Bramana erfolgen, der sich von Lilis Mutter Amrita angezogen fühlt. Die feierliche Eröffnung der Therapieräume und das Dorffest fallen zeitlich zusammen und bilden den filmischen Höhepunkt. Als die Kommune geschlossen zum Dorffest geht, sieht die entsetzte Mutter ihre beiden Kinder in der regionalen Tracht bekleidet in der Blaskapelle spielen. Es kommt zu einem heftigen Streit zwischen Mutter und Tochter, der sich in einer großen Keilerei zwischen Kommune und Dorfbevölkerung fortsetzt, in der nebenher auch Konflikte innerhalb der konkurrierenden Gruppen ausgetragen werden. Die Ereignisse kumulieren nun: Lili begibt sich auf die Flucht, wird jedoch von der Ehefrau des erzkonservativen Bürgermeisters aufgegriffen und aufgenommen. In einer Schlüsselszene beklagt sie sich über ihre Mutter: sie sei keine richtige Mutter, denn sie wolle Lili und ihren Bruder ins Internat abschieben, um mit Prem Bramana eine neue Sannyasin-Kommune in Amerika aufzubauen. In ihrer Verzweiflung denunziert sie die Kommune, sie hätte Drogen und Waffen in ihrem Besitz. Während die Mitglieder noch in der Nacht festgenommen werden, sucht Lili beschämt Zuflucht im Wald. Dort erscheint ihr Bhagwan und es kommt zu einer Läuterung. Obwohl der Regisseur die religiösen Bezüge auf beiden Seiten ironisiert, ist es ihm doch Ernst mit dem Glauben,48 was in der Darstellung Lilis zum Ausdruck kommt. Das Mädchen wird als magisch begabt inszeniert und in einer Erlöserpose dargestellt, in der sich die Symbolik des christlichen Messias mit der eines erleuchteten Yogis vermischt. Wie auch in anderen Medien findet sich bei Rosenmüller eine Sakralisierung des Kindes.49 Die Mutter 48 Vgl. Ludewig: Screening Nostalgia. 49 Vgl. Lenz, Karl/Scholz, Sylka: Das idealisierte Kind. Eltern-Kind-Beziehungen in populären Erziehungsratgebern, In: Vorländer, Hans (Hrsg.): Transzendenz und die Konstitution von Ordnung, Berlin/New York 2013.

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findet ihre Tochter nach der Rückkehr aus dem Gefängnis meditierend auf dem magischen Energiestein. Beide versöhnen sich, Amrita trennt sich von ihrem Guru und bekennt sich zu ihren Kindern. Insofern lässt sich der Film auch als ein Disziplinierungsprozess einer selbstsüchtigen Mutter interpretieren, die obendrein reumütig in ihre Zweierbeziehung mit Siddharta zurückkehrt. Abgeschlossen wird der Film mit dem für das Genre typischen Fest. An Lilis 13. Geburtstag vereinen sich die verfeindeten Parteien friedlich und durch die bayrische idyllische Landschaft bewegt sich eine Elefantenherde. Und wie jeder klassische Heimatfilm hat auch Sommer in Orange ein Traumpaar: die Kommune-Schönste Leela und der Postbote des Dorfes Rudi. Ihre zunächst freie, orgiastische Liebe mündet zum Ende des Films in eine heterosexuelle Ehe, welche durch die Geburt von Zwillingen gekrönt wird. Beide geben, so erfährt man im Abspann, fortan Yogakurse an der Volkshochschule Talbichel. Diese Paarbeziehung symbolisiert die Kompromisslösung der zunächst konkurrierenden Lebenskonzepte: Die konservative Dorfbevölkerung modernisiert sich und die Kommune-Mitglieder werden konventioneller. Die Kritik des Filmes richtete sich zunächst gegen die jeweils bornierten Ansichten der beiden Gruppen und nimmt diese liebevoll aufs Korn, die Abgrenzung gegen das jeweils Fremde wird durch Lili aufgebrochen, die sich unsicher zwischen beiden Welten bewegen muss. Nach einem Erkenntnisprozess insbesondere der Mutter, die auf ihre individualisierte Selbstverwirklichung zu Gunsten der Kinder verzichtet, kann das Dorf Heimat nicht nur für die Dorfbevölkerung, sondern auch für die zugezogenen städtische Kommune sein. Bezüglich des Aufwachsens von Kindern, dem Ausgangsproblem, legt der Film nahe, dass sie in der durchaus modernisierten, z.B. nichtehelichen Kleinfamilie, jedoch unter mütterlicher Obhut erfolgen soll. 2.4 Soul Kitchen: Ein Szenerestaurant als Heimatdorf in der Großstadt Zunächst einmal mag es befremdlich wirken den Film Soul Kitchen von dem deutsch-türkischen Regisseur Fatih Akin als ‚Heimatfilm’ zu bezeichnen. Dieser Regisseur hat die Entwicklung des sich bereits ab den 1960er-Jahren konstituierenden deutsch-türkischen Kinos maßgeblich mit seinen Filmen geprägt hat.50 Als erfolgreichster Film gilt das hoch dotierte Drama Gegen die Wand (2004). Mit Soul Kitchen produzierte der Regisseur eine Komödie, die sich um die Kon50 Vgl. dazu Schäffler, Diana: „Deutscher Film und türkische Seele“. Entwicklungen und Tendenzen der deutsch-türkischen Filme von den 70er Jahren bis zur Gegenwart, Saarbrücken 2007.

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flikte des deutsch-griechischen Besitzer des Soul Kitchen, Zinos Kazantsakis, dreht. Der Film spielt in Wilhelmsburg, einem Stadtteil von Hamburg. Im Presseheft des Filmverleihs Pandora heißt es: „SOUL KITCHEN ist ein Heimatfilm der neuen Art: Die Welt ist nicht mehr so heil und das Dorf ist ein Restaurant […]. Es geht um Familie und Freunde, um Liebe, Vertrauen und Loyalität – und um den Kampf für die Heimat als einen Ort, den es in einer zunehmend unberechenbaren Welt zu schützen gilt“.51 Der Film war deutlich erfolgreicher als die beiden anderen besprochenen Filme, er verzeichnet mehr als 1.3 Mio. Zuschauer und Zuschauerinnen, gewann mehrere Preise und wurde in vielen verschiedenen Ländern gezeigt. International wurde er als „dirty Heimatfilm“ 52 beworben und verweist damit auf das Spiel mit dem klassischen Genre. Produziert wurde er von Corazón International, Premiere feierte der Film am 25. Dezember 2009. Die Geschichte der Filmfiguren ist weniger kohärent erzählt als in den beiden anderen analysierten Filmen, handelt es sich doch um einen Film, der mehrere Geschichten episodisch verknüpft. Ihre Stringenz tritt zugunsten der (souligen) Musik zurück, die selbst eine handlungstragende Rolle spielt. Bezüglich der Frage nach der Konstruktion von Heimat entwirft der Film zwei kontrastierende Sinnangebote, die im Mittelpunkt der Analyse stehen. Das zentrale Deutungsangebot wird über die Hauptfigur Zinos Kazantsakis entworfen, über ihn laufen alle Handlungsstränge des Films zusammen. Der in einer nach Deutschland migrierten griechischen Familie aufgewachsene junge Mann ist Inhaber des „Soul Kitchen“, eines einfachen Restaurants in einem ehemaligen Industriegebäude in einer umliegenden Industriebrache. Diese unwirtliche Gegend sieht man in der ersten Einstellung und der Kontrast zu einem konventionellen Heimatfilm könnte nicht größer sein. Serviert wird schnelles Essen aus der Fritteuse, welches von einem Stammpublikum gleichmütig verspeist wird. Das Handlungsproblem des Films ist der nahende Abschied von Zinosʼ Freundin Nadine, eine junge Journalistin, die aus einer großbürgerlichen Hamburger Familie stammt. Sie will am nächsten Tag nach Shanghai aufbrechen, um dort eine Tätigkeit als Auslandsjournalistin aufzunehmen. In diesem Strang thematisiert der Film die Karrieremöglichkeiten gut ausgebildeter junger Frauen, die sich durch die Globalisierung der Arbeitsmärkte ergeben. Das Beziehungsleben des Paares wird als konflikt-

51 Pandorafilm: Presseheft Soul Kitchen (2009), S. 7. http://presse.pandorafilm.de/ list.php?movie=soul-kitchen (24.07.2018). 52 Vgl. Zander, Peter: Genuss mit Ironie – Fatih Akins „Soul Kitchen“, In: DIE WeLT, 10.09.2009. https://www.welt.de/kultur/article4506128/Genuss mit Ironie - - Fatih-Akins -Soul-Kitchen.html (24.07.2018); s. auch Ludewig: Screening Nostalgia.

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haft in Szene gesetzt. Laut Nadine steht für Zinos seine Arbeit und die damit eng verbundene Gemeinschaft des „Soul Kitchen“ zu sehr im Vordergrund. Mit dem Weggang Nadines gerät das gewohnte Leben Zinos aus dem Tritt und für ihn und sein Restaurant geht es immer weiter bergab. Rekonstruiert werden im Folgenden nur die Hauptstränge der Handlung. Bereits vor Einsetzen der Filmhandlung hat Zinos Steuerschulden, die nun eingetrieben werden und die Musikanlage, lebenswichtig für das Funktionieren des „Soul Kitchen“, wird gepfändet. Der Protagonist erleidet einen Bandscheibenvorfall beim Austausch der kaputten Geschirrspülmaschine, der im Laufe der Geschichte sich immer weiter verschlimmert, da Zinos keine Krankenversicherung hat und dementsprechend ärztliche Hilfe nicht in Anspruch nehmen kann. Der Bruder Illias, welcher eine Freiheitsstrafe im Gefängnis verbüßt, taucht auf und bittet um einen Scheinjob in der Kneipe, um länger Freigang zu bekommen. Zufällig trifft Zinos einen ehemaligen Schulfreund, nun Immobilienspekulant, der ihm das „Soul Kitchen“ abkaufen will, um das Grundstück gewinnbringend zu verkaufen. Da Zinos sein Restaurant nicht aufgeben will, es sei doch „sein Baby“, denunziert er ihn bei der Hygieneaufsicht. Diese erteilt beim Anblick der chaotischen Küche massive Auflagen mit einer Frist von vier Wochen. Durch einen weiteren Zufall lernt Zinos am Abschiedsabend der Freundin in einem Nobelrestaurant den exaltierten Koch Shayn kennen, der just an diesem Abend rausgeworfen wird und einen neuen Job sucht. Mit ihm versucht er, die Küche im „Soul Kitchen“ zu erneuern. Doch die „Suppe des Meisters der Akupunktur“ ist für die Stammgäste zu fremd, die er zudem als „Gaumenrassisten“ beschimpft, und so verlassen sie unter Gezeter ihr Stammlokal auf der Suche nach Bockwurst und Frikadelle. Konstruiert wird die Welt des „Soul Kitchen“ in einer Dichotomie mit einer ihr feindlich gegenüberstehenden Umwelt. Insbesondere die staatlichen Institutionen (Finanzamt, Gewerbeaufsicht, Gesundheitssystem) bedrohen die Existenz des Gastwirts, aber auch die Gentrifizierung des alten Industriegebietes stellt eine Gefahr dar. Der für Heimatfilme typische Kontrast zwischen Stadt und Land wird demnach in die Großstadt hineingeholt und reinszeniert. Im Mittelteil des Films wendet sich das Blatt für das „Soul Kitchen“: Eher durch Zufall findet das Restaurant ein neues Publikum und wird zum angesagten Szenelokal. Mit dem nun erwirtschafteten Gewinn wird die Küche neu ausgestattet und auch die Steuerschuld kann zurückgezahlt werden. Doch Zinos ist unglücklich über den Verlust seiner Freundin und beschließt ihr nach Shanghai zu folgen. Er überschreibt seinem Bruder Illias das „Soul Kitchen“ und verabschiedet sich mit einem köstlichen Essen, gemeinsam von Shayn und ihm gekocht, von seinen Freunden und Freundinnen. Auf dem Flughafen trifft er jedoch Nadine, die gerade nach Hamburg zurückgekehrt ist, da ihre geliebte Großmutter, die

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Patriarchin der Familie, gestorben ist. Sie ist nicht allein, an ihrer Seite hat sie einen neuen (asiatischen) Freund. Wiederum gerät Zinos Lebensgeschichte ins Trudeln und diesmal verliert er nicht nur seine Freundin endgültig, sondern auch sein Restaurant, das der spielsüchtige Bruder Illias an den Immobilienspekulanten verloren hat. Am Tiefpunkt der Geschichte angelangt, verschlimmert sich das Bandscheibenleiden massiv. Hilfe kommt von einer deutsch-türkischen Physiotherapeutin, die Zinos zu einem türkischen Chiropraktiker bringt, „Knochenbrecher“ genannt, der ihn tatsächlich heilen kann. Die Freunde und Freundinnen sind nun in alle Winde zerstreut, das „Soul Kitchen“ verfällt, Zinos arbeitet als Gabelstapelfahrer. Wiederum durch einen Zufall findet er am Restaurant, das er wehmütig noch einmal aufsucht, eine Nachricht von Shayn und die Mitteilung, dass das „Soul Kitchen“ versteigert werde. Er leiht sich von der reichen Exfreundin Nadine Geld und kann so das Restaurant zurückkaufen. Die Filmhandlung macht einen Sprung und man sieht in der Schlussszene ein renoviertes, mit Kronleuchter und Weihnachtsbaum nobleres „Soul Kitchen“. Zinos kocht aus frischen Lebensmitteln ganz allein ein anspruchsvolles Menü für seine Verabredung mit der Physiotherapeutin Anna. Das Abschlussbild legt nahe, dass Zinos eine neue (glückliche) Liebe gefunden hat. Unterstrichen wird das Happy End durch den Song „The Creator has a Master Plan“, der nicht zuletzt auf das Gottvertrauen verweist, also eine hintergründige religiöse Einbettung vornimmt, auf diesen Aspekt komme ich im Filmvergleich zurück. Die Heimatkonstruktion des Films thematisiert die familialen Migrationserfahrungen von Zinos und seinem Bruder kaum. Der griechische Hintergrund wird nur durch den im „Soul Kitchen“ zur Untermiete wohnenden alten Griechen mit Spitznamen Sokrates symbolisiert. Er ist dauerhaft Pleite und kann seine Miete nicht bezahlen. Sokrates baut an einem kleinen Schiff, trägt eine Seemannsmütze, trinkt gern Rotwein und philosophiert abends im „Soul Kitchen“, wie der Name nahelegt. Die Figur präsentiert einerseits die (Urlaubs-)Klischees Griechenlands, andererseits greift dieser Sokrates mit seinen Ratschlägen und Kritiken aktiv in die Handlung ein und ist als kauziger Alter fester Teil der Wahlverwandtschaft des „Soul Kitchen“, der die Herkunft der Brüder präsent hält. Ihre Heimat ist jedoch das selbst geschaffene „Soul Kitchen“, es stellt den Heimatraum dar, wo in einer selbst gewählten Wahlverwandtschaft Vertrauen, Geborgenheit und Liebe erfahren werden. Indem Wilhelmsburg und mit ihm das „Soul Kitchen“ vom Regisseur als „Dorf“ bezeichnet werden, greift er auf die bekannte Heimatsemantik zurück und verschmilzt sie mit der Tradition des Stadtheimatfilmes. Obwohl die vertraute Gemeinschaft aus freien Freundschaften besteht, zeigt die Filmanalyse, dass die Verbindlichkeiten zwischen den beiden Brüdern höher gewichtet werden, also die Familienbande mehr zählen. Ne-

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ben der hohen Bedeutung der Familie, einem festen Bestandteil des Heimatfilmgenres, spielt auch die Liebe eine zentrale Rolle. Gerade die zweite Liebesgeschichte mit Anna wird in der Semantik der romantischen Liebe inszeniert: Der tiefe Blick in die Augen genügt, um gegenseitig die Gefühle füreinander zu erkennen.53 Diese Darstellung steht in scharfem Kontrast zur Inszenierung der Beziehung mit Nadine, die in einer lieblosen und fast pornografischen Sexszene visualisiert wird. Familie und Liebesbeziehungen, klar an einem regionalen Ort situiert, stellen in einer globalisierten Welt die selbst gewählte und geschaffene Heimat dar. Kontrastiert wird dieses Heimatkonzept über die Figur des Kochs Shayn. Über ihn wird zunächst einmal das Essen, verstanden als mit Sorgfalt hergestellte Speisen aus frischen Zutaten, als eine Existenzgrundlage der Menschen, aber auch des Genusses für Auge und Gaumen ins Blickfeld gerückt und immer wieder in Szene gesetzt. Doch im Gegensatz zu Zinos ist Shayn ein Reisender, der nur mit einem exklusiven Kochmesser und asiatischen Weisheiten ausgestattet, um die Welt zieht. Er hinterlässt Zinos die Botschaft: „Der Reisende ist noch nicht am Ende, er hat sein Ziel noch nicht erreicht“ und motiviert ihn damit, um das „Soul Kitchen“ zu kämpfen. Der Spruch selbst ist wohl an die konfuzianische Weisheit „Der Weg ist das Ziel“ angelehnt. Shayn wird als Nomade inszeniert und verkörpert damit ein offenes Heimatkonzept: der Heimatraum ist veränderbar, zwischenzeitlich war er das „Soul Kitchen“, die Zukunft ist grundlegend offen, auch für das Fremde, das Shayn durch seine Distanz zu Gemeinschaft selbst verkörpert. Seine Identität wird über seine Fähigkeit als Koch konstruiert, die über eine berufliche Identität weit hinausgeht und eher im künstlerisch-kreativen, philosophischen Metier angesiedelt ist. Keine der beiden zentralen Heimatkonstruktionen wird filmisch als richtig oder falsch ausgewiesen, sie stehen gleichberechtigt nebeneinander. Gleichwohl wird diejenige der Hauptfigur Zinos den Zuschauern und Zuschauerinnen näher gelegt, da man sich beim Filmgenuss doch meist stärker mit dem Protagonisten oder der Protagonistin identifiziert.

53 Vgl. Lenz, Karl/Scholz, Sylka: Romantische Liebessemantik im Wandel?, In: Steinbach, Anja/Hennig, Marina/Arranz Becker, Oliver (Hrsg.): Familie im Fokus der Wissenschaft, Wiesbaden 2014, S. 93-116.

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2.5 Heimatentwürfe im Filmvergleich Abschließend vergleiche ich die ausgewählten Filme bezüglich der Heimatkonstruktionen in den Dimensionen Raum, Zeit und Identitäts- und damit verknüpfte Integrationsangebote. Alle drei Filme verorten Heimat in einem konkreten Raum: die Thüringer Traditionsgaststätte „Waffenschmied“ (Sushi in Suhl), das großstädtische Szenerestaurant „Soul Kitchen“ oder der bayrische Bauernhof mit Therapiezentrum (Sommer in Orange). Das moderne Heimatkonzept hat sich von konkreten Orten ablöst, etymologisch bezieht sich Heimat auf einen klar umrissenen Ort, meist als materieller Besitz von Haus und Hof, und entwickelte sich zu einer abstrakten emotionalen und ästhetischen Kategorie.54 In allen drei Filmen wird Heimat erneut konkret verortet. Aber nur noch in Sushi in Suhl handelt es sich auch um den Platz des Aufwachsens und der Kindheit, der in diesem Film als kleinstädtisch idyllisch inszeniert wird. Mit dem Rekurs auf die Kindheit sind Heimatkonstruktionen in einer ersten alltagsweltlichen Assoziation bis heute stark verknüpft.55 Doch gerade diese Relation verflüssigt sich. Die Protagonistin in Sommer in Orange ist in einer großstädtischen Kommune aufgewachsen und wird nun in das bayrische Dorf ‚verpflanzt‘, wo sie zunächst als Fremde ausgeschlossen wird und sich ihren Platz erst erkämpfen muss. Die Kindheit des Protagonisten in Soul Kitchen bleibt gänzlich offen, man kann nur erahnen, dass Zinos auch in Hamburg aufgewachsen ist. Die Konstruktion von Heimat wird bezüglich ihres Ortbezugs flexibel, gleichwohl bedarf es eines konkreten Raums, indem Heimat gelebt werden kann.56 In der Zeitdimension unterscheiden sich die Filme grundlegend. Die dem mit Ludewig zugeordneten Subgenre der Ostalgie- bzw. Westalgie-Heimatfilme zugehörigen Filme Sushi in Suhl und Sommer in Orange beschäftigen sich entsprechend mit der Vergangenheit der beiden getrennten deutschen Teilstaaten. Sushi in Suhl spielt ausschließlich in der Vergangenheit der DDR der 1970er-Jahre. Auch wenn er retrospektiv erzählt wird, bleibt unklar, von welchem Ort der erwachsene Sohn spricht. Der Film präsentiert uns die DDR als eine mögliche Heimat und zeigt, dass Individualität auch in einer geschlossenen Gesellschaft, 54 Vgl. Schmitz, Walter: Das Zeichen „Heimat“. Zur Semiotik eines wandelbaren Konzeptes in der deutschen Kultur, In: Klose, Joachim (Hrsg.): Heimatschichten. Anthropologische Grundlegung eines Weltverhältnisses, Wiesbaden 2013, S. 569-599. 55 Vgl. etwa Nees, Albin: Kindheit als Heimat, In: Klose, Joachim (Hrsg.): Heimatschichten. Anthropologische Grundlegung eines Weltverhältnisses, Wiesbaden 2013, S. 305-310. 56 Vgl. Schmoll: Orte und Zeiten.

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jedoch mit Kompromissen, gelebt werden konnte. Implizit bestärkt er den Diskurs über die DDR als Nischen-Gesellschaft, der von dem Journalisten und SPDPolitiker Günter Gaus in die öffentliche Debatte gebracht wurde. Sommer in Orange spielt in den 1980er-Jahren, gibt aber zum Abschluss des Films einen Ausblick in die Zukunft. Wie beschrieben heiratet das Traumpaar des Filmes und gründet eine Familie, visioniert wird ein harmonisches Zusammenleben von Kommune und Dorfbevölkerung, in einer sich langsam modernisierenden Umwelt. Soul Kitchen ist hingegen ganz in der Gegenwart angesiedelt, die Zukunft des Protagonisten ist offen, aber auch, wie die letzte Filmeinstellung nahelegt, wohlgeordnet. Eng mit der Raum- und Zeitkonstruktion sind die Identitätskonzepte verknüpft. Soul Kitchen richtet sein Identitätsangebot an junge Leute in der Großstadt, die Träume von einem individualisierten und kreativen Leben haben, zugleich aber auch Sehnsucht nach einer Gemeinschaft, die sie auffängt und beheimatet. Im Vordergrund steht die Geschichte der beiden Brüder, die in einer aus Griechenland eingewanderten Familie aufgewachsen sind. Der Film spielt mit den Klischees gegenüber Migranten und Migrantinnen nicht nur in der Figur des Sokrates, sondern auch mit Rekurs auf das Klischee der migrantischen Existenz als Gastwirt (Zinos) und dem migrantischen kriminellen männlichen Jugendlichen (Illias). Er überschreitet diesen Migrantionsdiskurs aber, indem in die Gemeinschaft selbstverständlich deutsche57 Jugendliche integriert sind. Auch die kleinkriminelle Gruppe um Illias besteht aus migrantischen und deutschen jungen Männern. Gespielt wird auch mit Klassenstereotypen: Das „Soul Kitchen“ ist zunächst ein Restaurant für einfache Leute mit einem anspruchslosen Geschmack, als Szenerestaurant wird es von einem anderen sozialen Milieu besucht. Neben diesen Klischees scheint es aber auch eine tiefer liegende Klassendimension zu geben: So scheitert Zinos in der Liebesbeziehung zur deutschen, großbürgerlichen und studierten Nadine, die ‚richtige‘ Liebe findet er bei Anna, die selbst aus einer zugewanderten Familie stammt und einen Fachausbildung als Physiotherapeutin hat. Die Botschaft könnte sein, dass die Wahl der Beziehungsperson der eigenen Klassenzugehörigkeit entsprechen sollte. Doch egal ob die Familien eingewandert sind oder nicht, verhandelt werden die Identitätskonflikte junger Menschen zwischen 20 und 30 Jahren in der Großstadt, denen ein globaler Lebensraum offen steht.

57 Selbstverständlich ist auch ‚deutsch‘ eine (rechtlich abgesicherte) gesellschaftliche Zuschreibung und damit eine soziale Konstruktion. Gemeint ist die Zuschreibung hier im Sinne der Herkunft, die mittels der Vornamen als deutsch ausgewiesen wird.

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Die retrospektiven Filme unterschieden sich bezüglich ihrer Integrationsund Identitätsangebote: In Sommer in Orange werden die Kommunemitglieder in die wohl etablierte dörfliche Gesellschaft integriert, die sich selbst ein Stück weit öffnet und individuellere Lebenskonzepte ermöglicht. Die Integration hat jedoch insbesondere für die Mutter einen Preis: Sie muss sich den gesellschaftlichen Regeln anpassen, die Verantwortung für ihre Kinder übernehmen und somit der tradierten Mutterrolle gerecht werden. Mit den Volkshochschulkursen, die vom Ehepaar Rudi und Leela angeboten werden, verweist der Film auf eine langfristige Entwicklung in Deutschland: Die zunächst so exotisch wirkenden neuen fernöstlichen Religionspraktiken sind längst Bestandteil der Alltagspraxen. Yogakurse werden auch in evangelischen Gemeindezentren angeboten, die Religion hat sich pluralisiert und individualisiert.58 Die in den 1980ern noch als fremd betrachteten Anhänger und Anhängerinnen der neuen spirituellen Bewegungen werden in die, wenn man so will, Mitte der Gesellschaft integriert. Ambivalenter ist das Integrationsangebot von Sushi in Suhl einzuschätzen. Setzt man den Spielfilm in ein Verhältnis zum Aufarbeitungsdiskurs zur DDRGeschichte59 so fällt auf, dass der Film überhaupt keinen Bezug auf die Staatssicherheit nimmt, normalerweise ein MUSS. Das Anliegen des Regisseurs und des Produzenten war es, „eine emotionale Heimat-Komödie“ zu drehen. Weder Anklage, noch Abrechnung oder jegliche Form von Nostalgie (Ostalgie) sollen laut ihrer Aussage darin Platz finden.60 Man könnte sagen, dass sich die Filmemacher dem politischen Aufarbeitungsdiskurs verweigern stattdessen den Heimatdiskurs in Verbindung mit einer regionalen Identitätskonstruktion stärken, jedoch um den Preis, kein Integrationsangebot für Ostdeutsche in die gesamtdeutsche Gegenwartsgesellschaft zu formulieren. Im Vergleich zwischen den drei Filmen fällt auf, dass in Sushi in Suhl am stärksten auf die romantischen Heimatsemantiken zurückgriffen wird. Hingegen werden in Sommer in Orange die Bildwelten und Kontrastierungen des klassischen Heimatsfilms der 1950er-Jahre genutzt, um einen Entwurf von Heimat zu formulieren. Der Film Soul Kitchen kreiert eine dörfliche Gemeinschaft in der Großstadt und schließt ebenso an tradierte Heimatsemantiken an. Auch Ideen des 58 Vgl. Knoblauch, Hubert: Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York 2009. 59 Vgl. Lindenberger: Kino als Aufarbeitung; Heß, Pamela: Gleichförmig statt vielfältig: Die DDR im öffentlichen Erinnern, In: Matthäus, Sandra/Kubiak, Daniel (Hrsg.): Der Osten. Neue sozialwissenschaftliche Perspektiven auf einen komplexen Gegenstand jenseits von Verurteilung und Verklärung, Wiesbaden 2016, S. 99-124. 60 Vgl. Movienet: Presseheft.

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Stadt(heimat)films finden sich wieder, wenn in der unwirtlichen Großstadt eine solidarische Gemeinschaft ins Bild gesetzt wird. Filmästhetisch unterscheidet sich dieser Film am stärksten von den etablierten Bildwelten des Heimatfilms. Ein weiterer Aspekt wird bei einem vertiefenden Filmvergleich deutlich: sowohl Sommer in Orange als auch Soul Kitchen bewerten einen religiösen oder spirituellen Weltbezug positiv. Während die Thematik in Soul Kitchen nur am Rande anklang, wird sie doch deutlich, wenn man das Kontextmaterial stärker einbezieht. Sowohl Marcus H. Rosenmüller als auch Fatih Akin bekennen sich zu ihrem Glauben und messen diesem in Interviews jeweils eine wichtige Rolle zu. 61 Das Heimatkonstrukt wird durch eine religiöse oder anders ausgedrückt transzendente Dimension fundiert. Dass ein solcher Aspekt in Sushi in Suhl fehlt, scheint mir kein Zufall zu sein. Der gesellschaftlich forcierte Säkularisierungsprozess in der DDR schlägt sich bis heute in einem weit verbreiteten Atheismus nieder.62

3. FAZIT Exemplarisch konnte an den drei ausgewählten Filmen gezeigt werden, dass die im filmischen Heimatdiskurs entfalteten Vorstellungen von Heimat vielfältig sind. Sie knüpfen an die etablierten, romantisch fundierten Heimatsemantiken an, nutzen aber auch die im Genre Heimatfilm tradierte Filmästhetik, um ihren jeweiligen Entwurf von Heimat zu plausibilisieren. Die Stärke des einzelnen Films liegt darin, die je spezifischen individuellen Erfahrungen von Heimatverlust und dem darauffolgenden emanzipatorischen Kampf für eine Heimat den Zuschauer und Zuschauerinnen durch individualisierte Filmfiguren nachvollziehbar zu machen. Verallgemeinerbar sind die Filmgeschichten nur insoweit als sie jeweils eine Stimme in einem pluralen Heimatdiskurs darstellen. Sie machen jedoch die Erfahrungen der jeweils anderen, oftmals als ‚fremd‘ empfundenen Menschen nachvollziehbar, erzeugen Mitgefühl und im besten Fall Toleranz für ein gesellschaftliches Miteinander. Der Gemeinschaftsgedanke spielt in allen drei Filmen eine zentrale Rolle. Gemeinschaft gilt als Gegenentwurf zu einer vermeintlich kalten, rationalen Ge-

61 Vgl. Ludewig: Screening Nostalgia. 62 Vgl. Wohlrab-Sahr, Monika/Karstein, Uta/Schmidt-Lux, Thomas: Forcierte Säkularisierung. Religiöser Wandel und Generationsdynamik im Osten Deutschland, Frankfurt a. M./New York 2009.

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sellschaft, ist jedoch ein Produkt des Modernisierungsprozesses. 63 Die Gemeinschaften in den Filmen sind zum einen moderne Wahlverwandtschaften, selbst gewählte Freundschaften sind hoch bedeutsam, aber auch die Familie ist in allen Filmen wichtig. Eng damit verbunden spielt in den ausgewählten Heimatfilmen die Liebe eine herausragende Rolle. Angeknüpft wird in dieser Hinsicht an die romantische Liebessemantik, die Liebe scheint immer noch ein Versprechen von Ganzheit und Vollkommenheit zu enthalten, welches zugleich die Anerkennung der eigenen Individualität umfasst.64 Eingebunden sind Familie und die in den Filmen ausschließlich heterosexuellen Zweierbeziehungen, aber auch die Heimatkonstrukte insgesamt in Geschlechterverhältnisse. Das Idealbild von Weiblichkeit ist in den retrospektiven Filmen, so unterschiedlich sie auch sind, die hingebungsvolle Mutter, die in der DDR selbstverständlich auch erwerbstätig ist, während sie in der alten BRD aufopferungsvolle Hausfrau ist. Das männliche Idealbild ist normativ an Erwerbsarbeit geknüpft und wird um Vaterschaft ergänzt. Dies wird in Sushi in Suhl an der Hauptfigur deutlich; in Sommer in Orange verkörpern diese Idealkonstellation der konservative Bürgermeister, aber auch der modernere Postbote. Die Filme legen den Zuschauern und Zuschauerinnen als Idealbilder verhältnismäßig konservative Geschlechterbilder nahe. Anders sieht es in Soul Kitchen aus: auch in diesem Film streben alle Charaktere nach vertrauten und harmonischen Liebesbeziehungen, jedoch ist weniger eine sichere Erwerbsarbeit das Lebensziel als eine kreative Tätigkeit, in der man oder frau sich verwirklichen kann, bedeutsam. Elternschaft taucht am Horizont des Filmes nicht auf. Der Filmvergleich zeigt die Vielfalt der aktuellen Konstrukte von Heimat auf und darin liegt meines Erachtens seine Bedeutung im aktuellen heterogenen Heimatdiskurs. Die Pluralität lässt sich nur auf Kosten der jeweiligen komplexen diskursiven Deutungsangebote auf einen Punkt bringen, es ist aber gerade die Vielstimmigkeit, die einen Heimatdiskurs in einer pluralen spätmodernen Gesellschaft aus meiner Sicht produktiv gestalten. Die neuen Heimatfilme können den sich verstärkenden rechten Heimatdiskursen, die mit massiven Ausschlüssen verknüpft sind, durchaus eine unterhaltsame und zum Nachdenken anregende Alternative entgegensetzen als Gegenmittel zum gegenwärtigen „akuten Identi-

63 Vgl. Rosa, Hartmut u. a.: Theorien der Gemeinschaft. Zur Einführung, Hamburg 2010. 64 Vgl. Lenz/Scholz: Romantische Liebessemantik.

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tätsstress“65 in der Gesellschaft. Für linke Kräfte gelte es aus meiner Sicht sich den Heimatsehnsüchten der Menschen mehr zu stellen, anknüpfen ließe sich an den linken emanzipatorischen Heimatdiskurs der 1970er-Jahre, 66 um das Heimatkonzept für eine demokratische Beteiligung zu nutzen.

LITERATUR Ahbe, Thomas: Ostalgie. Zum Umgang mit der DDR-Vergangenheit in den 1990er-Jahren, Erfurt 2005. Breymayer Ursula/Ulrich, Bernd (Hrsg.): Unter Bäumen: Die Deutschen und der Wald, Dresden 2005. Büttering, Elisabeth: Frauenheimat Männerwelt. Die Heimatlosigkeit ist weiblich, In: Cremers, Willi/Klein, Ansgar (Hrsg.): Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven, Bonn 1990, S. 416-437. Costadura, Edoardo/Ries, Klaus: Heimat – ein Problemaufriss, In: Dies (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, S. 7-25. Djawid, Thea/Kaboth, Johanna/Schlesinger, Christine: Projektarbeit: „Soul Kitchen” – der etwas andere Heimatfilm, Dresden 2014. Dölling, Irene: Der Mensch und sein Weib. Frauen- und Männerbilder. Geschichtliche Ursprünge und Perspektiven, Berlin 1991. Foroutan, Naika/Kubiak, Daniel: Ausschluss und Abwertung: Was Muslime und Ostdeutsche verbindet, In: Blätter für deutsche und internationale Politik 63/7 (2018), S. 93-102. Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Stefan: Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen, In: Dies. (Hrsg.): Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007, S. 9-56. Grammatikopoulos, Herbert u.a. : Stadt(Heimat)Film, In: Kaschuba, Wolfgang u.a. (Hrsg.): Der deutsche Heimatfilm. Bildwelten und Weltbilder, Tübingen 1989, S. 173-191. Heß, Pamela: Gleichförmig statt vielfältig: Die DDR im öffentlichen Erinnern, In: Matthäus, Sandra/Kubiak, Daniel (Hrsg.): Der Osten. Neue sozialwissen-

65 Foroutan, Naika/Kubiak, Daniel: Ausschluss und Abwertung: Was Muslime und Ostdeutsche verbindet, In: Blätter für deutsche und internationale Politik 63/7 (2018), S. 93-102, hier S. 93. 66 Vgl. Costadura/Ries: Heimat.

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ZITIERTE FILME Sommer in Orange, D. 2011. Regie: Marcus H. Rosenmüller. Produktion: Odeon Pictures, Roxy Film und Bayrischer Rundfunk. DVD. Soul Kitchen, D. 2009. Regie: Fatih Akin. Produktion: Corazón International. DVD. Sushi in Suhl, D. 2012. Regie: Carsten Fiebeler. Produktion: StarCrest Media GmbH und MDR. DVD.

„Even if You return, Ulysses“,1 oder die Geschichte von der Heimkehr Edoardo Costadura

L’innocent paradis, plein de plaisirs furtifs, Est-il déjà plus loin que l’Inde et que la Chine? Peut-on le rappeler avec des cris plaintifs, Et l’animer encor d’une voix argentine, L’innocent paradis plein de plaisirs furtifs? Charles Baudelaire Ich habe mich immer wieder mit dem Thema Heimkehr beschäftigt. Was macht das mit einem Menschen, wenn er an die Orte seiner Kindheit zurückkehrt. Plötzlich sind äußere Bilder Entdeckungen von inneren Bildern. Man erkennt etwas wieder. Man spürt ein Abbild dessen, was man da sieht, in seiner eigenen Seele, und das erzeugt eine starke Emotion. Als könne man das einmal verlorene Glück wiederfinden. Es ist sozusagen der Duft eines verlorenen Glücks, der einen umweht und stark bewegt. Edgar Reitz

für meine Tochter Elisa

1

Titel einer szenischen ‚Klang/Raum/Performance‘ von Wolfgang Storch und Vladimir Tarasov, die beim Kunstfest Weimar 2004 aufgeführt wurde.

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In einem von Elena Agazzi und Erhard Schütz herausgegebenen Sammelband aus dem Jahre 2010 wird ‚Heimkehr‘ als eine „zentrale Kategorie der Nachkriegszeit“ bezeichnet.2 Dies leuchtet angesichts des millionenfachen Schicksals von displaced persons und Kriegsheimkehrern nach 1945 unmittelbar ein. Einiges spricht jedoch dafür, dass ein ähnlicher Befund für die literarische und filmische Kultur des heutigen Europa erhoben werden könnte. Diese Annahme mag auf den ersten Blick etwas verwundern, insofern als in den großen europäischen Industrieländern die Landflucht als ein weitgehend abgeschlossenes Phänomen angesehen werden kann, und mithin Verstädterung und berufliche Mobilität nunmehr zum Standard der Lebensformen gehören dürften. Martin Hecht 3 gibt dennoch einige Anhaltspunkte, die die derzeitige Emergenz des HeimkehrMotivs gesellschaftlich erklären könnten. Laut Hecht wohnen wir seit dem Anfang der 2000er-Jahre dem „Verschwinden der Heimat“ bei.4 Dieses Phänomen sei „das Erlebnis einer Generation, die ihre Jugend in den siebziger und achtziger Jahren hatte“: also der Generation „der Jahrgänge zwischen 1955 und 1970“, die chronologisch zwischen der „Adenauer-Generation“ und der „Techno-Generation“ anzusiedeln sei.5 Hecht nennt sie die „heimatlose Generation“: „Diese Jahrgänge bilden die heimatlose Generation, denn sie erlebten in ihrer Kindheit und Jugend noch die letzten Ausläufer der alten Heimat, aber auch ihr Ende. Sie bezeugte die alte Welt und die Ankunft einer neuen. Und nur die Erfahrung zweier Zustände macht es sinnvoll, von einem einzigartigen Verlust zu sprechen […]. Sie ist eine Brückengeneration, die eine grundlegende Erfahrung eines Überganges macht, nämlich zwischen zwei vollkommen verschiedenen Lebensformen.“6

Dem naheliegenden Einwand, dass die Geschichte gerade im 20. Jahrhundert andere „Brückengenerationen“ kennt, und dass die Modernisierung unserer Lebenswelt nicht erst um die Jahrtausendwende eingesetzt hat, hält Hecht entgegen, dass der Bruch, den die „heimatlose Generation“ zu verarbeiten hatte und noch zu verarbeiten hat, „einzigartig“ sei:

2

Agazzi, Elena/Schütz, Erhard (Hrsg.): Heimkehr: eine zentrale Kategorie der Nachkriegszeit. Geschichte, Literatur und Medien (= Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, 23), Berlin 2010.

3

Hecht, Martin: Das Verschwinden von Heimat, Leipzig, 2000.

4

Ebd., S. 209.

5

Ebd.

6

Ebd.

„Even if You return, Ulysses“ oder die Geschichte von der Heimkehr | 431

„Zwar ist die abendländische Modernisierung selbst schon ein paar Jahre älter als die zur Selbstreflexion gekommene heimatlose Generation. Aber tatsächlich geht erst heute ein letzter Riss durch die Welt und trennt die moderne Gesellschaft von der traditionellen Heimat. Die moderne Gesellschaft reißt die letzten Brücken zu ihrer Vorgängerin ab, so dass diese in einem kollektiven Gedächtnis, das noch direkte Berührungspunkte mit ihr hatte, langsam wegzutriften [sic] beginnt. […] Die heimatlose Generation kannte noch ein geregeltes Familienleben, festgefügte Institutionen von Heimat.“ 7

In Bezug auf diese Brückengeneration formuliert die italienische (sardische) Autorin Michela Murgia (*1972) dieselbe Diagnose. Sie begründet sie allerdings weniger soziologisch als kulturhistorisch. Murgia spricht von einer „Generation von Schiffbrüchigen“, die an der Schnittstelle zwischen dem Ende der Ideologien und der harten sozialen Auseinandersetzungen der 1960er- und 70er-Jahre einerseits, und der digitalen Revolution andererseits, anzusiedeln sei. Ihre Merkmale sind Orientierungslosigkeit und psychische wie ideologische Prekarität: „Figlia dei baby boomers e genitrice dei nativi digitali, quella degli anni Settanta è una generazione ammarata nel mezzo di due fondamentali cambiamenti paradigmatici, uno sociale e uno tecnologico, e ancora fatica a trovare una dimensione storica da poter chiamare propria. Esiliati dalle ideologie e arrivati ai linguaggi digitali come si arriva da adulti a una lingua straniera, i quaranta-cinquantenni attuali hanno mancato il tempo di ogni rivoluzione e lo sanno. Precari e individualisti, sono dei sopravvissuti che si aggirano tra le macerie di guerre sociali che non hanno combattuto e abitano il proprio presente con la sensazione di non potervi davvero risiedere, perché il loro mondo, se c’era, non era questo, non così.“8

7

Ebd., S. 209-210.

8

Murgia, Michela: Futuro interiore, Turin, 2016, S. 4 [„Als Tochter der Baby-Boomers und Mutter der Digital Natives, befindet sich die Generation der siebziger Jahre zwischen zwei grundlegenden Paradigmenwechseln, einem sozialen und einem technologischen, und sie hat noch jede Mühe, eine eigene historische Dimension zu definieren. Die heutigen Vierzig- bis Fünfzigjährigen sind einerseits jeglicher Ideologie beraubt worden und sie haben sich andererseits die digitale Sprache wie eine Fremdsprache aneignen müssen. Sie haben mithin alle Revolutionen verpasst und sie sind sich dessen auch bewusst. In prekärem Gleichgewicht lebend und stark individualistisch orientiert, sind sie wie lauter Überlebende einer Katastrophe: Sie irren zwischen den Trümmern von sozialen Kriegen, bei denen sie nicht mitgekämpft haben, und bewoh-

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Die „Generation der Schiffbrüchigen“ ist also eine Generation von „Unbehausten“, die das Gefühl haben, im Leben fehl am Platze zu sein – weil sie sich die Welt nicht haben aneignen bzw. anverwandeln können. Umso intensiver ist die Sehnsucht nach einer Heimat, umso stärker der Drang heimzukehren, ohne dass man jedoch genau wüsste, wohin. Obwohl die menschlichen Dramen und Leiden der postideologischen bzw. postachtundsechziger Ära keinesfalls mit jenen der unmittelbaren Nachkriegszeit zu vergleichen sind, lässt sich also, damals wie heute, ein ähnliches Gefühl der Heimatlosigkeit feststellen. Ein Unterschied könnte allerdings darin liegen, dass heute anders als 1945 die Perspektive eines Wiederaufbaus, d. h. eines sinnstiftenden Gesellschaftsprojekts, fehlt. Insofern kann die Frage der Heimkehr heutzutage mitunter unheimlicher wirken als nach der sogenannten ‚Stunde null‘ – insofern nämlich, als der Begriff der ‚Heimat‘ leer geworden und nicht mehr verortbar zu sein scheint. Ich unterscheide im Folgenden zwischen zwei Modellierungs-Strategien von Heimkehr, nämlich zwischen ‚regressiven‘ (zum Teil mythisierenden oder remythisierenden) und ‚progressiven‘ (entmythisierenden) Erzählungen. Eine Heimkehr ist im ersten Fall nur möglich bzw. sie glückt nur um den mehr oder weniger bewusst hingenommenen Preis der Regression oder ‚Reversion‘ in die Kindheit. Im zweiten Fall erweist sich eine Heimkehr im eigentlichen Sinn als unmöglich. Entscheidend ist dabei das unterschiedliche Verständnis von Zeit, denn das (nostalgische) Heimat-Gefühl ist eng mit der Zeitlichkeit verknüpft. Damit komme ich zu meiner zweiten Annahme, bei der ich mich von dem französischen Philosophen Vladimir Jankélévitch leiten lasse. Für Jankélévitch ist Nostalgie in der Erkenntnis begründet, dass Zeitlichkeit per se irreversibel und jegliche Heimkehr mithin unmöglich ist. Nicht nur Orte, Gegenstände und Menschen, die womöglich nicht mehr leben, gehören zu diesem Irreversiblen – das Subjekt selbst, das mit diesem Weltausschnitt verwoben war, ist im eigentlichen Sinne nicht mehr da: Es ist genauso unwiederbringlich vergangen wie alles andere. Daher die Nostalgie: Man leidet nicht daran, dass man etwas besessen hat (ein Haus, eine Familie oder Erinnerungen), sondern daran, dass man etwas gewesen ist, das man nicht mehr ist.9 Diese Ganzheit von individuellem Dasein nen ihre Gegenwart mit dem Gefühl, sich darin nicht einrichten zu können, weil ihre Welt, wenn sie denn jemals existiert hat, nicht diese Welt war und nicht so aussah.“] 9

Jankélévitch, Vladimir: L’irréversible et la nostalgie, Paris 2011, S. 357: „L’objet de la nostalgie n’est pas tel ou tel passé, mais c’est bien plutôt le fait du passé, autrement dit la passéité“; S. 370: „L’exilé voudrait retrouver non seulement le lieu natal, mais le jeune homme qu’il était lui-même autrefois quand il l’habitait.“ [„Der Gegenstand der Nostalgie ist nicht diese oder jene Vergangenheit, sondern vielmehr die Tatsache

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und Weltverhältnissen ist für immer verloren. Sie kann nur als Phantom zurückkehren, als rätselhafte Präsenz, die zwar ‚da‘ ist, die sich aber nicht verorten lässt. Auch wenn man meint, zurückzukehren, kehrt man nicht zurück, denn man ist ein anderer. Die Verabredung mit einem in der Vergangenheit liegenden Selbst wird man zwangsläufig immer verpassen.10 Wie tief muss Odysseus enttäuscht gewesen sein, als er endlich „die geheiligten Ufer“11 (Ugo Foscolo) seiner Heimatinsel wieder betrat. Denn nicht nur Penelope und Ithaka – er selbst war nicht mehr derjenige, der er gewesen war. François Hartog deutet das Weinen des Odysseus im VIII. Gesang der Odyssee in ähnlicher Weise.12 Als er am Hofe des Alkinoos dem Gesang des Demodocus lauscht, der die Geschichte von der Eroberung Trojas erzählt, weint der griechische Held: Er weint aber nicht, weil er seine Gefährten verloren hat, sondern weil er versteht, dass im Gedicht von einem Odysseus die Rede ist, der er nicht mehr ist, den es längst nicht mehr gibt. Diese Erkenntnis prägt die literarische Darstellung von Heimat. Je nachdem, ob diese Erkenntnis negiert bzw. verdrängt, oder aber nachvollzogen wird, kann man von ‚regressiven‘ oder von ‚progressiven‘ Heimat-Poetiken sprechen. Nicht zufällig sind Geschichten der Heimatsuche oder der Heimkehr oftmals mit einer ‚Archäologie der Kindheit‘ verbunden. Angesichts der Verlusterfahrungen, die ein Heimat-Gefühl erst ins Bewusstsein treten lassen, und angesichts des ‚Irreversiblen‘ der Zeit stellt sich unweigerlich die Frage nach dem Umgang mit der Zeitlichkeit von Heimat. Lässt sie sich reduzieren oder gar aufheben, oder gelingt es, sich ihr zu stellen und mithin die Uneinholbarkeit der Heimat nachzuvollziehen? Was bedeutet das konkret für die literarische und filmische Darstellung? Die Autorinnen und Autoren, um die es hier geht, haben sich diesen Fragen in unterschiedlicher Weise gestellt. Sie stammen alle aus jener „heimatlosen

der Vergangenheit, oder anders gesagt das Vergangensein“; „Der Exilierte möchte nicht nur seinen Geburtsort wiederfinden, sondern den jungen Mann, der er selbst zu jener Zeit war, als er dort lebte.“] 10 Ebd., S. 371. 11 Foscolo, Ugo: A Zacinto, V. 1: „Né mai più toccherò le sacre sponde“ [„Nie wieder werd’ ich die heiligen Ufer berühren“], In: Ders.: Le poesie. Introduzione, note e commenti di Marcello Turchi, Mailand 1974, S. 35. 12 Hartog, François: Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003, S. 53-65.

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Generation“, die Martin Hecht umrissen hat: der älteste (Norbert Scheuer) ist 1951, der jüngste (Fatih Akin) ist 1973 geboren.13

1. ‚REGRESSIVE‘ BZW. ‚REVERSIVE‘ HEIMATERZÄHLUNGEN Nicht zufällig ist eine Mehrzahl der hier zu behandelnden Geschichten in zwei europäischen Regionen verortet, die eine starke kulturelle Identität aufweisen und die sich mithin für die Bündelung von Heimat-Diskursen in besonderem Maße eignen: das Ruhrgebiet und die Bretagne.14 Als prototypisch für die moderne bretonische Heimat-Literatur darf Xavier Grall (1930-1981) gelten. Grall konnte noch Anfang der 70er Jahren eine Rückkehr in die „Bretagne éternelle“ als möglich erachten und demonstrativ – als Gestus der Abgrenzung von Paris und vom jakobinischen und kolonialistischen Frankreich15 – antreten. Seine Heimkehr bedeutet also gleichzeitig eine Absage an die Pariser Salons bzw. an das Quartier Latin und an die großen französischen Gründungsmythen (die Heilige Johanna, den Mythos von der Heimat der Menschenrechte). Grall fährt demnach zurück „ans Meer“16, nicht jedoch primär, um nach der Vergangenheit zu suchen, sondern vielmehr um ein neues Leben zu entwerfen. Aber das väterliche Haus erweist sich als unwirtlich, die Nebengebäude der Gerberei sind abgerissen worden. So besinnt sich Grall auf die Heimat der Mutter, das Bauerndorf Le Bréou bei Morlaix, im Finistère: Grall kehrt auf diese Weise „zu den Ursprüngen zurück“.17 Vor diesem Hintergrund kann man den Film Suite armoricaine (2015) der bretonischen Regisseurin Pascale Breton als eine Antwort auf Gralls kompro13 Erst nachdem ich meine Korpusauswahl getroffen hatte stellte ich fest, dass die chronologischen Eckdaten mit Martin Hechts Periodisierung übereinstimmten. 14 Die Bretagne gehört zu den Sehnsuchtsorten, die auch für Nicht-Bretonen heimatliche Anverwandlungsangebote bereitstellen. Die Bretagne fungiert dann als Wahl- bzw. als ‚wahre‘ Heimat. So hat sich Georges Perros (eigentlich Georges Poulot) eine bretonische Identität erdichtet bzw. anverwandelt und ist schließlich in diese Heimat ‚heimgekehrt‘ (vgl. die Gedichte der Poèmes bleus, Paris 1962). 15 Frankreich hatte in den 1950er- und 1960er-Jahren zwei Kolonialkriege geführt: in Vietnam (Indochine) und in Algerien. 16 Grall, Xavier: Das geschundene Haus, In: Bender, Niklas (Hrsg.): Bretagne: eine literarische Einladung, Berlin 2017, S. 15-21, hier S. 17. 17 Ebd., S. 19.

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missloses Bekenntnis zur Bretagne lesen. Die Hauptfigur, die Kunsthistorikerin Françoise, ist ebenfalls Bretonin (sie stammt aus dem Finistère). Nachdem sie lange Zeit in Paris gelehrt hat, bewirbt sie sich erfolgreich auf eine Stelle an einer bretonischen Universität (Rennes 2), nicht zuletzt, um den Weg zurück in die Heimat – in das paradiesische, sagenumwobene Land ihrer Kindheit – zu finden. Nicht von ungefähr hält sie ihre erste Vorlesung über die ikonographische Darstellung von Arkadien, ausgehend von Nicolas Poussins berühmtem Gemälde Et in Arcadia ego.18 An der Universität Rennes 2 wird Françoise von Studenten des Département de Breton-Celtique angesprochen, die sich im Rahmen ihrer Forschungen zur bretonischen Sprache für Françoises Träume und ihre Erinnerungen an ihren Großvater, der ein Heiler war, interessieren.19 Françoise begibt sich tastend auf die Reise in die eigenen Kindheitserinnerungen. Der Film endet mit ihrer Rückkehr auf das Gehöft des Großvaters im nördlichen Finistère (bei Trégarvan, am Fluss Aulne). Françoise, die vom Sohn einer ehemaligen Freundin begleitet wird, findet ihre verlorengegangenen Erinnerungen wieder. Es erscheinen ihr die Phantome des Großvaters und der eigenen Mutter – und das Phantom ihrer selbst als Kind, mithin als ein Anderes. Nun kann sie Frieden mit ihrer Kindheit schließen. Sie kehrt zwar nicht ins Finistère zurück, aber auch nicht nach Paris, sondern sie bleibt in Rennes, in der Bretagne. Die Heimkehr gelingt also, sie bedingt aber nicht eine gänzliche ‚Reversion‘ in die ‚Zeit-Heimat‘, sondern die Herausbildung einer reflektierten und zeitbewussten Relation zur Heimat. In Frank Goosens Roman Sommerfest (2012),20 der 2017 von Sönke Wortmann verfilmt worden ist, kehrt der Bochumer Schauspieler Stefan, Anfang fünfzig und in München ansässig, in die Heimat zurück, um das elterliche Haus zu verkaufen, nachdem der Onkel (im Film: der Vater), der zuletzt darin gewohnt hatte, plötzlich verstorben ist. Anders als Françoise, kehrt Stefan nach zehnjähriger Abwesenheit widerwillig heim, obwohl er sich nach wie vor nach der „Omma“ sehnt. Er sträubt sich dagegen, in den Strudel der Vergangenheit, der ihn gleich gefangen nimmt, einzutauchen. Heimat ist ein Knoten, den er beharrlich versucht hat zu lösen. Offenbar ohne Erfolg. Denn gleich am ersten Tag, nach dem frühmorgendlichen Besuch bei der „Omma“, wird er von Thorsten „Toto“ Starek zunächst auf eine Tour nach Dortmund mitgenommen, um einen 18 In der zweiten berühmteren Fassung von 1639, der sogenannten „Louvre-Fassung“. 19 Die Universität Rennes 2 hat einen Fachbereich für Bretonisch; bezüglich des Nexus zwischen bretonischer Identität und bretonischer Sprache vgl. Ozouf, Mona: Composition française. Retour sur une enfance bretonne, Paris 2009, S. 68-70 und passim. 20 Goosen, Frank: Sommerfest, Köln 2012. Frank Goosen ist 1966 geboren.

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riesigen Schrank in einen Bochumer Schrebergarten zu transportieren. Dort trifft Stefan den Kleingauner „Diggo“ wieder, der despotisch über eine bunt zusammengewürfelte skurrile Truppe regiert, bevor er schließlich zu einem Fußballspiel der heimatlichen Fußballvereinigung geht. Regionalismen wie „Klümpchen“, „Dutt“ oder „drinne“ (lauter ‚Heimat-Wörter‘),21 markige Sprüche wie „in München lebt man nicht, […] da wohnt man nur“,22 ferner die Kulisse der Fördertürme und der stillgelegten Zechen stecken einen Raum ab, in dem Stefan sich zwar immer wieder fremd fühlt,23 den er jedoch nahezu zwangsweise als anheimelnd wahrnimmt. Stefan wird mit seinem anderen Selbst – dem Selbst, das zur Heimat gehört – konfrontiert, das fortan stets ‚neben ihm her läuft‘. Für die anderen ist dies der ‚wahre‘ Stefan. „Woanders weiß er selber, wer er ist, hier wissen es die anderen. Das ist Heimat.“24 Die Begegnung mit der Jugendliebe Charlotte, genannt „Charlie“, fungiert als Kristallisations- und Krisenmoment. Charlie schlägt Stefan vor, mit ihr die elterliche Kneipe wieder aufzumachen und darin auch eine Art Kabarett einzurichten. Die sich rasch wieder anbahnende Idylle wird durch Charlies „Geständnis“, sie habe in der Zwischenzeit einen Sohn bekommen, empfindlich gestört. Als er am Sonntagabend im Zug nach München sitzt und im Begriff ist, „dieses ganze Heimatgedöns“, die Vergangenheit und den Erinnerungskult hinter sich zu lassen,25 springt Stefan in letzter Minute aus dem abfahrenden Zug und bleibt in Bochum – bei Charlie. Der Kreis schließt sich – scheinbar nahtlos, trotz der noch bestehenden Verstimmung zwischen den beiden alten/neuen Liebenden. In der Eile hat Stefan seine Tasche samt Schlüssel des elterlichen Hauses im Zug zurückgelassen. Ob dies als ein Zeichen dafür gewertet werden soll, dass der Kreis doch nicht ganz geschlossen werden kann, bleibt offen. Der Roman endet mit einigen wirren, zum Teil metaliterarischen Nachtgedanken Stefans:26 Im Halbschlaf meint er, die Stimme seiner Großmutter zu vernehmen, die ihm den Auftrag gibt, die „Story“ aufzuschreiben.27 21 Ebd., S. 172. 22 Ebd., S. 124. 23 Ebd., S. 189 passim. 24 Ebd., S. 190. 25 Ebd., S. 256. 26 Vgl. dazu Nies, Martin: „A Place to belong“. Heimatsuchen und narrative Konzeptionen von Heimat im Globalisierungskontext, In: Bauer, Jenny u.a. (Hrsg.): Heimat Räume Bilder. Komparatistische Perspektiven auf Herkunftsnarrative, Berlin 2014, S. 165-180, hier S. 175-176. 27 Goosen, Sommerfest, S. 317.

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Die ‚Reversion‘ kann sich auch Generationenübergreifend vollziehen. In Fatih Akins drittem Spielfilm Solino (2001/2002) (Drehbuch: Ruth Toma) 28 kehrt die Hauptfigur Gigi Amato gemeinsam mit der kranken Mutter Rosa in das (fiktive) süditalienische Heimatdorf Solino zurück und kehrt somit seiner Wahlheimat Duisburg endgültig den Rücken. Gigi muss dabei seinen Lebenstraum, Filmregisseur zu werden, aufgeben, findet aber einen neuen Lebensinhalt im Wiederaufbau der dörflichen Cinemathek. Er findet auch ein neues Liebesglück in der Person von Ada, nachdem sein eigener Bruder Giancarlo ihm in Duisburg die Jugendliebe Jo ausgespannt hatte. Die romantische Verklärung einer süditalienischen Dorfgemeinschaft am Meer und die schlussendliche Versöhnung der beiden Brüder nach der Vorführung eines Kurzfilms Gigis im dörflichen OpenAir-Kino markieren die Utopie einer geglückten Heimkehr in die UrsprungsHeimat. In Dörte Hansens Altes Land (2015)29 zieht die alleinerziehende Anne aufs Land auf den Bauernhof ihrer Tante Vera (der Halbschwester ihrer Mutter). Anne hat ihren untreuen Lebensgefährten und die gemeinsame Wohnung verlassen. Sie befindet sich zudem im Zwist mit Mutter und Vater und fühlt sich mithin auf multiple Weise heimatlos.30 Obwohl musikalisch begabt, hat sie eine Schreinerlehre absolviert, was ihr nun zugutekommt, denn Veras Bauernhof benötigt viel Pflege und nicht zuletzt neue Fenster. Anne richtet sich dort ein und knüpft somit an den Faden der Generationen wieder an, denn ihre Mutter Marlene hat sich von ihrer Halbschwester Vera entfremdet, die Marlene vieles vom Leben ihrer gemeinsamen Mutter Hildegard von Kamcke vorenthalten hat. Diese war 1945 nach einer dramatischen Flucht aus Ostpreußen auf dem Bauernhof gestrandet, aber im „alten Land“ nie richtig heimisch geworden. Erst die dritte Generation schlägt also (freilich zaghaft und mühevoll) Wurzeln – zwar nicht in der ursprünglichen, aber immerhin in der neuen Heimat. Anders als Morten Freidel, der Dörte Hansen vorhält, die Sehnsucht nach dem Landleben nur zum Schein kritisiert und vielmehr die romantische Verklärung des „alten Landes“ durch die Hintertür wieder eingeführt zu haben,31 halte ich Altes Land für einen durchaus geglückten Versuch, die Heimatsuche als generationellen Restaurationsprozess darzustellen. Anders als in Solino, gestaltet 28 Ruth Toma ist Jahrgang 1956, sie gehört also ebenfalls zu Hechts „heimatloser Generation“. 29 Hansen, Dörte: Altes Land, München, 2015; Dörte Hansen ist Jahrgang 1964. 30 Ebd., S. 80. 31 Freidel, Morten: Dit Huus is mien und doch nich mien, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.08.2015; http://www.faz.net/-gr0-86xim (13.09.2018).

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sich hier die Heimkehr als eine ‚Kompromisslösung‘ zwischen der radikalen Entwurzelung der ersten Generation (der Großmutter Hildegard) und der Heimatsehnsucht der dritten Generation. Das „alte Land“ ist im Grunde eine konstruierte, von den Hauptfiguren erzwungene und bis zuletzt prekäre Heimat. Weder Vera noch Anne können sich sicher sein, von diesem Landstrich und seinen Menschen gänzlich angenommen zu werden. Irgendwann wird Anne bewusst, dass die Sprödigkeit der Menschen damit zusammenhängt, dass sie über Generationen ihr Land im eigentlichen Sinne „gemacht“, d. h. dem Fluss abgetrotzt haben.32 Vor diesem Hintergrund haben es die Nachzügler schwer, hier heimisch zu werden: „Man kannte seinen Platz und seinen Rang in dieser Landschaft, es ging immer nach dem Alter: Erst kam der Fluss, dann kam das Land, dann kamen Backsteine und Eichenbalken und dann die Menschen mit den alten Namen, denen das Land gehörte und die alten Häuser. Alles, was dann noch kam, die Ausgebombten, Weggejagten, Großstadtmüden, die Landlosen und Heimatsucher, waren nur Flugsand und angespülter Schaum. Fahrendes Volk, das auf den Wegen bleiben musste. […] Anne fragte sich, wie lange man hierbleiben musste, um nicht mehr fremd zu sein. Ein Leben war wohl nicht genug.“ 33

Am Ende ist immerhin das renovierte Bauernhaus befriedet, von seinen Gespenstern befreit: „Das Haus stand still.“34

2. ‚PROGRESSIVE‘ HEIMAT-ERZÄHLUNGEN Die Texte, die ich als „progressiv“ bezeichne, sind dezidiert dysphorisch und mithin desillusionierend. Die Heimatsuche wird darin zwar nicht vollends ‚dekonstruiert‘ und zerstört, wie dies in vielen literarischen Werken der Nach-

32 Hansen, Altes Land, S. 169: „Sie fragte sich, wie man so wurde. Ob es die Landschaft war, die das mit ihnen machte, die Bäume, die Elbe. Ob es daran liegen konnte, dass die Väter ihrer Väter einen Fluss bezwungen hatten, ihn in die Schranken verwiesen, in Deiche gelegt, ihre Gräben und Kanäle in sein weiches Vorland getrieben. Dass sie das Land, auf dem sie lebten, nicht einfach vorgefunden hatten, sie hatten es gemacht.“ 33 Ebd., S. 169-170. 34 Ebd., S. 287.

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kriegszeit, vor allem in Österreich, der Fall gewesen ist. 35 Sie wird aber in Frage gestellt und auf diese Weise bewältigt. Die französische Historikerin Mona Ozouf – eine ausgewiesene Spezialistin der französischen Revolution – hat in ihrer eindrücklichen Autobiographie Composition française (2009)36 gezeigt, wie der jakobinische ‚Monismus‘ der französischen Republik jedes partikulare Heimatgefühl und die verschiedenen Regionalsprachen, nicht zuletzt das Bretonische, gnadenlos bekämpft und letztlich getilgt hat: „La couleur, la mémoire et l’esprit des lieux, nul ne songeait plus à les invoquer.“37 Die territoriale Neuordnung in Départements (September 1791) – „circonscription[s] dépourvue[s] d’une identité particulière, simple[s] fraction[s] de l’espace national“ – verfolgte das Ziel, die alten regionalen Identitäten auszumerzen. Dieses republikanische Dogma besteht bis heute, wie dies durch die wiederkehrende Debatte um den sogenannten „communautarisme“ bezeugt wird – ein Schlagwort für ethnische und religiöse Partikularismen, unter dem man nach wie vor auch die regionalen Identitäten subsumiert. In den Augen der jakobinischen Republikaner ist die Verbundenheit zu einer Sprache, zu Traditionen, zu einer Landschaft – d. h. die Heimatliebe – nichts anderes als eine Form von Unfreiheit und Hörigkeit: „Pareille conception […] tient que toutes les attaches sont des chaînes : la fidélité aux êtres qu’on aime, la pratique d’une langue, l’entretien d’une mémoire, le goût pour les couleurs d’un paysage familier ou la forme d’une ville, autant de servitudes.“ 38

Mona Ozouf, deren Vater übrigens ein prominenter Fürsprecher des bretonischen Separatismus war, plädiert für das, was sie „identités croisées“ nennt, also im Grunde für die Artikulation von Loyalität dem Zentralstaat und der Nation

35 Vgl. dazu Höfer, Adolf: Heimat und Heimatverlust in deutschen Romanen vor und nach der Jahrtausendwende, In: Eigler, Friederike u. a. (Hrsg.): Post/Nationale Vorstellungen von „Heimat“ in deutschen, europäischen und globalen Kontexten, Frankfurt a. M. u. a. 2012, S. 87-91, hier S. 87 f. 36 Ozouf, Composition française, a.a.O. 37 Ebd., S. 185 [„Keiner mehr dachte im Träume daran, die Farbe, das Gedächtnis und den Geist der Orte anzurufen“]. 38 Ebd., S. 241 [„Eine solche Anschauung geht davon aus, dass alle Bindungen wie Ketten sind: die Treue gegenüber den Wesen, die man liebt; der Gebrauch einer Sprache; die Pflege eines Gedächtnisses; die Vorliebe für die Farben einer vertrauten Landschaft oder für die Form einer Stadt: lauter Knechtschaften“].

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gegenüber und Liebe zur „Heimat“, zum „pays“. 39 Ob dies möglich ist, lässt sie offen. Auf die Bretagne ihrer Kindheit richtet sie einen historischen Blick, wie auf eine Welt, die endgültig der Vergangenheit und der Geschichte angehört. Anders als für Grall oder Françoise (die Hauptfigur von Pascale Bretons Suite armoricaine) ist eine Heimkehr für Mona Ozouf nicht denkbar. In Überm Rauschen (2009)40 erzählt Norbert Scheuer (Jahrgang 1951), ähnlich wie Frank Goosen, von einer zwangsweisen Heimkehr oder Heimholung – anders als Goosen in personeller, autodiegetischer Erzählweise. Der Erzähler muss in das heimatliche Dorf in der Eifel zurück, weil sich der Bruder im eigenen Zimmer (im elterlichen, nunmehr von diesem und dessen Frau geführten Gasthaus) eingeschlossen und offenbar den Verstand verloren hat. Der Erzähler wird somit gegen seinen Willen mit der eigenen Heimat und der eigenen Vergangenheit – mit der Heimat als Vergangenheit – konfrontiert. Diese Vergangenheit ist gleichbedeutend mit der unglücklichen Kindheit, geprägt vom Gasthaus am Wehr (dem „Rauschen“) und vom turbulenten Liebesleben der Mutter, die nach dem tragischen Tod ihrer Jugendliebe keine feste Beziehung mehr einzugehen in der Lage ist. Ihre zwei Söhne zeugt sie mit zwei verschiedenen und nicht näher identifizierten Männern, schließlich heiratet sie einen Mann, der sich bald in den Suff und in das Fliegenfischen zurückzieht. Der Erzähler muss konstatieren, dass „alles geblieben [war], wie es immer war.“41 Die Zeit, oder besser gesagt, die Zeit der Heimat – die für die Heimat spezifische Zeitlichkeit – vergeht nur scheinbar. In Wahrheit sammelt sie sich „in einem großen See verlorener Zeit“: „Alles war geblieben, wie es immer war, nichts hatte sich verändert, die Zeit verging, der Fluss strömte an unserem Haus vorbei zum Rauschen, wo das Wasser unaufhörlich hinunterstürzte, in einen großen See verlorener Zeit.“42

Ein Onkel des Erzählers, ein gewisser Jakob, soll nach seiner Rückkehr aus der russischen Gefangenschaft obsessiv seine Heimat gemalt haben, allerdings nicht, wie sie in Wirklichkeit war, sondern „so, wie er sie sehen wollte.“ 43 Heimat aber ist nicht darstellbar, nicht erzählbar: „Der Fluss ist eine Matrize, auf der sich al39 Ebd., S. 223. 40 Scheuer, Norbert: Überm Rauschen, München 2009. 41 Ebd., S. 53. 42 Ebd.; Am Ende des Romans heißt es: „Alles, was je gewesen ist, treibt jetzt mit uns auf dem Fluss zum Rauschen hinunter“, ebd., S. 166. 43 Ebd., S. 74-75.

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les unentzifferbar einritzt“.44 Der „alte Fisch ICHTYS“, der genauso alt wie der Fluss sein soll und den der Stiefvater über lange Jahre erfolglos gejagt hatte, wird zur Chiffre dieser unerreichbaren Wirklichkeit bzw. Zeitlichkeit, die auch unerreichbar bleiben muss. Hermann, der Bruder des Erzählers, hat den Fisch wohl einmal gefangen, dann aber bezeichnenderweise wieder freigelassen. Hinter dem schlichten Titel Heimat, eine Suche (2014)45 von Thomas Medicus (*1953) verbirgt sich eine packende archäologische Spurensuche, die den Autor in immer tiefere Schichten der Geschichte des eigenen Heimatorts Gunzenhausen (Franken) und mithin in verschüttete oder verschwiegene Bereiche der eigenen Familiengeschichte eindringen lässt. Zwei literarische Werke bzw. zwei Autoren fungieren dabei als ‚Sesam-öffne-dich‘: zuerst W. G. Sebald mit Die Ausgewanderten, bei deren Lektüre Medicus erstmals vom Pogrom des Palmsonntags 1934 erfährt,46 bei dem zwei jüdische Bürger Gunzenhausens unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen waren; 47 ferner J. D. Salinger, der legendäre US-amerikanische Autor des Catcher in the Rye, der während der ersten Monate nach Kriegsende in Gunzenhausen als ‚Special Investigator‘, mit der Aufgabe, Nazi-Verbrecher und Kollaborateure aufzuspüren, tätig gewesen ist.48 Salinger hatte zudem unweit von Gunzenhausen, in Pappenhausen, eine Deutsche geheiratet (seine erste Frau Sylvia). Salinger und Sebald repräsentieren die heuristische, ja kriminalistische Valenz von Literatur – die Fähigkeit, Verstecktes und Verschlüsseltes, Geleugnetes zu Tage zu fördern. Vor allem Salinger – auf dessen Spuren Medicus in die USA reist – wird zur ‚Leitfigur‘: „[…] ohne ihn, diesen vielfach gebrochenen Helden, hätte ich es nie gewagt, mich in das Labyrinth zu begeben, das mich immer noch heimsuchte.“49

Der Autor wusste nicht, dass er jahrelang „ahnungslos über einen doppelten Boden“ gegangen war.50 Die progressive Aufdeckung dieser verschütteten und verdrängten Geschichte bedingt eine radikale Veränderung des Blicks auf die Hei44 Ebd., S. 83. 45 Medicus, Thomas: Heimat: eine Suche, Berlin 2014. 46 Vgl. Sebald, W.G.: Paul Bereyter, In: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, Frankfurt a. M. 1994, S. 39-93, hier S. 79-81. 47 Medicus, Heimat: eine Suche, a.a.O., S. 38-39. 48 Ebd., S. 83 passim. 49 Ebd., S. 174. 50 Ebd., S. 82.

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mat – eine auf lange Sicht heilsame Entfremdung von der Heimat und ihrer Zeit. Medicus entdeckt nach und nach das Ausmaß der antisemitischen Ausschreitungen, das tragische Schicksal der jüdischen Mitbürger Gunzenhausens, und die Rolle, die sein eigener Großvater, der damalige Gerichtsmediziner, bei der im Keim erstickten Aufklärung der zwei Todesfälle am Palmsonntag 1934 gespielt hatte (bei einem der beiden handelte es sich offensichtlich um einen Lynchmord). Medicus lernt nicht nur die Geschichte des eigenen Dorfs kennen, sondern er eignet sich im gleichen Zuge, dank Salinger, auch einen anderen Umgang mit seiner Heimat an – mit Heimat schlechthin. Einen Umgang, der durch Objektivierung, Distanzierung und Bewältigung gekennzeichnet ist. Dies exemplifiziert Medicus anhand der Wahrnehmung der heimatlichen Landschaft. In den Jahren zuvor, bei seltenen Besuchen in der Heimatstadt, hatte er mit Befremden wahrgenommen, dass sich die Landschaft des Altmühltals verändert hatte: „Dass die aktuelle Topographie nicht mehr mit der Landschaft meiner Kindheitserinnerungen übereinstimmte, hatte ich als unmöglich empfunden.“ 51

Erst nach der Aufdeckung der Vorfälle von 1934 werden dem Autor die Gründe seines Unbehagens bewusst: „Wer an die Orte seiner Kindheit zurückkehrt, verfällt wahrscheinlich immer der Illusion, die Zeit habe während der eigenen Abwesenheit stillgestanden, und ist dann erschüttert, dass sie genauso vergangen ist wie überall anderswo und auch nichts von Bestand ist. Zufrieden war ich immer dann, wenn ich kleine Inseln einer idyllischen Vergangenheit so vorfand, wie ich sie in Erinnerung behalten hatte. […] Erst nachdem ich aus Cornish [dem langjährigen Wohnsitz Salingers, E. C.] zurückgekehrt war, wurde mir bewusst, was ich längst hätte wissen können, aber hartnäckig zu ignorieren versucht hatte, indem ich meine Besuche in G. immer dann von einer Sekunde auf die andere abbrach, wenn sich die Idylle nicht einstellen wollte. Für manche mag das Wiederfinden verlorener Zeiten Glück bedeuten, für die meisten aber trifft das noch nicht einmal dann zu, wenn diese Zeiten auch tatsächlich glücklich waren. Etwas wiederzufinden, wie es war, oder wie die Erinnerung meint, dass es gewesen sei, bedeutet meist weniger Glück als Entsetzen […].“ 52

51 Ebd., S. 91. 52 Ebd., S. 178.

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Gunzenhausen bleibt für den Autor, ob er es will oder nicht, seine „Zeitheimat“.53 Nur durch die archäologische Arbeit, die sich im Buch vollzieht, wird sie – wie es am Ende heißt – „gebannt“. Nicht zuletzt dank der Recherchen von Thomas Medicus knüpft eine der vertriebenen und verfolgten jüdischen Familien Gunzenhausens, die Dottheimer bzw. Dottheim, wieder das Band mit der Stadt. Medicus lernt eine Nachfahrin der Dottheimer, Faye Dottheim, kennen, die genauso alt ist wie er, und die in den USA geboren worden ist. Eines Tages treffen sie sich in Gunzenhausen, und nachdem Faye wieder abgereist ist, kann der Autor erstmals wieder eine euphorische Begegnung mit der Heimat erleben, die gleichzeitig deren endgültige Bewältigung markiert: „Die Zeit schien stillzustehen. Heimat, das war ein Atemzug an einem Sommerabend, eine Fahrt durch ein Flusstal, ein Blick auf einen Höhenzug, halluzinierte Bilder einer mythischen Zeit, in der man jung war und für immer jung bleiben würde. Diese abendliche Autofahrt war ein Rausch, ein Trip und das Ende eines heimlichen Heimwehs nach einer Heimat, deren Unheimlichkeit gebannt war. Es war ein Ende, aber auch ein Anfang.“ 54

Auch Jörn Klare (*1965) macht auf seiner Wanderung von Berlin nach Hohenlimburg bei Dortmund die schmerzliche aber heilsame Erfahrung der Entfremdung von der eigenen Heimat oder Ursprungs-Heimat.55 Auf der Wanderung kann er einerseits die emphatische Aufladung und Idealisierung des HeimatBegriffs in Deutschland seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts nachvollziehen.56 Andererseits und vor allem wird ihm bei zahlreichen Gesprächen auf dem Weg deutlich, wie unterschiedlich, aber auch wie eng Heimat gefasst werden kann. Das eigene Bedürfnis nach einer kleineren, überschaubaren Heimat 57 will Klare also relativieren und überwinden. Vor allem muss er wie Medicus erkennen und nachvollziehen, dass die Heimat nicht nur an einem anderen Ort, sondern vor allem in einer anderen Zeit angesiedelt ist:

53 Ebd., S. 268. 54 Ebd., S. 273-274. 55 Klare, Jörn: Nach Hause gehen. Eine Heimatsuche, Berlin 2016. 56 Klare deutet sie als Folge der Umgestaltung des alten Reichs, die zum Verschwinden von 260 „Vaterländern“ führte, vgl. ebd., S. 68. 57 Ebd., S. 100-101: das „große Gefühl“, dass die Welt „in ihrem großen Ganzen durchaus auch Heimat ist“ hätte er nun „gern kleiner“.

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„Der Weg durch die amazonisierte Fußgängerzone meiner Heimatstadt wird zu einem mentalen Spießrutenlauf. Jeder aufgegebene Laden schlägt mir aufs Gemüt.“58 „Was hatte ich mir vorgestellt? Der verlorene Sohn kommt heim, die Blaskapelle spielt? Ja, irgendwie so was. Das ist der Ort meiner Kindheit und Jugend, doch deren Zeit ist längst vergangen. Hatte ich mich vor allem danach gesehnt? War mein Heimweh vor allem ein Zeitweh?“59

So gerät der Autor immer wieder „zwischen die Zeiten“60 und muss erkennen, dass mit der Kindheit und Jugend auch die Heimat uneinholbar verloren ist. Heimat ist für Klare zwangsläufig Zeit-Heimat und somit auf irreversible Art und Weise vergangen: „Doch in meine Kindheit oder Jugend komme ich nicht zurück, ob ich nun sechshundert, sechstausend oder noch mehr Kilometer gehe. Das Leben fließt vorbei, wie die Lenne hinter diesen Häusern. Die mündet in die Ruhr, diese in den Rhein und der dann in die Nordsee. Demnach hat sich das Damals meiner schönen Jahre hier längst schon im Atlantik aufgelöst.“61

Klares Erfahrung ließe sich in der Begrifflichkeit von Vladimir Jankélévitch als „nostalgisch“ definieren. Man fühlt den Verlust dessen, was man selbst zu einem Zeitpunkt war – den Verlust eines bestimmten aber nicht genau situierbaren Seins-Zustandes: „Wieder ist mir alles vertraut und zugleich fremd. Der Weg ist derselbe, wie vor dreißig Jahren, doch ich bin es nicht.“62

Die progressive Erkenntnis einer Ent-Eignung des Eigenen stellt Jörn Klare auf geschickte Art und Weise dar, indem er die schrittweise Annäherung an Hohenlimburg ausgehend von der vorletzten Etappe Altena mit dem Bericht der Wanderung ineinander verschachtelt. Im Ergebnis scheint er die Position seines Jugendfreundes Frank Schmidt genannt „Zico“ für sich in Anspruch zu nehmen. Für Zico bedeutet Heimat, „dass man sich um seine Umgebung und die Men58 Ebd., S. 123. 59 Ebd., S. 131. 60 Ebd., S. 164: „Ich stehe zwischen den Zeiten“. 61 Ebd., S. 173. 62 Ebd., S. 223.

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schen darin kümmert.“63 Heimat – so das Ergebnis der Suche – ist also ein Weltausschnitt, für den man Sorge tragen, und den man demzufolge auch gestalten muss. Heimat kann so im eigentlichen Sinne „gemacht“ werden.64 Klare beschreibt einen älteren Mann, der im Lennepark spazieren geht und den Unrat, den er auf seinem Weg findet, entsorgt: „Mühsam drückt der alte Mann die Knie durch, kommt hoch, wirft den Müll in einen Eimer, läuft weiter, entdeckt neuen Unrat, geht wieder in die Knie, und ich denke, dass es darum geht, Verantwortung zu übernehmen für das, was Heimat sein soll. Sie ist, was wir gestalten, nicht, was uns geschieht. Schon allein deswegen ist sie politisch: ein Raum, der von denen bestimmt wird, die ihn ihm leben.“65

In den Geschichten von der Heimkehr wird die Suche nach der Heimat entweder als ein fragwürdiges oder gar als ein unmögliches Unterfangen inszeniert: ein fragwürdiges und unmögliches, aber letztlich notwendiges Unterfangen mit dem Ziel, die ursprüngliche „Zeit-Heimat“ zu bewältigen, ein neues HeimatVerständnis zu begründen und mit Sinn zu füllen. Wenn man Heimat sucht, dann um sie zu bannen in ihrer Zeit, und um sie auf diese Weise endgültig zu überwinden. Vielleicht sind die Unterschiede zwischen den beiden Erzähl-Modi, die ich kontrastiert habe, letztlich nicht so groß. In Pascale Bretons Suite armoricaine und in Dörte Hansens Altes Land wird die zeitliche Dimension von Heimat stets mit reflektiert. Sowohl in Akins Solino als auch in Goosens Sommerfest, vor allem in der Verfilmung des Romans, kann man Züge eines Märchens ausmachen. In Sönke Wortmanns Film bleibt der Zuschauer am Ende in der Ungewissheit, ob Stefan wirklich aus dem Zug gestiegen ist oder nicht, ob er sich seinen Lauf durch die Straßen Bochums nur vorstellt oder tatsächlich erlebt, und ob die ganze Geschichte nicht eine ironisch gebrochene, märchenhafte Erzählung ist. Man sieht, wie Stefan aus dem Bahnhof durch die menschenleeren Straßen rennt und sich allmählich in ein Kind zurückverwandelt, bis er sein Ziel (Charlies Kneipe) erreicht. Jeder weiß aber, dass man genauso wenig in die eigene Kindheit wie in die „Zeit-Heimat“ zurückkehren kann.

63 Ebd., S. 212. 64 Ebd., S. 202. 65 Ebd., S. 218.

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LITERATUR Agazzi, Elena/Schütz, Erhard (Hrsg.): Heimkehr: eine zentrale Kategorie der Nachkriegszeit. Geschichte, Literatur und Medien (= Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, 23), Berlin 2010. Foscolo, Ugo: Le poesie. Introduzione, note e commenti di Marcello Turchi, Mailand 1974. Freidel, Morten: Dit Huus is mien und doch nich mien, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.08.2015, http://www.faz.net/-gr0-86xim (13.09.2018). Goosen, Frank: Sommerfest, Köln 2012. Grall, Xavier: Das geschundene Haus, In: Bender, Niklas (Hrsg.): Bretagne: eine literarische Einladung, Berlin 2017, S. 15-21. Hansen, Dörte: Altes Land, München, 2015. Hartog, François: Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003. Hecht, Martin: Das Verschwinden von Heimat, Leipzig, 2000. Höfer, Adolf: Heimat und Heimatverlust in deutschen Romanen vor und nach der Jahrtausendwende, In: Eigler, Friederike u. a. (Hrsg.): Post/Nationale Vorstellungen von „Heimat“ in deutschen, europäischen und globalen Kontexten, Frankfurt a. M. u. a. 2012, S. 87-91. Jankélévitch, Vladimir: L’irréversible et la nostalgie [1974], Paris 2011. Klare, Jörn: Nach Hause gehen. Eine Heimatsuche, Berlin 2016. Medicus, Thomas: Heimat: eine Suche, Berlin 2014. Murgia, Michela: Futuro interiore, Turin, 2016. Nies, Martin: „A Place to belong“. Heimatsuchen und narrative Konzeptionen von Heimat im Globalisierungskontext, In: Bauer, Jenny u.a. (Hrsg.): Heimat Räume Bilder. Komparatistische Perspektiven auf Herkunftsnarrative, Berlin, 2014, S. 165-180. Ozouf, Mona: Composition française. Retour sur une enfance bretonne, Paris 2009. Sebald, W.G.: Paul Bereyter, In: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen [1992], Frankfurt a. M. 1994, S. 39-93. Scheuer, Norbert: Überm Rauschen, München 2009.

ZITIERTE FILME Solino, D. 2001/2002. Regie: Fatih Akin. Drehbuch: Ruth Toma. Darsteller: Barnaby Metschurat, Moritz Bleibtreu, Antonella Attili, Gigi Savoia, Tiziana

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Lodato, Patrycia Ziołkowska u.a. Produktion: Wüste Film West GmbH (Köln); Wüste Filmproduktion (Hamburg). Sommerfest, D. 2017. Regie: Sönke Wortmann. Drehbuch: Sönke Wortmann. Darsteller: Lucas Gregorowicz, Anna Bederke, Nicholas Bodeux, Peter Jordan, Sandra Borgmann, Markus John u.a. Produktion: X Filme Creative Pool GmbH (Berlin); Little Shark Entertainment GmbH (Köln). Suite armoricaine, F. 2015. Regie: Pascale Breton. Drehbuch: Pascale Breton. Darsteller: Valérie Dréville, Kaou Langoët, Elina Löwensöhn, Catherine Riaux u.a. Produktion: Zadig Films, Sylicone.

Autorinnen und Autoren

Jean-Christophe Bailly, geboren 1949 in Paris, Schriftsteller. Zwischen 1997 und 2015 war er Professor an der École Nationale supérieure de la Nature et du Paysage (Blois). Er ist Autor von zahlreichen Büchern, insbesondere von literarischen und philosophischen Essais. Sein vielbeachteter Bericht einer Reise durch Frankreich (Le dépaysement. Voyages en France, Paris 2011) ist 2017 auf Deutsch erschienen (Fremd gewordenes Land. Streifzüge durch Frankreich, Berlin 2017). Barbara Bushart studierte Rechtswissenschaften in Hamburg, Jena und Mailand. Nach dem ersten Staatsexamen war sie an den Lehrstühlen von Prof. Dr. Dr. Dr. Jerouschek und Prof. Dr. Pauly als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig und publizierte dort unter anderem zu Hannah Arendts Rechtstheorie. Peter Cachola Schmal ist seit 2006 geschäftsführender Direktor des Deutschen Architekturmuseums (DAM) in Frankfurt am Main. Der gelernte Architekt hat neben zahlreichen Publikationen und Juryteilnahmen zweimal Deutschland auf einer Architekturbiennale vertreten: 2007 in São Paulo und 2016 in Venedig. Zu vielen der von ihm verantworteten Ausstellungen erschienen Publikationen, die letzten waren Die immer Neue Altstadt: Bauen zwischen Dom und Römer seit 1900, Hybrid Tbilisi. Betrachtungen zur Architektur in Georgien, SOS Brutalismus: Eine internationale Bestandsaufnahme und FRAU ARCHITEKT. Seit mehr als 100 Jahren: Frauen im Architekturberuf. Edoardo Costadura ist seit 2011 Ordinarius für Romanische Philologie mit dem Schwerpunkt französische und italienische Literaturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Aristokratie in der der frühen Neuzeit, französische und italienische Romantik, franzö-

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sische und italienische Literatur des 20. Jahrhunderts, moderne Heimatdiskurse. Zusammen mit Klaus Ries hat er den Sammelband Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, herausgegeben. Frank Eckardt ist promovierter Politikwissenschaftler und seit 2009 Professor für sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar. Forschungsschwerpunkte: Ethnische Diversität, soziale Ungleichheit und demokratische Teilhabe in der Stadt. In 2018 hat er im transcript Verlag (Bielefeld) das Buch Ungeliebte Nachbarn: Anti-Asyl-Proteste in Thüringen veröffentlicht. Karsten Gäbler ist seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gegenwärtig arbeitet er am dortigen UNESCO-Chair on Global Understanding for Sustainability. Forschungsschwerpunkte: Ideengeschichte Gesellschaftlicher Raumverhältnisse, Theorien nachhaltiger Entwicklung, Digitalisierung und gesellschaftlicher Wandel. Gemeinsam mit Tilo Felgenhauer hat er den Sammelband Geographies of Digital Culture, London 2018, herausgegeben. Konstanze Gerling-Zedler studierte Romanistik und Anglistik in Leipzig, Bilbao und Tübingen. Nach dem Magisterabschluss arbeitete sie freiberuflich als Sprachdozentin und für verschiedene Kulturprojekte, u.a. für die DeutschItalienische Gesellschaft in Thüringen. Seit dem Jahr 2000 ist sie für den Freistaat Thüringen als Redenschreiberin tätig. Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert Guérard Professor in Literature Emeritus an der Stanford University, Kalifornien. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den romanischen Literaturen, zur Tradition der westlichen Philosophie, zur deutschen Literatur, zu Formen ästhetischer Erfahrung sowie zur Gegenwartsanalyse. In deutscher Sprache erschien zuletzt: Weltgeist im Silicon Valley. Leben und Denken im Zukunftsmodus (2018). Gastprofessuren am Collège de France, an der École des Hautes Études en Sciences Sociales Paris, der Universität Lissabon, der Zeppelin Universität, der Katholischen Universität Rio de Janeiro und anderen akademischen Institutionen. Im Frühjahr 2017 und im Winter 2018 Martin Buber Senior Fellow an der Hebräischen Universität Jerusalem. Gumbrecht schreibt regelmäßig für die NZZ, die FAZ, die Weltwoche, Die Zeit und Estado de São Paulo. Martina Haedrich hat bis zum Jahr 2013 das Öffentliche Recht und Völkerrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena

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vertreten. Gegenwärtige Forschungsschwerpunkte im Rahmen interdisziplinärer Projekte sind gerechter Frieden und Heimat aus der Perspektive des Rechts. Herausgeberin des Sammelbandes Flucht, Asyl und Integration aus rechtlicher Perspektive, Mohr Siebeck Tübingen, 2017. Thorsten Hindrichs ist seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Musikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz und außerdem seit etlichen Jahren als freier Autor in der politischen Bildungsarbeit gegen die extreme Rechte aktiv. Dieser Tage erscheint im Ventil Verlag sein Buch Schwarz Rot Pop – Popmusik im Echoraum des Rechtspopulismus. Benjamin-Immanuel Hoff ist Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Chef der Staatskanzlei des Freistaates Thüringen. Er ist zudem Honorarprofessor an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Fellow an der School of Law, Politics and Sociology der University of Sussex. Beim VSAVerlag veröffentlichte er den Band die linke: partei neuen typs? Milieus - Strömungen - Parteireform, Hamburg 2014. Beate Mitzscherlich ist Psychologin und seit 1999 Professorin für Pflegeforschung an der Westsächsischen Hochschule Zwickau. Sie forscht und veröffentlicht seit 1995 Texte zu Beheimatung und Identitätsarbeit, aber auch zu Musikpsychologie, Psychiatriegeschichte und Pflege- bzw. Medizinethik. Werner Nell ist seit 2002 Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und seit 2008 Adjunct Associate Professor an der Queen’s University in Kingston (ON) in Kanada. Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Gesellschaft in ihren Wechselbeziehungen, Migration, Stadt-Landbeziehungen und bürgergesellschaftliche Entwicklungen in komparatistischen Perspektiven. Neure Publikationen umfassen die Sammelbände Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989, hrsg. mit Carsten Gansel (2016) und Über Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Dörflichkeit, hrsg. mit Marc Weiland (2018) sowie Studien zu Marginalität in der Literatur des 18. Jahrhunderts (2017), Alain-Fournier (2018) und zu „Idyllenreferenzen in der Postmoderne“ (2018). Walter Pauly hat seit 1998 den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie an der Friedrich-Schiller-Universität

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Jena inne und war seit 1993 Ordinarius für diese Fächer an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Verfassungsrecht, der Verfassungs- und Staatstheorie sowie der politischen Philosophie und ihrer Geschichte. 2015 hat er zusammen mit Klaus Ries den Sammelband Staat, Nation und Europa in der politischen Romantik, ferner 2018, ebenfalls zusammen mit Klaus Ries, den Sammelband Politisch-soziale Ordnungsvorstellungen in der Deutschen Klassik herausgegeben. Gregor Reimann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit 2018 arbeitet er in der Arbeitsstelle für kultur- und religionssensible Bildung (KuRs.B) sowie in der Arbeitsstelle des Digitalisierungsprojektes Kirchliches und schulisches Zeitschriftenwesen des Zentrums für Religionspädagogische Bildungsforschung (ZRB). Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Religiöse Volksbildung Anfang des 20. Jahrhunderts, Bildungs- und Kirchenpolitik im Land Thüringen in der Weimarer Republik. Klaus Ries, lehrt seit 2015 Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt auf dem langen 19. Jahrhundert (1789-1914) an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er forscht zur Ideengeschichte, Philosophiegeschichte und zur revolutionären Epoche 1789-1848/49. Zusammen mit Edoardo Costadura hat er den Sammelband Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, herausgegeben; zusammen mit Walter Pauly hat er den Sammelband Politischsoziale Ordnungsvorstellungen in der Deutschen Klassik, Baden-Baden 2018, herausgegeben. Hartmut Rosa ist seit 2005 Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und seit 2013 Direktor des MaxWeber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien an der Universität Erfurt. Er ist Initiator und Leiter verschiedener größerer Forschungsprojekte, darunter zu Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne. Gegenwärtiger kultureller Wandel von Selbstentwürfen, Beziehungsgestaltungen und Körperpraktiken (VW-Stiftung). Forschungsschwerpunkte: Zeitdiagnose und Moderneanalyse, Normative und empirische Grundlagen der Gesellschaftskritik, Subjekt- und Identitätstheorien, Zeitsoziologie und Beschleunigungstheorie, Soziologie der Weltbeziehung. Zuletzt ist von ihm erschienen: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (Berlin 2016).

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Friedemann Schmoll, seit 2012 Professor für Volkskunde/Kulturgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeiten zur Kulturgeschichte der Natur, Denkmal und kollektives Gedächtnis, Nahrungsethnologie und Wissenschaftsgeschichte. Zusammen mit Martin Blümcke hat der den Band Karl Julius Weber – Leben, Wirken, Wirksamkeit. Verneigung vor einem aufgeklärten Kopf (Tübingen 2017) herausgegeben. Sylka Scholz ist seit 2014 Professorin für Qualitative Methoden und Mikrosoziologie am Institut für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Geschlechtersoziologie, insbesondere Theorie und Empirie des Wandels von Männlichkeiten, Film- und Familiensoziologie mit einem Schwerpunkt auf Familienbilder u.a. im Heimatfilm sowie Weiterentwicklung von qualitativen Methoden der Text- und Bildanalyse. Zentrale Ergebnisse der Männlichkeitsforschung sind in der Monografie Männlichkeitssoziologie. Studien aus den sozialen Feldern Arbeit, Politik und Militär im vereinten Deutschland, Bielefeld 2015 (2. Auflage), zusammengefasst. Sophie Seher ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena und leitet die Arbeitsstelle für Kultur- und Religionssensible Bildung (KuRs.B) am Zentrum für Religionspädagogische Bildungsforschung (ZRB). Frau Seher promovierte im Fach Kunstgeschichte und arbeitete drei Jahre im Kulturreferat der Stadt Bamberg. Forschungsschwerpunkte: Frühneuzeitliche Sepulkralkultur, Kultur- und Religionssensible Bildungsforschung. Justus H. Ulbricht, Historiker und Germanist, ist seit 2016 Geschäftsführer des Dresdner Geschichtsvereins und Redakteur der kulturhistorischen Zeitschrift Dresdner Hefte. Er ist ferner als Dozent in der Jugend- und Erwachsenenbildung tätig. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des deutschen Bildungsbürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, bürgerliche Reformbewegungen ab 1900, Religionsgeschichte der Moderne, Kulturgeschichte Mitteldeutschlands. Letzte Buchpublikationen: Zeichen der Erinnerung – Steine des Anstoßes: Anregungen zum Umgang mit den Denkmälern deutscher Kriege, Halle 2014; Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar-Eisenach : Landesherr – Monarch – Mäzen, Wiesbaden 2016. Yvonne Wasserloos vertritt seit Mai 2017 den Lehrstuhl für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater Rostock. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen den Konnex zwischen Musik, Gesellschaft und Politik, v.a. vom 19. bis 21. Jahrhundert, deutsch-skandinavische Kulturtransferprozesse, politische

454 | Heimat global – Modelle, Praxen und Medien der Heimatkonstruktion

Popularmusik sowie Erinnerungskultur. Sie ist Mitbegründerin und Mitherausgeberin der interdisziplinären Reihe Schriften zur Politischen Musikgeschichte (V&R Göttingen). Michael Wermke ist Inhaber des Lehrstuhls für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und seit 2011 Direktor des Zentrums für Religionspädagogische Bildungsforschung (ZRB). Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Jüdische Bildungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert; Schulpolitik und Bildungstheorie in der Weimarer Republik; religiöse und kulturelle Bildung in der modernen Migrationsgesellschaft. Er ist Herausgeber der Reihen Studien zur Religiösen Bildung (StRB) und Religiöse Bildung im Diskurs (RBD). Christiane Wiesenfeldt ist seit 2012 Lehrstuhlinhaberin für Historische Musikwissenschaft am gemeinsamen Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und der Friedrich-SchillerUniversität-Jena. Publikationen und aktuelle Forschungsprojekte umfassen das 15. bis 20. Jahrhundert, mit Schwerpunkten auf der Musik der Frühen Neuzeit sowie des 19. Jahrhunderts. Renate Zöller ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt Mittelosteuropa. Sie studierte Osteuropäische Geschichte in Köln, St. Petersburg und Prag und lebte zeitweilig in Moskau und in Prag. Während der Jahre in Prag begann sie, sich für das Thema „Heimat“ zu interessieren. 2015 erschien im Christoph Links Verlag ihr Buch Was ist eigentlich Heimat?

Kulturwissenschaft Johannes F.M. Schick, Mario Schmidt, Ulrich van Loyen, Martin Zillinger (Hg.)

Homo Faber Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2018 2018, 224 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3917-9 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3917-3

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur + Kritik (Jg. 7, 2/2018) 2018, 176 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4455-5 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4455-9

María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3

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Kulturwissenschaft Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Rainer Guldin, Gustavo Bernardo

Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3

Stephan Günzel

Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung 2017, 158 S., kart., zahlr. Abb. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3972-8 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3972-2

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