Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit: Gemeindeprotest und politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert 9783666357800, 9783647357805, 352535780X, 9783525357804

156 10 10MB

German Pages [463] Year 1997

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit: Gemeindeprotest und politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert
 9783666357800, 9783647357805, 352535780X, 9783525357804

Citation preview

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ulimann, Hans-Ulrich Wehler

Band 117

Robert von Friedeburg Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit Gemeindeprotest und politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert von Robert von Friedeburg

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Friedeburg, Robert von: Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit: Gemeindeprotest und politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert / von Robert von Friedeburg. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1997 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 117) Zugl.: Bielefeld, Univ., Habil.-Schr., 1994 ISBN 3-525-35780-X kart.

© 1997, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Text & Form, Pohle. Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen.

bayerische Staatsbibliothek München

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Inhalt

Vo*wort

11

Einleitung

13

1.

Kapitel: Die soziale Dimension des traditionellen Gemeinde­ protestes

1.1. Die soziale Differenzierung der ländlichen Gesellschaft 1660-1895 und die Gemeindetypen 1.2. Schwälmer Klassengesellschaft im 19. Jahrhundert: Soziale und räumliche Mobilität, Haushalt und Sozialstruktur, Verschuldung 1.3. Armenrecht und Gemeindsnutzen: Landgemeinde, soziale Differenzierung und Obrigkeit im 18. und 19. Jahrhundert 1.4. Ländliche soziale Differenzierung, agrarischer Wandel und Landgemeinde 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7.

35 38 56 92 114

Kapitel: Die antietatistische Dimension des traditionellen Gemeindeprotestes . 117 Landgemeinden, Landesherrschaft und Staatsbildung auf dem Gebiet des Oberrheinischen und Fränkischen Reichskreises 118 Die Bedeutung der Landgemeinde für die ländliche Bevölke­ rung in den südwestdeutschen und fränkischen Kleinterritorien . 123 Landgemeinde und Obrigkeit zwischen Eder und Werra vom späten 17. bis zum späten 19. Jahrhundert 130 Konflikt mit der Obrigkeit und Politik auf dem Dorf I: Bauern und Tagelöhner gegen Greben und Landesherrschaft, ca. 1750 bis ca. 1850 149 Konflikt mit der Obrigkeit und Politik auf dem Dorf IL Bauern, Tagelöhner und Juden, ca. 1750 bis ca. 1900 171 Konflikt mit der Obrigkeit und Politik auf dem Dorf III: Bauern, Tagelöhner und Pfarrer, ca. 1850 bis ca. 1900 193 Konflikt mit der Obrigkeit und Politik auf dem Dorf IV: Die Kriegervereine in der ländlichen Klassengesellschaft 204 5 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

2.8. Sozialgeschichte, Verfassungsgeschichte und die Entstehung der kulturellen Eigenständigkeit der ländlichen Gemeinden 3.

Kapitel: Die politische Dimension des traditionellen Gemeindeprotestes

218

224

3.1. Die Politisierung des Konfliktes mit der Obrigkeit 3.2. Konflikt mit der Obrigkeit und Politik auf dem Dorf V: Bauern, Tagelöhner und kurhessische Verfassungsbewegung, 1813-1866 3.3. Konflikt mit der Obrigkeit und Politik auf dem Dorf VI: Bauern, Tagelöhner und die Parteien des Kaiserreichs

224

4. Schluß 4.1. Die Entstehung der ländlichen Eigenständigkeit als Lern­ prozeß der Gemeinden 4.2. Die soziale, antietatistische und politische Dimension des traditionellen Gemeindeprotestes 4.3. Ausblick: Ländliche Sozial- und Obrigkeitskritik und partei­ politischer Nationalismus im 20. Jahrhundert in Mittel­ und Südwestdeutschland

277

230 251

277 281 292

Anhang: Tabellen

296

Abkürzungen

322

Anmerkungen

323

Quellen und Literatur

414

Personen- und Ortsregister

460

Sachregister

461

6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Verzeichnis der Tabellen im Text Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 4a: Tabelle 5: Tabelle 5a: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 7a: Tabelle 7b: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle

14: 15: 16: 17:

Tabelle 18:

Die 13 Gemeinden Haushalte in den Schwälmer Gemeinden, 1550-1737/40 Haushalte, Betriebsgrößenklassen und Gewerbe 1737-1747 Haushalte und Prozentanteil der sozialen Klassen an allen Haushaltsvorständen, 1855 Anteile der Beriebsgrößenklassen an der landwirtschaftlichen Be­ triebsfläche der Gemeindegemarkungen in % der Gemarkung und durchschnittliche Betriebsgröße je sozialer Gruppe, 1841-1854 .. Haushalte und Prozentanteil der sozialen Klassen an allen Haus­ haltsvorständen, 1871 Anteile der Betriebsgrößenklassen an der landwirtschaftlichen Be­ triebsfläche der Gemeindegemarkungen in % der Gemarkung und durchschnittliche Betriebsgröße je sozialer Gruppe, 1871 Absolute Zu- oder Abnahme der Zahl der Haushalte je Gruppe, 1855-1871 Konnubium von Bauern, Kleinbauern, Handwerkern, Arbeitern und Beamten in fünf Schwalmgemeinden, 1860-1930 (Ab- und Zustromquoten) Schichthomogenes Konnubium 1860-1930: Anteile von Vätern mit Schwiegersöhnen aus derselben Gruppe Schichthomogenes Konnubium 1860-1930: Anteile von Ehemännern mit Schwiegervätern aus derselben Gruppe Berufe abwandernder Söhne und Berufe ihrer Väter, 1881-1910 Durchschnittliche Familiengröße von Grundbesitzern und Mietern bzw. unterschiedlicher sozialer Gruppen in funf Sample­ gemeinden Anteile der Haushalte mit koresidierenden Auszögnern in Prozent der Haushalte je Gruppe Anteile koresidierender Verwandter in Prozent der Haushalte je Gruppe Anteile der Haushalte mit Schlafgängern oder anderen koresidierenden Familien Anteile unter den sozialen Gruppen mit Mietern im eigenen Haus bzw. von Mietern, die mit anderen Mietern zusammenwohnen .... Verteilung der Mieter auf die sozialen Gruppen Verschuldung 1855 Zahl der Zwangsversteigerungen, Rechnungsjahr 1886-1889 Ausgewählte Ursachen für die Zwangsversteigerungen, Rechnungsjahr 1886-1887 Verschuldung in fünf der Samplegemeinden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

40 41 43 50 50 52 52 54 57 58 58 61 72 73 74 74 75 76 78 82 83 84

7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Tabelle 19: Der Beruf von Besitzern zwangsversteigerter ländlicher Parzellen im Landkreis Ziegenhain 1886-1892 und 1893-1898 Tabelle 20: Gründe für Zwangsversteigerungen zwischen 1886 und 1892 und zwischen 1893 und 1898 Tabelle 21: Die Gemeindearmen im Jahr 1820 Tabelle 22: Tatbestände in den Gravamina an den hessischen Geheimen Rat, 1648-1806/14/15 Tabelle 23: Gesamtbetrag aller Steuern und Abgaben in den Ämtern Ziegenhain, Frankenberg, Eschwege und dem Gerichtsstuhl Rengshausen, Rotenburg 1806 und 1815 Tabelle 24: Kleinkriminalität in den Kreisen Ziegenhain, Frankenberg und Kirchhain, 1839, 1842 und 1843 Tabelle 25: Soziale Zusammensetzung der Schwälmer Kriegervercine und Mitgliedermobilisierung in den Gemeinden (1893) Tabelle 25a: Anteile der Kriegervereinsmitglieder an den Haushaltsvorständen der dörflichen Besitz- und Erwerbsklassen (1893 und 1901/1905) Tabelle 26: Die Bürgergarden in den Sample-Gemeinden Tabelle 27: Kurhessische Petitionen an die Frankfurter Nationalversammlung Tabelle 28: Gemeindetyp und politische Mobilisierung Tabelle 29: BdL-Mitgliedschaft und Anteil antisemitischer Stimmen: Die Wahlen von 1887, 1893,1907 und 1912 Tabelle 30: Ortsgrößen der Gemeinden ohne BdL-Mitglieder und Stimmen­ anteil für die antisemitische Partei Tabelle 31: Ortsgrößen der Gemeinden mit BdL-Mitgliedern und Stimmen­ anteil für die antisemitische Partei

85 87 97 137 139 168 210 211 235 240 268 270 272 273

Verzeichnis der Tabellen im Anhang Tabelle 1:

Prosopographisch rekonstruierte Gemeindekonflikte und anderes quantitativ ausgewertetes Material je Zeitraum Tabelle 2: Betriebsgrößenklassenverteilung in Preußen, Baden, Bayern und Württemberg, 1882-1895 (in Prozent aller Betriebe) Tabelle 3: Verteilung der Gesamtbetriebsfläche auf Betriebsgrößenklassen in Preußen, 1895 (in Prozent der landwirtschaftlichen Betriebsfläche) Tabelle 4: Betriebsgrößenklassenverteilung, Zahl der landwirtschaftlich Beschäftigten und Erwerb von Parzellenbesitzern bis 2 ha in den preußischen Provinzen, 1882 Tabelle 5: Bevölkerung, Landwirtschaft und Gewerbe in den 13 Ge­ meinden, 1855 Tabelle 6: Bevölkerung, Landwirtschaft und Gewerbe, Sozialstruktur 1871 Tabelle 6a: Anteil der Gruppen an allen Haushalten nach Gemeindetypen (in Prozent)

8 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

296 297 298 299 301 302 302

Tabelle 6b: Durchschnittlicher Landbesitz je Gruppe, 1871 Tabelle 7: Handwerker als Mieter, Landarme, Kleinbauern und Bauern Tabelle 8: Verteilung der männlichen Haushaltsvorstände mit Handwerker­ status - ohne wegen Alter Steuerbefreite - auf die Betriebs­ größenklassen Tabelle 9: Mieter, Landarme und Kleinbauern unter den Handwerkern der Schwälmer Dörfer Tabelle 10: Anteile von Tagelöhnern und Handwerkern in den Wählerlisten von 1893 Tabelle 11: Arithmetisches Mittel und Medium des Alters von Ackerleuten, Handwerkern, Tagelöhnern/Arbeitern/Knechten u.a., 1893 Tabelle 12: Konnubium von Bauern, Kleinbauern, Handwerkern und Beamten Tabelle 13: Soziale Mobilität der bäuerlichen Familien Schlemmer, Doerr, Euler, Glintzer, Riebeling und Süßmann, 1736-1871: Wohnorte Wasenberg, Holzburg, Merzhausen, Zella, Loshausen, Willings­ hausen, Merzhausen (Typ IIIa und b) Übersicht: Die Gemeindeländereien 1855 Tabelle 14: Soziale Zusammensetzung der Gcmeindevorstände und der Presbyterien Tabelle 15: Land- und Viehbesitz unter den Willingshäuser Haushaltsvor­ ständen 1871 Tabelle 16: Landbesitz gefaßter Diebe, Schwalm, 1839-1841 Tabelle 17: Jahreszeitliche Verteilung von Diebstählen, 1839, 1842 und 1843 Tabelle 18: Dispensanträge 1751-1815 Tabelle 19: Steuerkapital von Juden und Christen in Oberaula, Willings­ hausen und Merzhausen, 1776-1841, in Reichstalern Tabelle 20a: Sozialstruktur und Wahlverhalten in Steinbach, 1845 Tabelle 20b: Sozialstruktur und Wahlverhalten in Burghaun, 1845 Tabelle 20c: Wähler in den Wahllisten von Burghaun und die Sozialstruktur des Ortes Burghaun, 1855 Tabelle 21: Anteil der Kommunikanten an den Gemeindemitgliedern (in Prozent) Tabelle 22: Psychisch Auffällige unter der Wohnbevölkerung von sechs Schwälmer Dörfern Tabelle 23: Mitglieder der Kriegervereine Tabelle 24a: Wähler, Prozentanteile und Stimmenzahl bei den Reichstags­ wahlen im Wahlkreis Ziegenhain (im Zweifel Stichwahl) Tabelle 24b: Prozentanteile und Stimmenzahl (für die jeweils erfolgreiche Partei) und Wahlbeteiligung (im Zweifel engere Wahl) im Wahlkreis Fritzlar/Homberg/Ziegenhain Tabelle 25: Wahlerfolg undWahlbeteiligung

303 304 305 305 306 307 308

310 310 311 312 312 313 313 314 316 317 317 318 318 319 319 319 320

9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Vorwort

Die vorliegende Studie wurde von der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld 1994 als Habilitationsschrift angenommen. Für den Druck wurde der Anmerkungsapparat stark ge­ kürzt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft förderte 1989-1992 ein Projekt, das zum Ausgangspunkt der Studie wurde. Die Meyer-Struck­ mann Stiftung ermöglichte durch ihre großzügige und unbürokratische Unterstützung den Abschluß der Untersuchung. Das Interesse ihres Kura­ toriums an den Strukturen des ländlichen Antietatismus gehörte zu den ermutigendsten Erlebnissen mit Gesprächspartnern außerhalb der »Zunft«. Dr. Max Brocker und der Studienstiftung des deutschen Volkes sei für ihre Fürsorge gedankt. Das Wissenschaftsministerium Nordrhein-Westfalens er­ möglichte durch die Auszeichnung des Projektes mit dem Bennigsen­ Foerder Preis 1992 die umfassende Untersuchung ländlicher Pfarrchroni­ ken und einen Archivbesuch am Leo Baeck Institut in New York. Die Mitarbeiter des Staatsarchivs Marburg, des Bundesarchivs in Potsdam und des brandenburgischen Hauptlandesarchivs unterstützten meine Quellen­ arbeit nach Kräften. Zahlreiche Pfarrer zwischen Eder und Werra nahmen mich in ihren Haushalten auf, während ich die von ihnen verwahrten Quellen durchsah. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Zwischen den ersten Projektskizzen und der fertigen Arbeit liegen Unterstützung, Ermutigung, Zuspruch und Ansporn. Ich verdanke den Mitgliedern der Bielefelder Geschichtsfakultät und des dortigen Sonderfor­ schungsbereiches, vor allem Stefan Brakensiek, Axel Flügel, Stefan Gori­ ßen, Manfred Hettling, Anne Kosfeld und Dirk Schumann zahllose Anre­ gungen. Heinz Schilling (Berlin) und Luise Schorn-Schütte (Potsdam) gaben mir zahllose Anregungen und die Gelegenheit, einzelne Aspekte und Fragestel­ lungen auf dem Wolffenbüttler Barock-Symposium 1991 und einer Tagung der Werner-Reimers Stiftung 1994 zu diskutieren. Reinhard Rürup eröff­ nete mir die Chance, am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung in Bielefeld 1992 einzelne Thesen vorzustellen. Ich profitierte von der kriti­ schen Lektüre, der Ermutigung und den Hinweisen von Helmut Berding (Gießen), Volker Drehsen (Tübingen), Horst Dreitzel (Bielefeld), Robert Jacobs (New York), George Thomas Fox (Louisiana), David Luebke (Ben11 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

nington, Vt.), Georg Schmidt (Jena), Winfried Speitkamp (Gießen), Mi­ chael Stolleis (Frankfurt) und Klaus Tenfelde (Bielefeld). Daß die Kenntnis der Gegenwart durch die Untersuchung der Vergan­ genheit befördert werde, ist eine Binsenwahrheit. In der Praxis historischer Forschung, besonders nach der jüngsten Welle ihrer Ausdifferenzierung seit den 1970er Jahren, gibt es viele gute Gründe, für den Nachweis dieser Annahme im Einzelnen innerhalb der Zeitgrenzen der etablierten Epochen zu argumentieren. Besonders die Frühneuzeitforschung profitierte von ihrer Emanzipation als Vorgeschichte von Staat und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Forschungsfragen und -interessen, Methoden und Literatur beider Zeitbereiche divergieren stark voneinander. Die Geschichte der ländlichen Gesellschaft bietet dafür keine Ausnahme. Für forschungsinten­ sive Monographien bildet diese Spezialisierung einen Sog, dem nur mit guten Gründen und vor allem außergewöhnlicher Betreuung widerstanden werden sollte. Für die Durchführung ist der Bedarf an einer Betreuung, die korrigierende Übersicht mit Kenntnis im Detail verbindet, die konkurrie­ rende Leitlinien anbietet und dennoch gegensätzliche Standpunkte för­ dert, eine Vorbedingung des Gelingens. Wolfgang Mager und Hans-Ulrich Wehler trieben die Studie von ihren Anfängen bis zum Abschluß immer wieder voran. Ich konnte mich mit sorgloser Gewißheit stets auf sie verlassen. Dafür bleibe ich beiden herzlich verbunden. Bielefeld, im Sommer 1996

Robert von Friedeburg

12 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Einleitung »Alß Samuel alt wurde, sprach er zu ganzen Israel: Habe ich jemand Ochse und Esell genommen, hab ich jemand Gewalt undt Unrecht gethan, ... so will ich es auch wiedergeben; aber Israeli sprach: Du hast uns kein Gewalt noch Unrecht gethan. Heutiges Tags gehet Dergl. viel anderes, da die Obrigkeit Pferd und Ochse oder Kuh nicht mehr nimmt, sondern auch gar schlacht und frißt«.1 Im Jahr 1826 entstand in der Schwälmer Gemeinde Willingshausen in der alten Grafschaft Ziegenhain (Kurhessen) die älteste Malerkolonie Deutsch­ lands. Ihre Mitglieder betrieben als Gäste der örtlichen Adelsfamilie Gen­ re-Malerei der ländlichen Welt. Eines der zeitgenössisch bekanntesten Stücke dieses Genres, Carl Bantzers »Abendmahl in hessischer Dorfkir­ che«, wurde mehrfach reproduziert und zum Urbild all dessen, was die moderne bürgerliche Gesellschaft in der Schwalm als Ausdruck des Ländli­ chen schlechthin erblickte: Religiosität, Tracht, Brauchtum und das Fest­ halten am Althergebrachten. Das Gemälde stellt das Innere einer hessischen Dortkirche dar, in der Männer und Frauen, streng getrennt, in den tradit­ ionellen Trachten das Abendmahl einnehmen. Wie im Vexierspiegel kenn­ zeichnet die Entstehung dieses Gemäldes zwischen 1889-1892 das Ver­ hältnis zwischen der ländlichen Welt und der Welt des bürgerlichen Künstlers und seines adligen Mäzens im Kaiserreich. Der Gastgeber des Malers und Landrat des Kreises, Baron von Schwertzeil, lag mit den Bauern und Tagelöhnern Willingshausens um die Ablösung von Servituten und die Nutzung des Waldes im Streit, Der Gemeindepfarrer hatte sich auf die Seite des Dorfes geschlagen, griff seinen eigenen Patronatsherren von der Kanzel herab an und argumentierte mit der angeblich dreihundertjährigen Feind­ schaft der Familie von Schwertzeil gegenüber der Kirche. Der Baron und Kirchenpatron betrat daraufhin seine Willingshäuser Kirche nicht mehr, die nun als Vorbild für das Gemälde nicht in Frage kam. Die Willingshäuser Bauern verweigerten überdies ihre Mitarbeit als Modell für das geplante Gemälde. Daraufhin wurde im Schloßgarten von Schwertzells eine Baracke errichtet und ähnlich dem Innenraum einer Dorfkirche gestaltet. Bantzer rekrutierte seine Modelle für die Schwälmer Kirchgänger unter den häufig betrunkenen Tagelöhnern des Nachbardorfes, obwohl die den Wünschen des Malers hinsichtlich Wuchs und Körperkraft seines Ideales eines Landbe­ wohners nicht entsprachen.2 13

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Vergegenwärtigt man sich das geradezu verzweifelte Bemühen des bür­ gerlichen Künstlers, sein Bild der Schwalm - sowohl das Gemälde als auch seine Vorstellung vom Land - gegen die tatsächlichen Lebensumstände zu verteidigen, bestätigt die Rekonstruktion der Herstellung seines Klischees unversehens ein neues Klischee. Ob Bantzer die Fremdheit der ländlichen Gesellschaft feierte oder im täglichen Umgang mit den feindselig gestimm­ ten Dorfbewohnern am eigenen Leibe erfuhr - diese Fremdheit wurde im 19. Jahrhundert zum Topos. Ungeachtet seines stereotypen Charakters stellte sich die ländliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zeitgenössischen Beobachtern tatsächlich als sozial und kulturell eigenständige, der bürgerli­ chen geradezu entgegengesetzte Welt dar. Gegen Ende des Jahrhunderts unterstrichen die Bewohner des platten Landes diesen Eindruck durch ihr Wahl- und Organisationsverhalten. Die Zeitgenossen mutmaßten daher psychologisierend über die Ursachen der angeblich besonderen Mentalität der Landbevölkerung im allgemeinen und der ländlichen Unterschichten im besonderen, die gleich einem Fossil aus längst vergangener Zeit in den deutschen Nationalstaat des Kaiserreiches hineinzuragen schienen.3 Die vorliegende Studie vertritt die These, daß die von den Zeitgenossen immer wieder festgestellte besondere Mentalität der ländlichen Bevölke­ rung ein Ergebnis der sozialgeschichtlichen Bedingungen in den Landge­ meinden und der Auseinandersetzung dieser Landgemeinden mit der Ob­ rigkeit im 18. und 19. Jahrhundert war. Es soll nachgewiesen werden, daß im Verlauf dieser beiden Jahrhunderte insbesondere Antietatismus und Sozialprotest zum Kern ländlicher Interessenartikulation in Baden, Fran­ ken und Hessen wurden und sich als Ergebnis von sozial- und verfassungs­ geschichtlichen Gegebenheiten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ver­ festigten, deren Wurzeln bis in die Konsolidierung der deutschen Lan­ desherrschaften im Fränkischen und Oberrheinischen Kreis nach dem Dreißigjährigen Krieg zurückreichen. Deshalb stehen die sozial- und ver­ fassungsgeschichtlichen Rahmenbedingungen in den Landgemeinden und Territorien des Untersuchungsgebietes und ihre Wirkungen auf die sozia­ len und schließlich politischen Verhaltensweisen der Landbevölkerung im Mittelpunkt dieser Sozialgeschichte der Auseinandersetzung von Obrigkeit und Landgemeinde im 18. und 19. Jahrhundert. Den Kern der Untersu­ chung bildet eine Fallstudie über dreizehn Gemeinden der hessischen Mittelgebirge zwischen Eder und Werra, deren Mehrheit in der Landschaft der Schwalm liegt, ihrerseits Teil der ehemaligen Grafschaft und des späte­ ren Kreises Ziegenhain. Die Darstellung greift außerdem in ihren generali­ sierenden Teilen systematisch und vergleichend auf die gesamte nordhessi­ sche Region, auf Baden und Franken aus. Damit sollen zwei Perspektiven verbunden werden, die in der Forschung bisher getrennt behandelt wurden. Für die Untersuchung des Verhältnisses 14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

zwischen Bauern und Unterschichten im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert stehen paradigmatisch die Studie Josef Moosers über die »Ländliche Klassengesellschaft« Ostwestfalens und die Arbeiten der For­ schung über »sozialen Protest«. Die Landgemeinde als organisatorisches und sozialisatorisches Zentrum der ländlichen Gesellschaft spielt in dieser Forschungsrichtung nur eine untergeordnete Rolle. Das entspricht ange­ sichts der scharfen Abschichtung von vollbäuerlichen Hofbesitzern und minderberechtigten Heuerlingen zwar der Sachlage in Ostwestfalen. Ange­ sichts der Bedeutung der Landgemeinde in vielen anderen Teilen Deutsch­ lands auch im 19. Jahrhundert erklärt sich ihre geringe Berücksichtigung jedoch durch das vornehmliche Interesse dieser Forschungen an den Kon­ flikten sozialer Klassen auf dem Lande und an ihrer Einbindung in den entstehenden Parteien- und Verbändestaat. Diese Perspektive erlaubte, die Frage nach der politischen Sozialisation der ländlichen Bevölkerung an ihren Optionen für die entstehenden politischen Lager zu überprüfen. Die Bedeutung der politischen Sozialisation innerhalb der Gemeinden in der Frühen Neuzeit kam zu kurz.4 Für die andere Perspektive ist dagegen die Auseinandersetzung zwischen Landesherrschaft und Gemeinde im Alten Reich der Betrachtungsrahmen, obwohl sie Folgerungen für das politische Verhalten der Bevölkerung bis zu den Revolutionen von 1848 und darüberhinaus zu ziehen sucht. Die Sozialgeschichte der ländlichen Bevölkerung im engeren Sinne wird von diesen Studien nur am Rande berücksichtigt, weil die Untersuchung des bäuerlichen Widerstandes gegenüber der Obrigkeit als Vorform politischer Partizipation des Gemeinen Mannes im Vordergrund steht.5 Beide Perspektiven sollen im folgenden verbunden werden. Nicht zu­ letzt, weil die ländliche Vergewerblichung in den untersuchten Gebieten weniger spektakulär verlief und sich viele Kontinuitäten der dörflichen Sozialstruktur und Wirtschaftsweise bis zum späten 19. Jahrhundert verfol­ gen lassen, wird erstens der gesamte Zeitraum vom späten 17. bis zum späten 19. Jahrhundert in den Blick genommen. In den fränkischen, badischen und hessischen Landgemeinden lebten zweitens seit dem Beginn des Untersuchungszeitraumes häufig spannfähige Vollbauern und landar­ me Gewerbetreibende Seite an Seite. Viele dieser Landarmen waren in den Untersuchungsgebieten vollberechtigte Mitglieder ihrer Gemeinden. Sie waren als solche Nachbarn der Bauern und beeinflußten ebenso wie diese die Gemeindebelange. Die Geschichte der Auseinandersetzungen dieser beiden Gruppen und die Geschichte des Widerstandes gegen die Obrigkeit gehören nicht zu thematisch unterschiedlichen Gegenständen oder zu chronologisch aufeinanderfolgenden Epochen - sie waren immer miteinan­ der verflochten und sind daher gemeinsam zu untersuchen. Drittens steht mit der 1803 zum Kurfürstentum erhobenen Landgraf15 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

schaft Hessen-Kassel ein mittlerer Territorialstaat, keine Zwergherrsehart, im Mittelpunkt der Betrachtung. Einerseits teilte dieses Territorium mit vielen anderen der kleineren Reichsstände des Alten Reiches den Verlust der Eigenständigkeit in der napoleonischen Zeit. Es verlor sie endgültig 1866/67 durch die preußische Annexion. Seine Staatlichkeit blieb anfecht­ bar und äußeren Interventionen unterworfen. Seine ländliche Bevölkerung erfuhr Obrigkeit, nicht völlig unähnlich zur Situation in den Zwergterrito­ rien, im Verlauf dieser Umbrüche als anfechtbar und fragil. Andererseits zählte Hessen-Kassel jedoch gerade nicht zu jenen Zwergterritorien und Kleinstherrschaften, aus denen sich das spätere Großherzogtum Baden zusammensetzte. Schon die 1803 gleichfalls zum Kurfürstentum erhobene Markgrafschaft Baden war wesentlich kleiner als die alte Landgrafschaft. Kleine und kleinste Herrschaften prägten auch das Bild des Eränkischen Reichskreises, der zum größten Teil in die Hände des zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschaffenen Königreichs Bayern fiel. Zwergterritorien wie diese standen im Mittelpunkt der Widerstandsforschung und prägten ihre Ergebnisse. Die Untersuchung der Auseinandersetzung von ländlicher Bevölkerung und Obrigkeit in einem mittleren Territorium ermöglicht nicht nur Befunde über die Abhängigkeit der Formen ländlichen Wider­ standes von den verfassungsrechtlichen und machtstrategischen Rahmen­ bedingungen ihrer Obrigkeiten. Sie ermöglicht durch die von der Territo­ rialverwaltung generierten Quellen auch die Verbindung der Untersu­ chung gemeindlichen Widerstandes mit der Studie innerdörflicher Konflik­ te zwischen Bauern und Landarmut. Diese Konflikte blieben eng verwoben mit den Auseinandersetzungen der Gemeinden mit ihrer Obrigkeit. Denn auch für die Bauern und Tagelöhner der hessischen Gemeinden bildeten die Lasten dieser Obrigkeit, seien es Dienste, Abgaben oder Steuern, einen ständigen Stein des Anstoßes. Die Landgemeinden bündelten die Interes­ sen von Bauern und Unterschichten zu einer Melange aus Antietatismus und Sozialprotest, deren Entstehung und Zählebigkeit im Verlauf der Untersuchung zu prüfen ist. In welchem Maß das Verhältnis der ländlichen Bevölkerung zur Kirche, zu ihren jüdischen Nachbarn und schließlich auch zu den entstehenden Vereinen und politischen Parteien von dieser Konstel­ lation bis in das 19. Jahrhundert hinein beeinflußt wurde, wird ebenfalls zu prüfen sein. Das Ziel der Studie ist erstens der Nachweis einer strukturgeschichtlichen Kontinuität von langer Dauer, nämlich der Auseinandersetzung von Land­ gemeinde und Obrigkeit in einem mittleren und kleineren Territorien, und ihrer Bedeutung für die Bündelung der Interessen von Bauern und Landar­ men und für Lebensweise, Mentalität und politisches Verhalten der ländli­ chen Bevölkerung. Im Rahmen dieser Konstellation verfolgt sie zweitens die unstetig und mit Unterbrechungen und Rückschlägen wachsende 16 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Bedeutung der Landarmen für die Willensbildung innerhalb der Landge­ meinden und damit für die kollektive Artikulation der Landgemeinden insgesamt. Die Erfolge und Mißerfolge der Parteien des Kaiserreichs im Wettbewerb um die ländlichen Wähler bilden schließlich die Probe aufs Exempel, welche Wirkungsmächtigkeit die Auseinandersetzung zwischen der Landgemeinde und dem werdenden Staat bis zum späten 19. Jahrhun­ dert tatsächlich besaß. Zur Erklärung der konkreten parteipolitischen Ge­ stalt dieser Auseinandersetzung wird die krisenhafte Entwicklung von Landwirtschaft und Gewerbe nach 1873 gegenüber der fortwährenden Bedeutung antietatistischer Ressentiments von Bauern und Tagelöhnern abgewogen werden müssen. Im Verlauf der Arbeit müssen daher struktur- und ereignisgeschichtliche Themen verbunden und schlüssig auf das Verhalten der ländlichen Bevölke­ rung bezogen werden. Das Bindeglied zwischen den sozial- und verfas­ sungsgeschichtlichen Verhältnissen auf dem Lande bzw. den Krisen des Kaiserreiches und ihren mentalen, kulturellen und politischen Konsequen­ zen wird in den Formen des Zusammenlebens von Bauern und Tagelöh­ nern innerhalb der Gemeinden und dem Konflikt der Gemeinden insge­ samt mit der Obrigkeit und ihren Repräsentanten gesucht. Dieser Konflikt wird als Artikulation und Kristallisation traditioneller gemeindlicher und als Vorform moderner politischer Willensbildung der ländlichen Bevölkerung verstanden und im folgenden als »traditioneller Gemeindeprotest« be­ zeichnet. Diese Willensbildung wurde erstens durch naturräumlichc Aus­ gangsbedingungen und die soziale Differenzierung innerhalb der Gemein­ den geprägt. Sie vollzog sich zweitens bis in das 19. Jahrhundert hinein in den territorial zerklüfteten Verhältnissen des Alten Reiches und des Deut­ schen Bundes. Die derart umfassend geprägten ländlichen Gesellschaften behielten in dem sich formierenden deutschen Nationalstaat schließlich ihre je eigenen Traditionen gemeindlicher Willensbildung bei. Sie machten sich dessen moderne Instrumente, darunter auch die Vereine und Parteien der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, jedoch soweit als möglich zu nutze. Die Frage nach der Rolle des platten Landes in der neueren deutschen Geschichte und den möglicherweise verhängnisvollen Folgen des politi­ schen Einflußes ländlicher Eliten wurde in der Forschung mit negativem Vorzeichen ebenso nachhaltig immer wieder gestellt wie die Frage nach der vormodernen kollektiven Mentalität der ländlichen Bevölkerung seit Riehl mit positiven Vorzeichen stets neu beantwortet wurde, so daß gleich zu Anfang drei Mißverständnisse vermieden werden müssen. Alexander Gerschenkrons »Bread and Democracy« von 1943 spürte dem Einfluß agrarischer Eliten auf die deutsche Politik nach. Dieser Forschungs­ ansatz wurde durch die Studien Hans Rosenbergs über die preußischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

17

Junker fortgeführt. Ihre Vorstellung von der Dominanz der adligen Groß­ grundbesitzer über die ländliche Bevölkerung Ostelbiens als bedeutendem Strukturmerkmal des autoritären Charakters des Kaiserreiches und grund­ legendem Aspekt eines deutschen »Sonderweges« wurde bereits durch eine Reihe jüngerer Studien über den Charakter der »national-revolutionären Bewegung« (Broszat) bzw. der »agrarischen Massenbewegung« (Nipper­ dey) relativiert.6 In ihnen wurde größeres Gewicht auf die Eigendynamik der politischen Mobilisierung der ländlichen Bevölkerung westlich der Elbe gelegt. Die vorliegende Studie greift die ältere These auf, daß das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertan, ein Herrschaftsverhältnis,7 seit der Frü­ hen Neuzeit tiefgreifende Folgen für die Entwicklung der Selbstverständ­ nisses der ländlichen Bevölkerung besessen habe. Sie wendet sich zur Untersuchung dieses Gegenstandes aber nicht den ostelbischen Junkern, sondern Bauern und Tagelöhnern in den Landgemeinden westlich der Elbe zu.8 Die bereits in historischen und soziologischen Untersuchungen seit den 1960er Jahren gestellte Frage nach der Bedeutung vormoderner gesell­ schaftlicher Strukturen für das politische Selbstverständnis einer Bevölke­ rung in einer vielleicht nur äußerlich modernisierten Welt formulierte ein amerikanischer Historiker einmal - angeblich stellvertretend für seine deut­ schen Kollegen - um: »Warum können sich Bauern nicht wie Arbeiter verhalten?«9 In jüngerer Zeit hat die Frühneuzeitforschung den Werten und politischen Motiven der ländlichen Bevölkerung in ihrem Widerstand gegen die Landesherrschaft nachgespürt. Jüngere Studien fordern, den »Charakter der Gemeinde in Deutschland schärfer zu bestimmen«, war sie doch »die wichtigste Form der Vergesellschaftung für die bäuerliche ... Bevölkerung«. Der ländliche Bevölkerung wurden kollektive Werte und Ziele unterstellt, die sich angeblich grundlegend von denen der Obrigkeit und ihrer akademisch geschulten Beamten unterschieden. Die Gemeinde wurde dabei bisweilen zum Modell partizipatorischer Selbstverwaltung von unten und damit zum Gegenpol des Obrigkeitsstaates und seiner Herr­ schaft von oben stilisiert.10 Umgekehrt schwenken einige der jüngeren Interpretationsangebote, die sich die Erklärung des unmittelbar aus sozialen und wirtschaftlichen Fakto­ ren nicht ableitbaren politischen Verhaltens der ländlichen Bevölkerung zum Ziel gesetzt haben, auf den Begriff der Kultur oder des Milieus ein, ohne im einzelnen zu zeigen, wie in der längst institutionell hoch differen­ zierten deutschen Gesellschaft die verschiedenen Institutionen und Funkti­ onsträger zusammenwirkten, so daß schließlich möglicherweise so etwas wie eine besondere »Kultur« entstand.11 In der vorliegenden Studie stehen stattdessen die selektive Rezeption obrigkeitlicher Werthaltungen durch die Gemeinden, die enge Verzahnung der bürokratisch-anstaltlichen 18 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Staatsbildung mit dem dynastischem Patrimonialismus12 in vielen deut­ schen Territorien und die Rückwirkung dieser institutionellen Ausgangsla­ ge auf die sozial differenzierten Gemeinden im Vordergrund. Eine dichotomische Perspektive auf die Obrigkeit, den entstehenden Staat und die gemeindliche Opposition übersieht vier Probleme, die für das Verhältnis von Gemeinde und Landesherrschaft bzw. Staat berücksichtigt werden müssen. Erstens entstand die Landgemeinde nicht unabhängig von der Landesherrschaft, sondern komplementär zu ihr und parallel zur Gene­ se ständischer Vertretungen. Ihre Rechte und Privilegien erhielt sie durch die entstehende Landeshoheit, die sich dadurch für ihre eigenen Zwecke Untertanen schaffen und gegen konkurrierende Gewalten schützen woll­ te.13 Landgemeinde und Landesherrschaft waren daher sowohl potentielle Verbündete gegen andere intermediäre Gewalten als auch potentielle Geg­ ner um Abgaben, Steuern und Nutzungsrechte. Zweitens setzten sich die Gemeinden aus rechtlich und sozial differen­ zierten Personenverbänden zusammen. Jenseits der Nivellierung der Real­ zur modernen politischen Einwohnergemeinde lebten Großbauern und landarme Tagelöhner Seite an Seite, deren Interessen und Lebensperspekti­ ven sich nicht erst im 19. Jahrhundert unterschieden.14 Drittens ist die Rhetorik der gemeindlichen Forderungen gegenüber dem werdenden Staat nicht ohne das Zutun der Juristen und Theologen verständlich, die direkt und indirekt, als Gemeindepfarrer oder als beraten­ de Advokaten in Streitfällen, den Gemeinden zur Seite standen. Formeln wie beispielsweise die vom »Gemeinnutz« dienten sowohl zur Legitimati­ on der Obrigkeit und ihrer Lasten als auch zu deren Bekämpfung. Die Gemeinden unterlegten den Formeln der Pfarrer und Juristen jedoch ihr jeweils eigenes Verständnis und interpretierten sie in ihrem Sinne um.15 Viertens befand sich diese Konstellation zwischen Landgemeinde und Landeshoheit seit dem Ende des 17. Jahrhunderts unter den Druck zu­ nehmend intensiverer Bemühungen der Landesherrschaften um innere und äußere Herrschaftskonsolidierung.16 Diese Herrschaftskonsolidierung mußte von den Gemeinden häufig als ein Aspekt der Erschließung neuer Einnahmequellen durch die Obrigkeit verstanden werden. Gedeckt durch die Friedensverträge von Münster und Osnabrück am Ende des Dreißigjäh­ rigen Krieges bemühten sich die Landeshoheiten um die innere Konsolidie­ rung ihrer Gebiete und um die Vereinheitlichung ihrer Untertanenverbän­ de. Sie taten das auch, um durch die Anwendung und Ausdehnung hoheit­ licher Rechte die Kassen für die vielfältigen Aufgaben und Bedürfnisse der Landesherrschaft zu füllen. Dadurch zwangen sie die Gemeinden, die Legitimität dieser hoheitlichen Rechte, und damit schließlich die frühmo­ derne Staatlichkeit selbst, in der Auseinandersetzung um die hoheitlichen Lasten anzufechten. Bis zum Ende des Alten Reiches blieben Kaiser und 19 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Reich häufig die Institutionen, an die sich die Gemeinden um Unterstüt­ zung gegen die neue intermediären Staatlichkeit und ihre Lasten wandten. Die Mehrheit der kleinen Territorien wurde zwischen dem Ende des Alten Reiches und der Gründung des kleindeutschen Kaiserreiches ein Opfer der territorialen Umgestaltung und Vereinheitlichung von Teilen des deutschsprachigen Mitteleuropas zu einem deutschen Nationalstaat. Die Gemeinden knüpften an diesen Wandel ihre eigenen Hoffnungen auf den Erlaß der Lasten. Sie quittierten die Enttäuschung dieser Hoffnung mit der Suche nach einer neuen übergeordneten Größe, in deren Namen die Lasten des neuen Staates bestritten werden konnten. Bei dieser Suche standen ihnen nach wie vor Theologen und Juristen zur Seite, durch welche die Gemeinden mit den neuen politischen Ideologien des 19. Jahrhunderts bekannt gemacht wurden, ohne ihren Kampf gegen den Staat deshalb aufzugeben.17 Diese Konstellation zeigte sich in besonderer Eindringlichkeit im Fränki­ schen und Oberrheinischen Kreis des Alten Reiches, die Teile des späteren Baden, Franken und Hessen umfaßten. Die Territorien dieser Reichskreise wurden im Zuge von »Tausch, Teilung und Länderschacher« unter wenige verbleibende und selbst dann nicht völlig souveräne Territorialstaaten auf­ geteilt, die schließlich durch Preußen annektiert wurden oder im neuen Kaiserreich aufgingen.18 Der Zeitraum zwischen dem Erbfall der fränki­ schen Markgrafschaften an Hardenbergs Preußen und der Annexion Han­ novers und Kurhessens durch Bismarcks Preußen zwischen 1792 und 1866 stellte nur die Kulmination dieses Prozeßes dar. Vor den Augen der betrof­ fenen Gemeinden rollte die immer direkter zugreifende, durch aufgeklärt­ absolutistische und liberal inspirierte Reformen geprägte innere Konso­ lidierung der Landesherrschaft und die Machtpolitik des dynastischen Fürstenstaates über den Besitzstand und die Privilegien der nachgeordne­ ten Korporationen, auch der Landgemeinden, hinweg. Während die Ge­ meinde als Korporation Meter um Meter an Boden einbüßte, gerieten ihre Einwohner in den Sog des entstehenden und sich partizipatorisch neu legitimierenden deutschen Nationalstaates. Die politischen Konsequenzen der Werthaltungen, die sich in den Gemeinden in der Auseinandersetzung mit den alten Obrigkeiten und unter dem Eindruck der Diskussionen und Begriffe ihrer Amtsträger, der Juristen und Theologen, gebildet hatten, wurden daher zum Erbe des neuen Nationalstaates. Die geraffte zeitliche Abfolge der dynastischen Herrschaftskonsolidierung durch äußere Annexi­ on und innere aufgeklärt-absolutistische Verordnung, der liberalen Reform und der nationalstaatlichen Vergesellschaftung19 besaß auf dem Gebiet des alten Oberrheinischen und Fränkischen Kreises des Alten Reiches,20 dessen alte Landeshoheiten zum großen Teil im Sog dieser Entwicklung völlig untergingen, besonders fließende Übergänge. Bisweilen verliefen diese 20 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

verschiedenen Phasen der Staats- und Gesellschaftsumbildung sogar gleich­ zeitig. Welche Folgen besaß diese Gleichzeitigkeit für das Verhältnis der sozial differenzierten ländlichen Gemeinden zum entstehenden Staat und für die Artikulation der Interessen von Bauern und Tagelöhnern innerhalb der Landgemeinden? Wie veränderten sich die Interessen der Bauern und der Unterschichten gegenüber dem entstehenden Staat, welche Konsequenzen besaß die Bündelung dieser Interessen durch die Landgemeinden und wie beeinflußte der Wandel von Staat und Gesellschaft die Artikulation dieser Interessen durch die Gemeinden? Die Studie fragt im Rahmen der oben skizzierten Ziele zum einen nach der sozialen Dynamik des ländlichen Antietatismus und seiner Verbindung zur sozialen Differenzierung der ländlichen Bevölkerung. Sie fragt zum anderen nach der Bedeutung der Auseinandersetzung von Landgemeinde und Obrigkeit für das Selbstver­ ständnis der Gemeinden, für ihre Rezeption der Werte und Ideen der gebildeten Öffentlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert und für ihr Verhältnis zu Institutionen und Gruppen, die ihrerseits in engem Zusammenhang mit der Obrigkeit standen, nämlich mit der Kirche und den jüdischen Nach­ barn. Sie fragt weiter, in welchem Verhältnis der traditionelle Gemeinde­ protest im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu den wachsenden politischen Partizipationschancen seiner Träger stand und ob das Verhältnis der ländli­ chen Bevölkerung zu den bürgerlichen Beamten, den jüdischen Nachbarn und der Kirche, so wie es sich im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts entwickelte, auch auf ihre politische Haltung Einfluß besaß. Diese Fragen sollen durch die Untersuchung der innerdörflichen Genese von Petitionen, Protesten und Wahlabstimmungen beantwortet werden. Diese Genese wird als ein Element der Politik21 auf dem Dorf, nämlich als Verlaufsprozeß dörflicher Willensbildung verstanden, der im Laufe der Zeit auch ein gewisses Eigengewicht gegenüber den unterschiedlichen Interes­ sen der einzelnen Dorfbewohner gewinnen konnte.22 Diese in die Ausein­ andersetzung von Obrigkeit und Gemeinde eingebettete dörfliche Politik soll in ihren sozial-, landes- und schließlich partei- und vereinsgeschichtli­ chen Bedingungen und Folgen untersucht werden. Sie soll aus den Bezie­ hungen der verschiedenen Gruppen im Dorf zueinander ebenso verstanden werden wie aus ihrem Verhältnis zur Landesherrschaft und zum entstehen­ den Staat, also als sozial nur vermittelt determinierte, vielmehr durch historische landesgeschichtliche Besonderheiten mit langer Wirkung mit­ bestimmte Verlaufsform dörflicher Interessenbestimmung. Der Untersuchung dörflicher Politik liegt kein »bürgerlicher« Politikbe­ griff zu Grunde. Die gemeindliche Willensbildung wurde vielmehr in besonderer Weise durch äußere Sachzwänge, seien es naturräumliche Gege­ benheiten oder herrschaftliche Anforderungen, bestimmt und war insbe21 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

sondere an der Erhaltung oder der Verteidigung einer angemessenen Nahrungsstelle orientiert.23 Sie war daher kaum programmatisch, tendenzi­ ell defensiv und bezog, nicht zuletzt angesichts der Interessengegensätze innerhalb der Gemeinden zwischen Bauern und Landarmut, explizit eher gegen als für etwas Stellung. Während sich die Gesellschaften des deutschsprachigen Mitteleuropas seit dem Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts im Verlauf des »Durchbruchs des Bürgertums« (Eberhard Weis) nationalstaatlich und massenpartizipatorisch reorganisierten, inkorporierten sie zugleich die ver­ schiedenen regionalen ländlichen Gesellschaften mit ihren je eigenen For­ men gemeindlicher Willensbildung und dörflicher Politik. Die Gemeinden übernahmen die neuen Formen politischer Willensbildung selektiv und suchten sie sich nutzbar zu machen. Den Bauern wurde beispielsweise in Kurhessen im Vormärz eine eigene Ständevertretung eingeräumt. Sie nutz­ ten die Revolutionen von 1830 und 1848/49 für ihre Ziele, während die Erweiterung des Wahlrechts zugleich auch den Unterschichten neue Parti­ zipationschancen eröffnete. Die Gewährung des allgemeinen Männerwahl­ rechts im Norddeutschen Bund und später im deutschen Kaiserreich und die Entwicklung konkurrierender Parteien und Vereine leiteten die Ent­ stehung eines »politischen Massenmarktes« (Hans Rosenberg) ein. Der traditionelle Gemeindeprotest erhielt eine Vereins- und parteipolitische Dimension, die durch die wachsende Ungleichzeitigkeit bürgerlicher Inter­ essenpolitik im modernen Partizipationsstaat mit den durch die sozialen und historischen Wurzeln geprägten Traditionen dörflicher Politik geprägt wurde. Eine Geschichte der Entstehung und Wirkung dörflicher Politik aus der Auseinandersetzung zwischen Landgemeinde und entstehendem Staat kann weder wie Eugene Webers Arbeit über die französischen Bauern eine vermeintlich traditionale Gesellschaft zum Ausgangspunkt der Beschrei­ bung ihrer Modernisierung nehmen noch auf »the persistence of the Old Regime«24 insistieren. Die Untersuchung geht stattdessen regionalisierend und periodisierend vor. Der Ausdehnung des Untersuchungszeitraumes und der Wahl der dörflichen Gesellschaft und Politik als Untersuchungs­ gegenstand entspricht erstens die Kleinräumigkeit der Untersuchungsre­ gionen.25 Hessen zählte ebensowenig wie Baden und Franken zu den gewerblichen Führungsregionen Deutschlands. Der Norden gehörte im 18. Jahrhundert zum südlichen Rand der nordwestdeutschen Leinenzone. Das »System der ineinandergreifenden Erwerbstätigkeit« von Nebener­ werbslandwirten auf kleinen Parzellen besaß dort eine lange Tradition, die bis in die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg zurückreichte. Ähnlich wie in anderen Regionen der nordwestdeutschen Leinenzone führte der Zu­ sammenbruch der Leinenfertigung in den 1830er Jahren zur Erweiterung 22

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

der schon im späten 18. Jahrhundert nach Holland zielenden Pendelarbeit. Die Gegend blieb Heimat und Ausgangspunkt der Arbeitskräfte und wurde wie andere ländliche Gebiete ein Arbeitskräftereservoir für die industriali­ sierenden Wachstumsregionen Deutschlands.26 Das Verhältnis zwischen den Gemeinden und der Landgrafschaft Hes­ sen-Kassel, dem Königreich Westfalen, dem Kurfürstentum Hessen und schließlich dem Königreich Preußen wird zweitens zwischen dem späten 17. und dem späten 19. Jahrhundert und damit in einem Zeitraum ver­ folgt, der sich auch für diese Gemeinden als eine Periode ununterbroche­ ner, aber unterschiedlich intensiver Staatsbildung beschreiben läßt. Bereits seit dem Reichsabschied von 1654, dem »Grundgesetz des territorialstaat­ lichen Absolutismus«, vor allem aber im Verlauf des 18. und 19. Jahrhun­ derts wandelte sich der Charakter der Landesherrschaft mit akzelerierender Geschwindigkeit und zeitigte auch Folgen für die Belastungen, Privilegien und Besitzstände der Gemeinden. Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges setzte für die deutsche ländliche Gesellschaft eine Periode noch weiter be­ schleunigten Wandels ein, vor deren Beginn die Untersuchung endet.27 Zur Charakterisierung der sozial- und verfassungsgeschichtlichen Ausgangs­ lage, zur Formulierung weiterführender Fragen und verallgemeinerungsfä­ higer Befunde wird die Sozial- und Verfassungsgeschichte der Auseinander­ setzung von Gemeinde und Obrigkeit in Baden und Franken vergleichend in jedem Abschnitt herangezogen. Dadurch sollen sowohl die sozialge­ schichtlichen Gemeinsamkeiten der hessischen, badischen und fränkischen Gemeinden als auch die durch die unterschiedliche Stärke der jeweiligen Reichsstände und die divergierende konfessionelle Struktur bedingten Di­ vergenzen in der Entwicklung des traditionellen Gemeindeprotestes der süd- und mitteldeutschen ländlichen Bevölkerung herausgearbeitet wer­ den. Die Bedeutung konfessioneller Prägungen für das 19. Jahrhundert ist inzwischen unbestritten. Die genauen Verbindungen und Brüche zwischen der konfessionell mitbestimmten politischen Mobilisierung im 19. Jahr­ hundert und der vorpolitischen Sozialisation der Gemeindemitglieder in­ nerhalb der Dörfer sind aber bisher kaum detailliert untersucht worden. Ein Blick auf die Historiographie der nicht weniger von Brüchen und Veränderungen bewegten Geschichte Englands und Frankreichs zeigt, daß auch dort der Zeitraum zwischen dem späten 17. und dem späten 19. Jahrhundert unter bestimmten Gesichtspunkten als geschlossene Periode untersucht werden kann. In England löste sich die traditionelle Agrarver­ fassung im Verlauf des 17. Jahrhunderts auf. Die englische Krone war bis zu diesem Zeitpunkt im Vergleich mit den adligen Großgrundbesitzern kein bedeutender Landbesitzer mehr. Viele Landgemeinden verloren im Verlauf dieses Prozesses die letzten verbleibenden Klammern kollektiven Han­ delns, die Enclosure kam ein großes Stück voran, die Bevölkerung richtete 23 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

sich in der heraufziehenden Marktgesellschaft ein. Auf dem Land entstand die Trias aus Großgrundbesitzern, Pächtern und Landarbeitern. Zwar blieben Formen des kollektiven Protestes noch lange über die schrittweise Auflösung der traditionellen Agrarverfassung hinaus bis in die 1840er Jahre erhalten. Gleichwohl entstanden vor allem in den von Gütern bestimmten Regionen Südostenglands Landarbeitergewerkschaften. Die politische In­ tegration der ländlichen Bevölkerung vollzog sich im Anschluß an die Wahlrechtsreformen von 1867 und 1884 denn auch nicht mehr kollektiv innerhalb von Gemeinden, sondern orientierte sich zunehmend an Klas­ sengrenzen, die nicht quer zu den Residuen überkommener Herrschafts­ verhältnisse lagen, sondern ihnen entsprachen. Während die Landarbeiter die liberale Partei und schließlich die Labour Party wählten, schlossen sich die Pächter der konservativen Partei an.28 Bedeutend für diese Entwicklung war, daß wohl einzelne englische Regierungen wie in der Debatte um die Com Laws als Opponent bestimm­ ter ländlicher Interessengruppen auftraten, der Staat und seine Rechtsord­ nung aber nicht zum Gegner der ländlichen Gesellschaft insgesamt wurde, sondern im Vergleich zu Deutschland eine neutralere Instanz mit einer größeren Legitimität außerhalb der sozialen Konflikte auf dem Lande blieb. Diese Legitimität verlor der englische Staat daher auch nicht durch seine freihändlerische Haltung in der schweren Agrarkrise seit etwa 1876. Staatliche Legitimität und Leistungen des Staates für Interessengruppen oder zur Verteidigung angemessener Nahrungsstellen waren in der engli­ schen ländlichen Gesellschaft nicht mehr unmittelbar verknüpft.29 In Frankreich bildete der Gegensatz zwischen städtischen Landbesitzern und ländlichen Produzenten, der sich seit dem 17. Jahrhundert entwickel­ te, die Achse für die politische Integration der ländlichen Bevölkerung. Die Französische Revolution bedeutete nicht nur keinen Bruch für diese Kon­ stellation, sondern verschärfte sie sogar noch. Die landbesitzenden Grup­ pen wuchsen zur Schicht der Notabein zusammen, den Pächtern auf dem Lande wurde die Aneignung des Landbesitzes durch den revolutionären Staat aber verwehrt. Die Folge waren fortgesetzte Konflikte zwischen dem französischen Staat, der die Eigentumsinteressen der städtischen Notabein verteidigte, und der ländlichen Bevölkerung. Große Teile der ländlichen Bevölkerung standen fortan in abwartender Haltung zu Staat und Stadt. Bis zu den ländlichen Erhebungen gegen Napoleon III. und bis in das späte 19. Jahrhundert hinein blieb die Integration der ländlichen Bevölkerung in großen Teilen Frankreichs von diesem Stadt-Land-Gegensatz geprägt. Nicht zuletzt die traditionelle Flurverfassung in weiten Teilen des Landes, in der Gemeinland und kollektive Nutzung erhalten geblieben waren, trug zu dieser kollektiven Haltung der ländlichen Bevölkerung gegen die Stadt bei. Der Staat blieb, wenn schon nicht als Gegner der Gemeinden, doch in 24 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

diesen Konflikt eingebunden. Er sah sich schließlich genötigt, die Land­ wirtschaft gegen die ausländische Konkurrenz durch Zölle zu schützen, um seine Legitimität auf dem Lande zu sichern. Die ländliche Gesellschaft geriet nicht zuletzt aufgrund dieses historischen Gegensatzes in den Sog der antiliberalen Kritik an der modernen Gesellschaft, die sich seit den 1880er Jahren in Frankreich entwickelte.30 Weit länger bestimmte in Hessen, Baden und Franken der Gegensatz von Landgemeinden und Obrigkeit das Bild. Wesentlich später als in England, aber auch später als in Frankreich wurden in den meisten ländlichen Gebieten westlich der Elbe die zwei Phasen der Agrarreform, die Ablösung der Dienste und Abgaben und die Auflösung der grundherrschaftlichen Verhältnisse, vollendet. Die Verkopplung der Felder und die Teilung und Privatisierung der dörflichen Gemeinheiten wurden häufig erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts beendet. Kollektive Berechtigungen erhielten sich bis ins 20. Jahrhundert und bildeten eine Existenzgrundlage für die ländlichen Pendelarbeiter, die zwar in der entstehenden Industrie arbeiteten, aber weiter auf dem Lande lebten. Die Konflikte zwischen dem Erben der grundherrlichen Ansprüche der alten patrimonialen Landesherrschaften, dem entstehenden Staat und den Landgemeinden um Ablösungsmodalitä­ ten und Bodennutzung zogen sich bis weit in das 19. Jahrhundert hin.31 Ob es die nur knapp skizzierten Elemente einer historischen und sozialen Kontinuität des traditionellen Gemeindeprotestes tatsächlich erlauben, die­ sen als Teil der Ungleichzeitigkeiten der deutschen Geschichte im allgemei­ nen und dörflicher und bürgerlicher Politik im besonderen im 18. und 19. Jahrhundert zu begreifen, wird die Untersuchung erweisen. Längsschnittstudien sind in der Geschichtswissenschaft keine Besonder­ heit. Aber in der Regel sind die gewählten Zeiträume kürzer und anders gewählt als im vorliegenden Fall. Die Zurückhaltung der Forschung beim Sprung in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts liegt nicht zuletzt in Annahmen der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte über den tiefen Bruch in der ländlichen Gesellschaft infolge der Agrarreformen und der Industriellen Revolution begründet, auf die im ersten Kapitel ausführlich eingegangen wird.32 Indem im Verlauf der Untersuchung nach der Lebenswirklichkeit in den Gemeinden, nach der Ausbildung sozialer Klassen aus Bauern und Unterschicht, nach der Qualität der dörflichen Politik zwischen Bauern und Unterschicht und nach dem Verhältnis beider Gruppen zur Obrigkeit gefragt wird, sollen Probleme im Mittelpunkt stehen, die sich ungeachtet des Wandels von Gesellschaft und Wirtschaft im behandelten Zeitraum durchgehend untersuchen lassen. Diese Fragen zielen alle auf die Willensbildung innerhalb der Landge­ meinden unter dem Druck innerer sozialer Differenzierung und äußerer Konflikte mit der Obrigkeit und dem entstehenden Staat. Den ersten 25 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Schritt bildet im ersten Kapitel die Untersuchung der Folgen regionaler Vergewerblichung und Industrialisierung für die Erwerbsmöglichkeiten der ländlichen Unterschichten und für die soziale Differenzierung in den Landgemeinden. Dabei wird auch danach gefragt werden, ob die ver­ schiedenen bäuerlichen und landarmen Gruppen mit ihren unterschiedli­ chen Belastungen zu Besitz- und Erwerbsklassen zusammenwuchsen. Die Beschäftigung mit den Folgen der sozialen Differenzierung und unter­ schiedlichen rechtlichen Privilegierung der Gemeindebewohner wird sich deswegen nicht auf die Analyse von Konnubium, sozialer Mobilität und Besitzgrößenklassen beschränken. Vielmehr wird das erste Kapitel auch nach den Folgen dieser Differenzierung für die Interessenprägung von Bauern und Unterschichten in den Gemeinden fragen. Der Begriff der Lebenswirklichkeit zielt zu diesem Zweck auf keine histoire totale, sondern nur selektiv auf diejenigen Lebensbereiche, an denen diese Folgen exem­ plarisch untersucht werden können, weil sie zu Konflikten in der dörflichen Öffentlichkeit führten oder diese strukturierten. Zur Lebenswirklichkeit auf dem Dorfe zählten in diesem Sinne das gemeinsame oder getrennte Wohnen von Bauern und Unterschichten, die nichtagrarische Beschäfti­ gung und die Verschuldung der Unterschichten sowie die innerdörflichen Konflikte um das Armenrecht und die Gemeindeländereien. Das gemein­ same oder getrennte Wohnen strukturierte die dörfliche Öffentlichkeit, weil die Unterschichten in unterschiedlichem Maße unter die Kontrolle bäuerlicher Vermieter gerieten. Die gewerblichen Beschäftigungsmög­ lichkeiten und die Verschuldung bestimmten in beträchtlichem Maße den Handlungsspielraum der Unterschichten. Die Konflikte um die dörfli­ chen Ressourcen waren von existentieller Bedeutung für die Landarmen im Falle von Krankheit und Alter. Sie erlauben über die statistische Bestim­ mung sozialer Klassen hinaus die Untersuchung der Natur der sozialen Beziehungen. Die untersuchten Gemeinden werden überdies in Gemein­ detypen eingeteilt, in denen die Bauern und die Unterschichten aufgrund ihres Landbesitzes und ihrer Anzahl unterschiedlich viel Einfluß besaßen und in denen sich ihre Beziehungen untereinander unterschiedlich gestal­ teten.33 Erst im Anschluß daran kann im zweiten Kapitel die dörfliche Politik analysiert werden. Dörfliche Politik wird als Einigungsprozeß der Bauern und der Unterschichten auf ein gemeinsames Verhalten gegenüber der Landesherrschaft bzw. dem Staat und seinen Repräsentanten verstanden. Sie läßt sich als Verschmelzung und Vereinheitlichung von drei verschiede­ nen Bausteinen der Interessen im Dorf beschreiben. Individuelle und möglicherweise wegen der dörflichen Machtverhältnisse geheim gehaltene Wünsche und Ressentiments bildeten den ersten, häufig nur indirekt ermit­ telbaren Baustein. Diejenigen Ziele, die demgegenüber innerhalb der Ge26 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

meinde öffentlich von einzelnen Gruppen vertreten wurden, lassen sich häufig den herangezogenen Quellenbeständen entnehmen. Diese ersten beiden Bausteine werden bereits im Verlauf des ersten Kapitels auf der Grundlage der Untersuchung der sozialen Klassen in den Gemeinden und ihrer Konflikte um Armenrecht und Gemeindeland erörtert. Die häufig kollektive Werthaltung und gemeinsame Option der gesamten Gemeinde in der Auseinandersetzung mit der Landesherrschaft oder dem Staat läßt sich dann drittens ihrerseits als eine Folge von Kompromissen verstehen, die im zweiten Kapitel verfolgt werden. Je nach Gemeindetyp unterlagen diese Kompromisse vermutlich unterschiedlichen Bedingungen. Deshalb wird ihr Ergebnis immer auf den jeweiligen Gemeindetyp bezogen. Auch der sich wandelnde Einfluß von Bauern und Unterschichten auf die Ge­ meindebelange wird berücksichtigt. Das Ergebnis dieser Meinungsbildung kann die Petition an den Landesherren, der gemeinschaftliche nächtliche Angriff auf einen Amtsträger, der Sturm auf ein Rentamt, die Wahl einer politischen Partei oder der Beitritt zu einem Verein sein. Diese Vielfalt von Ergebnissen dörflicher Politik im Verlauf des Untersuchungszeitraumes stellt zunächst ein Problem für die Darstellung und die Konzeption dar, da Formen traditionellen sozialen Protests und moderner politischer Partizi­ pation in der Forschung zu Recht unterschieden werden. Sofern sie sich aber auf ein gemeinsames Ziel zubewegen, schließen auch gängige Defini­ tionen ländlichen Protests sowohl traditionelle gewalttätige als auch schein­ bar moderne Formen der politischen Partizipation ein. Das erscheint vor allem dann zulässig, wenn der Beitritt zu einem Verein oder die Wahl einer Partei nachweislich nur ein Wandel in der Wahl erfolgversprechenderer Mittel zur Erreichung der gleichen Ziele wären. Überdies hat die jüngere Forschung auf die Kontinuität der frühneuzeitlichen Supplikation zur Petition des 19. Jahrhunderts hingewiesen. Dieser Artikulationsweg dörfli­ cher Politik überdauerte das 18. Jahrhundert. Daher bilden Beschwerden und Petitionen einen zentralen Quellenbestand.34 Die Erforschung der politischen Mobilisierung sozial differenzierter ländlicher Gemeinwesen schließt an die bereits bestehenden Forschungen zur kollektiven Haltung ländlicher Gemeinden als »Aufstand der Unglei­ chen« an.35 Die Befragung der Petitionen und Äußerungen der Gemeinden auf Topoi gemeindlicher Mobilisierung sucht nach einem Ensemble von Partizipationsforderungen und Feindbildern, die weder in sich konsistent noch mit den Interessen der verschiedenen dörflichen Gruppen langfristig vereinbar zu sein brauchten, weil sie sich angesichts des Handlungsspielrau­ mes gegenüber der Obrigkeit nicht als tatsächlich praktikabel erweisen mußten.36 Möglicherweise verdichteten sich solche Topoi in einer Weise, an die einerseits die unterschiedlichen Werthaltungen und Ziele der dörflichen Besitz- und Erwerbsklassen und andererseits die Losungen Gebildeter © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

27

außerhalb der dörflichen Welt unterschiedlich Anschluß finden konnten und derer sich die im 19. Jahrhundert verfestigenden politischen Richtun­ gen auf dem Lande unterschiedlich gut zu bedienen verstanden.37 Für das Verhältnis von Landgemeinde und Obrigkeit ist den Zuständen in den deutschen Kleinstaaten westlich der Elbe besondere Aufmerksam­ keit zu schenken. Häufig war der Landesherr zugleich auch der bedeutend­ ste Grundherr. Trotz der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts anlaufenden Reformen zur Trennung von Verwaltung und Jurisdiktion und den Agrar­ reformen des 19. Jahrhunderts blieben gerade mit Hinblick auf die landes­ herrlichen Forsten, deren Nutzung zwischen Obrigkeit und Gemeinden bis ins frühe 20. Jahrhundert vielfach umstritten war, Obrigkeit und Gemein­ den Interessengegner. Die langanhaltende Verknüpfung von Herrschafts­ und Besitzrechten im Rahmen der traditionellen Grundherrschaft und ihre Perpetuierung in der staatlichen Forstverwaltung über 1848 hinaus ließen die Vertreter der Obrigkeit möglicherweise nie zu Repräsentanten einer neutralen Schlichtungsinstanz für die ländliche Gesellschaft werden, und das umso weniger, als diese Vertreter zum Teil zugleich Mitglieder des landsässigen Adels waren. Es ist zu untersuchen, ob sich diese zwiespältige Wahrnehmung des entstehenden Staates, in der zwischen dem ›gutem Herrschen und dem ›bösen Beamtem unterschieden wurde, nach 1848 wirklich änderte. Der Legitimitätsverlust staatlicher Ordnung bei der länd­ lichen Bevölkerung im Gefolge der staatlichen Zwangsbewirtschaftungs­ maßnahmen im Ersten Weltkrieg liegt zwar außerhalb des Untersuchungs­ zeitraumes, stellt aber eines der Probleme des Verhältnisses von Land und Politik seit 1914 dar, nach deren Voraussetzungen diese Untersuchung fragt.38 Je brüchiger sich die Obrigkeit und ihre Legitimität auf Ortsebene aber tatsächlich darstellten, desto schwächer blieben möglicherweise nicht nur die Konsequenzen der regulierenden Maßnahmen des Staates, sondern desto mehr muß das Verhältnis zwischen der ländlichen Bevölkerung und anderen Institutionen und Gruppen der Gesellschaft auch danach beurteilt werden, in welchem Verhältnis sie zu diesem Konflikt zwischen Staat und ländlicher Gesellschaft standen. Dieser Frage soll im zweiten Kapitel an Hand der Beziehungen der Gemeinden zur Kirche, zu den landesherrli­ chen Schutzjuden bzw. den jüdischen Gemeinden auf dem Lande, zu den Kriegervereinen und im dritten Kapitel zu der vormärzlichen Verfassungs­ bewegung und zu den entstehenden politischen Parteien nachgegangen werden. Das Verhältnis zwischen der ländlichen Bevölkerung und den Beamten, Pfarrern, Lehrern, schließlich aber auch zu den Vereinen und politischen Parteien wird durch die Kirchen-, Parteien-, Verwaltungs- und Schulgeschichte häufig als mehr oder minder erfolgreiche Beeinflussung, Indoktrination oder Manipulation beschrieben. In jüngerer Zeit ist dieser 28 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Konzeption vorgeworfen worden, den Einfluß der Obrigkeit, des Staates und der Partei zu überschätzen.39 Stattdessen rückte die verhaltensbestim­ mende Kraft religiöser Überzeugungen und religiösen Wandels in den Vordergrund. Die Disziplinierung und Sozialisation englischer Landarbei­ ter durch protestantische Sekten, die den ländlichen Unterschichten den Alkohol nahmen und ihnen religiös-politische Zielvorstellungen und deren rhetorische Vermittlung nahe brachten, waren eine Voraussetzung der politischen Emanzipation der Landarbeiter von den Pächtern und von der Beeinflussung durch die Großgrundbesitzer und daher auch eine Voraus­ setzung der im engen Zusammenhang mit den Sekten entstehenden Ge­ werkschaftsbewegung auf dem Lande. Der Erfolg des Nonkonformismus bei den Landarbeitern beruhte jedoch ebenso sehr auf seiner politischen Stellungnahme gegenüber den Pächtern und den Gutsbesitzern. Im Ver­ lauf der Untersuchung wird sich auch die Frage stellen, ob nicht vergleich­ bare Prozesse der Sozialisation in der deutschen ländlichen Gesellschaft aufgrund der problematischen Legitimität der Landesherrschaften und ihrer Landeskirchen brüchig blieben, ja traditionelle Formen dörflicher Geselligkeit sogar noch ermutigten, weil diese in den Gemeinden durch den Druck der staatlichen Funktionsträger zusätzliche Legitimität gewan­ nen. Deswegen wird die selektive Rezeption der Werthaltungen und Iden­ tifikationsangebote der Kirche und der Vereine und Parteien besonders berücksichtigt werden.40 Die Studie umfaßt dadurch im zweiten Kapitel insbesondere Aspekte der Erforschung des Widerstandes ländlicher Gemeinden gegen ihre Obrigkeit, aber auch der Kirchen- und Antisemitismusforschung, auf die im einzelnen in den jeweiligen Abschnitten eingegangen wird. Am Beispiel der Antisemi­ tismusforschung soll jedoch schon hier der epochenübergreifende Charak­ ter der Studie erläutert und vermutet werden, welche Folgen für das jüdisch-christliche Verhältnis die Auseinandersetzung zwischen Landge­ meinde und Obrigkeit seit der frühen Neuzeit gehabt haben könnte. Der traditionelle Gemeindeprotest richtete sich vor allem im Vormärz häufig auch gegen Juden. Aber darüber hinaus bedienten sich noch im Kaiserreich nahezu alle politischen Strömungen, die um die ländlichen Wähler warben, mehr oder minder offen antijüdischer Parolen.41 In der Antisemitismus­ forschung wird zwischen christlichem Antijudaismus und rassistischem Antisemitismus chronologisch und analytisch unterschieden. Diese Unter­ scheidung ließ sich mit Annahmen über die Säkularisierung der Gesamtge­ sellschaft verbinden.42 So gewinnbringend diese erste Differenzierung auch war, spricht doch viel dafür, daß die antijüdischen Ressentiments auf dem Lande weder der einen noch der anderen Form historisch zuzurechnen sind, nicht zuletzt deshalb, weil sich diese Unterscheidung wohl analytisch, kaum aber chronologisch-historisch halten läßt. Die offizielle katholische 29 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Kirche tolerierte die jüdische Glaubensgruppe im Sinn eines Übels, das es zu dulden gelte, und knüpfte an die Ablehnung der jüdischen Ketzer keine Vernichtungsdrohungen. Die Spätmittelalter- und Frühneuzeitforschung weist jedoch darauf hin, daß diese im engeren Sinne religiös begründete Position gegenüber den Juden von Klerikern wie Laien bereits in der Frühen Neuzeit in einer Weise verändert wurde, deren Resultat weder ausschließlich religiös noch bereits von modernen Rassevorstellungen ge­ prägt war. Solche Haltungen repräsentierten keinen modernen Rassismus, reichten jedoch bis in das 19. Jahrhundert hinein.43 Ein Blick auf die Terminologie der Forschung bestätigt die Probleme einer zu scharfen chronologischen Abgrenzung. Das gilt für den terminus technicus »Frühantisemitismus« zur Charakterisierung der antijüdischen Krawalle und Meinungsäußerungen des Vormärz.44 Umgekehrt ist der Charakter des politischen Antisemitismus im Kaiserreich umstritten. Der Begründer des Begriffs, Wilhelm Marr, blieb ohne Einfluß auf den politi­ schen Antisemitismus der Zeit. Die Antisemitenliga ebenso wie andere antisemitische Partei- und Vereinsgründungen grenzten sich keineswegs von religiösen Ressentiments ab, für antisemitische Führer wie Stöcker spielten zunächst christlich verstandene Ressentiments womöglich eine bedeutendere Rolle als genuin rassistische Vorurteile. Das Verhältnis zwi­ schen der Radikalisierung des politischen Antisemitismus zum Rasseantise­ mitismus im Kaiserreich und den möglichen antijüdischen Ressentiments ländlicher Wähler ist erst noch zu klären. Möglicherweise ist hier zwischen einer zunehmend rassistischen Integrationsideologie der kleinen Gruppe der Parteimitglieder im engeren Sinne und diffusen, religiöse und ethnische Vorurteile vermengenden Ressentiments bei der ländlichen Bevölkerung scharf zu unterscheiden. Noch die Nationalsozialisten druckten jedenfalls Luthers Stellungnahmen über die »Juden und ihre Lügen«, während das Stichwort Antisemitismus im »Handbuch zur Judenfrage« durch den Be­ griff »Judengegnerschaft« ersetzt werden sollte.45 Angesichts der Überlagerungen zwischen religiösen, ethnischen, sozia­ len und wirtschaftlichen Ressentiments wird jede Beschäftigung mit antijü­ dischen Ressentiments mehrere Elemente zugleich berücksichtigen müs­ sen. Die Forschung zur ländlichen Gesellschaft zwischen dem späten 17. und späten 19. Jahrhundert beschäftigt sich einerseits mit den religiösen Wurzeln antijüdischer Ressentiments und spekuliert andererseits über wirt­ schaftliche, insbesondere die Geld- und Handelsgeschäfte ländlicher Juden betreffende Motive. Eine Detailstudie einer ländlichen Region kann hier im einzelnen nachspüren, welche Bedeutung diesen beiden vermuteten Wur­ zeln tatsächlich zukommt. Neben dieser Kontrollfunktion der Studie wird aber die Bedeutung antijüdischer Ressentiments für die antietatistische Dimension des traditionellen Gemeindeprotestes im Mittelpunkt stehen. 30

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Antijüdische Ressentiments waren ein Aspekt der Auseinandersetzung zwi­ schen Obrigkeit und Gemeinde. Die »jahrhundertealte Konstellation zwi­ schen politischer Macht oder Staatsmacht und Juden« zog den »Gegensatz aller Gruppen, die mit der Staatsmacht in Konflikt geraten, zunächst zu den im Dienste der Staatsmacht befindlichen und schließlich - in einer ersten und fundamentalen Verzerrung- mit den Juden überhaupt nach sich«. Die Untersuchung wird sich daher dem Verhältnis von zwei Wurzeln antijüdi­ scher Aspekte des ländlichen Antietatismus zuwenden. Einerseits mochten solche Aspekte Teile der Ideologien unterschiedlicher Gruppierungen sein, denen sich die Gemeinden für kurz oder lang anschlossen, um Opposition gegen den Staat zu machen, wie das ein Berichterstatter des »Vereins für Socialpolitik« aus dem Kreis Frankenberg, einem Teil des Untersuchungs­ gebietes, noch 1892 vermutete.46 Andererseits mochten sich aufgrund der Vielzahl möglicher wirtschaftlicher oder religiöser Motive antijüdische Ressentiments jenseits ihres antiobrigkeitlichen Ursprungs zu einer Orien­ tierungshilfe der ländlichen Bevölkerung bei der Bewertung gesellschaftli­ chen Wandels insgesamt verdichten, die von jeder kommenden Generation, schließlich auch weitgehend unabhängig von den ihr ursprünglich zu Grunde liegenden Konflikten, weitergegeben wurde, so lange der traditio­ nelle Gemeindeprotest nicht in seine sozialen Teilgruppen zerfiel.47 Die Entstehung und Tradierung der vielfältigen Funktionen antijüdischer Res­ sentiments soll durch die historische Genese dieser Funktionen erklärt werden.48 Nach der Erörterung des Verhältnisses zwischen ländlicher Bevölkerung und Obrigkeit, Kirche, jüdischen Nachbarn und Vereinen läßt sich im dritten und letzten Kapitel fragen, welche Vorentscheidungen durch diese Konstellation für die politische Willensbildung der ländlichen Bevölkerung im engeren Sinne gefallen waren und wie sie sich auf die Stellung der ländlichen Bevölkerung im entstehenden Parteiensystem des 19. Jahrhun­ derts auswirkten. Auch die jüngere parteigeschichtliche Forschung konze­ diert den eigenständigen Charakter der ländlichen Willensbildung im Kai­ serreich, der den Konservativen und dem Zentrum häufig zu populistisch, der Sozialdemokratie und den Liberalen jedoch zu konservativ war und der quer zu den parteipolitischen und gesellschaftlichen Konflikten Deutsch­ lands im 19. Jahrhundert zu liegen schien. Möglicherweise ergaben sich aus der Klassenbildung innerhalb der ländlichen Gesellschaft und der Auseinan­ dersetzung mit dem Staat und den von diesem Konflikt betroffenen ande­ ren Institutionen bestimmte Anforderungen an das Profil diejenigen Par­ teien, die sich zu Anwälten des Landes machen wollten. Die Tatsache, daß antisemitische Protestparteien in den Kreisen, zu den zwölf der dreizehn näher untersuchten Gemeinden zählten, bereits im Kaiserreich Wahlerfolge feierten und daß diese Kreise in den frühen 1930er Jahren zu den zehn 31 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Kreisen mit den höchsten Anteilen nationalsozialistischer Wähler im Deut­ schen Reich zählten, darf bei der Untersuchung des Verhältnisses von dörflicher Politik und modernen Parteien nicht zu einer teleologischen Verzerrung der Untersuchung führen.49 Es ermöglicht aber, wiederum im Vergleich mit ganz Nordhessen, Baden und Franken, der Frage nach den Wurzeln - oder dem Fehlen solcher Wurzeln - dieser politischen Mobilisier­ barkeit der ländlichen Bevölkerung für die entstehende radikale Rechte nachzugehen. Die Verknüpfung einer prosopographisch angelegten Detailstudie einzel­ ner Gemeinden mit der Sozialgeschichte der gesamten ländlichen Gesell­ schaft Hessen-Kassels/Kurhessens, Badens und Franken fußt einerseits auf den Katastern, Steuerlisten und kirchlichen wie weltlichen Untersuchungs­ protokollen vor allem des hessischen Staatsarchivs Marburg. Die prosopo­ graphische Verknüpfung dieser Quellen gestattet sowohl Einsicht in die Spannungen im Ort als auch in die Gründe, Wege und Formen, durch die sie trotz solcher Spannungen den Weg zu einer einheitlichen Haltung gegenüber der äußeren Welt in der Regel fanden. Das soll durch die prosopographische Analyse dörflicher Konflikte mit landesherrlichen bzw. staatlichen Funktionsträgern geschehen. Die dörfliche Politik bestand schließlich aus der Einbindung unterschiedlicher vorpolitischer Haltungen, die ihrerseits in den unterschiedlichen sozialen Lagen von Bauern und Tagelöhnern wurzelten. Die prosopographische Rekonstruktion von Kon­ fliktfällen mit der Obrigkeit erlaubt es, solche vorpolitischen Meinungen vom Ergebnis innergemeindlicher Mobilisierung, der kollektiven - oder nicht kollektiven - Haltung nach außen abzugrenzen. Werthaltungen und materielle Interessen einzelner Dorfbewohner oder dörflicher Besitz- bzw. Erwerbsklassen, Kompromisse innerhalb der dörflichen Gesellschaft zwi­ schen diesen verschiedenen Zielen und Werthaltungen, und die Wahl einer geeigneten Artikulation dieses Kompromisses durch die Gemeinden bzw. das Scheitern solcher Kompromisse lassen sich so nachvollziehen. Zu diesem Zweck werden im zweiten und dritten Kapitel Petitionen und andere Formen der dörflichen Meinungsäußerung darauf befragt, von welchem Teil der dörflichen Bevölkerung sie stammen oder ob sie von mehreren Gruppen im Dorf getragen wurden. Die dörfliche Bevölkerung wird dazu, den Befunden des ersten Kapitels entsprechend, in vier Gruppen eingeteilt, nämlich in Bauern, Kleinbauern, Parzellisten und Tagelöhner, die sich in erster Linie an Hand ihres Landbesitzes, ihrer Beschäftigung und ihres Viehbesitzes bestimmen lassen. Die prosopographische Verknüpfung der Kataster, Hintersassenlisten, Mannschaftslisten, Steuerlisten usw. mit den Untersuchungsprotokollen erlaubt es, die ländlichen Auseinanderset­ zungen mit der Landesherrschaft oder dem Staat weniger als Ergebnisse des polaren Gegensatzes von Bauer und Herrschaft, mehr als Folge der Prozes32 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

se der Meinungsbildung zwischen Tagelöhnern, Parzellisten, Kleinbauern und Bauern unter dem Druck herrschaftlicher Forderungen zu begreifen. Vereinfacht gesagt wird von einem Konfliktdreieck zwischen Bauern, Tage­ löhnern und Herrschaft ausgegangen. Nicht nur Bauern und Tagelöhner, sondern auch Bauern und Herrschaft mochten gegen die Unterschichten, Herrschaft und Tagelöhner mochten gegen die Bauern kooperieren. Der Rekonstruktion solcher Konflikte wird die Auswertung von dörflich-herr­ schaftlichen Streitfällen, Petitionen, Kleinkriminalität und Wahldaten ange­ gliedert. Daneben werden auch Berichte der Beamten, Pfarrer, Landräte, später auch die Informationen aus der Kreiszeitung und aus Lebenserinne­ rungen ausgewertet.50 Diese Untersuchungen betreffen Gemeinden in ganz Nordhessen. Daneben treten für die dreizehn Kerngemeinden der Untersuchung Auswertungen von Familienrekonstitutionen im Hinblick auf Konnubium, Mobilität, Demographie, aber auch Krankheitsanfälligkeit und Sozialverhalten, die in den 1950er Jahren publiziert wurden. Akten aus dem Bundesarchiv, Nebenstelle Potsdam, dem Brandenburgischen Landes­ archiv und insbesondere den Landratsämtern und den Mittleren Kirchen­ behörden des Hessischen Staatsarchiv Marburg informieren über die Tätig­ keit von Parteien und Vereinen, deren Mitgliedschaft und die Wahlkämpfe im Untersuchungsgebiet. Die Lebenserinnerungen ehemaliger Landjuden, denen die Flucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung gelang, geben ebenso wie die Pfarrchroniken der evangelischen Kirche wichtige Einblicke in die christlich-jüdischen Beziehungen in den Gemeinden. Dabei wird der Untersuchungszeitraum durch die Wende vom 17. zum 18. und vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht scharf eingegrenzt. Die dieser Untersuchung zu Grunde liegende Konstellation zwischen der korporativ verfaßten Landge­ meinde und der Obrigkeit nahm jedoch erst seit dem Dreißigjährigen Krieg ihre dann gültige Gestalt an und zerfiel während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.51 Die vergleichende und systematische Perspektive auf Nordhessen, Baden und Franken bzw. auf Teile des Fränkischen und Oberrheinischen Reichs­ kreises stützt sich auf die Auswertung der umfangreichen landesgeschicht­ lichen Literatur und damit auf die inzwischen vorliegende Vielzahl lokaler und regionaler Studien, ohne welche die vorliegende nicht denkbar wäre. Nur weil die Sozialgeschichte52 der hessischen ländlichen Gesellschaft und ihrer Wahlkreise durch zahlreiche neuere Studien so detailliert untersucht worden ist, lassen sich die Ergebnisse zu den einzelnen Gemeinden mit anderen Fallstudien vergleichen und in die nordhessische Entwicklung einordnen. Außer den hervorragenden und im engeren Sinne sozialge­ schichtlichen Arbeiten von Taylor, Fox, Thebault und Munter kann sich die Geschichte dieser Region beispielsweise auf die jüngeren Arbeiten von Seier, Speitkamp und Klein stützen.53 Gleiches gilt für die Bedeutung der 33 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

fränkischen und oberrheinischen Landesgeschichte. Ohne diese moderne Landesgeschichte wäre die vorliegende Studie nicht möglich. Das gilt auch für das erste Kapitel, in dem auf der Basis der Untersuchung von Bevölkerungsbewegung, sozialer Schichtung, Betriebsgrößengruppen­ verteilung, Haushaltsgröße, Konnubium, Armenversorgung, Wohnen und Mieten versucht wird, die Kontinuitäten gegenüber den Brüchen in der Sozialgeschichte der ländlichen Gemeinden im 18. und 19. Jahrhundert abzuwägen und sie in Typen unterschiedlich scharfer sozialer Differenzie­ rung und bäuerlicher Dominanz einzuteilen. Bevor sich die Darstellung mit der Auseinandersetzung der Gemeinden mit ihrer Obrigkeit und den Folgen dieser Auseinandersetzung für das schließlich politische Verhalten der ländlichen Bevölkerung widmen kann, ist hier die sozialgeschichtliche Grundlage für die weitere Erörterung zu schaffen. Dem wenden wir uns zunächst zu.

34 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

1. Kapitel: Die soziale Dimension des traditionellen Gemeindeprotestes

Durchschnittlich über die Hälfte der Haushaltsvorstände der kleinen länd­ lichen Gemeinden mit weniger als zweitausend Einwohnern waren um die Wende zum 20. Jahrhundert Arbeiter. Für die Beobachter des späten 19. Jahrhunderts war die Landarmut ein Ergebnis der Industrialisierung und der Modernisierung der Landwirtschaft. Tatsächlich lebten auf dem Lande wenigstens seit dem Spätmittelalter Landarme von abhängiger agrarischer, von gewerblicher Arbeit und von Wanderarbeit. Durch die Bevölkerungs­ zunahme des 16. Jahrhunderts schwoll auch in Hessen die Landarmut an. Ihre Zahl schwankte im Zeitverlauf und von Ort zu Ort, sie nahm seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts jedoch mit unterschiedlicher Ge­ schwindigkeit in den meisten Gebieten Badens, Frankens und Hessen zu.1 In diesem Kapitel wird die Bedeutung dieser Unterschichten und ihres Verhältnisses zu den Bauern für die Landgemeinde und das Verhalten der ländlichen Bevölkerung insgesamt untersucht. An Hand der dreizehn hessischen Gemeinden zwischen Eder und Werra kann exemplarisch Um­ rang, Lage und Abhängigkeit der ländlichen Unterschichten von den Bauern als Charakteristikum bestimmter Typen ländlicher Gemeinden im 18. und 19. Jahrhundert bestimmt werden. Dabei wird sowohl die Frage der Bildung sozialer Klassen (1.2.) und die Bedeutung der Landgemeinde für Bauern und Unterschichten erörtert werden (1.3.). Diese Aspekte konstituieren gemeinsam die soziale Dimension des traditionellen Gemein­ deprotestes. Aus der Fülle der landesgeschichtlichen Literatur läßt sich die These vertreten, daß in den fränkischen, badischen und hessischen Landgemein­ den bereits im 17. Jahrhundert zu einem beträchtlichen Anteil Unter­ schichten lebten, die sich mit einem agrarisch-gewerblichen Mischein­ kommen mehr schlecht als recht durchschlugen.2 Die Folgen von Indu­ strialisierung und Agrarreformen blieben bis ins späte 19. Jahrhundert begrenzter als in agrarischen Führungsregionen wie der Magdeburger Börde. Die Landgrafschaft Hessen-Kassel (seit 1803 Kurfürstentum), zu dessen 1821 entstandener Provinz Oberhessen die ehemalige Grafschaft Ziegenhain mit der Mehrheit der unten genauer untersuchten Samplege 35 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

meinden zählte, ist ein besonders deutliches Beispiel für die Beharrungs­ kraft, die Landgemeinde und traditionelle Dreifelderwirtschaft bis in das 19. Jahrhundert besitzen konnten. Die Landwirtschaft war aufgrund der naturräumlichen Gegebenheiten in den bewaldeten Mittelgebirgsgegen­ den schon im 16. Jahrhundert nicht mehr in der Lage gewesen, die gesamte Bevölkerung zu versorgen. Rund neun Zehntel der Bauern lebten in den landesherrlichen Ämtern. Die wenigen Äcker in direktem Besitz des Lan­ desherrn und des Adels lagen im Gemenge mit dem bäuerlichen Land und wurden in der Regel verpachtet. Wirklich bedeutendes adliges oder landes­ herrliches Eigenland bestand an den Forsten, die 40% der Fläche des Landes bedeckten und als Waldweide und Holzreservoir eine zentrale Bedeutung für die ländliche Bevölkerung besaßen.3 Nach der Rückkehr des hessischen Kurfürsten aus dem Prager Exil, in das er nach der Eroberung Kurhessens durch französische Truppen und der Eingliederung des Landes in das napoleonische Königreich Westfalen (1807-13) geflohen war, gelang in den Verfassungsverhandlungen zwischen 1814 und 1819 kein Durch­ bruch zu tiefgreifenden Reformen. Die in der westfälischen Zeit in Angriff genommene Ablösung kam schon wegen der halbherzigen Differenzierung zwischen feudalen Abgaben und solchen Lasten, die sich aus dem adligen bzw. landesherrlichen Obereigentum ergaben, nicht recht voran, und das Gleiche gilt für die steckengebliebenen Agrarreformpläne von 1813-15. Wohl blieb es bei der Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit, aber die Umwandlung der bäuerlichen Real- in eine Staatsbürgergemeinde wurde zurückgenommen. Auch die Ablösung der Dienste verlief bis zu den Unruhen von 1848 schleppend.4 Die Verkoppelung in den Landgemein­ den, in denen 1861 49,4% und sogar 1925 noch 40,9% der hessischen Bevölkerung lebten, ging auch in der zweiten Jahrhunderthälfte nur schleppend voran. Bis 1901 waren nur 603 von 1391 Gemeinden verkop­ pelt (43,3%), bis 1920 nur rund 77% der landwirtschaftlichen Nutzfläche im Regierungsbezirk Kassel, im Kreis Fulda nur 62%, in Frankenberg 55%, in Hünfeld 60%, und im Kreis Ziegenhain sogar nur 36%. Die Ablösung der Servituten zog sich mit zahlreichen Rechtsstreitigkeiten in einzelnen Fällen bis in den Beginn des 20. Jahrhunderts hin. Die überragende Bedeutung der Wälder als Brennholzreservoir vor allem für die Unterschicht blieb ebenfalls bestehen. Die Rechtsstreitigkeiten um die Teilung der Gemeinde­ wälder zogen sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hin.5 Die ungebrochene Bedeutung der Landgemeinde und ihrer Gemeinde ländereien und -forsten für die gesamte ländliche Bevölkerung darf jedoch nicht über zwei einschneidende Veränderung in der ländlichen Welt hin­ wegtäuschen. Die eine Veränderung ist die enorme Steigerung der Lasten der Obrigkeit seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die sich bis in die Erhöhung der Steuerlast nach der preußischen Annexion fortsetzte und 36 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

mit der wir uns im zweiten Kapitel beschäftigen.6 Die andere Veränderung ist die Zunahme der Landarmut, die bereits bis zu dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts einen festen Platz in den Gemeinden besaß. Ihre Bedeu­ tung stellte sich jedoch von Gemeindetyp zu Gemeindetyp unterschiedlich dar, und es ist die Entstehung dieser Gemeindetypen aus unterschiedlichen herrschaftlichen Verfassungen der Dörfer und daraus resultierenden unter­ schiedlichen Prozessen sozialer Differenzierung der ländlichen Bevölke­ rung, welche Lebensweise und Handlungsspielraum von Bauern und Un­ terschichten schon im Verlauf des 18. Jahrhunderts fundamental prägte. Die Schärfe des Gegensatzes von Bauern und Unterschichten ist umstrit­ ten.7 Ihre Bewertung hängt auch von der Bedeutung ab, die Begriffen wie »Klasse« oder »Schicht« jeweils beigemessen wird, Begriffen, die ihrerseits häufig vermittelt mit historischen Entwicklungstheoremen verknüpft sind, die den untersuchten Zeitraum zerschneiden.8 So sehr für die deutsche Gesellschaft insgesamt von der Ablösung einer ständisch-rechtlich fixierten durch eine markt- und klassenorientierte soziale Ungleicheit im 19. Jahr­ hundert gesprochen werden kann, so wenig hilfreich ist diese Unterschei­ dung für die ländliche Gesellschaft westlich der Elbe vom späten 17. zum späten 19. Jahrhundert. Einerseits dienten die Parzellen ihren Besitzern zur Sicherung einer Teilselbstversorgung bis ins 20. Jahrhundert. Andererseits waren Bauern und Tagelöhner spätestens seit dem 17. Jahrhundert durch die finanziellen Anforderungen der Landesherrschaft, besonders die Kon­ tribution für die Kriegskasse, durch Teile der Gesindeentlohnung, die Leineweberei und den Verkauf von Getreide vornehmlich nach Marburg wenigstens in regionale Märkte eingebunden.9 Die Bauernrevolten des späten 17. und 18. Jahrhunderts folgten nicht zuletzt deswegen häufig auf Mißernten, weil die betroffenen Parzellenbesitzer nach schlechten Ernten und zur Leistung der Abgaben Getreide auf dem Markt zu hohen Preisen erwerben mußten - diese Abhängigkeit vom Markt beförderte den Wider­ stand gegen die Obrigkeit.10 Angesichts dieser verschwommenen Situation wird die Untersuchung der sozialen Beziehungen in den Gemeinden von drei Seiten in Angriff genommen. Erstens wird auf die historische Genese der Entstehung und die quantitative Entwicklung der Zahl landarmer Haushaltsvorstände ein­ gegangen. Das geschieht mit Hilfe der Kataster und Klassensteuerrollen des 18. und 19. Jahrhunderts. Dabei lassen sich zugleich Typen von Gemein­ den erkennen, die sich gegenseitig funktional ergänzten, daher sozial unterschiedlich stratifiziert waren und nur zusammen einen Eindruck von der ländlichen Sozialstruktur vermitteln. Zweitens wird an Hand von sozialer und geographischer Mobilität, Konnubium und Koresidenz auf Strukturbedingungen des Lebens von Bauern und Tagelöhnern eingegangen, an Hand deren sich das Ausmaß 37 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

gegenseitiger Abgrenzung und das Ausmaß der bäuerlichen Kontrolle in den Gemeinden ermitteln läßt (1.2.). Schließlich rückt, drittens, die Gemeinde selbst in den Mittelpunkt der Betrachtung, nämlich durch die Behandlung des dörflichen Armenrechts, der Gemeindeländereien und der Konflikte um ihre Privatisierung, der Wanderarbeit und des Streits um sie, endlich der Ablösung der feudalen Lasten und der Servituten im Gefolge der Agrarreformen und der mit diesen Problemen eng verbundenen Verschuldung (1.3.). Die Untersu­ chung dieser Konflikte soll Rückschlüsse auf die Qualität der Klassenbezic­ hungen und ihre Auswirkungen auf Handeln und Selbstbewußtsein von Bauern und Tagelöhnern als Teil der ländlichen Lebenswirklichkeit ermög­ lichen.

1.1. Die soziale Differenzierung der ländlichen Gesellschaft 1 6 6 0 - 1 8 9 5 und die Gemeindetypen »Man sieht das üppige Getreide mit fetten Wiesenauen wechseln, sieht rasche Herden des schönsten Milchviehs, stolze und wohlgenährte Pferde, große freundli­ che Dörfer, und ein Volk, das noch in vollem Glanze eines eigenen Volkstums lebt.« »zur Miehte wohnen ist aber durchaus nicht bäuerlich; im rechtschaffenden Dorf muß jede Familie ihr eigenes Haus allein bewohnen und wäre es auch nur eine Hütte. So wie Miethsleute in dies Häuser ziehen, zieht auch die Stadt aufs Land«.11 Die Schwälmer Bauerndörfer bieten mit den ärmeren Nachbargemeinden der umliegenden Mittelgebirge einen Mikrokosmos der ober- und nord­ hessischen Entwicklung, obgleich sie im Zeichen der Verklärung der ländli­ chen Welt im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Symbol reinen »Chatten­ tums« wurden.12 Der Entstehung der Landschaftsbezeichnung im 19. Jahrhundert zum Trotz besaßen die Gemeinden keine ungebrochene ge­ meinsame verwaltungstechnische Vergangenheit. Die Landschaft an der Schwalm im engeren Sinne liegt beiderseits der Biegung des gleichnamigen Flusses bei Treysa und Ziegenhain und bildet den Kern der ehemaligen, 1450 an die Landgrafen von Hessen gefallenen Grafschaft Ziegenhain, die später auch Kern des gleichnamigen Landkreises wurde. Eine Ausnahme bildet das erst 1708 von Hessen-Darmstadt an Hessen-Kassel gefallene Holzburg, welches im Gegensatz zu den anderen reformierten Gemeinden lutherisch blieb. Unter den dreizehn untersuchten Orten befinden sich der alte Amtshauptort13 und Sitz des späteren gleichnamigen Landratsamtes Ziegenhain, neun Landgemeinden in der Schwalmniederung, entweder

38 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

direkt an der Schwalm oder Nebenflüssen gelegen, und drei Gemeinden am Rande oder in den umliegenden Mittelgebirgen, davon zwei Flecken mit Marktrecht (Oberaula und der spätere Zechenort Frielendorf), von denen eine (Nordeck) nach 1866 an Hessen-Darmstadt fiel. Die Schwalm gehört zu dem fruchtbaren Bodengürtel der niederhessischen Senke, die sich von Ziegenhain im Süden bis Kassel im Norden hinzieht. Die Böden der Schwalm und das milde Klima begünstigten Ackerbau und Viehzucht. In scharfem Gegensatz dazu stehen die Mittelgebirgsdörfer im Knüllgebirge mit seinem naßkalten Klima, Nachtfrösten und häufigen Regengüssen, welche die wenige fruchtbare Krume der kargen Böden wegspülten. Im Gegensatz zu den im 19. Jahrhundert bis nach Alsfeld, Kassel und Marburg Getreide exportierenden Schwälmer Dörfern blieb Oberaula im Knüll von seinen landwirtschaftlichen Erzeugnissen für den Export »nichts übrig«. In dem Mittelgebirgsort Nordeck herrschte überdies Realteilung vor, in den Schwalmgemeinden und Oberaula dagegen Anerbenrecht. Mit Ausnahme von Frielendorf, dessen im 19. Jahrhundert entstandene Kohlezeche durch den Anschluß an die Eisenbahnlinie Berlin-Koblenz im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert prosperierte, gab es keine größeren Gewerbebetrie­ be in den Orten.14 Außer der naturräumlichen Differenzierung zwischen der Schwalmnie­ derung und den Höhenlagen des Knüll unterschieden sich auch die Schwalmgemeinden durch ihre herrschaftliche Verfassung und ihre Größe. Merzhausen und Willingshausen gehörten bis zur Gründung des König­ reichs Westfalen 1807 zu adligen Gerichten, in denen der Niederadel nach dem Dreißigjährigen Krieg eine energischere Peuplierungpolitik betrieb, als das in vielen landgräflichen Gemeinden der Fall war. Zella und Wiera bildeten ebensowenig wie Ransbach eigene Kirchgemeinden, sondern zähl­ ten zu einem Sprengel. Ransbach war obendrein ein Weiler mit wenigen verstreuten Höfen, ohne eigene Pfarre, Schule, oder nennenswerte Allmen­ de. Mit Ausnahme einer der Mittelgebirgsgemeinden (Nordeck) lagen die anderen Orte in Reichweite von Tagesmärschen und waren durch Heirat, Wohnwechsel und den Austausch von Arbeitskräften miteinander verbun­ den.15 Die Sozialstruktur dieser Gemeinden bis zum späten 19. Jahrhun­ dert deutet sich bereits seit den 1660er Jahren in den adligen und landes­ herrlichen Mannschaftsregistern und Steuerkatastern an. Sie zeigt sich vor allem in den Katastern der 1730er und 1740er Jahre, der Katasterrevision seit 1840, der Erhebung des »Vereins für hessische Geschichte« von 1855, den Klassensteuerlisten der 1870er Jahre und den Wählerlisten von 1895. Die Kataster enthalten Informationen zur Zahl der Einwohner, der Haus­ halte und der Gewerbetreibenden. Sie geben nicht nur die Betriebsgrößen wieder, sie bieten darüber hinaus Angaben über die Gewerbe und den Viehbesitz der Einwohner.16 Sowohl die Erhebung von 185517 als auch die 39 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

preußischen Klassensteuerlisten lassen sich als zensusähnliche Quellen ver­ wenden, die nicht nur alle residenten Haushalte erfassen, sondern aus denen sowohl Landbesitz als auch nicht-agrarisches Einkommen hervorge­ hen.18 Zwei Tatbestände, die sich bei dem Überblick zu Franken, Baden und Hessen abzeichneten, lassen sich für die Schwalm detaillierter belegen. Erstens besaßen die Gemeinden bereits seit dem Beginn des 18. Jahrhun­ derts beträchtliche Anteile landarmer und landloser Unterschichten. Zwei­ tens unterschied sich dieser Anteil im Hinblick auf bestimmte Gemeinde­ typen, die sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts immer deutlicher herausschälten. Tabelle 1: Die 13 Gemeinden 1 Landstadt

II Flecken und Bergorte

Bis 1806 lan­ Ziegenhain desherrliches Amt

Bis 1806 in adligem Gericht oder in adliglandesherrl. Mischbesitz

III Schwälmer Dörfer Wasenberg Holzburg Wiera Zella Schrecksbach Loshausen

Oberaula Nordeck

iv

Schwalmer Weiler Ransbach

Willings -hausen Merzhausen Frielendorf

Eine ausgeprägte soziale Differenzierung blieb bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein kontinuierliches Charakteristikum der Landschaft. Die Zahl der Landarmen nahm im 18. Jahrhundert zu und seit den 1850er Jahren wieder ab, die Gemeinden verbäuerlichten jedoch nie vollständig. Frühmoderne Heimgewerbe und moderne Pendel- und Wanderarbeit gin­ gen ineinander über. Der Wandel und vor allem die Beharrung der dörfli­ chen Sozialstruktur läßt sich mit Kataster- und Klassensteuerunterlagen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verfolgen.19

40 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Tabelle 2: Haushalte in den Schwälmer Gemeinden, 1550-1737/40

Wiera Zella Loshausen Wasenberg Merzhausen

1550

1630

1648

1680

1737/40

33 35 31 56 45

36 40 36 56 -

14 22 32 38 -

16 22 31 44 43

36 37 39 59 67

Quelle: Born, Wandlung und Beharrung, Tabelle I; Kataster I, Reihe Β für Wiera, Zella, Loshausen, Wasenberg und Merzhausen; Angaben in abs. Zahlen.

Die Bevölkerungszunahme des späten 16. Jahrhunderts schöpfte bis zum frühen 17. Jahrhundert die natürlichen Ressourcen dieser Region aus, und Klagen wurden laut, es sei »des Volks zuviel«. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges verursachten in den 1630er und 1640er Jahren vielerorts starke Bevölkerungsverluste, die in den adligen Dörfern Willings­ hausen und Merzhausen, vermutlich durch adlige Peuplierung, bereits um 1680 ausgeglichen werden konnten. In den anderen Gemeinden erreichte man den Vorkriegsstand jedoch erst wieder in den 1730er Jahren, vor allem in Wiera und Zella war die Bevölkerungszahl während des Krieges enorm zurückgegangen.20 Die Bevölkerungsverluste und die Wiederansiedlung neuer Haushalte führten zu beträchtlichen sozialen Verwerfungen in den betroffenen Gemeinden. Für das Jahr 1659 liegt für die Gemeinde Merz­ hausen ein Verzeichnis über die »Besitz- und Steuerverhältnisse« der adli­ gen Hintersassen des Ortes vor, welche im Rahmen der adligen Peuplie­ rung nach dem Kriege ins Dorf geholt worden waren. Über die Gemeinde Loshausen, welche vergleichsweise wenig von Bevölkerungsverlusten be­ troffen war, gibt für das Jahr 1648 eine Liste der »Besitzverhältnisse« ihrer Einwohner Auskunft. Während alle Hintersassen der von Weitershausen in Merzhausen, einige waren vermutlich solche Nachsiedler, allesamt Tage­ löhner oder Leineweber ohne Ackerland und einige ohne eigenes Haus waren, besaßen die Loshäusencr Einwohner zum großen Teil Pferde und ausnahmslos Vieh. Sicherlich sind Vergleiche zwischen solchen frühneu­ zeitlichen Listen und Rückschlüsse auf die Sozialstruktur einer Gemeinde immer problematisch. Gleichwohl können einige vorsichtige Vermutungen über den Zusammenhang von Bevölkerungsverlusten, Peuplierung durch die Herrschaft und Sozialstruktur angestellt und durch den Vergleich gestützt werden. Eckart Franz wies jüngst darauf hin, der Adel habe nach dem Dreißigjährigen Krieg auf wüst gebliebene Ländereien zugegriffen. Der Verlust bäuerlicher Stellen durch diese Arrondierung des adligen 41 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Besitzes habe die Bedeutung von Nebengewerben und den Anteil der Tagelöhner in den betroffenen Gemeinden erhöht. Die Verhältnisse in Merzhausen deuten auf diese Form forcierter sozialer Differenzierung hin, waren die Merzhäusener Hintersassen doch fast ausnahmslos landlos. Um­ gekehrt besaßen die Loshäuser allesamt Vieh und in der Mehrheit sogar Pferde. Das weist auf einen bäuerlichen Erwerb der Einwohner hin. Wir werden bei den beiden ebenfalls von schweren Bevölkerungsverlusten betroffenen Gemeinden Wiera und Zella sehen, daß auch dort Bevölke­ rungsverluste während des Krieges mit einer scharfen sozialen Differenzie­ rung in den Gemeinden zusammenfielen. Zum Zeitpunkt der Katasterauf­ nahme zwischen 1737 und 1740 war die Bevölkerung jedenfalls in Vollbauern und landarme Tagelöhner vor allem in den Gemeinden polari­ siert, die im Kriege besonders hohe Bevölkerungsverluste zu verzeichnen hatten. Für diese landarmen Nachsiedler spielten die Gewerbe bereits eine bedeutende Rolle.21 Bereits für das erste Drittel des 18. Jahrhunderts lassen sich mit Hilfe der Kataster und ihrer Vorbeschreibungen unterschiedliche Gemeindetypen im Hinblick auf Siedlungsform, rechtliche Rahmenbedingungen und soziale Differenzierung unterscheiden. Das waren Weiler wie Ransbach oder Leimbach, die nur aus wenigen großen Höfen bestanden (IV).22 Dagegen bestanden die anderen Gemeinden aus eng aneinander gebauten Häusern mit eigener Kirche und Schule. Mit Ausnahme der adligen Dörfer besaßen sie mehrere hundert, manche sogar über tausend Acker Gemeindeeigen­ tum, meist Wald, der zur Weide diente und in dem Holz gesammelt werden konnte. Das galt auch für den Flecken Oberaula. Gleichwohl müssen auch diese Gemeinden weiter unterteilt werden. Die Landstadt Ziegenhain (I) ist von den Flecken und Landgemeinden zu unterscheiden. Die Mitteige ­ birgsgemeinden mit kargen Böden und die Flecken mit Marktrechten (II) sind von den Landgemeinden der fruchtbaren Schwälmer Niederung zu trennen (III). Auch unter diesen Landgemeinden sind Unerschiede zu berücksichtigen, besonders zwischen den adligen Dörfern Merzhausen und Willingshausen und den anderen Gemeinden. Die Wälder der Gemarkun­ gen Willingshausen und Merzhausen befanden sich im Besitz der ortsansäs­ sigen adligen Familien. Die Merzhausener mußten ihr Holz von der Herr­ schaft kaufen, die Willingshausner hatten dagegen nach jahrelangem Streit 1638 durchgesetzt, den adligen Forst zur Weide und als Holzung nutzen zu dürfen.23 In den Gemeinden Holzburg, Loshausen und Wasenberg und vor allem in dem Mittelgebirgsflecken Oberaula24 überwogen noch Klein­ bauern und Bauern. In Wiera und Zella dagegen waren selbst die Kleinbau­ ern und Nebenerwerbslandwirte zur Minderheit geworden. Dort war jeder fünfte Haushaltsvorstand ein Tagelöhner. Die Gewerbetreibenden in Wiera und Zella waren Landarme. Die kleinbäuerliche Minderheit Wieras bestand

42 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Tabelle 3: Haushalte, Betriebsgrößenklassen und Gewerbe 1737-1747 Wiera

Zella

Holz­ burg

LosWasen- Willings - Merz­ hausen berg hausen hausen

Ober­ aula

Haushalte

47

37

31

39

59

52

67

132

Bevölke­ rung

191

242

?

197

399

349

?

?

34* 11 19 36

33 15 0 52

10 61 6 23

8 35 51 5

46 41 14 0

12 30 12 46

10 16 26 48

0 40 28 32

Haushalte mit gewerb­ licher Be­ schäftigung

42

22

-

-

-

50

-

28

Haushalte, die vom Tagelohn leben

19

24

-

-

-

25

-

4

I(abs.)

II (in%) 40 Acker 12-39 Acker 4 - 1 1 Acker ‹ 4 Acker III (in %)

Quelle: Kataster I; *= bei Wiera beziehen sich die Betriebsgrößengruppen auf Acker und Wiesen; die Katasterkommission besuchte zwischen 1737 und 1747 die einzelnen Gemein­ den. Deshalb bezieht sich die Tabelle auf diesen Zeitraum.

mit zwei Ausnahmen aus Gewerbetreibenden. Diese landarmen Handwer­ ker arbeiteten als Müller, Wagner, Schmiede oder Korbmacher für den lokalen Markt und waren damit vom Bedarf der Großbauern ebenso abhängig wie die Tagelöhner.25 Die dörfliche Bevölkerung dieser Orte war in Tagelöhner und Vollbauern polarisiert. Es fällt auf, daß in beiden Gemeinden im Gegensatz zu den anderen Dörfern die Bevölkerungsverlu­ ste im Dreißigjährigen Krieg besonders verheerend waren - beide verloren rund die Hälfte der noch 1630 ansässigen Haushalte. Es wäre möglich, daß diese hohen Verluste in beiden Gemeinden die besonders ausgeprägte Konsolidierung von Landbesitz in der Hand großer Bauern begünstigten. Weder Wiera noch Zella waren adlige Dörfer wie Merzhausen, aber der Zugriff der die Verwüstungen des Krieges überlebenden Bauern auf wüst 43 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

gebliebenes Land könnte in den beiden Gemeinden denselben Effekt gehabt haben. Vermutlich also bereits als unmittelbare Folge der Umwäl­ zungen des Dreißigjährigen Krieges, jedenfalls bereits um 1660, soweit sich das aus den wenigen Quellen aus dieser Zeit entnehmen läßt, waren einzelne Gemeinden in Bauern und Tagelöhner polarisiert.26 Anders als in Zella und Wiera gestaltete sich das Verhältnis von gewerbli­ cher Tätigkeit und Landbesitz in Willingshausen.27Fast drei Viertel aller Haushaltsvorstände in Merzhausen und über die Hälfte in Willingshausen waren Landarme, über die Hälfte betrieben in Willingshausen ein Gewer­ be, jeder Vierte wurde im Kataster als Tagelöhner bezeichnet.28 Die Tage­ löhner besaßen ausnahmslos weniger als vier Acker. Dagegen teilten sich die 26 Haushalte mit gewerblicher Betätigung in zwei Gruppen auf Fast die Hälfte waren zugleich Handwerker und Kleinbauern mit über 12 Acker. Die andere Hälfte wurde in den Katastern nur als Handwerker bezeichnet und besaß pro Haushalt weniger als vier Acker. Unter beiden Gruppen, den kleinbäuerlichen wie den landarmen Handwerkern, überwogen mit Ab­ stand die Leineweber. Dorfhandwerke wie Wagner oder Schmiede stellten die Ausnahme dar.29 Gewerbliche Betätigung hatte in Form der Wollverarbeitung bereits im späten 16. Jahrhundert geholfen, die wachsende Bevölkerung zu ernähren. Nicht zuletzt wegen ihrer Wollverarbeitung besaß die Grafschaft Zie­ genhain eine hohe ökonomische Bedeutung für die Landgrafschaft Hessen-Kassel. Sie erbrachte vor dem Dreißigjährigen Krieg 10% der Ein­ nahmen aus dem Landzoll und ein Viertel aller Einnahmen des Wollzolls.30 Diese Rolle der Wollverarbeitung fiel seit dem späten 17. Jahrhundert der Leinenverarbeitung zu - freilich mit der Einschränkung, daß die Willings­ häuser Leineweber nicht wie die Handwerker in Zella und Wiera aus­ schließlich zu den Landarmen, sondern zu den Kleinbauern zählten. Ob­ wohl die hessische Leinenproduktion nie ein hochwertiges Produkt wie z.B. das Ravensberger Feinleinen hervorbrachte, vermochte sie sowohl die britischen Inseln als auch die britischen Kolonien in Nordamerika als Markt zu erreichen. Auch nach dem Ende des amerikanischen Unabhängigkeits­ krieges wahrte das dort als »Hessian« bekannte Schockleinen seine zentrale Rolle als Material zur Sackherstellung. Die Leinenfertigung wurde denn auch seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als »hessisches Peru und Ostindien« bezeichnet. Die Verdoppelung der hessischen Leinenausfuhr zwischen 1740 und 1805 ermöglichte erst das hessen-kasselische Bevölke­ rungswachstum im 18. Jahrhunderts. In der Grafschaft Ziegenhain war die Leineweberei, gemessen an der Zahl der Leineweber, in Stadt und Land eines der bedeutendsten Gewerbe, obwohl der Schwerpunkt der Verarbei­ tung im östlicheren Werraland lag. In diesem Kontext sind auch die Willingshausener Leineweber zu sehen. Sie blieben durch ihren Landbesitz 44 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

in die Landwirtschaft eingebunden. Die Willingshäusener Leineweber wa­ ren nicht wie die Tagelöhner und Handwerker von Wiera und Zella auf Gedeih und Verderb von den örtlichen Großbauern abhängig, sondern besaßen einerseits etwas eigenes Land - elf der insgesamt siebzehn Leine­ weber besaßen vier und mehr Acker - und lebten andererseits von dem prosperierenden Leinengewerbe.31 So läßt sich also sagen: Schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war die Einwohnerschaft der Kirchdör­ fer in einigen während des Dreißigjährigen Krieges besonders verwüsteten Gemeinden in Tagelöhner und Vollbauern gespalten, die sich auch bereits durch ihre Vererbungsstrategien unterschieden.32 In anderen Gemeinden spielte die Leinenverarbeitung noch eine bedeutende Rolle als Nebenbe­ schäftigung der Kleinbauern. Landarme waren vermutlich bereits seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges durch adlige Peuplierung in die meisten Gemeinden gelangt. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts veranderthalbfachte bis verdreifachte sich die Zahl der Haushalte in den Gemeinden. Die Bevölkerung verdop­ pelte sich (vgl. unten Tabelle 4).33 In den meisten Gemeinden erhob sich über der Masse der Landarmen (mit weniger als vier Acker) und eigentums­ losen Mieter - nun zwischen 60% und 80% der Haushaltsvorstände, was bereits der von Baumbach für die 1880er Jahre in Hessen festgestellten Rate entsprach34 - eine dem Anteil nach leicht zurückgegangene Gruppe von Vollbauern. Der bäuerliche Weiler Ransbach und der Mittelgebirgsflek­ ken Oberaula bildeten das Schlußlicht in der relativen Vermehrung der Bevölkerung, die Sozialstruktur blieb dort vergleichsweise unverändert. In den Kirchdörfern der Schwalm nahm die Zahl der Haushalte jedoch um mehr als das Doppelte zu, in dem alten Leineweberdorf Willingshausen verdreifachte sich sogar ihre Zahl. Im Vergleich zu Kurhessen insgesamt, noch mehr aber im Vergleich zu anderen Regionen Deutschlands, blieb das Bevölkerungswachstum jedoch gering. Die Schwalm gehörte zu den Re­ gionen West- und Süddeutschlands, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch ein langsameres Bevölkerungswachstum auszeichne­ ten.35 Die Gründe hierfür lagen bei dem Heiratsalter, der Kinderzahl und der Zölibatsquote der Schwälmer Bevölkerung. Das Heiratsalter blieb in den untersuchten Schwälmer Gemeinden für die Männer bei 27 bis 28 Jahren, für die Frauen bei 25 bis 26 Jahren. Der Anteil illegitimer Geburten verdoppelte sich im Zeitraum von 1800 bis 1849 im Vergleich zum Zeitraum von 1750 bis 1799. Dieses Verweilen bei einem hohem Heirats­ alter und die Zunahme der Illegitimität im frühen 19. Jahrhundert sind typisch für viele Gebiete westlich der Elbe.36 Da die Zahl der Kinder je Ehe konstant bei fünf bis sechs blieb, ist auch in der Schwalm der Anteil derjenigen, die überhaupt heirateten, der Schlüssel zum Verständnis des 45 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Bevölkerungswachstums. Dieser Anteil war unmittelbar nach dem Dreißig­ jährigen Krieg besonders hoch und ercichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert Werte zwischen 80% und 90% bei den Männern und 70% bis 80% bei den Frauen. Die Zahl der Geburten auf 100 Einwohner lag im 18. Jahrhundert bei 29-35, erreichte im Jahrzehnt von 1800 bis 1809 mit über 37 einen Höchststand und fiel dann bis 1860 wieder. Die Bevölkerungszunahme in der Schwalm resultierte ganz wesent­ lich aus dem Geburtenüberschuß seit Ende des 18. Jahrhunderts und in der westfälischen Zeit. Der Geburtenüberschuß37 lag im 18. Jahrhundert durchschnittlich unter vier, in den vier Jahrzehnten nach 1800 zwischen 5.8 und 7.4 und fiel in den beiden Jahrzehnten nach 1850 auf 2.2 und -0.9. 38 Die Aufspaltung der dörflichen Gesellschaft in Bauern und Landarme war jedoch keineswegs allein eine Folge der Zunahme der Landarmen und der eigentumslosen Mieter im Gefolge des Bevölkerungswachstums, das im Vergleich zu anderen Regionen ohnehin gering blieb. Vielmehr trug das Verschwinden der Kleinbauern entscheidend zu diesem Prozeß bei. Die kleinbäuerlichen Besitzer mit über vier bis 40 Acker, die in einigen Gemein­ den in den 1730er Jahren die Mehrheit der Haushaltsvorstände gebildet hatten, waren auf eine verschwindend kleine Minderheit zusammenge­ schmolzen. Insbesondere die Kleinbauern mit 15 bis 40 Acker, in den 1730er Jahren noch ein bis zwei Drittel aller Haushaltsvorstände in vielen Dörfern, waren aus den Gemeinden so gut wie verschwunden.39 Sie moch­ ten zum Teil zu Großbauern geworden oder zu Landarmen abgesunken sein. Die Krise des Leinengewerbes in Hessen seit dem frühen 19. Jahrhun­ dert und die Überbesetzung aller anderen Gewerbe trugen sicherlich zum Verschwinden dieser Gruppe ganz wesentlich bei, denn in einzelnen Ge­ meinden wie Willingshausen hatte die Leineweberei eines ihrer wirtschaft­ lichen Standbeine gebildet.40 Hinzu trat möglicherweise die agrarische Depression der 1830er Jahre, unter deren erschwerten Wirtschaftsbedin­ gungen Kleinbauern zu Landarmen abstiegen, wenn ihnen der Aufstieg zu Vollbauern nicht gelang. Die Dürre von 1842, die schlechte Witterung von 1844 und die Kartoffel faule von 1845 mögen manchem kleinbäuerlichen Betrieb, der unter besseren Bedingungen wenigstens den Eigenbedarf erwirtschaftet hätte, in die Verschuldung gedrängt und schließlich zum Verkauf gezwungen haben. Ein typisches Beispiel bietet Heinrich Herr­ mann in Wiera, der 1829 nicht einmal mehr die Miete für seine Wohnung bezahlen konnte und die Gemeinde um Hilfe ersuchte. Er besaß gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch »ein Häuschen und soviel Länderey, als (er) mit 2 Kühen bearbeiten konnte«, nämlich 16 Acker, also ein kleinbäu­ erliches Anwesen. »Durch die französiche Regierung«, so Herrmann in seinem Bittgesuch weiter, »und dadurch daß (er) (den Besitz) größtenteils 46 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

mit Schulden übernahm, konnte (er) (den Besitz) nicht länger regieren und mußte (ihn) wieder veräußern«.41 Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das regionale Bevöl­ kerungswachstum ganz wesentlich von Kassel getragen, während die Be­ völkerung auf dem Lande stagnierte oder sogar zurückging. Trug diese Bevölkerungsabnahme zu einem Rückgang des Anteils der Unterschichten auf dem Lande bei? Mit weitem Abstand die höchsten Bevölkerungsverlu­ ste verzeichneten Ziegenhain, die Ackerbürgerstadt mit starker Parzellie­ rung und übersetzten Gewerben, und Oberaula, der kleinbäuerliche Mit­ telgebirgsort, mit Verlusten von 17% bis 43% der Bevölkerung. Die Verluste der Schwalmdörfer lagen dagegen immer unter 10%. Obwohl ein Teil des ländlichen Bevölkerungsüberschusses ständig abwanderte, ohne daß der Verlust durch eine entsprechende Zuwanderung ausgeglichen worden wäre, führte dies nur zwischen 1850 und 1871 zu einem absoluten Rück­ gang der ländlichen Bevölkerung.42 Die Auswanderung aus Kurhessen in diesem Zeitraum ist für diesen Rückgang verantwortlich. Sie gehört zur ersten großen deutschen Auswan­ derungswelle zwischen 1830 und 1860, die eine Antwort auf den Pauperis­ mus war und als ein Teil des grundlegenden Wandels der ländlichen Sozialstruktur verstanden wird. Inzwischen sind Umfang und Ziel der deutschen Auswanderung im 19. Jahrhundert gut erforscht und periodi­ siert. Dennoch sind die Folgen der Auswanderung für die betroffenen Gebiete nicht gleich gut bekannt. Kam es zur Auswanderung derer, die zwar nicht zu den Reichsten ihrer Gemeinde zählten, aber Eigentum und Bürgerrechte besaßen und sich durch den Pauperismus in ihrer bereits als gefährdet empfundenen Existenz bedroht sahen und daher den Weg ins Ausland nahmen, oder wanderten die eigentlichen Unterschichten aus und trugen dadurch zur Glättung der sozialen Gegensätze in den Heimatge­ meinden bei? Eine Reihe von Befunden aus dem südwestdeutschen Raum lassen den Schluß zu, daß es sich bei den Auswanderern um Familien und in steigendem Maße um Handwerker gehandelt. Wenn auch eine Berufsbe­ zeichnung in der Sparte der Handwerker allein recht wenig über die soziale Stellung einer Person aussagt, war den Familienvätern unter den Auswan­ derern doch wenigstens die Heirat erlaubt worden, was dafür spricht, daß es sich bei ihnen nicht um die Ärmsten gehandelt haben kann.43 Dies wieder­ spricht der Gegenthese, die Auswanderung habe als soziales Sicherheitsven­ til gewirkt, weil vorwiegend die Ärmsten ausgewandert seien und sich dadurch die soziale Lage in den Heimatgemeinden entschärft habe. Eng mit dieser These verbunden ist die Vorstellung einer Entvölkerung pauperi­ sierter Regionen nicht nur durch Aus-, sondern auch durch Stadtwande­ rung im Gefolge von Pauperismus und Industrialisierung. Einige spektaku­ läre Fälle, in denen Gemeindearmen durch die Ortsvorsteher verschickt 47 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

wurden, aber auch die neuesten Ergebnisse zur kurhessischen Auswande­ rung, die wesentlich mehr von Tagelöhnern und Unverheirateten bestimmt war, als bisher angenommen, weisen in diese Richtung.44 Die Befunde aus den Schwälmer Dörfern, in deren Rahmen die Auswan­ derung auch auf ihre sozialhistorischen Folgen in den Heimatgemeinden hin untersucht werden kann, verweisen dagegen zwar auf die Bedeutung der Gemeindetypen für Umfang und Struktur der Auswanderung, tragen aber nicht die These der Auswanderung als soziales Sicherheitsventil (siehe Tabelle 5). 45 Die Ziffer (Auswanderer je 1000 Einwohner pro Jahr) der kurhessischen Auswanderung insgesamt lag im Durchschnitt der Jahre 1852 bis 1860, in denen die meisten Hessen auswanderten, je nach Kreis zwischen 3.2 und 10.2, der Durchschnitt für ganz Kurhessen lag bei 6.3, das entsprach zugleich dem Durchschnitt der Provinz Niederhessen. Dieser Wert liegt leicht über der Ziffer für Deutschland in diesen Jahren und unter der Ziffer für Württemberg mit 7.5. Kurhessen zählte als ganzes nicht zu den südwestdeutschen Kerngebieten der ersten Auswanderungswelle, aber eben auch nicht zum nordostdeutschen Bereich. Innerhalb Kurhessens erreichte Oberhessen mit 7.5 als einzige Provinz württembergische Werte, und unter den hessischen Kreisen hatte Rotenburg mit 10.2 die Spitze inne, Kassel bildete mit 3.4 das Schlußlicht.46 Unter den Schwälmer Gemeinden verzeichneten die Amtsstadt Ziegen­ hain und der Mittelgebirgsflecken Oberaula, beides zwar verarmte, aber wesentlich weniger als die eigentlichen Schwalmdörfer in Bauern und Tagelöhner polarisierte Gemeinden, die höchsten Bevölkerungsverluste durch Auswanderung, ebenso die Gemeinden mit vielen Gewerbetätigen wie Willingshausen und Merzhausen. Aus den eigentlich agrarischen Dör­ fern wie Holzburg, Loshausen oder Wasenberg wanderten dem Anteil nach viel weniger Bewohner aus. Überwiegend verließen verheiratete Handwer­ ker im Alter von 30 bis 50 Lebensjahren mit ihren Familien die gewerblich durchsetzten Orte Willingshausen und Merzhausen, während aus den eigentlichen Bauerndörfern vorwiegend unverheiratete Tagelöhner zwi­ schen 20 und Mitte 20 auswanderten.47 Die Auswanderung, wie bedeutend sie auch im Einzelfall war, veränderte jedoch in keinem Fall die lokale Sozialstruktur. Vielmehr lassen sich an Hand der Klassensteuerlisten von 1871 dieselben typologischen Unter­ schiede zwischen den Gemeinden feststellen, die bereits um die Jahrhun­ dertmitte, vor dem Höhepunkt der Auswanderung, bestanden und die in Ansätzen bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts erkennbar waren. Boden­ güte, vorherrschende Erbpraxis - Anerbenrecht oder Realteilung - und die Folgen adliger Peuplierung verschränkten sich bei der Genese dieser Ty­ pen. Am deutlichsten lassen sich die Gemeinden nach den Anteilen der Bauern, Parzellenbesitzer und Landlosen an den dörflichen Haushaltsvor48 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

ständen und der Verteilung des Ackerlandes unter diese Gruppen in die Typen der Amtsstadt (I), der Marktflecken und Gemeinden der Mittelge­ birge ohne große Bauern (II), der Gemeinden der Schwalmniederung mit zahlreichen (IIIa) oder wenigen (IIIb) Handwerkern und der bäuerlichen Weiler (IV) zusammenfassen. In den bäuerlichen Dörfern der Schwalmnie­ derung mit überwiegend guten Böden wie Wasenberg und Holzburg (IIIb) war 1855 wie 1871 die Bodenkonzentration in der Hand der Vollbauern am größten und der Anteil der Kleinbauern und Parzellenbesit­ zer am niedrigsten. In den Schwalmdörfern in ehemaligem adligem Teilbe­ sitz (IIIa) lebten, eine späte Folge der adligen Peuplierung nach dem Dreißigjährigen Krieg, dem Anteil nach mehr Tagelöhner und landarme Handwerker als in den ehemals landesherrlichen Gemeinden (IIIb). Insge­ samt stellte sich in der fruchtbaren Schwalm (III-IV) die soziale Polarisie­ rung in Großbauern und landlose Mieter wesentlich schärfer als auf dem rauhen Knüll dar. Die armen Dörfer der Mittelgebirge (II), nicht die reichen Bauerndörfer, kamen Max Webers Bild einer homogenen ländli­ chen Gesellschaft noch am nächsten. Sie wurden jedoch nicht von Eduard Davids Kleinbauern, sondern von Karl Kautskys pendelnden Parzellenbe­ sitzern bevölkert.48 Die Unterlagen des »Hessischen Vereins für Landesgeschichte« und der Klassensteuer geben ein plastisches Bild der Heimat dieser Bauern und Wanderarbeiter mitten in der Aufbruchsphase der deutschen Industrialisie­ rung, den 1850er bis frühen 1870er Jahren. In Ziegenhain, der Ackerbür­ gerstadt und dem Verwaltungssitz der ehemaligen Grafschaft und des gleichnamigen Landratsamtes, herrschte Realteilung vor. Die Zerstücke­ lung der Parzellen ging so weit, daß sogar die traditionelle Dreifelderwirt­ schaft dadurch behindert wurde. Der Kartoffelbau deckte gerade noch den eigenen Bedarf, aber drei Viertel des notwendigen Getreides mußte aus den umliegenden Bauerndörfern der Schwalmniederung eingeführt wer­ den, die alle Roggen und Weizen über ihren eigenen Bedarf hinaus produ­ zierten und mit der Eisenbahn über den Bahnhof Treysa in Richtung Kassel und Frankfurt exportierten.49 Die Bewohner Ziegenhains waren der Land­ wirtschaft »entfremdet« und hatten sich »auf Handel und Gewerbe ver­ legt«. Außer einer Bierbrauerei gab es jedoch keinen einzigen größeren Handwerksbetrieb, die Einzelmeister arbeiteten alle nur für den örtlichen Bedarf. Ziegenhain war eine typische Ackerbürgerstadt mit überbesetzten Gewerben, deren Bewohnern das Land zum Leben fehlte.50Auch die beiden Mittelgebirgsgemeinden, Nordeck und Oberaula im Knüll, expor­ tierten keine landwirtschaftlichen Güter. Das lag an der naturräumlichen Benachteiligung der Mittelgebirge, in Nordeck herrschte wie in Ziegenhain überdies die Realteilung vor, und auch in Oberaula bestanden - trotz des vorherrschenden Anerbenrechts - schon im 18. Jahrhundert keine großen 49 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

50

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

3

5

III(b)Schwalmgemeinden

2898

2294

1599

Bevölkerung insgesamt je Typ

537(20,1)

456(39,5)

315(38,7)

Haushalte insgesamt (davon Handwer­ ker in %)

40,4

47,6

50,2

29,1

32,2

10,5

10,9

10,3

28,3

4,7

4,6

8,3

14,9

5,3

2,8

Soziale Differenzierung der Haushalte in % aller Haushalte Unterschichten Parzellenbes. Kleinbauern Bauern Landlos ‹ 1.25 ha 1.25-5 ha 5-10 ha › 1 0 ha

100

100

*100,1

Gesamt

(6.6)

2

III(b)Sch\valmgemeinden (durchschnittl. Besitz je Gruppe)

Durchschnittliche Betriebsgröße je Gemeindetyp in ha

(2.8)

2

Zahl der Orte je Typ

gemeinden (durchschnittl. Besitz je Gruppe)

III (a)Schwalm-

Gemeindetyp

-

-

(0.3)

2,3

(0.3)

7,4

(1.5)

3,8

(1.6)

10,4

86,4 (20.5)

(5.3)

(19.9)

59,1

Bauern › 1 0 ha

7,5

(5.7)

23,0

Unterschichten Parzellenbes. Kleinbauern Landlos ‹ 1.25 ha 1.25-5 ha 5-10 ha

Anteil an der Gesamtbetriebsfläche in % der Gemarkung (und durchschnittliche Betriebsgröße je Gruppe in ha)

100

99,9

Gesamt

Tabelle 4a: Anteile der Beriebsgrößenklassen an der landwirtschaftlichen Betriebsfläche der Gemeindegemarkungen in % der Gemarkung und durchschnittliche Betriebsgröik je sozialer Gruppe, 1841-1854

2

III(a)Schwalmgemeinden

Zahl der Orte je Typ

II Mitteigebirgsdörter

Gemeindetyp

Tabelle 4: Haushalte und Prozentanteil der sozialen Klassen an allen Haushaltsvorständen, 1855 (ohne Typ I)

Höfe mehr. In Nordeck herrschte »Mangel an Brotfrucht«, und Oberaula hatte »nichts übrig« für den Export.Weil die Landwirtschaft kaum reichte, die Eigenversorgung zu garantieren, zogen die Parzellenbesitzer und Landlosen Oberaulas seit der Jahrhundertmitte zum Eisenbahnbau nach Westfalen und zur Ernte auf die großen Güter in Schleswig.51 Demgegen­ über war in den Gemeinden der fruchtbaren Schwalmniederung der Anteil großbäuerlichen Besitzes an der Gemarkung und der Anteil landloser Tagelöhner und des Gesindes wesentlich größer, der Anteil der Kleinbauern und Parzellenbesitzer dagegen kleiner. Innerhalb der Schwalmdörfer waren diese Differenzen noch einmal, je nach alter herrschaftlicher Verfassung, unterschiedlich ausgeprägt. In den ehemals adligen Dörfern Willingshausen und Merzhausen lebten noch 1871 im Vergleich zu Wasenberg mehr Tagelöhner und parzellenbesitzen­ de Handwerker und weniger Gesinde. Überdies stand das Gemeindeland in der Regel nur den - häufig bäuerlichen - Nutzungsberechtigten zur Verfügung, was die bäuerliche Dominanz in den Schwälmer Gemeinden noch steigerte 52 Gemessen an dem durchschnittlichen Steueranschlag je Steuerpflichtigem von 1822 waren diese sozial scharf in Bauern und Tage­ löhner polarisierten und primär agrarisch orientierten Weiler und Dörfer der Schwalm, in denen um die Mitte des Jahrhunderts zwei Drittel bis drei Viertel der Haushaltsvorstände weniger als zwei ha besaßen oder zur Miete wohnten, mit neun bis zehn Talern dennoch reicher als Ziegenhain mit 8.1 oder Oberaula mit 5.9 Talern und selbst Marburg mit sechs Talern, weil die örtlichen Großbauern ausgesprochen wohlhabend waren. Bis in die 1920er Jahre blieben die Schwälmer Dörfer mit ihren fruchtbaren Wiesen die wohlhabenderen Gemeinwesen.53 Oberaula lag dagegen wie Marburg im Durchschnitt der Provinzen Oberhessen, Niederhessen oder Hanau. Die Dreifelderwirtschaft, in der Regel unter Stallfütterung des Viehs, herrschte in allen Gemeinden vor. Verkopplungsbemühungen waren in zwei Orten, nämlich Wiera und Loshausen, schon seit den 1830er Jahren von einzelnen Bauern vorangetrieben worden, blieben aber ohne Erfolg. Das Konsens­ prinzip der hessischen Verordnungen verhinderte auch in der Schwalm eine durchgreifende agarische Modernisierung.54 Allerdings waren die größeren Höfe auch in diesem überkommenen Rahmen in der Lage, Getreide für den Markt zu produzieren und sich an der gewinnbringenden Milchwirt­ schaft zunehmend zu beteiligen. Quelle (zu Tabelle 4 und 4a, linke Seite): Bestand H3, II: Oberaula, Nordeck; III(a): Frielcndorf, Willingshausen, Merzhausen; III(b): Wasenberg, Wiera, Holzburg, Schrecksbach, Loshausen; Bestand Kataster I, Reihe C, Wasenberg 1854, Holzburg 1 8 4 1 , Merzhausen 1841 und Willingshausen 1 8 4 1 ; Aufschlüsselung der nach Gemeindetypen aggregierten Zahlen auf die Einzugemeinden Anh. Tabelle 5; * = Rundungsfehler.

51 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

52

3

6

1

III(b)Schwalmgemeinden

IV Weiler

3

III(a)Schwalmgemeinden

6

1

II Mitteige birgsdorf

IIl(b)Sch\valnv

Zahl der Orte je Typ

Gemeindetyp

gemeinden

13

609

415

180

276

Haushalte insgesamt

23,1

43,0

50,4

30,6

32,6

7,7

17,1

19,8

21,1

21,7

19,8 69,2

-

-

7,9

8,3

8,7

8,0

7,2

18,9

23,9

Bauern ›10ha

11,9

14,7

21,1

13,0

Soziale Differenzierung der Haushalte in % aller Haushalte Unterschichten Parzellenbes. Kleinbauern Landlos ‹1.25 ha 1.25-5 ha 5-10 ha

100

99,8

100

100

99,9

Gesamt

(9.9)

(5.2)

(3.6)

Durchschnittlicht Betriebsgröße je Gemeindetyp in ha

(0.6)

1,7

4,2 (0.6)

-

5,7 (0.7)

-

4,7 (2.2)

12,5 (2.2)

20,1 (2.3)

7,9 (5.5)

18,9 (6.7)

46,5 (5.9)

Anteil an der Gesamtbetriebsfläche in % der Gemarkung (und durchschnittliche Betriebsgröße je Gruppe in ha) Unterschichten Parzellenbes. Kleinbauern Landlos ‹ 1.25 ha 1.25-5 ha 5-10 ha

85,6 (23.9)

64,3 (20.8)

27,7 (11.9)

99,9

99,9

100

Bauern Gesamt ›10ha

Anteile der Betriebsgrößenklassen an der landwirtschaftlichen Betriebsfläche der Gemeindegemarkungen in % der Gemarkung und durchschnittliche Betriebsgröße je sozialer Gruppe, 1871

1

III(a) Schwalmgemeinden

Tabelle 5a:

1

II Mitteige birgsdorf

Zahl der Orte je Typ

I Amtsort

Gemeindetyp

Tabelle 5: Haushalte und Prozentanteil der sozialen Klassen an allen Haushaltsvorständen, 1871

An diesen Gemeinsamkeiten und Unterschieden unter den Gemeinden hatte sich bis zum Beginn der siebziger Jahre wenig geändert. In Oberaula und Ziegenhain war der Anteil der Mieter nach dem Ende der Auswande­ rungswelle geringer als in den Schwalmgemeinden. Ein Drittel der Haus­ haltsvorstände waren weder Vollbauern, noch zählten sie zur landarmen oder landlosen Unterschicht. Kleinbauern und Landbesitzer mit zwei bis fünf ha besaßen als Gruppe in Oberaula sogar noch über die Hälfte des Bodens. Während dort die wenigen Vollbauern im Durchschnitt nur dop­ pelt so viel Land wie die örtlichen Kleinbauern besaßen, verfügten die Schwälmer Großbauern über drei- (TypIIIa) bis viermal (Typ Illb) so viel Land wie ihre kleinbäuerlichen Nachbarn und rund zwei Drittel bis fünf Sechstel der Betriebsfläche ihrer Dörfer.55 In den gewerblicheren Schwalm­ gemeinden (IIIa) war der bäuerliche Anteil an der Gemarkung sogar seit 1841 noch gewachsen. Mieter und Landarme stellten nach wie vor knapp über 50% der Haushalte in Ziegenhain und Oberaula, aber 60-70% der Haushalte in den Schwälmer Bauerndörfern.56 Die Gruppe der Bauern und Kleinbauern nahm als Folge der Auswanderung der Landarmen in allen Orten dem Anteil nach zu, allerdings nicht genug, um mit Ausnahme von Ziegenhain auf mehr als ein rundes Viertel der Haushalte zu kommen (Typ II: 16,3% auf 27,2%IIIa: 9,9% auf 15,2% und IIIb 19,6% auf 27,8%).57 Auch bis zum Ersten Weltkrieg kam es nicht zu einer Massenauswande­ rung der Landarmen. Bauern und Tagelöhner verließen vielmehr zu glei­ chen Anteilen ihre Heimatgemeinden, so daß sich die Proportionen zwi­ schen ihnen in den Dörfern nicht verschoben.58 Der Anteil der landarmen Unterschicht blieb in allen Gemeinden mit Ausnahme von Oberaula und Ziegenhain bei 50% bis 60%. Nur in der armen Amtsstadt und dem ärmeren Mittelgebirgsflecken war ihr Anteil, wie bereits im gesamten Zeitraum seit 1855, geringer.59 Bei Tagelöhnern und Handwerkern handelte es sich überdies auch nicht um jüngere Haushaltsvorstände, denen im Verlauf ihres Lebens der soziale Aufstieg in die Bauerngruppe gelungen wäre.60 Berück­ sichtigt man zeitgenössische Stellungnahmen wie die eines Hessen-Darm­ städtischen Landrates von 1883, nach der auch noch die hier als Kleinbau­ ern eingestuften Haushaltsvorstände mit Landbesitz zwischen fünf und zehn ha in der Regel Nebenerwerslandwirte und Arbeiter waren, schmilzt der Anteil der eigentlichen Bauern in der ländlichen Gesellschaft weiter zusammen.61 Zwischen den Schwalmdörfern mit einem besonders großen Anteil von Quelle (zu Tabelle 5 und 5a, linke Seite): Bestand 180 Landratsamt Ziegenhain Nr.32 Holzburg, Nr.33 Leimbach, Nr. 10 Loshausen, Nr.67 Merzhausen, Nr.30 Ransbach, Nr.77 Wasenberg, Nr.74 Wiera, Nr.75 Willingshauscn, Nr.35 Zella, Nr.8 Oberaula, Nr.34 Frielen­ dorf und Nr.24 Sehrecksbach; Aufschlüsselung der nach Gemeindetypen aggregierten Daten auf Einzelgemeinden: Anhang Tabelle 6. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

53

Tabelle 6: Absolute Zu- oder Abnahme der Zahl der Haushalte je Gruppe, 1855-1871 Typ

II

Haus­ Mieter halte

1855 1871

III(a) 1855 1871

190 180

456 415

537 526

Parzellen besitzer -5 ha

Klein­ bauern 5-10 ha

›10ha

10 38

43 38

-51(-48% )

28(280%)

-5(-ll%) 12(54%)

6(67%)

217 209

147 82

47 61

24 33

-65(-44%)

14(30%)

156 92

59 62

217 221 4(2%)

-64M1% )

3(5%)

22 34

Bauern

106 55

-8(-4%) III(b) 1855 1871

Kleinst­ besitzer ‹L25ha

21 30 9(43%)

9 15

9(38%)

25 45

80 106

20(80%)

26(32%)

Weil für die beiden Zeitpunkte 1855 und 1871 in den Tabellen 4 und 5 oben aufgrund der Quellengrundlage nicht jeweils alle Gemeinden herangezogen werden konnten, der numeri­ sche Vergleich in Tabelle 6 sich aber auf dieselben Gruppen von Gemeinden zu beiden Zeitpunkten beziehen muß, sind für diesen Vergleich diejenigen Gemeinden weggelassen worden, für die nur für 1855 oder 1871 Daten vorlagen. Absolute Zahlen je Gemeinde: Vgl. Anhang, Tabellen 5 und 6.

Tagelöhnern (lila) und denen mit Bauern und Gesinde (IIIb) hatte sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine Arbeitsteilung herausgebildet, in der die Bauerndörfer Getreide, die anderen Gemeinden aber Arbeitskräfte expor­ tierten. Vor allem die Weiler und die Dörfer mit wenigen ansässigen Tagelöhnern zogen diese von außerhalb heran, so daß nach Wasenberg, Holzburg, Zella oder die nahegelegene Domäne Schaafhof im Sommer Tagelöhner aus Gemeinden mit einem größeren Unterschichtanteil zur Ernte kamen.62 Arbeitspendel war also, bedingt durch die unterschiedli­ chen Gemeindetypen, in der Schwalm unabhängig von gewerblicher Wan­ derarbeit bereits eine normale Erscheinung, weil die Schwälmer Gemein­ den neben der sozialen auch eine funktionale Differenzierung in Bauern­ (Illb und IV), Tagelöhner- (IIIa) und die Parzellenbesitzergemeinden der höheren Lagen der Mittelgebirge (II) durchlaufen hatten. Überblickt man Wandel und Beharrung in diesen Gemeinden seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, ergeben sich vier Feststellungen. Erstens lassen sich die Grundzüge der sozialen Differenzierung in Bauern und Landarme innerhalb der Gemeinden und der Typenunterschiede zwischen den Ge54 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

meinden bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts zurückverfolgen. Zweitens nahm durch das Bevölkerungswachstum seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und durch den Zusammenbruch der Leinenverarbeitung im Vormärz der Anteil der Landarmen und Landlosen relativ und absolut zu, während die Zahl der Kleinbauern (12-40 Acker) absolut zurückging. In den Schwälmer Gemeinden (Typ III) verschwand diese Gruppe fast völlig. Nur in den armen Mittelgebirgsgemeinden (Typ II) blieb ihr Anteil noch beträchtlich. Drittens veränderte die Auswanderung aus den Gemeinden wenig an der bereits ausgeprägten innerdörflichen sozialen Differenzie­ rung oder an den Typenunterschieden der Gemeinden. Viertens besaßen diese Typenunterschiede Konsequenzen für das örtliche Gesicht der ländli­ chen Klassengesellschaft. In den höher gelegenen Bergdörfern lebten weni­ ger Großbauern und weniger Tagelöhner (Typ II). Diese Gemeinden wurden noch von Kleinbauern und Parzellenbesitzern mit vergleichsweise geringen Besitzunterschieden bewohnt. In den großbäuerlichen Weilern und Dörfern der Schwalm (Illb-IV) konstituierte sich die soziale Differen­ zierung der ländlichen Gesellschaft vorwiegend innerhalb der bäuerlichen Haushalte, zwischen Bauer und Gesinde. In den Tagelöhnerdörfern der Schwalm (IIIa) mit weniger Großbauern und mehr parzellenbesitzenden Handwerkern verlief sie dagegen zwischen diesen beiden Gruppen unter den Haushaltsvorständen.63 Es versteht sich, daß die soziale Differenzierung in Bauern und Gesinde andere Dimensionen besaß als die in Tagelöhner und Bauern. Der Gesinde­ dienst war ein Lebensabschnitt der unterbäuerlichen Schicht, der in der Regel, aber, wie aus den Klassensteuerlisten ersichtlich, nicht ausschließlich, mit der Heirat des Gesindes endete. Rund drei Viertel des Gesindes waren unter 25 Jahre alt, die Knechte kehrten nach dem Militärdienst häufig nicht in ein Gesindeverhältnis zurück. Sie unterstanden in Kurhessen seit der kurhessischen Gesindeordnung von 1801 und den später geltenden ein­ schlägigen preußischen Verordnungen ebenso wie in Preußen einer Gesetz­ gebung, die nicht zuletzt der Kontrolle dieses Teils der unterbäuerlichen Schicht diente und der die Handwerker und Tagelöhner nicht mehr unter­ worfen waren. Auch die Tagelöhner befanden sich allerdings, solange sie bei den Bauern arbeiteten, unter der Knute des Gesinderechtes, denn das einschlägige preußische Gesetz von 1854 galt auch für die freien landwirt­ schaftlichen Arbeiter. Dennoch bildeten die Lebensphase des Gesindedien­ stes und die soziale Klasse der parzellenbesitzenden oder landlosen Tage­ löhnerschaft zwei unterschiedliche Erscheinungsformen der unterbäuerli­ chen Schicht, von denen jeweils eine in je nach Gemeindetyp unterschied­ lichem Mischungsverhältnis besonders dominant war. Ob dies auch Eolgen für die Haltung der Gemeinden gegenüber dem werdenden Staat haben sollte, ist später zu prüfen.64 55 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

1.2. Schwälmer Klassengesellschaft im 19. Jahrhundert: Soziale und räumliche Mobilität, Haushalt und Sozialstruktur, Verschuldung Wie gerechtfertigt ist der Begriff der sozialen Klasse für die Bauern und Parzellenbesitzer unterschiedlich großer Grundstücke, zumal wenn er Per­ sonengruppen beschreiben soll, die bis in das späte 17. Jahrhundert zurück­ verfolgt wurden? Die Schärfe der sozialen Differenzierung, das Maß der Unüberwindlichkeit ihrer Schranken kann hierzu eine Antwort liefern. Heirateten die Söhne und Töchter von Bauern und Tagelöhnern unterein­ ander, wurden Bauern zu Tagelöhnern oder Tagelöhner zu Bauern, welche Bedeutung besaß die gemeinsame landwirtschaftliche Arbeit, lebten Bau­ ern und Tagelöhner in ähnlichen oder unterschiedlich zusammengesetzten Haushalten, unterschied sich ihre geographische Mobilität? In diesem Abschnitt wird an Hand von Konnubium und sozialer und geographischer Mobilität die Tiefe des lebensgeschichtlichen Grabens ausgelotet, der Bau­ ern und Tagelöhner trennte und sie als soziale Klassen konstituierte. Die Bedeutung von Gesindedienst und Wanderarbeit, dem gemeinsamen Woh­ nen und der Verschuldung lassen sich dann gegeneinander abwägen, um das Verhältnis zwischen diesen beiden sozialen Klassen zu beschreiben. Kommen wir zunächst zur Frage des Konnubiums. Eine Auswertung der 1074 in den Kirchenbüchern eines Teiles der Schwälmer Gemeinden65 zwischen 1860-1930 verzeichneten Heiraten aus den 1920er Jahren gibt über das Konnubium zwischen Bauern und Tagelöhnern Auskunft (Tabelle 7). 66 Diese Auswertung fußte auf derselben Zuordnung der Haushaltsvor­ stände zu Betriebsgrößenklassen, die hier bisher verwendet wurde. Der Anteil der Arbeiter und Handwerker unter den Ehemännern liegt in dieser Auswertung bei 62,9%, unter den Schwiegervätern bei 63,5%. Das bestä­ tigt die eben gewonnenen Befunde über den Anteil der Unterschichten in den Gemeinden. Die Kleinbauern waren, bemessen am Konnubium, ge­ genüber den Bauern und den Arbeitern die offenste Gruppe. Das mag eine Folge der Tatsache sein, daß in dieser Gruppe sowohl Landbesitzer mit gerade 1.5 ha Unterschlupf fanden, die ohnehin zur dörflichen Unter­ schicht zählten, als auch wirkliche Kleinbauern mit mehr als dreimal soviel Land. Nur die Hälfte der Töchter von Kleinbauern heiratete wieder einen Kleinbauern, der Rest stieg zu gleichen Teilen auf oder ab. Zu beiden Seiten der Kleinbauern, bei Bauern wie bei Arbeitern und Handwerkern, war jedoch die Heirat in der eigenen Besitz- oder Erwerbsklasse die Regel. Arbeitertöchter heirateten kaum je einen Kleinbauern, sondern vor allem Handwerker und Arbeiter, und umgekehrt heirateten die Handwerker­ töchtcr vor allem Handwerker und Arbeiter, erst an dritter Stelle Kleinbau56 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

ern.67 In diesem Gesamtbild ergaben sich zwischen 1860 und 1930 nur geringe Veränderungen. Das belegt ein Vergleich der Anteile von Schwie­ gersöhnen bzw. Schwiegervätern mit demselben Beruf. Bezogen auf die Väter nahm die Abgeschlossenheit der Besitzklassen leicht ab. 1860 bis 1880 besaßen 83,3% aller vollbäuerlichen Schwiegerväter einen Vollbauern zum Schwiegersohn, 1911 bis 1930 waren es nurmehr 69,5%. Vor allem der Anteil der Bauern mit kleinbäuerlichen Schwiegersöhnen stieg von 8,3% auf 19,4%. Tabelle 7: Konnubium von Bauern, Kleinbauern, Handwerkern, Arbeitern und Beamten in fünf Schwalmgemeinden, 1860-1930 (Ab- und Zustromquoten) Beruf des Beruf des Ehemannes/Schwiegersohnes Arbeiter Hand­ Beamter Schwieger­ Vollbauer Klein­ bauer werker vaters

Gesamt

Vollbauer

77,3%* 85 56,3%

75,5% 17 7,2%

3,6% 4 1,3%

2,7% 3 0,8%

0,9% 1 9,1%

100% 110

Kleinbauer

16,0% 44 29,1%

44,7% 123 52,1%

23,3% 64 21,3%

15,6% 43 11,5%

0,4% 1 9,1%

100% 275

Handwerker

4,6 16 10,6%

20,2 70 29,7%

39,2 136 45,2%

34,6 120 32,0%

1,5 5 45,5%

100 347

Arbeiter

0,6% 2 1,3%

7,7% 26 11,0%

28,4% 95 31,6%

62,4% 209 55,7%

0,9% 3 27,3%

100% 335

Beamter

57,1 4 2,6%

28,6 2 0,7%

-

14,3 1 9,1%

100 7

Gesamt abs. Gesamt %

151 100%

301 100%

375 100%

236 100%

11 100%

1074

Quelle: Schade u. Ruetz, Untersuchungen, S. 851-853; Ab- und Zustromquoten nach eigener Berechnung; *= Zahl oben in jeder Position der Kreuztabelle: Anteil der Schwiegerväter mit einem vollbäuerlichcn, kleinbäuerlichen usf. Schwiegersohn; Zahl unten: Anteil der Schwie­ gersöhne mit einem vollbäuerlichen, kleinbäuerlichen usf. Schwiegervater.

57 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Tabelle 7a: Schichthomogenes Konnubium 1860-1930: Anteile von Vä­ tern mit Schwiegersöhnen aus derselben Gruppe (in Prozent) Bauern

Kleinbauern

Handwerker

Arbeiter

1860-1880

83,3

49,5

45,1

57,1

1881-1910

78,9

38,4

37,5

61,5

1911-1930

69,5

45,1

33,7

67,6

Tabelle 7b: Schichthomogenes Konnubium 1860-1930: Anteile von Ehe­ männern mit Schwiegervätern aus derselben Gruppe (in Pro­ zent) Bauern

Kleinbauern

Handwerker

Arbeiter

1860-1880

60,0

63,9

48,7

46,6

1881-1910

49,2

37,5

47,2

61,6

1911-1930

62,5

56,9

37,8

56,3

Quelle: Vgl. Tabelle 7 und Anhang, Tabelle 12.

Bei den landlosen Arbeitern nahm die Abgeschlossenheit zu den anderen Besitzklassen jedoch deutlich zu. Der Anteil von Arbeitervätern mit gleich­ rangigen Schwiegersöhnen stieg von 57,1% auf 67,6%, der der Ehemänner mit gleichrangigen Schwiegervätern von 46,6% auf 56,3%. Ein nennens­ werter Kontakt zu den Vollbauern stellte sich nie her, der mit Kleinbauern blieb die Ausnahme. Nur die landarmen Handwerker traten regelmäßig mit den Arbeitern in Verbindung. Das bestätigt die Vermutung, daß Tagelöh­ ner und Handwerker eine gemeinsame soziale Klasse bildeten. Daß es sich bei Bauern und Handwerkern bzw. Tagelöhnern nicht um nur lebenszy­ klisch voneinander abgegrenzte Altersgruppen handelte, belegen die Al­ tersangaben der Wählerlisten von 1893. Altersunterschiede zwischen den Besitz- und Erwerbsklassen, die auf sozialen Auf- oder Abstieg im Verlauf des Lebens schließen ließen, bestanden nicht.68 Aufgrund dieser Abgrenzung der dörflichen Besitzklassen gegeneinan­ der läßt sich mit Blick auf Bauern und Kleinbauern bzw. Handwerker und Tagelöhner wenigstens seit der zweiten Jahrhunderthälfte von zwei sozia­ len Klassen sprechen.69 Wie tragfähig ist der Begriff für den Anfang unseres Untersuchungszeitraums? Die Bevölkerungsverluste durch den Dreißigjäh­ rigen Krieg und die Absiedlung landarmer Nachsiedler schufen in Franken und Hessen vielerorts eine eigene, vermutlich auch konnubial abgeschich58 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

tete Gruppe landarmer, mancherorts auch minderberechtigter Haushalts­ vorstände, die ländlichen Gewerben wie der Leineweberei nachgingen. Davon war bereits die Rede.70 Der Genese der landarmen Unterschichten liegt jedoch vor allem auch die Agrarverfassung und die Anpassung an diese durch die bäuerlichen Familien zu Grunde, deren Folgen bereits nach dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts erkennbar sind. Im wesentlichen besaßen die ländlichen Haushalte das Land als Erb- oder Lehnland. Erbland war teilbar und unterlag der Realteilung. Lehnland war unteilbar. Die Landesherrschaft suchte nach Kräften, diese Unteilbarkeit gegenüber den betroffenen Besit­ zern durchzusetzen, weil nur größere, ungeteilte Höfe die entsprechenden Lasten an Grundzins, Zehnt und Diensten, besonders Fuhrdiensten mit Pferden, leisteten, mit denen die Obrigkeit als Landes-, Grund- und Zehntherrschaft rechnete. Die Bemühungen der Landesherrschaft, auch die Teilung des Erblandes einzuschränken, scheiterten. Die Konsequenz aus dieser Sachlage war, daß bereits bis in die 1730er Jahre die große Mehrheit der Parzellen der Landarmen in der Regel aus Erbland bestand, das durch die Teilungen weniger Generationen zusammenschmolzen war.71 Die Erben der Erblandbesitzer sanken in die ohnehin schon bestehende Erwerbsklasse der landarmen oder landlosen Nachsiedler ab. Durch die Zunahme der Bevölkerung nach dem Dreißigjährigen Krieg und erneut seit dem Ende des 18. Jahrhunderts72 wuchs die Landarmut durch diesen Zufluß. Die größeren Höfe bestanden dagegen überwiegend aus Lehnlandpar­ zellen. Die Lehnlandbauern waren sich der besonderen Probleme ihrer Lage bewußt. Im Ebsdorfer Grund nahm die Zahl der Heiraten beispiels­ weise schon nach 1696 wieder ab - vermutlich, weil die Generationen der weichenden Erben zum Teil wegzogen oder unverheiratet blieben. In Oberweimar im Ebsdorfer Grund sandten die Lehnlandbauern die ohne­ hin leer ausgegangenden Söhne in die Armee, während die Söhne der ärmeren Erblandbauern eine eigene Parzelle erbten.73 Diese unterschiedli­ che Handhabung des Erbgangs läßt sich nicht allein durch den Zwang der Agrarverfassung erklären. Die Parzellenbesitzer der Mittelgebirgsflecken wie Oberaula oder der kleinen Städte teilten im Verlauf des 18. Jahrhun­ derts auch ihr Lehnland unter mehrere Erben, ohne daß die Landesherr­ schaft das verhindern konnte.74 Die alteingesessenen Großbauern waren sich über die Folgen von Teilungen jedoch offenbar im klaren und hielten ihr Land eisern zusammen, auch wenn das Opfer für Familienangehörige bedeutete.75 Nicht nur in Ober- und Niederhessen waren sich die Besitzer großer Höfe und die Unterschichten über die dörflichen Rangunterschiede zwischen Landarmut und Hofbesitzern im Klaren. Die Schwälmer Bauern erwarben schon im 18. Jahrhundert in den Städten Trachten zur Demon59 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

stration ihres besonderen Prestiges. Örtliche Sagen verdammten den be­ sonderen Stolz der bäuerlichen Familien. Die familiäre Verflechtung der großen Bauern reichte auch anderswo bis zur Vererbung der wichtigsten dörflichen Ämter und provozierte Ressentiments der Parzellenbesitzer gegen die, ganz wörtlich zu verstehende, »Vetterleswirtschaft« der begü­ terteren Nachbarn.76 Die weichenden Erben unter den bäuerlichen Nachkommen sanken überdies nur zum kleinen Teil in die Landarmut ab.77 Von den insgesamt dreiunddreißig Nachfahren aus fünf wenigstens seit den 1730er Jahren ansässigen bäuerlichen Familien, deren Mitglieder in den Klassensteuern der untersuchten Orte noch 1871 dingfest gemacht werden können, waren zur Zeit der Reichsgründung vierzehn Mitglieder der Bauerngruppe, zwei weitere Kleinbauern, die restlichen sechzehn waren im Verlauf der rund 150 Jahre zwischen 1730 und 1871 als weichende Erben abgestiegen. Dieses Schicksal traf im Verlauf des 18. Jahrhunderts nur einen einzigen Farben. Erst bis zum Vormärz sanken fünf von 21 Erben ab.78 Manchen gelang es, durch Einheirat auf einen anderen großen Hof, Pacht eines adligen Gutes oder auch den Einstieg in den geistlichen Stand79 wenigstens für sich den sofortigen Abstieg zu vermeiden. Das Bild vom Abstieg der weichenden Erben ist der Forschung über die ländliche Gesellschaft von Anerbengebieten vertraut. Falsch wäre aber, sich die ländlichen Unter­ schichten ausschließlich als Söhne, Enkel oder Urenkel großbäuerlicher Familien zu denken. Von den dreiunddreißig Nachfahren zur Zeit der Reichsgründung waren schließlich immer noch rund die Hälfte Bauern und Kleinbauern. Berücksichtigt man, daß in den Schwälmcr Gemeinden (Typ Illa/b) um 1871 nur zwischen 15% und 28% der Haushaltsvorstände Vollbauern waren, zwischen 60% und 70% aber Unterschichten, zeigt sich, daß sich die Unterschichten nur zum geringen Teil aus weichenden Erben zusammensetzt haben können. Gesetzt den Fall, die Proportionen entsprä­ chen denen der wenigen hier zusammengetragen Fälle - die Zahl der vollbäuerlichen Haushaltsvorstände entspräche also der der abgesunkenen zweiten und dritten Söhne nach rund anderthalb Jahrhunderten - , wären nur knapp die Hälfte der Unterschichten in den Bauerndörfern (Illb) und sogar nur rund ein Viertel der Unterschichten in den ehemals adligen Gemeinden (IIIa) mit den Vollbauern einmal näher verwandt gewesen. Damit wäre ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen beiden Ge­ meindetypen genannt.80 Das Selbstbewußtsein, die Trachten und die Abgeschlossenheit der Schwälmer Bauern gegenüber der Landarmut rechtfertigen auch für das 18. Jahrhundert die Annahme, daß sie bereits spätestens seit dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts ohne nennenswerte Heiratskontakte zur Landarmut blieben. Selbst wenn sie sich insofern bereits im Verlauf des 18. 60

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

vermuten läßt, durch den Verkauf von Getreide auf den regionalen Märk­ ten in der Regel auch über größere Barreserven verfugten als die Landar­ mut, lassen sie sich doch erst wirklich mit dem Beginn der Ablösung auch als marktbedingte Klasse bezeichnen. Bis zu diesem Zeitpunkt blieb die Hofgröße eine Folge und Funktion des Interesses der Obrigkeit an lei­ stungsfähigen Höfen. Die besonders hohe Belastung der Lehnlandhöfe pro Pflichtigem Acker mit Grundzins und Zehnt, die Versorgung des für den Betrieb notwendigen Gesindes und die Unterhaltung des Zug- und Spann­ viehes, besonders der Pferde, für die Fuhrdienste ließ selbst den großen Lehnlandbauern keinen modernen Unternehmern vergleichbaren Spiel­ raum zum Absatz ihrer Produkte auf dem Markt. Diese Feststellung schränkt die oben gewonnenen Befunde über die innergemeindliche Schichtung und die schroffe Kluft zwischen Bauern und Landarmut nicht ein. Sie weist jedoch auf die fundamentale Bedeutung der Obrigkeit und des patrimonialen Charakters der frühmodernen Staatlichkeit für die soziale Schichtung in den Gemeinden hin. Bauern und Landarmut entstanden als herrschaftsbedingte, entscheidend durch die Agrarverfassung und die Be­ dürfnisse der Landesherrschaft geprägte, nicht als marktbedingte Klassen, ohne das dieser analytischen Unterscheidung zwischen den Gründen sozia­ ler Schichtung eine entsprechende Unterscheidung der Wahrnehmung dieser Schichtung auf dem Dorf entspräche. Dort gewannen die Unter­ schichten im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als vollends marktorientierte Klasse, sogar an Eigenständigkeit und Selbstwertgefühl hinzu. Doch dazu später. Trotz der fortwährenden Kluft zwischen Bauern und Landarmut verließ die dörfliche Unterschicht selbst nach der Reichsgründung ihre Gemein­ den nicht in höherem Maße als die Bauern, so daß die örtliche SozialstrukTabelle 8: Berufe abwandernder Söhne und Berufe ihrer Väter, 1881-1910 Berufe der Abgewanderten

Bauer

Höhere Beamte Mittlere Beamte Bauern Kleinbauern Handwerker Kleingewerbe Niedere Beamte Arbeiter

3 6 9 5 2 1

Väter der Abgewanderten Kleinbauer Handwerker Arbeiter 1 18 2 5 17 1 1 9

15 1 31 7 21

7 4 14 2 6 60

Beamter 2 _ 1 -

Quelle: Schade, Zensusuntersuchung, S. 57. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

61

tur auch nach der Reichsgründung nicht durch die Abwanderung der Unterschichten entlastet wurde.81 Wenigstens seit den 1860er Jahren lag ein Grund hierfür auch in den schlechteren beruflichen Chancen abwandernder Arbeitersöhne, vergli­ chen mit denen der Bauern. Gemäß den Berufsangaben abwandernder Söhne aus einem Zensus von 1920 waren 4,8% bzw. 5,6% der abwandern­ den Söhne Voll- oder Kleinbauern und verließen den Heimatort vermut­ lich, um einen anderen Hof zu übernehmen. Andere wurden mittlere und höhere Beamte. Der Anteil der Bauernsöhne unter den Auswandernden entprach genau dem Anteil der Bauern unter den Vätern. Weichende Erben von Höfen fanden offenbar im Staatsdienst einen alternativen Unterhalt. Der Anteil von Handwerkern und Arbeitern unter den auswandernden Söhnen war mit 26,7% und 36,3% genauso groß wie unter den Vätern. Die Ausbildung, die der Einstieg in den Staatsdienst verlangte, war den Söhnen der ländlichen Unterschicht in der Regel nicht möglich, und so blieb es beim väterlichen Status. Die Besitzklasse der Bauern und die Erwerbsklasse der parzellenbesitzenden oder landlosen Handwerker und Tagelöhner bil­ deten demnach zwei soziale Klassen, die sich durch soziale Mobilität und Konnubium konstituierten und gegeneinander abgrenzten. Wenn Heirats­ kontakte nicht bestanden und der Anteil zumindest weitläufig mit den Bauern verwandter Tagelöhnerfamilien selbst in den Bauerndörfern (Illb) bestenfalls die Hälfte der Unterschichthaushalte umfaßte, welche Qualität besaßen die Kontakte zwischen Bauern und Unterschichten dann über­ haupt? Die Antwort auf diese Frage besteht in der Regel in dem Hinweis auf die gemeinsame körperliche Arbeit von Bauern und Unterschicht im bäuerlichen Betrieb.82 Aber in den bäuerlichen Familienwirtschaften der Schwalm, von den Kleinbauern und Parzellenbesitzern nicht zu reden, konnte immer nur ein kleiner Teil der Unterschicht Arbeit finden. Selbst in den ausgesprochenen Bauerndörfern (IIIb) lag der Anteil des Gesindes an den Besteuerten der Klassensteuer nicht einmal bei 10%. Zu den wenigen Knechten, zumal den verheirateten unter ihnen, zählten überdies auch Verwandte der Bauern, die sich die Übernahme des Hofes verdienten.83 Schon diese betriebswirt­ schaftliche Ausgangslage, nicht nur der Hinweis auf die Einschränkung der Koalitionsfreiheit durch das preußische Gesinderecht (bis 1918), erklärt die geringe organisatorische Wirkung des sozialdemokratischen »Fabrik­, Land- und gewerblichen Hilfsarbeiterverbandes« von 1890 bzw. des sozial­ demokratischen Verbandes der »Land-, Wald- und Weinbergarbeiter Deutschlands«.84 Obwohl das agrarische Arbeitsverhältnis auf den größeren Höfen nicht das Leben der erwachsenen Haushaltsvorstände der Unterschicht be­ stimmte, wirkte es sich doch vermutlich auf die Sozialisation der Unter62 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Schicht vor der Heirat aus, vor der sie häufig Gesindedienst leistete.85 Das Gesindeverhältnis läßt sich weder mit den Arbeitsverhältnissen städtischer gewerblicher Arbeiter vergleichen, noch war es ein von den sozialen Span­ nungen zwischen den beiden ländlichen Klassen freies Verhältnis. Es spie­ gelte vielmehr die Personalisierung der sozialen Konflikte in der Gemeinde und die Abhängigkeit der scheinbar persönlichen Beziehungen von der Marktlage einerseits und der Abhängigkeit von der korporativen Gemeinde andererseits. Weil der wichtigste Arbeitsmarkt für die ländlichen Tagelöh­ ner der Bau-, insbesondere Eisenbahnbaumarkt und die westfälischen Fa­ briken waren, blieben in Zeiten der Arbeitsnachfrage auf diesem Sektor Kontraktbrüche im Sommer endemisch. Selbst wo keine andere Stelle winkte, konnte es sich das Gesinde wenigstens bis zum Beginn der »Großen Deflation«, vermutlich im Gegensatz zum Vormärz, leisten, auch auf persönliche Übergriffe der Bauern mit einem Kontraktbruch zu reagieren. Die betroffenen Bauern konnten sich nur hilflos an die Behörden wenden, um das Gesinde »zwangsweise in seinen Dienst einfuhren zu lassen«, mit bitteren Beschimpfungen reagieren oder eine Verschärfung des Gesinde­ rechts fordern.86 Nicht der Staat, sondern allein ein Wandel in der Marktla­ ge konnte für die Arbeitgeber jedoch eine gewisse Erleichterung schaffen. Schließlich waren es umgekehrt nicht zuletzt die Fährnisse der gewerbli­ chen Konjunktur, die die Unterschichten auf ihren Parzellen im Dorf hielten.87 Der Bürgermeister von Schwarzenborn im Kreis Ziegenhain brachte 1878 die Dinge auf den Punkt, als er meinte, das preußische Gesinderecht sei scharf genug, die Bauern würden es jedoch nicht zur Anwendung bringen, um selbst über einen Kontraktbruch hinaus ein erträgliches Verhältnis zu ihrem ehemaligen Gesinde für die Zukunft zu bewahren.88 Wie vernünftig diese Strategie war, zeigte sich nach 1890, als die Klagen über Arbeiter- und Gesindemangel wieder zunahmen. Folge des sich nun kontinuierlich verschärfenden Problems des Arbeitskräftemangels war nicht nur der schrittweise Einsatz von polnischen und russischen Wanderarbei­ tern, sondern auch die strategische Intensivierung scheinbar privater Kon­ takte, beispielsweise durch den gemeinsamen Branntweinkonsum. Da ge­ meinsame Rituale wie die andernorts anzutreffenden Erntebräuche ohnehin fehlten, bot der klassenübergreifende Alkoholkonsum während und nach der Ernte ein funktionelles Äquivalent der dörflichen Vergesell­ schaftung von Bauern und pendelnder Unterschicht als Nachbarn, die sich ihrer sozialen Unterschiede zwar ständig bewußt blieben, für die der Gegensatz zum städtischen Leben jedoch mindestens ebenso bedeutsam wurde.89 Die Bedeutung dieser Nachbarschaftlichkeit zwischen den beiden sozia­ len Klassen für die Selbsteinschätzung der Unterschicht und ihr Verhalten 63 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

war beträchtlich. Das zeigte sich, als es nach der Aufhebung des preußi­ schen Gesinderechtes im Gefolge des Ersten Weltkrieges 1920 zu dem ersten Gesinde- und Landarbeiterstreik der Schwalm kam. Der Streik erfaßte jedoch nur rund die Hälfte der Gemeinden im Kreis, und dann vor allem jene, in denen Gutsbetriebe lagen und der Gegner der bürgerliche oder adlige Gutsbesitzer oder -pächter, nicht aber der bäuerliche Nachbar war. Zwischen dem 17. und 21. Juni 1920 streikten in Schrecksbach zehn, in Loshausen achtundzwanzig, auf der Domäne Schaafhof bei Ziegenhain elf, in Todenhausen acht und in vier weiteren Gemeinden, darunter auch dem Weiler Ransbach und dem Bauerndorf Wasenberg, je ein Landarbeiter. Fünf der Schrecksbacher Streikenden arbeiteten auf dem adligen Gut, die andere Hälfte bei Bauern. Das Gewicht der dörflichen Nachbarschaftlich­ keit, die Tradition der Personalisierung sozialer Konflikte und die gemein­ same Opposition gegenüber äußeren Gegnern war jedoch auch durch die Novemberrevolution und die politischen Umwälzungen in Deutschland nicht gebrochen worden. Die betroffenen Landarbeiter waren ihrer eige­ nen Aussage nach zutiefst beleidigt und bezeichneten es als »unerhört«, daß ihr Arbeitsausstand von den Bauern als Streik bezeichnet werde. Der kollektive Arbeitskampf zur Austragung eines innerdörflichen gesellschaft­ lichen Konflikts war nach wie vor verpönt, weil zwar von Fall zu Fall die Benachteiligung gegenüber den Bauern empfunden, aber trotz der eher­ nen Schranken der sozialen Mobilität nicht als Teil eines gesamtgesell­ schaftlichen Konfliktes bewertet wurde.90 Sofern das Gesindeverhältnis eine Bedeutung für die Sozialisation der Unterschichten besaß, übte es die Personalisierung von Konflikten und ein Gespür für die informelle gegen­ seitige Abhängigkeit zwischen zwei schroff geschichteten sozialen Klassen ein, die sich in wohlkalkulierten Ritualen ihrer gegenseitigen Solidarität versicherten. Mochte auch die große Mehrheit der ländlichen Unterschichten wenig­ stens für kurze Zeit die wenigen Gesindeplätze besetzen, das ländliche Gesinde blieb gegenüber den Mietern und Parzellenbesitzern selbst in den bäuerlichen Gemeinden (IIIb) in der Minderheit.91 Nur dort war der Anteil der Vollbauern an allen Haushaltsvorständen groß genug, um die Zahl der Mägde und Knechte wenigstens über die Zahl der landlosen Mieter schnel­ len zu lassen. In den ehemals adligen Gemeinden (IIIa) war die Zahl der Mieter dagegen doppelt so groß wie die des Gesindes, von der Gesamtzahl der landarmen und landlosen Haushaltsvorstände nicht zu reden.92 Ohne die Bedeutung der Sozialisation im Gesindedienst oder im landwirtschaftli­ chen Tagelohn völlig leugnen zu wollen, darf sie auch nicht überschätzt werden. Durch welche Erfahrungen lassen sich die ländlichen Unterschichten in Schwalm und Knüll dann kennzeichnen? Es ist keine Frage, daß die 64 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

unterschiedlichen Lebensbedingungen der verschiedenen Erwerbsklassen die Bildung einer homogenen sozialen Klasse der Unterschichten gleich­ wohl erschwerten, während die gemeinsame Handarbeit auf dem Lande umgekehrt Bindungen quer zur Grenze der jeweiligen sozialen Klasse schaffen mochten.93 Die Heterogenität der Tätigkeiten der Unterschicht darf aber nicht als Vielfalt unterschiedlicher Erwerbsklassen innerhalb die­ ser ländlichen Unterschicht mißverstanden werden. Selbst das Gesinde bevorzugte Arbeitsverträge, welche die Beschäftigung in anderen Gewer­ beregionen nicht ausschlossen, sondern sich dem zeitlich anpaßten.94 Ge­ sindedienst und landwirtschaftlicher und gewerblicher Tagelohn waren Erwerbsstationen ein und derselben Erwerbsklasse. Auch Selbständigkeit konnte so eine Erwerbsstation sein. Justus Burkhardt in Frielendorf war »früher Schreiner« - wäre also als selbständiger Gewerbetreibener in die zeitgenössische Statistik aufgenommen worden - , zum Zeitpunkt der Erhebung der Klassensteuer war er aber »Tagelöhner« und wohnte, nun­ mehr über sechzig Jahre alt, bei einem Kleinbauern zur Miete.95 Wenn die ländliche Erwerbsklasse aber zunehmend weniger in den bäuerlichen Betrieben Arbeit fand, wie fristete sie dann ihr Leben, und wodurch wurde ihr Verhältnis zu den Bauern bestimmt, wenn nicht durch die gemeinsame Arbeit? Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war die Leinenherstellung die wichtigste gewerbliche Nebenarbeit. Nordhes­ sen, darunter auch die Grafschaft Ziegenhain, wird zum Rand der nord­ westdeutschen Leinenzone gerechnet, die auch das südliche Niedersachsen umfaßte. Die Landgrafschaft beherbergte um die Mitte des 18. Jahrhun­ derts rund 5830 Leineweber, davon 952 städtische und 4878 ländliche, die sich vor allem in den Ämtern Rotenburg, Spangenberg und Lichtenau konzentrierten. Die 38 städtischen Leineweber Waldkappeis waren zu diesem Zeitpunkt ebenso wie die 22 dörflichen Leineweber Herleshausens beispielsweise Landarme, deren durchschittliches Steuerkapital das der Tagelöhner kaum überstieg. Gegenüber diesen Flachs käuflich erwerben­ den Lohnwebern stellten sich die Flachs herstellenden kleinbäuerlichen Leineweber möglicherweise etwas besser. Vielleicht zählten die Willings­ häuser Leineweber-Kleinbauern zu dieser zweiten Gruppe. Ein in der Amtsstadt Treysa an dem Ziegenhain gegenüberliegenden Ufer der Schwalm sitzender Schutzjude und ein »Fabricant« betrieben den Verkauf nach Elberfeld. Dorthin setzten auch die Kaufleute im osthessischen Amt Rotenburg das Leinen ab, nachdem die örtlichen Lohnweber das Garn bargeldlos von ihnen erhalten und verarbeitet hatten. Der Export des hessischen Schockleinens brach nach einer bereits in der westfälischen Zeit krisenhaften Entwicklung in den 1830er Jahren endgültig zusammen. Dieses Geschick teilten andere Gebiete der nordwestdeutschen Leinenzo­ ne wie das südliche Niedersachsen, Ravensberg und Osnabrück mit Nord65 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

hessen. Die Abwanderung aus Kurhessen seit den 1830er und bis in die 1860er Jahre betraf allerdings weniger die ländlichen Gemeinden als die überbesetzten Landstädte. Zu der neu entstehenden Zeche Georgsmarien­ hütte im Osnabrücker Land zogen beispielsweise aus der Grafschaft Ra­ vensberg vor allem unterbäuerliche Heuerleute, aus dem südlichen Nieder­ sachsen vorwiegend unterbäuerliche Schichten und Handwerker und aus Nordhessen in erster Linie landstädtische Handwerker. Besonders betrof­ fen von der Auswanderung waren auch unter den Samplegemeinden die Landstadt Ziegenhain und der Flecken Oberaula. Die Masse der Einwande­ rer in dieses neue industrielle Zentrum kamen jedoch aus den Kerngebieten der nordwestdeutschen Leinenzone und dem Harz, mit einem »Steilabfall an der Randzone mit nur wenigen Zuwanderern«.96 Eine solche Randzone stellte die Grafschaft und der spätere Kreis Ziegen hain geographisch wie auch im Hinblick auf den Umfang der Auswande­ rung dar. Es blieb im Lande, wem »die kleine Hofstelle zusammen mit dem Industrielohn eine annehmbare Lebensgrundlage bot«. Dieses »System der ineinandergreifenden Erwerbstätigkeit« der kleinen Parzellenbesitzer fußte nach wie vor auf der Abstimmung von Parzelle und gewerblicher Arbeit wie bereits bei den Willingshäuser Leinewebern. Bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts lebten die Parzellenbesitzer mit bis zu einem ha Land vor allem vom gewerblichen Erwerb, während die Gartenbesitzer mit über 1.25 ha ihr Leben zur Hälfte von ihrer Parzelle und zur Hälfte mit Nebenerwerb bestritten. Sie zählten zu den »Personen, die selbständig von Handarbeit leben«, wie es die preußische Statistik von 1846 definierte. Es handelte sich um jene »Landarbeiter in der Landwirtschaft ohne feste Zuordnung«, die an der Erwerbsbevölkerung Preußens noch 1871 mit 26,7% einen größeren Anteil ausmachten als die »vornehmlich gewerbli­ chen Arbeiter«.97 In die Zeit des Zusammenbruchs der Leinenverarbeitung im Vormärz fiel die Entwicklung umfangreicherer Pendel- und Wanderarbeit,98 die sich den saisonalen Arbeitsbedingungen der Landwirtschaft nur noch zum Teil anpaßte und die ländlichen Kleinstbesitzer im Sommer in die Stadt und im Winter zurück aufs Land führte. Die Pendel- und Wanderarbeit ermöglich­ te es, daß die ländlichen Gegenden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­ derts zwar ihre Bevölkerungsüberschüsse an die rasch wachsenden städti­ schen Zentren abgaben, aber nicht absolut an Bevölkerung verloren.99 Die Unterschichten hatten seit jeher längere Wege zu ihren Arbeitplätzen zurückgelegt. Zur Erntezeit droschen sie in Neustadt oder Alsfeld, arbeite­ ten das Jahr über in den Kalksteinbrüchen im Knüll oder verließen die Schwalm, um in Kassel Arbeit zu finden.100 Den ersten weiter entfernten Arbeitsmarkt für hessische Wanderarbeiter bildete seit dem späten 18. Jahrhundert Holland. Die hessischen Pendler wanderten zusammen mit 66 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Lippern und Paderbornern über Ijssel und den Rhein bis Duisburg und Holland, um dort Arbeit zu finden. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts trat an die Stelle der Arbeit in Holland die Beschäftigung auf Gütern in Schleswig-Holstein und beim westfälischen Eisenbahnbau. Zwischen den ländlichen Gegenden und den städtischen Zentren Hessens entwickelte sich schließlich spätestens seit den 1880er Jahren eine Pendelbewegung, mit einer Stadtwanderung in der ersten Jahreshälfte und einer Rückwande­ rung in der zweiten Jahreshälfte. Im Kreis Fritzlar wurde der Ort Besse einfach »Klein-Hamburg« genannt, weil die Tagelöhner und Kleinstbesit­ zer von dort regelmäßig nach Hamburg zur Arbeit wanderten.101 Damit wandelte sich auch der Charakter der Wanderarbeit, weil sie zunehmend weniger Füllbeschäftigung zwischen landwirtschaftlicher Ar­ beit im Sommer und heimgewerblicher Beschäftigung im Winter war, sondern sich in den Sommer hineinschob.102 Sie blieb aber eine Folge des »in fast allen Landestheilen in beklagenswertem Umfange bestehenden Mangels der auf Tagelohn arbeitenden Bewohner an solcher Beschäfti­ gung«. 103 Durch die Entwicklung dieses Arbeitsmarktes erhielt die Obrigkeit eine neue Bedeutung, nun nicht mehr als Grund- und Zehntherr, sondern weil Tagelöhner und Bauern in unterschiedlicher Weise an der Regulierung dieses Marktes interessiert waren. Die Vermittlung zwischen den Gutsbesit­ zern in Schleswig und den Wanderarbeitern geschah für die Tagelöhner aus Schwalm und Knüll durch einen Fabrikanten in Rinteln, bei dem sich die Arbeitswilligen melden sollten und der ihnen dann ihr Reiseziel in Schles­ wig anwies, wo sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Bedarf an landwirtschaftlichen Tagelöhnern im Gefolge der dort früh durchge­ führten Agrarreformen intensivierte.104 Das Landratsamt in Ziegenhain stellte die Reisepässe aus, und die Heimatgemeinden wurden durch das Landratsamt aufgefordert, den Arbeitswilligen das Reisegeld aus der Ge­ meindekasse vorzustrecken. Die Löhne auf den Schleswiger Gütern sollten nur in einer Höhe direkt ausbezahlt werden, welche die Rückreise deckte. Der Rest sollte an den Rinteler Fabrikanten gehen, der seine Vermittlungs­ gebühr abzog und die Restsumme nach Ziegenhain an das Landratsamt überwies, das seinerseits das Geld an die Gemeinden weiterschickte. Diese zogen das vorgestreckte Reisegeld sowie alle weiteren Ausgaben ab, die durch die Abwesenheit des Tagelöhners für seine Familie entstanden waren, in der Regel Miete und Holzbedarf. Was blieb, wurde dem Rückkehrer ausgezahlt.105 Ein typischer Vertreter der Wanderarbeiter ist Heinrich Pohl aus Merz­ hausen, laut Steuerkataster von 1841 Besitzer von 1 1/16 Acker Land, rund 1/4 ha, der wie 162 andere Tagelöhner in Rinteln 1856 eintraf, um sich für die Arbeit auf den Gütern in Schleswig vermitteln zu lassen. Pohl 67 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

und zwei andere aus dem Nachbarort Seibertshausen kamen aber schon im Februar in Rinteln an, weil sie sich entschlossen hatten, zwischen Februar und Juni zuerst nach Westfalen weiterzuwandern, um dort im Eisenbahn­ bau zu arbeiten, und erst im Juni von Westfalen aus zur Ernte den Weg nach Schleswig anzutreten. Ähnlich gingen auch Tagelöhner aus Oberaula vor. Im Melderegister der Stadt Offenbach finden sich zwischen dem 30. April und dem 26. August 1896 allein fünfundzwanzig Wanderarbeiter, über­ wiegend Maurer, Anstreicher und Tagelöhner, aus nordhessischen Kreisen wie Rotenburg und Wolfhagen, aber auch der Tagelöhner Georg Ritz aus Zella im Kreis Ziegenhain. Die im Gewerbegehilfen- und Gesindeverzeich­ nis des Stadtarchivs Eschborn zwischen 1854 und 1868 verzeichneten Wanderarbeiter waren in den 1850er Jahren noch ganz überwiegend landwirtschaftliche Tagelöhner. Rund drei Viertel der 1855 und 1856 verzeichneten je 401 Arbeiter waren Drescher oder Schnitter aus vorwie­ gend ober- und osthessischen Kreisen wie Kirchhain, Fulda, Hünfeld und Rotenburg. Es blieb bei rund 400 dieser Wanderbeiter pro Jahr bis in die 1870er Jahre, aber der Anteil der Eisenbahnarbeiter wuchs gegenüber den Schnittern und Dreschern.106 Der heimischen Landwirtschaft entstand durch die Möglichkeit des auswärtigen Verdienstes der einheimischen Tagelöhner zumindest potenti­ ell Konkurrenz, und schon 1857 klagten die Vollbauern in den Landrats­ ämtern über das »massenhafte Ausströmen inländischer Arbeiter zu auslän­ dischen Arbeitsplätzen« wegen der »Nachtheile, ... die dem inländischen Landwirtschaftsbetrieb zu entstehen drohen«. Die Bauern riefen bereits nach dem Dreißigjährigen Krieg die Landesherrschaft um Unterstützung an, als Gesinde knapp war, und erwirkten in der Grafschaft Ziegenhain »ein Verbott, daß die Leute auß den Dörfern ohne vorwissen und einwilligung der Beambten nicht außer Landes, unter dem Vorwand arbeit zu suchen, gehen« sollen.107 Kurhessen untersagte generell die Wanderarbeit für Frau­ en unter 35 Jahren, also für eine Altersgruppe, die das weibliche Gesinde stellte. Für alle anderen Interessenten wurden Reisepässe obligatorisch. Die Landratsämter stellten einen Paß aber nur gegen eine Bescheinigung des jeweiligen Ortsvorstandes aus, laut der in der Gemeinde kein alternativer Bedarf nach Arbeitskräften vorhanden sei. Preußen nahm diese Beschrän­ kungen wieder zurück. Für die Wanderungen innerhalb des neuen erwei­ terten preußischen Staates war das ehemalige Ausland wie Westfalen und Schleswig ohnehin Inland geworden. Erst nachdem sich seit den 1870ern die Wanderungziele von Schleswig und Westfalen weiter nach Westen verlagerten und Schwälmer Arbeiter bis nach Belgien reisten, entstand wieder Handlungsbedarf. Die preußische Regierung legte dem wiederum keine Hemmnisse in den Weg, sondern wies ihre Konsuln zur Unterstüt­ zung an, falls das nötig sein sollte.108 68 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Die agrarisch-gewerbliche Mischbeschäftigung auf der Grundlage von Parzellenbesitz florierte im gesamten Reich. Ihr Erfolg beruhte auf der Fähigkeit der ländlichen Arbeitskräfte, die Krisenstürme der gewerblichen Wirtschaft auf ihren Parzellen mit agrarischer oder kleingewerblicher Be­ schäftigung abzuwettern und notfalls durchzuhungern. Für die Zeit der »Großen Deflation« ist das wörtlich zu verstehen. Die Abhängigkeit der Pendler von der industriellen Konjunktur zeigte sich in voller Härte erst­ mals seit 1873 an den aus Westfalen zurückströmenden bettelnden Tage­ löhnern.109 Umso wichtiger wurde der Parzellenbesitz für die Arbeiter. Während zwischen 1882 und 1925 die Zahl der Betriebe über zwanzig Hektar zurückging und die Zahl der Betriebe von zwei bis zwanzig Hektar stagnierte, nahm allein im Landkreis Kassel die Zahl der Parzellenbetriebe um 57% von rund 5000 auf 7850 zu. Im Kreis Ziegenhain nahm das Gesinde aufgrund der steigenden Lohnkosten ab, die Zahl der parzellenbe­ sitzenden Tagelöhner stieg jedoch weiter. Die Zahl der Parzellenbetriebe wuchs im Kreis zwischen 1882 und 1907 denn auch um rund 200 auf über 3100. 110 Die Vollbauern sahen sich gezwungen, Gesinde für kürzere Zeiträume einzustellen, um ihm im Sommer die Chance zur Arbeit in der Stadt zu lassen, oder durch den Einsatz von Dreschmaschinen und durch die saiso­ nale Beschäftigung von polnischen Wanderarbeitern Ersatz zu schaffen. Maschinendrusch läßt sich erst nach dem Krieg in der Schwalm nachweisen. Die billigeren saisonalen Arbeitskräfte stellten, ebenso wie im deutschen Osten, Polen und Russen, die seit 1891 auch westlich der Elbe eingesetzt werden durften.111 Die rür Ziegenhain zuständige Arbeitsvermittlungsstelle in Witzenhausen warb allein im Jahr 1897 15 Knechte und 896 vorwiegend polnische und russische Saisonarbeiter rür die Ernte auf den drei Domänen, den 14 Rittergütern und bei den zahlreichen Vollbauern an.112 Noch im letzten Kriegsjahr befanden sich 93 polnische Arbeiter in landwirtschaftli­ chen Betrieben im Landratsamt Ziegenhain, 47 Männer und 46 Erauen, die sich auf die Orte Erielendorf, Breitenbach, Oberaula und die Domäne Schaafhof bei Ziegenhein verteilten.113 Die ländliche Gesellschaft wurde von dieser Entwicklung zwiespältig berührt. Erstens gerieten die Konflikte zwischen Bauern und Tagelöhnern ein Stück weit zu Reibungen der ländlichen Gemeinden mit Staat und Gesellschaft. Mit jeder Krise der gewerblichen Beschäftigung gelangte auch die fragile Finanzierung der ländlichen industriellen Reservearmee in die Krise, die dann erneut auf Arbeit auf den Höfen angewiesen war. Nach dem Kriege wehrten sich die Schwälmer Bauern jedoch energisch gegen die Versuche des Reichsarbeitsministeriums, die Zahl der ausländischen Arbei­ ter zugunsten der Beschäftigung einheimischer Arbeitsloser zu reduzieren. In wiederholten, über den Regierungspräsidenten in Kassel an die Landräte 69 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

weitergeleiteten Erlaßen forderte dagegen das Reichsarbeits- und das Reichsinnenministerium, daß ausländische Landarbeiter nur noch bei »zwingendem Bedürfnis« eingestellt würden. Die Prüfung dieses Bedürf­ nisses sollte einem »paritätisch zusammengesetzten Ausschuß« der land­ wirtschaftlichen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände obliegen. Regie­ rungspräsident und Landräte sollten Ausweise für die ›Inlandslegitimation‹ ausländischer Arbeiter nur nach vorheriger Prüfung durch diese Kommissi­ on erstellen. Die landwirtschafliche Kommission im Regierungsbezirk, das Sprachrohr der großen Bauern, protestierte energisch gegen dieses Vorge­ hen und bemühte zu diesem Zweck das Bild der »Herren Landräte«, gegen die die bäuerliche Existenz zu verteidigen sei: »Die Maßnahmen der Herren Landräte auf diesem Gebiete haben aber bei den betroffenen Landwirten große Beunruhigung hervorgerufen«. Selbst kontraktbrüchig gewordene polnische Landarbeiter sollten nicht sofort des Reiches verwie­ sen und damit »unnötigerweise« der landwirtschaftlichen Produktion ent­ zogen werden. Der Konflikt um die Einstellung polnischer Landarbeiter führte von seiten des Regierungspräsidenten zur Anordnung von überra­ schenden Überprüfungen der in Frage kommenden Betriebe nach Arbei­ tern ohne Inlandslegitimation. Dabei wurde im Herbst 1922 festgestellt, daß die zulässige Gesamtzahl von 58 im Landratsamt Ziegenhain nicht überschritten worden war. Umgekehrt bemühte sich der Ziegenhainer Landrat im Februar 1923 um eine stillschweigende Fristverlängerung der Inlandslegitimation der Ziegenhainer Polen, bis die neuen Kontrakte abge­ schlossen worden seien. Das Amt für Arbeitsnachweise forderte jedoch unverändert eine weitere Einschränkung der Zahl der zu vergebenden Genehmigungen. Obwohl 1925 nurmehr 35 ausländische Arbeiter gemel­ det waren (davon 16 auf der Domäne Schaafhof, fünf auf den Loshäusener Rittergütern, und je einer in Wasenberg und Frielendorf), ging der Streit um ihre Anstellung weiter.114 Der Konflikt um die Arbeitskraft der Tagelöh­ ner und der Versuch der Bauern, den Arbeitsmarkt durch den Staat in ihrem Sinne regeln zu lassen, zählte wenigstens seit der Gesindeknappheit nach dem Dreißigjährigen Krieg zu den Grundproblemen der ländlichen Gesell­ schaft, in die zunächst die Landesherrschaft und später der Staat einbezo­ gen blieben. Er unterstreicht die Rolle politischer Einflußnahme auf einem Arbeitsmarkt, der Bauern und Tagelöhnern sowohl saisonal als auch im säkularen Verlauf sehr unterschiedliche Chancen bot und sich nach der Revolution von 1918/19 durch den Wegfall des Gesinderechtes und die Einrichtung von Kommissionen mit Vertretern der Arbeitnehmerseite poli­ tisch endgültig gegen die Bauern zu wenden schien.115 Je mehr Rechte die parzellenbesitzende Erwerbsklasse erhielt und je erbitterter die Bauern dem Staat gegenüber deswegen sein mochten, desto mehr zählte zweitens das nachbarschaftliche Verhältnis im Dorf. Mögli70 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

cherweise bearbeiteten die polnischen Saisonarbeiter denn auch die Parzel­ len der abwesenden Industriearbeiter, denn zwischen diesen und den Vollbauern entwickelten sich mit der Zeit Absprachen, nach denen die Vollbauern die ohnehin im Gemenge liegenden Parzellen der Arbeiter bei der Ernte gleich mitbestellten. Die Verkoppelung war bis 1900 kaum vorangekommen, und es bestand angesichts dieser Kooperation in den Gemeinden auch kein Bedürfnis nach schneller Verkoppelung. Umgekehrt mochten auch die Bauern an der Entwicklung nachbarschaftlicher Bezie­ hungen zu den Tagelöhnern interessiert sein, wenn für manche anfallende Arbeit gerade kein polnischer Arbeiter zur Verfügung stand.116 Die Ent­ flechtung des ehemaligen agrarischen Arbeitsverhältnisses zwischen Bauern und Tagelöhnern durch die Wanderarbeit und die saisonale Anstellung von polnischen Arbeitern schuf nicht nur eine neue dörfliche Unterschicht häufig katholischer Außenseiter in den evangelischen Landgemeinden, sie nahm dem Klassenverhältnis zwischen Bauern und Tagelöhnern auch den Herrschaftscharakter, den das preußische Gesinderecht zwischen Bauer und Gesinde perpetuierte. Die nachbarlichen Absprachen zur Bestellung der Felder wiesen in dieselbe Richtung. Beides mochte die Eigenwahrneh­ mung der Tagelöhner als Bauern, und sei es als »Ziegenbauern«, fördern.117 Nachbarschaft und dörfliches Zusammenleben wurden für das Verhältnis von Bauern und Tagelöhnern umso wichtiger, je weniger das kurhessische oder preußische Gesinderecht ihr Verhältnis vorherbestimmte, je mehr der Markt den Tagelöhnern Alternativen zur abhängigen landwirtschaftlichen Arbeit bei den Bauern bot und ihnen dadurch die Rolle als Nachbarn der Bauern eröffnete. Die Qualität dieser Nachbarschaftlichkeit auf dem Dorfe unterschied sich von Gemeindetyp zu Gemeindetyp jedoch erheblich. Dies läßt sich im Hinblick auf das gemeinsame Wohnen mit Hilfe der Klassensteuerlisten der 1870er Jahre verfolgen. Steuerpflichtig waren alle Personen ab 16 Jahren, die nach Schätzung der Steuerbeamten in eine von drei Klassen aufgrund des Gesamtwertes aller Einkünfte aus Grundbesitz, Vermögen oder abhän­ giger Arbeit eingeteilt wurden oder wegen Alter, Krankheit oder Armut steuerbefreit waren. Kinder unter sechzehn Jahren wurden in eigenen Spalten dem jeweiligen Erziehungsvorstand zugerechnet. Zu einem Haus­ halt gehörende Personen mit einer eigenen Versteuerung neben dem Haushaltsvorstand, besonders Gesinde, wurden nach dem jeweiligen Haus­ haltsvorstand aufgeführt und unter unter dessen Namen durch die Angabe der Zahl der folgenden Knechte, Mägde usf. als Teil des Haushaltes identifiziert. Auf außerhäusiges Gesinde mit eigenem Haushalt wurde bei der Nennung des Haushaltsvorstandes unter Angabe der Hausnummer der Wohnung des Gesindes bei der Nennung dieses Gesindes mit Querverweis zum Bauernhaushalt und Angabe von dessen Hausnummer verwiesen. Alle 71 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Häuser sind durch Hausnummern, nachträglich im Inneren aufgeteilte Häuser oder Mietparteien sind durch Nummern mit Buchstaben oder Brüchen für jede Untereinheit bezeichnet. Diese Angaben grenzen jeden Haushalt, die Lehrlinge oder Gesinde, Auszögner, koresidierenden Ver­ wandten usw. untereinander und von koresidierenden Haushalten im glei­ chen Haus ab. Dabei wird hier von der Unterscheidung zwischen Familie im Sinne der gemeinsam haushaltenden Kernfamilie, Haushalt im Sinne der Familie und des koresidierenden Gesindes, der Untermieter usf. und Tabelle 9: Durchschnittliche Familiengröße von Grundbesitzern und Mie­ tern bzw. unterschiedlicher sozialer Gruppen in fünf Samplege meinden Alle Grund­ besitzer* Alle Mieter**

Oberaula Wasenberg Holzburg Willingshausen Frielendorf Ν AM Ν AM Ν AM Ν AM Ν AM 119

4.1

83

4.3

45

5.0

61

4.2

87

4.5

92

2.6

74

3.0

25

2.6

103

2.8

108

2.5

Bauern, › 10 ha

5.6

4.5

6.5

4.1

4.3

Kleinbauern 5-10 ha

4.8

4.3

4.6

4.3

4.8

Parzellen­ besitzer I 1.25-5 ha

4.1

4.3

4.6

4.3

4.8

Parzellenbesit­ zer II mit bis 1.25 ha

3.4

4.1

3.6

3.8

4.5

2.7

3.4

3.0

2.9

2.5

(2.5)

(2.8)

(2.2)

(2.5)

(2.5)

Mieter (ohne milt Grundbesitzern koresidierende) (mit Grundbe­ sitzern koresi­ dierende Mieter)

AM: Arithmetisches Mittel; *= ohne die zur Miete wohnenden Grundbesitzer; Koresidieren­ des Gesinde, Auszögner, Haushalte von Verwandten usf. sind in die folgenden Größen (vgl. Anm. 119 u. 120) nicht mit einbezogen; **: mit den zur Miete wohnenden Grundbesitzern; jeweils ohne Gesinde, Auszögner und koresidierende Verwandte; unter Mieter wurden in den folgenden Tabellen alle Familien zusammengefaßt, die über keinen eigenen Grund und Boden verfügten. Quelle s. Tab. 5 / 5a.

72 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

»houseful« im Sinne aller in einem Haus oder einer gemeinsamen Haus­ hälfte koresidierenden, aber eigenständig wirtschaftenden Haushalte aus­ gegangen.118 Bauern und Tagelöhner lebten nicht nur in unterschiedlich großen Haushalten und Familien,119 sondern je nach Gemeindetyp auch mit ande­ ren Nachbarn unter einem Dach zusammen.120 Die Familien von Grundbe­ sitzern waren ebenso wie in anderen Agrarregionen121 wesentlich größer als die von Mietern. Unterteilt man die Grundbesitzer aber noch einmal im Hinblick auf ihren Besitz, zeigt sich, daß bereits die Parzellenbesitzer in kleineren Familien lebten. In drei der fünf Gemeinden lag die Familiengrö­ ße der Kleinstbesitzer mit weniger als 1.25 ha im Durchschnitt unter der Grenze von wenigstens vier Personen, die von den anderen Gruppen nie unterschritten wurde. Auch ohne Gesinde, Auszögner usf. hinzuzunehmen - sie werden unten berücksichtigt - waren die Familien der ländlichen Unterschicht, die Kleinstbesitzer eingeschlossen (Frielendorf bildete hier die bemerkenswer­ te Ausnahme), kleiner als die der Grundbesitzer, geschweige der Bauern. Gesinde kam in der Gruppe der ländlichen Unterschichten, mit Ausnahme von acht Fällen in Frielendorf und einem Fall in Willingshausen, überhaupt nicht vor. Auch die Auszögner finden sich fast ausschließlich bei den grundbesitzenden Gruppen. Tabelle 10: Anteile der Haushalte mit koresidierenden Auszögnern in Pro­ zent der Haushalte je Gruppe Oberaula

Wasenberg

Holzburg

Willings­ hausen

Frielen­ dorf

Vollbauern

30,0

42,8

47,1

66,7

27,2

Kleinbauern

14,7

10,0

42,8

33,3

37,5

Parzellenbes. I (über 1.25 ha)

21,6

0,8

-

17,6

5,8

Parzellenbes. II (bis 1.25 ha)

6,1

_

7,1

7,7

9,3

Mieter

-

-

-

-

1,6

Die älteren Verwandten der landlosen Unterschichten mußten in der Regel anderweitig unterkommen. Sie bildeten vermutlich diejenigen Mieter, die wegen Erwerbsunfähigkeit durch Alter oder Krankheit steuerbefreit waren, denn sie konnten keine Auszögner bei ihren Erben werden, entsprechende © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

73

Erbarrangements entfielen mangels Landbesitz. Etwas anders gestaltete sich das Bild bei Verwandten parzellenbesitzender Unterschichten - soweit aus gleichen Nachnamen auf Verwandtschaft geschlossen werden kann.122 Das Zusammenwohnen mit Verwandten betraf sogar vor allem die parzel­ lenbesitzenden Erwerbsklassen, weniger die Bauern. Möglicherweise be­ stand bei diesen Gruppen sowohl der entsprechende Bedarf als auch die Möglichkeit solcher Arrangements. Tabelle 11: Anteile koresidierender Verwandter in Prozent der Haushalte je Gruppe Oberaula

Wasenberg

Holzburg

Willingshausen

Frielendorf

Vollbauern

-

14,3

-

25,0

-

Kleinbauern

2,9

-

-

-

6,3

Parzellenbes. I

5,4

-

-

23,5

11,7

Parzellenbes. II

-

23,1

21,4

26,9

6,9

Mieter

-

8,3

-

-

-

Quelle: s. Tab. 5 /5a.

Tabelle 12: Anteile der Haushalte mit Schlafgängern oder anderen koresi­ dierenden Familien Oberaula Alle Familien (ohne Auszögner, Gesinde, koresidierende Verwandte)

Wasenberg

Holzburg

Willingshausen

Frielendorf

211

157

70

164

195

Davon koresidierend mit einer anderen Familie (ohne Gesinde, Verwandte, Auszögner) 128

102

34

110

109

Alleine residierend

83

55

36

54

86

Anteil koresidierend

60,7%

64,9%

48,6%

67,1%

55,9%

Quelle: s. Tab. 5 /5a.

74 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Tabelle 13: Anteile unter den sozialen Gruppen mit Mietern im eigenen Haus bzw. von Mietern, die mit anderen Mietern zusammen­ wohnen Von hundert Haushalten lebten mit Mietern in einem Haus ...

Vollbauern

Oberaula

Wasenberg

Holzburg

-

22,8%

23,5%

Willingshausen

Frielendorf

25,0%

45,5%

Kleinbauern

26,5%

80,0%

28,6%

-

37,5%

Parzellenbes. I

48,6%

75,0%

28,6%

-

29,4%

Parzellenbes. II

63,6%

42,3%

35,7%

38,5%

27,9%

Mieter

40,0%

46,6%

48,8%

63,6%

37,2%

Quelle: s. Tab. 5 /5a. Viel häufiger kam, verglichen mit der Koresidenz von Gesinde und Aus­ zögnern, das Zusammenwohnen von nicht-verwandten Familien in einem Haus oder Hausteil bzw. die Aufnahme von Schlafgängern vor. Die Hälfte bis zwei Drittel aller Familien lebte mit anderen Familien zusammen, mit oder ohne gemeinsame Haushaltsführung. Dabei handelte es sich sowohl um die Koresidenz von Grundbesitzern und Mietern als auch um das ZusammenwOhnen von Mietern in einem Haus oder Hausteil. Freilich unterschieden sich die ländlichen Klassen danach, wie häufig und wenn mit wem sie in einem Haus zusammenlebten. Mit Ausnahme von Frielendorf war der Anteil von Vollbauern mit Mietern im eigenen Wohnhaus deutlich geringer als der bei allen anderen dörflichen Gruppen (Tabelle 13). Die landarmen Erwerbsklassen verzeichneten in der Regel wesentlich höhrere Anteile vermietender bzw. mit anderen Mietern zusammenwohnender Haushalte. Umgekehrt lebte die Mehrheit der Mieter nicht bei den Bau­ ern, sondern unter sich (Tabelle 14). In Oberaula lebten von 92 Mieterfamilien z.B. 57 bei grundbesitzenden Familien und 35 unter sich. Diese 35 Familien bildeten 20 ›housefuls‹ mit einer oder mehreren Familien, von denen 15, also 40.0%, aus mindestens zwei Familien bestanden. In dem Mittelgebirgsdorf Oberaula und den gewerblichen Schwalmdör­ fern mit hohem Tagelöhneranteil wie Willingshausen und Frielendorf (Ty­ pen II und IIIa) lebte kaum ein Siebtel der Mieter bei Voll- oder Kleinbau­ ern. Über die Hälfte in Oberaula, drei Viertel bzw. vier Fünftel der Mieter in Frielendorf und Willingshausen lebten bei Mietern oder landarmen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

75

Tabelle 14: Verteilung der Mieter auf die sozialen Gruppen

Vollbauern

Oberaula

Wasenberg

Holzbürg

Willingshausen

Frielendorf

-

22,0%

33,3%

4,3%

7,7%

-

9,2%

Kleinbauern

13,9%

16,9%

11,1%

Parzellenbes. I

34,7%

18,6%

11,1%

11,4%

9,2%

Parzellenbes. II

30,6%

27,1%

27,7%

31,4%

35,4%

Mieter

20,8%

15,3%

16,7%

52,8%

38,5%

99,9%*

99,9%*

99,9%

100%

100%

(*=Rundungsfchler) Quelle: s. Tab. 5 /5a.

Unterschichten. Ganz anders gestaltete sich die Lage in den bäuerlicher bestimmten Schwalmdörfern (IIIb). Rund 40% der Mieter lebten hier bei den Bauern. Mit Recht läßt sich darauf hinweisen, daß die Anonymität der Großstadt in den ländlichen Gemeinden in keinem Falle vorhanden war. Gleichwohl war es ein Unterschied, ob die dörflichen Erwerbsklassen bei den größeren Bauern zur Miete wohnten und dadurch von ihnen wirt­ schaftlich und sozial noch abhängiger waren und beobachtbarer wurden, als das ohnehin der Fall war, oder ob sie unter sich bleiben und als Mieter auf den Haus- und Parzellenbesitz anderer Landarmer zurückgreifen konn­ ten. Zu den bereits festgestellten Strukturunterschieden der Schwälmer Bauerndörfer und Weiler (IV-IIIb) gegenüber den Schwälmer Tagelöhner­ gemeinden (IIIa) und den Mittelgebirgsflecken (II) ergab sich daher neben dem höheren Gesindeanteil und dem vermutlich größeren Anteil weitläufig mit den Bauern verwandter Unterschichthaushalte auch die relativ größere Kontrolle der ländlichen Erwerbsklasse als Mieter in den Bauerndörfern bzw. ihre größere Unabhängigkeit in den gewerblicher geprägten Gemein­ den.123 Der Erwerb einer eigenen Parzelle, sowohl zur Unabhängigkeit von den Fährnissen des Mietsverhältnisses und des Arbeitsmarktes als auch wegen der Vorteile eines eigenen Nutzgartens, mußte für die Unterschichten ein zentrales Anliegen bleiben. Der Weg in eine bäuerliche Existenz durch Einheirat in die bäuerlichen Familien blieb aber in der Regel versperrt. Weshalb gelang es der dörflichen Erwerbsklasse nicht auf anderem Wege, Parzellen zu kaufen und schließlich die Existenz als Mieter völlig hinter sich zu lassen? Soweit diese Frage für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts beantwortet werden kann, ließen sie es an Bemühungen dazu nicht fehlen. 76 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Sie stießen aber an die Grenze ihrerfinanziellenBelastbarkeit angesichts der Ablösungsverpflichtungen und eines Immobilienmarkts, auf dem die Preise für Grund und Boden dem Anstieg der Löhne davonliefen. Wohl nahmen die Gesinde- und Landarbeiterlöhne nach einer langen Phase der Stagnati­ on zwischen dem Ende des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Jahrhundertwende rasch zu, aber bereits der durchschnittliche Preis für einen Hektar schlechten Mittelgebirgsboden verdoppelte sich in Oberaula zwischen 1894/99 und 1907/13 von 1284 auf 2517 Mark und betrug damit rund das Zehnfache dessen, was ein Merzhäuser Knecht um die Jahrhundertwende im Jahr an barem Geld verdienen konnte.124 Die Niederlage der Unterschichten in diesem Wettlauf stellt sich stati­ stisch als Verschuldung dar und, bei jeder zusätzlichen finanziellen Bela­ stung, sei es durch Ablösungszahlungen, sei es durch den Tod der Ehefrau, die Krankheit des Ehemannes oder die Erwerbslosigkeit in einer Konjunk­ turflaute, als Überschuldung. Die Verschuldung agrarischer Betriebe verlief im 19. Jahrhundert nach Zeitpunkt, Betriebgröße und Region unterschied­ lich. Die öffentliche Diskussion über die spektakulären Erfolge einiger antisemitischer Splittergruppen auf dem Lande veranlaßte eine Reihe de­ taillierter Erhebungen über die Verschuldung auf dem Lande, aus denen wir sowohl aus makroökonomischer Perspektive über die Verschuldung der Landwirtschaft in Preußen als auch aus mikroökonomischer Perspektive über die Verschuldung einzelner Betriebe unterrichtet sind.125Die chroni­ sche Verschuldung der Parzellenbesitzer war, folgt man diesen Untersu­ chungen und den Schwälmer Quellen, kein spezifisch bäuerliches oder gar kleinbäuerliches Problem, schon gar nicht ein Problem der auch in der Agrarkrise der 1870er und 1880er Jahren durch die Milchwirtschaft pro­ sperierenden Schwälmer Bauern.126 Für die Parzellenbesitzer hingegen überstiegen die zahlreichen finanziellen Belastungen als Folge von Mißern­ ten, Agrarkrisen, Ablösungszahlungen und Gewerbekrisen die Fähigkeit, die mit Schulden erworbene Parzelle zu halten. Der Ausgangspunkt der ersten großen Bankrottwelle in der Landwirt­ schaft waren daher die Agrarkrise von 1847 und die in den folgenden Jahren auftretenden agrarischen Probleme (Mißernten und Kartoffelfäule), die den Unterschichten verwehrten, zugleich den Ablösungszahlungen im Gefolge der Agrarreformen nachzukommen. Diese Zahlungsverpflichtun­ gen trafen parzellenbesitzende Gewerbetreibende am schwersten. Die Agrarreformen führten beispielsweise in Württemberg bis 1847 zu einem scharfen Anstieg der Bodenpreise, weil auf dem erhitzten Markt gerade die Landlosen und Landarmen um zunehmend überteuerte Parzellen konkur­ rierten, deren Kauf durch Hypotheken finanziert wurde. Durch die Teue­ rung von 1847/48 gerieten diese nach wie vor auf den Kauf von Nahrungs­ mitteln angewiesenen Nebenerwerbslandwirte in die Krise, die Hypothe© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

77

ken konnten nicht abgezahlt, das Land mußte verkauft werden. Gegenüber den württembergischen Realteilungsgebieten war im Anerbengebiet Ho­ henlohe, mit einem größeren Anteil großbäuerlicher Betriebe, auch der Anteil der Bauern unter den Schuldnern der Gantungen mit unter 25% geringer als in Württemberg. Der Anteil der Tagelöhner lag dagegen sogar bei über 40%. Die Ablösung wurde in Hohenlohe bis 1836 nahezu voll­ ständig vollzogen, es gab weniger Güterhandel, unter den Bauern weniger Verschuldung und weniger Konkurse. Die Verschuldung betraf wiederum vor allem die Tagelöhner. Selbst in den kleinbäuerlich strukturierten Real­ teilungsgebieten betraf die Verschuldung auf dem Lande jedoch in erster Linie landarme Tagelöhner, wenn sich diese Tendenz in Anerbengebieten auch ausgeprägter darstellte. In Baden sah die Lage kaum anders aus.127 Tabelle 15: Verschuldung 1855 Gemeinde Schulden in RT

Nordeck Ober­ Frielen- Willings- Merz­ Schrecks- Holz­ Losaula hausen hausen bach burg hausen dorf 3600

3000

6200

8000

2000

13000

800

6000

Einwohner

655

944

785

765

744

779

334

515

Schulden pro Kopf

5.5

3.2

7.9

10.4

27

16.7

2.4

11.6

Anteil der Haus­ halte mit ‹ 2 ha Grundbesitz in Prozent aller 40 Haushalte

62

75

80

84

75

52

74

Quelle: Bestand H3, XIII, 7.

Am hessischen Beispiel lassen sich die Verhältnisse genauer rekonstruieren. Auch dort war die Verschuldung der Parzellenbesitzer eng mit der Ent­ flechtung der traditionalen Grundherrschaft; im Verlauf der Agrarreformen verbunden. Die erste Phase dieser Entflechtung begann mit der Agrarge­ setzgebung von 1832 und zielte auf die Ablösung der Dienste und Zehnten zum zwanzigfachen ihres jeweiligen Wertes, was in der Regel jeweils von der betroffenen Gemeinde insgesamt zu regeln war. Der Anstieg der Kreditnahme speziell zur Zehntablösung bei der hierzu eigens eingerichte78 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

ten kurhessischen Landeskreditkasse in den Jahren zwischen 1832 und 1840 auf rund 700.000 Reichstahler signalisiert, daß diese Chance durch viele Gemeinden wahrgenommen wurde. Rund zwei Drittel der Gelder gingen an den Landesherren als wichtigsten Grundherren. Insgesamt acht der dreizehn Gemeinden wiesen 1855 durch diese Ablösung entstandene Gemeindeschulden aus. Die Pro-Kopf-Verschuldung der Gemeinden vari­ ierte von 2.4 bis 11.6 Taler. Abgesehen von Merzhausen war die Verschul­ dung in den Gemeinden höher, in denen auch der Unterschichtenanteil größer war. Die Liste wird von Schrecksbach, Willingshausen, Loshausen und Frielendorf angeführt, alle mit einem Anteil von Landlosen und Landarmen über 70%. Deutlich geringer war sie in Oberaula, Nordeck und Holzburg mit Unterschichtanteilen von unter zwei Dritteln. In Willings­ hausen, Loshausen und Schrecksbach kamen möglicherweise Ablösungs­ zahlungen an die örtlichen Ritter hinzu. Die anderen Gemeinden wie Wasenberg, Wiera, Zella und die Weiler waren gar nicht verschuldet, dort lag der Unterschichtenanteil nie über 67%.128 Die bäuerliche Führung der Gemeinde Wasenberg (Typ IIIb) erwirt­ schaftete beispielsweise aus dem privilegierten Zugriff als Nutzungsberech­ tigte auf die umfangreiche Gemeindewaldung zwischen 1829 und 1832 allein zwischen 100 und über 300 Reichstaler Gewinn und sammelte bis 1831 Rückstände von 1358 Reichstalern an. Nach Tilgung der Ablösungs­ zahlungen standen schon 1855 Einnahmen und Überschüsse aus früheren Jahren von 3139 Reichstalern jährliche Ausgaben von nur 1412 Reichsta­ lern gegenüber. Völlig anders die Lage in der Handwerkergemeinde Nordeck (Typ II). Ihr standen keine Einnahmen aus einer Gemeindewal­ dung zur Verfügung, im Zuge der Ablösung der Servituten wurde die örtliche Waldung überdies der alten adligen Herrschaft, denen von Rau, zugesprochen und der Gemeinde die weitere Nutzung entzogen. 1855 hatte die Gemeinde noch 3000 Reichstaler Schulden. Bis zur Reichsgrün­ dung hatten auch die Nordecker Parzellenbesitzer ihre Schulden bei der Landeskreditkasse in einer Höhe zwischen 25 und 330 Reichstalern pro Kopf nicht abgetragen.129 Die zweite Phase der agrarischen Entflechtung begann mit der Agrarge­ setzgebung von 1848. Einerseits erledigte sich durch die entschädigungslo­ se Aufhebung der feudalen Rechte des Kurfürsten und der Allodifizierung der Güter für den Adel die Notwendigkeit, erst Gegenwerte für die bäuerlichen Ablösungssummen zu stellen, bevor die Landeskreditkasse diese an den Adel weitergab, weil auf eine endgültige Regelung der Abfindung der feudalen Rechte des Kurfürsten niemand mehr zu warten brauchte. Andererseits begann nun auch die Ablösung der Grundzinsen. Zwischen 1848 und 1852 nahmen die Erb- und Lehnlandbesitzer in den Gemeinden hierzu fast 800.000 Reichstaler bei der Landeskreditkasse auf. 79 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Kurz, die zweite große Verschuldungswelle in den Gemeinden begann überhaupt erst nach der Revolution.130 Die Ablösung der Abgaben entlaste­ te die großen geschlossenen Lehnlandhöfe am deutlichsten, weil diese zuvor die Hauptträger der Grundlasten gewesen waren und ihnen im Zeichen der Agrarkonjunktur der 1850er und 1860er Jahre die Abzahlung bei der Landeskreditkasse am ehesten möglich war. Die tagelöhnernden Parzellenbesitzer gerieten erneut in finanzielle Probleme. Bis 1869 war wenigstens in den Fällen, in denen die kurhessische Landeskreditkasse einen zinsgünstigen Kredit vermittelte, eine Erleichterung der Ablösung möglich. Bis zu diesem Zeitpunkt lag der höchste Zinssatz der Landeskre­ ditkasse bei 3.75%, ab 1853 bei 4%. Bei einem Zins von 4% entsprach die jährliche Zinsabgabe an die Landeskreditkasse in der Regel ungefähr dem Wert der abgelösten Abgabe pro Jahr. Nach der preußischen Annexion wurden durch Gesetz vom 25. Dezember 1869 die Ablösungsmodalitäten geändert. Ablösungsdarlehen sollten nicht mehr gewährt werden. Durch die Erhöhung des Zinssatzes für die bislang ausgegebenen Darlehen wurde die Rückzahlung dieser Darlehen überdies erschwert. Der Zinssatz von 4%, der bis dahin die Obergrenze der Verzinsung gewesen war, wurde nun die Untergrenze. Wer seine Ablösungsschulden bis dahin nicht getilgt hatte, für den boten die Darlehen kaum noch eine Erleichterung, die Rückzah­ lung aber eine erhebliche Belastung. Die Gesamtsumme der ausstehenden Ablösungsdarlehen betrug 1871 aber noch 24.475.899 Mark und 1883 immer noch 12.497.475 Mark in 29.478 einzelnen Posten zu durch­ schnittlich je 424 Mark - immerhin der Jahresverdienst eines Schwälmer Knechtes, Naturalien inbegriffen. Der letzte Betrag wurde erst 1919 zu­ rückgezahlt.131 Trotz der Einschränkung, daß persönliche Schulden von Landarmen oder Landlosen ohne hypothekarische Belastung ihrer Parzellen in den Hypothekenbüchern nicht erfaßt sind, war es laut Auskunft dieser Quelle neben den Gütern der Parzellenbesitz, der im gesamten Reichsgebiet am höchsten verschuldet war. Überall, wo in Preußen dagegen mittlere und größere bäuerliche Betriebe im Vergleich zu anderen Provinzen vorherr­ schend waren, also primär in Westelbien, war die Verschuldung geringer. Entsprechend lag die Verschuldung in Posen, Ostpreußen, Schlesien, West­ preußen und Brandenburg bei 42.5%, 36.5%, 32.6%, 31.7% und 31.5% Grundbuchschuld auf jeder Mark Grundsteuerertrag. Der Durchschnitt lag in Preußen jedoch nur bei 29.25, denn die Verschuldung war in Hes­ sen-Nassau, Hannover, der Rheinprovinz und Schleswig-Holstein geringer, und das galt auch für das Königreich Sachsen, Württemberg und Hessen­ Darmstadt.132 Auch Kleinbauern mit zwei ha und mehr waren nicht so hoch verschuldet, laut der Verschuldungsstatistik von 1902 sogar noch geringer als Mittel- und Großbauern.133 Unter den Kleinbauern war auch der Anteil 80 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

der unverschuldeten Höfe mit 41.4% am höchsten. Hessen-Nassau und das Rheinland hatten 1902 die geringste Verschuldung in der Landwirtschaft im Durchschnitt aller landwirtschaftlichen Betriebe, Westpreußen und Po­ sen, wo Güter und Kleinstbesitz koexistierten, wiesen die höchste Verschul­ dung auf.134 Über 80% der Schulden rührten aus Kaufgeldresten und Erbabfindun­ gen, die besonders in Anerbengebieten zu Buche schlugen, weil das Abfin­ den weichender Erben einerseits, der Kauf von Parzellen bei gleichzeitiger hypothekarischer Belastung andererseits eine erhebliche Verschuldung be­ dingten. Angesichts der Befunde zum Anteil der Schulden am Grundbuch­ ertrag waren die Vollbauernhöfe der Anerbengebiete aber offenbar besser in der Lage, diese Schulden auch wieder abzutragen. Die Verschuldung der Landwirtschaft im Reich war daher noch bis zum Beginn des 20. Jahrhun­ derts ein Problem der Güter und der Parzellenbesitzer unter zwei ha, nicht der Bauern und ebensowenig der Kleinbauern. Auch bei den erfaßten Zwangsversteigerungen spielte der Zwergbesitz unter 2 ha eine besondere Rolle.135 Die Statistik (siehe Tabelle 16) leidet wie viele preußische Statistiken an der Unterrepräsentation von Parzelienbetrieben unter 0.75 ha, deren Be­ sitzer ihre Parzelle nicht mehr als landwirtschaftlichen Hauptbetrieb dekla­ rierten. Gleichwohl waren auch in Hessen-Nassau bzw. im Regierungsbe­ zirk Kassel neben den großen Gütern die Parzellenbetriebe unter zwei ha im Regierungsbezirk besonders hoch verschuldet. Die bäuerlichen und kleinbäuerlichen Betriebe waren im hessischen noch weniger als im preußi­ schen Raum insgesamt von Zwangsversteigerungen bedroht. Der entspre­ chende Anteil der zwangsversteigerten Parzellenbesitzungen zwischen ein und zwei ha lag fast doppelt so hoch wie der kleinbäuerlicher Betriebe (210 ha) und noch deutlich über den Anteilen bei vollbäuerlichen Betrieben (10-50 ha). Wucher spielte unter den Ursachen der Zwangsversteigerun­ gen gegenüber eigenem Verschulden und ungünstiger Übernahme kaum eine Rolle. Obwohl »Wucher« im Vergleich zu anderen Gründen für eine Versteige­ rung in Hessen-Nassau und im besonderen im Regierungsbezirk Kassel eine relativ wichtigere Rolle spielte als in Preußen insgesamt, reichen die wenigen angeblich durch »Wucher« bedingten Zwangsversteigerungen kaum aus, um »Wucher« zum zentralen Grund für bäuerliche Bankrotte zu erklären.136 Das Preußische Statistische Bureau nennt denn auch »freiwilli­ ge ungünstige Übernahme« bzw. »unmittelbares eigenes Verschulden der Besitzer« in rund zwei Drittel der Fälle als Grund einer Zwangsversteige­ rung. Dieser makroökonomische Befund wird durch Detailuntersuchun­ gen für Nordhessen bestätigt und für die Parzellenbetriebe mit weniger als einem ha ergänzt. Die Verschuldung war besonders ausgeprägt bei den von 81 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Tabelle 16: Zahl der Zwangsversteigerungen, Rechnungsjahr 1886-1889 Unterschichten ‹ 0.75 ha 0.75-2 ha

Kleinbäuerliche und bäuerliche Betriebe 2-10 ha 10-50 ha › 5 0 ha Gesamt

Preußen 1886-87 %

1.456.724 -

408.434 670 0,16

770.191 1182 0,15

352.578 766 0,2

1887-88 %

207 0,01

457 0,11

830 0,11

585 0,16

276 0,52

2355 0,08

1888-89 %

193 0,01

429 0,11

975 0,13

563 0,16

286 0,55

2446 0,08

Hessen-Nassau 84,058 1886-87 %

32.834 95 0,28

66.501 71 0,10

15.329 19 0,12

647 -

199.369 185 0,09

1887-88 %

44 0,05

54 0,16

39 0,06

13 0,08

2 0,31

152 0,08

1888-89 %

46 0,05

68 0,21

55 0,08

15 0,09

2 0,31

186 0,09

49.269 -

18.089 49 0,27

33.464 47 0,14

12.473 17 0,13

566 -

113.861 113 0,09

1887-88 %

12 0,02

28 0,15

25 0,07

13 0,10

2 0,35

80 0,07

1888-89 %

7 0,01

39 0,21

29 0,08

12 0,09

2 0,35

89 0,07

RB Kassel 1886-87 %

52.269 3.040.196 361 2979 0,69 0,09

1. Zahlenreihe: Zahl aller Betriebe; 2. Reihe: Zahl der Zwangsversteigerungen; 3. Reihe: Anteil der versteigerten Betriebe in %. Quelle: Die Zwangsversteigerungen land- und forst­ wirtschaftlicher Grundstücke und die Ursachen derselben im preußischen Staate während der Rechungsjahre 1886/87, 1887/88 und 1888/89, Berlin 1890 (Sonderdruck der Zeitschrift des königlichen statistischen Bureaus) S. 4, zur Zahl der Zwangsversteigerungen; zur Zahl der Betriebe: Preußische Statistik, Band 76, Die Ergebnisse der Beruftzählung vom 5. Juni 1882, III: Landwirtschaftsbetriebe, Berlin 1885, S.2-3, 14-15, 42-43; die unterste Besitzgruppe der Statistik bezieht sich auf Betriebe bis 1 ha, nicht 0.75 ha wie in der Verschuldungsstatistik.

82

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Tabelle 17: Ausgewählte Ursachen für die Zwangsversteigerungen, Rechnungsjahr 1886-1887 Wucher

Freiwillige ungün­ stige Übernahme

30

305

436

Hessen-Nassau

8

11

35

RB Kassel

6

6

14

Preußen

Eigenes Verschulden

Quelle: Die Zwangsversteigerungen land- und forstwirtschaftlicher Grundstücke und die Ursachen derselben im preußischen Staate während der Rechungsjahre 1886/87, 1887/88 und 1888/89, Berlin 1890 (Sonderdruck der Zeitschrift des königlichen statistischen Bu­ reaus), S. 4.

gewerblicher Arbeit abhängigen Parzellenbesitzern. Sie erreichte dort das dreißig- bis vierzigfache des Grundsteuertrages. Viehwucher spielte in Hessen so gut wie keine Rolle. In den großbäuerlichen Betrieben führte, wenn überhaupt, die Abfindung von weichenden Erben im Anerbensystem zur Verschuldung. Der Grund für die ungeheure Verschuldung des Parzel­ lenbesitzes war der Wunsch der ländlichen Erwerbsklasse, sich von den Bauern zumindest als Mieter unabhängig zu machen und zu diesem Zweck eigenen Hausbesitz, wenn möglich mit einem Garten zur Selbstversor­ gung, zu erwerben, wie zeitgenössische Beobachter richtig vermuteten.137 Die Masse der Schulden ruhte daher auf Häusern, nicht auf Feldern, die sich die Parzellenbesitzer ohnehin kaum leisten konnten. In der »Großen Deflation« seit 1873 verloren zuerst die Wanderarbeiter ihre Beschäftigung und damit ihr Einkommen, so daß es zum Beispiel im Kreis Hersfeld zu einer Welle von Zwangsversteigerungen kam. Besonders problematisch stellte sich die Lage auch im Kreis Wolfhagen dar, einer 300 bis 500 Meter hoch gelegenen Mittelgebirgsgegend mit scharfen Nachtfrö­ sten. Die Parzellenbesitzer suchten durch die Arbeit in den örtlichen Steinbrüchen oder den Arbeitspendel nach Kassel den Kauf ihrer Parzellen zu finanzieren, durch den sie regelmäßig hoch verschuldet waren - ange­ sichts des rasanten Anstiegs der Bodenpreise, zwischen 1857 und 1877 um 30% bis 130%, kein Wunder. Im Kreis Ziegenhain zogen die Gesindelöhne seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zwar deutlich an, hielten aber mit dem Anstieg der Bodenpreise nicht mit. Obwohl dort bis 1910 keine bedeuten­ den Meliorationen vorgekommen waren -, eine Folge der verschleppten Agrarreform - stiegen die durchschnittlichen Preise für den Hektar Boden selbst im gebirgigen Oberaula von 1284 Mark 1894/99 auf 2517 Mark 1907/13 an, also auf fast das Doppelte. Der Anstieg bei den besseren © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

83

Schwalmböden war noch dramatischer und traf nicht diejenigen Bauern, die Boden sowohl verkauften wie kauften. Allein 36.9% aller Landeigentü­ mer im Kreis blieben denn auch unverschuldet, bei weiteren 15.2% blieben die Schulden unter 500 Mark.138 Obwohl die Hypothekenprotokolle der hessischen Landgemeinden nur über die hypothekarische Belastung von Grund und Bodens Auskunft geben und nicht über den Kleinkredit der Ärmsten,139 entspricht das aus ihnen zu gewinnende Bild diesem Befund. Auch in den Sampledörfern betraf die Verschuldung vor allem Gewerbetreibende, Kleinhändler, sowie Alte und alleinstehende Frauen. Tabelle 18: Verschuldung in fünf der Samplegemeinden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ort Verschuldungs falle Mit Berufs-/ Statusangabe Landwart Gewerbe und Handel Unterschicht Sonstige Alte und Witwen

Nordeck (1857-74)

Oberaula (1832-83)

Wasenberg (1871-76)

Frielendorf Merzhausen (1872-78) (1871-74)

24

17

27

23

5

17 7

14 1

14 5

19 6

5 -

6 2 1

6 3 2

3 3 1

10 -

3 1 1

1

2

2

3

-

Quelle: Bestand Protokolle II Nordeck Nr.7 Band II, Oberaula Nr.9 Band XII, Wasenberg Nr.3 Band V, Frielendorf Nr.23 Band VI und Merzhausen Nr.34 Band IV.

›Gewerbe- und Handeltreibende‹ waren in der Regel Einzelhandwerker oder kleine Krämer, also Landarme mit gewerblicher Beschäftigung, wie Schremmer sie für den Odenwald beschreibt. Der größte Teil der Schuld­ ner, nämlich 25, waren Weiß- und Lohgerber, Schneider, Schmiede, Schä­ fer und Tagelöhner. Die Dorfhandwerker waren, von Oberaula abgesehen, in der Klassensteuerrolle von 1871 zu zwei Dritteln bis drei Vierteln Landlose oder Besitzer von Parzellen unter zwei ha. Handwerker lassen sich mithin der ländlichen Unterschicht zuordnen.140 Die Erfassungszeiträume beginnen und enden allerdings zu unterschied­

84

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

liehen Zeitpunkten, und die Zahl der erhobenen Fälle ist klein. Der Blick läßt sich jedoch auf den gesamten Landkreis Ziegenhain ausweiten und der Erhebungszeitraum dafür auf die Jahre von 1886 bis 1898 einschränken. In diesen Jahren eroberten die Antisemiten Böckel und Liebermann die Wahlkreise zwischen Eder und Werra, und die öffentliche Diskussion über den jüdischen Viehwucher‹ schlug die höchsten Wellen. Das preußische Ministerium des Innern wies mit Schreiben vom 31. Januar 1886 die Landratsämter an, die Gründe für Zwangsversteigerungen zu erheben. Der Ziegenhainer Landrat reagierte, in dem er die Gemeindevorstände zu Berichten aufforderte. Im Juli 1887 folgte die Aufforderung des Ministeri­ ums, auch die Berufe der Schuldner anzugeben. Insgesamt liegen für den Zeitraum von 1886 bis 1898 Berichte über 116 Landverkäufe vor, in der Regel ein Bericht, aber auch zwei und mehr Berichte je Transaktion, wenn der Landrat mit dem ersten nicht zufrieden war und weitere Informationen anforderte. Bei den 116 Landverkäufen handelte es sich mit Ausnahme von vier Fällen tatsächlich um Zwangsversteigerungen. In diesen vier Fällen waren Grundstücke zum Zwecke der Erbteilung bzw. Flächen außerhalb der Gemarkung des Wohnorts des Besitzers zu Konsolidierungszwecken verkauft worden, ohne daß Schulden eine Rolle spielten. Unklar bleibt, ob in jedem der 112 verbleibenden Fälle ein formelles Zwangsversteigerungs­ verfahren eingeleitet wurde oder die Verkäufer auch informell zur Verstei­ gerung schritten. Die Vorstände der Landgemeinden und kleinen Land­ städte waren wohl in jedem Fall informiert. Die Berichte enthalten Name und Vorname, Wohnort, die Namen der Gläubiger, in der Regel EinzelheiTabelle 19: Der Beruf von Besitzern zwangsversteigerter ländlicher Parzel­ len im Landkreis Ziegenhain 1886-1892 und 1893-1898 Ν Zeitraum 1886-92 in%

56

1893-98 in%

56

ohne Berufs- mit Berufs­ angabe angabe 19 7*

Bauer und Kleinbauer

Sonstige

37 100

3 8,1

5 13,6

12 32,4

17 45,9

49 100

4 8,2

4 8,2

18 36,7

23 46,9

Hand­ Tagelöhner werker u.a.**

Quelle: StAM Bestand 180 Landratsamts Ziegenhain Nr. 3176: Statistik betreffs der Ursachen der Zwangsversteigerungen. * Eigentlich acht Personen ohne Berutsangabe, bei einer handelte es sich jedoch nicht um den Besitzer eines zwangsversteigerten Grundstücks, sondern um Erben, die ihren Besitz zwecks Teilung verkauften. ** Es handelte sich neben Tagelöhnern um Butterfuhrcr, Dienstknechte (bäuerliches Gesinde), Weißbinder, Leineweber, Steinbrecher, Maurer und Schuhmacher, alles Gewerbe, die in den Klassensteuerlisten wie auch in den vorliegenden Berichten oft als Erwerb neben dem Tagelohn angegeben wurden.

85 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

ten über Grund und Verlauf der Verschuldung und in der Regel den Beruf des Schuldners. Sie wurden in die Zeiträume 1886-1892 und 1893-1898 gruppiert. Die Abweichungen zwischen dem ersten und zweiten Zeitraum dürften wesentlich auf die sorgfältigere Erhebung während des letzteren zurückzu­ führen sein, nicht auf tatsächliche Veränderungen. Die größere Zahl der Berichte mit Berufsangaben führte zu einem Anstieg des ohnehin großen Anteils von Handwerkern und Tagelöhnern unter den Schuldnern von 78,3% auf zusammen 83,6%. Rund vier von fünf Schuldnern waren Hand­ werker oder Tagelöhner, also Mitglieder der ländlichen Unterschicht. Selbst in den Schwalmgemeinden mit Tagelöhnern (IIIa), dem Dorftyp mit dem größten Anteil von Unterschichten, lag ihr Anteil an allen Haushalts­ vorständen jedoch bei nur rund 70%. Bauern, Kleinbauern und ›Sonstige‹ machten zusammen nur knapp 20% der Schuldner aus, gegenüber 30% bis 40% in den Klassensteuerlisten von 1871 und den Wählerlisten von 1893. Handwerker und Tagelöhner bildeten also nicht nur die Mehrheit der Schuldner, sie waren gegenüber ihrem Anteil in der ländlichen Gesellschaft sogar überrepräsentiert. Verschuldung war im Landkreis Ziegenhain, wie im ganzen Reichsgebiet, ein Problem für die ländliche Unterschicht, nicht für die Bauern. Ein Blick auf die Gründe der Zwangsversteigerungen erklärt, warum das so war, und bestätigt den Berichterstatter der Enquete zur Lage auf dem Lande, der den Teufelskreis von Parzellenkauf und Verschuldung aus eigener Anschauung beschrieb. Die von den Gemeindevorständen angege­ benen Ursachen für Zwangsversteigerungen lassen sich in sechs Komplexe aufteilen.141 Von den insgesamt 97 Gründen für Zwangsversteigerungen betrafen nur drei jüdische Kreditgeber, in keinem Fall war ein Bauer betroffen. Juden wurden in nur 18 der 116 Verkaufsfälle überhaupt als Gläubiger genannt. Hauptursache für Zwangsversteigerungen war Überschuldung durch Erbe einer bereits verschuldeten Parzelle (A) bzw. Verschuldung bei deren Kauf (B) in 46 sowie persönliches Fehlverhalten in 37 der 97 Versteigerun­ gen, für die wir die Gründe kennen (47,4% bzw. 38,1%). Alle anderen Ursachen spielten nur eine marginale Rolle, jüdischer Wucher‹ eine voll­ kommen zu vernachlässigende. Bei den drei genannten Fällen mögen überdies Vorurteile der Berichterstatter gegen Juden ein Grund für deren Nennung gewesen sein. Der Grund der Zwangsversteigerung lag demnach in der Regel bereits der Aneignung der Parzelle durch Kauf oder Erbe zugrunde. Die dadurch einmal eingegangene Verschuldung führte sofort zur Überschuldung, wenn nicht kontinuierlich sparsam gewirtschaftet und jedes persönliche Mißgeschick vermieden wurde. Nur dann war an die Zahlung der Zinsen zu denken, Tilgung kam offenbar kaum in Frage. Bei 86 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Tabelle 20: Gründe für Zwangsversteigerungen zwischen 1886 und 1892 und zwischen 1893 und 1898 Gründe

Bauern und ohne Berufs­ Sonstige angabe Handwerker Tagelöhner

I 1886-1892 Α Β C D Ε J

II 1893-898 Α Β C D Ε J

Insges., in%

3 4 1 8

7 1 7 15

5 1 7 1 14

7 2 4 8 1 22

22 37,3 4 6,8 4 6,8 26 44,1 2 3,4 1,6 1 59 100

1 3 4

1 1 1 3

2 5 1 6 14

3 6 4 3 1 17

9 23,7 11 28,9 5 13,2 11 28,9 2 5,3 38 100

Quelle: s. Tab. 19.

der Erbschaft bereits verschuldeter Parzellen fand der Verkauf durch die Witwe oder die Erben des verstorbenen Haushaltsvorstandes statt, die nicht in der Lage waren, diese Zinszahlungen noch aufzubringen und »sich um nichts bekümmern wollen«. Da die Familie stets die volle Arbeitskraft aller Familienmitglieder zur Zinszahlung einsetzen mußte, um die Zinszahlun­ gen aufbringen zu können, trafen persönliche Schläge wie der Verlust eines Partners vor allem die Unterschichten. So heißt es über den Tagelöhner Jost Grein aus Willingshausen im Jahr 1890, »Grein war in frühen Jahren strebsam und fleißig, nachdem aber seine 2te und 3te Frau gestorben war, ging es mit seiner Existenz rückwärts und mit seinem geregelten Haus-und Familienleben war es gewissermaßen vorbei. Sein ältester Sohn ging von ihm weg ins Westfälische wo er bis jetzt noch ist«. Bei Johannes Pfaff in Schwarzenborn kam es 1892 sogar zur Versteigerung, obwohl »die zwey ältesten Söhne als Knechte (dienen) und deren Tagelohn von den Eltern fast vollständig (für die Parzelle) verbraucht wird«. Noch eher kam es zur Versteigerung, wenn der männliche Verdiener selbst fortgegangen war. Die Besitzung des Merzhausener Dienstknechtes Andreas Albrecht wurde © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

87

1888 versteigert, nachdem Albrecht längst den Ort verlassen hatte. Ihm gleich tat es der Niedergrenzebacher Tagelöhner Conrad Schützenberg, der 1888 die Familie verließ. 1890 folgte dann die Zwangsversteigerung. Der Schneider Adam Henrich Richardt war 1895 in Westfalen gestorben, wo er als Wanderarbeiter beschäftigt war. Seine Witwe mußte im gleichen Jahr die Parzelle versteigern. Neben dem Verlust des männlichen Verdie­ ners wurden auch große Kinderzahlen als Grund für Überschuldung ange­ ­ührt - ein stereotyp wiederholtes, aber falsches Argument.142 Diese Berichte verdeutlichen jedoch nicht nur die strukturellen Proble­ me der Parzellenfinanzierung, sondern weisen zugleich auf das geradezu verzweifelte Bemühen der Unterschichten hin, so weit möglich mit Unter­ stützung der gesamten Familie Parzellen zu erwerben und zu verteidigen. Die tatsächlich vorhandenen Vorteile eigenen Grund und Bodens wurden oben bereits erwähnt. Diese Berichte weisen jedoch auch auf den Eigen­ wert von Grundbesitz über dessen zweckrationale Verwendung hinaus hin. Denn obwohl die Tagelöhner nie Bauern wurden, riskierten sie durch den Kauf von Parzellen obendrein die Überschuldung, um zumindest dem Status des »Ziegenbauern« näher zu kommen. Der Erwerb einer Parzelle war dafür offenbar ebenso ehrfördernd wie ihr Verlust ehrabschneidend. Diese Bewertung teilten Bauern und Unterschichten, soweit sich das aus verstreuten Äußerungen schließen läßt. Der Tagelöhner Friedrich Dumm, Schwiegervater des oben bereits erwähnten Tagelöhners Conrad Schützen­ berg, gab an, Schützenberg habe »einen sehr verschwenderischen Haushalt geführt ... seine sämtliche Kleidung bei Juden gekauft und nicht bezahlt«. Selbst der Tagelöhner Dumm erklärte die Zwangsversteigerung durch persönliches Verschulden und durch den Kontakt mit der anderen Glau­ bensgruppe. Einige der Schuldner verloren bereits vor dem eigentlichen finanziellen Zusammenbruch das Vertrauen im Dorf. Der Schreiner Georg Bätz aus Olberode ging dagegen kaum in die heimischen Wirtshäuser. »Deshalb hatte er immer noch großes Zutrauen und erhielt deshalb ohne Bedenken gute Leute zu Bürgen welche jetzt schief dahinter hersehen«. Einige traf der Zusammenbruch ihres Gläubigers 1891 wohl unvorbereitet. Der Förster Merle war da vorsichtiger. Die Witwe des Maurers Georg Bode in Wahlshausen mußte 1890 aufgeben, nachdem ihr Haus 1888 abge­ brannt war und Förster Merle, bisher offenbar ihr finanzieller Protektor, sie »im Stich« gelassen hatte. In Sebbeterode schilderte der Pfarrer 1897 anläßlich einer Visitation, die Tagelöhner seien überwiegend bei den Bau­ ern verschuldet.143 Aus solchen immer wieder fallenden Aussagen geht hervor, daß der Verlust von Grund und Boden durch die dörfliche Gesellschaft nicht als ein Ausdruck der Mobilitätsgrenze zwischen den beiden sozialen Klassen der Bauern und der Unterschichten, sondern als Verlust der dörflichen Ehre

88

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

und als Folge persönlichen Ungenügens verstanden wurde. Dadurch wird umgekehrt verständlich, weshalb sich viele Schuldner so starrsinnig an ihre Parzellen klammerten. Die Zwangsversteigerung des Grundstücks der Wit­ we Steinbrecher aus Obergrenzebach 1890 ist dafür ein Beispiel. Die Versteigerung »ist nicht durch wucherische Umtriebe veranlaßt worden. Der Wagner Heinrich Steinbrecher und seine Frau Anna Katharina besaßen nur ein geringes Vermögen, kauften einen Platz, bauten ein Haus und kauften auch noch eine Wiese und einen Acker, stürzten sich dadurch übermäßig in Schulden, woraus sie die Zinsen nicht bezahlen konnten, dadurch gab es viele Gerichtskosten, weil der Gerichtsvollzieher öfter zur Pfändung schreiten mußte, die Schulden hatten sich infolgedessen bei dem Tode Steinbrechers so angehäuft, daß der Verkauf des Grundstücks unver­ meidlich war, zu einem freiwilligen Verkauf, wodurch die Gerichtskosten hätten erspart werden können, war die Witwe jedoch nicht zu bewegen«.144 Auch der Berichterstatter der Enquete über die Lage der Landarbeiter im süd-, Südwest- und mitteldeutschen Raum wies darauf hin, daß der Haupt­ grund der Verschuldung der Ankauf von Parzellen durch Landarme und Landlose sei, die, finanziert durch ihre gewerbliche Arbeit an Rhein und Ruhr, unter hoher Verschuldung in den Besitz von Grund und Boden kommen wollten. Sie kauften stückweise so lange, bis der Besitz für zwei Kühe reichte und sie, »in der Regel alte Leute mit viel Schulden«, den überschuldeten Besitz an ihre Kinder vererbten. Der Erbe müsse dann den verschuldeten Besitz verkaufen, um die Schulden zu bezahlen, und er und seine Geschwister begännen den Kreislauf von vorne. So ist es denn auch ein Tagelöhner mit fünf Ackern (1.25 ha) Besitz, dessen Verschuldung in der Klassensteuerliste von Merzhausen eigens erwähnt wird, und in Frielen­ dorf war ein 1904 zwangsversteigertes Gut vom Besitzer bereits mit Schulden übernommen worden.145 Obwohl sich in der Verschuldungsfrage die unterschiedlichen Lebens­ chancen in der ländlichen Klassengesellschaft besonders drastisch zeigten, hielt die betroffene landarme Unterschicht an einer mit den Bauern geteil­ ten Bewertung dieser Situation fest. Die öffentliche Diskussion um die Verschuldungsfrage wurde zugleich durch die Verklärung dieser Situation zur Gefährdung der heilen ländlichen Welt durch den jüdischen Kapitalis­ mus in der politisch inspirierten zeitgenössischen Rhetorik der »Bauernfra­ ge« bestimmt. Jüdischer Viehwucher gegenüber Kleinbauern spielte in der Geschichte ländlicher Zwangsversteigerungen kaum eine Rolle, in den Samplegemeinden ebenso wenig wie im Landkreis, dem Regierungsbezirk oder der Provinz. Die zeitgenössische politische Rhetorik der »Bauernfra­ ge« war in ihrer Fixierung auf die soziale Homogenität der Bauernschaft aber weder fähig noch bereit, die zeitgenössischen Erhebungen und Berich­ te über Ursachen und Umfang der Verschuldung auf dem Lande zur 89 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Kenntnis zu nehmen. Schließlich konnte sie die Verschuldung zum Signum des zersetzenden modernen - oder jüdischen - Einflußes auf die heile ländliche Welt erheben. Wie es angesichts der bereits vor 1890 eindeutigen Befunde zu der ungeheuren Bedeutung jüdischen Wuchers in der öffentli­ chen zeitgenössischen Diskussion und der Forschung bis heute kommen konnte, erklärt ein Blick in die Unterlagen der Landratsämter. Dort sam­ melten die Landräte auf Anweisung des Regierungspräsidenten seit 1882 Informationen über den jüdischen Viehwuchen. Die seit 1882 regelmäßig stattfindenden Anfragen der Landräte im Regierungsbezirk an ihre Gen­ darmen förderten in Ziegenhain wie anderswo erneut das Phantom der jüdischen Güterschlächterei zutage, weil die Gendarmen ein selektives Bild auf eine selektive Anfrage abgaben. Die beiden durch den Ziegenhainer Landrat 1882 für den Zeitraum ab 1872 und 1904 für den Zeitraum ab 1902 an die Gendarmen ergangenen Anfragen nach jüdischer Güter­ schlächterei‹ brachten für die Zeit von 1872 bis 1882 insgesamt 56 und für 1902 bis 1904 insgesamt fünf Fälle versteigerter Güter im Landratsamt zu Tage. Von 39 von den Gendarmen eigens genannten Händlern dieses ersten Zeitraums waren 33 Juden. Von den 13 Fällen, in denen in diesem Zeitraum die Größe des versteigerten Besitzes bekannt war, handelte es sich in acht Fällen um großbäuerliche Güter (über 10 ha), in vier Fällen um kleinbäuerliche (3-10 ha) und in einem Fall um eine Parzelle. Auch von 1902-1904 waren von insgesamt fünf versteigerten Gütern, über die die Gendarmen berichteten, vier größer als 10 ha und eines größer als drei ha. Den einzelnen Berichten ist in der Regel der Hinweis beigefügt, die Güter seien vereinzelt an die Einwohner des jeweiligen Ortes verkauft worden. Über einen Fall in Frielendorf wird erwähnt, das Gut sei bereits mit hohen Schulden übernommen worden. Die Gendarmen reagierten auf die geziel­ te Anfrage ihres Landrates, nach jüdischen Händlern und der Zerstücke­ lung bäuerlicher Güter zu fahnden. Das taten sie. Die Berichte der Gendar­ men, vor allem der durch diese Berichte vermittelte Eindruck, bäuerliche Betriebe seien vor allem von Versteigerungen betroffen, widersprechen dem statistischen Befund, weil sie auf einer selektive Nachfrage beruhen.146 Hinter dem Schleier der Rhetorik der »Bauernfrage« zeigt sich aber ebensowenig Karl Kautskys moderner Proletarier auf dem Weg in die Verelendung.147 Zwar ging die Verschuldung der Unterschichten mit dem Parzellenkauf selbst einher, zwar wurde der Versuch zum Parzellenerwerb wegen des Wunsches, wenigstens als Hausbesitzer gegenüber den Bauern unabhängiger und als Nachbar angesehener zu sein,148 nicht aufgegeben. Die wirtschaftliche Lage vieler Parzellenbesitzer war deshalb chronisch unsicher. Der Parzellenbesitz war daher wohl kein solides Fundament für die Verbäuerlichung der Unterschicht, aber bis in die zwanziger Jahre ein Teil der Erfolgsgeschichte der deutschen Industrialisierung. 90 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Sowohl die zweckrational kalkulierbaren Vorteile als auch der durch Bauern und Tagelöhner gleichermaßen tradierte Begriff dörflicher Ehre zwangen die Unterschichten geradezu, nicht zuletzt aus Mangel an besse­ ren Alternativen, an dem Ziel des Parzellenerwerbs festzuhalten. Als ge­ werblich tätige Parzellenbesitzer waren sie von den Bauern überdies tat­ sächlich relativ unabhängiger denn als Tagelöhner auf deren Betrieben. Kategorien wie die der herrschaftsbedingten und der marktbedingten sozialen Klasse kennzeichnen die Ursachen der dörflichen Schichtung und den lebensgeschichtlichen Graben zwischen Bauern und Landarmut wäh­ rend des Untersuchungszeitraums. Sie sagen nichts über die Bewertung ihrer Lage durch Bauern und Landarmut im Verlauf der Zeit aus. Die Behandlung der Verschuldungsproblematik im Dorf weist auf die Bedeu­ tung der dörflichen Öffentlichkeit für Bauern und Tagelöhner hin. Wurden die besonderen Lebensbedingungen der Tagelöhner als sozialer Erwerbs­ klasse in der gemeindlichen Öffentlichkeit nicht thematisiert, weil die innerhalb der Gemeinde thematisierten Krisenphänomene Bauern und Tagelöhner gleichermaßen betreffen mußten? Welche Bedeutung besaßen die einzelnen Aspekte der finanziellen Belastung der Bevölkerung, also Steuern und Abgaben, die Ablösung und säkulare wirtschaftliche Krisen, für die Interpretation der Sachlage durch die dörfliche Öffentlichkeit? Erschien die Obrigkeit als Empfänger der Ablösungssummen und der Steuern möglicherweise ohnehin als Schuldiger an der Misere der Tagelöh­ ner - nicht völlig zu Unrecht, umfaßte doch der noch in kurhessischer Zeit allein aus den Ablösungen der Domanialdienste und der Abgaben angesam­ melte Laudemialfonds zum Zeitpunkt der preußischen Annexion immer­ hin 5.5 Millionen Mark? 148 Welche Bedeutung besaß die dörfliche Öffent­ lichkeit überhaupt für die Bewertung gesamtgesellschaftlichen Wandels, und welche Rolle spielte für sie dabei die lange andauernde Auseinanderset­ zung mit der Obrigkeit um Steuern und Abgaben? Die Verschuldung auf dem Lande war beispielsweise in erster Linie eine Funktion des Scheiterns des sozialen Aufstiegs der ländlichen Erwerbsklasse an den Barrieren der Marktgesellschaft und dem Erbe des Anden Regime, den Ablösungszah­ lungen. Die gleichsam anonymen Kräfte des Marktes erschienen jedoch im Dorf auch den Tagelöhnern selbst, darauf weisen die Äußerungen des Tagelöhners Schützenberg beispielhaft für viele andere hin, als Ehrverlust der Betroffenen und aufgrund der mit der Ablösung der Lasten verbunde­ nen besonderen Probleme als Verrat der Landesherrschaft bzw. des Staats an seiner Verantwortung für die gerechte Nahrung jedes einzelnen. Ob­ wohl Mobilität und Konnubium, Lebenschancen und Besitz Bauern und Tagelöhner in zwei klar gegeneinander abgegrenzte soziale Klassen teilten, deuteten auch die Tagelöhner ihre Lage im Rahmen der gemeinsamen örtlichen Werthaltung. Diese Werthaltung entstand in der Öffentlichkeit 91 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

der Gemeinden und wurde auch dort tradiert. Das Verhältnis der beiden sozialen Klassen zueinander und die Spannung zwischen den unterschiedli­ chen Lebenschancen und den gemeinsamen Lebenszielen wurde in dieser Öffentlichkeit ausgetragen. Die Untersuchung wendet sich deswegen im folgenden der dörflichen Öffentlichkeit zu. Sie beschäftigt sich zunächst mit der Frage, wie sich das Verhältnis zwischen den beiden sozialen Klassen im 19. Jahrhundert entwackelte und wie es von der dörflichen Politik mit bestimmt wurde (1.3.)· Erst im zweiten Kapitel wird die Bedeutung der Auseinandersetzung mit der Obrigkeit thematisiert werden.

1.3. Armenrecht und Gemeindsnutzen: Landgemeinde, soziale Differenzierung und Obrigkeit im 18. und 19. Jahrhundert Die Wahrnehmung der ländlichen Klassengesellschaft, ihrer Schranken und ihrer Lebenschancen war selbst ein Teil der dörflichen Lebenswirklichkeit. Diese Wahrnehmung und die aus ihr folgenden Konsequenzen für das Selbstverständnis und das Handeln der Bauern und Tagelöhner fand inner­ halb der dörflichen Öffentlichkeit statt und wurde durch diese Öffentlich­ keit beeinflußt. Das lag auch an der Bedeutung der Landgemeinde für die Meinungsbildung der ländlichen Bevölkerung. Die Konsequenzen aus der Zugehörigkeit zu den Landarmen oder zu den bäuerlichen Landbesitzern im Hinblick auf den Einfluß in der Gemeinde, den dörflichen Status und die Lebenschancen zeigten sich für die beiden sozialen Klassen der Bauern und der Tagelöhner am deutlichsten in ihren Gemeinden. Sie blieben für die Bauern der Ort von Hof und Arbeit. Bis zur Gewährung der Freizügig­ keit nach der preußischen Annexion war es an der Gemeinde, die Erlaubnis zur Wanderarbeit außerhalb Kurhessens zu gewähren oder durch Anmel­ dung eigener Arbeitsansprüche zu verweigern. Bis zur Verkopplung der Gemeindeländereien und der Ablösung der gemeindlichen Nutzungsbe­ rechtigungen seit Ende des 19. Jahrhunderts150 waren gerade die Tagelöh­ ner auf die Nutzung dieser Gemeinheiten angewiesen, die mit über fünf­ tausend Hektar Fläche die Voraussetzung für die Existenz der Pendler Hessen-Nassaus bis ins 20. Jahrhundert blieben.151 Durch die Abhängigkeit bei Krankheit und im Alter von der dörflichen Armenversorgung waren die Gemeinden für die Tagelöhner darüber hinaus bis zum Vorabend des Weltkrieges ihr Lebensschwerpunkt. Die informelle Abhängigkeit von bäu­ erlicher Nachbarschaftshilfe bei der Bestellung der Parzelle im Sommer152 erhob die Gemeinde zusätzlich zum Angelpunkt gerade der auswärts arbeitenden Unterschicht. Die Untersuchung der dörflichen Konflikte um 92

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

die Armenunterstützung und um die Nutzung der Gemeindeländereien erlaubt daher, die Natur der Beziehungen zwischen den beiden dörflichen sozialen Klassen genauer zu untersuchen. In diese Konflikte um die dörflichen Ressourcen blieben die Landesherr­ schaft und ihr Erbe, der entstehende Staat, eingebunden, zumal dieser zunehmend regulierend in die Gemeinden eingriff und damit als Machtfak­ tor in deren Auseinandersetzungen in Erscheinung trat. Die Konflikte um das Armenrecht und die Gemeindeländereien zwischen Bauern und Unter­ schichten in Baden, Franken und Hessen waren daher zugleich Konflikte zwischen den Gemeinden und dem entstehenden Staat. In allen drei Ländern ging die Gesetzgebung zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum Heimatrecht als der neuen Grundlage des Anspruchs auf Armenversorgung über, Bayern mit der Armengesetzgebung von 1816, Baden mit dem Bürgerrechtsgesetz von 1831 und Kurhessen mit der Gemeindeordnung von 1834. Dabei blieb es im wesentlichen bis zur Gründung des deutschen Reiches. Die bayrische Sozialgesetzgebung der sechziger Jahre beendete zwar die Prozedur der »Ansässigmachung« als Voraussetzung des Unter­ stützungsanspruchs, belies das Recht auf Unterstützung im Armen- und Krankheitsfall in Abhängigkeit vom Heimatrecht, welches eine mehrjährige kontinuierliche und ununterbrochene Anwesenheit am Unterstützungsort voraussetzte und den Nachweis der Bedürftigkeit den Betroffenen auflud. Die Armenlasten blieben bei den Gemeinden, denen umgekehrt Abwehr­ mechanismen gegen arme Zuwanderer erhalten blieben. Seit den späten 1860er Jahren setzte sich unterschiedlich schnell mit der Übernahme des preußischen Freizügigkeitsprinzips statt des Heimatrechts das Prinzip des Unterstützungswohnsitzes durch. Verpflichtet zur Armenpflege wurde nun derjenige, häufig aus mehreren Gemeinden zusammengesetzte, Orts- bzw. Landarmenverband, in welchem der Antragsteller sich seit wenigstens drei Jahren aufhielt. Die badische Gesetzgebung vom 5. Mai 1870 sah die Verpflichtung des Dienst- und Arbeitsortes für die achtwöchige Übernah­ me der Kosten im Krankheitsfall von Gesinde vor.153 Die Folgen dieses Dreieckskonflikts zwischen Obrigkeit, Bauern und Unterschichten für die Interessenformierung und Artikulation der dörfli­ chen sozialen Klassen lassen sich daher ebenfalls an diesen Konflikten verfolgen. Weil die Gemeinden ftir Bauern und Tagelöhner existentiell bedeutend blieben, wurden sie die Bühne ihrer sozialen Konflikte und der Bildung ihres Selbstverständnisses. Diese Konflikte sozialisierten die Unter­ schicht in ihrem gemeindeinternen Spielraum gegenüber den Bauern. Sie waren der Kristallisationspunkt der politischen Haltung der Bauern gegen­ über dem Staat und seinen Reformen. Was bisher über die soziale Differen­ zierung der ländlichen Gesellschaft zusammengetragen wurde, entfaltete seine Wirkung für die politische und innerdörfliche Haltung der Bevölke93 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

rung im Verlauf dieser Auseinandersetzung. Er beleuchtet die Konsequen­ zen der sozialen Differenzierung für die Natur der sozialen Beziehungen innerhalb der Gemeinde und für die Einstellung der ländlichen Bevölke­ rung gegenüber der Obrigkeit. Im folgenden werden daher die Konflikte zwischen Bauern, Unterschichten und Obrigkeit um das Armenrecht und die Gemeindeländereien untersucht. Welche Ziele verfolgten die Bauern und die Unterschichten? Welche Verhaltensweisen erwiesen sich für sie dabei am erfolgversprechendsten? Ergaben sich bei den Bauern bestimmte politische Überzeugungen durch ihre Kontakte mit der Obrigkeit in den Armenrechtsfragen? Lohnte es sich für die Unterschichten, im Konfliktfall offen gegen die Bauern Front zu machen? Welche Rolle spielten die Gemeindetypen für die Fähigkeit der Bauern bzw. der Unterschichten, ihre Interessen durchzusetzen? Entwickelten sich gemeindetypenspezifische Formen dörflicher Politik? Kommen wir zunächst zu den Konflikten um die Armenunterstützung und damit zur Frage des Armenrechts. In Hessen war die lokale Verantwortlichkeit der Gemeinden für ihre Armen in der Reformation erneut festgeschrieben worden.154 Gleichwohl ließ die Herrschaft, in erster Linie der niedere Adel, weder in Franken und Baden noch in Hessen davon ab, landarme Nachsiedler auch gegen den Widerstand der betroffenen Realgemeinden der privilegierten Bauern an­ zusiedeln.155 Beschwerden wegen zugezogener Gemeindearmer richteten sich daher häufig gegen, immer aber auch an die Herrschaft. In der bereits bis zum zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts scharf polarisierten oberhessi­ schen Gemeinde Caldern156 mußte sich der Grebe beispielsweise an den Landrat wenden, um mehrere unverheiratete Frauen, die mit ihren unehe­ lichen Kindern bei neun christlichen Hausbesitzern und dem örtlichen herrschaftlichen Schutzjuden Aufnahme gefunden hatten, zu vertreiben. Der Grebe klagte, Gesindel erhalte auf diese Weise einen Schlupfwinkel im Dorf und sei »täglich auf Raub und Stehlen« aus. Obgleich er die Bauern seiner Gemeinde hinter sich wußte, als er um Abhilfe bat, handelte es sich doch nicht nur um einen Konflikt der Gemeinde gegen zugezogene Außenseiter. Von den sieben christlichen Vermietern, die sich in den Kata­ sterunterlagen wiederfinden lassen, waren mit Ausnahme eines Kleinbau­ ern alle Mitglieder der landarmen Unterschicht. Sie spekulierten vermut­ lich auf die Mieteinnahmen, mit denen sie ihr Budget aufbessern wollten. Bei den Bauern herrschte dagegen eine noch in den Berichten des Greben zu spürende Erbitterung über die Weigerung der Frauen, zu arbeiten, »ohngeachtet des äußersten Mangels an Dienstmägden«.157 Drei Elemente dieses Streits konstituierten die Konflikte um die Armen­ versorgung bis ins späte 19. Jahrhundert. Erstens war der Streit zwischen den Bauern und den Unterschichten um Armenhilfe immer zugleich ein Streit um deren Arbeitskraft und um den Zugang zum Gemeindsnutzen, 94 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

weil Mieterlaß, freies Holz und Zugang zu den Gemeindeweiden zentrale Forderungen der Landarmen waren. Zweitens war die Abwehr potentieller Gemeindearmer durch die Gemeinde und deren Organe auf die Unterstüt­ zung der Obrigkeit angewiesen, welche ihre Macht nicht durch Ansiedlung landarmer Haushalte mißbrauchen durfte, sondern die Gemeinde vor der Zudringlichkeit der Unterschichten schützen sollte. Gerade die Landar­ men unter den rechtlich privilegierten Vollbürgern waren gegen jede weitere Konkurrenz bei der Nutzung der Allmenden durch andere landar­ me Haushalte. Die Haltung nicht nur der Bauern, sondern auch der Unterschichten zum entstehenden Staat formierte sich daher auch als Antwort auf dessen Haltung in diesem Konflikt. Drittens verschoben sich im Vormärz durch die gewachsene Abhängigkeit der Landarmen von der örtlichen Armenhilfe - und damit den Bauern - die innergemeindlichen Machverhältnisse. Je weniger der direkte Zwang des Gesinderechts griff, umso mehr mußte das Armenrecht zum möglichen Instrument der Einord­ nung der Armen in die Gemeinde werden. Die Armenrechtskonflikte fielen insofern in die Inkubations- und Sozialisationszeit der sich nicht nur sozialstatistisch, sondern auch durch die Erfahrung der dörflichen Macht­ verhältnisse konstituierenden ländlichen sozialen Klasse der Unterschich­ ten. Die Quellen zur Armenfrage fließen für die Gemeinden erst seit den 1820er Jahren und der Gründung von Ortsarmenkommissionen in dieser Zeit, auf die die kurhessische Armenordnung von 1823 und die Reform des Gemeindebürgerrechtes von 1834 folgten. Erst die neue Landgemeinde­ ordnung von 1897 ersetzte das diesen Gesetzen zugrunde liegende Hei­ matprinzip als Grundlage des Rechtsanspruchs auf Versorgung im Krank­ heits- und Altersfall durch das preußische Prinzip des Unterstützungs­ wohnsitzes. Die bereits vorhandenden Ortsarmenkommissionen gingen in die neuen Orts- bzw. Landarmenverbände, wie auch in Franken und Baden, ein, die formal unterstützen mußten, wer sich seit wenigstens einem Jahr in einer ihrer Gemeinden aufhielt. Diese Gesetze zeugen nicht nur von der Verrechtlichung und Institutionalisierung des Konfliktes zwischen bäu­ erlicher Gemeindeführung und modernisierendem Staat um die Ressour­ cen der Bauern und ihrer Gemeinde, sondern auch von den paradoxen Folgen der preußischen Gesetzgebung. Die Versorgungsverpflichtung des Unterstützungswohnsitzes, also der Arbeits- und Aufenthaltsgemeinde, sollte doch gerade die ländlichen Gebiete vor der Versorgungsverpflichtung ihrer in die Städte abgewanderten Arbeiter im Alters- und Krankheitsfälle schützen. Für die nur saisonal abwesenden Parzellenbesitzer Hessens, Frankens und Badens stellte diese Gesetzgebung aber, auch wenn sie als Schutz der Bauern intendiert und erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wirksam wurde, eine rechtliche Unterstützung durch den Staat dar.1S8 Der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

95

Beginn dieser Entwicklung koinzidierte nicht zufällig mit der Explosion des Pauperismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem energischen Widerstand der Gemeindeführungen in Hessen wie in Baden, in Württemberg wie in Bayern, gegen eine völlige Liberalisierung der Zuzugs- und Eheregelungen.159 Ebenso wie dort sind die Armenakten des Landratsamtes Ziegenhain mit den Bitten der Ortsarmen an den Landrat um Beistand gegen die Bauern gefüllt, um die vom Ortsvorstand verwei­ gerte Hilfe doch noch zu erhalten.160 Die Ursache ftir diese Auseinandersetzung war der endgültige Zusam­ menbruch der familären Fürsorge unter der Last der Bevölkerungszunah­ me seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Die Mehrheit der Schwälmer Erwerbsklasse besaß bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts »arme Eltern« und rekrutierte sich aus der seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges entstandenen und in den Katastern der 1740er Jahre bereits ausgewiesenen Gruppe der Landarmen.161 Das bäuerliche Prinzip der Altersfürsorge durch die Auszugsregelung griff für immer weniger Bedürftige.162 Bereits 1819 scheiterten in Wiera alle Versuche, einem Sohn die »kindliche Liebe und Dankbarkeit« für seine Mutter zur Pflicht zu machen und ihn zu ihrer Unterstützung zu gewinnen.163 Durch die Vervielfachung der Armen und die Krise nebengewerblicher Beschäftigungen wie der Leinenverarbeitung war zweitens der Nahrungserwerb selbst für die arbeitsfähigen Haushalts­ vorstände unter der Landarmut nicht mehr gesichtert. Die Armen waren nicht nur »von jeher arm«, sondern auch »nahrungslos«.164 Neben häufig alleinstehenden alten und kranken Bedürftigen, den traditionell legitimen Empfängern von Fürsorge,165 traten gesunde Haushaltsvorstände in ar­ beitsfähigem Alter mit ihren Familien. Für die bäuerlichen Armengeldzah­ ler rächte sich jetzt, in einer Gemeinde zu leben, die entweder vergleichs­ weise groß oder Ort adliger Peuplierung gewesen war. Der Anteil der Bedürftigen an der dörflichen Bevölkerung variierte nämlich je nach Ge­ meindetyp. Das Bauerndorf Holzburg (Typ IIIb) mit nur zwei Gemeinde­ armen besaß zugleich auch den geringsten Anteil an Unterschichten (52%), die Tagelöhnergemeinde Willingshausen (Typ IIIa) mußte bei einem Un­ terschichtenanteil von rund 80% mit 15% Gemeindearmen zurechtkom­ men.166 Je größer eine Gemeinde, je größer daher in der Regel auch ihr Unterschichtenanteil und damit der Anteil erwerbsloser Haushaltsvorstän­ de war, desto größer war auch der Anteil arbeitsloser Tagelöhner, deren Familien ebenfalls versorg werden mußten, und desto häufiger kamen offene Konflikte um die Gewährung von Unterstützung vor.167 Nur die kleineren, häufig landesherrlichen Gemeinden (Illb/IV), in denen es weni­ ger landarme Nachsiedler angesiedelt worden waren, konnten ihre Unter­ stützung auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch weitgehend auf einzelne Altersarme einschränken.168 1820 waren jedoch nur 46% der 96

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Gemeindearmen in Wasenberg Alleinstehende. Die Mehrheit (54%) setzte sich aus Familienvorständen im ›arbeitsfähigen‹ Alter (durchschnittlich 4 6 . 3 Jahre) zusammen. Die betroffenen Gemeinden suchten daher, wenig­ stens die alleinstehenden Bedürftigen auf deren Verwandte zu verweisen. 109

Tabelle 21: Die Gemeindearmen im Jahr 1820 Ort

Willingshausen Wasenberg Merzhausen Loshausen Zella Wiera Holzburg

Anteil Ge­ meindearmer an Gesamt bevölkerung

Ν

113(765)* 47 30 17 13 8 2

(834) (744) (508) (422) (436) (334)

Anteil Allein­ stehender unter den Armen

Durch­ schnittsalter alleinstehen­ der Gemein dearmer

Durchschnitts­ alter bedürfti­ ger Haushalts­ vorstände (Jahre)

15%

26%

63,8 ( 1 2 )

47,5

(34)**

6% 4% 4% 3% 2% 1%

46% 60% 70% 56% 100% 100%

53,2 ( 1 2 ) 55,9 ( 1 2 ) 45,3 (5) 67,8 (5) 60,8 (6) 68,5 (2)

46,3 58 46 70,5

(14) (8) (2) (4)

-

Quelle: StAM Bestand 24a Nr. 134 136: Obcrpoliceydircktion Marburg Band 1-3. * Einwoh­ nerzahl. ** Zahl der bedürftigen Haushaltsvorstände mit Altersangabc.

Die Bitten um die Erstattung der Mietkosten, um die Stellung einer freien Wohnung auf der Allmende oder um freies Holz füllten die Gesuche um die Unterstützung der Gemeinde bis zum Ende des Jahrhunderts, weil die Masse der Bedürftigen zur Miete wohnte oder nicht zu den wenigen privilegierten Nutzungsberechtigten der Allmende zählte: 170 Die Stadt war, in den Worten Riehls, aufs Land gezogen. Da auch die Sozialgesetzgebung des Kaiserreiches die ländlichen Pendler nicht umfaßte, änderte sich wenig­ stens in den Augen zeitgenössischer Beobachter bis zum Ende des Jahrhun­ derts kaum etwas an der materiellen Abhängigkeit der Landarmen von ihren Gemeinden und dem beklagenswerten Zustand der Armenfürsor­ ge. 171 Die Bauern der Gemeinden wehrten sich, wie die Altsiedler in Merzhausen in den 1660er und die Caldener Bauern in den 1770er Jahren, von jeher gegen die Beanspruchung ihrer Ressourcen. Die landarme oder landlose Erwerbsklasse mußte daher beim Staat in der Person des Land­, später Kreis- und schließlich wieder Landrats um Unterstützung suchen und damit den gemeindeinternen Konflikt zu einem zwischen der bäuerli­ chen Realgemeinde und der Landesherrschaft machen. Die in den Akten Ba ,erische Staatsbibliothek München 97 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

dokumentierten Konflikte zwischen den Armen, der Kreisbehörde und den Bauern172 dokumentieren die Haltung der Bauern zu den Unterschichten und umgekehrt - und die Zementierung der bäuerlichen Opposition gegen die Intervention des Staates in ihre Dörfer, Nachdem die bäuerliche Realgemeinde durch die Reform des Ortsbür­ gerrechtes zunächst für die Versorgung aller Ortsarmen mit Heimatrecht zuständig geworden war, verschob sich die Frontlinie hin zu der Frage nach der Ortszugehörigkeit der Bedürftigen.173 Gegenüber Bedürftigen mit Familienangehörigen hielten die Gemeindevorsteher noch im Kaiserreich am Prinzip der Familienfursorge fest174 und machten selbst bei den wenigen Bittstellern, die mit den Bauern verschwägert waren, keine Ausnahme.175 Alternativ wiesen sie auf die Arbeitsfähigkeit der Antragsteller176 oder ihre moralischen Verfehlungen hin177 und suchten deren Renitenz im Zweifel mit Zwangsarbeit zu brechen.178 Trotz der großen Unterschiede der Ge­ meinden im Hinblick auf ihre Sozialstruktur und Belastung durch die Armenpflege waren alle Bauern, ob aus dem Mittelgebirgsflecken Oberau­ la, den ehemals adligen Dörfern oder den Schwalmgemeinden, einhellig gegen die Verpflichtung zur finanziellen Unterstützung, werde damit doch nur die Faulheit der Unterschichten ermutigt. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts blieb für die dörfliche Unterschicht ein sozial akzeptables, möglicherweise auch politisch richtigtes Verhalten179 eine bedeutende Vor­ bedingung für den Erhalt der existentiell wichtigen Unterstützung im Alters- und Krankheitsfall. Den betroffenen Tagelöhnern und ihre Familien blieb nur der Appell an den Kreis- oder später Landrat - wenn sie ihn wagten - und ohnmächtige Erbitterung im Einzelfall.180 Diese Auseinandersetzungen erhielten im Vormärz zusätzliche Schärfe, als es zugleich um die Regulierung der sozialen Beziehungen zwischen den Bauern und ehemaligen vollberechtig­ ten, nun in die Unterschicht abgestiegenen Kleinbauern ging. Solche Angleichungen des alten sozialen Prestiges an den neuen dörflichen Status fanden innerhalb der kleinen Dörfer immer personalisiert statt, in den Bahnen des Armenkonflikts zwischen dem einzelnen Bittsteller und dem Ortsvorstand, sie verweisen jedoch auf die dörflichen Reibungsverluste bei der Neuanpassung von Besitz und Status im Gefolge sozialer Umschich­ tungen. Die wenigen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts übriggebliebenen Kleinbauern in den Gemeinden waren ohnehin noch Teil der bäuerlichen Besitzklasse, wenn auch in gefährdetcrer Position, und klagten über die übermäßige Belastung durch die Armenversorgung.181 Im Konflikt zwi­ schen den Großbauern und den ehemaligen Kleinbauern erwies sich dage­ gen die ganze Schärfe der neuen Statuseinordnung. Bei dem Verkauf seiner in der westfälischen Zeit verschuldeten Parzelle vereinbarte beispielsweise der ehemalige, vorn bereits erwähnte Kleinbauer Heinrich Herrmann in 98 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Wiera mit dem neuen Eigentümer, daß er zunächst drei Jahre mietfrei auf seinem ehemaligen Anwesen leben dürfe und danach Miete zahlen müs­ se.182 Nach Ablauf dieser Frist krank und unfähig zur Arbeit, bat Herrmann um Mietunterstützung, die vom Ortsvorstand jedoch mit dem Hinweis verweigert wurde, er sei seinem Vermieter nicht genügend zu Gefallen gewesen und tue, »als wenn ihm niemand befehlen könne«.183 Herrmann war offenbar nicht bereit, die geforderten Dienste als Knecht gegenüber seinem Vermieter auszuführen und das damit zusammenhängende Maß an Respekt gegenüber diesem Vermieter und möglichen Arbeitgeber aufzu­ bringen. Dieser Respekt wurde von den Bauern gegenüber den Mietern gefordert. Solche Spannungen gewannen zusätzlich an Brisanz, wenn es, wie in Wiera gegen Ende des 18. Jahrhunderts, zu Auseinandersetzungen zwischen Bauern und Kleinbauern um die Nutzung der Allmende gekom­ men war und nun mit den ehemaligen gemeindeinternen Gegnern abge­ rechnet wurde.184 Die Untersuchung der Landgemeinde als Bühne der Armenrechtskon­ flikte verweist auf zwei miteinander verknüpfte und zum Teil parallel verlaufende Auseinandersetzungen. Da war erstens der Konflikt um den Zugriff auf die gemeindlichen Wiesen und Weiden, der bereits seit dem späten 17. Jahrhundert immer wieder aufloderte und der im Anschluß eingehender behandelt wird, andererseits der Konflikt der sozial differen­ zierten und privilegierten Realgemeinde mit dem letztlich zugunsten der politischen Einwohnergemeinde intervenierenden Staat. Nachdem die kleinbäuerlichen »Querulanten« gegen die bäuerliche Monopolisierung der Allmenden pauperisiert und ihr Widerstand individualisiert worden war, erschien die landesherrliche Verwaltung auf dem Plan und forderte erneut die Berücksichtigung der ehemaligen Kleinbauern. So sehr der Grebe Wieras beispielsweise auch bat, »künftig die Lügen des Herrmann nicht anzuhören« und die Folgen für die Gemeinde zu bedenken, wenn mit Herrman ein Präzedenzfall geschaffen werde,185 mußte er sich doch den Bestimmungen der Armenordnung schließlich beugen und schrieb resigniert, »so hat die Gemeinde beschlossen, diese noch gesunde, starke und unverdiente Familie jährlich zu unterstützen«. Die Erbitterung des Greben über die staatliche Hilfe für die »Aurwigler«186 schwingt in der Beschreibung der Familie, die von der Verwaltung Rückhalt erfahren hat, als ›gesund, stark und unverdient‹ mit. Denn mit den Tagelöhnern wollten die Bauern, und sei es mit Gewalt,187 schon fertig werden, gegenüber dem werdenden Staat waren sie häufig ohnmächtig. Verweigerten die Bauern ihre Zustimmung zu den Anordnungen der Amts- und Kreisräte, griffen die Behörden zu zwangsweisen Einquartierun­ gen und dem Einsatz von Gendarmen.188 Sie steigerten dadurch nur noch die Erbitterung der Bauern,189 die sich in den ehemals adligen Gerichten 99 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

auch noch mit den ansässigen Rittern über die Praxis der Armenpflege auseinandersetzen mußten.190 Der dreiundsechzigjährigen Elisabeth Scheid wurde noch im April 1893 die Bitte auf Gewährung einer Wohnung auf dem Gemeindsnutzen abgeschlagen und erst die nachhaltigen Drohungen des Landrates mit Ordnungsstrafen bewegten den Loshausener Bürgermei­ ster, bis zum Juni eine Unterkunft zu suchen.191Landesherrschaft und Ritterschaft setzten sich in solchen Fällen nicht nur über die bäuerlichen Wertmaßstäbe hinweg, die Beamten und die liberalen Schwälmer Ritter unterstützten überdies in den 1830er und 1840er Jahren auch eine Verfas­ sung, die dem Übel in den Augen der Bauern weiter Vorschub leistete.192 Denn durch die Eingriffe in die Gemeinden von 1831 und 1848 und das neue Ortsbürgerrecht, räsonierte der Wasenberger Bürgermeister Knoch im Rückblick 1852, »da wurden etliche so pfiffig und sagten, ich sehe nichts, es kann mir niemand nichts nehmen, dieses hat in der Gemeinde so zugenommen, daß fast die Mehrzahl nicht mehr [die Miete] bezahlen will.« Eine Petition der Hanauer Gemeindevorstände mutmaßte 1861 sogar, die neue Gemeindeverfassung ermutige »namentlich auch die ohne Grund Unzufriedenen« zur Renitenz. Ganz unzumutbar empfanden die Bauern aber das neue Ortsbürgerrecht, wenn sie auch noch die zahlreichen armen Ortsjuden mitversorgen sollten. In Rauschholzhausen kam es zu einem regelrechten Steuerstreik der Träger der Unterstützungsleistun­ gen.193 Angesichts der auch im Kaiserreich noch nicht gelösten Armenfrage auf dem Lande194 verlor der Konflikt für keine der betroffenen Interessengrup­ pen an Brisanz. Die Bauern zogen daraus ihre eigenen Konsequenzen. Der Grebe Wieras konnte seinem Zorn über renitente Mieter wie Herrmann als Abgeordneter des Landwahlbezirkes Ziegenhain von 1832 bis 1833 Luft machen,195 und der Sohn von Bürgermeister Knoch forderte in seiner Zeit als bäuerlicher Deputierter der Ständeversammlung von 1852 bis 1860 die Wiederabschaffung der Zivilehe und die Wiedereinführung der Prügelstra­ fe. Die sieben Deputierten des Landtages von 1860, die sich gegen die Mehrheit der anderen 38 Abgeordneten und die liberale Verfassung von 1831 wendeten und stattdessen die oktroyierte von 1860 befürworteten, waren ausschließlich bäuerliche Vertreter, einer davon kam aus Ziegenhain - angesichts der bäuerlichen Hoffnung auf die Lastenablösung und der liberalen Propaganda, nur die Verfassung von 1831 sichere diese Ablösung, ein bemerkenswertes Ergebnis. Aus der Abwehr gegen landesherrliche Eingriffe in die Gemeinden hatte sich bis zum Verfassungskonflikt der 60er Jahre ein handfester und parteipolitisch ausbeutbarer bäuerlicher Konser­ vativismus entwickelt.196 Interventionen der Landesherrschaft zugunsten der Dorfarmut drohten in den Augen der Bauern jedoch auch noch auf einem anderen, noch 100 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

heftiger umkämpften Schauplatz innerdörflicher Auseinandersetzungen, dem Kampf um die Gemeinheiten. Die Bitte der 63jährigen Elisabeth Scheid von 1893 auf eine freie Wohnung auf dem Gemeindsnutzen war nicht zuletzt deswegen abgeschlagen worden, weil wenigstens der Gemein­ dewald in Loshausen bereits in den Privatbesitz einiger Großbauern über­ gegangen war. Damit endete in dieser Gemeinde der Konflikt um die Zugangsberechtigung zu den gemeindlichen Nutzungen und Servituten in den landesherrlichen Wäldern, der die Gemeinden gegenüber der Herr­ schaft zusammenschweißt und intern entzweit hatte. In vielen anderen Gemeinden blieb er bis in die 1920er Jahre erhalten. In der gesamten Provinz Hessen-Nassau bestanden um die Wende zum 20. Jahrhundert noch über 5000 ha Allmende. Bedenkt man die Bedeutung der Parzellen und des freien Holzes, die Abhängigkeit der Tagelöhner von ihren Vermie­ tern und die Konflikte um das Armenrecht, dann läßt sich die Bedeutung der Allmenden ermessen. Hinter dem Konflikt um das Armenrecht, gerade wo es um freies Holz aus dem Gemeindewald oder eine mietfreie Wohnung auf der Allmende ging, stand der Kampf um die Gemeindewälder und weiden, welche die Grundlage für die Existenz der industriellen Reservear­ mee auf dem Lande bildeten.197 Diese Allmende bildete den Kern der alten Landgemeinde und ihres Besitzes. Sie begründete die Bedeutung der Gemeinde für die nutzungsberechtigten Einwohner. Sie konstituierte auch eine Verbindung zum Staat, weil die Servituten als Teil des Besitzstandes der Dörfer ihren Mitgliedern von Fall zu Fall den Zugang zu den herr­ schaftlichen Wäldern gestatteten. Die Forsten blieben die »offene Gren­ z e « , 1 9 8 z w i s c h e n Gemeinde und Landesherrschaft ebenso wie zwischen Bauern und Tagelöhnern, auch über den Niedergang des Ancien Régime hinaus. Mit Ausnahme der bäuerlichen Weiler besaßen die meisten Gemeinden mehrere Hundert, Wasenberg sogar über zweitausend Acker Gemeinde­ wald, der zugleich jeweils den bedeutendsten Teil des Gemeindeeigentums ausmachte.199 Bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts waren die gegenseiti­ gen Nutzungs- und Rechtsansprüche von Gemeinde, adliger Herrschaft und Landesherrschaft an den Wäldern der Gemarkungen weitgehend ver­ festigt. In den Gemeinden in ehemals adligem Teilbesitz befanden sich große Teile des Waldes noch im Besitz der adligen Herrschaft, der verblie­ bene Gemeindewald gehörte dem Dorf häufig nur zur halben Nutzung, datür bestanden umgekehrt Nutzungsrechte am herrschaftlichen Wald. In den landesherrlichen Dörfern mußte sich die Gemeinde dagegen häufig nur mit dem Landesherren arrangieren.200 Innerhalb der Gemeinden er­ streckte sich das Nutzungsrecht wenigstens bis zur Mitte des 18. Jahrhun­ derts auf die Ortsbürger, während die Beisassen ausgeschlossen blieben. Auseinandersetzungen zwischen beiden Gruppen ergaben sich automatisch 101 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

durch den Zuzug von Nachsiedlern wie z.B. nach dem Ende des Dreißig­ jährigen Krieges.201 Bereits bis zu den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts hatten sich solche Unterschiede aber rechtlich - nicht im Hinblick auf den Landbesitz - offenbar soweit abgeschliffen, daß die große Mehrheit der Gemeindemitglieder zu den vollberechtigten Ortsbürgern zählte und, wenn überhaupt, nur eine Handvoll Beisassen in den Gemeinden lebte.202 Dieser Rechtsgleichheit innerhalb der Gemeinde stand die Knappheit der Ressourcen und das soziale Gefälle zwischen Bauern und Landar­ men gegenüber. Der Druck auf die Gemeinheiten vor allem von seiten der Bauern und der Landesherrschaft verstärkte sich bereits seit der zwei­ ten Hälfte des 17. Jahrhunderts, weil weder der Holzbestand der Gemein­ dewälder noch deren Weide dem Bedarf der nach dem Krieg wie­ der zunehmenden Bevölkerung gewachsen war. Die Landesherrschaft versuchte 1711 und 1722 durch die Unterstellung der Gemeinde- und Pfarrwälder unter ihre Aufsicht die Überweidung der Gemeinheiten zu verhindern und schränkte damit zugleich die Gemeinden in ihrem Hand­ lungsspielraum ein. Vor allem die größeren Bauern intensivierten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die besonders profitable Schafzucht, die gegen Ende des Jahrhunderts in der Landgrafschaft mit über 400.000 Tieren einen Höhepunkt erreichte. Die Überweidung der Waldweide und der Gemeindewiesen mit den Schafen der großen Bauern traf auf den besonderen Widerstand der kleinbäuerlichen Besitzer.203 Unter der Eüh­ rung der Kleinbauern, darunter des Sohnes des Greben und eines der Gemeindevorsteher, beschwerten sich beispielsweise 1795 zweiundzwan­ zig Haushaltsvorstände Wieras204 gegen die Steuerumlegung, die Heuver­ teilung und vor allem die Monopolisierung der Gemeindewiesen durch einige wenige Bauern und ihre Schafe, die zur Folge habe, daß für das Vieh der Beschwerdeführer keine Weide bleibe. Zwar gebe es gegen die Über­ weidung der Gemeindswiesen mit Schafen einschlägige landesherrliche Vorschriften. »Nur in unserem Ort sezen sich die Bauern schon seit 10 Jahren darüber hinaus, indem mancher 100 ja noch mehr Schaafe zu seinem Wucher hält ... und solch ... auf der geringen Leute Behütung erhalten, wodurch unsere für das Zug-und Schergvieh nötige Weide ver­ nichtet wird, und sind wir gezwungen, mit unserem Vieh in der herrschaft­ lichen Hude zu gehen, herrschaftliche Strafen auf uns zu laden, und müssen wir unseren Ruin vor Augen sehen«. Vier namentlich genannte Bauern hatten sich überdies besonders kraß über die herrschaftlichen Verordnun­ gen hinweggesetzt, indem sie ihren Schäfern befahlen, die Schafe nur auf die Gemeindewiese zu treiben. Weiter beklagten die Beschwerdeführer, daß in »der Behütung des Waldes und wenn wir mit Einquartierung belästiget werden, oder zur Bestreitung gemeinschaftlicher Ausgaben Geld erhoben wird, müssen wir geringe, wie die reiche so wohl bei der Einquar102 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

tierung als Anrechnung des Geldquantums ohne Unterschied gleiche Last tragen ... wir werden durch den Wucher aus Habsucht der Reichen so gedrängt, daß wir nothgedrungen sind, gegen die Eingriffe derenselben gegründete Klage zu führen«.205 In einer Beschwerde aus dem Amt Neukirchen anläßlich der Visitation der Grafschaft Ziegenhain in den Jahren 1804/05 hieß es, die Beschwerde­ ruhrer seien »aufgemuntert durch das Beispiel mehrerer Gemeinden, wo die Vertheilung solcher wüsten Orte von dem ärmeren Theile gegen die reicheren Gutsbesitzer durchgesetzt wurde«, weil »dahingegen wir als der ärmere Theil der Gemeinde zwar die darauf haftenden öffentlichen Abga­ ben mitentrichten mußten, ohne jedoch auch nur den geringsten Vortheil davon zu erhalten«. Die Antragsteller machten sich durch ihr Gesuch »die reicheren Mitglieder der Gemeinde zu Feinden. Uns auf mancherley Art (dies) entgelten zu lassen, dazu fehlt es ihnen weder an Gelegenheiten noch an Mitteln«.206 Die Visitation der Grafschaft Ziegenhain von 1818 bis 1820207 forderte nach dem Ende der westfälischen Zeit erneut solche Beschwerden zutage, nun ermutigt durch den gesetzgeberischen Anlauf zur agrarischen Modernisierung im Königreich Westfalen. Sie wurden von den »geringen Einwohnern« eingebracht, die sich, wie schon in Wiera und Neukirchen um die Jahrhundertwende, in der Nutzung der Allmende durch die »Greben und größeren Gutsbesitzer« an den Rand gedrängt sahen. Dort hieß es, »die Vertheilung und Urbarmachung der Gemeinds­ huten und Trischer gehe sehr langsam vor sich, weil sich durchgängig die reicheren Gutsbesitzer, an deren Spitze gewöhnlich der, aus ihrer Mitte gewählte, Grebe steht, diese Maßregel um deswillen widersetzen, weil sie durch ihre Herden den Nutzen von dem Gemeindseigenthum ziehen und daher bev deren Fortdauer das größte Interesse haben«. Während in Preußen gerade diejenigen Mitglieder der Unterschichten, die zum Zugriff auf die Allmende berechtigt waren, am Fortbestand der Gemeinheiten festhielten, forderten in Kurhessen die Landarmen ihre Aufteilung, weil die großen Bauern das Gemeindeland bereits für sich monopolisiert hatten. Da überdies alle Anstrengungen in Richtung auf eine Privatisierung, wie sie in der westfälischen Zeit bereits unternommen worden waren, wieder zurückgenommen wurden und die rechtliche Rege­ lung für die Teilung der Gemeinheiten den Konsens aller Ortsbürger voraussetzte, diese aber keine sozialökonomisch homogene Gruppe waren, kamen Teilungen bis zur preußischen Eroberung nicht in Gang.208 Auch in Kurhessen vervielfachte das Bevölkerungswachstum seit Ende des 18. Jahrhunderts und der Abstieg vieler Kleinbauern die Zahl der vollberechtigten landarmen Ortseinwohner. Die Zahl der minderberech­ tigten Beisassen stieg, jedoch nicht proportional der Zunahme der Zahl der Haushalte insgesamt. Der Zahl der traditionell berechtigten Ortsbürger 103 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

nahm zu. Der Druck auf die Gemeinheiten wuchs. Die soziale Differenzie­ rung verlief nach wie vor quer zu der rechtlichen Unterscheidung von Beisassen und Ortsbürgern.2W Die Reform des Ortsbürgerrechtes von 1834 zwang überdies zur Kodifizierung der mehr oder minder alltäglich verfestigten dörflichen Zugriffsrechte in den Termini des bürgerlichen Privatrechts. Als mit der Kodifizierung des Ortsbürgerrechts der staatliche Reformwille, die bäuerlichen Interessen und die Wünsche der Landarmen zusammenprallten, zeigte sich, daß die bäuerliche Minderheit unter den örtlichen Vollbürgern das tradionelle Recht der Allmendenutzung auch gegen den Widerstand von kleinbäuerlichen Interessenten wie in Wiera als dingliches Eigentum einiger Weniger an den Gemeinheiten umdefiniert hatte. Die Korporation dieser wenigen Nutzungsberechtigten hatte die Korporation der Ortsbürger vollen Rechts abgelöst. Nur rund ein Drittel der Ortsbürger zählte, von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich, zu dieser privilegierten Gruppe.210 Der Begriff der Nutzungsberechtigten fehlt in den Vorbeschreibungen des 18. Jahrhunderts und tauchte erst in der vormärzlichen Diskussion um die Rechte der neuen Ortsbürgerschaft auf, die durch die Reform des Ortsbürgerrechtes von 1834 losgetreten worden war. Bis zur endgültigen Privatisierung der Gemeinheiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts - in Wasenbcrg erst 1910 bis 1924, in Loshausen nach 1905, von den sieben­ undvierzig Gemeindewaldungen im Kreis Ziegenhain war trotz der energi­ schen Bemühungen der preußischen Verwaltung in dreiundzwanzig bis 1894 noch keine Teilung abgeschlossen - bestimmte dieser Begriff und seine Auslegung ebenso den Zugang zu Wald und Weide wie der Konflikt die endgültige Privatisierung verhinderte.212 Die Nutzungsberechtigung war in den meisten Fällen mit dem Besitz bestimmter Hofstellen verbun­ den. In Wiera konnte sie bereits im Vormärz verkauft oder verpachtet werden, eine Entwicklung, die sich später allgemein durchsetzte.212 Die nichtberechtigten zwei Drittel der Ortsbürger blieben von der Nutzung ausgeschlossen und mußten das Holz käuflich erwerben. Die Nutzungsbe­ rechtigten waren, auch wenn zu ihnen überproportional viele Bauern zählten und die Unterschichten umgekehrt von dem Ausschluß zu größe­ ren Teilen betroffen waren, die sozial heterogene Gruppe derjenigen Haushaltsvorstände, deren Hausstätten zum Zeitpunkt der Verfestigung der privilegierten Praxis zum verdinglichten Recht zu den informell Privile­ gierten gezählt hatten. Zu ihnen gehörten sowohl Mitglieder der dörflichen Besitz- als auch der Erwerbsklasse. Der Streit schnitt daher erstens quer durch die ländliche Erwerbsklasse.213 Er mobilisierte zweitens erneut die privilegierte Realge­ meinde gegen die intervenierende Landesherrschaft, weil die ausgeschlos­ senen Landarmen, wie schon im Streit um das Armenrecht, bei der Obrig104 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

keit ihre Zuflucht nahmen. Ihr Druck bestimmte die Schärfe des lokalen Konfliktes. In einem bäuerlichen Weiler wie dem oberhessischen Ilschhau­ sen kam es zwar zu Auseinandersetzungen zwischen den Bauern um die Frage der Teilung der Gemeinheiten bzw. Herausgabe einzelner Parzellen an Nutzungsberechtigte, nicht aber zu einem sozialen Konflikt zwischen arm und reich.214 Im oberhessischen Michelbach wehrten sich die Nut­ zungsberechtigten gegen die Ansprüche der minderprivilegierten Ortsbür­ ger mit dem Hinweis, Anteile am Gemeindsnutzen müßten eigens käuflich erworben werden. 215 Das hessische Oberappellationsgericht entschied 1838, daß den Ortsbürgern qua Bürgerrecht ihr Anteil zustehe, ein Urteil, das jedoch nie vollzogen wurde. In der Gemeinde Großseelhaim mußten 1857 sogar Gendarmen eingesetzt werden, um das Holz des Gemeindsnut­ zens für alle Ortsbürger zu sichern, während sich die nutzungsberechtigten Bauern organisierten, um den landesherrlichen Gendarmen mit Gewalt aus dem Feld zu schlagen. Noch im Februar 1871 griffen Nutzungsberechtigte im Kreis Eschwege jene an, die gewagt hatten, nach Aufforderung der neuen Behörden Teilungen zu beantragen. Der innerhalb der Gemeinden ausgetragene Konflikt um die Allmendenutzung führte den minderberech­ tigten Landarmen zwar drastisch die Härte der bäuerlichen Interessenver­ folgung vor Augen, solidarisierte aber nicht die ländliche Erwerbsklasse gegen die bäuerliche Besitzklasse, sondern unterstrich nur die gemeindein­ ternen Besitzstands- und Werthierarchien und schweißte überdies die land­ armen privilegierten Mitglieder der Erwerbsklasse mit den Bauern gegen die intervenierende Obrigkeit zusammen.216 Es gelang weder der Landesherrschaft noch den privilegierten Nutzungs­ berechtigten, ihre Interpretation endgültig durchzusetzen. Die Auseinan­ dersetzung zerfiel in eine Myriade dörflicher Konflikte, die von den Wogen der Revolution von 1848/49 und des kurhessischen Verfassungskonflikts immer wieder überspült wurden, ohne dadurch geschlichtet zu werden. Die gezielte Wiederaufnahme von Agrarreformplänen durch die preußi­ schen Behörden nach der Annexion von 1866 erhitzte auch diesen Konflikt erneut. Dabei war die Reform aufgrund der komplexen kurhessischen Rechtslage, in der verschiedene Servitute, Hude- und Holzrechte inner­ halb der betreffenden Waldung zwischen Landesherrschaft, ehemaligen Grundherren, Nutzungsberechtigten und den Ansprüchen der politischen Gemeinde zu teilen waren und zunächst abgelöst werden mußten, schon schwierig genug. Die Überführung in Privateigentum bedurfte der Ent­ flechtung eines in den Jahrzehnten der Auseinandersetzung gewachsenen Machtausgleichs zwischen den sozial heterogenen Berechtigten und den überwiegend landarmen Minderberechtigten. Die preußische Verwaltung legte zunächst im Gegensatz zum Vormärz darauf Wert, die Allmende als Eigentum der politischen Gemeinde zu begreifen, um gerade den minder105 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

berechtigten Landarmen ihren Anteil sozusagen rückwirkend zu sichern. Sie tat das aus sozialpolitischen Gründen, sollte die Landgemeinde doch bleiben, was sie in Bismarcks und Webers Augen, der Sozialdemokratie zum Trotz, noch immer war, ein verschiedene Besitzgruppen integierendes funktionales Äquivalent zur Sozialversicherung für die städtisch-gewerbli­ chen Arbeiter. In paradoxer Verkehrung der Verhältnisse bemühte sich die preußische Bürokratie nicht mehr, mit Hilfe moderner Eigentumsgrund­ sätze traditionelle Kollektivnutzungen zu überwinden. Wo nicht die An­ sprüche des Staates oder der Grundherren betroffen waren, sollten die politisch wertvollen Kollektivnutzungen gegen die traditionelle Privilegie­ rung weniger Interessenten geschützt werden, bedeutete die Überrührung in Privateigentum doch, den Ausschluß der Mehrheit der nichtprivilegier­ ten Landarmen und Landlosen von der Nutzung unwiderruflich zu ma­ chen. Genau um solche Eingriffe des Staates abzufangen, war das Institut der Nutzungsberechtigung aber entstanden.217 Schon 1868 stellten die preußischen Landräte in Oberhessen fest, daß die Anträge auf Teilung von Gemeindewaldungen fast ausschließlich von Ge­ meindevorständen rührten, die selbst zu den Nutzungsberechtigten zähl­ ten, so daß im Fall von Beltershausen und Oberweimar, Kreis Marburg, die politische Gemeinde der Landarmen und Landlosen durch ihre eigenen Vertreter auch dem Sinne modernen Eigentumsrechts nach um die Nut­ zung der Wälder gebracht werden sollte.218 Der kleinbäuerliche kollektive Ruf der »geringen Einwohner« aus dem Ende des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts nach Aufteilung der Gemeinheiten unter den »ärmeren Theil« der Gemeinde wurde, wenigstens öffentlich, nicht wiederholt.219 Dafür nahm die preußische Verwaltung dezidiert die Partei der politischen Gemeinden ein, wenn sie die Nutzungsberechtigung als ablösbares Servi­ tut, nicht aber als moderne Eigentumsberechtigung, interpretierte. Schon in einem Bericht vom November 1868 konzedierte freilich der Landrat des Kreises Marburg, die Eigentumsansprüche an den Wäldern seien je danach zu beurteilen, ob ein größerer Betrag aus deren Erträgen an die Gemeinde­ kasse oder an die Nutzungsberechtigten geflossen sei. Trotz solcher Zuge­ ständnisse reagierten die Nutzungsberechtigten mit wachsender Erbitte­ rung auf die Störung ihrer seit einem halben Jahrhundert erfolgreich gegen die Ansprüche der Dorfarmut durchgesetzten Besitzansprüche durch den Staat. »Tatsache ist aber auch«, so der Marburger Landrat weiter, »daß in fast allen Gemeinden die Ansicht vertreten wird, daß der Wald in seinem ehemaligen Bestand und Größe unversehrt zu erhalten ist, sowie daß der Bauer mit einem gewissen Unmut gegen den Vorschlag sich sträubt, den ihm durch langjährigen Besitz lieb gewordenen, von seinen Vorfahren erworbenen Besitz weg zu cassieren«.220 So unklar und verworren für die preußische Verwaltung die nun kasui106 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

stisch zu lösenden Verflechtungen des Gemeindenutzens waren, wurde ihr doch klar, daß bei einer unkontrollierten Teilung durch die in der Regel bäuerlich besetzten Gemeindevorstände eine »völlige Massierung [des Waldes und der anderen Gemeinheiten] in den Händen einzelner Besitzen­ der ... in kurzer Zeit vorherzusehen [sei]. Es muß thunlichst daraufhinge­ wirkt werden, daß der Gemeinde wenigstens ein Waldtheil zum ausschließ­ lichen Gebrauche überwiesen wird«. Mit diesem Circular vom 10. Juni 1870 erinnerte der Regierungspräsident seine Landräte daran, daß sie, auch gegen den Willen der Dorfelite, auch wo diese offiziell die Gemeindever­ treter stellten, der politischen Gemeinde einen Teil der Gemeinheiten zu sichern hatten.221 Die Unterlagen der Teillingskommissionen bis ungefähr 1875 zeugen einerseits von dem Veto der Landräte gegen Teilungen, die durch nutzungsberechtigte Gemeindevertreter eingeleitet worden waren und in deren Folge die Waldungen zum Eigentum der Nutzungsberechtig­ ten zu werden drohten, und andererseits von dem Willen der nutzungsbe­ rechtigten Bauern, nun offensiv Teilungen einzuleiten, um sich die Wal­ dungen auch im Rahmen der neuen Rechtslage zu sichern.222 Bereits in einem Briefwechsel zwischen dem Kassler Regierungspräsidenten und dem Berliner Innenministerium vom August 1876 klingt jedoch die Einsicht durch, daß gegen den ausdrücklichen Willen der bäuerlichen Führungs­ schicht überhaupt keine Modernisierung der agrarischen Verhältnisse mög­ lich sei.223Obgleich die Landräte aus den Kreisen Kassel und Eschwege noch 1889 berichteten, daß bei Teilungsangelegenheiten die Interessen der politischen Gemeinde und ihrer Vertreter »in Collision« ständen und ein bis zwei Drittel der Gemeindemitglieder durch die ausgehandelten Teilun­ gen endgültig von den Nutzungen getrennt würden, stellte sich der Regie­ rungspräsident doch schließlich 1889 auf die Seite der Agrarreform, unge­ achtet der Nachteile für die Minderberechtigten. »Vor dem Willen einer Fraktion [in einer betroffenen Gemeinde], einer kleinmüthig schon vor der Schwierigkeit oder gar den Folgen einer der unverständigen Menge mißfälli­ gen Schrittes [die Reform] preiszugeben«, sei nicht statthaft.224 Die preußischen Behörden gaben mithin ihr zwischen 1867 und 1875 bekundetes Ziel, die Gemeindewaldungen vor der Privatisierung zu schüt­ zen, bis 1889 angesichts des energischen Widerstands der Bauern auf Ob dies auch unter dem Eindruck der seit 1887 plötzlich spürbaren agrarischen Mobilisierung nicht zuletzt im Regierungsbezirk Kassel geschah, durch welche die Landgemeinden auch politisch ihre Opposition bekundeten, ist aus den Akten nicht zu belegen. Die Überführung der traditionellen Nutzungen in moderne Eigentumsverhältnisse blieb daher den lokalen Machtverhältnissen überlassen. Der Abschluß dieser fast ein Jahrhundert währenden Auseinandersetzung gestaltete sich dementsprechend unter­ schiedlich. Er dokumentierte nicht nur die lokalen Machtverhältnisse, 107 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

sondern führte sie Bauern und Tagelöhnern erneut vor Augen und beein­ flußte damit deren Verhalten gegenüber den Mitgliedern der jeweils ande­ ren sozialen Klasse vermutlich auch in anderen zur Entscheidung anstehen­ den Fragen, beispielsweise bei der Wahl einer Partei. Einige Beispiele aus den Sample-Gemeinden, sowohl den durch Tagelöhner dominierten (Typ IIIa) als auch den bäuerlich dominierten (Typ IIIb) Gemeinden, mögen dies verdeutlichen. Die Nutzungsberechtigten Wasenbergs (IIIb), wie in Holzburg eine sozial tagelöhnernde Erwerbs- und bäuerliche Besitzklasse umfassende Gruppe, schlugen der politischen Gemeinde eine Abfindung von 15.000 Reichsmark vor und waren bereit, Schule und Pfarre weiter mit Holz zu versorgen. Dies hielt der vom Landrat eingesetzte Vertreter der politischen Gemeinde, Kreisrat von Milchling, angesichts der betroffenen über 350 Hektar Waldfläche für unangemessen niedrig, vor allem da er angesichts der bis 1875 handlungsleitenden sozialpolitischen Grundsätze der Verwaltung »bestimmte Anweisung« erhalten hatte, »auf einer Abfindung der Gemein­ de in Grund und Boden zu bestehen«. Bereits im April 1870 folgte die Beschwerde der Nutzungsberechtigten auf das Veto des Landrates gegen den von ihnen vorgeschlagenen Vergleich, in der sie auf ihren Eigentumsan­ sprüchen beharrten und sich insbesondere über die »Animosität« des örtlichen Försters und dessen Aussagen zur Sache beschwerten. Angesichts des Schweigens der direkt betroffenen, offenbar aber aufgrund ihrer Lage mundtoten nichtberechtigten Unterschicht wurde die Obrigkeit für die berechtigten Bauern und Tagelöhner zum eigentlichen Gegner. Der Land­ rat blieb, treu der zu diesem Zeitpunkt noch von der Verwaltung vertrete­ nen Politik in Sachen Teilungen, zunächst hart. Als die Nutzungsberechtig­ ten 1886 jedoch einen neuen Anlauf begannen, stimmte der Landrat am 17. Januar 1889 dem ausgehandelten Kompromiß zu. Statt der ursprüng­ lich gebotenen 15.000 wurden nun 40.000 Reichsmark als Entschädigung für die politische Gemeinde fixiert. Auch einzelne Parzellen sollten der Gemeinde belassen bleiben. Die Differenz von über 166% zur ursprünglich vorgeschlagenen Summe verweist auf den Wert der Waldung und auf die Zahlungsfähigkeit wenigstens der bäuerlichen Nutzungsberechtigten, von denen jeder durchschnittlich immerhin 800 Mark zahlen mußte. Das war rund das zwei- bis vierfache von dem, was ein Knecht, Naturalien einbezo­ gen, im Jahr in der Schwalm verdienen konnte. Von den 175 Haushaltsvor­ ständen Wasenbergs im Jahre 1893 blieben nur fünfzig berechtigt. Für rund drei Viertel der Haushalte, besonders für die nicht nutzungsberech­ tigten Landarmen und Landlosen, bedeutete die Regelung das Ende einer langen Entwicklung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, die nun als modernes Eigentumsrecht verfestigt wurde. Wie kontrovers diese Entwick­ lung innerhalb der Gemeinde bewertet wurde, auch wenn es zu keiner 108 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

kollektiven oder öffentlichen Artikulation der innerdörflichen Opposition gekommen war, unterstreichen noch die Formulierungen in der Identität und Selbstbewußtsein der Gemeinde spiegelnden Festschrift zum sieben­ hundertjährigen Bestehen Wasenbergs. Dort heißt es, »dem Verfasser [die­ ses Abschnitts der Festschrift] ist bewußt, daß hinsichtlich des seinerzeiti­ gen Erwerbs der Eigentumsrechte am Wasenberger Wald unterschiedliche Auffassungen in der Bevölkerung vertreten werden. Aus naheliegenden Gründen soll hierauf nicht näher eingegangen werden«. Noch über hun­ dert Jahre nach der Privatisierung des Waldes durch die Nutzungsberech­ tigten ist die Teilung im Bewußtsein der Wasenberger Bevölkerung leben­ dig und kontrovers genug, um in einer dem Dorf durch seine Vorstände gewidmenten Festschrift dieses Problem expressis verbis auszuklammern. Das Schweigen der Minderberechtigten von 1889 unterstreicht die Positi­ on der Vollbauern unter den Nutzungsberechtigten als Arbeitgeber, Orga­ nisatoren der Ortsarmenkommission, Eigentümer fast der gesamten Ge­ markung und vor allem als Vermieter.225 Ähnlich wie in Wasenberg verlief auch in anderen bäuerlich dominierten Gemeinden wie Wiera oder Holzburg der Konflikt (IIIb). Die Nutzungs­ berechtigten preschten seit Ende der 1860er Jahre mit ihren Teilungsfor­ derungen vor. Die Landräte verweigerten zunächst ihre Zustimmung, weil ihnen die angebotenen Ablösungsgelder angesichts der in Betracht stehenden Flächen - beispielsweise 400 Hektar im Falle Wieras - zu ge­ ring erschienen. Bis zu den beginnenden 1890er Jahren beugte sich die preußische Verwaltung jedoch den Forderungen der Nutzungsberech­ tigten. Weil ihre Eltern als Mitglieder der bäuerlichen Besitzklasse häu­ fig auch Gemeinde- und Kirchenvorstände gewesen waren, konnten die Nutzungsberechtigten überdies die finanziellen Aufwendungen ihrer Fil­ tern für die in Frage stehende Waldung als Argument für ihre Rechtsansprü­ che ins Feld führen.226 In der Nachbargemeinde Loshausen (Illb) wurde sogar Widerspruch gegen diese Form der Beweisführung laut. Die Nut­ zungsberechtigten konnten auch dort durch Quittungen und Belege nach­ weisen, daß die Nutzung und Unterhaltung des Waldes von jeher bei ihnen gelegen habe. Da auch dort alle Gemeindevorstände zugleich Nutzungsbe­ rechtigte gewesen waren, konnten diese die Verwendung von Erträgen aus dem Wald oder die Verwendung von Gemeindemitteln für den Wald als Entscheidung der Gemeindevorstände in ihrer Rolle als Nutzungsberech­ tigte darstellen. Das erwies sich umso mehr als nötig, als im Verlauf der Verhandlungen Gerüchte im Ort auftauchten, nach denen Ausgaben für den Wald 1852 aus der Gemeindekasse, also mit Geldern aller, bezahlt worden waren, und »daß den Nutzungsberechtigten dies wohl bekannt sei«. Kollektiver öffentlicher Widerstand gegen die endgültige Vereinnah­ mung des Waldes durch die dörfliche Führung formierte sich hier aber 109 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

ebensowenig wie in den anderen bäuerlich dominierten Gemeinden dieses Typs.227 In den gewerblicher strukturierten Gemeinden wie Merzhausen ‹IIIa) und solchen mit einem größeren Tagclöhncranteil wie Schrecksbach kam es zu anderen Lösungen des Teilungsproblems. In der 1876 für Merzhausen beschlossenen Regelung wurden alle Gemeindemitglieder mit Rottland berücksichtigt, so daß es nun zu »clagen der großen Bauern« kam, »wel­ chen die Beschäftigung von Tagelöhnern nun noch mehr Mühe macht«. Mit Land ausgestattete Tagelöhner waren unabhängiger und vermutlich schwieriger zu kontrollieren als die landlosen Mieter und möglicherweise auch eher in der Lage, das auf der eigenen Parzelle erbaute Haus den Sommer über zu verlassen, um in der Stadt zu arbeiten, alles gute Gründe für die Bauern, dem Landerwerb von Tagelöhnern mit Skepsis gegenüber­ zustehen. Die Bereitschaft der Bauern, sich dennoch in diesen Kompromiß zu schicken, besaß jedoch eine lange Vorgeschichte. In Merzhausen waren die Tagelöhner und Handwerker als Gruppe bereits 1848 unabhängig und einflußreich genug, es den Bauern klug erscheinen zu lassen, gemeinsam mit ihnen im revolutionären Verein Merzhausens aktiv zu werden, der bereits im Revolutionsjahr die Aufteilung des Pfarrlandes als Rottland an die Tagelöhner gefordert hatte. Nach dem Ende der »Großen Deflation« besserte sich auch die städtische Beschäftigungslage wieder. Auf den verteil­ ten Parzellen Merzhausens entstanden allein zwischen 1899 und 1903 zehn Häuser von »kleinen Leuten«.228 Angesichts des verlorenen Wettlaufs zwischen Grundstückspreisen und Löhnen stellte die Aufteilung ehemali­ gen Gemeinde- oder Staatslandes für die ländliche Erwerbsklasse den Königsweg zur existentiell benötigten Parzelle dar. Die Hoffnung auf und die Forderung nach Landaufteilung mobilisierte die Tagelöhner noch 1919. In Gemeinden mit einer hinreichend großen und selbstbewußten Tagelöhnergruppe kam es daher zu Widerstand gegen die Privatisierung der Waldungen. Auch aus dem Kreis Eschwege, der von Kassler Pendlern dominiert wurde, die häufig durch Parzellenkauf in die Verschuldung gerieten, berichtete noch 1889 der Landrat, die Interessen der gemeindli­ chen Meinungsfuhrer ständen mit ihrer Rolle als Nutzungsberechtigte in »Collision«. Sowenig wie 1848 kam es aber in den Bauerndörfern oder Tagelöhnergemeinden zum offenen Bruch, weil die beiden sozialen Klas­ sen in vielfältiger Weise aufeinander angewiesen waren und weil die Nut­ zungsberechtigten überdies in der Regel keine sozial homogene Gruppe waren. Stattdessen beherrschten implizite Kompromisse und Murren hin­ ter vorgehaltener Hand, der Bauern in den Tagelöhnergemeinden, der Tagelöhner in den Bauerngemeinden, das Bild, weil selbst der existentielle Konflikt um die Gemeinheiten die dörflichen Abhängigkeitsverhältnisse nicht durchbrechen konnte.229 110 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Die Vielzahl dieser Konflikte läßt folgende Schlußfolgerung zu. Die Konflikte innerhalb der Gemeinden um die Handhabung des Armenrechts und den Zugang zu den Gemeinheiten nahmen im Verlauf des späten 18. und 19. Jahrhunderts aufgrund der schärfer werdenden sozialen Differen­ zierung und der wachsenden Abhängigkeit der Unterschichten von den Gemeinheiten nicht nur schärfere, sondern auch andere Formen an. Die zunächst an den Staat appellierenden »geringen Leute« Wieras waren ebensowenig wie vermutlich der »ärmere Theil« des Amts Neukirchen die eigentlichen Unterschichten, sondern Kleinbauern mit institutionellem Rückhalt in ihrer Gemeinde, die kollektiv gegen die Großbauern vorgin­ gen. Aber diese Kleinbauern verschwanden aus den Schwälmer Gemeinden und wurden zu einem Teil der Unterschicht. Auch der von ihnen getragene und in der Gemeinde verankerte kollektive Protest verschwand. Möglicher­ weise zählte der ehemalige Wieraer Kleinbauer Heinrich Herrmann zu den »Querulanten« von 1797 und traf bei seiner Bitte um Mieterlaß im Jahre 1828, nun zum Mieter abgestiegen, auf die besondere Erbitterung des großbäuerlichen Greben. An die Stelle der kollektiv und mit Unterstüt­ zung der Gemeindeorgane vorgetragenen Petition trat wie in Wiera die individuell ausgetragene Auseinandersetzung zwischen dem landarmen oder landlosen Bittsteller und der Armenverwaltung - der Niedergang der Kleinbauern trug Früchte auch tür die Formen des innerdörflichen sozialen Konflikts. Im Konflikt um das Armenrecht und den Gemeindenutzen konstituierte sich eine dörfliche Besitzklassengesellschaft, deren Unter­ schicht sich gerade wegen der zu Grunde liegenden Problemlage nie von den Gemeinden emanzipieren wollte und konnte.230 Sie waren entweder zu arm und abhängig, um sich gegen die Bauern der eigenen Gemeinde gerichteten gesamtgesellschaftlichen Protestbewegungen oder Reformbe­ mühungen anzuschließen, oder zählten selbst zu den privilegierten Nut­ zungsberechtigten und schlugen sich daher auf die Seite der Bauern.231 Die Landgemeinde konservierte aufgrund der unterschiedlichen Interessen ihrer Mitglieder zwar ein beträchtliches Maß an sozialem Protest, bot jedoch keine entsprechende Möglichkeit, diese Interessengegensätze un­ mittelbar innerhalb der Gemeinde auszutragen. In der gemeindlichen Öffentlichkeit blieb nur die Obrigkeit als konsenstahiger Gegner der ge­ samten Gemeinde. Bewahrte sich die Landgemeinde auch außerhalb Hessens diese Bedeu­ tung für ihre Einwohner? Gerade die Parzellenbesitzer der badischen und fränkischen Realteilungsgebiete waren bis zur Ablösung auf die Nutzung von Servituten in den adligen, vor allem aber landes- oder standesherrli­ chen Wäldern, auf die kollektiven Nutzungen ihrer Heimatgemeinden und auf deren Armenunterstützung angewiesen. Auch die badischen Gemein­ devorstände versuchten, das Gemeindevermögen gegen die anschwellende 111 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Flut der Armen und die Bürgerrechtsreformen des Staates im Vormärz abzuschotten. Zu den durch die Ablösungszahlungen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht abgebauten Gemeindelasten traten im Vormärz die Lasten durch die dörfliche Armenversorgung, die sich in einigen Odcnwäl­ der Orten von zwischen 20 und 60 fl in den 1820er Jahren auf über 400 bzw. 600 fl 1847 fast verzehnfachten. Der Anteil der Gemeindearmen lag dort bei bis zu 90% der Haushaltsvorstände. Zwar konnte er in einzelnen Gemeinden auch nur um 10% betragen, aber selbst im Durchschnitt von 36 Odenwälder Gemeinden stieg der Anteil der Armenausgaben an den Ge­ meindeausgaben bis 1847 auf 42,5%, während die staatlichen Steuern nur 15,5% und die grund- oder standesherrlichen Lasten nur 12,9% ausmach­ ten. In Gemeinden mit besonders vielen Armen wie Rinek lag der Anteil der Armenversorgung an den Gemeindeausgaben sogar bei über 80%. Rinek war bezeichnenderweise auch die Ausgangsbasis für eine örtliche Räuberbande. Betteln und Felddiebstahl erwiesen sich ohnehin häufig als einzige Auswege für die Odenwälder Landarmen, vor allem, wo die ohne­ hin schwer belasteten Begüterten der Gemeinden jede weitere Hilfe ver­ weigerten und die staatliche Unterstützung in der Regel mangelhaft blieb. In dieser gespannten Atmosphäre sahen sich die begüterten Bauern und Gemeindeaufseher mit einer Vielzahl hilfsbedürftiger Haushaltsvorstände konfrontiert, denen gegenüber Zugeständnisse in Form von Gemeindelei­ stungen gemacht werden mußten. Wohl konnten die Bauern wohlhaben­ der Weiler beim Auftauchen von Bettlern Gendarmen anfordern und die zuständigen kleinstädtischen Magistrate geradezu erpressen, wenn nicht sofort Polizei erschiene, werde der Weiler kein Getreide mehr an die Stadt verkaufen. Es waren auch die wohlhabenderen Bauern, die in ihrer Funkti­ on als Bürgermeister und Gemeinderäte schnell nach dem Abflauen der Hungerkrise von 1846/47 die Reliberalisierung des zwischenzeitlich durch Zölle eingeschränkten Getreidehandels forderten.232 Auf der ande­ ren Seite drohten aber auch die Betroffenen den Bauern und Gemeinderä­ ten und forderten Unterstützung aus den Ressourcen ihrer Gemeinden.233 Im Odenwald wurde die Lage, ähnlich wie in vielen hessischen Gemeinden, durch die Verschuldung vieler Dörfer in den napoleonischen Wirren ver­ schärft. Die kollektive Verschuldung vieler Gemeinden bei Standesherren wie den Leiningschen Fürsten für in der Hungersnot von 1846/47 gewähr­ tes Getreide verwies die Gemeindemitglieder jedoch zugleich auch auf die gemeinsamen Gegner der Gemeinde hin.234 Wo Adel und Beamte überdies Aktionäre großer vormärzlicher Fabriken waren,235 opponierten Bauern und Tagelöhner aus unterschiedlichen Motiven gegen die Landesherrschaft und ihre Repräsentanten. Der Handlungsfreiheit der Gemeinden standen überdies die Rechte der Standesherren, gerade im Hinblick auf Ortspolizei und Patronatsrecht, entgegen, und hier verliefen die Interessen der Ge112 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

mcinden nach Befreiung von dieser Intervention und der Beamten nach Nivellierung dieser vormodernen intermediären Gewalten bis zu deren Autlösung sogar parallel.236 Soweit gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine Initiative zur Teilung der Gemeinheiten überhaupt aus den Gemeinden kam, ging diese von Klein­ bauern aus, die sich durch die größeren Bauern von der Nutzung der Allmenden, ganz wie in der Landgrafschaft Hessen-Kassel, ausgeschlossen sahen, und behaupteten, die »heutigen Reichen trachten den Armen nach dem Brot«. Es waren die privilegierten Bauern, die sich gegen Teilungen der Gemeinheiten, die sie ohnehin privilegiert nutzten, aussprachen. Über­ dies fürchteten sie, daß landbesitzende Tagelöhner relativ schlechter zu kontrollieren seien als eigentumslose Mieter. Umgekehrt hofften gerade die Tagelöhner in den Gemeinden, durch staatliche Umverteilungen end­ lich an Land zu gelangen. Im pfälzischen Rheinzabern argumentierten sie 1788 für eine Aufteilung der Gemeinheiten, um auf diese Weise ein eigene Parzelle zu erlangen. Ihre Bemühungen galten aber offenbar weniger einer Teilung der Gemeinheiten um der Teilung willen als dem Wunsch, entwe­ der in die Gruppe der Bevorrechtigten vorzustoßen oder die einseitige Nutzung durch die größeren Bauern aufzubrechen. Als die Verwaltung in einigen Gemeinden nach 1777 versuchte, die Privatisierung der Allmenden einzuleiten, verteidigten die Gemeinden trotz der schwelenden Konflikte um die Nutzung der Allmenden ihre Ländereien kollektiv. Es gelang den bäuerlichen Gemeindevögten und Amtsinhabern, auch die ärmeren Ge­ meindemitglieder in gemeinsamen Petitionen gegen die Aufteilung der Gemeinheiten zu integrieren, obwohl sich ärmere Gemeindemitglieder, ganz wie in Hessen, gegen Ende des 18. Jahrhunderts beschwerten, »daß ihre Gerichtspersonen und übrigen Vorgesetzten alle nahe verwandt sey­ en«, und die bäuerliche Oberschicht die Ämter weitgehend monopolisiert hatte.237 Selbst nach der Ablösungsgesetzgebung des 19. Jahrhunderts blieben die gemeindlichen Weiden bestehen. 1884 wurde durch ein Lan­ desgesetz sogar die Neueinrichtung gemeindlicher Weiden möglich. Da es innerhalb der badischen Gemeinden nach wie vor Interessengegensätze zwischen Bauern und Tagelöhnern bei der Teilung gab, kam es erneut zu »Agitationen und Beunruhigungen« um die Einrichtung solcher Wei­ den.238 Auch in Franken begann die Grundentlastung erst zögernd seit der Mitte des 19. Jahrhundert, die Ablösung aller Lasten zog sich bis 1923 hin, vor allem wegen der schwer zu lösenden Ansprüche und Berechtigungen der Gemeinden und der ehemaligen Herrschaft an den gerade für die Unter­ schichten so bedeutenden Wäldern. Die Landarmen waren es auch, die je nach der variierenden Struktur der Gemeinden mit unterschiedlichen Nachdruck die Neuordnung des Zugangs zu den Gemeinheiten forderten, 113 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

weil diese häufig durch die privilegierten Bauern monopolisiert worden waren, während sich die ehemals berechtigten Einwohner auf den Stand­ punkt stellten, nur sie dürften bei einer Teilung berücksichtigt werden, und Rechte wie der Holzeinschlag seien nur ihnen zuzubilligen.239 Die Ausein­ andersetzung innerhalb der Gemeinden um die Nutzung der Allmende und die Armenunterstützung und der durch die Gemeinden organisierten Parzellenbesitzer mit der Forstverwaltung der Landesherrschart um die Nutzung der Wälder schürte auch in Baden und Franken bis in das späte im 19. Jahrhundert das soziale Protestpotential der Gemeinden, ohne sie zu spalten.

1.4. Ländliche soziale Differenzierung, agrarischer Wandel und Landgemeinde Die dörfliche Lebenswirklichkeit in Hessen, Baden und Franken konstitu­ ierte sich aus der sozialen Differenzierung zwischen Bauern und Unter­ schichten, den Formen des gemeinsamen Wohnens, den Umständen der Konflikte um die Gemeindeländer und das Armenrecht und den Hand­ lungsspielräumen, die Bauern und Unterschichten dabei je nach Gemein­ detyp zukamen. Bereits nach dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, vereinzelt sogar im Anschluß an den Dreißigjährigen Krieg, lebten landar­ me und landlose Haushaltsvorstände auf dem Lande, die sich mit wechseln­ den Gewerben ernährten und in der Regel über die Hälfte der Haushalts­ vorstände stellten. Obgleich ihr Anteil an der ländlichen Bevölkerung bis zum Vormärz je nach Gemeindetyp auf zwei Drittel bis 80% aller Haus­ haltsvorstände anschwoll, waren sie doch kein völlig neues Merkmal der ländlichen Gesellschaft. Die Industrialisierung führte in den bäuerlich strukturierten Landschaften Badens, Frankens und Hessens bis zum frühen 20. Jahrhundert zur Orientierung dieser ländlichen Unterschichten auf die neuen städtischen Arbeitsplätze, die durch Pendeln zu erreichen waren, und zusammen mit agrarischer Beschäftigung und Tätigkeiten in traditio­ nellen oder neuen Heimgewerben den Lebenserwerb, nach wie vor beson­ ders prekär und krisenanfällig und daher abhängig von der dörflichen Parzelle, trugen.240 Aus der zunächst auch herrschaftsbedingten Klasse der Landarmut wurde im 19. Jahrhundert zunehmend eine marktbedingte Klasse, die sich im Kaiserreich als industrielle Reservearmee durchschlug. Sie wurde ein Teil des Heeres der »Handarbeiter in der Landwirtschaft und ohne feste Zuordnung«.241 Die ländliche Unterschicht setzte in der entste­ henden Industriegesellschaft eine gewerblich-agrarische Mischexistenz im 114 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Rahmen vielfach noch genossenschaftlich organisierter Gemeinwesen fort. Die heimgewerbliche Beschäftigung der ländlichen Unterschichten, der Arbeitspendel der Tagelöhner zu den Bauerndörfern und die Gemeinde­ länder der Dörfer waren die Voraussetzung für den »Puffereffekt der Landwirtschaft zum Ausgleich wirtschaftlicher Wechsellagen«242 und der hierdurch gewährleisteten Einfügung der traditionellen Landgemeinde in die industrielle Welt. Die Abhängigkeit der ländlichen Erwerbsklasse von ihren Parzellen, den Allmenden und der Armenversorgung ihrer Gemeinde wurde durch die Abhängigkeit vom gewerblichen Arbeitsmarkt und seinen Krisen nicht gemildert. Die moderne städtische Industrialisierung und die Reformen des werdenden Staates zerschlugen diese traditionelle dörfliche Besitzklassengesellschaft nicht, sondern verhalfen der Gemeinde als ihrem Organisationsprinzip in dem Maße zu größerer Bedeutung, als die rechtli­ chen Binnendifferenzen zwischen Ortsbürgern und Beisassen zugunsten der modernen politischen Gemeinde nivelliert und das saisonale agrarische Arbeitsverhältnis zwischen Bauer und Unterschicht zugunsten der Nach­ barschaft von Pferde- und Ziegenbauern, zweier schroff gegeneinander abgeschichteter, aber rechtlich gleichgestellter und vielfach voneinander abhängiger sozialer Klassen, entflochten wurde. Ihre Lage hatte sich ge­ genüber der landwirtschaftlicher Arbeitskräfte bei den Bauern verbessert. An das Prestige und die Lebenschancen der Bauern rückten sie gleichwohl nie heran. Der bäuerliche Führungsanspruch in den Landgemeinden, auch in den Gemeindeversammlungen der preußischen Landgemeindeordnung von 1897, blieb unangefochten.243Er mußte sich allerdings dem jeweils herrschenden Handlungsspielraum innerhalb der Gemeinden anpassen. Dieser Spielraum differierte mit dem Anteil bäuerlicher Haushalte, dem davon abhängigen Anteil der Gemarkung in Bauernhand, dem Anteil des Gesindes unter den Unterschichten, dem Anteil der bäuerlichen Mieter unter den Tagelöhnern und dem Anteil der vermutlich mit den Bauern, wenn auch weit entfernten, Verwandten unter den Tagelöhnern. Seine Ausprägung reichte je nach Gemeindetyp bis ins 17. Jahrhundert zurück. Die bäuerliche geführte Landgemeinde vertrat daher in unterschiedlichem Ausmaß und je nach Situation in unterschiedlicher Weise auch die Interes­ sen der ländlichen Erwerbsklasse. Innerhalb der Landgemeinden herrschte keine diffuse soziale Differenzierung vor, sondern ein je nach Gemeindetyp abgestuftes Abhängigkeitsverhältnis zweier klar abgegrenzter sozialer Klas­ sen, die es aus guten Gründen vorzogen, ihre Konflikte nicht unmittelbar gegeneinander, sondern jeweils vermittelt gegenüber den Eingriffen der Obrigkeit, die sie beide aus unterschiedlichen Gründen ablehnten, auszu­ tragen. Selbst Aspekte der ländlichen Vergemeinschaftung zwischen diesen Klassen, beispielsweise im Rahmen des Gesindeverhältnisses, waren den Unterschichten durchaus als instrumentelle Handhabe der Bauern unter 115 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Marktgesichtspunkten bewußt. Im hessischen Mensfelden bei Limburg kursierte unter den Unterschichten der Spruch, »Wenn die Wicken hängen überm Tenn, nehmen die guten Worte ›n Enn [Ende]«.244 Auch elementare Lebensgewohnheiten, wie der relativ hohe alltägliche Branntweinkonsum, waren Folgen der strategischen Personalisierung der Klassenbeziehun­ gen.245 Je nachdem, ob das Armenrecht, die Einwohnerrechte, die Gemein­ deländer oder die Ablösung der Servituten betroffen waren, gerieten in erster Linie die Unterschichten - unter der Last der Ablösungsforderungen oder mit der Forderung nach Unterstützung - oder die Bauern - gegen­ über den Reformen von Armenrecht, Gemeindebürgerrecht und Arbeits­ markt - in Opposition zum Staat. Selbst die gemeindeinternen sozialen Konflikte, wie diejenigen um das Armenrecht, mündeten in ihren veröf­ fentlichten Verlaufsformen in die Auseinandersetzung von Landgemeinde und werdendem Staat, während die gemeindeinternen Auseinandersetzun­ gen häufig personalisiert blieben. Die Auseinandersetzung zwischen Staat und Landgemeinden wurde daher auch ein Stück weit ein Konflikt zwi­ schen Staat und Unterschicht und erhielt durch die Gewerbekrisen der Zeit zusätzliche Schärfe. Dieser Zusammenhang konstituiert die soziale Dimen­ sion des traditionellen Gemeindeprotests.

116 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

2. Kapitel: Die antietatistische Dimension des traditionellen Gemeindeprotestes

Wilhelm Riehls Diktum über die Bauern, deren Rebellion vor den Thronen endete und die Revolution von 1848/49 dadurch entschied, erklärt sich aus der Diskussion seiner Zeit. Der Topos von dem staatstragenden Bauern entstand in dem Maße als Filtrat aus dem Topos von der Erziehbarkeit des Volkes, in dem sich dieser in die Revolutionsfurcht vor den Unterschichten und die Hoffnung auf die Bauern auflöste.1 Zwar trat im Vormärz in Teilen Nordwest- und Nordostdeutschlands die Landgemeinde tatsächlich als Instrument der ländlichen Bevölkerung gegenüber der »Agrarbewegung« der Bauern und dem »Sozialen Protest« der Unterschichten zurück.2 In dem Maße, in dem sich die größeren Bauern im Zuge der Ablösung als dörrliche Besitzklasse aus der ländlichen Bevölkerung herausschälten und sich auf die Seite der Obrigkeit schlugen, wurde die Unterschicht als eigenständiger sozialer Träger kollektiver Proteste für Bürger und Obrig­ keit erkennbar. Riehls ängstliches Forschen nach den Ursprüngen des Proletariats, seine Feststellung, daß »seit dem Dreißigjährigen Kriege die Zahl der Familien in den Dörfern häufig gewachsen ... ist, jetzt wohnt bereits eine bedeutende Zahl zur Miete. Zur Miete wohnen ist aber durchaus nicht bäuerlich ... So wie Miethsleute in die Häuser ziehen, zieht auch die Stadt aufs Land«,3 bezog sich aber gerade auf jene mittel·, süd­ und südwestdeutschen Landschaften des alten Oberrheinischen und Frän­ kischen Reichskreises, in denen die ländlichen Gemeinden trotz ihrer scharfen sozialen Differenzierung mindestens bis zur Revolution von 1848/49 der Organisations- und Werterahmen ihrer Bewohner blieben.4 Die Frühneuzeitforschung hat auf dieses scheinbare Paradox durch ihre Berücksichtigung sozialer Differenzierung in verfassungsgeschichtlichen Rahmenbedingungen Antworten besonders für kleine Territorien entwik­ kelt, deren Tragweite für ein mittleres Territorium im 18. und 19. Jahrhun­ dert wie Hessen-Kassel5 und deren Konsequenzen für Lebensweise und Werthaltung der ländlichen Bevölkerung gegenüber der Landesherrschaft und ihren gebildeten Beamten untersucht werden soll. In diesem Kapitel wird deswegen die Auseinandersetzung von Landgemeinde und Obrigkeit zwischen Eder und Werra im Vergleich zur fränkischen und badischen 117 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Entwickung verfolgt. Das Kapitel zerfallt in drei Teile. Im ersten Teil wird an Hand von Franken und Baden knapp umrissen, welche besondere Bedeutung die Landgemeinde und ihre Privilegien und Berechtigungen in den Augen ihrer Einwohner unter den gegebenen Rahmenbedingungen erhielten (2.2.). Im Anschluß stellt sich die Frage, welche Bedeutung der Landgemeinde für Bauern und Unterschichten demgegenüber in dem größeren Territorium Hessen-Kassel in der Auseinandersetzung mit der Obrigkeit zukam (23.). Im zweiten Teil stößt die Untersuchung ins Innere der Gemeinden und damit zur Politik auf dem Dorfe vor. Welche Bündnisse entstanden im Kontfliktdreieck zwischen Bauern, Unterschichten und Obrigkeit? Unter welchen Bedingungen verbündeten sich Bauern und Unterschichten gegen die Obrigkeit? Hing die Form dieser Bündnisse mit den Gemeindetypen und dem jeweiligen Handlungsspielraum in den Gemeinden zusammen (2.4.)? Im dritten Teil wird nach den Konsequenzen des Konflikts der Bauern und der Unterschichten mit der Obrigkeit für deren Verhältnis zu ihren jüdischen Nachbarn (2.5.), zur Kirche (2.6.) und zum Vereinswesen ge­ fragt (2.7.). Zuerst müssen die besonderen verfassungs- und ereignisgeschichtlichen Rahmenbedingungen vorgestellt werden, welche die Auseinandersetzung zwischen Landgemeinde und Obrigkeit im Fränkischen und Oberrheini­ schen Kreis insgesamt geprägt haben. In diesem Zusammenhang muß auch die besondere Problematik der Staatsbildung für die Gemeinden erörtert werden (2.1).

2.1. Landgemeinden, Landesherrschaft und Staatsbildung auf dem Gebiet des Oberrheinischen und Fränkischen Reichskreises Der Fränkische und der Oberrheinische Reichskreis wurden in besonderem Maße durch Kleinterritorien geprägt, die häufig keine innerterritorialen Appellationsinstanzen besaßen. Ihren Untertanen war von den Reichsstän­ den statt dessen das Recht belassen worden, an die Reichsgerichte zu appellieren. Konflikte zwischen Obrigkeit und Gemeinde waren gerade in diesen kleinen Territorien strukturell angelegt, weil der Landesherr häufig zugleich der bedeutendste Grundherr war. Die alten bodenrechtlichen Belastungen der Grundherrschart und die neuen landesherrlichen Steuern flössen an ein- und dieselbe Obrigkeit. Den Kleinbauern und Parzellenbe118

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

sitzern drohte erstens bei Mißernten die Existenzkrise, weil Steuern und Abgaben dann ihre geringen Erträge aufzuzehren drohten und sie sich im Winter für den Kauf neuer Vorräte verschulden mußten. Die Auseinander­ setzungen konzentrierten sich zweitens wegen des seit Beginn des 18. Jahrhunderts vielerorts spürbaren Bevölkerungsdrucks auf die umfangrei­ chen Waldgebiete der Mittelgebirgslandschaften. Aufgrund der territoria­ len Struktur und reichsrechtlichen Stellung der Kleinterritorien entluden sich die Auseinandersetzungen zwischen je nach Lage unterschiedlichen Gruppen innerhalb der ländlichen Bevölkerung und der Landesherrschaft in reichsgerichtlich ausgetragenen und in »Bauernschlachten« angefochte­ nen langwierigen Konfrontationen, in denen für die ländliche Bevölkerung der kollektive »Aufstand der Ungleichen« innerhalb der Landgemeinde die vergleichsweise größte Gewähr für Erfolge bot. Die rechtliche und soziale Ungleichheit in den Landgemeinden blieb in die Auseinandersetzung von Obrigkeit und Untertan eingebunden, die ihrerseits durch das reichsrecht­ liche Dreieck aus Landgemeinde, Landeshoheit und Reich strukturiert wurde und die Erfahrung der beteiligten Bauern und Tagelöhner prägte.6 Die kleinen Landeshoheiten und -herrschaften wie die fränkischen Reichsritterschaften oder die süddeutschen Klosterherrschaften besaßen trotz aller Unterschiede auch Gemeinsamkeiten mit dem armierten und nicht bereits zwischen Reichsdeputationshauptschluß 1803 und Wiener Kongreß 1814/15, sondern endgültig erst 1866 annektierten Kurhessen. Die Landgrafschaft Hessen-Kassel gehörte mit der Herrschaft Schmalkal­ den zum Eränkischen, mit dem Rest ihrer Territorien (außer Schaumburg) zum Oberrheinischen Kreis. Ihre Annexion von 1866 markiert ihren Zwit­ terstatus zwischen den sich etablierenden Mittelstaaten wie Bayern und den vielen reichsunmittelbaren kleineren Territorien, die zwischen 1792 und 1866 ihre Eigenständigkeit verloren. Die Entstehung des modernen Staa­ tes vollzog sich auf dem Gebiet des ehemaligen Oberrheinischen und Eränkischen Kreises vor allem durch die Annexion und Integration großer und kleiner, armierter und nichtarmierter reichsunmittelbarer Herrschaf­ ten durch Preußen, Baden, Württemberg und Bayern. Die Mittelstaaten Bayern und Baden wurden überhaupt erst im Verlauf dieser Gebietsgewin­ ne zwischen dem Reichsdeputationshauptschluß und dem Wiener Kongreß souveräne Staaten. Hardenbergs Preußen markierte mit dem Erbfall der fränkischen Markgrafschaften Ansbach und Bayreuth an die Brandenburger Hohenzollern 1792 den Anfang und Bismarcks Preußen mit der Annexion Kurhessens 1866 das Ende dieser »territorialen Flurbereinigung«7 auf deutschem Boden. Die innere Staatsbildung und ihre häufig liberal inspi­ rierten Reformen von Recht, Verwaltung, Gewerbe und Landwirtschaft rollten vor den Augen der Gemeinden in den betroffenen Gebieten über die Trümmer der alten Landesherrschaften mit dem Vehikel der traditionel­ © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

119

len Machtpolitik des Fürstenstaates, mit »Tausch, Teilung und Länderscha­ cher«,8 hinweg. Die relative Kleinräumigkeit der badischen und bayrischen alten Kernterritorien, die relative Größe der neuen Gebiete und der Zeit­ punkt der Erwerbungen, der sich mit dem durch die französische Einfluß­ nahme ermutigten Reformimpetus überschnitt, erzwangen und ermöglich­ ten den Weg der inneren Reform zur Konsolidierung dieser Staatsgründun­ gen, um in der Tradition des aufgeklärten Absolutismus von oben neue Staatswesen »zusammenzuschweißen«. Auch Kurhessen verlor seine Eigen­ ständigkeit in diesem Zeitraum, nämlich 1806 an das neugegründete Königreich Westfalen. Es gewann sie zwar 1813-15 bis zur preußischen Annexion von 1866 zurück. Dennoch teilte seine ländliche Bevölkerung in gewissem Umfang die Erfahrung des ständigen Umbruchs der staatlichen Herrschaftsverhältnisse und der damit verbundenen Relativierung der eige­ nen alten Obrigkeit mit der Bevölkerung anderer kleinerer Territorien.9 Für die Gemeinden ergaben sich im Verlauf dieses Prozesses neue Gegner und neue Verbündete. Der landsässige und mediatisierte Adel verschmolz ein Stück weit mit den höheren Landesbeamten der neuen Staaten zu einem »corps intermédiaire«.10 Unter Reitzenstein und Montgelas führte es die Staatsbildungs- und Reformbewegung in Baden und Bayern in der Rheinbundzeit an und entwickelte sich schrittweise zu einer leitenden und häufig reformorientierten Staatsdienerschaft,11 die sich gegenüber ihren widerstrebenden Landesherren absicherte.12 Einzelne Teile ihres Staatsbil­ dungsprogramms kollidierten mit den Interessen der Gemeinden, so vor allem in Fragen der Agrarreform, der Gewerbefreiheit, der Reform des Armen- bzw. Ortsbürgerrechts und der mit allen diesen Reformen direkt oder indirekt verknüpften und dadurch den Sprengstoff aller Veränderun­ gen auf sich vereinigenden Frage der Judenemanzipation.13 Andererseits suchten die Gemeinden im Kampf um die Abgaben und Hoheitsrechte der vielen kleinen Landesherrschaften im Ancien Régime und der Standesher­ ren im Deutschen Bund nach der Unterstützung derjenigen konkurrieren­ den Hoheitsträger, von denen sie sich die Einschränkung des drückenden Zugriffs der jeweils eigenen Landeshoheit oder Standesherrschaft erwarte­ ten. Die Gemeinden waren jedoch nicht nur abwartende und profitierende Zuschauer dieses Schauspiels, sie waren auch seine Opfer. Die Entwicklung der Landesherrschaften zu modernen Staaten vollzog sich auch als Eingriff in ihre Besitzstände und inneren Verhältnisse,14 denn zur Konsolidierung der neuen Staatlichkeit bedurfte es der Bündelung, Vereinheitlichung, Beschränkung und Nivellierung der Hoheitsrechte und tradierten Privilegi­ en der nachgeordneten Korporationen in den neuerworbenen Gebieten. Über die Richtung und die Vollendung dieser Entwicklung gibt eine umfangreiche landesgeschichtliche Literatur Auskunft.15 Weniger ist über 120 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

die Folgen dieses Prozesses für die Mentalität und das Verhalten der sozialen Klassen in den Gemeinden bekannt, die auf ihn vor dem Hinter­ grund ihrer Erfahrungen mit den Vorläufern der neuen modernen Staaten, den Landesherrschaften, reagierten.16 Um die Frage nach diesen Folgen zu beantworten, muß berücksichtigt werden, daß aus der Sicht der Gemeinden die durch die Obrigkeit bewirkte Umwälzung der inneren Verhältnisse nicht erst mit den Zerfall des Alten Reiches und im Zeichen der modernen Staatlichkeit begann. Kriege, Erb­ fälle und Annexionen beschleunigten zwischen 1792 und 1866 nur eine Entwicklung, die seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr abgebrochen war. Die in den Verträgen von Münster und Osnabrück 1648 reichsrecht­ lich verbürgte, mit dem Reichsabschied von 1654 zum »territorialstaatli­ chen Absolutismus«17 verfestigte und in den Einigungen zwischen Reichs­ fürst und Landständen wie in Hessen-Kassel 1655 gegenüber den Land­ ständen abgesicherte Landeshoheit blieb ein Konglomerat aus lehns­, reichs-, leib-, gerichts- und grundherrlichen Ansprüchen gegenüber den verschiedenen Rechtsgruppen der Territorien einer Herrschaft, um deren Konsolidierung sich die Landesherren allein schon aus pekuniären Grün­ den bemühten. Die steigenden Kosten der Landesherrschaft zwangen in der Frühen Neuzeit alle Landesherren, neben ihren ständigen boden­, lehns- und kirchenrechtlichen auch ihre außerordentlichen Einnahmen zu verstetigen. Die dazu von den reichsunmittelbaren großen und kleinen Herren in ihrer Funktion als Träger der Landeshoheit erhobenen und eigentlich außerordentlichen Steuern für das Reich oder das Territorium drangen in ihrer Bedeutung auch für die Gemeinden daher »vom Rand in das Zentrum« vor. Die Landsteuer zur Reichshilfe und die Kontribution zur Landesverteidigung gerieten auch in Hessen-Kassel zu stetigen Einnah­ men, die bereits im Frieden rund die Hälfte der landesherrlichen Einkünfte ausmachten.18 Die Integration der Landgemeinden in die Landesherrschaften und den werdenden Staat vollzog sich als zwar ständig unterbrochene, aber den­ noch fortgesetzte relative Zunahme dieser genuin staatlichen Steuern, Umlagen und Verpflichtungen gegenüber den im Zuge der Aufhebung der Leibeigenschaft und der Autlösung der traditionellen Agrarverfassung schließlich völlig abgelösten Diensten und Abgaben. Auch die im Zuge der Intensivierung hoheitlicher Rechte geforderten neuen Fronen für den Staat gerieten dabei in die zeitgenössische Kritik der Untertanen an der alten Leibeigenschaft als »böhmische Erfindung« und »Sklaverei«.19 In der Landgrafschaft bzw. dem Kurfürstentum Hessen-Kassel, in der Markgraf­ schaft bzw. dem Großherzogtum Baden und ohnehin in den kleineren Herrschaften war der Landesherr überdies häufig der bedeutendste Grund­ herr. Herkömmliche grund-, leib- und gerichtsherrliche Abgaben, im An121 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Schluß an den Dreißigjährigen Krieg zur Behebung der Schäden geforderte Fronen, neue in Geld zu entrichtende Landessteuern und seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts immer fühlbarere Einschränkungen der Waldnutzung fielen an dieselbe Obrigkeit, die ihre hoheitlichen Rechte zu versilbern suchte.20 Die entstehende neue Staatlichkeit blieb mit dem Bemühen der alten Landesherrschaft verknüpft, neue Mittel und Wege zur Belastung der Untertanen zu finden. Noch die Reformen der sich konstituierenden souveränen Staaten seit Ende des 18. Jahrhunderts standen unter finanzpo­ litischen Zwängen. Obgleich die Abgrenzung der grund-, leib- und ge­ richtsherrlichen Gefälle von dem wachsenden Staatssteuerwesen teilweise bereits im 18. Jahrhundert erfolgte, zog sich die endgültige Hinordnung dieser Einnahmen in die Staatssteuersysteme in Baden und Franken bis weit in das 19. Jahrhundert hin. Hinzu kamen die Probleme um die Ablösungs­ zahlungen und die Kreis- und Gemeindeumlagen.21 Obwohl die wachsen­ de Steuerlast die im 19. Jahrhundert ebenfalls wachsenden Einkommen nur zum Teil wieder abschöpfte, gilt das Wort des Abgeordneten Hansemann von 1848 auch gerade für die ärmeren Steuersubjekte der alten und neuen Staaten, »in Geldsachen hört die Gemüthlichkeit auf«.22 Angesichts dieser Sachlage stellt sich die Frage, inwieweit die Auseinan­ dersetzung um diese Abgaben zu einem Konflikt zwischen Gemeinde und Landesherr um die Privilegien und Rechte der Gemeinden und um den Charakter und die Legitimität der neuen Staatlichkeit wurde. Diese Frage läßt sich in drei weiterführende Teilfragen zergliedern. Erstens, welche Bedeutung bewahrte sich die Gemeinde für die ländliche Bevölkerung in der Auseinandersetzung mit der Obrigkeit bis ins 19. Jahrhundert, und wie stellte sich das Verhältnis von Landgemeinde und Landesherrschaft dabei in kleineren Territorien und in einem etwas größeren armierten Territorium, nämlich der Landgrafschaft Hessen-Kassel, dar, in dem die besonderen verfassungsrechtlichen Ausgangsbedingungen der Kleinterritorien fehlten (2.2. und 2.3.)? 23 In welchem Verhältnis stand die Gemeinde dort zweitens zu den sozialen Konflikten innerhalb der ländlichen Bevölkerung und zu dem Handlungs­ spielraum, der den beiden sozialen Klassen gegeneinander und gegenüber dem werdenden Staat blieb (2.4.)? Die antietatistische Dimension des traditionellen Gemeindeprotestes läßt sich drittens auch durch die Untersuchung der indirekten Konsequenzen des Konfliktes zwischen der ländlichen Bevölkerung und der Obrigkeit erhellen. Es ist ein Gemeinplatz, daß sich die ländliche Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den sozial segregierten Wohn­ quartieren der wachsenden Großstädte durch das unmittelbare Nebenein­ ander von sozialer Härte, schroffer Schichtung, traditioneller Statuszuwei­ sung und enger Nachbarschaft von Arm und Reich24 bei gemeinsamer 122 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

konfessioneller und habitueller Prägung unterschied.25 Soweit diese Prä­ gung aus der materiellen, sozialen und rechtlichen Auseinandersetzung zwischen Gemeinde und Obrigkeit folgte, läßt sie sich auch als ein Ergebnis der antietatistischen Tradition des traditionellen Gemeindeprotestes verste­ hen, die über den materiellen Kern der Konflikte hinaus schließlich zu einem Teil der Lebensweise und der Werthaltungen der ländlichen Bevöl­ kerung wurde. Sie darf dann nicht als Teil einer Gegenkultur, sondern muß als Ergebnis der im Hinblick auf den Konflikt mit der Obrigkeit selektiven Übernahme des Angebotes der städtisch-gebildeten Kultur verstanden werden, der die traditionellen Werthaltungen zur Seite standen. Deshalb wird drittens gefragt, welche Folgen die Auseinandersetzung von Landge­ meinde und Obrigkeit für die Lebensweise und die Werthaltung der ländlichen Bevölkerung besaß. Dieser Frage soll an Hand ihres Verhältnis­ ses zu den jüdischen Nachbarn, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als Schutzjuden in den Konflikt zwischen Staat und Gemeinde verwickelt blieben (2.5.), 26 ihres Verhältnisses zu dem bedeutendsten Sinnstiftungsan­ gebot der außerdörflichen Welt, der landesherrlichen Kirche (2.6.), und schließlich an Hand der Rezeption der national-patriotischen Sinnstiftungs­ angebote des Kaiserreiches nachgegangen werden (27.).

2.2. Die Bedeutung der Landgemeinde für die ländliche Bevölkerung in den südwestdeutschen und fränkischen Kleinterritorien Zuerst gilt es, die zentrale materielle und schließlich auch ideelle Bedeu­ tung der Landgemeinde in der Auseinandersetzung mit der Obrigkeit in den badischen, fränkischen und hessischen Kleinterritorien zu skizzieren. Am Beispiel der badischen und fränkischen Klein- und Zwergterritorien kann verfolgt werden, welche Konsequenzen die Fiskalisierung der Landes­ hoheit für das Verhältnis zwischen Landgemeinde und Landeshoheit hatte und inwieweit die ländliche Bevölkerung trotz ihrer sozialen Differenzie­ rung im Konflikt mit der Obrigkeit an ihre Gemeinden geschmiedet wurde. Lehrten die finanziellen Anforderungen der Landeshoheiten die Gemein­ den beispielsweise, ihre Gemeindeprivilegien zur Abwehr neuer finanzieller Forderungen besonders zäh zu verteidigen? Gewann die Gemeinde da­ durch schließlich als solche eine besondere Bedeutung ftir das Selbstver­ ständnis der ländlichen Bevölkerung? Zwangen die wachsenden fiskali­ schen Anforderungen die Gemeinden möglicherweise, nach übergeordne­ ten Institutionen zu suchen, um die Berechtigung dieser Anforderungen 123 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

dort anzufechten? Im Alten Reich wären das die Reichsgerichte oder mächtige Nachbarterritorien gewesen. Die Gemeinden setzten diesen Ver­ such im Deutschen Bund möglicherweise fort. Ließen sich die fränkischen Gemeinden noch 1848 auch deswegen durch die Aufrufe der Demokraten für die Revolution mobilisieren, weil der Ruf nach einer geeinten deutschen Nation für sie die Wiedererlangung ihrer alten, durch Bayern unterjochten fränkischen Freiheit und der damit verbundenen materiellen Erleichterun­ gen verhieß? Dieser Zusammenhang soll in dem folgenden Abschnitt zunächst am Beispiel von Baden und Franken untersucht werden. Das spätere Großherzogtum Baden setzte sich bis zum Reichsdeputati­ onshauptschluß und dem Ende des Alten Reiches aus vielen kleinen Herr­ schaften zusammen, deren Kern, die alte Markgrafschaft Baden, gegen Ende des 18. Jahrhunderts gerade 3600 qkm mit 265.000 Einwohnern umfaßte, also deutlich weniger als die Bevölkerung der Landgrafschaft Hessen-Kassel. Der badische Markgraf gründete nach dem Reichsdeputati­ onshauptschluß 1803 und durch Gebietsarrondierungen in der Rhein­ bundzeit jedoch einen neuen Staat. 1806 war die Fanwohnerzahl des Großherzogtums auf eine Million Einwohner angewachsen. Allein 24,5% der Fläche des neuen Staates und 18% seiner Bevölkerung zählten zu den nun standesherrlichen, weitere 11% der Fläche und 11% der Bevölkerung zu den grundherrlichen Gebieten und Jurisdiktionen, die durch Artikel 14 der Bundesakte vor der vollständigen Nivellierung in der neuen badischen Staatlichkeit geschützt wurden.27 Auch Franken bestand im Alten Reich aus zahlreichen kleineren, oft geistlichen, reichsunmittelbaren Herrschaften, unter denen die größeren noch die Fürstbistümer Würzburg und Bamberg und die Markgrafschaften Ansbach und Bayreuth waren. Daneben gab es zahlreiche Reichsstädte28 und die zahllosen kleinen Reichsritterschaften. Sie fielen mit manchen Zwischenstationen bis 1819 an das zum Königreich erhobene Bayern.29 Die Konfrontation von Landgemeinde und Landesherrschaft erhielt in den Kleinterritorien deshalb eine besondere Note, weil die Anfechtung der finanziellen Forderungen der jeweiligen Landeshoheit zur Anfechtung ihres Rechtsstatus als Landeshoheit überhaupt führen konnte. Um bei­ spielsweise den Klosterbau der Abtei in Schwarzach zu finanzieren, belegte der Abt die Landgemeinden mit zusätzlichen Steuern, Fronen, Entziehung der Allmenden, Einschränkung des Holzschlages in den Wäldern, einem besonders hohen - leibherrlichen - Todfall und schließlich einem für die Gemeinden ungünstigen Vorkaufsrecht für das Vieh. Die Markgrafschaft Baden suchte ihrerseits gegenüber dem nach Anerkennung der Reichsun­ mittelbarkeit strebenden Abt ihre Landeshoheit zu erzwingen und erreich­ te 1721 dabei sogar durch das Reichskammergericht ein Mandat zu ihren Gunsten. Sie packte mit dem sich abzeichnenden Zwist zwischen Abt und 124 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Gemeinden die Gelegenheit beim Schopfe, eigene Ansprüche auf die Abtei anzumelden und gegen den Abt und für »ihre« Untertanen mit Truppen zu intervenieren. Erst diese Intervention ermutigte die Beschwerde der klösterlichen Untertanen beim Markgrafen. Das fünfte Reichsmandat ge­ gen die Bauern wurde durch württembergische Truppen 1728 exekutiert und entschied schließlich den Konflikt.30 Den Schwarzacher Bauern wurde klar, daß es in erster Linie gelingen mußte, die Landeshoheit der Kloster­ herrschaft abzuschütteln und sich der Markgrafschaft anzuschließen, weil damit zugleich den klösterlichen Lasten zu entgehen war. Der Kampf um Abgaben und Dienste wurde zu einem Konflikt um die staatliche Legitimi­ tät der betroffenen Herrschaft, weil sie ihre Landeshoheit zum Instrument ihrer finanziellen Einnahmen machte und die Leibeigenschaft unter den Untertanen ohnehin in Mißkredit geraten war. Die größere Markgrafschaft Baden stieß bei ihren Verwaltungs- und Schulreformen, bei Eragen der Allmende- und der Waldnutzung oder der Rekrutierung der Unterschich­ tenkinder für die neuen Industrieschulen ebenfalls auf den Widerstand der Gemeinden, war aber weniger verletzlich.31 Hier wie dort beteiligten sich die Landarmen, häufig vollberechtigte Gemeindemitglieder, an dem Wi­ derstand gegen Eingriffe in die Gemeindebelange. Bauern und Unter­ schichten suchten durch den Rekurs auf Kaiser und Reich oder benachbarte stärkere Landesherren nach Verbündeten gegen ihre eigene Obrigkeit.32 Auch für die fränkischen Gemeinden bot die »territoriale Vielfalt im Zeichen unvollendeter Staatlichkeit«, also die Zersplitterung der Herr­ schaftsrechte an unterschiedliche Grund-, Erb-, Schutz- und Gerichtsher­ ren, den Ansatzpunkt zur Verteidigung gegen die Lasten der Obrigkeit, weil in vielen Gemeinden oft noch nicht einmal die Unterordnung aller Befugnisse auf eine Landesherrschaft gelungen war.33 Selbst in der relativ geschlossenen Reichsritterschaft der von Hutten um Ort und Eigenwirt­ schaft Erankenberg vermochte die Gemeinde, zwischen den konkurrieren­ den Ansprüchen der von Hutten und deren wichtigsten örtlichen Konkur­ renten, den 1671 gefürsteten Schwarzenberg, lavierend, bis 1683 die Gerichtsbarkeit »auf gemeiner Straße« in eigener Regie auszuüben - dann geriet auch dieses Privileg unter die Räder der Konsolidierung des Herr­ schaftsverbandes.34 Am Beispiel dieser Reichsritterschaft lassen sich exem­ plarisch die materiellen Konflikte zwischen Obrigkeit und Gemeinde und der Handlungsspielraum der Gemeinden beleuchten. Die Ablösung der diesen Herrschaftsverband konstituierenden hoheitli­ chen Rechte35 und grundherrlichen Gefälle, insgesamt bis zu 40% der bäuerlichen Einnahmen, zog sich bis 1848 hin, die unbemessenen Bau­ holz-, Wald-, Wein- und Steinfuhren blieben bis 1848 erhalten. Die Ein­ nahmen aus Gült- und Zehntgetreide aus der bis ins 19. Jahrhundert in Dreifelderwirtschaft betriebenen bäuerlichen Getreideproduktion und der 125 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

örtlichen Eigenwirtschaft36 waren der Kern der herrschaftlichen Hinnah­ men.37 Den herrschaftlichen Amtleuten,38 Schöffen, Schultheißen und Zehntgrafen, einige selbst Dorfbewohner, standen die dörflichen Bürger­ meistern, Flurer, Waldhüter und Siebener gegenüber, die allerdings seit 1683 ebenfalls an die Weisungen der Herrschaft gebunden waren. Laut der Dorfordnung von 1759 vermochte der Huttensche Schultheiß überdies auf den Gemeindeversammlungen sein Veto einzulegen, wenn »die meisten aus der Gemeinde, aus Eigennutz, zum Schaden des Gemeinen Wesens, ein Complott unter sich gemacht hätten«. 39 Obgleich sich die Gemeinde trotzdem genossenschaftlich konstituierte, weil zu ihr auch Hintersassen anderer Grundherren gehörten,40 reichte der Arm der Hutten weit genug in die Gemeinde hinein, um trotz der drückenden Lasten offenen Wider­ stand erst autkommen zu lassen, als der Aufstand in anderen fränkischen Standesherrschaften 1848 den gesamten bayrischen Staat erschütterte, die Gemeinde sich anschloß, alle weiteren Abgaben verweigerte und die ent­ schädigungslose Ablösung forderte.41 In den meisten Huttenschen Gemeinden teilten sich die Hutten die Hochgerichtsbarkeit jedoch mit anderen Herren, und hier ergab sich jener Handlungsspielraum für die Gemeinden, den sie seit 1799 emphatisch gegen die Versuche Preußens und später Bayerns verteidigten, sie ins Untertanengetlecht des entstehenden Staates und damit seiner Steuern und Dienstpflichten42 einzubeziehen. Zwischen den Ansprüchen unter­ schiedlicher und sich gegenseitig blockierender Landeshoheiten lavierend, war es vielen Gemeinden im Fränkischen Reichskreis gelungen, die eigene Ortspolizei und Niedergerichtsbarkeit zu verteidigen und sich dadurch in je unterschiedlicher Weise gegen weitere Fronen, Abgaben oder andere Dienstverpflichtungen abzuschirmen. Das Selbstverständnis dieser Ge­ meinden als »Freiflecken«, »Reichsfreie« oder »freies lediges Dorf« leitete sich aus Rechten und Privilegien her - der Wahl der Gemeindevorstände, dem Anspruch auf die Ortskirche als Gemeindeeigentum, der Möglichkeit, den Pfarrer auf die Verpachtung der Kirchwiese und das Mitleisten der Fronen zu verpflichten -, 43 die zunächst handfeste und willkommene materielle Begünstigungen in einer Zeit ständig steigender Lasten waren. Über ihren materiellen Wert hinaus kam ihnen jedoch in dem Maße zunehmend auch ein symbolischer Wert zu, in dem die Landesherrschaften seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges zum Angriff auf diese Stolperst­ eine geschlossener Landesherrschaft ansetzten. Bereits 1651 erzwangen der Deutsche Orden und 1721 die von Schwarzenberg beispielsweise ihre grundherrlichen Hintersassen in Ergersheim, aus dem »Schutz und Schirm« von Ansbach, der die besonderen Rechte der Gemeinde umfaßte, auszutreten, und sprengten damit eine Lücke in den genossenschaftlich privilegierten Gemeindeverband. Gegenüber dem Markgrafen von Bran126 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

denburg-Onolzbach, dessen Grundherrschart und Hochgerichtsbarkeit ohnehin unbestritten blieb, standen für die Rumpfgemeinde nun zusätzli­ che Steuern und der Viehzoll auf dem Spiel. Die symbolischen Repräsenta­ tionen ihrer Gemeindefreiheit wurden zu rechtlichen Handhaben im Streit um diese Abgaben. Der von der Rumpfgemeinde gewählte Bürgermeister verweigerte dem Ansbacher Schultheißen das Handgelübde,44 und seine Gemeinde verteidigte ihre alten Privilegien 1725 durch eine Klage vor dem Reichshofrat. Die Schöffen sicherten das Gemeindesiegel - mit dem Titel »Freitlecken Ergersheim« - vor dem Zugriff der Herrschaft, stellten die Leistungen an den Markgrafen ganz ein und rissen dessen Patente von den Häusern. Dem Landesherrn fehlten zwar die Truppen, um sich mit Gewalt durchzusetzen - ein Korporal und sechs Mann Kreisausschuß wurden in die Flucht geschlagen -, der Prozeß zog sich jedoch bis 1743 hin und belastete die Gemeinde. Der örtliche Pfarrer vermittelte schließlich einen Kompro­ miß, nach dem die Herrschaft das umkämpfte Schutz- und Schirmverhält­ nis schließlich anerkannte, von Steuern, Handlohn und Nachsteuer absah, dafür aber die Gemeinde verdoppelten Schutzhafer an den herrschaftlichen Schutzherren zahlte. Wie sehr sich dieser materielle Gewinn im Selbstver­ ständnis der Einwohner mit ihren Reichsprivilegien verknüpfte, zeigte sich, als einer der Bauern vor der Unterzeichnung der Einigung im Dorfe monierte, man müsse erst klären, ob der Kaiser auch wirklich damit einverstanden sei.45 Für diese ideelle Überhöhung der Gemeinde und ihrer Freiheit als Bollwerke gegen die Obrigkeit lassen sich viele Beispiele anfuhren. Die Gemeinde Dittenheim bezeichnete sich in ihrer Dorfordnung von 1657 deshalb als »freies lediges Dorf«, weil, wie ein betroffener Amtmann noch 1745 kommentierte, »jede Herrschaft, welche Untertanen darinen besizet, der anderen an der exercitio der Dortherrschaft gehindert«. Dabei war den Einwohnern nur das Recht geblieben, ihre Gemeinderechnung selbst abzu­ hören. Die Gemeinde Obermögersheim stritt sich bis 1786 um das F^igen­ tum an der Ortskirche und an der ebenfalls von ihr beanspruchten Heili­ genkasse, die von zwei dörflichen Pflegern verwaltet wurde, doch setzte Ansbach als Kirchenpatron und Episkopalhcrr Militär ein und brachte sie »zur Räson«. Obermögersheim bezeichnete sich noch 1673 als »Freidorf« und besaß eine eigene Niedergerichtsbarkeit. Diese Gerichtsbarkeit ging 1797 in der preußischen Gerichtsorganisation auf, Bayern nahm dann den Rest dieser kommunalen Selbstverwaltung. Faktisch erhielten sich solche Rechte jedoch in die bayrische Zeit hinein. Der Halsgerichtsbezirk Absberg besaß das Privileg, Täter, die sich nicht gegen den Kaiser vergangen hatten und keine offenkundigen Mörder waren, für ein Jahr gegen eine Gebühr aufzunehmen. Nach Ablauf des Jahres konnte der Betreffende durch Überschreiten der Gemarkungsgrenze und sofortigen erneuten Eintritt in 127 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

den Bezirk ein neues Jahr beginnen. Noch 1838 starb dort ein Schneider, der seine Frau erschlagen und daraufhin dort Schutz gesucht hatte.40 Im Hochstift Bamberg beanspruchte die Gemeinde Oberehrenbach als einzige besondere Freiheiten. Dort gab es sieben Eigenherrschaften für nur zwei­ undzwanzig Güter, darunter Reichsritter, das Hochstift, reichsstädtische Patrizier und benachbarte adlige Pfarreien. Der Streit um ihre Stellung entzündete sich an der Abhörung der Rechnungen, die Bauern vermochten 1745 einen Trupp Ausschuß des Stifts mit Dreschflegeln in die Flucht zu schlagen. Bamberg protestierte mit den Worten, in einem fränkischen Stift könne doch kein »Schweizer Kanton« Platz haben.47 In diesem »Durcheinander, für das man keinen Namen hat«, wurde wie im Südwesten des Reiches die Baulust der vielen großen und kleinen Bauherren durch ihre fragilen Herrschaftsverhältnisse und die sich daraus ergebenden Spielräume der Gemeinden konterkariert.48 Sie führten Titel tatsächlicher oder vermeintlicher Privilegien ins Feld und lernten den Rekurs auf die freie Gemeinde als Königsweg der Abwehr neuer Belastun­ gen in dem langen Jahrhundert zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und dem Zugriff Preußens und Bayerns schätzen.49 Gegen den solche Privilegien mißachtenden Zugriff des werdenden Staates und seiner Armeen setzten sich gerade die Parzcilenbesitzer der armen Mittelgebirgs­ regionen von Rhön, Spessart und Odenwald bereits im »fränkischen Bau­ ernkrieg« von 1796 mit Raub und Plünderungen gegenüber den französi­ schen Truppen zu Wehr.50 Dieses Erbe fiel schließlich an das Königreich Bayern, das aus dem vorhandenen »Territorialkonglomerat zusammenge­ schweißt« werden mußte.51 Diese »Revolution von oben« durch die »territoriale Flurbereinigung« Frankens, die Säkularisation der Klöster und die endgültige Einebnung der Privilegien, die viele Gemeinden bis dahin gegen kleinere Landeshoheiten erfolgreich verteidigt hatten, schufen den neuen Staat als alten Gegner der Gemeinden. Schmähschriften und Frbitterung gegen die bayrische Regie­ rung und Jubel für die antifranzösische und antibayrische fränkische Legion des Grafen Nostitz 1809 bestimmten nicht nur die Rheinbundzeit, son­ dern zusammen mit der Diskussion um die Ablösung auch den Vormärz.52 Die bayrische Regierung stellte der Ablösung überdies bis 1848 zahlrei­ che Hemmnisse entgegen. 53 Dorfarmut und Bauern zogen erneut an einem Strang, agrarische Bewegung und sozialer Protest fielen zusammen, agrarische Mißstände und soziale Krise wurden gleichermaßen der Brenn­ stoff für den gemeinsamen Aufstand gegen den neuen Staat. 1844 wurden die Erhöhung des Bierpreises, 1847 die Mißernte und 1848 die Märzereig­ nisse zum zündenden Funken einer allgemeinen Fxhebung der Bauern und der tagelöhnernden Kleinstbesitzer und Eisenbahnarbeiter für die entschä­ digungslose Ablösung.54 Ganze Gemeinden stürmten in den Mittelgebir128 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

gen von Spessart, Odenwald und Rhön, aber auch im Taubergrund, dem Maintal und Mittelfranken gemeinschaftlich Schlösser und Amtsgebäude der Gerichts-, Grund- und Standesherren, beflügelt von Sagen über den Bauernkrieg und den Kampf um die Rechte auf Holz, Jagd und Fischfang, forderten die Befreiung von der Forstpolizei und den grundherrlichen Abgaben, die Aufhebung der neuen strengeren Vorschriften bei der Holz­ und Streunutzung und die Entfernung mißliebiger Vertreter der Herr­ schaft, lieferten sich regelrechte Gefechte mit den Förstern und verhinder­ ten die Verhaftung von Wilderern.55 In den Ablösungsverhandlungen der folgenden Jahre erwiesen sich erneut die Rechtstitel der gemeindlichen Privilegien aus dem Alten Reich als entscheidender Trumpf im Streit um die Höhe der zu leistenden Zahlungen.56 In Erinnerung an diese alten Privile­ gien soll noch 1866 ein älterer Franke auf die Nachricht des Herannahmens der preußischen Truppen gerufen haben, »Hurra, die Preußen kommen und geben uns unsere alte Freiheit wieder«.57 Wir wissen inzwischen, daß die Auseinandersetzungen der Gemeinden einer Region mit ihrer Herrschaft durch eine rege publizistische Öffentlich­ keit weit über die unmittelbar betroffene Region bekannt wurden. Die »fränkische Freiheit« war auch für die Gemeinden im ehemaligen Ober­ rheinischen Reichskreis in ihrer Auseinandersetzung um den Wald und die Gemeindeautonomie noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein fester Begriff und ein erstrebenswertes Gut.58 Ihren alten Herren, den neuen badischen Standesherren, verblieben über 1815 hinaus die Patrimo­ nialjustiz, Forst- und Ortspolizei und Kirchenpatronat. Rund ein Drittel der ländlichen badischen Bevölkerung war hiervon betroffen. Durch die ersten Agrarreformen in der Rheinbundzeit fielen auch nur diejenigen besonderen Gefälle der Standesherren weg, die sich aus ihrem besonderen öffentlich-rechtlichen Charakter herleiteten, nicht aber diejenigen, die aus Rechten aus Grund und Boden herleitbar waren, ein Verfahren, welches bereits die durch das Königreich Westfalen eingeleitete Agrarreform gegen­ standslos gemacht hatte und die Untertanen der Standesherren in Baden gegenüber den landesherrlichen Bauern, für die die Leibeigenschaft schon seit den 1780er Jahren abgeschafft war, deutlich benachteiligte.59 Der badische Staat bemühte sich überdies, die mediatisierten ehemaligen Herr­ schaften ganz zu integrieren. Den Gemeinden verhieß die Erschütterung der verbliebenen Hoheitsrechte der Standesherren und die Durchsetzung der neuen badischen Staatlichkeit eine Erleichterung der Lasten. Der badische Staat wurde so auf Zeit, anders als der bayrische in Franken, zum potentiellen Verbündeten wenigstens der standesherrlichen Gemeinden. Von den über hundert einzelnen Unruhen in Baden zwischen 1815 und März 1848 fanden daher rund zwei Drittel auf dem Lande statt, von denen wiederum rund zwei Drittel zwischen 1847 und März 1848 die Standes© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

129

herrschaften erschütterten. Beim Sturm auf die Rentämter der Fürsten von Leiningen brachten die Bauern Hochrufe auf den Großherzog aus. Beson­ ders betroffen waren Südbaden und die Odenwaldregion, wo sich die Beschwerden über die Fronen, aber auch über die landesherrlichen Amtleu­ te häuften. Zum Teil gingen den Unruhen bereits seit den 1830er Jahren Brandstiftungen, Wilddieberei in den standesherrlichen Wäldern und An­ griffe auf Amtsvorsteher voraus. Diese vordergründig agrarisch begründe­ ten Angriffe gegen die Grund- und Standesherren trugen Gemeinden, die mehrheitlich aus Tagelöhnern bestanden und in denen sich die Unter­ schicht vereinzelt und anomym in Drohbriefen gegen die bäuerliche Bevor­ mundung in der Armenversorgung zu Wehr setzte.60 Aber diese einzelnen anonymen Konflikte leiteten sowenig wie in Franken in einen dörflichen Bürgerkrieg über, sondern versahen die agrarische Bewegung gegen die standesherrlichen Privilegien mit sozialem Sprengstoff. Bauern und Tage­ löhner blieben je nach der landesspezifischen Konstellation zeitweilig Ver­ bündete der neuen Staatsbildung wie in Baden oder deren Gegner wie in Franken, sie lernten in jedem Fall, aus der ständigen Erschütterung und Reorganisation der Staatsbildung jeden nur möglichen Vorteil zu ziehen, um ihre vitalen Interessen zu wahren, und lernten den werdenden Staat als entscheidende Bestimmungsgröße für ihr Wohl und Wehe zu erkennen.

2.3. Landgemeinde und Obrigkeit zwischen Eder und Werra vom späten 17. bis zum späten 19. Jahrhundert Wie verlief gegenüber den Bauernrevolten in den territorial zersplitterten Regionen Frankens und Badens die Auseinandersetzung zwischen Landge­ meinde und Landesherrschaft in dem armierten und mit dem Privilegium de non appellando versehenen Territorium Hessen-Kassel? Die Unterschiede müssen berücksichtigt werden, um das Verhältnis zwischen Obrigkeit und ländlicher Bevölkerung richtig einzuordnen. Schließlich lebte ein bedeu­ tender Teil der ländlichen Bevölkerung in den mittleren Territorien des Fränkischen und Oberrheinischen Kreises. Erst wenn diese Nuancen in der Auseinandersetzung zwischen Gemeinde und Obrigkeit in kleinen und mittleren Territorien erörtert sind, können auch die Gemeinsamkeiten benannt werden. Denn trotz aller Stärke des Kassler Territorialstaats im Vergleich mit den Zwergterritorien des Alten Reiches ging auch Kurhessen 1806/07 unter. Die nordhessische Bevölkerung wurde in der Folge zu Untertanen des Königreichs Westfalens, des zurückgekehrten Kurfürsten und schließlich des Königs von Preußen. Der Kurstaat verteidigte seine 130 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

politische Eigenständigkeit schließlich ebensowenig erfolgreich wie die Zwergherrschaften des Alten Reiches. Bis zum Ende des Alten Reiches entwickelte sich jedoch eine andere Tradition des gemeindlichen Widerstandes. Die Konflikte mit der Obrig­ keit verliefen wie in anderen größeren Territorien vor allem dann weniger spektakulär als in den Zwergterritorien, wenn nicht nur Truppen, sondern statt der Reichsinstanzen auch innerterritoriale Schlichtungsinstanzen vor­ handen waren.61 In Hessen-Kassel wurde die unmittelbare Auseinanderset­ zung zwischen Landgemeinde und Landesherrschaft sowohl durch die militärische Stärke des armierten Territoriums als auch durch dessen Appel­ lationsinstanzen abgefedert. Den hessischen Ständen wurde im Kompro­ miß von 1655 das Steuerbewilligungsrecht zuerkannt. Die Grundsteuer für die Kontribution wurde jedoch verstetigt.62 Der landsässige Adel mußte sich gegenüber der Landesherrschaft dazu bereitfinden, auch seinen Hin­ tersassen die Appellation bei der Regierung in Kassel zu gestatten. Seit 1732 waren in Streitigkeiten zwischen Adel und Hintersassen auch nicht mehr dessen Patrimonialgerichte, sondern die landesherrlichen Gerichte zuständig. Die adligen Hintersassen unterstanden seit 1736 ebenfalls dem landesherrlichen Amtmann. Ohnehin zählte nur rund eine kleine Minder­ heit der Amtsträger auf dem Lande zum Verwaltungspersonal des Adels, in dessen Bestallungsbriefen obendrein bereits 1801-03 die Autkündigungs­ klausel für die Justiziare der Patrimonialgerichte aufgehoben wurde Justiziare, für die der Dienst beim Adel nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zum landesherrlichen Dienst war.63 In der Landgrafschaft entwik­ kelte sich seit dem 16. Jahrhundert eine erstarkende, von ständischer Mitwirkung zunehmend finanziell unabhängige und den landsässigen Adel in ihren Dienerapparat integrierende Landesherrschaft.64 In den Landgemeinden selbst wurden die Vertreter der Herrschaft unter den Bauern rekrutiert, denen die von der Gemeinde bestimmten Vorsteher gegenüberstanden. Die Sportelordnung von 1655, die Jagdordnung von 1665 und schließlich die Grebenordnung von 1739 waren Schritte auf dem Wege der Landesherrschaft zur Erfassung und Kontrolle des Untertanen­ verbandes und ihrer Ressourcen, durch die der entstehende Staat in die alte Gerichts- und Grundherrschaft des Landesherren langsam hineinwuchs.65 Dabei schützte und erweiterte die Landesherrschaft zugleich ihre Einnah­ men aus der wegen der ständig steigenden Holzpreise immer bedeutende­ ren Forstwirtschaft. Die seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges nicht mehr abbrechende Konfrontation zwischen Herrschaft und Gemeinde um die Nutzung der Wälder, in der Hessen-Kassel 1711 mit der Übernahme der Aufsicht und Verwaltung der Gemeindewaldungen und 1824 mit der Festlegung von Gebühren für diese Verwaltung die Gemeinden weiter einschränkte, bildete einen bis ins späte 19. Jahrhundert verlaufenden 131 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Konflikt zwischen Staat und Gemeinde. Im Amt Homberg brachten allein die Strafgebühren des Forstfrevelgerichtes dem Landesherren beispielswei­ se 1815 über tausend Reichstaler an jährlichen Einnahmen ein, rund 70% aller im Amt in diesem Jahr angefallenen Gerichtsgebühren.66 Auch die herkömmlichen, grund- und gerichtsherrschaftlichen Gefälle67 wie der Grund- und Hauszins, der Zehnt und in manchen Fällen Abgaben beim Erbgang wie das Lehngeld waren, wie der Konflikt um den 1737 eingeführten, wegen heftigen Widerstandes zwischenzeitlich wieder abge­ schafften und 1757 erneuerten kleinen Zehnt, bis zur Ablösungsgesetzge­ bung immer wieder Gegenstand von Klagen, vor allem wenn sie, wie das Lehngeld, als prozentuale Abgabe auf den Wert des Bodens die Bauern nicht nur an ihr eingeschränktes Besitzrecht erinnerten, sondern obendrein beständig stiegen. Grundzins und Zehnt, die bedeutendsten grundherrli­ chen Gefälle, belasteten ihrem Anteil am Reinertrag pro Acker nach beson­ ders die wenigen großen Lehnlandhöfe der Dörfer, weniger jedoch die zersplitterten Besitzungen der Erblandbesitzer. Die landesherrlichen Steu­ ern, von denen besonders die monatliche Kontribution für die Kriegskasse zu nennen ist, lasteten jedoch umgekehrt besonders auf diesen Parzellen­ betrieben, die durch die neuen landesherrlichen Steuern nun ebenfalls zunehmend belastet wurden. Der monatlich aufzubringende Betrag der Kontribution wurde zwischen 1650 und 1704 von 2.500 auf 24.750 Reichsthaler rund verzehnfacht und machte zusammen mit der Landsteuer schließlich einen immer bedeutenderen Teil der landesherrlichen Fannah­ men aus. Im oberhessischen Ebsdofer Grund wurden rund 80% des Netto­ reinertrages der Betriebe der Untertanen auf diese Weise durch grund- und landesherrliche Lasten abgeschöpft. Diese Belastung setzte sich zu rund 73% aus Abgaben durch den Landesherren als Grundherren und Domä­ nenbesitzer und zu 27% aus steuerlichen Abgaben an die Landesherrschaft zusammen. Umgekehrt standen den obrigkeitlichen Einnahmen aus der Grundherrschaft, aus den Domänen und Regalien usf. von insgesamt durchschnittlich 661.955 Reichstalern in den Jahren 1763-1771 im Jahr 1773 Einnahmen aus Steuern von 375.250 Reichstalern gegenüber (Landsteuer, Kontribution usf.). Rund zwei Drittel der Einnahmen gingen aus den Rechten des Landesherren als Domänenbesitzer, Besitzer von Regalien und Grundherr zurück. An einigen Lasten entzündete sich in besonderer Weise die Erbitterung der ländlichen Bevölkerung, möglicher­ weise weil sie die Kassen des Landesherren nie erreichten. Dazu zählten beispielsweise die Sportein der Beamten. Sie wurden zu einem Symbol der willkürlichen Belastung durch die Beamten.68 Zum einem weiteren Symbol der ungerechten Herrschaftsverhältnisse wurden im Verlauf des 18. Jahhunderts auch die Fronen. Die Hand- und die Spanndienste leiteten sich ebenfalls häufig aus der Stellung der Fronen132 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

den als Untertanen ihrer Landesherrschaft und nicht aus den grund- oder gerichtsherrlichen Gefällen ab. Im Amt Friedewald standen 1731 630 grundherrlichen Spann- und 2711 Handdiensten - auch hier war der Landesherr ohnehin der bedeutendste Grundherr - über 1035 Spann- und 1176 Handdienste im Rahmen der Wasserbau-, Vorspann-, Pfarr-, Schul­ bau- und vor allem Straßenbauarbeiten - die Landesherrschart zog be­ trächtliche Einnahmen aus den umfangreichen Verkehrsstraßen des Transit­ landes Hessen - gegenüber. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts griff die Kritik an der Leibeigenschaft als »Sklaverei« auf die von der Leibeigenschaft völlig unabhängigen, weil aus der Landeshoheit herrührenden Dienste über. Trotz der sukzessiven Ablösung einzelner Fronen unter diesem Druck seit Finde des 18. Jahrhunderts wurden beispielsweise die besonders drücken­ den Wegebaudienste, vermutlich eben wegen ihrer Bedeutung für das Transitland Hessen, erst 1840 aufgehoben. Die Fronen, Steuern und der Kampf um die Wälder blieben bis zu den Petitionsbewegungen des Vor­ märz Konfliktgegenstände zwischen Gemeinde und Landesherrschaft.69 Die Auseinandersetzung um diese alten und neuen Lasten entzündete sich zunächst innerhalb der Gemeinde an den Gemeindemitgliedern, die als herrschaftliche oder landesherrliche Schultheiße oder Greben - die Namen variierten - für die Durchführung obrigkeitlicher Anordnungen verantwortlich waren, und denen in Eingaben an die Landesherrschaft die eigennützige Beanspruchung der Dienste ständig vorgeworfen wurde.70 Weil die dörflichen Amtsträger erstens zugleich Nachbarn, reiche Bauern und Repräsentanten der Landesherrschaft waren, deren Gerichte zweitens die einzige Appellationsinstanz boten, wandten sich strukturell gegen die staatlichen Belastungen gerichtete Klagen schon aus taktischen Gründen gegen den einzelnen, angeblich oder tatsächlich seine Rechte mißbrau­ chenden Beamten vor Ort. Die verfassungsrechtliche Situation und die soziale Differenzierung der Gemeinden waren daher ineinander verschlun­ gen. Der von der Landesherrschaft mit besonderen Privilegien wie der Dienstfreiheit versehene herrschaftliche Vertreter wurde für die Gemeinde das trojanische Pferd der Obrigkeit im Ort und blieb rur die ärmeren Parzellenbesitzer gleichzeitig der feindliche, die Allmenden überweidende Bauer. Er federte vor Ort den kollektiven Konflikt mit der Landesherrschaft ab, verband ihn jedoch zugleich mit sozialen Konflikten im Ort. Zwischen Gemeinde und Landesherrschaft lavierend, mußte er sich nur, wenn die Macht des Landesherren gänzlich erschüttert schien, gegen den Staat und auf die Seite der dann offen aufbegehrenden Gemeinde stellen. Da offene Rebellionen oder der Gang zum Reichsgericht wegen der militärischen Stärke der Landgrafschaft und des erweiterten Privilegium de non appellan­ do (1650) reichsrechtlich nicht möglich und taktisch unklug blieben,71 verlagerte sich der Konflikt um Wald, Fronen und Steuern von kollektiven 133 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Klagen und Aufständen auf personalisierte Fehden auf Ortsebene. Kam es dort zu keiner Lösung, folgten Beschwerden gegen die Amtsträger vor der Appellationsgerichtsbarkeit des Territoriums in Kassel.72 In dieser Konstellation wurde nach dem Ende des Dreißigjährigen Krie­ ges zuerst die Auseinandersetzung um neue Fronen und die Kontribution ausgetragen. Unmittelbar nach dem Krieg kam es noch zu zahlreichen kollektiven Beschwerden ganzer Ämter. »Sämptliche Untertanen des Ge­ richts Oberaula, so wider Herkommen von den Beambten mit Fahrdien­ sten beschwert«, klagten 1652 gegen den Obristen in Ziegenhain und den landesherrlichen Schultheißen in Schwarzenborn, die zur Ableistung dieser Dienste aufgefordert hatten. Zwischen 1651 und 1668 bemühte sich die Gemeinde Oberaula zugleich um die Sicherung von gemeindlichem Grundbesitz gegenüber Ansprüchen von seiten der Erben des Schwarzenborner Schultheißen. 73 Im Amt Wetter klagten die Gemeinden »wegen ungebührlicher Schädigung der Unterthanen mit Bussen und Eigennut­ zes« und daß »die Unterthanen bey denen Rügen für jeden geringen frevel Strafe zahlen müssen«.74 1674 beschwerten sich im Amt Borken »sämptli­ che Ackerleute wegen des Contributionssatzes«. Dort fühlten sich die Landbewohner im Vergleich mit den Gewerbetreibenden ungerecht be­ handelt, der Konflikt brach jedoch nicht direkt zwischen der Stadt Borken samt ihrer Handwerker und den umliegenden Dörfern aus, sondern verlief auf dem Umweg der Beschwerde gegen bestimmte landesherrliche Beam­ te, deren ›Eigennutz‹ und die ungereche Verteilung der Kontribution. Die Beschwerde »der Greben, Vorsteher, und sämptlichen Einwohner des Amts über die Rentmeister zu Borken wegen Aufbürdung von allerley Diensten und Beschwerungen (und) daß wir armen Unterthanen wider das alte Herkommen mit neuen Diensten und Lasten belegt« werden, führte erneut alle Teile der ländlichen Gesellschaft zusammen.75 In der Schwalm wehrte sich die Gemeinde Zella 1690 gegen die Wiedereinführung des Hauptfalles. In Holzburg schlugen sich 1695 Holzburger mit Bediensteten der von Weitershausen im Rahmen des Streits zwischen Gemeinde und adliger Herrschaft um die Nutzung des Pfarrwaldes.76 Seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts konzentrierten sich die Klagen auch auf die als ungerecht deklarierten Einnahmen und Sportein der Amtleute und Rentmeister und auf den Kleinkrieg um die Wälder. Dem Drosten und Oberforstmeister von Münchhausen und dem Trendelburger Amtmann wurde zwischen 1727 und 1731 bzw. 1744 bis 1746 von den Amtsuntertanen ungebührliches Sportulieren vorgeworfen.77 Die Gemein­ de Vacha im Amt Sachsenhagen führte 1750 gegen den dortigen Vogt Beschwerde, weil er angeblich in unzulässiger Weise Visitationsgelder erho­ ben hatte.78 Während der Visitation von Frankenberg in Oberhessen im Jahre 1760 beschwerten sich Einwohner, die »Fruchtmesser wollten die 134

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Beamten mit Gewalt reich machen«, indem sie mit falschem Maß die naturalen Abgaben erhöben.79 1774 wurde dem Amtmann von Vacha der unberechtigte Einzug von Gebühren vorgeworfen,80 und 1754 gerieten die Beamten in Spangenberg ins Kreuzfeuer der lokalen Kritik. Dort zogen sich die Klagen seit 1730 über das gesamte 18. Jahrhundert hin, zuerst gegen den Schultheißen Kerstin, anschließend gegen das Sportulieren des Amt­ mannes Pfeffer, zuletzt gegen den Amtmann Huhn.81 1796 beschwerten sich die Gemeinden Wiera, Wasenberg und Mengsberg in der Schwalm über die vom Rentmeister geforderten Pflanzgelder für öffentliche Arbei­ ten in den Gemeindewäldern. Sie wollten »ihrem eigenen Erbieten nach die zum Pflanzen nötigen Tagelöhner auf Verlangen des Vorstandes jeder­ zeit stellen«,82 die nötigen Arbeiten in ihren Wäldern aber selbst verrichten und keine Intervention der landesherrlichen Renterei hinnehmen. Die Waldbußregister der Gemeinden Wiera und Wasenberg oder die Protokolle des Patrimonialgerichts der von Lüder zu Loshausen geben Auskunft darüber, daß Übertritte gegen die herrschaftlichen Hudevor­ schriften und deren Bestrafung durch Abpfändung des geweideten Viehs oder Strafgelder zum Alltag des Konflikts zwischen Landgemeinde und Herrschaft zählten. 83 In Loshausen, durch seine Kontribution an die fran­ zösischen Besatzer während des Siebenjährigen Krieges ohnehin finanziell belastet, meinten die Gemeindemitglieder schon 1761, »sie hätten Verdruß genug und könnte keine Ziege von ihnen gefordert werden«. Die Gemein­ de prozessierte zwischen 1783 und 1793 gegen die adlige Herrschaft, die Schenk zu Schweinsberg, um die Nutzung des Gemeindelandes und stellte sich auf den Standpunkt, daß die mit dem Gemeindeland verbundenen Lasten von den Schweinsberg ganz oder zum Teil getragen werden müß­ ten, wenn diese Ansprüche auf das Land geltend machten, nicht aber den Nutzen aus dem Land ziehen könnten, ohne auch den Schaden zu haben: »Natürliche Billigkeit und Recht streitet dageggen ... Wer den Nutzen hat, muß auch den Schaden tragen, und da unsere Gemeindsnutzungen mit real abgaben und personal Beschwerden verknüpft sind so würde es ja das größte Unrecht von der Welt seyn, wenn wir die Beschwerden für die Imploranten (die Schenk zu Schweinsberg, R. v. F.) tragen und sie den Nutzen zu unserem Schaden tragen sollten«. Die Renitenz gegen die Dienste, sei es für den Niederadel oder den Landesherren, schlug sich schließlich sogar in lokalen Bräuchen nieder. In Willingshausen in der Schwalm stellte der Landrat im Revolutionsjahr 1789 fest, daß sich dienst­ freie Tage in der Gemeinde als Brauch eingebürgert hätten. Wer in der Gemeinde an diesen Tagen der Herrschaft Dienste leiste, müsse die Ge­ meinde in der örtlichen Schenke freihalten - ein Brauch, den der Landrat sofort abzustellen gedachte.84 Die Landbereuter und Landknechte, die Polizeikräfte der Amtleute, mußten solche Konflikte im gesamten Zeit© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

135

räum auch handgreiflich austragen. Sie waren damit beauftragt, Dienste und Abgaben einzutreiben, wenn nötig mit Gewalt. Beschwerden gegen Mißhandlungen von ihrer Seite waren daher unvermeidlich. Die Spangen­ berger Bauern beschwerten sich beispielsweise 1702, die Friedewalder 1717 über ihren Landbereuter.85 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts gerieten schließlich auch die dörflichen Greben zunehmend auf die Anklagebank. Die Gemeinde Altenritte führte 1738 einen langandauernden Prozeß mit ihrem Greben um dessen Ein­ künfte; Heimarshausen klagte 1745-48 gegen den dortigen Schultheiß, der sich an Naturalabgaben bereichert habe; Wahlshausen klagte 1795 über die angeblich angemaßte Strafgewalt des Greben. Die Befragung der Ge­ meindeältesten ergab hier wie in anderen Fällen, daß die betreffenden Strafen tatsächlich angebracht waren. Aber im Konflikt mit dem örtlichen Repräsentanten der Landesherrschaft, der obendrein dem eigenen Ge­ sichtskreis entstammte und außer seiner wirtschaftlichen Machtposition als reicher Bauer a priori keine Legitimität in die Waagschale werfen konnte, wurde die Grenze zwischen legalen und illegalen Handlungen leicht ver­ wischt. Noch 1805 klagte Heinrich Bilstein aus Weidenbach gegen eine angeblich ungerechterweise erhobene Geldstrafe, tatsächlich handelte es sich um eine legale Gebühr. Die Beschwerde gegen den Greben von Friedewald von 1814 bietet ein weiteres Beispiel für diesen Aspekt sozialen Konflikts in Beschwerden gegen Greben. Der Beschwerdeführer war in den napoleonischcn Kriegen Soldat gewesen, hatte sich eine Parzelle gekauft und sah seine ohnehin prekäre wirtschaftliche Lage durch die Einquartie­ rung und Fuhren, die ihm vom Greben auferlegt wurden, gefährdet. Der Grebe sei ein »wohlhabender Mann«, der »dreymal so viele Güter hat als ich ... mehrere unbemittelte hiesige Einwohner« wünschten daher, daß die Einquartierungs- und Dienstverteilungspraxis des Greben überprüft werde. Der Protest gegen Einquartierungen, also gegen die Beanspruchung durch die Landesherrschaft, steht hier gleichwertig neben dem Ressentiment gegenüber dem wohlhabenden Mann - beides ist in der Beschwerde vereint und zugleich als personalisierter Angriff an die Person des Greben gebun­ den.86 Weniger die Form, aber die Stoßrichtung dieser Myriaden dörflicher Streitereien verlagerte sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Die noch unbekannte Zahl solcher alltäglichen Auseinandersetzungen zwischen Ge­ meinden, Amtleuten und Greben führte in wenigstens 77 Fällen dazu, daß sich der schwächere Teil um Hilfe an die Landesherrschaft wandte. Diese Fälle wurden dadurch zwischen 1648 und 1806 bzw. erneut 1814/15 bei den Räten in Kassel aktenkundig. Da eine Beschwerde bei der Landesherr­ schaft ein schwerwiegender Schritt war, nicht zuletzt weil die Beschwerde­ führer Repressalien des angeklagten Amtmannes oder Greben fürchten 136 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

mußten, kann man vermuten, daß diese Streitfälle zumindest einen Teil der tiefergreifenden Auseinandersetzungen dokumentieren.87 Grundsätzlich lassen sich Beschwerden wegen eines Amtsmißbrauchs oder einer Bedrük­ kung, wegen eines Unterschleifs und wegen der Kontribution und der Dienste unterscheiden. Diese Unterscheidung unterschlägt die vielen mög­ lichen Konfliktfelder zugunsten einer simplifizierenden Einteilung. Aber für unsere Zwecke reicht diese grobe Einteilung aus. Fast die Hälfte der Beschwerden (38 Fälle = 49,4%) stammte aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, lediglich 21 (27,3%) Anklagen wurden in den ersten drei Vierteln des 18. Jahrhunderts erhoben. Zwischen 1776 und 1806 schnellte die Zahl der Beschwerden abermals auf 18 Fälle (23,4%) in die Höhe. Bis zu diesem Zeitraum hatten sich der Gegenstand und die Angeklagten der Beschwerden jedoch gewandelt. Tabelle 22: Tatbestände in den Gravamina an den hessischen Geheimen Rat, 1648-1806/14/15 a) Angeklagte Zeitraum

Insges.

Greben

Amtleute Rentmeister

Beamte allg.

»Reiche«

22 16 8 9 4

5 5 3 3 -

10 6 4 5 2

7 5 1 2

1 -

18

10

4

1

3

Unter­ schleif

Verschiedenes

1648-1675 1676-1700 1701-1725 1726-1750 1751-1775 1776-1806/ 14/15

b) Beschwerdegründc Zeitraum Insges.

1648-1675 1676-1700 1701-1725 1726-1750 1751-1775 1776-1806/ 14/15

Bedrückung + Dienste + Amtsmiß­ Kontribution brauch

22 16 8 9 4

6 4 2 3 2

8 6 2 1

1 2 1 2 -

7 4 3 4 1

18

11

2

4

1

Quelle: s. Anm. 87

137 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Bis zur Jahrhundertwende waren fast die Hälfte der Angeklagten Amtleute oder Rentmeister. Oft richtete sich die Wut auch gegen die »Beambten« allgemein, womit aber in der Regel wiederum die landesherrlichen Herr­ schaftsträger auf Amtsebene gemeint waren. Die dörflichen Greben blieben eine Minderheit unter der Angeklagten. Der typische Protestfall fußte auf dem Widerstand gegen Dienste und besonders gegen die Steigerung der Kontribution, die durch den landesherrlichen Amtmann als Teil der neuen staatlichen Lasten gefordert wurden. Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts rückten dagegen die Greben in den Mittelpunkt der Kritik. Dabei ging es weniger direkt um die Dienste und Steuern, deren Existenz man im Rahmen der gegebenen Verhältnisse vermutlich zunächst als unabänderlich hingenommen hatte, sondern er­ stens indirekt um die Handhabung der Aufteilung dieser Verpflichtungen auf einzelne Gemeindeangehörige durch die Greben und zweitens um die Greben in ihrer Personalunion mit den reichen Bauern, aber in drei Fällen auch um reiche Bauern als Konkurrent der Kleinbauern um die Allmen­ den.88 Verließ der soziale Konflikt zwischen Bauern und Kleinbauern um die Allmenden die Schalen der Auseinandersetzung von Obrigkeit und Unter­ tan, von Gemeindeangehörigen und durch die Obrigkeit eingesetzten reichen Greben? Dieser Frage wird unten (2.4) genauer nachgegangen. Die Eingliederung der gerade zum Kurfürstentum erhobenen Landgrafschaft in das neugebildete Königreich Westfalen führte zunächst erneut zu einer besonders drastischen Erhöhung der staatlichen Lasten. Das Dekret vom Januar 1808 verkündete das Ende der Leibeigenschaft, schaffte die unge­ messenen Dienste ab und gestand den Bauern das volle Eigentumsrecht über ihr Land zu. Es erließ die Gewerbefreiheit und die Emanzipation der Juden.89 Weil das neugegründete Königreich sich jedoch der Unterstüt­ zung des Adels versichern und den Wert der Domänen erhalten wollte, kam es zu keiner konsequenten Ablösung der Fronen insgesamt. Artikel 9 des Januar-Dekrets beließ es daher beim Dominium Directum der Grundherren und allen daraus folgenden Diensten und Abgaben.90 Andererseits kamen durch das westfälische Experiment direkt und indi­ rekt erhebliche zusätzliche Belastungen auf die hessische Bevölkerung zu. Die Kontinentalsperre führte zum Zusammenbruch der Leinenexporte nach England und Nordamerika. In Spangenberg, einem der drei Kernäm­ ter des Leinengewerbes neben Eschwege und Rotenburg, kam es 1809 zu einer Hungersnot. Aufgrund der relativ schnellen Behebung dieser Export­ beschränkungen nach 1812 führten diese Krisen noch nicht zu der nachhal­ tigen Massenverarmung, die der endgültige Zusammenbruch der Leinen­ gewerbe seit den 1830er Jahren bewirkte. Aber der neue Staat schuf sich keine Freunde auf dem Lande.91 Geld und Soldaten ftir die Kriege Napole138 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

ons in Spanien und Rußland mußten durch Konskriptionen und zusätzliche Steuern aufgebracht werden, die weit über das hinausgingen, was die alte Landesherrschaft jemals gefordert hatte.92 Wie schwer, von dem Blutzoll der napoleonischen Kriege einmal abgesehen, die westfälische Herrschaft wog, ist aus den Vorstellungen der Ämter und Gemeinden von 1816 ersichtlich, in denen der zurückgekehrte Kurfust um Minderung der Abga­ benbelastung gebeten wird.93 Die Ämter Ziegenhain, Frankenberg, Esch­ wege und der Gerichtsstuhl Rengshausen, Amt Rotenburg, alle Teile des ehemaligen Werradepartements, listeten darin die Summe ihrer Abgaben 1806 - am Vorabend der westfälischen Zeit -, 1815 und die bis 1815 zur Deckung der Abgaben angehäuften Schulden Gemeinde für Gemeinde auf. Die Steigerung der Abgaben lag in Frankenberg und Ziegenhain bei 89% und 82%, in Eschwege und Rotenburg bei 59%. Die Verschuldungszahl für Rotenburg liegt ausgesprochen hoch. Möglicherweise übertrieben die Bau­ ern des Gerichtsstuhls ihre Belastung. Immerhin, die Gemeinde Merzhau­ sen war 1815 mit 1440 Reichstalern verschuldet, Willingshausen und Wasenberg sogar mit 4100 und 5400 Reichstalern. Während einerseits die staatlichen Belastungen stiegen, fehlten der westfälischen Regierung ande­ rerseits die eingeübten Transmissionsriemen zur ländlichen Bevölkerung und die traditionelle Legitimität der alten Landesherrschaft. Tabelle 23: Gesamtbetrag aller Steuern und Abgaben in den Ämtern Zie­ genhain, Frankenberg, Eschwege und dem Gerichtsstuhl Rengshausen, Rotenburg 1806 und 1815* Betrag aller Steuern 1806

Betrag aller Steuern 1815

Schulden (in Reichstalern) 1815

Ziegenhain Durchschnitt

9.303 404

16.582 732

39.129 1701

Frankenberg Durchschnitt

5.368 214

10.085 403

21.987 879

Eschwege Durchschnitt

3.890 353

6.628 566

6.856 623

Rengshausen Durchschnitt

1.105 184

1.798 299

68.500 11.416

*- Die Durchschnitte beziehen sich auf die durchschnittliche Belastung aller in der Petition angebenen Gemeinden, alle Beträge wurden gerundet. Quelle: s. Anm. 93 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

139

Der Widerstand gegen den neuen Staat machte sich bereits 1806 Luft, als nach der Auflösung des hessischen Heeres Konskriptionen für das neue westfälische Heer angeordnet wurden. Die Zentren der Dienstverweige­ rungen waren die Gegenden um Eschwege, Fritzlar, Marburg und Ziegen­ hain. Angriffe auf die Beamten, bis 1806 letztlich Ausnahmen, wurden endemisch. In der Folge kam es in ganz Nieder- und Oberhessen immer wieder zu Unruhen gegen Zwangskonskriptionen und zur Befreiung von dabei verhafteten Rekruten. Berichte aus dem Werra-Department sprechen im April 1809 sogar von »einer wahren Anarchie, die Verfügungen der obrigkeitlichen Behörden stehen formal auf dem Papier, niemand aber respectieret sie, niemand bezahlt ordentliche und außerordentliche Abga­ ben«. Unter der Führung eines Mitgliedes einer der bedeutendsten Famili­ en der althessischen Ritterschaft, eines Dörnberg, und dem Advokaten Martin kam es 1809 sogar zu dem Versuch, es den Aufständen in Tirol und dem Zuge Schills gleichzutun und mit bäuerlichen Aufständischen gegen Kassel zu ziehen. Die Schwälmer Gemeinden beteiligten sich an dem Aufstand, der aber schon im Ansatz gegenüber rechtzeitig informierten französischen Truppen zusammenbrach.94 Nachdem einzelne ehemalige Greben bereits um 1812 nur noch unter dem Druck »militärischer Expedi­ tionen« zur Kooperation mit den Behörden zu zwingen waren, führte Anfang 1813 die Nachricht vom Herannahen russischer Truppen zum Zusammenbruch des westfälischen Staates in Hessen. Bis zum Einzug der Allierten wurden Steuer- und Gemeindebeamte, die sich dem Regime noch nicht verweigert hatten, in Stadt und Amt angegriffen und eingeschüch­ tert.95 Nach der Rückkehr des Kurfürsten ersetzte zunächst der traditionelle Transmissionsriemen zwischen ländlicher Bevölkerung und Landesherr­ schaft, Petitionen und Gravamina, den Aufstand. Die bereits seit dem Fnde des 18. Jahrhunderts spürbaren besonderen innergemeindlichen Probleme aufgrund der wachsenden sozialen Differenzierung traten neben den stän­ digen Konflikten um Wald und Fronen nicht nur hervor, sondern wuchsen mit diesen althergebrachten Konflikten zusammen, weil die innere Diffe­ renzierung der Gemeinden den Druck auf die Wälder verstärkte und die Leistung der Fronen behinderte.96 Die Einführung zusätzlicher Gemeinde­ steuern 1817 und die Sportelerhöhungen für die Beamten von 1822-1825 waren Öl in das ohnehin glimmende Feuer des Konflikts zwischen Landes­ herrschaft und Gemeinden, die seit 1830 durch Dienstverweigerungen und Petitionen gegen die Stempeltaxe, die Landesschuldensteuer, die Kommu­ nallasten, den Zoll und die Akzise, die Wegebausteuer, die Hundesteuer, die Verbrauchs- und Grundsteuern und die eingeschränkte Waldnutzung zu Felde zogen. Die Ablösung der bodenrechtlichen Gefälle trat in der Auseinandersetzung wegen ihrer Schwere gegenüber den ständig erneuer140 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

ten staatlichen Steuern und Umlagen jedoch nicht zurück. Die Zeit vor 1806 erschien in Kurhessen ebenso wie in Franken zunehmend umsomehr als verlorene alte Freiheit,97 als die tatsächlich in Gang gebrachten Refor­ men die Bürden kaum erleichterten.98 Daher kam es 1848 unter dem Eindruck der Erschütterung des Staates trotz der eingespielten Beschwer­ deinstanzen auch unter der ländlichen Bevölkerung zu vereinzelten Unru­ hen. Die schleppenden Ablösungen und der Streit um die Waldrechte standen erneut im Mittelpunkt,99 in Ziegenhain kam es zu Forstunruhen100 und in der Gemeinde Nordeck wurde sogar das adlige Schloß gestürmt.101 Die preußischen Behörden erneuerten seit 1866 direkt durch die Steuer­ anhebung und die Neuverteilung der Gemeindeumlagen, die Intensivie­ rung und Rationalisierung der Forstverwaltung und indirekt durch die zunehmende Symbiose markanter Teile der Verwaltung, nämlich des Land­ ratscorps, mit dem einheimischen Adel und dessen Ablösungsstreitigkeiten die Opposition der Gemeinden zum Staat.102 Überall in Nord- und Oberhessen, von Rinteln bis Ziegenhain, hatte zwischen 1867 und 1876 erstens die Befreiung der Güter von den Ge­ meindeabgaben zu Spannungen geführt. Bei der Besoldung der Ortsvor­ stände, Feld- und Nachtwächter, der Hebammen, der Lehrer, bei den Aufwendungen für die Einquartierung von Militär, vor allem aber bei der Armenpflege gingen die Güter »wieder frei aus, während bei unterschiedli­ chen Anlässen sich die Gemeinden bemühten, die Güter mit heranzuzie­ hen«. Angesichts der prekären Einkommenslage der meisten ländlichen Haushaltsvorstände kam es bereits wegen kleiner Summen zum Streit. Die überwiegend von Tagelöhnern bewohnte Gemeinde Willingshausen for­ derte im August 1868, die Hundesteuer auch auf das örtliche Gut umzule­ gen und argumentierte nun mit den alten kurhessischen Regelungen.103 Umgekehrt wurden die Gemeinden aber mit der Instandhaltung von Wegen belastet, die zum Gutsgelände gehörten, Belastungen, die ange­ sichts der seit 1857 anhaltenden »Teuerung des Brotes« in vielen Kreisen gerade die Budgets tagelöhnernden Gemeindemitglieder trafen.104 Die Auseinandersetzungen um die Steuern, die Verwaltungskosten, die Privile­ gierung des Adels bei der Jagdfrage und der Umlegung der Kommunalab­ gaben auf Gemeinden und Rittergüter, die gemeindliche Forderung nach Authebung der Fideikommisse - damit Land für die Landarmut auf den Markt komme - und der Wunsch nach Aufteilung der Staatsdomänen105 waren Gegenstände, in denen sich Bauern und Tagelöhner gemeinsam durch den neuen Staat ebenso wie durch den alten bedrückt sahen. Rund zweihundert Jahre der Auseinandersetzung zwischen werdendem Staat und Gemeinden hatte die drückenden Steuern und die Forderung nach Aufteilung der Domänen zu Topoi werden lassen,106 die mit den Interessen der beiden sozialen Klassen in den Gemeinden jederzeit vereinbar schienen. 141 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

In den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen gerieten zweitens die Wälder. Den preußischen Behörden fielen als Erben der Landesherrschaft rund funfundfunzig Prozent der Wälder zu,107 in denen sie in ihrem Bemühen um die Rationalisierung der Forstverwaltung und die Ablösung der gemeindlichen Servituten, vor allem mit Bezug auf das Losholz, direkt auf die Gemeindeinteressen stießen. Beim Losholz handelte es sich um das Holz, zu dessen Sammeln und Gebrauch viele Gemeinden von alters her in den landesherrlichen Forsten berechtigt waren. Gerade in der Winterzeit stellte dieses Recht für die tagelöhnernden Haushaltsvorstände, deren saisonaler Beschäftigungs- und damit Einnahmeschwerpunkt im Sommer lag und die im Winter für Miete und Brennmaterial ohnehin auf im Sommer angelegte Reserven zurückgreifen mußten, eine existentielle Res­ source dar. Die preußische Forstverwaltung begann nun, den berechtigten Gemeinden bestimmte Kontingente auf neuen, schlechten oder abgelege­ nen Waldgebieten gegen Entgelt zu überlassen. Selbst wenn diese neuen Sammelplätze so weit entfernt lagen, daß die Gemeindemitglicder lieber auf ihr Recht verzichteten, stand ihnen nicht zu, die Annahme und damit die Zahlung des Pflichtentgeldes zu verweigern, wie in amtlichen Mittei­ lungen in den Kreiszeitungen vom Dezember 1879 eigens unterstrichen wurde.108 Als im Marburger Raum eine Gemeinde das Holz im zugewiese­ nen Areal verweigerte, erwies sich dessen Qualität überdies bei der darauf­ hin durch die Forstbehörden angeordneten Versteigerung als so schlecht, daß 143 Reichsmark weniger eingenommen werden konnten, als die ent­ sprechende Forsttaxe der Gemeinde betragen hätte - ein Minderbetrag, den die Behörden daraufhin von der Gemeinde eintreiben wollten. Dieser Vorfall machte wie ein Lauffeuer als bezeichnendes Beispiel sowohl für die Güte des Holzes als auch für die Politik der Forstverwaltung, die Berechti­ gungen der Gemeinden de facto in Zwangsabgaben für minderwertiges Holz umzuwandeln, die Runde.109 Bereits 1871 war es im Raum Marburg zu Beschwerden gegen die Förster gekommen, und seit 1880 machten sich Befürchtungen breit, ein neues Feld- und Forstpolizeigesetz werde das Betreten der Staatsforste zum Beerensammeln völlig verbieten. Solche Gerüchte schufen genügend Grund zur Unruhe unter der Bevölkerung, daß für den Landrat im Kreis Ziegenhain Anlaß bestand, öffentlich gegen diese Befürchtungen vorzugehen. Ein Blick in die Berichte der Landräte über Erfrierungstote und Bettelei im Winter erklärt die Empfindlichkeit gerade der Tagelöhner gegenüber Einschränkungen der Servituten in den Wäldern.110 Im Kampf um den Wald ging es auch um das Jagdrecht, ein Ausfluß der Konflikte um die Rechte der Gemeinden in den nun privatisierten Wäldern. Die Gewalttätigkeit dieses Konfliktes tobte sich im Revolutionsjahr zuletzt in größerem Maßstab aus. In Oberhessen wurden dörfliche Treibjagden in 142

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

den herrschaftlichen Wäldern veranstaltet, um die Wälder von soviel Rot­ wild oder Hasen zu leeren wie möglich oder auch einfach Bäume wahllos zu fällen. Der sich weit über jeden eigenen Bedarf austobenden Schieß- und Schlagwut fielen nicht nur Hoch- und Niederwild zum Opfer, sondern vereinzelt auch die landesherrlichen Förster, so daß, wenn überhaupt, Förster nur noch gemeinsam auf Patrouillie im Wald gingen. Noch 1849 wurden die Förster an das vorausgegangene Jahr erinnert: »48 müßten wir wider haben! Da habt ihr Förster Euch nicht mehr sehen lassen«. Im Forst der von Battenberg setzten die Gemeinden sogar einen Schieferstein mit Hirschgeweih und den Jahreszahlen 1848 und 1897, denn bis zu diesem Jahr wurde dort kein Hirsch nach den Jagden von 1848 wieder heimisch. Im April 1850 wurde ein Förster in der Nähe von Frankenberg im Wald ermordet, die Tat aber durch die Verwaltung als Unfall vertuscht, um sich nicht in den Zugzwang einer Untersuchung bringen zu lassen, die ange­ sichts des Zusammenhalts der Einwohner sowieso kaum eine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.111 In Schmalkalden erreichten die Konflikte um die Jagdgerechtigkeiten 1866 einen neuen Höhepunkt, weil die Herzöge von Sachsen Gotha in den Staatswaldungen private Rechte geltend machen wollten, welche die Jagdrechte der Gemeinden eingeschränkt hätten.112 Die vierteljährlichen Berichte der Landräte zeugen von der Bedeutung dieses Konflikts und der Hartnäckigkeit, mit der er bis zur Jahrhundert­ wende ausgetragen wurde. Auf der Seite der neuen, privatrechtlichen Waldbesitzer wurde 1875 der »Jagdschutzverein« durch von Krockow auf Loben in Schlesien gebildet, der eigens dafür bestimmt war, den Kauf oder Verkauf gewilderten Bestandes zur Anzeige zu bringen und zu diesem Zweck Fangprämien an die Forstbeamten auslobte, zwanzig bis fünfzig Reichsmark für jeden gestellten Wilddieb.113 Die Prämienzahlungen des »Jagdschutzvereins« griffen im Kreis Ziegenhain bereits seit 1875, als im August ein Förster aus Ottrau zwanzig Mark für die Ergreifung von Wilddieben erhielt. Der Verband organisierte sich 1888 eigens in einem Landesverband für die Provinz Hessen-Nassau, in dem im Bezirk Oberhes­ sen eine der ältesten hessischen Adelsfamilien, die Schenk von Schweins­ berg, Vorsitzende waren. Insgesamt faßten die landesherrlichen Förster allein im Kreis Ziegenhain zwischen 1888 und November 1913 in einund­ zwanzig Fällen mutmaßliche Täter, fast jedes Jahr kam es also zu durch­ schnittlich einer Anzeige. Der Schwerpunkt der Anzeigen und vermutlich auch der Delikte lag zwischen Spätherbst und Winter, wenn der wichtigste Erwerb der Wanderarbeiter, das Baugewerbe, stillstand und auch keine Erntearbeiten mehr zu verrichten waren. Bei zweiunddreißig der angeklag­ ten Wilddiebe ist der Beruf belegt. Es handelte sich um neun Handwerker - Maurer, Schmiede und Sattler - sechs Ackerleute, elf Knechte, einen Jagdpächter, einen Lokomotivführer und vier Arbeiter. Alle Gruppen der 143 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

ländlichen Gesellschaft waren gleichmäßig vertreten. Die Auseinanderset­ zung um die Jagd im Wald wurde durch die Moralisierung auf seiten des Jagdvereins noch verschärft, der sich die Ansichten von Tierschutzvereinen zu eigen machte und besonders das Fallenstellen als »jagdliche Tierquäle­ rei« anprangerte.114 Schon weil die Wilddiebe oft in Gruppen auftraten, schweißte der Konflikt weniger die Landgemeinden im engeren Sinne, wohl aber die gesamte ländliche Bevölkerung gegenüber den Behörden und ihren För­ stern zusammen. 1881 verschwand ein Förster bei Kirchhain, von dem 1884 nur noch die Kleidungsstücke in der Nähe von Neustadt im Kreis Ziegenhain gefunden wurden und der vermutlich, wie das Opfer im Jahre 1850, von Wilddieben ermordet worden war. Noch im Juni 1912, rund ein halbes Jahr, nachdem der hessische und der deutsche Bauernbund als neue agrarische Protestpartei den Wahlkreis mit ihrer Propaganda gegen die »Herren, die machen was sie wollen«, erobert hatte, erging eine Anzeige gegen einen Einwohner Berfas, der angeblich Drohbriefe gegen den Forst­ läufer verfaßt hatte.115 Beleidigungen und tätliche Angriffe gegenüber Gendarmen im Dienst durch zumeist unter Dreißigjährige waren allerdings typischer. Spätestens 1889/90 ging es dem Landrat in Kirchhain auf, daß der Haß auf die Juden, der sich schon 1848 ausgetobt hatte, jeder Zeit in »Haß auf die Beamten« umschlagen könne.116 Die Ablösungsstreitigkeiten mit dem ehemaligen landsässigen Adel war­ fen drittens auch auf den preußischen Staat, dessen Landratscorps zuneh­ mend von Adligen dominiert wurde, ein schlechtes Licht.117 Bei den Teilungsverhandlungen zur Nordecker Waldung war die preußische Ver­ waltung bereit, den Forst, von dem besonders die örtlichen parzellenbesit­ zenden Tagelöhner abhängig waren,118 vollständig an die Domänenwal­ dung der von Rau anzugliedern, die »ohne Zweifel besser im Stande seien, die ihnen zufallenden Waldstücke wirtschaftlich besser zu nutzen«, und die ehemaligen Berechtigungen der Tagelöhner und Handwerker der Gemein­ de abzufinden oder nicht anzuerkennen.119 Die Ablösungsgelder der Grundholden an die ehemaligen Grundherren führten ohnehin viele Parzellenbesitzer in die Verschuldung und schufen für die Ritter zusätzliches Kapital, so daß ein push-and-pull-effect entstand, durch den bäuerliches zu adligem Land wurde. Einige Familien der hessi­ schen Ritterschaft hatten bereits seit den 1830er Jahren mit den ihnen aus den Ablösungszahlungen zufließenden Mitteln bäuerliche Parzellen aufge­ kauft, so die von Baumbach bis in die 1850er Jahre für 23.000 Reichstaler und die von Buttlar-Elberfeld zwischen 1832 und 1872 für 40.000 Reichs­ taler. Nach einer Erhebung von 1863 waren die adligen Güter im Durch­ schnitt 280 ha groß, dem arithmetischen Mittel nach sogar 650 ha (den umfangreichen Waldbesitz inbegriffen). Das entsprach weitgehend den 144 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Größenverhältnissen preußischer Güter östlich der Elbe nach einer Erhe­ bung von 1837. Betrachtet man einmal nur das Acker- und Weideland, nahm die Besitzfläche adliger Güter im ehemaligen Kurhessen zwischen 1863 und 1895 bei fünfzehn untersuchten Gütern im Durchschnitt um 49% durch Ankauf bäuerlichen Landes zu. Nur zwei dieser Güter verloren 3% und 30% ihrer Ausgangsfläche, die führenden drei Güter legten um 105%, 116% und 182% zu. Auch ehemals verpachtetes Eigenland mit neu angekauften Parzellen wurde zu neuen Gutsbetrieben zusammenzufugt. Die Abzahlung der Ablösungen und die Arrondierung der alten, vom manchmal umfangreichen Waldbesitz abgesehen, häufig im Gemenge lie­ genden Parzellen des Adels zu geschlossenen Gutsflächen zog sich bis ins späte 19. Jahrhundert hin und war nicht auf das ehemals kurhessische Ober­ und Niederhessen beschränkt. Auch in Südhessen und im Werra- und Niddatal, den alten bäuerlichen Aufstandsgebieten, suchten die alten Her­ ren das in Pacht an zahllose kleine Pächter ausgetane Eigenland einzuzie­ hen. Die Freiherren Roeder von Diersburg erwarben beispielsweise noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur Ackerland, sondern auch Wohnhäuser in der Gemeinde Völkershausen im Werra-Tal. Über zwei Drittel der Einwohner waren landarme Maurer, Tagelöhner und Leinewe­ ber, deren Budgets die Abzahlung der umfangreichen Ablösungsgelder häufig nicht gestattete. Deren Häuser kauften die Roeder von Diersburg gegen Ende des 19. Jahrhunderts, nach bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg im Dorf kursierenden Gerüchten gegen wenige Flaschen Schnaps. Die sich innerhalb der dörflichen Öffentlichkeit bildenden Stereo­ type über den Betrug des Staates und seiner Repräsentanten am kleinen Mann gehörte zu dem Vermächtnis dieser Zeit an das Bewußtsein der Bevölkerung.120 In der Person des adligen Landrats verschmolzen schließlich die tatsäch­ lich längst im Staat aufgegangene adlige Herrschaft, die Nachwehen der Ablösungskonflikte und die neuen preußischen Behörden. Der Familien­ chef der Willingshäuser von Schwertzell repräsentierte im Kreis Ziegenhain beispielsweise bis 1919 als Landrat auch die preußische Krone. Die Intensi­ tät des Ressentiments gegen die adligen Vertreter der Obrigkeit dokumen­ tierte sich nicht nur in den bis über die Jahrhundertwende kolportierten Schauergeschichten über die Verhaltensweisen der Ritter.121 Diese Intensi­ tät zeigte sich auch im Verhalten der Tagelöhner gegenüber den Rittern und den Bauern ihrer eigenen Gemeinde, wie sich am Beispiel der Ablö­ sungskonflikte in Willingshausen verfolgen läßt. Schwertzells Vorgänger, Landrat Günther, ersetzte dort den Gemeindevorstand durch einen eige­ nen Beauftragten für die Verhandlungsfuhrung bei den Ablösungsverhand­ lungen mit der Familie von Schwertzeil mit der Begründung, die Interessen der politischen Gemeinde widersprächen den Interessen der betroffenen 145 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Nutzungsberechtigten, zu denen auch der Gemeindevorstand gehöre. Bei der Privatisierung der Gememdewaldungen und den um sie oben geschil­ derten innerdörflichen Konflikten war diese Sorge nur zu berechtigt.122 Das galt jedoch nicht für den Konflikt um die Ablösung der Gemeindeservitu­ ten an dem herrschaftlichen Wald der örtlichen ehemaligen Grundherren, in dem der preußische Landrat der Familie seines Nachfolgers durch diesen Schachzug einen gewichtigen Verhandlungsvorteil eingebracht hatte. So sah es jedenfalls die Gemeinde. Ihre Führung wehrte sich nachträglich zu einem Zeitpunkt gegen die Ergebnisse dieser Verhandlungen, als ihr Gegner bereits selbst Landrat geworden war. Unter Anfuhrung ihrer Bürgermeister und Gemeinderäte beschwerte sie sich123 gegen die Übertragung der Verhandlungsbefugnisse der politischen Gemeinde auf den landesherrlichen Kreissekretär. Sie mut­ maßten, daß die angebliche Fürsorge des Landrats für die politische Ge­ meinde nur ein Vorwand sei, um den von Schwertzeil Vorteile bei den Verhandlungen durch die Entmachtung der Gemeindeführung zu ver­ schaffen. Die Konsequenz der Verhandlungsführung des Kreissekretärs sei nämlich, daß die Gemeinde finanziell schwer geschädigt worden sei.124 Der soziale Rückhalt dieser Beschwerde lag keineswegs allein bei den großen Bauern, sondern auch und gerade bei den Landarmen, die auch zu den Nutzungsberechtigten zählten. Nur rund ein Drittel der örtlichen Viehbe­ sitzer bestand aus Bauern oder Kleinbauern, zwei Drittel waren Landarme und sogar Landlose, deren Viehhaltung ohne die Gemeinheiten zusam­ menbrechen mußte. Der Streit um die Zuchtbullen und die Frage der weiteren Nutzung der von Schwertzellschen Wiesen gingen alle im Dorf an.125 besprechend stellten die Gemeindevertreter, ihrerseits zwei Voll­ bauern und ein landarmer Schreiner,126 gegenüber dem Landrat fest, daß keine »Collision« zwischen den Interessen der Nutzungsberechtigten und der politischen Gemeinde vorliege, die parteiische Verhandlungsfuhrung des Kreissekretärs die Gemeinde aber »auf das Allerempfindlichste geschä­ digt« habe. Die Gemeinde dürfe nicht darunter leiden - und hinter der folgenden Formulierung steckten möglicherweise die Beschwerden betrof­ fener Tagelöhner bei den führenden Vollbauern, die ihrerseits um ihre Legitimität als Führungsriege fürchten mußten - daß »der Gemeindever­ tretung von vorneherein jede Gelegenheit und Veranlassung entzogen [worden sei,] die Interessen der politischen Gemeinde in dem Maße, wie es die Wichtigkeit der Angelegenheit erheischt, wahrzunehmen ... Die Ge­ meindevertretung ist jetzt in der üblen Lage, daß ihr jetzt von ihren Einwohnern der Vorwurf gemacht wird, daß sie den bisherigen für sie nachtheiligen Ausgang der Sache durch ihre mangelnde Energie verschul­ det habe«.127 Gerade die landarmen Unterschichten in der Gemeinde hatten die Bauern offenbar dazu aufgefordert, energisch die Belange der 146 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Gemeinde gegen die in Personalunion auftretende hessische Ritterschaft und die preußische Obrigkeit zu vertreten. Vier Zwischenergebnisse können formuliert werden. Das erste betrifft die Konflikttbrmigkeit des Verhältnisses von Landgemeinde und Landes­ herrschaft. Bereits im Jahre 1789 rief der Ziegenhainer Advokat Klincker­ fues die Bevölkerung zur Revolution auf. Die hessische Ritterschaft be­ fürchtete angesichts der vereinzelt 1789/90 tatsächlich beobachtbaren Widersetzlichkeiten in der ländlichen Bevölkerung Unruhen und sprach sich daher gegen ein Engagement Kurhessens im Koalitionskrieg gegen Frankreich aus, weil dies die Bevölkerung nur noch mehr reizen würden. Solche Befürchtungen werden aus der Vogelperspektive, aus der die Land­ grafschaft nicht nur im Ancien Regime, sondern auch in der Revolution von 1848/49 ein Territorium ohne Franken oder Baden vergleichbare agra­ rische Revolten128 blieb, nicht verständlich. Erst ein Blick auf die nicht reichs-, sondern territorialrechtlich, nicht als bäuerliche Erhebung ganzer Ämter, sondern als rechtförmige Beschwerde einzelner Gemeinden ausge­ tragenen Konflikte erklärt jedoch die Befürchtungen der Ritter. Denn auch in Hessen-Kassel blieben die Auseinandersetzungen um Steuern und Dien­ ste, Umlagen und die Wälder chronisch. Schon in jeder zweiten Schwälmer Samplegemeinde fanden allein im 18. Jahrhundert Konflikte um die Wäl­ der und die Fronen statt.129 Der Konfliktaustrag verweist jedoch zweitens auf die entscheidende Bedeutung der territorialen Struktur der betroffenen Landesherrschaft. Offener Aufruhr blieb wegen der militärischen Stärke des Landesherren einerseits wenig erfolgversprechend130 und brach andererseits ohnehin be­ reits in der Gemeinde an dem herrschaftlichen Vertreter vor Ort, dem Greben, in nachbarliche Fehden auseinander. Die Appellationsgerichtsbar­ keit in Kassel setzte schließlich auch gegen den Willen einzelner Amtsbe­ amter Greben, die in ihrer Gemeinde jeden Rückhalt verloren hatten, ab.131 Am Kumulationspunkt staatlicher Lasten nach einem Jahrhundert ihrer Steigerung, dem westfälische Experiment, und im Anschluß an die Erschüt­ terung der Landesherrschaft in den städtisch-ständischen Revolutionen von 1830 und 1848/49132 kam es schließlich sogar auf dem Gebiet Kurhes­ sens zu kollektiven Widersetzlichkeiten, die im Vergleich zu Franken und Baden jedoch immer noch vergleichsweise unbedeutend blieben. Das der Schwere der fränkischen und badischen Agrarbewegungen zugrundelie­ gende Problem war schließlich eine Hypothek des Ancien Régime, die mediatisierte Standesherrschaft, und betraf Kurhessen weniger als Bayern und Baden. Die im Ancien Régime eingeübten erfolgversprechendsten Maßnahmen der Gemeinden, Petitionen und Gravamina, griffen daher auch im Vormärz und der Revolution noch.133 Nicht zuletzt aufgrund der Bedeutung der traditionellen Landgemeinde © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

147

für die heimgewerblich agrarische Verflechtung schleppten sich die Ablö­ sung der Servituten, die Verkopplung der Parzellen und die Privatisierung der Gemeinheiten wie in Baden und Franken bis in das frühe 20. Jahrhun­ dert hin. Die deswegen mit jedem Modernisierungsversuch immer wieder aufflackernden Konflikte um die bodenrechtlichen Gefalle einerseits und die wachsende Steuerlast andererseits bestimmten jedoch drittens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts das materielle Gesicht des entstehenden Staates auf dem Lande. Die beiden sozialen Klassen der Dörfer, mal die boden­ oder armenrechtlich besonders belasteten Bauern, mal die steuerlich beson­ ders getroffenen Tagelöhner, mal beide als Interessenten an gemeindlichen Servituten, sahen sich gemeinsam dem Staat und seinen Repräsentanten als Gegnern in der Auseinandersetzung um den Wald, die Steuern und die Abgaben gegenüber. Diese je nach territorialer Struktur auch unterschiedlich ausgetragenen Konflikte zwischen Landgemeinde und Landesherrschaft waren aber vier­ tens keine Neuauflage der Bauernkriege. Seit der Mitte des 17. Jahrhun­ derts rückte der Staat als eigentlicher Gegner der Gemeinden erst beson­ ders durch seine Fronen und schließlich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts durch seinen Zugriff auf den Wald und seine Steuern in den Vordergrund. Innerhalb der Gemeinden traten aufgrund der wachsenden sozialen Diffe­ renzierung neue Motive der Auseinandersetzung mit dem Staat hinzu. Während die Lehnlandbauern an der Ablösung der grundherrlichen Gefalle selbst interessiert waren, brachten die tagelöhnernden Parzellenbesitzer mit ihrem Wunsch nach Waldnutzung, Steuer-, Sportel- und Zollentla­ stung Bedürfnisse und Wünsche an den Staat in den traditionellen Gemein­ deprotest ein, die durch die gewerblichen Krisen der Zeit zusätzlichen Schub erhielten, ohne mit der Ablösung der bodenrechtlichen Lasten zu verschwinden. Diese sich gegenseitig nicht ausschließenden, aber gleich­ wohl unterschiedlichen Wünsche der beiden dörflichen sozialen Klassen mußten innerhalb der Gemeinde aufeinander abgestimmt werden, wenn die Gemeinde als Ganze gegenüber der Obrigkeit handeln sollte. Dieser Prozeß konstituierte die dörfliche Politik. Wie gestaltete sich diese Abstimmung der beiden sozialen Klassen unter dem Druck der Obrigkeit in der Gemeinde? Welche Spielregeln und Bündnisse ergaben sich? Darf der Hinweis auf die Verlagerung der Konflik­ te zwischen Gemeinden und Beamten in die Gemeinden hinein und gegen die ›Reichen‹ im Ort als ein Hinweis auf die soziale Zersetzung des Gemeindeprotestes seit Ende des 18. Jahrhunderts, auf Kurhessens nord­ west- bzw. nordostdeutschen Weg verstanden werden? Oder arrangierten sich in den Gemeinden Bauern und Tagelöhner, fanden sie einen Interes­ senausgleich unter dem Druck der staatlichen Belastungen? Welchen Ein­ fluß besaß der Untergang der Kleinbauern auf diese Spielregeln der dörrli148 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

chen Politik? Diese Fragen lassen sich ebensowenig wie die nach der Auseinandersetzung mit den Staat nur mit Rückgriff auf den Vormärz beantworten, denn in den Gemeinden lebten bereits seit dem Dreißigjähri­ gen Krieg Bauern und Landarme nebeneinander. Um der dörflichen Politik nachzuspüren, werden die Petitionen und Gravamina im folgenden darauf­ hin befragt, welche Bündnisse innerhalb der Gemeinden und gegenüber der Landesherrschaft zustande kamen. Während im vorliegenden ersten Teil dieses Kapitels der Druck des werdenden Staates auf die Gemeinden im Mittelpunkt stand, werden nun die Entstehung und die Spielregeln dörfli­ cher Politik (2.4.) und im darauffolgenden dritten Teil deren Auswirkun­ gen auf das Verhältnis der dörflichen Bevölkerung zu ihren jüdischen Nachbarn (2.5.), zur Kirche (2.6.) und zu den Vereinen im späten 19. Jahrhundert (2.7.) untersucht.

2.4. Konflikt mit der Obrigkeit und Politik auf dem Dorf I: Bauern und Tagelöhner gegen Greben und Landesherrschaft:, ca. 1750 bis ca. 1850 Im Gegensatz zu dem Begriff der »Gemeinderevolte«, der in der For­ schung als Ausdruck bäuerlicher Interessenvertretung gegenüber der Herr­ schaft und bäuerlicher Durchsetzung gegenüber den Unterschichten134 formuliert wurde,135 bezieht sich der Begriff des traditionellen Gemeinde­ protestes auf das Ergebnis innergemeindlicher Willensbildung von Bauern und Tagelöhnern. Die Gemeinde konnte nur solche Belange nach außen vertreten, deren Problematik erstens den Beteiligten bewußt war136 und von denen die Betroffenen zweitens hoffen konnten, sie mit Erfolg und ohne Schaden für sich der öffentlichen dörflichen Meinungsbildung zuzu­ führen. Die Auseinandersetzung um die Dienste und Abgaben an die Landesherrschaft und um die Wälder wurde daher sowohl durch den Handlungsspiclraum geprägt, den die Landesherrschaft den Gemeinden ließ, und der sich aus ihrer reichsrechtlichen Stellung und ihrer Vertretung in der Gemeinde durch die Greben ergab, als auch durch den Spielraum, den Bauern und Tagelöhner innerhalb der Gemeinden gegeneinander zu besitzen glaubten. Selbst wo entgegengesetzte Interessen das Handeln von Bauern und Tagelöhnern motivierten, bestimmten sie es doch nur mittel­ bar, weil Rücksicht auf die mehr oder minder mächtigen Nachbarn genom­ men werden mußte - allerdings in je nach Gemeindetyp sehr unterschiedli­ chen Grenzen. Möglicherweise entwickelten sich in dem Maße, in dem sich seit dem Dreißigjährigen Krieg und besonders seit dem Ende des 18. 149 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Jahrhunderts Gemeindetypen unter den Dörfern herausbildeten, diesen Typen entsprechende Handlungsspiel räume, Konflikterfahrungen und Verhaltensweisen und damit Typen dörflicher Politik, durch die bestimmte Konflikte bewußt ausgeklammert, andere aber vor das Forum der dörfli­ chen Öffentlichkeit gebracht wurden. Welche Rolle spielten dabei Ver­ wandtschaft, die dörfliche Wahrnehmung von Arm und Reich, Amt und Einfluß? Insoweit die aus dem Zusammenhang von lokaler sozialer Diffe­ renzierung und herrschaftlichem Druck hervorgehenden Verhaltensweisen in den Gemeinden zwischen dem 18. Jahrhundert und dem vormärzlichen Pauperismus erprobt wurden, erlangten sie möglicherweise ein gewisses Eigengewicht als traditionelle Formen erfolgversprechenden örtlichen Bündnisverhaltens. Ihre Etablierung in den Gemeinden läßt sich daher vielleicht historisch-genetisch rekonstruieren, ohne daß sie für Bauern und Tagelöhner zu jedem Zeitpunkt funktional gewesen sein muß. Diesen Fragen nach dem Verlauf dörflicher Politik soll durch die prosopographi­ sche Rekonstruktion der Auseinandersetzungen von acht Gemeinden mit Amtsträgern zwischen der Mitte des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhun­ derts und die Auswertung von über achthundert Kleinkriminalitätsdelikten nachgegangen werden. Im ersten Schritt wird an Hand der genaueren Untersuchung der Streit­ fälle in acht Gemeinden danach gefragt, welche Bedeutung die soziale Differenzierung einer Gemeinde für die Bereitschaft von Bauern und Tagelöhnern besaß, zusammen gegenüber der Obrigkeit an einem Strang zu ziehen. Bereits die oberflächliche Untersuchung der 77 Konflikte zwischen Landgemeinden und Obrigkeit, die in der Landgrafschaft zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und dem Ende des Altren Reiches ihren Niederschlag in den Akten der Regierung Kassel fanden, und die wachsen­ de Bedeutung von innergemeindlicher Kritik an den reicheren Gemeinde­ bewohnern zeigte, daß die dörfliche Politik vermutlich nicht unveränderli­ chen Mustern folgte, sondern von der wachsenden sozialen Differenzie­ rung innerhalb der Gemeinden geprägt wurde. Bis zu der zweiten Welle sozialer Differenzierung im Gefolge des Bevölkerungswachstums gegen Ende des 18. Jahrhunderts blieben viele Gemeinden sozial so homogen, daß ihre Streitigkeiten sich ausschließlich aus der internen Verteilung der beträchtlichen herrschaftlichen Lasten ergaben. Die hieraus schöpfenden Proteste zerrieben sich in nachbarlichen Querelen, weil der herrschaftliche Grebe und Nachbar zum Brennpunkt dieser Konflikte wurde. Das war in so unterschiedlichen Gemeinden wie Hschhausen, Bellnhausen und Fürsten­ wald, den ersten drei Gemeinden, der Fall. Ilschhausen war ein bäuerlicher Weiler des Gerichts Ebsdorf. Bevölke­ rungszunahme und soziale Differenzierung im Ebsdorfer Grund betrafen 150 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

diesen kleinen Ort ebensowenig wie andere Weiler, weil für die Ansiedlung armer Neusiedler auf der begrenzten Zahl der Hofstätten kein Platz war.137 1778 beschwerten sich die bäuerlichen Nachbarn des örtlichen Greben, dessen Dienstbefreiung laste die landesherrlichen Fronen den verbliebenen fünf spannfähigen Bauern auf. Der Grebe verteidigte sich, »verschiedene unruhige Köpfe« im Weiler hätten aus »Wut« allerhand Unruhe angestiftet, und weigerte sich, auf seine Privilegien zu verzichten. Der Streit zog sich bis 1787 hin138 und wurde vom Sohn des alten Greben, der das Amt des Vaters übernahm, weitergeführt. Zwischen den bäuerlichen Nachbarn war es um die leidigen Dienste zu einer gereizten Auseinandersetzung gekom­ men, welche die Ablehnung der Fronen bei den Bauern reflektiert - sollte sich erst die Gelegenheit zu völligen Abschüttelung der Last ergeben, würden sie gemeinsam an einem Strang ziehen, ohne eigens einen Interes­ senausgleich herbeiführen zu müssen. In dem ›Arme Leute Dorf‹ Bellnhausen im Amt Lohra bei Marburg gab es demgegenüber keinen einzigen Vollbauern. Die Gemeinde setzte sich neben wenigen Kleinbauern vornehmlich aus Angehörigen der ländlichen Unterschichten zusammen.139 Die Beschwerde aus Bellnhausen von 1776 richtete sich ebenfalls gegen den vom Landrat eingesetzten Greben und dessen Privilegien. Bis zu seiner Einsetzung durch den Landrat hatte es wie in Hschhausen nur von der Gemeinde gewählte Vorsteher ohne die Privile­ gien der Grebenordnung gegeben. Der Eingriff des Landrates in diese innere Ordnung belastete nun die Nachbarn des neuen Greben mit dessen Verpflichtungen. Die Beschwerde wandte sich zwar auch gegen die Person des Greben - er besitze nicht die nötige Eignung für das Amt -, ging jedoch dann zum Kern des Konfliktes über. Zwar sei man bereit, dem Greben sein Extradeputat Holz und das jährlich fällige Extra-Mastschwein zuzugeste­ hen, nicht jedoch die neun Albus baren Geldes im Jahr. Ohnehin gebe es »weit fleißigere Gemeindsmitglieder«, die bereit seien, ohne Entgelt den Grebendienst zu tun. Die armen Leute von Bellnhausen waren zur natura­ len Entlohnung gerade noch bereit, aber neun Albus erschien ihnen zu viel für den ohnehin privilegierten herrschaftlichen Vertreter. Die Gemeinde wiederholte ihre Beschwerde 1777 und schlug vier andere Kandidaten für das Amt des Greben vor, zwei Kleinbauern und zwei Kandidaten, die nicht einmal Spannvieh, sondern nur Kühe besaßen. Die Gemeinde berichtete, der Grebe habe sich »willig zur Abrechung des Grebendienstes bezeigt, aus ursach, damit er gelegenheit haben konte, seinen erwachsenen Sohn vor dem Soldatenstand bey der Recroutierung zu schonen«.140 Dieser Versuch des Greben, sein Amt zu instrumentalisieren, traf zwar als solcher auf allgemeines Verständnis. Kritik fand jedoch die fortgesetzte Privilegierung des Vertreters der Landesherrschaft. Auch die Führungsrolle der Kleinbau­ ern blieb unumstritten. Die Gemeinde verwies eigens darauf, ihre Gegen151 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

kandidaten seien »über 30 Jahre alt, sind auch mit die begütertsten des Orths und gute Haushälter«. Auch im niederhessischen Fürstenwald im Amt Hofgeismar, kaum eine Stunde von der Residenz Kassel entfernt, spielten soziale Unterschiede im Konflikt zwischen der Gemeinde, dem neuen Greben und dem Land bereu­ ter kaum eine Rolle. Fürstenwald war eine bäuerliche Gemeinde ohne Landlose. Die dörflichen Unterschichten besaßen ausnahmslos zumindest eine kleine Parzelle.141 Der zuständige Landbereuter hatte Forst- und Hudevergehen im landesherrlichen Forst bewußt übersehen. Als Gegenlei­ stung mußten Gemeindemitglieder für ihn im Forst Bäume schlagen und die Stämme dahin schaffen, wo er sie auf eigene Rechnung verkaufen konnte. Die Gemeinde war auf das Stillehalten des Landbereuters bei Hudevergehen als Ganze angewiesen und der Grebe hatte es übernom­ men, gegen einen Reichstaler ›Freiwillige‹ aus der Gemeinde für die Holz­ arbeiten zu rekrutieren. Wer aber sollte die Zeche zahlen, die Bäume schlagen und die lästigen Fuhren übernehmen? Solche Querelen innerhalb der Gemeinde führten schließlich zur Beschwerde von 1794.142 Innerhalb dieser drei Gemeinden gab es keine Interessengruppen, deren Gegensätze untereinander zu Spannungen fuhren mußten. Die landesherr­ liche Verwaltung schuf vielmehr durch die Naturalversorgung der Amtsträ­ ger und die Privilegien für die herrschaftlichen Bediensteten143 gemeindein­ terne Rivalitäten und Streitigkeiten, in denen jeder Nachbar für sich darum bemüht war, den drückenden Lasten wenigstens ein Stück weit zu entge­ hen oder neue zu vermeiden, solange ihre völlige Abschaffung ohnehin außerhalb des Möglichen zu liegen schien. Die nachbarlichen Streitigkeiten waren eine Folge der obrigkeitlichen Lasten und Verbote, die dazu führten, daß innerhalb der Gemeinden Streit um die Verteilung der Lasten und um die beste Strategie zu deren Umgehung ausbrach. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts nahm die Erwerbsklasse der landarmen Erblandparzellenbesitzer und Nachsiedler und ihrer teilweise landlosen Nachkommen gegenüber der Besitzklasse der Lehnlandbauern in den meisten Gemeinden zu. Zwischen ihnen begannen die im ersten Kapitel geschilderten Auseinandersetzungen um die Allmenden und später um das Armenrecht. Die Konfliktgeschichten mit der Landesherrschaft zeigen jedoch, soviel sei vorweggenommen, daß selbst in sozial scharf differenzier­ ten Gemeinden trotz dieser wachsenden innerdörflichen Interessengegen­ sätze die Handlungsfähigkeit der Gemeinden gegenüber der Obrigkeit erhalten blieb. Weshalb? Dieser Tatbestand läßt sich nicht nur damit erklä­ ren, daß Bauern und Tagelöhner gemeinsam an der Verteidigung der lokalen Ressourcen und der Abwehr von Lasten interessiert blieben. Schließlich nahmen die Konflikte innerhalb der Gemeinde beispielsweise um die Allmende zu. Zur Erklärung dieses Tatbestandes läßt sich jedoch auf 152 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

den Verlauf der dörflichen Interessenbestimmung hinweisen. Es wird die These vertreten, daß die Wahrnehmung unterschiedlicher Interessen gleichzeitig mit der Wahrnehmung des eigenen Handlungsspielraums er­ folgte und deshalb zwar die Kleinbauern der Gemeinden, nicht aber die eigentlichen Unterschichten öffentlich Front gegen die Bauern machten. Die bewußte Lenkung der dörflichen Öffentlichkeit durch bäuerliche Greben spielte ebenfalls eine Rolle für diese Konstellation. Diese These soll durch die Untersuchung der folgenden Streitfälle in fünf weiteren Gemein­ den untermauert werden. In ihnen schälte sich im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowohl der öffentliche kleinbäuerliche Wider­ stand gegen die Bauern als auch die Kooperation von Bauern und Unter­ schichten gegen die Obrigkeit als typische Verlaufsformen dörflicher Bünd­ nisfindung heraus. Aus der bereits bis zur Mitte des Jahrhunderts in Lehnlandbauern und landlose Einlieger polarisierten Gemeinde Caldern bei Marburg144 geben die Berichte des Greben Backes zwischen 1775 und 1793,145 die dieser an seinen unmittelbaren Vorgesetzten, den zuständigen Landrat, richtete, über die Möglichkeit Auskunft, ein Auseinanderbrechen der Gemeinde in Bauern und Tagelöhner zu verhindern. Der Grebe war nicht nur die Vertrauensperson des Landrates, er dirigierte und organisierte auch die dörfliche Öffentlichkeit in den Angelegenheiten, in denen die Gemeinde durch den drohenden Zuzug Fremder, die herrschaftlichen Lasten und die Verschuldung betroffen war.146 Die Gemeinde hatte im Verlauf des Sieben­ jährigen Krieges vom dörflichen Schulmeister 301 Reichsthaler geborgt, um den französichen Besatzern die geforderte Kontribution zu zahlen. Nur drei Gemeindsmitglieder konnten ihren Anteil sofort in bar begleichen. Seit Kriegsende ging es darum, wie die Schuld zurückzuzahlen sei. Der Vorschlag, Gemeindeland zu verkaufen, traf auf den Widerstand der drei Gemeindsmitlieder, die ihren Anteil bereits beglichen hatten. Die durch den Greben auf mehreren Versammlungen schließlich erreichte einver­ nehmliche Lösung sah die Rückzahlung in drei Raten vor, an der sich 31 Gemeindsmitglieder, von denen 19 identifiziert werden konnten, beteilig­ ten. Im Vergleich zur Sozialstruktur des gesamten Ortes waren die Vollbau­ ern deutlich über-, die Unterschichten deutlich unterrepräsentiert.147 Listet man die Schuldner nach der Höhe des von ihnen beigesteuerten Betrages auf, so entspricht die Liste der Reihenfolge nach der Größe des Landbesit­ zes in den Katastern.148 Die Relation zwischen Landbesitz und Beitrag war jedoch nicht proportional. Reiche Bauern besaßen das fünfzig- bis hundert­ fache an Land im Vergleich zu den Unterschichten, zahlten aber nur das zwanzig bis dreißigfache, um die Schulden zu begleichen. Insofern war die Rückzahlung für die armen Gemeindemitglieder eine schwerere Last. Gleichwohl waren die armen Gemeindsmitglieder bereit, ihren Status als 153 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Mitverantwortliche in der Gemeinde unter Beweis zu stellen. Wir erinnern uns, daß in Bellnhausen bereits die von der gesamten Gemeinde an den Greben zu leistende Zahlung von neun Albus als unerträgliche Belastung ausgegeben wurde, entsprechend schwer müssen ein oder zwei Reichstha­ ler pro Kopf bei der Rückzahlung der Schulden gewogen haben. Umge­ kehrt waren die Bauern bereit, sich zwar nicht entsprechend ihrem Landbe­ sitz an der Rückzahlung zu beteiligen, aber doch einen wesentlich größeren Anteil als die Unterschichten zu übernehmen. Bauern und Tagelöhner einigten sich auf eine finanziell gestaffelte, formal aber auch die Armen beteiligende Finanzierung. Bauern und Tagelöhner zogen auch in den Konflikten der Gemeinde mit einigen dienstfreien Gemeindemitgliedern einerseits und Ansiedlungswilli­ gen von außerhalb andererseits an einem Strang. Die Dienstfreiheit von Amtsträgern war in den oben vorgestellten sozial homogenen Orten die bedeutendste Distinktion zwischen den Nachbarn. In Caldern beanspruch­ ten Müller, Schäfer, Briefträger, Kastenmeister und auch der Vater eines Soldaten Dienstfreiheit. Die Privilegierung des Greben blieb unangefoch­ ten, aber die Befreiung der unwichtigeren Amtsträger stieß auf die Kritik der Gemeinde. Die Amtsträger hatten von denjenigen Behörden ihre Dienstfreiheit erwirkt, von denen sie rekrutiert worden waren - der Kasten­ meister vom Konsistorium, die Schäfer und Müller von der Renterei. Dienstfreiheit war für diese Behörden ein wohlfeiles Rekrutierungsmittel, weil die Gemeinde ihre Dienste unvermindert leisten mußte, ohne auf die Dienstbefreiten bei der Umlage noch zurückgreifen zu können. Bei den sechs Befreiten handelte es sich um zwei Tagelöhner, zwei weitere Landar­ me, einen Kleinbauern und einen Vollbauern. Erneut konstituierte die herrschaftliche Belastung bzw. Privilegierung Fronten sozial heterogener Gemeindemitglieder innerhalb des Dorfes. Die Gemeinde reagierte mit einer Beschwerde bei der Kassler Regierung, um die fälligen Dienste wieder auf alle Gemeindemitglieder umlegen zu können. Der Grebe bat parallel den Landrat, sich für die Gemeinde einzusetzen.149 Vor allem in der Verteidigung ihrer Privilegien als Vollbürger zogen Bauern und Tagelöhner an einem Strang. 1780-81 und erneut 1782 erörterte die Gemeinde beispielsweise das Ansinnen von zwei Beisitzern, also Ortseinwohnern ohne vollständiges Gemeinderecht, auf dienstfreiem Land Häuser zu bauen. 1780/81 handelte es sich um Johannes Damm, einen Bauern mit 277 Acker und 1676 Reichsthaler steuerbarem Vermögen - rund doppelt so viel wie jeder andere Vollbauer. Damm war bereits die Aufnahme als Gemeindemitglied verwehrt worden, vermutlich, weil die anderen Vollbauern ebenso wie die ärmeren Gemeindebewohner ihn und sein Vieh von den Gemeindswiesen fernhalten wollten. Die Gemeinde wollte ihm nun nur den Bau gestatten, wenn er sich an den Dienstverpflich154 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

tungen der Gemeinde beteiligte. Das wollte er jedoch nur um den Preis der Aufnahme als Gemeindsmitglied und bestand ferner darauf, auf dem von ihm erworbenen Land nun auch bauen zu dürfen. Der Grebe berichtete dem Landrat, »hätte er im Herbst 1780 sein Hauß aufgeschlagen, so währe es gutt geweßen, damals wahr 10 bis 12 welche es nicht zufrieden, aber jetzt ist alles rebellisch bis auf vier man«.150 Bis auf diese vier Mann hatte sich die Stimmung am Ort bis zum Frühjahr 1782 gegen den reichen Außenseiter so aufgeheizt, daß es zur Sammlung von vierundzwanzig Unterschriften gegen ihn kam.151 So wie bei der Frage der Schuldentilgung fanden sich in der Ablehnung des reichen Außenseiters die dörflichen Lehnlandbauern und Landlose zusammen. Die Unterschichten mochten mit ihrer Sorge um die Beanspruchung der Gemeinderessourcen ein allge­ meines Ressentiment gegen den reichen Außenseiter verbinden. Die Bau­ ern fürchteten möglicherweise einen konkurrierenden Arbeitgeber. Sie waren unter den Petenten, gemessen an ihrem Anteil an der Gemeinde insgesamt, deutlich überrepräsentiert. Insgesamt zählten zu den Unter­ zeichnern aber Mitglieder aller dörflichen Gruppen. Gegen den reichen Außenseiter solidarisierte sich die Gemeinde und wurde über alle sozialen Unterschiede hinweg »rebellisch«.152 Auch wo sich kein Konsens herstellen ließ, wie bei dem Streit um die Aufnahme von Johannes Dammshauscr als Beisitzer im Jahr 1782, blieben die opponierenden Gruppen in der Ge­ meinde sozial heterogen. Der Grebe war eindeutig gegen die Zustimmung der Gemeinde und argumentierte gegenüber dem Landrat, »Caldern ist ohne sie bereits mit so viel Beysitzern übermehrt, die sich hauptsächlich von nichts anderes als von denen Feldern und Wiesen derer Begüterten nähren daß wohl mit gutem Grund die Gemeinde sich der Aufnahme neuer Beysitzer widerstehen kann«. Im Gegensatz zu dem Fall des reichen Außenseiters fand sich nun kein geschlossener Widerstand gegen die Auf­ nahme des Beisitzers. Auf der Gemeindeversammlung standen achtzehn Gegnern der Aufnahme dreizehn Befürworter gegenüber.153 Auf beiden Seiten standen jedoch Bauern und Tagelöhner. Das erklärt sich nicht nur aus der gemeinsamen Interessenlage von Bauern und Unterschichten als Vollbürger, sondern auch durch die Len­ kung der dörflichen Politik durch die Gemeindeführung. Die sozialen Konflikte unter den Gemeindemitgliedern, wie beispielsweise um die Frage der Vermietung von Wohnraum an Einlieger,154 wurden durch den Caldener Greben in einzelnen Gesprächen mit den betroffenen Vermietern geklärt. Daß der Grebe sich Rückendeckung beim Landrat holte, daß er den Vermietern der Einlieger möglicherweise mit dem Landrat drohte und die Anwendung weiteren Drucks in Aussicht stellte, ändert nichts daran, daß sich dieser Druck direkt gegen einzelne Personen wandte. Wo immer der Grebe die Gemeindeversammlung einschaltete und ihr ermöglichte, 155 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

durch Abstimmungen und Unterschriftenlisten zur Meinungsbildung bei­ zutragen, kam es zu keinen Konflikten zwischen Arm und Reich. Mögli­ cherweise brachte Grebe Backes bewußt nur solche Probleme auf die Gemeindeversammlung, bei denen er vermuten konnte, daß soziale Ge­ gensätze nicht zum Austrag kommen würden, möglicherweise blieb den tagelöhnernden Einliegern auch kein Handlungsspielraum, um, selbst wenn sie es gewollt hätten, gegen die Bauern vorzugehen. Die Gemeinde­ öffentlichkeit bot Bauern und Tagelöhnern in dem reichen Außenseiter umgekehrt einen akzeptablen Gegner. Solche Außenseiter waren der reiche Bauer ohne Ortsbürgerrecht oder der herrschaftliche Schutzjude, der vom Greben 1776 angeklagt wurde, mittellose Frauen aufzunehmen.155 Bauern und Tagelöhner verteidigten als Gemeindemitglieder in erster Linie gegen­ über den Außenseitern die Ressourcen ihrer Gemeinde. Es waren aber auch nicht die Tagelöhner, die zum Träger innerörtlichen Widerstandes gegen die Vormacht der Bauern wurden, sondern die Klein­ bauern. Wo sie, wie in vielen hessischen Gemeinden im 18. Jahrhundert, noch einen größeren Anteil der dörflichen Haushaltsvorstände stellten als in Caldern, schälten sie sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts als innerörtli­ che Opposition heraus. Das läßt sich an Heiligenrode, dem zweiten Ge­ meindebeispiel, verfolgen, das, ähnlich Fürstenwald, kaum eine Stunde von Kassel entfernt liegt.156 Nachdem der alte Grebe bereits wegen angeblicher Unterschlagung abgesetzt worden sei, hieß es in einer Beschwerde, regiere nun sein Neffe die Gemeinde. Er bevorzuge seinen Onkel, wo er nur könne, und sei selbst in dessen Amtszeit von diesem gerade bei der Umlegung von Diensten begünstigt worden, so »daß also wenn dieser Müller das Ambt eines Greben verwalten solte, alles nach des abgesetzten Greben manir exerciert werden dürfte, mithin würden wir von neuem gegen denselben wiederum schweren Proceß führen und viele unnöthig Kosten anwenden müssen«.157 Die Gemeinde bestand zu einem Fünftel aus Vollbauern, zur Hälfte aus Kleinbauern und Parzellenbesitzern und zu einem knappen Drittel aus Unterschichten. Kleinbauern bildeten, ganz im Gegensatz zu Caldern, die größte soziale Gruppe.158 Die Gemeinde wurde gleichwohl von der Familie Mergardt beherrscht. Acht der zweiundzwanzig Bauern mit über vierzig Acker Grundbesitz, also über ein Drittel der Vollbauern, zählten zu diesem Clan. Auch der neue und der alte Grebe gehörten zu dieser Familie. Ihre Mitglieder waren mit Abstand die reichsten Bauern im Ort, sie besaßen zusammen rund 552 Acker Land, 25,9% der gesamten Gemarkung. Johan­ nes Mergard, der ehemalige Grebe, war mit 106 Acker mit Abstand der reichste Bauer im Dorf. Der nächste Bauer in der Besitzhierarchie besaß nur 79 Acker - freilich auch ein Mergardt. Die Beschwerde gegen den neuen Greben zielte auf die Dominanz dieser Familie. Der Gegenkandidat der 156 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Beschwerdeführer besaß 32 Acker. In Bellnhausen wäre das ein großer Mann gewesen, im Vergleich zu den Mergardts war er jedoch nur ein Kleinbauer. Sieben Vertreter der Gemeinde unterzeichneten die Beschwer­ den gegen die Mergardts. Davon waren drei selbst Vollbauern, allerdings ausnahmslos mit weniger als 60 Acker Landbesitz, deutlich weniger als die führenden Mergardts ihr Eigen nannten. Die vier anderen waren kleinbäu­ erliche Handwerker, Schmiede, Schneider und Wagner.159 Nachdem der zuständige Amtmann den ersten Gegenvorschlag abge­ lehnt hatte - die Beschwerden sprechen von Machinationen der Mergardts im Dorf, die eine gefälschte Eingabe wider den Gegenkandidaten zu Wege gebracht hätten -, führten die Beschwerdeführer drei weitere Gegenkandi­ daten ins Feld, unter denen der Amtmann einen auswählen sollte. Es handelte sich diesmal um zwei Vollbauern mit 51 und 58 Acker und einen Schmied und Kleinbauern mit 20 Acker, also erneut selbständige Landbe­ sitzer, aber keine Großbauern wie die Mergardts. Am Ende der Auseinan­ dersetzung wurde schließlich der erste Vorschlag der Beschwerdeführer durch den Amtmann akzeptiert. Dieser Kandidat wurde von der Gemeinde mit dem Argument unterstützt, daß er »sonderheitlich sich zu keiner faction, deren es leyder in Heiligenrode gar öfters gebe, schlüge«. Mit »factionen« waren die beiden Familienverbände am Ort gemeint, die die Auseinandersetzung trugen. Das waren neben der Familie Mergardt die Familie Pfannkuchen. Zwei Familienmitglieder der Pfannkuchens, ein Schmied mit 37 Acker und ein Wagner mit 29 Acker, zählten zu den Beschwerdeführern.160 Obwohl die Beschwerde Konflikte zwischen Reich und Arm im Dorf nicht aufgriff, sondern sich gegen Verwandtschaftsver­ bindungen des neuen Greben mit dem alten wandte, entstammten beide Familien doch unterschiedlichen sozialen Lagern. Die Mergardts waren Bauern mit achtzig bis hundert Acker, die Pfannkuchens Kleinbauern und Handwerker mit weniger als der Hälfte Landes. Bei dem Konflikt in Heiligenrode überlagerten sich drei Schichten. Da war zunächst die Beschwerde gegen den einzelnen Amtsträger wie in den Myriaden anderer durch die Landesherrschaft, ihre Dienste und Ämter hervorgerufenen örtlichen Querelen zwischen mehr oder minder privile­ gierten Nachbarn. Da war zweitens die Fehde zwischen zwei Sippen im Dorf, aus denen sich Kläger und Beklagte rekrutierten. Diese Schicht wurde von den Dorfbewohnern und dem Amtmann als Konflikt zwischen »factionen« wahrgenommen. Auch in Bellnhausen gerieten die Liebesdien­ ste des Greben für seine engen Verwandten zum Gegenstand der innerört­ lichen veröffentlichten Kritik. Da war drittens die zwar vorhandene, aber in den Petitionen noch nicht offen aufgegriffene soziale Seite des Konflikts zwischen den Mitgliedern der beteiligten Familien, den Kleinbauern und den Vollbauern. 157 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Die Kleinbauern waren es auch, die in der Grafschaft Ziegenhein gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in der Gemeinde Wiera 1795, dem dritten Fall, im Amt Neukirchen in der Grafschaft Ziegenhein 1804/5 und in der gesamten Grafschaft erneut 1818/20 den Protest gegen die Bauern um »der geringen Leute Behütung« trugen, den »Wu­ cher aus Habsucht der Reichen«161 anprangerten und dabei als der »ärmere Theil gegen die reicheren Gutsbesitzer« auftraten, der sich »die reicheren Mitglieder der Gemeinde zu Feinden«162 gemacht habe und als Vertretung der »geringen Einwohner« durch die »Greben und größeren Gutsbesitzer« an den Rand gedrängt werde.163 Die Kleinbauern trugen diesen Konflikt gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts explizit als eine soziale Auseinandersetzung der Armen gegen die Reichen aus, ihre Wil­ lensbildung schloß die großen Bauern aus und sprengte dadurch potentiell die Handlungsfähigkeit der Gemeinden. Weshalb bezeichneten sie sich als geringe Leute? Die aufgeklärte Öffentlichkeit der Residenzstadt Kassel befaßte sich seit der zweiten Jahrhunderthälfte mit dem Problem der Armut auf dem Lande. In einer Abhandlung für den Preis der Hochfurst­ lich Hessen-Casselischen Gesellschaft des Ackerbaus und der Künste vom März 1775 hieß es: »der geringe Brinksitzer, der selbst kein Land hat, und mit ihm jeder Tagelöhner, kann daher manches Jahr mit seiner Handarbeit kaum soviel verdienen, als zur Anschaffung des Brotkorns in seiner Haus­ haltung nötig ist ... Zur Handarbeit sind auch nach der Abschaffung der Frondienste nicht so viele Leute nötig, als vorher, und dergleichen Tage­ löhner sind im Hessischen in Menge zu erhalten«. Auf die Verflechtung ländlicher Proteste mit der aufgeklärten Publizistik ist jüngst hingewiesen worden. Die von der landgräflichen Führungsschicht tatsächlich beobach­ tete Zunahme der Landarmut164 fand Eingang in die Rhetorik der Konfron­ tation, ohne daß die Petenten selbst tatsächlich Mitglieder dieser Unter­ schicht gewesen wären.165 An welchem Strang zog aber die eigentliche Mehrheit der ländlichen Haushaltsvorstände, die eigentlichen landarmen und landlosen Parzellen­ besitzer, Handwerker und Einlieger, welche Rhetorik spiegelte ihre Inter­ essen, in welche gemeindliche Willensbildung wurden sie einbezogen? Die letzten beiden Fälle geben hierauf Auskunft. In der Gemeinde Moischeid waren Kleinbauern und Parzellenbesitzer, trotz seiner Mittelgebirgslage, schlechten Böden und ungünstiger Witterung, noch 1776 gegenüber Bauern und Unterschichten in der Minderheit. Die Kleinbauern und die Besitzer kleinerer Parzellen addierten zusammen gerade zu soviel Haushal­ ten wie Vollbauern und Unterschichten je alleine. Über 75% der Gemar­ kung gehörte den Vollbauern, weniger als 4% den Parzellisten und Unter­ schichten, daneben bestand die wichtigste Ressource für die Einwohner aus 1682 Acker Gemeindewald.166 In ihrer bei Ausbruch der Französischen 158 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Revolution erstmals eingereichten und über mehrere Jahre wiederholten Beschwerde bezeichneten sich die Petenten selbst als die armen Leute, die sich gegen den Eigennutz der Reichen wehren müßten. Folgt man diesen Selbstdarstellungen, emanzipierte sich die soziale Auseinandersetzung von Arm und Reich in diesem dörflichen Konflikt von der Fehde zwischen Nachbarn - wenn auch noch auf dem Umweg über den Greben. Da war von der »freundschaft« des Greben und der Vorsteher die Rede, die sich an dem Gemeindewald bereichere - ein aus der kleinbäuerlichen Kritik an den Vollbauern und den späteren Konflikten um die Privatisierung der Gemein­ dewaldungen schon bekannter Topos.167 Da war in einer zweiten Beschwer­ de von der »armen Gemeinde« die Rede, die »vor dem großen Betrüger (dem Greben, R.v.F) in lauter Furcht und Schrecken« lebe. l68 Davon ging auch der zuständige Amtmann von Schönstein aus, der im August 1789 über den Konflikt berichtete, »gleich angangs muß ich anführen, daß die Gemeinde Moischeid aus 41 Mann besteht, wovon 22, nämlich die am wenigsten Begüterten, an der Denunciation Anteil genommen haben«.169 Diese Beschwerden erreichten Kassel zwischen 1789 und 1793, ein Jahr vor der Beschwerde aus Fürstenwald. Ebenso wie dort ging es um Fragen der Waldnutzung. Ebenso wie dort gerieten die mit der Herrschaft kom­ promittierten Gemeindeangehörigen und die Amtsbeamten, dort Grebe und Landbereuter, hier Grebe, Vorsteher und der herrschaftliche Förster, in die Schußlinie der Kritik. Es handelte sich jedoch um eine sozialstrukturell andere Gemeinde mit einem anderen Handlungsspielraum für Bauern und Unterschichten, und das wirkte sich auch auf die dörfliche Willensbildung und die von ihr abhängige Bereitschaft aus, innergemeindliche Konflikte öffentlich auszutragen. Wohl blieb der Kern des Konfliktes, neben der angeblichen Veruntreuung von Gemeindeholz, ein sozialen Das der Ge­ meinde zustehende und pro Kopf zu verteilende Holzgeld aus den Einnah­ men der Gemeindewaldung sollte nach dem Willen der angeklagten Gre­ ben und Vorsteher nicht mehr wie bisher pro Gemeindemitglied verteilt, sondern für die Deckung von Gemeindeaufgaben verwendet werden, die traditionell nicht pro Kopf gleichmäßig erhoben, sondern nach dem Kon­ tributionsfuß, also dem Besitz der Gemeindemitglieder, umgelegt wurden. Ausgaben, die bisher anteilmäßig vor allem von den Wohlhabenderen im Dorf getragen wurden, sollten also durch Gelder gedeckt werden, die allen zu gleichen Teilen zustanden - im Effekt eine Umverteilung zuungunsten der Armen. Neben dieser zentralen Beschwerde ging es um unterschlagene Fuhrlöhne und um Holzgeschäfte und -gewinne aus der Gemeindewal­ dung, die der Grebe angeblich seinem in Marburg studierenden Sohn zuschob. Die Angeklagten waren wohl reiche Bauern. Der Grebe und sein mitangeklagter »Eidam« waren mit 93 und 82 Ackern sogar mit Abstand die reichsten Bauern, der Vorsteher mit 57 Ackern ebenfalls noch ein 159 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Vollbauer, zwei weitere durch sie angeblich Begünstigte, die freundschaft, ein Vollbauer mit 59 Acker und ein Kleinbauer mit 33 Acker. Die vier Beschwerdeführer organisierten nach mehreren Klageanläufen schließlich eine Liste mit vierundzwanzig Unterschriften, von denen sech­ zehn mit Personen in den Katastern verknüpft werden konnten. Dabei handelte es sich keineswegs, wie die Beschwerde suggerierte und der berichtende Amtmann auch glaubte, allein um die armen Einwohner des Ortes.170 Tatsächlich waren ein Drittel der Unterzeichner selbst Vollbauern, die anderen zwei Drittel landarme und landlose Parzellenbesitzer. Allein die Kleinbauern, immerhin ein Fünftel der Haushaltsvorstände des Ortes, fehlten ganz in der Beschwerdeliste. Bei den nicht Identifizierten dürfte es sich vermutlich ebenfalls um Mitglieder der Unterschicht handeln. Auch dann noch würden die sechs beteiligten Vollbauern ein Viertel der Petenten gestellt haben. Weder die soziale Polarisierung in Moischeid noch der eindeutig sozial konnotierte Konfliktgegenstand verhinderte, daß genau wie in Caldern Vollbauern und Unterschichten gemeinsam zu Felde zogen. Diese Struktur der gemeindlichen Willensbildung wird noch einmal beson­ ders an den vier Beschwerdeführern deutlich. Es handelte sich um zwei Vollbauern mit 44 und 48 Acker und zwei landarme Handwerker mit weniger als vier Ackern, einen Schreiner und einen Schneider.171 Die Rhetorik der armen Leute in der Beschwerde orientierte sich an der Perzeption der Beamten und den zeitgenössischen und möglicherweise als erfolgversprechend bewerteten Formeln in Petitionen an die Obrigkeit und unterschied sich in nichts von der kleinbäuerlichen Beschwerde aus Wiera. Gemeinsam war beiden Konflikten, daß sie sich in der Rhetorik der Betei­ ligten aus den Fesseln einer personalisierten Fehde weitgehend gelöst hatten und sich der gängigen Rhetorik bedienten, um die Legitimität ihrer Wünsche zu unterstreichen. Zwei Erklärungen bieten sich für die gemein­ deübergreifende Zusammensetzung der Beschwerdeführer in Moischeid an. Zum einen mögen die Vollbauern ebenso wie die Unterschichten ihre eigenen guten Gründe gehabt haben, gegen die reichsten Bauern am Ort zu opponieren. Vor allem aber boten die Angegriffenen als Vorsteher und Greben, also als Amtsträger, offenbar einen Gegner, gegen den die Ge­ meinde aus Vollbauern und Unterschichten kollektiv auftreten konnte und gegen den die Veröffentlichung innergemeindlicher Konflikte möglich und für alle erfolgversprechend war. Noch deutlicher als in Caldern zeigt sich dabei, daß die soziale Polarisierung einer Gemeinde nicht zur Sprengung ihres Zusammenhalts führen mußte, solange der Konfliktgegner der Ge­ meinde als Vertreter der Herrschaft und reicher Bauer nicht nur den anderen Bauern, sondern auch den Unterschichten der Gemeinde ein lohnendes Ziel bot. Diese Entwicklung bahnte sich in Caldern an, als Bauern und Unterschichten gemeinsam Front gegen Außenseiter machten. 160 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

In Moischeid bemächtigten sich Bauern und Unterschichten darüberhin­ aus einer Rhetorik, in der die Belange der Unterschichten berücksichtigt wurden. Am dem letzten der fünf Beispiele, an Oberaula, läßt sich verfolgen, daß der Druck der obrigkeitlichen Lasten diese Konstellation der dörflichen Politik förderte und damit dem Bündnis von Bauern und Tagelöhnern Vorschub leistete. Beide orientierten sich dann an den Privilegien ihrer Gemeinde, um sie gemeinsam gegen die Obrigkeit zu verteidigen und dadurch einer höheren Belastung zu entgehen. Mit 155 Haushalten gegen Ende des 18. Jahrhunderts war Oberaula ein Mittelding zwischen einem sehr großen Dorf- dreimal so groß wie die meisten anderen hier vorgestell­ ten Gemeinden - und einer sehr kleinen Stadt (Homberg/Efze besaß um die Jahrhundertmitte rund 500 Haushalte). Oberaula unterstand einer geteilten Administration, die Eingriffe einer der beiden berechtigten Seiten erschwerte und so indirekt die Gemeindeautonomie deckte - ein, wenn auch schwaches, Echo auf die fränkische Situation. Es gehörte zur Hälfte zum Dörnbergischen Gericht Oberaula, zur anderen Hälfte war es landes­ herrlich. Im Schatten der Doppelzuständigkeit des Dörnbergschen Schult­ heißen und des landesherrlichen Amtmannes war in Oberaula bis zum Jahre 1781 kein herrschaftlicher Grebe bestellt worden, sondern die Gemeinde wurde, ähnlich einer Stadt, von sechs Schöffen und einem Bürgermeister regiert, die von der Gemeinde gewählt wurden. Im Jahre 1781 hatte dieser Zustand ein Ende. Mit dem Argument, »in der Gemeinde Oberaula haben die Gemeindsglieder aus denen bestalten 6 Gerichtsschöffen einen solchen zum Bürgermeister erwählet, von welchen Sie sich am ehesten versichert gehalten, daß er ihnen bei jeder Gelegenheit durch die fmger sieht«, setzte der Landrat den gewählten Bürgermeister ab. Der Bürgermeister habe erstens die Zahlung der Kontribution verzögert und die Gemeinde da­ durch in Schulden gestürzt. Oberaula sei zweitens als Flecken ohnehin nicht berechtigt, seinen Ortsvorgesetzten selbst zu bestimmen, dies sei vielmehr das Recht des Landrates. Der Arm der Obrigkeit reichte mit dem neuen Bürgermeister, dem Akziseschreiber Ritter, nun unmittelbar in den Ort hinein. Einen passenderen Kandidaten hätte der Landrat, der den Akziseschreiber vermutlich aus dem alltäglichen Amtsgeschäft als zuverläs­ sigen Bedienten kannte, für die Eintreibung der Kontribution kaum wählen können.172 Dieser Zugriff der Landesherrschaft auf die verbliebenen Selbstverwal­ tungsspielräume der Gemeinde an dem empfindlichen Punkt der Kontribu­ tion traf auf entschiedenen Widerstand. Der Forderung nach Zahlung der Kontribution konnte die Gemeinde schlechterdings direkt nichts entge­ gensetzen. Aber gegen den neuen Bürgermeister, der für die Eintreibung der Kontribution zu sorgen hatte, ließ sich mit dem Argument opponieren, 161 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

der Landrat habe ihn nicht einsetzen dürfen. Die besonderen Rechte der Gemeinde wurden wie in Franken und Baden zu Barrieren gegen den Steuerdruck des Staates. Schließlich forderten fünrundvierzig Petenten, also rund ein Drittel der Haushaltsvorstände Oberaulas, in einer Beschwer­ de bei den Kasseler Räten die Absetzung des oktroyierten Bürgermeisters und die Wiederherstellung des Rechtes auf die Wahl eines eigenen Bürger­ meisters. Die Petenten warfen dem eingesetzten Bürgermeister zahllose kleine und große Vergehen vor, an der Spitze die Unterschlagung von Gemeindeeigentum. Durch die hinhaltende Taktik von Landrat und Amt­ mann zog sich der Streit von dem Zeitpunkt der ersten Beschwerde 1791 an bis zu der Jahrhundertwende hin. Dann aber mußten die Kassler Räte aufgrund der häufig erneuerten und detaillierten Beschwerden gegen den eingesetzten Bürgermeister und dessen Schöffen feststellen, es handele sich um »völlig treulose Ortsvorgesetzte«, und deren Absetzung anordnen, nicht ohne die eigenen Amtsbedienten für ihre Unterstützung der Ange­ klagten zu tadeln.173 Landrat und Amtmann hatten ›ihren‹ Kandidaten von Anfang an ge­ deckt und gegenüber den Räten behauptet, einige Unruhestifter hätten in Oberaula »gleichsam einen aufruhr veranlaßt«, angeführt durch die »ärg­ sten Säuffer und Räsonnierer«. Diese ihrerseits bezeichneten Ritter als den »Lieblingsbürgermeister« des Landrates. Von den einundsechzig Partei­ gängern der Auseinandersetzung, die sich durch ihre Beteiligung an Peti­ tionen und Gegenpetitionen ermitteln lassen, handelte es sich zugleich um zwei unterschiedliche factionen - um den Ausdruck aus dem Streit in Heiligenrode zu gebrauchen. Die von der Gemeinde schließlich wiederge­ wählten alten und neuen Bürgermeister waren fast ausnahmslos Vollbau­ ern, die im Ort nur eine kleine Minderheit bildeten.174 Die alten Bürger­ meister besaßen durchschnittlich 51.8 Acker und 408.1 Reichsthaler steuerbares Kapital. Der Landrat und sein Mann im Ort, der Akziseschrei­ ber, ersetzten sie durch eine kleinbäuerliche Schöffengruppe mit durch­ schnittlich nur 27.6 Acker und 229 Reichsthaler steuerbarem Kapital. Die angestammte und wiederhergestellte Führung Oberaulas lag dagegen bei Johann Jost Klagholz und Johann Klagholz, Bürgermeister bis 1762 und wieder seit 1795, die 46 bzw. 70 Acker und 404 bzw. 556 Reichsthaler steuerbares Kapital besaßen. Die Klagholzes stellten vor und nach dem Ende des Konfliktes die Bürgermeister in Oberaula und zählten zu den wenigen reichen Bauern.175 Im Effekt ersetzte der Landrat die vollbäuerli­ che Führungsriege durch eine kleinbäuerliche unter Führung eines landes­ herrlichen Bediensteten, möglicherweise, weil er sich auf diese mehr Ein­ fluß versprach als auf Vollbauern wie die Klagholzens. Die Klagholzes beteiligten sich selber nicht an der Unterschriftenaktion, die sie wieder ans Ruder der örtlichen Macht brachte. Die Unterschriftenliste, die sich gegen 162 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

den vom Landrat eingesetzten landesherrlichen Bediensteten und die Kleinbauern wandte, wurde von dem Tagelöhner Johann Jost Riebeling angeführt.176 An der Petition waren Bauern und Tagelöhner ungefähr proportional zu ihrem Anteil in der gesamten Gemeinde vertreten. Letzt­ lich verteidigte in dieser Auseinandersetzung die gesamte Gemeinde die traditionelle und selbstgewählte vollbäuerliche Vorherrschaft gegen den landesherrlichen Beamten. Bauern und Unterschichten zogen auch in Oberaula an einem Strang. Am Beispiel von Willingshausen ließ sich oben bereits verfolgen, daß die Unterschichten der Dörfer noch bis in die 1890er Jahre ihre bäuerlichen Gemeindeführungen geradezu dazu anstachelten, die Gemeindebelange offensiv gegenüber der Obrigkeit zu vertreten, und die Bauern um ihre Führungsrolle in der Gemeinde fürchten mußten, wenn sie das nicht taten.177 Wie aussagekräftig sind diese Mikrostudien der Konflikte in drei sozial homogenen und fünf sozial differenzierten Gemeinden? Für die prosopo­ graphische Untersuchung kamen unter der Unzahl dörflicher Fehden nur diejenigen gegenüber der Obrigkeit ruchbar gewordenen Konflikte in Betracht, die sich zeitlich mit sozialstatistisch auswertbaren Quellen wie den Katastern kreuzten. So bleibt es bei vergleichsweise wenigen Fällen, auf die sich zurückgreifen läßt. Der Verlauf der Ablösungs- und Teilungsver­ handlungen der Gemeindewälder, der im ersten Kapitel geschildert wurde, bestätigt ein Stück weit die hier gewonnenen Ergebnisse. Im dritten Kapitel wird darüberhinaus untersucht, ob die hier gewonnenen Ergebnisse über das Bündnis von Unterschichten und Bauern geeignet sind, auch das Verhalten der ländlichen Bevölkerung in den Agrarunruhen von 1830/ 1848 und in den Reichstagswahlen des Kaiserreiches zu erklären. Soweit diese Konfliktgeschichten zunächst einmal reichen, weisen sie auf die zwiespältige Bedeutung sozialer Differenzierung für den Handlungs­ spielraum von Bauern und Tagelöhnern in den Gemeinden, die davon abhängige dörfliche Willensbildung und damit das Verhalten der Gemein­ den gegenüber der Landesherrschaft hin. Bis zum Ende des 18. Jahrhun­ derts spiegelte sich die tatsächlich wachsende soziale Differenzierung in den Gemeinden in der Rhetorik von den geringen Leuten wider. Die arme Gemeinde und der Wucher der Reichen und ihrer freundschaft wurden Topoi für bäuerliche, kleinbäuerliche und Unterschichtpetenten gleicher­ maßen. Die Träger des innergemeindlichen Protests gegen die Bauern, der diesen Topoi entsprach, waren die Kleinbauern.178 Dort wo Mitglieder der Unter­ schicht als Petenten in Erscheinung traten, unterstützten sie die Verteidi­ gung gemeindlichen Handlungsspielraums gegen die Landesherrschaft, den einzelnen landesherrlichen Greben oder den reichen Außenseiter ge­ meinsam mit den anderen großen Bauern ihrer Gemeinde. Die Regeln der 163 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

dörflichen Politik erklären das ein Stück weit. Konflikte zwischen Mietern und Vermietern wurden vermutlich durch die bäuerlichen Greben, so wie in Caldern, aus der Gemeindeöffentlichkeit ausgeklammert. Es bedurfte des Einflusses in der Gemeinde, um anstehende Probleme überhaupt in der Gemeindeversammlung zu lancieren, zum Gegenstand der dörflichen Wil­ lensbildung und schließlich durch Abstimmung und Unterzeichung von Petitionen zum Willen der Gesamtgemeinde zu machen. Die Wierarer Kleinbauern zählten beispielsweise einen Vorsteher und den Sohn des Greben in ihren Reihen und besaßen daher gegen Ende des Jahrhunderts noch die Kraft, das zu tun. Ihre Auseinandersetzung mit den Bauern der eigenen Gemeinde um die Allmenden war gegen Ende des 18. Jahrhun­ derts möglicherweise ebenso eine zukunftsträchtige Entwicklungsmöglich­ keit wie der kollektive Gemeindeprotest der Bauern und der Tagelöhner gegen die Landesherrschaft oder den reichen Außenseiter. Bis zum Beginn des 19. Jahrhundert schien sich das Schwergewicht der dörflichen Konflikte sogar gegen die Bauern und die Reichen im Ort insgesamt zu wenden, wenn man die Zunahme innerdörflicher Konflikte mit den Greben so interpretieren darf. Die westfälische Zeit rückte jedoch nicht nur die Obrigkeit durch ihre unerhörte Lastensteigerung erneut ins Rampenlicht der Kritik, sie läutete auch einen sozialen Umschichtungsprozeß in den Gemeinden ein, der seit dem späten 18. Jahrhundert im Gang war und sich in den Katastern des Vormärz und den Ortsbeschreibungen der Jahrhundertmitte widerspiegel­ te - den absoluten Niedergang der Kleinbauern als Gruppe. Damit ging die einzige Gruppe unter, die den offenen innerdörflichen Konflikt mit den Bauern zu fuhren in der Lage war, während sich gleichzeitig die Bedeutung der obrigkeitlichen Lasten steigerte. In den Dörfern blieben, je nach Gemeindetyp, vor allem Bauern und Tagelöhner zurück. Der Ausgleich zwischen den gemeinsamen Zielen, beispielsweise gegenüber der Landes­ herrschaft, und den divergierenden Zielen, wie beim Streit um die Armen­ hilfe, verlief jedoch nach wie vor durch Meinungsbildungsprozesse in den Gemeinden, die ihrerseits durch die Erfahrungen der Beteiligten mit deren Ergebnis immer wieder geprägt wurden. Manch einer der Wieraer Bittstel­ ler um freies Holz und Mietminderung mag sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts gefragt haben, ob der offene Aufruhr der Wieraer Kleinbau­ ern gegen die großen Bauern der eigenen Gemeinde von 1795 um die Allmende weise gehandelt war und angesichts der Abhängigkeit von der bäuerlichen Armenhilfe stilles Schweigen nicht die klügere Verhaltensweise gewesen wäre.179 Der soziale Wandel engte den Handlungsspielraum der nichtbäuerlichen Gruppen in den Gemeinden im Vormärz ein. Welche Folgen besaß diese soziale Umschichtung für die dörfliche Politik? Auf welche Ziele konnten sich Bauern und Unterschichten noch verständigen? 164 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Wie wurden die Konflikte zwischen Bauern und Unterschichten, beispiels­ weise in der Frage der Armenversorgung, nun ausgetragen? Im Vorgriff auf die gleich zu schildernde Entwicklung läßt sich folgende Feststellung treffen. Die Verlagerung gemeindlicher Konflikte auf Ankla­ gen gegen Greben und die kollektive Beschwerde der Wieraer und Neu­ kirchner gegen die reichen Bauern gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts fand im Vormärz keine Fortsetzung in kollektiv und vor allem öffentlich von der Gemeinde getragenen Gravamina, sondern in der Vielzahl teils nächtlicher, teils anonymer Rügen, Angriffe und Diebstähle gegen die Forstläufer, die Bürgermeister, die Gendarmen oder die Schult­ heiße.180 Diese Bedeutung der sozialen Verfaßtheit der Gemeinden für das Maß an Öffentlichkeit, deren sich die innergemeindlichen bäuerlichen Gegner bemächtigen konnten, wird schlaglichthaft dann deutlich, wenn die Obrigkeit zwar auf anderem Wege von einer Tat erfuhr, die zuständigen Gemeindebeamten die Täter aber deckten und die Gemeineöffentlichkeit sich der Obrigkeit zum Trotz konstituierte. »So, um ein Beispiel anzufüh­ ren, war von dem Ortsvorstand in Rödenau angezeigt worden, daß dort (in der Neujahrsnacht 1832) die größte Ruhe und Ordnung geherrscht habe und nicht ein Schuß gefallen sey, während aus meiner Versehung der Gendamerie welche die nacht über anwesend war mehr wie Hundertmahl geschossen worden ist und daß namentlich einige Einwohner durch wieder­ holtes Schießen unter den Augen der Gendamerie sich ausgezeichnet haben«.181 Das Ausmaß solcher Konnivenz läßt sich weder detailliert nach­ weisen noch vergleichen, wohl aber die Häufigkeit der Schlägereien und Unruhen, die vermutlich vor allem dort stattfanden, wo die Handelnden ein gewisses Verständnis ihrer unmittelbaren Dorfobrigkeit erwarten konn­ ten, weil ihre »Excesse« offenbar keine Verstöße gegen herrschende Nor­ men in der Gemeinde darstellen. Wo das doch der Fall war und die Denunziation durch die Greben befürchtet werden mußte, wurden diese Greben einerseits zu Opfern einer dörflichen Öffentlichkeit, die anderer­ seits immer verschwiegener bleiben mußte. Das Maß an Öffentlichkeit oder Verschwiegenheit wurde von den Tätern je nach dem zu erwartenden Maß gemeindlicher Unterstützung unterschiedlich dosiert. Der anonyme Droh­ brief, nächtliche Fenstereinwürfe im Ort, das Fällen von Gemeindebäumen oder Bäumen des Bürgermeisters auf freiem Feld182 und der Angriff auf offener Straße183 stellten solche Dosierungen dar. Die vielfältigen Rüge­ bräuche, von den nächtlichen Überfällen auf und Schlägereien mit Forst­ läufern184 und Nachtwachen,185 den Fenstereinwürfen bei Schultheißen,186 Stadtratsmitgliedern,187 Bürgermeistern188 und Feldhütern,189 den Angrif­ fen auf Gendarmen auf offener Straße oder im Wirtshaus190 bis hin zu den anonymen Drohbriefen gegen Greben191 grenzten die risikolos herzustel­ lende Öffentlichkeit bis zur Verschwörung unter wenigen Eingeweihten 165 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

ein, auch wenn sie ihre Opfer noch an die ehemals bestimmten Zielen verpflichtete Gemeindeöffentlichkeit erinnerten.192 Sie konstituierten ge­ genüber der Obrigkeit jedoch keine artikulierte Gemeindeöffentlichkeit als Ansprechpartner mehr wie noch die Wieraer und Neukirchner Petenten gegen die Überweidung der Allmenden durch die Bauern. Das Motiv für solche Angriffe war in den Augen der Obrigkeit schlicht »Rache«.193 Die innerdörfliche Opposition gegen die Bauern hatte bereits in dieser Form an Artikulation und Handlungsspielraum verloren. Selbst Diebstähle waren nicht nur der private Versuch der Bereicherung an fremder Habe, sie konnten auch Konnotationen sozialen Konflikts tragen und ebenso wie Rügen durch Mitwisser, selbst durch den Greben gedeckt werden. Das war nicht nur so bei Feld- und Holzdiebstählen.194 Als in Wasenberg im November 1839 beim Bürgermeister Knoch durch einen Einwohner aus Wiera eingebrochen wurde, vermuteten Knoch und die Behörden, der Einbruch habe nur stattfinden können, weil der Dieb im Einverständnis mit Einwohnern von Wasenberg gewesen sei.195Diebstähle konnten also in Einzelfällen entweder gegen Personen gerichtet sein, die zwar unbeliebt waren - die Haltung der Wasenberger Tagelöhner gegen­ über Knoch angesichts seiner Haltung in Armenfragen duldet keinen Zweifel -, denen aber in weniger anonymer Form nicht beizukommen war, oder innerhalb der Gemeinde vertuscht werden. Selbst WO das so war, verzichteten die Täter in jedem Fall auf die wenigstens vermittelte Öffent­ lichkeit eines Rügebrauches. Diebstähle waren, von der Ausnahmeerschei­ nung von Diebesbanden einmal abgesehen,196 einzeln durchgeführte und heimliche Taten. Kamen sie ans Tageslicht, stigmatisierten sie überdies den Täter.197 In den Diebstahlsfällen, die sich in ihr soziales Umfeld in den Samplegemeinden einfügen lassen, waren mit einer einzigen Ausnahme immer Unterschichtsmitglieder die Täter.198 Bestohlen wurde jedoch reich und arm. Die Stigmatisierung des Täters wurde durch das Instrument der polizeilichen Aufsicht perpetuiert. Ehemalige Diebe oder Bettler konnten, solange sie ihr und damit dem Ortsgreben unterstanden, nicht umstandslos den Wohnort wechseln. Aus den Landstädten Ziegenhain und Treysa kamen acht bzw. sechs dieser Außenseiter, aber auch in den Schwälmer Gemeinden Merzhausen und Wiera lebten fünf und sechs Mitglieder dieser Gruppe,199 Die soziale Differenzierung zwischen Bauern und Tagelöhnern wurde durch die ehemaligen Straftäter unter den Unterschichten durch die Kluft der Ehrbarkeit erweitert. Die Artikulation sozialer Konflikte gegen­ über den Bauern verlor in jedem Falle an Stoßkraft. Zeitgenössische Beobachter in den gleich unten genauer untersuchten Kreisen Kirchhain und Frankenberg stellten den Zusammenhang zwischen »Mangel an Brotfrucht«, zunehmendem Bettelunwesen und Kleinkrimina­ lität fest und werden darin durch die saisonale Verteilung der Delikte 166 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

bestätigt.200 Dem moralisierenden Anteil dieser Feststellung und falschen Im-eins-Setzen von Armut und steigender Kriminalität muß man nicht folgen, wenn man dennoch untersucht, ob sich die sozialen Spannungen in Regionen unter dem dominierenden Einfluß von Großbauern oder Parzel­ le nbesitzern in unterschiedlichem Maße wenigstens noch der Gemeindeöf­ fentlichkeit bemächtigen konnten oder völlig individualisiert und anonym geworden waren. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lassen sich die Verteilung dieser unterschiedlichen Delikte in den drei Kreisen Ziegen­ hain, Frankenberg und Kirchhain vergleichen. In allen drei Kreisen lagen groß- und kleinbäuerliche Gemeinden, Weiler und ›Arme-Leute-Dörfern Der Grundsteuerreinertrag des Kreises Ziegenhain war aber mehr als doppelt so groß wie der des Kreises Frankenberg, weil der Anteil großbäu­ erlicher Gemeinden mit guten Böden größer war.201 Diebstähle umfaßten rund die Hälfte der berichteten Vorfälle. Die weit­ gehend administrativen Vorgänge der Rubrik »Sonstige« beliefen sich auf ein gutes Viertel. Der Rest verteilte sich in abnehmenden Anteilen auf Bettelei, Vagabundieren und Schlägereien mit und ohne Drohungen gegen Greben und Beamte. Allen drei Kreisen gemeinsam war die massive Zunah­ me der Vorfälle zwischen 1839 und 1842. In Ziegenhain und Kirchhain verdoppelte sich ihre Zahl, in Frankenberg verdreifachte sie sich sogar. Gemeinsam war den Kreisen auch die Häufigkeit der Vorfälle, bezieht man ihre absolute Zahl auf den Umfang der jeweiligen Kreisbevölkerung.202 FLine kleine Gemeinde von 400 Einwohnern - wie etwa Holzburg, Wiera oder Loshausen - erlebte jedes Jahr im Durchschnitt einen Diebstahl, eine Schlägerei oder eine nächtliche Rüge, im Vergleich zu Preußen blieb der innere Friede der Gemeinden also wesentlich ungestörter.203 Neben solchen Gemeinsamkeiten zwischen den Kreisen gab es aber auch Unterschiede. Die Zahl der Diebstähle pro Jahr nahm in Kirchhain von elf auf vierunddreißig und achtundvierzig zu, ihr Anteil an allen Vorfällen stieg von 25% auf über 57%. In Ziegenhain kletterte ihre Zahl sogar von achtunddreißig auf zweiundfunfzig lind 114, der Anteil der Diebstähle nahm von 51.4% auf 74% zu. Ziegenhain näherte sich damit im Unter­ schied zu Frankenberg preußischen Verhältnissen.204 In Frankenberg dage­ gen stieg in einer ersten Phase zunächst die Zahl der Festnahmen wegen Bettel und Vagabundierens massiv von einer einzigen (1839) auf vierzig bzw. funfundvierzig (1842/43) an.Die Zahl der Diebstähle nahm dagegen wesentlich langsamer zu. Auch bei den ›Drohungen‹, ›Schlägereien‹ und ›Exzessen‹ unterschieden sich das insgesamt arme Frankenberg und das reichere Ziegenhain. In Frankenberg machten öffentliche Schlägereien rund 10% aller Delikte aus, es waren nur 6% in Ziegenhain. Umgekehrt machten anonyme und nächtliche ›Drohungen‹ und ›Rügen‹ immerhin rund 6% bzw. 8% aller Vorfälle in Ziegenhain und Kirchhain aus, nur rund 167 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Tabelle 24: Kleinkriminalität in den Kreisen Ziegenhain, Frankenberg und Kirchhain, 1839, 1842 und 1843 Diebstahl und Überfall

Vagabun­ dieren/ Bettelei

Schlägerei/ › Exzesse«

Drohungen gegen Beamte*

Anti­ semit.

Sonst. **

Kirchhain 1839

%

11 25,0

3 6,8

7 15,9

6 13,6

1 2,3

16 36,4

44 100

34 50,0

8 11,7

6 5,8

20 29,4

68 100

3 3,6

_ -

31 36,9

84 100

%

48 57,1

-

%

93 47,4

3 1,5

17 8,7

15 7,6

1 0.5

67 34,2

196

26 50,0

1 1,9

2 3,8

2 3,8

_ -

21 40,4

52 100

1842

37 27,6

40 29,8

21 15,7

5 3,7

1 0.7

30 22,4

134 100

%

1843

50 31,8

45 28,7

10 6,4

3 1,9

-

49 31,2

157 100

113 32,9

86 25,1

33 9,6

10 2,9

1 0.3

100 29,2

343

%

1839

38 51,4

5 6,75

5 6,75

-

26 35,1

74 100

1842

52 57,8

-

5 5,6

7 7,8

3 3.4

23 25,6

90 100

1842

% 1843

2 2.4

Frankenberg 1839

% %

Ziegenhain

% % %

114 74%

2 1,3

8 5,2

6 3,9

-

24 15,6

154 100

%

204 64,2

2 0,6

18 5,7

18 5,7

3 0.9

73 22,9

318

410 47,8

91 10,6

68 7,9

43 5,0

5 0.6

240 28,0

857 100

1843

Gesamt

%

*= Darunter wurde auch das Fällen von Bäumen gezählt. **= Unglücksfälle, Seuchen, Fundsachen, Verschiedenes. Quelle: 24d 1839 Nr.80, 1842 Nr.43 und 1843 Nr.122.

168 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

3% in Frankenberg.205 Einer von rund zwanzig Vorfällen in diesen Jahren betraf im Kreis Ziegenhain heimliche Angriffe auf die dörfliche Führung, so wie das Abschneiden von Obstbäumen des Bürgermeisters von Berfa in einer Mainacht 1843. Dieser dörfliche Kleinkrieg im Dunklen aus einge­ worfenen Fensterscheiben gegen die Vertreter der Obrigkeit und der reichen Bauern, gegen Bürgermeister, Forstläufer oder Rentmeister, be­ stimmte den Kreis Ziegenhain, nicht den Kreis Frankenberg.206 Letztlich stichhaltig beweisen lassen sich Zusammenhänge zwischen der Häufigkeit menschlicher Verhaltensweisen und ihren sozialen Rahmenbe­ dingungen kaum, aber plausible Erklärungen können formuliert werden. Der Anstieg der Diebstahlsdelikte war angesichts der zeitgenössischen Krisenlage eine allgemeine Erscheinung,207 das unterschiedliche Gewicht dieses Deliktes in den Kreisen und die ihm korrespondierende Bedeutung öffentlicher Schlägereien und Exzesse läßt sich umsoweniger mit der vor­ märzlichen Krise allein erklären. Bedenkt man, daß Diebstähle und Einbrü­ che wie beim Wasenberger Bürgermeister Knoch im November 1839 oder beim Forstläufer im April 1843 in Ziegenhain zwar keinen Rügecharakter trugen, aber auch von den Ressentiments der dörflichen Bevölkerung getragen und gedeckt wurden, dann läßt sich auf einen innerdörflichen Kleinkrieg in den Gemeinden Ziegenhains schließen, in denen sich die sozialen Spannungen, beispielsweise aus dem Streit um das Armenrecht und die Gemeinheiten, zwischen Teilen der Gemeinde und den gemeindli­ chen Herrschaftsträgern, den Greben und Bürgermeistern, entluden. Im ärmeren Frankenberg spielte dieser Aspekt sozialer Konflikte offenbar eine geringere Rolle. Welches Resümee läßt sich bis jetzt über die dörfliche Politik zwischen Bauern, Tagelöhnern und Obrigkeit ziehen? Bis zu seiner Erschütterung in den Revolutionen von 1830 und 1848/49 hatte der Staat durch seine, wenn auch zögernden und immer wieder zurückgenommenen Reformen in Sachen Gemeinde und Armenrecht seine bäuerlichen Vertreter im Dorf zwar gegen sich aufgebracht, zur Opposition gegen die Verfassungsreform­ bewegung gezwungen und in das konservative Lage gedrängt.208 Aufgrund der Mechanismen und der Machtverhältnisse in der dörflichen Öffentlich­ keit und ihrer Willensbildung gewann er jedoch weder die Unterstützung der Dorfbewohner, wenn sie von seinen - halbherzigen - Reformen profi­ tierten, der Bauern durch die Ablösung, der Tagelöhner durch die Refor­ men des Armenrechts, noch spalteten die beträchtlichen sozialen Konflikte in der ländlichen Gesellschaft diese in einer Weise, wie das in Nordwest­ und Nordostdeutschland häufiger der Fall war. Die gemeindeinternen Konflikte gelangten, vor allem wegen des Niedergangs der Kleinbauern, im 19. Jahrhundert nicht mehr in das Forum der dörflichen Öffentlichkeit. Nur das Bündnis aus Bauern und Unterschichten gegen die Obrigkeit 169 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

setzte sich als die bestimmende Grundlage dörflicher Politik durch. Die verbleibende Ausdrucksform innergemeindlicher Konflikte, der nächtliche Angriff auf den Bürgermeister, richtete sich gegen dörfliche Honoratioren, die zugleich Vertreter des Staates im Dorf waren. Die Bedürfnisse der Un­ terschichten wurden von den anwesenden Bauern nur solange vertreten, wie dies angesichts des Gewichtes der Landarmut in einer Gemeinde un­ vermeidlich war und sie nicht die bäuerlichen Interessen konterkarierten. Der Gemeindeprotest unterschied sich hinsichtlich der Radikalität seiner Rhetorik vermutlich graduell danach, ob sich die Unterschichten eines Arme-Leute-Dorfes in ihrem sozialen Protest frei entfalten konnten, ob Kompromisse mit den örtlichen Bauern im Hinblick auf die Sicherung der bäuerlichen Besitzinteressen notwendig waren oder ob die örtlichen Bau­ ern eine völlige Unterdrückung der Interessen der Unterschichten zuwege brachten, ohne auf Kompromisse mit ihnen angewiesen zu sein. Dieser Vermutung wird bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen der ländlichen Bevölkerung und ihren jüdischen Nachbarn bzw. der vormärzli­ chen Verfassungsbewegung nachgegangen. Unabhängig von diesen graduellen Differenzen ergaben sich allerdings durch die wachsende Steuerlast des werdenden Staates, seine Einschrän­ kung der Wald- und Holznutzung und die Gewerbekrisen eine Fülle besonders die Unterschicht betreffender Probleme, die durch die Ablö­ sungsgesetzgebung nicht aus der Welt geschafft wurden und die auch die Bauern gegen die Obrigkeit vertreten konnten. Von Fall zu Fall konnten die bäuerlichen Greben Hessens, Frankens und Badens im Konflikt mit dem werdenden Staat auf diesem Feld die Ernte der Unterstützung durch die Unterschichten einfahren. Die dörfliche Öffentlichkeit wurde jedoch nicht nur von den Fähigkeiten ihrer sozialen Klassen zur Lancierung unterschiedlicher Probleme be­ stimmt. Bauern und Tagelöhner unterlagen während der Auseinanderset­ zung mit dem entstehenden Staat ständig dem Einfluß der weltlichen Obrigkeit und der Landeskirche. Diese Beeinflussung wird häufig unter dem Stichwort der »Sozialdisziplinierung« untersucht. In den folgenden Abschnitten des dritten und letzten Teiles dieses Kapitels steht demgegen­ über die selektive Rezeption dieser Angebote der weltlichen Obrigkeit, der Kirche und schließlich auch des Vereinswesens durch die Gemeinden im Mittelpunkt. Welche der Begriffe und Argumente der weltlichen Obrigkeit und der Kirche nutzten die Bauern und die Tagelöhner, um ihre Interessen - auch und gerade gegen diese Obrigkeit - zu formulieren? Welche dieser Argumente dienten dabei dem innergemeindlichen Interessenausgleich von Bauern und Tagelöhnern am meisten? Welche Topoi und Formulierun­ gen fanden deshalb Eingang in das Argumentationsrepertoire des traditio­ nellen Gemeindeprotestes. Diese Frage soll an Hand der Nachbarschaft 170 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

zwischen Christen und Juden in den Gemeinden, des Verhältnisses zu den Pfarrern und schließlich auch der Bedeutung des Vereinswesens im Kaiser­ reich untersucht werden.

2.5. Konflikt mit der Obrigkeit und Politik auf dem Dorf II: Bauern, Tagelöhner und Juden, ca. 1750 bis ca. 1900 Als 1659 in der Schwälmer Gemeinde Merzhausen der örtliche adlige Herr einen tagelöhnernden Störenfried mit bäuerlicher Hilfe aus dem Gewahr­ sam des Pfarrers befreite, arbeiteten nicht nur adlige Herrschaft und bäuer­ liche Honoratioren eng zusammen, die Schutzjuden des Ritters gehörten zur Gruppe derer, die mit dem Sturm auf die Pfarre die Ordnung wieder­ herstellten.209 Als sich zwischen den 1870er und 1880er Jahren in der Nachbargemeinde Willingshausen die Konflikte zwischen Bauern und Tagelöhnern einerseits und dem Landrat und Baron von Schwertzell ande­ rerseits um die Ablösung der Servituten zuspitzten, hatten sich die Koali­ tionen auf dem Lande geändert. Der Pfarrer artikulierte nun die Gemein­ debelange. Die örtlichen Juden versprachen sich Schutz allein von der Obrigkeit und hielten zur Familie Schwertzeil. 1887 warfen die christli­ chen den jüdischen Willingshäusern bei einem Dorffest die Fenster ein. Die ländlichen Juden waren im Verlauf der zweieinhalb Jahrhunderte zum Opfer der Auseinandersetzung zwischen Gemeinde und Obrigkeit gewor­ den.210 Diese beiden Fälle weisen auf ein allgemeineres Problem der nachbarli­ chen Beziehungen zwischen Christen und Juden auf dem Lande hin. Die Animositäten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dürfen nicht als unverändertes Relikt einer bis ins Mittelalter zurückreichenden christlich­ jüdischen Verfolgungsgeschichte verstanden werden. Die Nachrichten über die religiösen Ressentiments und die wirtschaftlichen Probleme, welche zur Verfolgung der Juden im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit führten, beziehen sich in der Regel auf städtische Konflikte. Erstens besa­ ßen nur die Reichsstädte den verfassungsrechtlichen Spielraum, der es ihnen erlaubte, ihre jüdischen Einwohner aus eigenem Entschluß zu ver­ treiben. Zweitens lebten die Schutzjuden zunächst in erster Linie in den Städten, in denen sie den Tätigkeiten nachgehen konnten, die ihnen in der christlichen Umwelt überhaupt erlaubt waren. Erst die Vertreibung aus den Städten zwischen dem Spätmittelalter und dem 17. Jahrhundert führte zur Entstehung eines umfangreicheren Landjudentums.211 Weshalb kam es bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch zu der vielfach beobachteten Verbreitung antisemitischer Ressentiments unter 171 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

der ländlichen Bevölkerung und welche Qualität besaßen die jüdisch­ christlichen Beziehungen auf dem Lande? In diesem Abschnitt soll unter­ sucht werden, ob die wachsende soziale Not der Parzellenbesitzer und die Auseinandersetzung zwischen der korporativ verfaßten Landgemeinde und der Landesherrschaft das Verhältnis zwischen Juden und Christen auf dem Land seit dem späten 18. Jahrhundert belasteten und zu einem spezifisch gemeindlichen Antisemitismus führten. Dazu muß zuerst auf die besonderen Bedingungen des jüdischen Lebens auf dem Lande knapp eingegangen werden. Hier stellten sich nicht nur die Möglichkeiten von Handel und Kreditgewerbe anders als in den Städten dar, die neuen jüdischen Landbewohner mußten häufig auch in wesentlich kleineren Gruppen leben als dort, und die christlichen Gemeinden besaßen zunächst keine Handhabe, ihre Ansiedlung zu verhindern. Dieses Recht stand dem Besitzer des Judenregals zu, im 17. und 18. Jahrhundert also der Landeshoheit.212 Der Zugriff der Obrigkeit auf die korporativen Rechte der Gemeinden, vor allem auf die Kontrolle der Gemeindewälder, -wiesen und -nutzungsrechte, war ohnehin der Kristallisationspunkt der Auseinander­ setzung von Herrschaft und Gemeinde. Neben der Bedeutung wirtschaft­ licher und religiöser Ursachen für christlich-jüdische Spannungen213 stellt sich daher die Frage nach der Rolle, die den Juden im Konflikt zwischen Landgemeinde und Landesherrschaft im Verlauf der Staatsbildung, wäh­ rend der Reorganisation des Untertanen- zum Staatsbürgerverband und schließlich gegenüber der Forderung der Unterschichten nach Schutz vor den Fährnissen des wirtschaftlichen Wandels zukam.214 Ganz abgesehen von der Bedeutung jüdischer Hoffaktoren für die Finanzgeschäfte der vielen kleinen Herrscher und für die Kristallisation wirtschaftlicher Ressentiments gegen die Juden war die Aufnahme von Schutzjuden durch die jeweilige Landesherrschaft ein probates Mittel kleiner Landeshoheiten, gegen konkurrierende Gewalten die Ausweitung ihrer hoheitlichen Rechte zu markieren.215 Diese landesherrlichen Schutz­ juden stellten für die Gemeinden jedoch eine potentielle Bedrohung der Gemeinderessourcen dar. Vor allem den ärmeren christlichen Gemeinde­ mitgliedern mußte an dem Ausschluß mißliebiger Konkurrenten von der Nutzung der Allmenden oder anderer Gemeinderessourcen gelegen sein. Auf die jüdischen Nachbarn konzentrierte sich ohnehin die Wucht der religiösen und wirtschaftlichen Ressentiments. Die Abwehr gegen hoheitli­ che Eingriffe und die Bedrohung der Gemeinderessourcen konstituierten aber möglicherweise einen genuin gemeindlichen Antisemitismus, der durch die anderen Antisemitismen, bestand er erst einmal, zusätzliche Nahrung erhielt.216 Der Streit um die Absiedlung von Schutzjuden auf dem Lande ging in die Konflikte um die Emanzipationsgesetzgebung über. Diese Reform war 172 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

ein Teil der die Realgemeinde nivellierenden Staatsbürgergesetzgebung, die ihrerseits seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zeitlich parallel zur Verschärfung der sozialen Differenzierung auf dem Lande und zur begin­ nenden Politisierung der Konflikte zwischen Landgemeinde und Landes­ herrschaft durch die öffentlichen Auseinandersetzungen des deutschen Frühkonstitutionalismus verlief. Die Frage nach den Folgen dieser Gleich­ zeitigkeit traditioneller gemeindlicher Abwehrmechanismen, moderner Reformgesetzgebung und der Politisierung der Auseinandersetzung mit der Obrigkeit für das Verhältnis zwischen Landgemeinde und werdendem Staat zielt auf zwei Aspekte. Erstens stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die in den Brennpunkt des Konfliktes zwischen Landgemeinde und Staat geratende »Judenfrage« zur sozialen Differenzierung der ländli­ chen Realgemeinde stand. Gab es eine den sozialen Typen unter den Gemeinden, also der Artikulationsfähigkeit der sozialen Unterschichten, entsprechende Intensität antisemitischer Reaktionen? Zweitens stellt sich die Frage, welche Bedeutung die Auseinandersetzung zwischen Gemeinde und Staat um die Schutzjuden über den materiellen Konflikt um die Gemeinderessourcen hinaus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die ländliche Sicht von sich selbst, auf den jüdischen Nachbarn und für die Verfestigung einer von der städtischen klar unterscheidbaren ländlichen Identität besaß. Der folgende Abschnitt fragt daher nach den Auswirkun­ gen verfassungs- und territorialgeschichtlicher Konflikte um die ländlichen Juden für die Werthaltung der christlichen ländlichen Bevölkerung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Die Entwicklung in den kleineren fränkischen und oberrheinischen Ter­ ritorien unterstreicht auch für diese Frage die Bedeutung der Kleinräumig­ keit der territorialen Verhältnisse für die Verbindung von Antisemitismus und Antietatismus. In der Markgrafschaft Baden stand auch die Aufnahme von Juden in die Landstädte und deren Einbruch in Betätigungen der Zünfte im Zeichen der Auseinandersetzung zwischen den schwachen Zünf­ ten und dem Markgrafen. Landsässiger und reichsunmittelbarer Adel sie­ delte nachweislich seit dem ersten Viertel des 17. Jahrhunderts Schutzju­ den in den Gemeinden ihres Herrschaftsbereichs gegen hohe Aufnahmege­ bühren und diverse Abgaben an, polemisierte aber zugleich gegen den »hoch verbottenen und unleidlichen Wucher«.217 ObwOhl sich im Spätmit­ telalter und in der Frühen Neuzeit Judenvertreibungen in den zersplitter­ ten fränkischen Territorien ebenso wie in geschlosseneren Landesherrschaf­ ten wie dem altbayrischen Herzogtum ereigneten, forcierten vor allem die vielen kleinen Landeshoheiten Frankens und Schwabens die Wiederansied­ lung auf dem Lande als Waffe gegen die Städte, zur Belebung von Handel und Gewerbe, als Quelle von Schutz- und Zuzugsgeldern und als Symbol ihrer Reichsunmittelbarkeit.218 Die fränkischen Juden waren daher von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

173

Beginn der Ansiedlung an auch in die Konflikte zwischen Landesherrschaft und Gemeinde verwickelt.219 Im Prozeß der Vertreibung und Wiederansiedlung war die große Masse der ländlichen Juden in Baden und Franken jedoch verarmt. Die Verhee­ rung durch Truppendurchzüge und die Einwanderung jüdischer Flüchtlin­ ge aus Polen im 18. Jahrhundert trugen in regional unterschiedlichem Maß bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zu dieser Verarmung vieler jüdischer Gemeinden bei. Gegen den Zuzug mehr oder weniger mittelloser Schutz­ juden wendeten sich daher erstens vor allem die ärmeren Mitglieder der betroffenen Gemeinden unter adliger Herrschaft.220 Zweitens gerieten die Juden vor den Augen der Gemeinden in die Konflikte konkurrierender Landeshoheiten, die sich gegenseitig die Bedrückung der Untertanen durch die Schutzjuden vorwarfen und damit zugleich suchten, den Aspekt der territorialen Konsolidierung ihrer Konkurrenten, der das Judenregal betraf, zu diskreditieren.221 Die Obrigkeit gab durch ihre eigenen Mandate der gemeindlichen Rhetorik gegen die Juden religiöse Begründungen und Formeln, die von den Gemeinden gegen die Aufnahme neuer Schutzjuden verwendet werden konnten.222 Andererseits sah sie sich seit dem späten 17. Jahrhundert ständig mit der Gefahr konfrontiert, daß Übergriffe gegen Schutzjuden, den sie gegenüber den Untertanen anderer Obrigkeiten indirekt schürte, ausgreifen und die Ordnung insgesamt gefährden könn­ ten, so wie die 1699 ausbrechenden großen Judenplünderungen im Bam­ berger Land, die sich fast zu einem Aufstand gegen die Obrigkeit auswuch­ sen. Die Plünderungen im Kronacher Gebiet 1727, die mit Übergriffen auf die Schutzjuden begannen, führten dann tatsächlich zu Plünderungen adliger Schlösser und schließlich zum Eingreifen von Bamberger Militär, um die Ruhe wiederherzustellen. Durch immer wieder kursierende Ge­ rüchte über Ritualmorde an christlichen Knaben, die angebliche Verhöh­ nung christlicher Glaubensvorstellungen und die Angriffe auf den angebli­ chen Wucher der Juden kam es während des gesamten 18. Jahrhunderts, zuletzt 1797 und 1803, im Rahmen der Wucherrhetorik noch 1817 zu Pogromen.223 Die christliche Obrigkeit sah sich daher entgegen ihrer eigenen Rhetorik gezwungen, die Ruhe immer wieder herzustellen.224 Bayern und Baden wurde im Prozeß ihrer Staatsbildung, nämlich der Integration zahlreicher kleinerer Landeshoheiten, die Regelung des Status ihrer neuen jüdischen Untertanen geradezu aufgedrängt. Die bayrische Gesetzgebung nivellierte zwischen 1799 und 1819 zunächst die zahlrei­ chen unterschiedlichen territorialen Rechte und Pflichte der jüdischen Schutzbürger auf einem insgesamt niedrigeren Niveau und suchte insbe­ sondere durch den Matrikelzwang die Zahl der neuen jüdischen Unterta­ nen zu begrenzen.225 Die seit den 1780er Jahren in der badischen Mark­ grafschaft kursierenden Pläne zu einer Emanzipation der Juden am Vorbild 174 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

der Josephinischen Reformen brachen sich bis zum Ende des 18. Jahrhun­ derts zunächst am Widerstand der städtischen Zünfte.226 Erst der Staatsbil­ dungsschub der napoleonischen Epoche erlaubte, ihnen zwischen 1807 und 1809 die Rechte »erbfreier Staatsbürger« zu geben, ohne sie jedoch, sowenig wie in Bayern, dadurch bereits zu Mitgliedern der ländlichen Realgemeinden und ihrer Besitzstände zu machen. Auch der neue Staat schreckte in Baden und Bayern gegenüber der religiösen Überzeugung der evangelischen und katholischen Pfarrer, der Beamten und sogar der Kam­ merabgeordneten, aber auch aus Rücksicht auf die Gemeinden, die schon allein aus wirtschaftlichen Gründen nicht mit der Versorgung der vielen verarmten Juden belastet werden sollten, vor diesem Schritt zurück.227 Dennoch wandten sich die Gemeinden gegen jede mögliche Entwick­ lung in Richtung Gleichstellung und daher auch gegen jede gesetzgeberi­ sche Maßnahme der neuen Staaten, welche die rechtliche Einzäunung der jüdischen Nachbarn zu durchlöchern schien. Diese Auseinandersetzung um ihre Einhegung ist so wörtlich wie möglich zu verstehen. Auf dem ummauerten Hof des Rittergutes der fränkischen Gemeinde Gaukönigsho­ fen, die selbst zum Hochstift Würzburg gehörte, lebte beispielsweise bis 1740 eine jüdische Familie. Bereits seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun­ derts konzentrierten sich die Streitigkeiten zwischen der christlichen Ge­ meinde und den Rittern um die Nutzung von Wald, Weide und Wasser auf diese ritterlichen Schutzjuden der konkurrierenden Landeshoheit der Rit­ ter, gegen welche die Gemeinde beim Hochstift Unterstützung suchte. Seit den 1740er Jahren verschärfte sich die Lage jedoch durch die Zuwande­ rung verarmter jüdischer Flüchtlinge aus Polen, die auf dem Ritterhof Zuflucht fanden. Die Streitigkeiten zwischen der christlichen und der jüdischen Gemeinde um die Wassernutzung nahmen nun handgreifliche Formen an und wurden durch die Aufnahme eines wohlhabenden jüdi­ schen Viehhändlers durch das Hochstift in die Gemeinde selbst und den Streit um die Überweidung der Gemeindeweide mit seinem zahlreichen Vieh weiter geschürt. Der Ausbruch der Juden aus dem Ghetto des Ritterhofes manifestierte sich für die Gemeinde in der Ansiedlung dieses Viehhändlers und in den religiösen Festen der gesamten jüdischen Gemein­ de und wurde zum Signum der Gefährdung der gemeindlichen Ressour­ cen. Auch die Tätigkeit der Juden als Gerber war für die christlichen Handwerker eine Konkurrenz. Daß der neue bayrische Staat seinen jüdi­ schen Bürgern die Gewerbelizenz 1819 entzog, um ein Übergreifen der Würzburger Unruhen auf die Gemeinde zu verhindern, dafür aber eine Fabrikkonzession an wohlhabendere Juden verlieh, ermöglichte nur die Entstehung einer Fabrik in der Hand eines jüdischen Unternehmers.UH Die traditionellen religiösen Ressentiments, die Verteidigung der Gemeinderes­ sourcen durch die christlichen Gemeinde, besonders die Unterschichten, 175 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

und die Probleme um die Gewerbefreiheit führten alle in die Auseinander­ setzung zwischen werdendem Staat und Gemeinde um die Nivellierung der korporativen Rechte der Gemeinde. In der Revolution von 1848 verband sich diese hochexplosive Mischung in Franken zusätzlich mit dem alten Reichspatriotismus der Gemeinden.229 Auch in Baden verbanden sich bis zur Revolution von 1848 der religiöse und wirtschaftliche Antisemitismus der ländlichen Bevölkerung mit der Abwehr staatlicher Eingriffe in die korporative Gemeinde und ihre Besitz­ stände.230 Insbesondere wo die christliche Gemeinde den Zugriff der Juden auf das Ortsbürgerrecht und damit die Gemeinheiten fürchtete, leiteten bereits die vormärzlichen Konflikte in eine Frontstellung hinein, in der die Schutzjuden in ihrer Hoffnung auf staatliche Reformen zu Verbündeten der Obrigkeit, die Gemeinden aber in Abwehr dieser Reformen zu Teilneh­ mern der Revolution wurden.231 Der aus dem Ancien Regime überkomme­ ne Konflikt um die Ansiedlung jüdischer Schutzbürger durch die Landes­ hoheit ging in die Auseinandersetzung um die Rechte der jüdischen Einwohner auf den »Bürgernutzen« über. Der Zusammenbruch der staatli­ chen Ordnung in den badischen Agrarunruhen zog daher auch Angriffe auf die Juden nach sich, die ebenso wie die staatlichen Förster, der herrschaftli­ che Wald und sein Wild angegriffen wurden.232 In solchen den gesamten Vormärz durchziehenden Konfliktgeschichten zwischen christlichen Ge­ meinden und der Obrigkeit wurden die Juden immer wieder zu Kristallisa­ tionspunkten antistaatlichen Protests.233 In der Revolution von 1848 und dem folgenden Jahrzehnt stand aber die Befürchtung der christlichen Landgemeinde, die jüdischen Nachbarn könnten im Verlauf der Reformge­ setzgebung an den Gemeinheiten beteiligt werden, immer wieder im Zentrum. Gemeindevorsteher sicherten den Ortsjuden zu, Angriffe auf sie würden enden, wenn sie sich zu kollektiven Verzichtserklärungen bereit fänden.234 Während durch die Diskussion um die Reform des Ortsbürgerrechtes die Auseinandersetzung um die Gemeinheiten in Baden schon im Vormärz aufbrach, führte sie in den fränkischen Gemeinden erst zwischen 1849 und 1850 zu einer an den bayrischen Landtag gerichteten Petitionswelle mit über 600 Petitionen und rund 80.000 Unterschriften gegen die Emanzipa­ tion der Juden.235 Die Auseinandersetzung zwischen Landgemeinde und Landesherrschaft über die Regelung des Lebens auf dem Lande schloß damit einerseits erneut an die Tradition der Gravamina an und trat zugleich in eine neue Phase partizipatorischer Teilhabe am modernen politischen Meinungsbildungs- und Artikulationsprozeß.236 Gerade die Parzellenbesit­ zer und Tagelöhner des unterfränkischen Realteilungsgebietes, dessen Ge­ meinden besonders häufig unter den Petenten vertreten waren, fürchteten, wie die detaillierte Nachfrage des dortigen Regierungspräsidenten unter176

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

strich, die Emanzipation der Juden werde ihnen mit der Verleihung der Staats- auch die volle Ortsbürgerschaft und damit Anteile am Gemeinde­ nutzen überlassen. Sie entziehe den Gemeinden die Kontrolle über die von ihnen geduldeten Juden.237 In vielen Gemeinden stimulierte die Willensbil­ dung und Abstimmung gegen die Emanzipation die partizipatorischen Momente innerhalb der Gemeinden, die »expressed those sentiments in a remarkably democratic process«.238 Die Gleichzeitigkeit von Pauperisierung - wegen der gewerblichen Krise des Vormärz -, wachsender Partizipation - durch die wachsende Möglich­ keit für Bevölkerungsgruppen, die im Anden Regime nicht ständisch vertreten gewesen waren, sich Gehör zu verschaffen - und Politisierung wegen des beginnden politischen Meinungskampfs um die Emanzipation der Juden - verlieh der alten Abwehr gegen die Schutzjuden von den Besitzständen der Gemeinden bis in die 1860er Jahre ein Eigengewicht, das weit über den ursprünglichen materiellen Streitpunkt hinausreichte. Je zersplitterter die territoriale Vergangenheit der neuen Staaten auf dem Gebiet des alten Fränkischen und Oberrheinischen Kreises war, je unmittel­ barer dadurch für einzelne Gemeinden wie ftir Gaukönigshofen die Schutz­ judenfrage mit dem Konflikt mit Landeshoheiten verknüpft war, desto größer war auch das Ausmaß christlich-jüdischer Animosität, noch bevor dieses Verhältnis in den Strudel der Staatsbildungs- und sozialen Umschich­ tungsprozesse seit dem Ende des 18. Jahrhunderts geriet. Partizipation, Politisierung und Pauperisierung zogen auch die hessi­ schen Juden in den Konflikt zwischen Landgemeinde und werdendem Staat. Aber ebenso wie für die direkte Auseinandersetzung um Steuern und Fronen gilt auch ftir die Folgen dieses Prozesses, daß sie sich in der Landgrafschaft lange Zeit stiller und versteckter zeigten, weil die relative Größe des Territoriums den Interessenausgleich zwischen Landgemeinde und Landesherrschart: in anderer Weise ermöglichte als zwischen den klei­ nen Landeshoheiten und den christlichen Gemeinden in Franken. Die Ballungsgebiete der jüdischen Gemeinden waren auch in Hessen die kleine­ ren reichsunmittelbaren Territorien in der Wetterau, im Odenwald und in Rheinhessen.239 Aber auch die Landgrafschaft Hessen-Kassel nahm nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges im Gegensatz zu anderen größeren Landesherrschaften wie dem Herzogtum Bayern oder dem benachbarten Hessen-Darmstadt oder Fulda Schutzjuden auf240 Die Landgrafen folgten darin ihrem Selbstverständnis als barocke Fürsten und den positiven und negativen Vorbildern, die das niedergehende Spanien und die prosperieren­ den Niederlande im Hinblick auf ihre Judenpolitik boten. Sie setzten sich damit zugleich gegen die Stände und insbesondere die Landstädte und ihre Zünfte durch, die 1657 geschlossen und bis ins beginnende 18. Jahrhun­ dert immer wieder entweder die Ausweisung der Juden forderten oder 177 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

wenigstens ihre Konkurrenz beklagten.241 Sie trieben stattdessen die Kon­ solidierung ihres Schutzjudenverbandes voran, regelten die Aufnahmebe­ dingungen, ließen eine gewisse jüdische Selbstverwaltung im Kultus- und Gemeindebereich zu und verzichteten seit der Judenordnung von 1749 auf die Auflistung auszuweisender Juden ohne Schutzbrief.242 Bereits im Verlauf des 18. Jahrhunderts bestanden innerhalb der Verwal­ tung zwischen der aus finanziellen Gründen zur Judenaufnahme häufig bereiten Rentkammer und den skeptischeren Amtleuten vor Ort bzw. den Räten in Kassel Diskrepanzen über die Handhabung der Aufnahmepoli­ tik.243 Diese Diskrepanzen wurden jedoch bis zur Mitte des 18. Jahrhun­ derts durch die Bedeutung des jeweils geltenden lokalen Brauchs in den Gemeinden oder besondere landstädtische Regelungen von Fall zu Fall abgefangen oder konterkariert. Dazu zählte beispielsweise die traditionelle Beteiligung derjenigen Schutzjuden am christlichen Gemeindenutzen wie dem Gemeindeholz, denen von der Gemeinde offenbar der Erwerb dazu berechtigender Grundstücke erlaubt worden war, der seinerseits in den Katastern des frühen 18. Jahrhunderts auch in den Schwälmer Gemeinden Willingshausen, Merzhausen und Oberaula dokumentiert ist.244 Die Ansiedlung von Schutzjuden in den Schwälmer Gemeinden seit der zweiten Hälfte des 17. und dem Beginn des 18. Jahrhunderts hing in der Regel mit örtlichen adligen Grund- und Gerichtsherren zusammen.245 Trotz der umfangreichen Konflikte zwischen den christlichen Gemeinden und insbesondere der adligen Herrschaft um Fronen und Abgaben nach dem Dreißigjährigen Krieg, den ständischen Forderungen nach Auswei­ sung der Juden und dem Versuch einzelner Pfarrer vor Ort, die christliche Bevölkerung mit antijüdischen Ressentiments auch gegen den Adel zu mobilisieren, sind Angriffe auf die jüdische Bevölkerung auf dem Lande selbst in dieser eigentlich schwierigen und konfliktreichen Konsolidie­ rungs- und Besiedlungsphase, traut man dem Schweigen der Quellen, kaum vorgekommen.246 Obwohl auch die Schwälmer Landjuden im Vieh­ handel und im Kreditwesen gegenüber einer ausgesprochen heterogenen christlichen Klientel tätig waren und sich ihr Besitz und Steuerkapital zwar nicht mit dem der Großbauern messen konnte, aber doch etwas über dem der meisten Christen lag, wurden sie in der Schwalm bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nicht zum Spielball des Konflikts zwischen Landesherrschaft und Gemeinde.247 Das geschah in der Schwalm auch nicht, nachdem der Erwerb von Grundstücken durch örtliche Juden in anderen Teilen der Landgrafschaft seit den 1780er Jahren auf den Widerstand der betroffenen Gemeinden gestoßen war. Die Bevölkerungszunahme248 mündete nämlich auch in eine schärfere Konkurrenz um die Gemeinheiten, deren Nutzung mit dem Besitz von bestimmten Grundstücken verbunden war. Aber auch das Erb178 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

und Lehnland der Bauern und der Unterschichten war keine am Markt verhandelte Ware, sondern Teil eines Leistungs- und Berechigungssy­ stems, in dem die jüdischen Dorfbewohner keinen Platz besaßen. Die Folgen, die eine Beteiligung jüdischer Nachbarn am Landbesitz für die Nutzungsberechtigung der Gemeindeländer besaß, stießen auf den Unmut vieler Gemeinden, auf den die Regierung in Kassel reagierte, in dem sie die Regelung des Grundstückserwerbs 1768 offiziell an sich zog.249 Der Grundstückserwerb blieb grundsätzlich verboten. Zur Vorraussetzung für eine Ausnahme wurde der Antrag auf Dispens von diesem Verbot, dem die Bewilligung der betroffenen Gemeinde und das Votum des zuständigen Amtsbeamten beizufügen waren. Das Land durfte nur dem Eigenbedarf dienen, christliche Käufer sollten noch bis zu vier Jahre nach Abschluß des Kaufvertrages das Recht zum Rückkauf besitzen, erst nach Ablauf dieser Frist galt der Titel als rechtskräftig. Bei den Kaufobjekten konnte es sich um Häuser von Schuldnern, um den Hausverkauf einer Witwe oder den Verkauf eines abgelegenen Schuppens durch einen reichen Bauern han­ deln.250 Die Zahl der Versuche hessischer Juden, durch den Erwerb einer Parzelle beispielsweise die eigene Gemüseversorgung zu sichern, wie das die Oberaulaer Juden längst taten, vervielfachte sich, der Zahl der Anträge nach zu urteilen, gegen Ende des 18. Jahrhunderts.251 In den seit den 1780er Jahren immer häufiger zwischen Schutzjuden und christlicher Gemeinde strittigen Kauffragen252 wurden die Gemeinden durch den Vorgang der Dispensgenehmigung nicht nur mit der Landes­ herrschaft als solcher, sondern auch mit den verschiedenen Haltungen zu den Schutzjuden unter den Beamten konfrontiert. Die Kassler Rate bestan­ den beispielsweise aus einer Mischung aus sozialpolitischer Vorsorge und anthropologischem Ressentiment darauf, den jüdischen Käufern weder den Kauf von Ackerland noch den Zugriff auf den Gemeindenutzen zu gestat­ ten,253 während die Ortsbehörden umgekehrt die Trennbarkeit des Zu­ griffsrechtes auf den Gemeindenutzen von den Grundstücken ebenfalls aus sozialpolitischer Fürsorge in einer Zeit des kleiner werdenden Nahrungs­ spielraums ablehnten.254 Neben solchen technischen Problemen wiesen die Städte, von dem Widerwillen der christlichen Bevölkerung gegen jüdische Nachbarn insgesamt einmal ganz abgesehen, auf ihre »hiesige unbestritte­ ne alte Stadtobservanz« gegenüber der »jüdischen Ränke« hin.255 Erst 1799 tat die Landgemeinde Herleshausen »unterthänig Vorstellung wegen der Judenhäuser anhäuffung«. Das verkaufte Haus stehe »auf dem schönsten Platz allhier und hoch über der Gemeindeschenke, und dieselbi­ ge durch die Judenschlachtung und Unreinheit Schaden leidet dieweilen der Geruch von der Schlachtung ins Bier ziehet und selbiges davon verdir­ bet. Zum 2. sind 6 Schutzjuden allhier und haben in lezter Zeit vier Häuser angekaufft, da allemahl die Ghristen darum gehandelt, die Juden aber jedes 179 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Mal die Christen übersetztet«. Darüber hinaus brächen in den jüdischen Häusern ständig Feuersbrünste aus, und ehemalige Soldaten würden durch die Juden um ihre Häuser gebracht. Durch Nachfragen des Beamten in die Enge getrieben, äußerten Grebe und Vorsteher, »die Absicht der Gemeinde gehe lediglich dahin, daß der Preis der Wohnhäuser von den Juden nicht vergrößert werde«. Auch auf dem Lande begann sich die Sorge der Dorfho­ noratioren um die soziale Versorgung der Landarmut mit ihren Vorurteilen gegen die jüdische Minorität zu vermischen. Die Probleme der tatsächlich in Herleshausen vorhandenen Landarmut aus Leinewebern und Tagelöh­ nern trafen gegen Ende des Jahrhunderts aber nicht nur auf das Verständnis der Räte, sondern auch auf den Widerwillen vereinzelter aufgeklärter Lokalbeamter.256 Der zuständige Justiziar Scheffer widerlegte nicht nur alle Behauptungen der Gemeindeoberen. In keinem Fall seien Christen beim Kauf überboten, alle Hausverkäufe an Juden seien ordnungsgemäß zuvor veröffentlicht worden, es gebe keine ehemaligen Soldaten in Wohnungs­ not, Feuer seien nur in den christlichen Wohnungen ausgebrochen, das in Frage stehende Haus stehe zwar mitten im Dorf, besitze aber Ableitungen genug, um beim Schlachten abfallendes Blut zu entsorgen, eine Verunreini­ gung sei in keinem Falle zu befurchten, kurz, »wenn die Unreinigkeiten vom Schlachten dem Bier und Schenke Nachtheil bringen solte, so müßte dieses von der zu dieser Gemeindeschenke gehörigen Miststelle geschehen, selbige lieget gerade vor der Kellertüre, darinnen alle Unreinigkeiten von des Wirths seinen Ställen und Schweinekoben fließt«.257 Auch wenn erbit­ terte jüdische Käufer sich zu Recht über die »bäuerliche Cabale«258 örtli­ cher Honoratioren beklagten, die sie am Grundstückskauf hindern wollten, weil »die meisten Einwohner dieses Ortes verarmt [sind] und nur einige wenige davon im Stande, auf Güter adquisitieren zu können - diese wenigen bereden sich untereinander, ein ieder nimmt 1/16 Teil - und debitor und creditores werden durch den geringen Verkauf betrogen«-,259 an der wachsenden Opposition gerade der Unterschichten gegen den Zugriff von Außenseitern auf die Gemeinheiten kann wenig Zweifel beste­ hen. Obwohl in der Schwalm auch gegen Ende des Jahrhunderts trotz Bevölkerungsvermehrung und Nahrungsverknappung nach wie vor Grundstückskäufe von Juden und Häusertausche zwischen Juden und Christen einvernehmlich möglich waren, tauchten auch dort gegen Ende des Jahrhunderts - bezeichnenderweise in der Landstadt Ziegenhain Beschwerden über die Beteiligung der Juden am Gemeindenutzen auf.260 In dem hessischen Flächenstaat hatten fränkische Flächenbrände gegen die Schutzjuden im 18. Jahrhundert jedoch keine Chance, weil sich die vielen kleinen Feuer, ebensowenig wie die direkten Konflikte mit der Obrigkeit, im Vorfeld der Verhandlungen vor Ort und mit den Räten in Kassel um die Dispensgenehmigung nicht zum großen Brand vereinigen 180 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

konnten. Immerhin boten die Städte durch ihre, wenn auch völlig margina­ lisierte Tradition kommunaler Entscheidungsfindung, nach wie vor den Kern des Widerstandes.261 Die seit den 1780er Jahren anschwellende Zahl der Dispenskonflikte war daher im Gegensatz zu Franken ein stiller Sturm, der erst durch die Pauperisierung, Politisierung und wachsende Partizipati­ on der ländlichen Bevölkerung seit der westfälischen Zeit und im Vormärz often ausbrach. Die jüdische Bevölkerung nahm im Gefolge ihrer Emanzipation während der westfälischen Zeit auch in der Schwalm zu262 und war zugleich ebenso wie die christliche von den sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts betroffen.263 Während sich jedoch bei einem Vergleich der steuerlichen Veranlagungen die enorm gewachsenen Vermögensunterschiede zwischen den christlichen Tagelöhnern und Bau­ ern zeigen - besonders ausgeprägt in den Schwälmer Bauerndörfern, weniger deutlich in dem Mittelgebirgsflecken Oberaula -, verarmten die jüdischen Gemeinden bis in die 1840er Jahre kollektiv. Das Einkommen ihrer ärmsten Mitglieder lag zwar immer noch etwas höher als das der ärmsten christlichen Haushaltsvorstände, aber zumindest in den Schwalm­ gemeinden lag der Durchschnitt ihrer Einkommen weit unter dem der christlichen Gemeinden, weil in den jüdischen Gemeinden die wirklich wohlhabenden Besteuerten mit mehreren Hundert Reichstalern Steuerka­ pital fehlten - das waren auf dem Lande nämlich die großen Bauern. Das Steuerkapital des wohlhabendsten jüdischen Einwohners von Oberaula lag bei 213 Talern, umgerechnet auf die hypothetische Besteuerung eines Landwirtes wären das 373 Taler. In Oberaula wurde ein Kleinbauer mit sechsunddreißig Ackern auf 357 Taler veranschlagt. Das Steuerkapital der wohlhabendsten luden in Willingshausen und Merzhausen entsprach mit fünfzig und siebzig Talern, umgerechnet siebenundachtzig und 122 Ta­ lern, Parzellenbesitzungen von sieben bis elf Ackern.264 In den Zeiten von Bevölkerungswachstum und Gewerbedepression war an ein größeres Ein­ kommen auf dem Lande, trotz der Agrardepression der 1820er Jahre, nur bei den eigentlichen Lehnlandbauern zu denken. Weder Handwerk noch kleinhändlerische Warenvermittlung boten dazu eine Alternative. Mit der Verarmung der Masse der christlichen Abnehmer solcher Waren im Vor­ märz mußten auch die jüdischen Händler verarmen. Waren sie tatsächlich in der Leinenverarbeitung im Zwischenhandel tätig gewesen, wie ihre Präsenz in Willingshausen im 18. Jahrhundert und der Streit mit den Rotenburger Zünften vermuten läßt, mußte auch der Niedergang der Leinenverarbeitung sie treffen. Ihr Bedarf nach örtlicher Armenunterstüt­ zung und Zugriff auf die Gemeinheiten intensivierte sich vermutlich ent­ sprechend.26* Die im Verlauf der Emanzipationsdiskussion seit dem Ende des 18. Jahrhunderts innerhalb des studierten und lesenden Publikums 181 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

und damit in Kurhessen innerhalb der Beamtenschaft266 - entstehende Auseinandersetzung über die Handhabung und Durchführung einer Emanzipationsgesetzgebung267 geriet seit der Rückkehr des Fürsten in den Strudel der öffentlichen Debatte zwischen Ständen und Beamten. Von einem Gegenstand des obrigkeitlichen Bescheids wurde sie zum Gegen­ stand des Parteienkampfs und damit für die Gemeinden zu einem mögli­ chen Anknüpfungspunkt der Durchsetzung eigener Forderungen. Die kurfürstliche Regierung nahm die Emanzipation des Königreichs Westfalen 1813 zurück und verkündete 1814 eine eigene Emanzipationsgesetzge­ bung.268 Das Gesetz von 1816 über die israelitischen Glaubensgenossen als Staatsbürger wurde durch die Einschränkung des Rechts auf Grundstücks­ ervverb und Beschränkungen im Handel von 1819 und Einschränkungen der Heiratserlaubnis von 1821, die weitgehende Angleichung an den christlichen Rechtsstatus von 1833 im gleichen Jahr durch die Ordnung der besonderen Verhältnisse der Israeliten wieder eingeschränkt; die verbliebe­ nen Verbesserungen von 1833 wurden durch die oktroyierte Verfassung von 1852 zurückgenommen.269 Vor allem der Paragraph 15 der Verord­ nung vom 14. März 1816 über die Rechte der Juden kriminalisierte den bislang üblichen Handel als »Nothandel« und beließ den örtlichen Beam­ ten einen weiten Ermesscnsspiclraum bei Anklage und Verhaftung.270 Die öffentliche Debatte wurde ebenso wie in Baden auch in Kurhessen an die Gemeinden herangetragen, nicht zuletzt von den Beamten vor Ort durch ihre Gutachten zu den Dispensanträgen.271 Während der Ziegenhainer Landrat Günther und einige andere Beamte an den Reformen der westfälischen Zeit implizit festhielten,272 nutzten andere wie die osthessi­ schen Reservatenkommissare273 Möller und Arstenius die Nothändlcr-Ge­ setzgebung, um die Jagd auf die jüdischen Händler zu eröffnen. Obwohl gesetzliche Regelungen des Viehhandels für die landarmen und landlosen osthessischen Leineweber, Maurer und Tagelöhner keine Erleichterung ihrer durch Gewerbekrise und später Zollkrieg marginalisierten Eristenz versprachen,274 gingen von den einundvierzig Fällen von Festnahmen und Strafen zwischen 1817 und 1819 wegen des nun, je nach Bewertung der Beamten, kriminellen Viehhandels allein dreiundzwanzig auf Anklagen der beiden Beamten aus den Ämtern Eschwege (elf) und Rotenburg (zwölf) zurück.275 Nur vier Anklagen und Verhaftungen erfolgten außerhalb des osthessischen Leinenbezirks. Aus dem großbäuerlicheren Kreis Ziegenhain mit seinen Fahr- und Viehbauern und seinen jüdischen Händlern in Zie­ genhain, Merzhausen, und Willingshausen erging keine einzige Anzeige. In scharfem Gegensatz zu Landrath Günther meinte Möller, es »wimmelt vom Morgen bis zum Abend« von jüdischen Händlern in seinem Bezirk, »die Unterthanen sind nach wie vor der Zudringlichkeit der Juden preisge­ geben«.276 Erst als Möller so weit ging, einen durch einen der wenigen 182 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Bauern auf dessen Hof bestellten Juden anzuklagen, obwohl es zu einem Viehhandel dann gar nicht gekommen war, ging das der Kasseler Regierung zu weit. Es »steht zwar die gute Absicht des Reservatencommissarius Rat Möller bei der von ihm getroffenen Verfügung nicht zu verkennen«, ein nach vorheriger Bestellung des Händlers durch einen Bauern erfolgter Verkauf sei aber in keinem Falle strafbar.277 Die Politisierung der Emanzipationsfrage durch die sich gegenüber den Gemeinden abzeichnenden politischen Divergenzen innerhalb des staats­ nahen Bürgertums278 und die gegenüber dem Kurfürst öffentlich auf Rück­ nahme der Emanzipation dringenden Stände, insbesondere durch die Städ­ te,279 aber auch durch die eigentlich reformkonservativen Schwälmer Ritter,280 erklärt die Ermutigung bereits vorhandener Ressentiments und ihre gegenüber der nun zwiespältig handelnden Obrigkeit im politischen Partizipationsprozeß wachsende Bedeutung. Sie erklärt aber nicht die Unterschiede zwischen den Gemeinden in der Militanz ihrer Äußerung. Diese Unterschiede lassen sich auf den Handlungsspielraum der Unter­ schichten in ihren Gemeinden zurückführen. Wie später bei der Schilde­ rung des Bürgergardewesens ausführlicher erläutert, blieben die Bauern gegenüber der Störung der öffentlichen Ordnung in ihren Gemeinden zurückhaltend, wenn sie zugleich befürchten mußten, daß sich die Unter­ schichten im Verlauf eines Tumultes zu einer handlungsfähigen Einheit sammelten, die möglicherweise auch gegen die Bauern selbst vorgehen könnte. In der von der Gewerbekrise relativ weniger betroffenen Grafschaft Ziegenhain mit ihrem größeren Anteil an Bauerndörfern281 beschwerten sich zwischen 1818 und 1820 zwar die Zünfte der wenigen Ackerbürger­ städte, es kam zu vereinzelten Beschwerden wegen »Wuchers«282 und die seit 1798 laut werdenden Klagen über die Beteiligung von Juden am Gemeindeland283setzten sich fort. Nach der Gesetzgebung von 1833 entzündeten sich schließlich Konflikte um die Beteiligung von Ortsjuden an der Armenversorgung.284 Zu einem Steuerstreik,285 zu erkennbaren Streitigkeiten über die Vollendung örtlicher Synagogen286 oder dem osthes­ sischen Bergland vergleichbaren Übergriffen während der Hep-Hep Unru­ hen 1819 oder der Revolutionen von 1830287 und 1848/49 kam es jedoch nicht. Die Verteidigung der Gemeinderessourcen gegenüber denjenigen staatlichen Reformen, welche die Rechte der Realbürgergemeinde bedroh­ ten, wie der die verarmten Juden in das Armenrecht integrierenden Gesetz­ gebung von 1833, fehlte die militante Dynamik sozialen Protests der gesamten Gemeinde. Im Gegenteil, die jüdischen Bürger wurden selbst in der Stadt Ziegenhain in die örtliche Bürgergarde integriert, und das einzige Opfer eines antisemitischen Übergriffs im Revolutionsjahr von 1848 nutzte sein Bürgergardegewehr, um sich gegen die Angreifer zu verteidigen.288 Sowenig daraus bereits auf die Qualität des nachbarlichen Verhältnisses 183 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

zwischen Juden und Christen geschlossen werden darf, so wenig kann von einem mit Osthessen vergleichbaren militanten Antisemitismus gesprochen werden. In den osthessischen Gegenden machte sich demgegenüber die wachsen­ de Fähigkeit und Bereitschaft der Unterschichten, sich im Rahmen der öffentlichen Konflikte wenigstens vermittelt Gehör zu verschaffen, be­ merkbar. Ihre Abwehr gegen jeden äußeren Zugriff auf die Gemeindebe­ rechtigungen gab den Angriffen auf die Juden ihren gewalttätigen Charak­ ter. Die Politisierung des alten Widerstandes der Landstädte gegen die landesherrliche Einschränkung ihrer Autonomie zur Abwehr der Bemü­ hungen des liberalen Reformstaates und ihre Verschränkung mit antijüdi­ scher Rhetorik läßt sich in Bemerkungen wie derjenigen der Niedensteiner Vorstände verfolgen. »Es ist zwar allgemein bekannt, daß alle Fürsten Deutschlands gemeinschaftlich dafür wirken, die Juden gemäßigter zu behandeln und denselben eine den jetzigen Zeiten angemessene Reform zu geben, um dadurch den so schändlichen Schacherhandel, welcher schon so viele Christenfamilien an den Bettelstab gebracht hat, gänzlich auszurotten ... dieser allerhöchsten Intention würde man aber auf eine unverantwortli­ che Weise entgegen arbeiten, wenn man zugäbe, daß dies israelitische Volk so gedrängt an einem Orte zusammen wohnen dürfte, denn dies begün­ stigt notorisch die im Geheimen von dieser Nation getriebenen Landesver­ räterischen verderblichen Schacherhändel ... Die allzugroße liberale Be­ handlung dieses Volkes von dem damaligen westphälischen Gouverne­ ment, wo man ihnen um diese Schacher-und Schleichhandel recht kunst­ mäßig betreiben zu können für Geld gewiße Privilegien erteilte, und uns zwang, fremde Juden hier am Ort aufzunehmen, hat dieselben so sehr verdorben, so daß tagtäglich von denselben ... die größten Übervortheilun­ gen und Bedrückungen hier vorgehen, nur der Gedanke beruhigt uns, daß der versammelte Landtag Resultate hervorbringen wird, welche alle diesem Unheil Grenzen setzen werden«.289 In den gewerblich geprägten Gemein­ den Osthessens verstanden sich die Vorstände zwar in der Regel nicht zu solchen Frontalangriffen auf die angebliche Allianz zwischen Juden und Fürsten. Traditionelle religiöse und abergläubische Ressentiments und die Fähigkeit der Unterschichten, sich Gehör zu verschaffen, verbanden sich jedoch auch hier zu einer für die jüdischen Nachbarn gefährlichen Mi­ schung. Der Widerstand von Pfarrer290 und Vorstehern der typischen ost­ hessischen Maurer- und Tagelöhnergemeinde Völkershausen gegen den Bau einer Synagoge durch die jüdischen Nachbarn bediente sich beispiels­ weise einer Mischung religiöser und wirtschaftlicher Ressentiments,291 die von den gleichfalls tagelöhnernden Gemeindevorstehern292 vertreten wur­ den. Obwohl weder die Katasterbeamten im Jahr 1836 noch die Berichter­ statter des Vereins für hessische Landeskunde im Jahr 1855, die jeweils 184 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

eigens einen Fragepunkt zur dörflichen Verschuldung unter ihren Frageli­ sten mitbrachten und sicher keine generell philosemitische Einstellung besaßen, eine Verschuldung der Einwohner bei den Juden feststellten, war die Wucherrhetorik für die Maurer und Tagelöhner der Gemeinde und ihre Vertreter zum Topos geworden. Der aufgeklärte Einwand des zuständigen Beamten, des Amtmanns von Vacha - »Man sieht es dem ganzen Mach­ werk unverkennbar an, daß die Beschwerde vom Zaun gebrochen ist, um Privatrücksichten dahinter zu verstecken. Um dem Kinde den Namen zu geben, bemerke ich nur: Daß die ganz unchristliche von einem einzigen Mann herrührt, welcher der Judenschaft das Local zu der beabsichtigten Synagoge gern verkaufen wollte und des Handels nicht einig werden konnte«293 - kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß im vorliegenden Falle gerade nicht das Interesse der Vollbauern als Konkurrenten um Land, sondern das Interesse landarmer Unterschichten an den Gemeinderessour­ cen den gemeindlichen Widerstand konstituierte. Die Sprache dieses Wi­ derstandes bestand aus der selektiven Rezeption der Topoi von Beamten wie Möller und Arstenius. Erst alle drei Elemente, das Interesse der Unter­ schichten, die rechtliche Lage der Juden in der Auseinandersetzung um die Gemeinheiten und die Rezeption der Topoi der gebildeten Beamten, gab dem traditionellen Gemeindeprotest seine Dynamik und Stoßrichtung. Die 1819 von Würzburg ausgehenden Hep-Hep Unruhen griffen zwar auch in Osthessen zuerst wieder auf die Landstädte wie Fulda und Roten­ burg mit ihren verarmten Einzelhandwerkern und Tagelöhnern294 über, erreichten bis Ende September aber das nieder- und oberhessische platte Land.295 Zwar lag es unverändert in der Hand einzelner Beamter, durch ihre Haltung zu Übergriffen auf jüdische Nachbarn zu ermutigen oder von solchen Übergriffen abzuschrecken.296 Die jüdischen Nachbarn waren in­ zwischen jedoch für die ländlichen Unterschichtgemeinden wie Völkers­ hausen zum Kristallisationspunkt sozialen Protestes geworden. Die Ver­ schärfung der sozialen Lage durch den hessisch-preußischen Zollkrieg seit 1828297 und die anhaltende Politisierung der Emanzipationsfrage und ihres Bezuges zu den Gemeinderessourcen führte auch in der Folge der Zusam­ menbrüche obrigkeitlicher Ordnung in den Jahren 1830 und 1848 zu antisemitischen Ausschreitungen der Unterschichtgemeinden auf dem Lande und der Zünfte und tagelöhnernden Handwerker in den Städten.298 Am Beispiel des osthessischen Unterschichtenfleckens Burghaun (Typ II),299 in dem der Widerstand gegen die Verhaftung von antisemitischen Randalierern durch einrückendes Militär unterdrückt werden mußte,300 läßt sich die Bedeutung der Unterschichten für die Artikulation religiöser, allgemeiner301 und speziell auf die Gemeinheiten gerichteter wirtschaftli­ cher Ressentiments rekonstruieren. Nach dem Fjnrücken der Truppen ging im Mai 1848 bei den Kassler 185 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Behörden eine Eingabe der Gemeinde Burghaun und der Nachbargemein­ de Steinbach in Kassel ein. Zwar enthält die Eingabe alle Topoi der gängigen Obrigkeitskritik, wie sie sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Juden als angebliche Nutznießer der modernen Staatlichkeit, ihrer Beamten und Gerichte konzentrierte, und auch der Wuchervorwurf durfte nicht fehlen. Sie beginnt aber mit dem Hinweis, »ohne Beistand, ohne Theilungen« sei die Verwaltung gegenüber den Wünschen der Gemeinde taub geblieben.302 Die Eingabe nimmt dadurch auf die Konflikte zwischen den Nutzungsberechtigten und den anderen Vollbürgern bezug, welche die Teilung der Gemeinheiten forderten, um dadurch den privilegierten Zugriff einiger Weniger auf die Allmenden zu brechen. Der zuständige Beamte erklärte, neben dem »Haß auf zahlreiche Israeliten« wäre »die Erbitterung der mittleren und unteren Classe gegen die wohlhabenderen großen Gutsbesitzer, welche bereits seit mehreren Jahren anhängige Ange­ legenheit wegen Theilung der Gemeindehute wirklich genährt hat, der Hebel der Agitation« gegen die Juden.303 Das Teilungsproblem eignete sich in Burghaun nämlich nicht für die Sammlung der Unterschichten zu gemeinsamer Aktion. Die innere Diffe­ renzierung der Landarmen Burghauns in hausgesessene Parzellenbesitzer (zu zwei Dritteln) und in minderberechtigte Mieter (zu einem Drittel)304 bzw. in die Arbeiterschaft der örtlichen Baumwollfabrik und in pauperisier­ te Einzelhandwerker mußte für eine solche Sammlung noch nicht einmal zum Problem werden. Die Nutzungsberechtigten unter den Unterschich­ ten und die von dieser Nutzung, trotz ihres vollbürgerlichen Status, Ausge­ schlossenen305 - insgesamt fast die Hälfte der Einwohner - mußten im Hinblick auf das Teilungsproblem, trotz der gemeinsam geteilten »Erbitte­ rung gegen die Wohlhabenderen großen Gutsbsitzer«, aber unversöhnliche Gegner bleiben. Die jüdischen Familien Burghauns306 befanden sich jedoch nicht nur mit dem örtlichen Pfarrer seit 1828 in Ablösungsstreitigkeiten,307 sie konkurrierten mit allen landarmen und landlosen Leinewebern und Handwerkern auch um den begehrten Hausierhandel.308 Für die Heraus­ forderung der öffentlichen Ordnung boten sie geeignete Opfer. Die drei ermittelten Unterzeichner der Eingabe aus Burghaun waren ein Kleinbauer, ein Parzellenbesitzer und ein Beisitzer. Die Landarmen besa­ ßen in Burghaun genügend Handlungsspielraum, um sich selbst zu vertre­ ten.309 Der eigenständigen Artikulationsfähigkeit der Unterschicht des gewerblichen Fleckens (Typ II) entsprach das Wahlverhalten der Unter­ schicht.310 Es kontrastierte scharf mit dem Wahlverhalten der Tagelöhner in der bäuerlich dominierten Nachbargemeinde Steinbach (IIIb), die sich an der Petition für die Verhafteten Burghauner beteiligt hatte. Der ständige Ausschuß des Gemeinderates von Steinbach wurde von den höchstbesteu­ erten Bauern der Gemeinde dominiert, weil die örtlichen wahlberechtigten 186 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Unterschichten, die die Mehrheit der Wähler stellten, ebenfalls überwie­ gend für die bäuerlichen Kandidaten stimmten.311 Unter den Steinbacher Unterzeichnern der Eingabe nach Kassel waren die fünf Hufenbauern ebenfalls in der Mehrheit gegegnüber einem Kleinbauer und einem Unter­ schichtmitglied.312 In Steinbach313 kam es bezeichnenderweise ebensowe­ nig wie in den bäuerlichen Orten Ziegenhains zu öffentlichen Unruhen gegen die jüdischen Nachbarn.314 Die Bauern führten die Eingabe ihres Ortes an und beteiligten auch ein Mitglied der Unterschicht, zu Krawallen ließen sie es jedoch nicht kommen. Im Unterschied zu Steinbach setzten sich in Burghaun im Vormärz die Unterschichten gegenüber den wenigen örtlichen Bauern im Gemeinderat durch. Noch 1835 bestand der Gemeindeauschuß aus drei Höchstbesteu­ erten, einem Ortsbürger und einem Beisitzer. 1848 waren es jedoch nur noch zwei Höchstbesteuerte, von denen nur einer bereits 1835 dem Ausschuß angehört hatte. Die beiden anderen höchstbesteuerten Aus­ schußmitglieder, darunter der reichste Bauer des Ortes, Jacob Webert, waren jedoch abgewählt worden und fochten daraufhin mit fünf Verbünde­ ten die Wahl von 1845 unter formalen Einwänden an. Schon 1835 hatte es eine Beschwerde gegen die Wahl gegeben. Damals waren die sieben Be­ schwerdeführer aber mit einer Ausnahme313 Tagelöhner, Seifensieder, Lei­ neweber und Schneider gewesen, die sich mit Hilfe eines Advokaten der bäuerlichen Vorherrschaft im Gemeinderat zu erwehren suchten.316 Wie schon in den Beispielen dörflicher Politik aus dem 18. Jahrhundert wurde auch dieser Konflikt nicht ausschließlich sozial bestimmt - der neue Bürgermeister Andreas Schul war auch ein Vollbauer -, und Gerüchte über angebliche Ungereimtheiten in der Amtsführung des früheren Bürgermei­ sters und Schultheißen Jacob Webert erinnern an die gängigen Topoi der innerdörflichen Konflikte mit herrschaftlichen Bediensteten.317 Aber eben­ so wie hinter den Familienfehden des 18. Jahrhunderts die beginnende Auseinandersetzung von Klein- und Vollbauern zu erkennen war, stand hinter der Auseinandersetzung in Burghaun um die Besetzung des Vorstan­ des der Austausch der örtlichen bäuerlichen Führungsriege durch Parzel­ lenbesitzer vor dem Hintergrund der Streitigkeiten um die Teilung der Gemeinheiten - ein Konflikt, in dem sich in dem Flecken die Unterschich­ ten wenigstens in der Wahl des Gemeinderates gegenüber den Bauern durchsetzten. Ihr Handlungsspielraum im Vergleich zum bäuerlichen Steinbach spiegelte sich in ihrer Wahlbeteiligung und ihren Wahloptionen wider, durch die ihresgleichen in den Gemeinderat kam.318 Die Bauern wehrten sich gegen diesen Prozeß nach Kräften. Als im Juli 1845 der Kleinbauer Hannes Altstedt zum Nachfolger des Vollbauern Schul gewählt wurde, hieß es in einem anonymen Schreiben an die Regie­ rung in Kassel, Altstedt habe als Gelderheber der Gemeinde große Nachtei187 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

le eingebracht und »nur aus Unverstand hat er durch Versprechungen der Juden, die dann die Christen überredet haben, sich die Stimmen erwor­ ben«.319 Die jüdischen Nachbarn wurden bis zur Mitte des Jahrhunderts nicht nur die Opfer von Konflikten mit der Obrigkeit um die Nivellierung der Ortsbürgerrechte zu einem einheitlichen Staatsbürgerverband, son­ dern auch zu Opfern der vertrauten örtlichen Konflikte zwischen Bauern und Unterschichten um die Macht in der Gemeinde und die Teilung der Gemeinheiten. Über den materiellen Anlaß des gemeindlichen Antisemitis­ mus, des drohenden Ausbruchs der jüdischen Nachbarn aus der rechtlichen Einzäunung minderberechtigter Beisitzer, hinaus wurden die jüdischen Nachbarn von Bauern und Unterschichten benutzt, um den jeweiligen Gegner zu diskreditieren. Durch die Pauperisierung der Juden und der Mehrheit ihrer christlichen Nachbarn, die Politisierung der Emanzipationsfrage und die wachsende direkte und indirekte Partizipation der besonders um ihren Anteil an den Gemeinheiten fürchtenden Unterschichten verschmolz schließlich auch auf dem platten Land, wenn auch wesentlich später und weniger eng als in den Landstädten, der konkrete materielle Anlaß des Konfliktes zwischen unter­ schiedlich berechtigten korporativen Gruppen mit anderen, ohnehin vor­ handenen Ressentiments gegen die jüdischen Nachbarn zu einem allgemei­ nen Ressentiment gegen die jüdische Minderheit. Die Bedeutung dieser Ressentiments war auch außerhalb Kurhessens dort am größten, wo den Unterschichten, im Gegensatz zu den bäuerlichen Dörfern, ein eige­ ner Handlungsspielraum blieb, der die Voraussetzung zur Artikulation ihrer ureigensten Interessen und zur Störung der öffentlichen Ordnung war.320 Dieses Ergebis läßt sich auf die anderen, häufig kleineren und später mediatisierten Territorien des alten Oberrheinischen und Fränkischen Krei­ ses übertragen. Den Landgemeinden fehlte in der Regel der Zugang zu den ständischen Vertretungen, aber die Konflikte um Wasser, Weide und schließlich die Armenversorgung schwelten in territorial unterschiedlicher Intensität seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weiter. Diese Konflikte entwickelten sich auch dort durch die Pauperisierung der christ­ lichen und jüdischen Bevölkerung, die Politisierung des Problems und die wachsende Partizipation der Unterschichten im Vormärz zu einer Abwehr­ reaktion gegen die jüdischen Nachbarn, die die Intensität der städtischen Proteste bisweilen erreichte. Die städtischen Proteste erwiesen sich auch im Vormärz vor allem deswegen als lautstärker, weil die Städte aus Gründen, die in der Verfassungsgeschichte der kleineren Territorien lagen, seit jeher größere Möglickeiten zur Vertretung ihrer Interessen gehabt hatten. Je größer die Chance der Ackerbürgerstädte im neuen badischen, bayrischen oder kurhessischen Staat gewesen war, die Verteidigung ihrer Nahrung 188 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

ständisch zu vertreten, desto ausgeprägter und lautstärker wurde diese ständische Opposition gegen die fürstliche Judenpolitik und schließlich gegen die Emanzipationsgesetzgebung der neuen Staaten.321 Daß in kleinen ländlichen Gemeinden eine Verzichtserklärung der jüdi­ schen Nachbarn auf den Gemeindenutzen auch ohne offene Gewaltanwen­ dung erreichbar und in den bäuerlich-dominierten Gemeinden ein Aufruhr der Unterschichten ohnehin nicht zu befürchten war, darf die Bedeutung dieses ländlich-gemeindlichen Antisemitismus im Konflikt um die Gemein­ heiten als spezifischer Komponente der vielen miteinander verbundenen Antisemitismen nicht verdecken. Weil diese Komponente eine derartige Bedeutung erreicht hatte, richtete sich der Widerstand der ländlichen Unterschichten gegen ökonomische Probleme der Verschuldung und lan­ desspezifische Probleme der Regelung des Zugangs zu den Gemeindelän­ dereien nicht nur gegen die Obrigkeit, sondern seit dem Vormärz auch gegen die Juden. Ein badisches Flugblatt von 1847 rief auf, »Brüder und badische Mitbürger, die Zeit ist da, wo Gott durch seine Hand auserwählt, daß wir unsere Körperkräfte zu unserer Freiheit, die er von Anfang der Welt uns gegeben hat und sie uns wiedergeben will, wenn wir ihm folgen, darum hat Gott den Hunger unter die Menschen geschickt, damit das deutsche Volk aurwache und sich einander liebe wie Brüder, und auch wie Brüder miteinander und einer für den anderen streite. Wir wollen nun sagen, weswegen die Revolution vonstatten gehen soll. 1. Der Adel muß vernich­ tet werden. 2. Die Juden müssen aus Deutschland vertrieben werden. 3. Müssen alle Könige, Herzöge und Fürsten weg und Deutschland ein Freistaat wie Amerika werden. 4. Müssen alle Beamten gemordet werden. Dann wird es wieder gut in Deutschland«.322 Ein fränkischer Dorfbewoh­ ner soll von der Revolution in Nürnberg berichtet haben, »es ist Preßfrei­ heit«, und auf die Frage, »was ist Preßfreiheit? «, geantwortet haben, »Der König ist abgesetzt, man braucht keine Steuern mehr zu zahlen, alle Schulden sind erlassen, die Hypothekenbücher werden verbrannt, die Juden werden aus dem Lande gejagt«. 323 Die Aufrufe der Demokraten in Marburg und Umgebung richteten sich daher nicht nur gegen den Adel, die Beamten, Geistlichen, und gegen die Privilegien der Besitzenden allge­ mein, sondern auch speziell gegen die Rothschilds.324 Der gemeindliche Antisemitismus wandte sich bezeichnenderweise nicht in erster Linie oder allein gegen die Juden. Sie wurden im Zusammenhang mit den Angriffen auf die Obrigkeit und ihre Beamten zu seinen Opfern. Ihre neuen Rechte waren nur eines der vielen Konfliktfelder mit der Obrigkeit um die korpo­ rativen Rechte der Gemeinden. Die Juden wurden daher, wie die Beamten, zum Kristallisationspunkt des gemeindlichen Protestes, weil sich an ihm alle Christen gemeinsam beteiligen konnten. In denjenigen Gemeinden, in denen den Unterschichten dieser Spielraum blieb, wurden die Bürgergar189 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

den der Gemeinden daher auch das Instrument dieses Protestes and führten die Übergriffe an.325 Die Rekonsolidierung des obrigkeitlichen Gewaltmonopols auf dem Lande nach 1849, der Durchbruch der industriellen Revolution in Deutschland mit seinen Folgen für die Beschäftigungschancen der pen­ delnden Unterschichten und die Vollendung der Emanzipationsgesetzge­ bung bis 1867 nahmen der Diskussion um den rechtlichen Status der jüdischen Nachbarn in den 1850er und 60er Jahren ihren Charakter als Gelenk zwischen der Debatte der gebildeten Öffentlichkeit und den For­ derungen der Gemeinden. Seit den 1870er Jahren, noch nicht einmal ein volles Jahrzehnt nach dem Ende der Emanzipation, begann die bürgerliche Öffentlichkeit zwar eine neue Diskussion über den Status und die Rechte der jüdischen Deutschen.326 Das staatliche Gewaltmonopol blieb jedoch unangetastet. Direkte gewaltsame Übergriffe, deren Aufflackern für den Historiker häufig nicht nur den Hinweis, sondern auch die Quellengrund­ lage für die Untersuchung antisemitischer Konflikte liefert, kamen bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges auf dem Lande daher kaum noch vor.327 Für die Bewertung der Folgen des Konfliktes zwischen Gemeinde und Obrig­ keit für die christlich-jüdischen Beziehungen auf dem Lande bis zur Jahr­ hundertwende beginnt damit auch quellentechnisch eine neue Phase. Die in der Forschung einschlägige These, parallel zu dem Abflauen der plötzlichen Erfolge antisemitischer Splitterparteien, aber als Folge der Diffusion ihrer Argumente in die breite Öffentlichkeit, sei zugleich ein Einsickern des Rasseantisemitismus in die deutsche Öffentlichkeit zu ver­ zeichnen,328 speist sich in erster Linie aus parteipolitischen und publizisti­ schen Quellen und Rückschlüssen auf die ländliche Bevölkerung. Sie wird durch die reichhaltige ortsgeschichtliche Literatur über die jüdischen Ge­ meinden auf dem Lande und die Lebenserinnerungen jüdischer, auf dem Lande geborener Deutscher weder im Hinblick auf die Bedeutung des Rasseantisemitismus noch im Hinblick auf die zugrundeliegende Chrono­ logie bestätigt.329 Sie vernachlässigt vor allem die Bedeutung der durch den gemeindlichen Antisemitismus bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verstärk­ ten religiösen Ressentiments. Auf das Verhältnis zwischen den antisemitischen bzw. den antisemitisch argumentierenden Parteien und dem traditionellen Gemeindeprotest wird im dritten Kapitel eingegangen. Die Verflechtung der jüdischen Nachbarn in die Auseinandersetzung zwischen Gemeinde und Obrigkeit wirkte in den Gemeinden in der zweiten Jahrhunderthälfte jedoch auch ganz unab­ hängig davon nach, wie ihre konkrete Wahlentscheidung in den Reichstags­ wahlen des Kaiserreiches ausfallen sollte. Das christlich-jüdische Verhältnis wurde durch eine alltägliche Animosität bestimmt, die der Argumentation der bürgerlichen Presse und ihrer Parteien nicht bedurfte, von ihr aber von 190 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Fall zu Fall ermutigt wurde. Diese Animosität war die Summe der vielen einzelnen Konflikte vor Ort. Sie ähnelten sich in den evangelischen und katholischen Landgemeinden Badens, Frankens und Hessens so sehr, daß sie hier knapp zusammengefaßt werden können. Obgleich die Auseinandersetzung zwischen christlichen und jüdischen Gemeinden um die Finanzierung der örtlichen Armen- und Schulverbän­ de, ein Restbestand des gemeindlichen Antisemitismus als Streit um die örtlichen Ressourcen, anhielt,330 nahm sie keine vergleichbar gewaltätigen Formen mehr an wie im Vormärz und den Revolutionen bis 1848/49.331 Erst die Auszehrung und der zeitweilige Zusammenbruch des staatlichen Gewaltmonopols nach 1914 und insbesondere nach 1918 ermöglichten schließlich auch wieder offene Angriffe auf die jüdischen Nachbarn.332 Die zwischen Christen und Juden unterschiedliche Bewertung der Ereignisse von Vormärz und Revolution,333 die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer deutlicher unterscheidenden Bevölkerungsweisen (Kinderzahl, Heiratsalter, Vor- und Unehelichkeit), Heiratskreise und Bil­ dungsabschlüsse334 und die unverändert starken religiösen Vorbehalte vor allem der Pfarrer335belasteten demgegenüber die christlich-jüdischen Be­ ziehungen zusätzlich. Die durchgehend national-liberal staatstreue Hal­ tung der jüdischen Landbewohner336 unterschied sich ohnehin strikt von den häufig konfessionell und antiliberal wählenden Christen. Aus diesen Bedingungen entstand eine Gemengelage aus beständiger, gegenüber den Anfeindungen der Pfarrer und der Lehrer erstaunlich resistenter Nachbar­ schaftlichkeit selbst in geschlossen antisemitisch wählenden Gemeinden337 und traditioneller gemeindlicher Animosität. Diese Gemengelage wurde durch die Abwanderung der ländlichen jüdischen Bevölkerung in die Städte nicht beseitigt. Die Existenz einzelner sehr wohlhabender jüdischer Bürger und Fabrikanten auf dem Lande338 schuf dagegen zusätzliche Ani­ mositäten. Die regional unterschiedliche Präsenz des bürgerlich-akademi­ schen Antisemitismus339 in Presse- und Parteiwesen ermutigte vereinzelt offene Feindseligkeiten. Die nachbarschaftliche Kooperation innerhalb der Grenzen gegenseitig fest abgesteckter Lebensbereiche schloß auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die der ländlichen Gesellschaft eigene »traditionelle Erbar­ mungslosigkeit« der auch innerhalb der christlichen Gemeinde praktizier­ ten Rüge-, Ausschluß- und Unterordnungsrituale340 nicht aus. Dieser in Brauch und antiklerikaler Frömmigkeit verankerte gemeindliche Antisemi­ tismus341 läßt sich jedoch auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den städtisch-akademischen Einflüssen - durch Pfarrer und Lehrer abgrenzen, auch wenn deren Auswirkungen vereinzelt spürbar wurden. Besonders bei den christlichen Kindern und Jugendlichen trafen die alltäg­ lichen Härten kindlichen Kräftemessens, die Verfolgung der jüdischen 191 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Minderheit und möglicherweise die Beeinflußbarkeit durch Pfarrer und Lehrer zusammen,342 aber auch die Erwachsenen wurden, wenn auch offenbar nur vereinzelt, zu der Veröffentlichung sonst nur unter vorgehal­ tener Hand bewahrter Ressentiments im nachbarlichen Umgang durch die antisemitische Propaganda der Parteien ermutigt.343 Solange die jüdischen Nachbarn die traditionelle Einzäunung als religiöse Minorität und die daraus folgenden besonderen Lasten und dörflichen Statusminderungen nicht einrissen, sondern sich in ihnen einrichteten, und solange das staatli­ che Gewaltmonopol überdies ein gewisses Maß an Rechtssicherheit ver­ bürgte, war ein Nebeneinanderleben auf dem Lande in getrennten Sphären möglich. Der gemeindliche Antisemitismus hatte seine spezifische agrar- und kommunalrechtliche Stoßrichtung und öffentliche Erkennbarkeit zwar weitgehend eingebüßt. Die versteinerte konfessionelle Koexistenz und die praktischen Unterschiede in der Lebensführung hatten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch ein erhebliches Eigengewicht erhalten, welches die jüdischen Nachbarn aus der christlichen Gemeinde ausschloß. Eür den gemeindlichen Antisemitismus waren die Thesen des bürgerlich-akademi­ schen Antisemitismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Fremdartigkeit der Juden daher eine Selbstverständlichkeit, ohne daß deren rassetheoretische Begründungen im einzelnen rezipiert wurden. Diese Gemeinsamkeit ersetzte für die Parteien und Vereine nicht die wenigstens rhetorische Vertretung der materiellen Interessen von Bauern und Tagelöhnern, bot aber in jedem Falle einen Topos, der bei der Werbung um die Dörfer nie schaden würde. Diese Schnittstelle zwischen gemeindlichen Wertvorstellungen und der Politik der gebildeten Öffent­ lichkeit hatte es, traut man dem Schweigen der hessischen Quellen in dieser Hinsicht, im 17. Jahrhundert auf dem Lande so noch nicht gegeben hatte. Der gemeindliche Antisemitismus war trotz seiner Verankerung in Fröm­ migkeit und Brauchtum schließlich kein Erbe der spätmittelalterlichen Vergangenheit, sondern eine Folge der Auseinandersetzung zwischen Ge­ meinde und werdendem Staat seit dem späten 17. Jahrhundert und der seit der Entstehung des Landjudentums durch die Ansiedlung der Landesher­ ren damit immer enger verflochtenen Judenfrage. Seine erneute gewalttäti­ ge öffentliche Artikulation erfolgte daher nicht zufällig als Folge der Schwächung des staatlichen Gewaltmonopols seit dem Ersten Weltkrieg. Die Entstehung des gemeindlichen Antisemitismus verweist nicht nur auf die Bedeutung der Auseinandersetzung von Gemeinde und Obrigkeit, sondern auch auf die selektive Rezeption städtisch-akademischer Wertan­ gebote für die Artikulation des ländlichen Antietatismus, und insbesondere auf die Bedeutung der Kirche. Soweit von Bauern und Tagelöhnern Be­ gründungen für ihre Ressentiments gegeben wurden, reflektierten sie 192

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

jedoch nicht ausschließlich Topoi der christlichen Kirchen von den Chri­ stasmördern, sondern ebenso Werturteile über den minderwertigen Cha­ rakter der jüdischen Nachbarn, über ihre »jüdische Ränke«. Diese nicht mehr im engeren Sinne religiös begründeten Urteile wurden allerdings auch von aufgeklärten Pfarrern um die Wende zum 19. Jahrhundert geteilt und weiterverbreitet. Sie erfüllen erstens die Definition des »chimärischen Antisemitismus«, also der Verdichtung negativer Behauptungen zu einem von allen empirischen Tatbeständen völlig losgelösten Vorurteil. Sie ließen sich zweitens problemlos in andere Begründungszusammenhänge einfu­ gen. Das bestätigt die Skepsis der jüngeren Forschung gegenüber einer zu scharfen chronologischen Abgrenzung von religiösem Antijudaismus und modernem Antisemitismus.344 Auch ohne die Einwirkung des parteipoliti­ schen Rasseantisemitismus hatte sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Grundlage des gemeindlichen und des religiösen Antisemitismus ein »statischer Haß« entwickelt, den keineswegs alle christlichen Nachbarn teilten, der aber die christlich-jüdische Koexistenz insgesamt auf dem Lande auch um die Jahrhundertwende kennzeichnete.345

2.6. Konflikt mit der Obrigkeit und Politik auf dem Dorf III: Bauern, Tagelöhner und Pfarrer, ca. 1850 bis ca. 1900 In einer Eingabe an die für die ehemalige Grafschaft Ziegenhain zuständige Diözesansynode in Treysa beklagte der Synodale und Rentier Ludwig 1892, es sei ihm »stets als ein großer Mangel erschienen, daß für die Untertanen lediglich nur um ein gehorsames Herz, nicht auch für sie um den göttlichen Segen gebetet werde«.346 Ludwigs Kritik an der Kirche scheint manche Vorstellung über Funktion und Rolle der evangelischen Landeskirchen zu bestätigen. Aus der Perspektive der deutschen Geschich­ te des 20, Jahrhunderts erscheint die Kirche allzu leicht als Erfüllungsgehil­ fe der Obrigkeit und als Agent ihrer Sozialdisziplinierung,347 aus der Per­ spektive der sozialgeschichtlichen Forschung türmen sich die strukturellen Probleme des Verhältnisses von Pfarrern und Gemeinde in der Frühen Neuzeit348 und die Erschütterung der Kirchen im 19. Jahrhundert auf.349 Entgegen der Konzeption der Hornberger Synode von 1526 erhielt auch die hessen-kasselische Kirche bereits in der Reformation tatsächlich einen ausgesprochen obrigkeitlichen Charakter, der durch die »Zweite Reforma­ tion« seit 1605 noch deutlicher wurde.350 Auch in den Schwälmer Gemein­ den wurde das Verhältnis von Pfarrer und Gläubigen durch den Streit um 193 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

die Handhabung der Kirchenzucht - insbesondere Aufvvandseinschränkun­ gen bei Trauungen, wenn die Braut bereits schwanger war-, den Ausschluß vom Abendmahl351 und um Dienste und Abgaben für die Kirche bis ins frühe 20. Jahrhundert belastet.352 Dennoch sahen die Schwälmer Pfarrer auch mit Blick auf ihr Verhältnis zu den Gläubigen im späten 19. Jahrhundert keinen Anlaß zur Resignation. Am ersten Tag des neuen Jahrhunderts schrieb der Pfarrer in Zella, Carl Moutoux, in das Tagebuch seiner Pfarrchronik, daß »die Erfolge im Laufe des 19. Jahrhunderts erweisen, daß die evangelische Kirche im Stande und befähigt ist, Weltkirche zu werden.«353 Solcher Optimismus speiste sich auch aus der Bedeutung, welche die Pfarrer seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dem Wackeln (Troeltsch) des städtisch-bürgerlich-akademi­ schen Protestantismus zum Trotz, für die Artikulation der ländlichen Bevölkerung wiedergewannen. Der traditionelle Gemeindeprotest besaß bereits die Rhetorik der geringen Leute, und er ließ sich von Fall zu Fall auf die jüdische Minorität konzentrieren, aber die Pfarrer konnten beides in eine integrierte Sicht der gesamtgesellschaftlichen Krise in einem Zeitraum einbinden, in dem die ländliche Bevölkerung als Wählerschaft zu zählen begann. Drei Entwicklungen trugen seit dem Vormärz zu dieser potentiel­ len Bedeutung der Kirche bei. Erstens reduzierten sich die Reibungsflächen zwischen Pfarrer und Gemeinde. Die Fälle krassen Fehlverhaltens von selten der Pfarrer nahmen ab. Die noch im 18. Jahrhundert eklatanten Vermögensunterschiede zwischen höheren kirchlichen Amtsträgern354 und den Bauern verblaßten gegenüber dem bürgerlichen Reichtum des 19. Jahrhunderts. Nach dem Abflauen der Pauperismuskrise im Vormärz verlor die Sexualzucht der Kirche an Konfliktgehalt, auch wenn die von ihr verfolgten Praktiken wie der Coitus Anticipatus in der Bevölkerung nicht nur lebendig blieben, sondern geradezu zu angestammten Mustern des ländlichen Heiratsverhaltens aufrückten.355 Die kirchliche Repräsentation des ländlichen Antietatismus wurzelte zweitens in der besonderen Bekenntnis- und schließlich antietatistischen Oppositionsgeschichte der hessischen Landeskirche und drittens in der sozialgeschichtlichen Stellung der Pfarrer in der Politik ihrer Gemeinden vor Ort. Diese beiden Momente müssen ausführlicher zur Sprache kom­ men, um die Bedeutung der Landeskirchen und der Religiösität für den traditionellen Gemeindeprotest zu würdigen. Die Entwicklung der alten Landesherrschaften zum modernen Staat zwischen dem späten 17. und dem späten 19. Jahrhundert griff nicht nur in die Gemeinden, ihre Rechte und Besitzstände ein. Sie geriet durch den Wandel der Monarchia Christiana356 zum potentiell säkularisierten Anstalt­ staat mit der Kirche in Konflikt, die ihrerseits über eine lange Tradition der Obrigkeitskritik verfügte und gegenüber bestimmten Spielarten des aufge194 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

klärten Staates geradezu zur »Hüterin und Interpretin vormoderner Wert­ haltungen« für die Gemeinden werden konnte.357 Die hessische Kirche trug zur Entfaltung dieses Potentials nicht erst, aber in besonders intensiver Weise seit dem Vormärz bei. Warum das so war und welche Folgen es für das Verhältnis zwischen Kirche und ländlicher Bevölkerung sowie für die Haltung der Gemeinden zeitigte, ist Gegen­ stand des folgenden Abschnitts. Die reformierten Pfarrer der Schwalm traten bereits in den Auseinandersetzungen um Fronen, Dienste und Abgaben nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges aktiv für ihre Ge­ meinden ein, forderten Abgabennachlässe und Erleichterungen und wand­ ten sich inbesondere gegen vereinzelte Versuche des Niederadels, Fronen und Belastungen auszudehnen. Sie stellten sich beispielsweise in der Aus­ einandersetzung zwischen dem adligen Grund- und Gerichtsherren und dessen landarmen Hintersassen in der Gemeinde Merzhausen 1659 auf die Seite der Tagelöhner und Leineweber, so daß die betroffenen Mitglieder der Ritterschaft dem Pfarrer vorwarfen, »die Juncker geschmäht«, als »stumme götzen« diffamiert und damit die lokale »Obrigkeit vielfältig geschmäht« zu haben.358 Der Pfarrer der Gemeinde Zella stritt sich mit Unterstützung des Konsistoriums bis 1673 mit den von Lüder über Natur­ alliefcrungen und die Kirchenbaugelder und unterstützte die Gemeinden seines Sprengeis gegen die Ritter.359 Diese reformierten Pfarrer taten es damit nicht nur ihren lutherischen Amtsbrüdern in der Auseinandersetzung mit dem Niederadel gleich.360 Sie nutzten Bibel und Kanzel auch zu Frontalangriffen auf die Verstetigung eigentlich außerordentlicher Abga­ ben an den Landesherren zu ständigen Steuern - ein indirekter, aber allgemein verständlicher Stoß gegen die ständig erhobene Kontribution und damit mitten in das Herz frühmoderner Staatsbildung.361 Die Entwicklung einer neulutherischen Richtung innerhalb der hessen­ kasselischen Landeskirche im 19. Jahrhundert reaktivierte auch diese obrig­ keitskritischen Elemente gegen den modernen Staat bis hin zur konservati­ ven Opposition gegen die preußischen Behörden. Diese Entwicklung fußte auf einer Vielzahl unterschiedlicher Entwicklungen. Innerhalb des Neulu­ thertums sind unterschiedliche Richtungen zu unterscheiden. In Kurhessen kam die Reaktion auf die Säkularisierung des Staates in den Revolutionen von 1830 und 1848 und auf die ihnen folgenden Verfassungsreformen hinzu. Der obrigkeitlich intendierte Wandel zu einer unierten Kirchenver­ fassung Kurhessens im Gefolge der Angleichung der hessischen Kirchenver­ fassung mit der neuen Provinz Hanau nach 1815 und die Reaktion auf die preußische Annexion und die kirchenpolitischen Folgen dieser Annexion nach 1866 verschärften die innerkirchlichen Bekenntniskonflikte.362 Als 1838 mit Rücksicht auf den unierten Bekenntnisstand der Kirche der anzuschließenden Grafschaft Hanau ein neues Bekenntnis der hessischen 195 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Gesamtkirche auszuarbeiten war, wurde der bereits andauernde Streit zwischen Symbolgläubigen und Rationalisten innerhalb der Kirche zu einer Auseinandersetzung um ihre Selbstdefinition, der sich auch in Folge der drohenden Säkularisierung des Staates bis 1848 weiter verschärfte. Im Ergebnis kam es zur Konsolidierung einer konservativen und ihrem eige­ nen Verständnis nach lutherischen Richtung innerhalb der hessischen Lan­ deskirche, deren Führer der Theologe August Vilmar wurde. Er wetterte schon 1848 gegen den »religionslosen Staat«, war dezidiert antiliberal und beklagte allein die ineffiziente Praxis der kurhessischen Verwaltung, nicht aber das Regiment des von Gott eingesetzten Fürsten, solange dieser nur seinem göttlichen Auftrag folge. Auf der Synode von Jesberg forderte er daher 1849 die Rückübertragung des landesherrlichen Kirchenregiments auf die Kirche selbst, die Abschaffung der Zivilehe, der Grundlastenablö­ sung und der Einschränkung des kurfürstlichen Oberbefehls über die Truppe. Er begleitete seinen Fürsten 1850 in das Exil. Vilmars Ansichten waren nicht nur unter den Anhängern der Reformbewegung umstritten, sondern auch unter den leitenden Beamten des Kurfürsten. Der kurhessi­ sche Innenminister drohte 1855 mit seinem Rücktritt, falls Vilmar zum Superintendenten der Diözese Kassel ernannt werde. Sieht man von der Frage der Grundlastenablösung ab, welche die ländliche Bevölkerung nachhaltig verunsicherte, in ihrer Treue zum Landesherren erschütterte und noch bis in das Kaiserreich Wahlerfolge des politischen Arms Vilmars, der hessischen Rechtspartei, nachhaltig verhinderte, in Fragen der Zivilehe unterschieden sich seine Ansichten in nichts von denen konservativer Bauernvertreter wie des Sohnes des Wasenberger Bürgermeisters Knoch.363 Es ist im nachhinein schwer zu ermessen, ob der lutherische Konfessiona­ lismus der Grund oder die Folge der sich entwickelnden konservativen Opposition innerhalb der Kirche war.364 Jedenfalls zerbrach wegen der Annexion von 1866 und der Unionspläne des preußischen Staates das letzte Band zwischen dieser konservativen Opposition und dem Staat in Hessen. Ihre exponierten Vertreter gerieten in offene Opposition zur preußischen Krone, ihr politischer Arm, die hessische Rechtspartei, agitier­ te im Kaiserreich gegen die preußische Annexion, und dreiundvierzig Pfarrer der »hessischen Renitenz« wurden, ein »Seitenstück zum Kultur­ kampf«, ihres Amtes entsetzt.365 Der Vergleich mit dem Kulturkampf muß sich nicht auf die äußerliche Parallelität zur Auseinandersetzung der preußi­ schen Behörden mit der katholischen Kirche und ihrem politischen Arm, dem Zentrum, beschränken. In der Substanz kombinierte die hessische Landeskirche ebenso wie die katholische Kirche in Preußen, Baden und Bayern seit dem Vormärz die Erfüllung des traditionellen Bedürfnisses nach Heilsgewißheit unter den Gläubigen und nach sozialem Protest gegen die Härten der heraufziehenden liberalen Markt- und Industriegesellschaft 196 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

unter allen, die sich von der Entwicklung überrollt sahen.366 Das öffentliche Spektakel um die Amtsenthebung der renitenten Pfarrer und die - unbe­ gründeten - Sorgen der preußischen Behörden gegenüber der Hessischen Rechtspartei als möglicher hessischer Neuauflage einer Weifenopposition wie in Hannover dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch ohne dezidierte Parteinahme für das alte Kurhaus der Angriff auf die heraufzie­ hende liberale Marktgesellschaft und das moderne Bildungs- und Wirt­ schaftsbürgertum, schon wegen deren angeblich mangelhafter Kirchlich­ keit, ein Topos für den Protestantismus im Kaiserreich wurde.367 In den meisten Gemeinden wirkten die Pfarrer daher ohnehin energisch gegen Autklärung und Atheismus.368 Dieser generellen Entwicklungstendenz des deutschen kirchlichen Pro­ testantismus verlieh die hessische Lage allerdings eine eigene Würze, wel­ che der ehemalige Niederadel und der laizistische Staat in Konflikten wie z.B. um die Teilungen der Wälder und die Ablösung der Servituten zu schmecken bekam. Ein Fall unter vielen sei geschildert.369 In der Samplege meinde Willingshausen lassen sich die Folgen dieses Konfliktes wie im Brennspiegel verfolgen. Die Familie von Schwertzell berief in ihrer Funkti­ on als Kirchenpatron der Willingshäuser Gemeinde 1846 den jüngsten Bruder des Streittheologen August Vilmar, Leopold Vilmar, auf die Pfarr­ stelle. Während der Pfarrer sich jedoch weigerte, die neuen preußischen Verhältnisse zu akzeptieren, richtete sich die Ritterfamilie, wie schon die meisten hessischen Ritter nach 1806/7 und 1813, so auch nach 1867, in den neuen Verhältnissen ein. Sie nutzten den Reformelan der preußischen Behörden, um ihre Waldung zum Nachteil der Gemeinde von den beste­ henden Servituten zu befreien und stellten bis 1919 den preußischen Landrat im Kreis. Der Pfarrer wurde dagegen von 1870 bis 1873 wegen seiner Agitation gegen Preußen vom Dienst suspendiert. Vilmar, der »die Annexion von 1866 nie [hatte] verwinden« können, wurde im Verlauf der Auseinandersetzung mit dem preußischen Staat jedoch auch zum Gegner seines Repräsentanten vor Ort, der Familie von Schwertzell. Er nahm die Konflikte dieser Familie mit ihrer Gemeinde um die Ablösung der Servitu­ ten zum Anlaß, sich zum »Sachwalter der Rechte seiner Gemeinde« zu machen und jeden Sonntag von der Kanzel gegen seinen Patron zu predigen, bis dieser sich gezwungen sah, seine eigene Kirche zu räumen und des Sonntags in der Nachbarkirche in Merzhausen zum Gottesdienst zu gehen. Zurück blieben nur Bedienstete der von Schwertzell, die an den Sonntagen die Predigten des Pfarrers protokollierten, um auf mögliche Alklage- und Suspendierungsgründe zu stoßen. Die Gemeinde honorierte Vilmars Verhalten, seine Kirche wurde immer geschlossener von den aufge­ brachten Bauern und Tagelöhnern aufgesucht. Eben diese geschlossene Unterstützung hinderte schließlich die Kirchenhierarchie, ihn weiter zu 197 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

maßregeln.370 Das Maß an Zustimmung und Rückhalt für Vilmar durch seine Amtsbrüder, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, zeigte sich nicht erst bei seinem Begräbnis 1898. Bei anderer Gelegenheit widersetzten sich 1878 Pfarrer Moutoux, der uns später noch als Gegner der Nationallibera­ len und Vorkämpfer der Konservativen im Kreis begegnen wird, und mehrere andere Pfarrer der Besetzung einer Ziegenhainer Pfarrstelle mit einem Kandidaten, der nicht aus der alten hessischen Landeskirche stamm­ te.371 Die Dynamik der kirchlichen Opposition läßt sich jedoch nicht allein aus den landesgeschichtlichen Wurzeln des hessischen Kirchenkampfes und der protestantischen Kulturkritik verstehen. Die Pfarrer auf dem Lande standen gerade den kontroversen und daher profilierten Theologen der akademi­ schen Lehrstühle mindestens so fremd und ablehnend wie ihre Gemeinden gegenüber, wenn sie sie überhaupt zur Kenntnis nahmen.372 Vielmehr muß man sich auch die Lage der Pfarrer in den ländlichen Gemeinden vor Augen führen. Traditionelle Frömmigkeit, lokale Machtverhältnisse und örtlich aufflackernder Antiklerikalismus bestimmten das Verhältnis zwischen dem Pfarrer und der Gemeinde. Die an der Vertrautheit der einmal anerkannten und für gut und richtig befundenen Glaubensformen orientierten ländli­ chen Gemeinden373 hielten am Kirchgang und am Abendmahl bis ins 20. Jahrhundert eisern fest - sofern die Kommunikantenziffern diese Aussage erlauben.374 Trotz ihrer Interpretationsprobleme375 zeigen sie, daß dem Rückgang der Abendmahlsgänger in den städtisch beeinflußten Gebieten kein vergleichbarer Rückgang der Kirchlichkeit in dem ost- und mittelhes­ sischen Gebiet zwischen Eder und Werra entsprach. Insbesondere in der Diözese der Samplegemeinden blieb das Abendmahl bis zum Ersten Welt­ krieg ein Bedürfnis ersten Ranges für die Gläubigen, das sie in Kontakt mit der Kirche und ihren Pfarrern hielt, aber auch die Bedeutung der dörflichen Presbyter unterstreicht, die sich wiederum aus den Bauern rekrutierten und auch auf die Kirchenzucht Einfluß nehmen konnten.376 Gerade in den klassenübergreifenden Religionssachen konstituierte sich wenigstens in den großbäuerlichen Gemeinden (Typ IIIb) die unangefochtene Vormachtstel­ lung der großen Bauern im Presbyterium.377 Auch im Hinblick auf die in den Visitationsberichten dokumentierte Frömmigkeit unterschieden Gemeinden vom Typ IIIa und IIIb charakteri­ stisch. Im bäuerlich dominierten Wasenberg (IIIb) pflegte die Gemeinde zu voller Zufriedenheit des Pfarrers die »christliche Sitte«. Gleiches galt für das Bauerndorf Holzburg. Regelmäßig zurückhaltender klangen die Be­ richte aus Kleinstädten oder Tagelöhnergemeinden (I-IIIa). In Schwarzen­ born im Knüll (II) »verachteten« etliche das Abendmahl, »die Trunksucht kommt, wenn sie auch nicht überall herrscht, so doch in verhältnismäßig vielen Familien vor«, ja, der Bürgermeister weigere sich sogar, die Rück198

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

stände aus der Kirchenrechung weiter aus der Stadtkasse zu bezahlen. Gegenüber nach wie vor aus kirchlicher Sicht verbreiteten Unsitten wie den Spinnstuben ging die Kirche nun mit Nachsicht vor, denn sie wußte, wie sich ein Pfarrer erinnerte, daß sie »auf den größten Widerstand stoßen würde, wollte [sie] eine Jahrhunderte währende Sitte mit einem Male ausrotten«. Von den insgesamt neunundzwanzig Orten, von denen Visita­ tionsberichte aus dem Kreis Ziegenhain vorliegen, äußerten sich die betrof­ fenen Pfarrer jedoch insgesamt positiv, wenn sie auch in den Tagelöhnerge­ meinden ohne vergleichsweise klare bäuerliche Dominanz die Trunksucht der Handwerker beklagten und die größere »Mäßigkeit« der Bauern her­ vorhoben.378 Es war weniger die mangelnde Kirchlichkeit als erstens der disziplinieren­ de Zugriff der Pfarrer durch die Verweigerung des Abendmahls, der in dieser Lage Konflikte zwischen Pfarrer und Gemeindemitgliedern auslö­ ste.379 Neben der Verstrickung in dörfliche Fehden gerieten die Pfarrer zweitens durch die Versuche des preußischen Staates, seine Landeskirchen zu vereinheitlichen und die hessische Kirche in sie zu integrieren, potentiell in die Front zwischen Staat und Gemeinde. Die Einführung einer neuen Agenda und neuer Gebetsbücher durch das preußische Konsistorium löste in Tagelöhnerorten wie Merzhausen (IIIa) und Frankenberg (I) ebenso wie in bäuerlichen Dörfern wie Caldern Protest aus.380 In charakteristischem Gegensatz zu einem großbäuerlichen Dorf wie Wasenberg, dessen Fröm­ migkeit sich in einwandfreier Haltung bei der Visitation und der gelegent­ lichen Instrumentalisierung von Sittengesichtspunkten bei Streitigkeiten um Land äußerte,381 war die Tagelöhnergemeinde Merzhausen ihrer unge­ bärdigen Einwohner und ihres robusten Antiklerikalismus wegen unter der Pfarrerschaft der Gegend geradezu berüchtigt.382 Der erbitterte Wider­ stand der Tagelöhner Merzhausens und anderer Orte gegen die neue Agenda von 1896 und die Einführung der neuen Gesangbücher von 1910, der sogar zu einer Eingabe beim preußischen Kultusministerium führte, und die parallel wie von alters her geführten alltäglichen Angriffe gegen den örtlichen Pfarrer383 charakterisieren gut die antiklerikale Frömmigkeit der ländlichen Unterschichten und die antiobrigkeitliche Haltung der gesam­ ten Gemeinden gegen disziplinierende Eingriffe von außen.384 Der Pfarrer hatte sich die Bauern und Tagelöhner aber nicht nur zum Feind gemacht, weil er im Gegensatz zu Pfarrer Vilmar die Anordnungen der preußischen Kirchenobrigkeit befolgte, sondern er hatte auch andere Gemeindemitglie­ der öffentlich in seinen Predigten bloßgestellt.385 Die Bedeutung der dörflichen Ehre als vollwertiges christliches Gemein­ demitglied darf gerade für die Unterschichten, die mit ihrem Landbesitz in der dörflichen Werthierarchie nicht mithalten konnten, nicht unterschätzt werden. In einer Beschwerde vom Mai 1901 gegen einen Pfarrer, welcher © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

199

dem Beschwerdeführer das Abendmahl verweigert hatte, hieß es, »Hoch­ werter Herr Subberdent [i.e.Superintendent], ich will ihnen mal erzählen, was hier unser Pfarrer macht und schon gemacht hat mit uns, wir sind hier mit unseren Alten, also mit unsren Eltern im Streit, und darüber sollen wir nicht zum Heiligen Abendmahl gehen ... aber wir finden kein Recht beim Pfarrer und sind wir doch Christen und wollen doch auch gern bleiben was wir sind und bitt ich sie um Rath und sagen sie uns bitte mahl wie wir das Heilige Abendmahl sollen empfangen ... er reibt sich an so viel der Herr Pfarrer was ihn nicht angeht«. Die Beschwerde wurde kaum vier Wochen später wiederholt. »Hochwürdiger Subberdent, ich muß ihn noch mal schreiben und sie fragen, wie die Sache werden soll. Und ich bitte schreiben Sie uns, ob wir sollen zum Abendmahl gehen oder nicht, sonst werden wir uns weiter beschweren, den Pfarrer geht die Sache ganz und gar nichts an ... über uns es gibt noch recht«.386 Die Veränderung der hergebrachten Agenda durch die Obrigkeit traf daher auf den Widerstand gerade der Unterschichten. Daher erhielten die Presbyter 1907 erneut das Recht, entgegen geltendem bürgerlichem Recht Selbstmörder vom Begräbnis in der Gemeinde auszuschließen, um der Frömmigkeit der Bevölkerung ent­ gegenzukommen,387 und es kam in Görzhain 1897 fast zum Krawall, als die Leiche des Ortsarmen Rath, der im Dezember in seiner Stube übers Wochenende verstorben war und am Montag entdeckt wurde, nach Mar­ burg zur Chirurgie verbracht werden sollte. Im Dorf kursierten Gerüchte, der Bürgermeister habe diese Nutzung der Leiche aus Rache angeordnet, und dieser verbat sich in einer Beschwerde Hinweise des Pfarrers bei der Predigt auf den Tod des Tagelöhners.388 Äußerste Empfindlichkeit gegenüber Äußerungen der Pfarrer und zähe Anhänglichkeit an die gewohnte Liturgie konnten die Beziehungen der studierten Pfarrer gerade zu den Unterschichten, zumindest wo den Tage­ löhnern der entsprechende Handlungsspielraum blieb, völlig zerrütten.389 Es ging bei den Streitigkeiten zwischen Pfarrer und Gemeinde, vom aus kirchlicher Sicht unvermeidlichen Konflikt um die Agenda abgesehen, regelmäßig um persönliche Zwistigkeiten, in denen die Pfarrer ihre Amts­ macht als Trumpf in die Auseinandersetzung geworfen hatten und die empörte Beschwerde ihrer Gemeindemitglieder ernteten. Die Kirche woll­ te aber keinen Streit mit ihren treuesten Gläubigen. Das Konsistorium erteilte im Oktober 1898 dem Sachsenhagener Pfarrer einen »strengen Verweis«, weil er sich in Gemeindestreitigkeiten eingemischt und mit Lehrer und Kirchendiener Streit gesucht hätte.390 Die studierten Pfarrer trafen zwar auf die »Anmaßung«391 der reichen Bauern und die Grobheiten der Tagelöhner, deren Lebensgewohnheiten vor allem hinsichtlich des Branntweinkonsums und der generativen Verhal­ tensweisen kaum mit den Vorstellungen der Pfarrer vereinbar waren.392 Sie 200 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

blieben aber auf die materielle Unterstützung ihrer Gemeinde ebenso bitter angewiesen wie umgekehrt die Gemeindemitglieder in immaterieller Hinsicht auf den Empfang von Taufen und Abendmahl und die Anerken­ nung als christliches Mitglied der dörflichen Gesellschaft. Von Konfronta­ tionen zwischen Pfarrer und Gemeinde wollte letztlich auch das Konsisto­ rium nichts wissen. In den großbäuerlichen Gemeinden der Lehnlandbau­ ern wie Wasenberg hing unter diesen Bedingungen ein erfolgreiches Arran­ gement zwischen Pfarrer und Gemeinde von der Bereitschaft des Pfarrers ab, sich nicht in die internen Streitigkeiten der Bauern einzumischen und deren Ehe- und Hochzeitsbräuche nicht zu reglementieren. In den Ge­ meinden, in denen wie in Merzhausen und Willingshausen Tagelöhner und Handwerker einen größeren Handlungsspielraum besaßen, war es mit dem Wohlwollen der Bauern nicht getan. Die Unterschichten, so sozial und kulturell fremd sie dem Pfarrer erscheinen mochten, wollten gewonnen sein, sollte das Leben auf dem Lande auch für den Pfarrer erträglich bleiben. Bei den Landpfarrern wie in Willingshausen oder Wehrda schließt sich der Kreis aus theologisch innerkirchlicher Opposition gegen den säkulari­ sierten und liberalisierenden preußischen Staat und seine Herrschaftsträger und den sozialhistorischen Bedingungen, denen ländliche Gemeindepfar­ rer gegenüber einer genuin frommen, aber traditionelle Wertvorstellungen verteidigenden Bevölkerung unterworfen waren. Diese Pfarrer lagen als Führer der Kirchgemeinde mit ihren Rittern im Streit und vertraten dabei zugleich die sozialen Belange der tagelöhnernden Gemeindemitglieder gegenüber dem Adel und der Obrigkeit in den Wald- und Ablösungsfragen. Die Anhänglichkeit der Bevölkerung wurde ihr Lohn. Noch im September 1876 berichtete beispielsweise Vilmar, die männliche Bevölkerung bleibe weitgehend vom Gottesdienst fern. Bis zu diesem Jahr hatte sich der Konflikt mit seinem Patronatsherren jedoch so verschärft, daß Baron Schwertzell sich aus seiner eigenen Gemeindekirche zurückzog. Vilmars Ersatz, Pfarrer Gundlach aus Merzhausen, bekam die wachsende Solidarität der Willingshäuser Bauern und Tagelöhner mit dem Opfer der staatlichen Repression zu spüren, und »erklärte kategorisch, er wolle hier die Kanzel nicht mehr betreten«. Sogar in Gundlachs Stammgemeinde konsolidierte sich die Opposition gegen den Pfarrer, der das Sprachrohr der Nachbarge­ meinde zu ersetzen versucht hatte. Vilmars Position wurde in der Folge durch die Haltung der Willingshäuser und Merzhäuser Opposition gegen Gundlach so stark, daß er schließlich seinem Superintendenten mit Folgen für die Ruhe unter den Gläubigen drohen konnte: »Soll[te] meine Gemein­ de noch mal einen Miethling bekommen - bedenken Sie die Folgen wohl, Herr Superintendent.« Im Mai 1872 lehnte der Wasenberger Pfarrer die Vertretung Vilmars ab. Vilmar konnte auf die Kanzel zurückkehren und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

201

festigte seine Position in der Gemeinde in der Folge so nachhaltig, daß er 1881 die anberaumte Beerdigung einer von Schwertzeil in der Patronats­ kirche behindern konnte. Friedrich von Schwertzeil, der Bruder Georgs, teilte dem Superintendenten mit, Vilmar sei es »undenkbar ..., daß die in Willingshausen wohnhafte Familie von Schwertzell öffentliche Leichenfei­ erlichkeit beanspruche, da sie sich seit acht Jahren von der Willingshäuser Kirche ausgeschlossen hielte«. Bei der Leichenpredigt verweigerte die christliche Gemeinde Willingshausen kollektiv die Teilnahme. Außer den Gutsbediensteten der Schwertzells nahmen nur die Ortsjuden an der Beerdigung teil und standen damit ebenfalls demonstrativ außerhalb der christlichen Gemeinde. Vilmar suchte das Läuten der Dorfkirche im An­ schluß zu verhindern, und Schwertzeil mußte die Glocke seiner Patronats­ kirche schließlich selbst läuten. Vom Superintendenten hierauf mit dem Recht des Patronatsherren konfrontiert, jederzeit Familienmitglieder in der Patronatskirche mit Geläute beerdigen zu lassen, antwortete Vilmar mit einer eigenen Beschwerde gegen die Schwertzells, die sich von der christlichen Kirche »losgesagt hätten«.393 Das neulutherische Selbstverständis Vilmars zu Obrigkeit und Gemeinde wird in einem Brief vom September 1888 deutlich, in dem er auf die Tatsache der Abwesenheit der adligen Familie von der Kirche hinweist, damit die Verweigerung der Beerdigung rechtfertigt und mithin deren Unterwerfung unter seine Predigten fordert - Predigten, in denen er ihre Haltung in der Ablösungsfrage kritisierte und emphatisch gegenüber dem adligen Landrat einforderte, »zwischen Hoch und Niedrig [dürfe, R. v. F.] kein Unterschied gemacht werden und es wird der hiesigen Christenge­ meinde zum Anstoß und Ärgernis gereichen, wenn ein Unterschied ge­ macht würde«. Vilmar focht in seinen Augen einen über Jahrhunderte verlaufenden Konflikt der ecclesia renitens mit den Rittern und ihrer »Ver­ achtung des jeweiligen Predigtamtes. Schon vor 300 Jahren verfolgte der damalige Schwertzell den damaligen Pfarrer«. Ein anderer Pfarrer bestritt in Wehrda dem örtlichen Ritter mit demselben Argument, er gehöre nicht mehr zur örtlichen Kirchgemeinde, und prozessierte gemeinsam mit den Kirchenältesten noch 1908 gegen den Ritter um dessen Patronat und die freie Verfügung über seinen Waldbesitz, die ihm nun nicht mehr zustehe.394 Der sich seit 1867 anbahnende Konflikt zwischen Pfarrern und Gemein­ den einerseits gegen die ehemaligen ritterlichen Grundherren bzw. gegen­ wärtigen Waldbesitzer und die preußische Verwaltung andererseits schwel­ te je nach den Umständen bis über die Jahrhundertwende weiter, im Falle Willingshausens bis zum Tode Vilmars 1898, im Falle Wehrdas beispiels­ weise bis über die gerichtliche Entscheidung zugunsten des Ritters von 1908 hinaus.395 Die örtlichen Unterschichten sahen ihre Interessen als 202 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Viehbesitzer und Holzkonsumenten gegenüber der Obrigkeit in beiden Fällen in ihrer Eigenschaft als Mitglieder der Kirchgemeinde vertreten. Obwohl der neulutherische Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts in vieler Hinsicht nur wenig mit dem Luthertum des 16. Jahrhunderts oder der Orthodoxie des 17. Jahrhunderts gemein hatte, wurde auch die luthe­ rische Obrigkeits- und Sozialkritik durch die neulutherische Bewegung innerhalb der eigentlich reformierten hessischen Kirche, wenigstens bei ihren profilierteren Vertretern, wieder nach oben geschwemmt.396 Sie ver­ liehen dem traditionellen Gemeindeprotest der Bauern und Tagelöhner deshalb so erfolgreich ihre Stimme, weil sie auch den sozialen Interessen der Tagelöhner Unterschlupf boten, ohne die Bauern auszugrenzen. Ge­ genüber den Behörden und dem Staat gaben sie ihren sozialen Interessen »ideellen Gehalt, Stringenz und Massenwirkung« (Schilling). Dieser Ge­ meindeprotest grenzte zugleich die christliche Gemeinde jedoch nicht nur von den Junkern und der Obrigkeit ab, sondern auch von den nichtchrist­ lichen Ortsjuden, die beispielsweise im Gegensatz zur Gemeinde an der Beerdigung der Schwertzeil in Willingshausen teilnahmen und denen als Revanche beim Dorffest 1887 die Fenster eingeworfen wurden. Das waren die beiden großen Unterschiede des Aufruhrs im späten 17. Jahrhundert zum traditionellen Gemeindeprotest im späten 19. Jahrhundert. Tagelöh­ ner und Bauern agierten im Gegensatz zu den Vorfällen von Merzhausen 1659 gemeinsam, und die Juden blieben stattdessen außen vor.397 Pfarrer Vilmar war, obwohl Bruder des Konflikttheologen August Vilmar, im Hinblick auf die Schärfe und Offenheit der Auseinandersetzung kein Sonderfall. Der Pfarrer in Wehrda focht beispielsweise mit ebenso harten Bandagen. Vilmar gehörte noch nicht einmal zu der Minderheit der dreiundvierzig renitenten Pfarrer, sondern hielt sich weit genug zurück, um nicht endgültig suspendiert zu werden. Die religiöse Untermauerung des traditionellen Gemeindeprotestes läßt sich ohnehin auch in anderen Ge­ meinden beobachten. Pfarrer Riebeling in Zella, der dort zwischen 1874 und 1883 wirkte, geriet 1877 ins Kreuzfeuer des preußischen Konsistori­ ums, weil er in einer Predigt die Obrigkeit offen angegriffen hatte.398 Sein Nachfolger Carl Moutoux verfolgte aufmerksam die Entwicklung im Nach­ barkirchspiel Willingshausen, besaß ebenso wie Vilmar ein ausgeprägtes Sendungsbewußtsein als Prediger und barg und verbreitete Ressentiments gegen die Treysacher Juden. 1877, noch kurz vor seinem Amtsantritt in Zella, veröffentlichte er in der Kreiszeitung Angriffe auf den nationallibera­ len Abgeordneten Wehrenpfennig, den er als Börsenschwindler denunzier­ te. Ein anderes Kirchenmitglied prangerte im gleichen Jahr die angeblich unredlichen Praktiken jüdischer Viehhändler in der Kreiszeitung an, und ein Pfarrer aus Ottrau brachte in antisemitischen Wahlversammlungen die Zufriedenheit der Gemeinde mit dem Vortrag zum Ausdruck. Es war ein 203 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Gruppenführer und Vorsitzender des Zweigvereins Ziegenhain des Evan­ gelischen Bundes, Pfarrer Cornelius aus Niedergrenzebach, der sich in einer Beilage der Ziegenhainer Kreiszeitung vom Januar 1912 als Mitglied der antisemitischen Deutsch-Sozialen Partei seit fünfundzwanzig Jahren zu erkennen gab und als Gründe für seine Mitgliedschaft unter anderem die »Zurückdrängung des Judentums« und die »Ordnung unserer sozialen Zustände nach dem Geist und Sein des deutschen Volkes« aufführte. Andere Pfarrer suchten in den dörflichen Wahlveranstaltungen im Winter 1911/12 den antisemitischen Kreiskandidaten gegen die gegen ihn erho­ benen Vorwürfe zu verteidigen.399 Die innerkirchlich konservativ-theologische Opposition gegen den libe­ ralen Staat seit der Revolution von 1830 verband sich mit dem Gemeinde­ protest gegen die erneut aufflammende Ablösungsfragc seit 1867 und dem sozialen Protest der Tagelöhner seit dem Beginn der »Großen Deflation« von 1873. Die Kirche vermittelte besonders den Unterschichten ein eige­ nes Selbstwertgefuhl als vollberechtigte Mitglieder der Kirchgemeinde, das ihnen weder das bäuerliche Besitzstandsdenken noch die Gesamtgesell­ schaft geben konnte. Die Frömmigkeit der Unterschichten war insofern ein Aspekt der sozialen Dimension des traditionellen Gemeindeprotestes. Die Kirche erntete diese Bedürfnisse der Unterschichten, weil sie ihnen einen Ausdruck gab, der sich nicht gegen die Bauern, sondern gegen die Obrig­ keit und die außerdörfliche Welt richtete und daher innerhalb der Gemein­ den praktikabel war. Die Auseinandersetzung mit dem werdenden Staat führte Gemeinden und Kirche zusammen und formte dadurch indirekt die Artikulation und das Selbstverständnis der ländlichen Bevölkerung. Für die frommen ländlichen Gemeinden erhielt die Kirche seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Bedeutung, die im krassen Gegensatz zur Säku­ larisierung der Städte und zum Kulturprotestantismus des gebildeten Bür­ gertums stand und die Gemeinden nicht nur von ihrem ureigensten Geg­ ner, dem Staat, sondern zunehmend auch von den Gegnern der Kirche, der Stadt und der modernen liberalen Gesellschaft, trennte.

2.7. Konflikt mit der Obrigkeit und Politik auf dem Dorf IV: Die Kriegervereine in der ländlichen Klassengesellschaft Neben der Kirche gab es im Kaiserreich in Gestalt des Vereinswesens und der populären Trivialliteratur eine Fülle konkurrierender Einflüsse auf die ländliche Bevölkerung. Zwischen Eder und Werra besaßen vor allem die Kriegervereine für die Gemeinden im allgemeinen und für die ländlichen 204 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Unterschichten im besonderen womöglich eine an die Kirche heranrei­ chende Bedeutung. Sie boten besonders den Unterschichten als erste und einzige Organisationsform der außerdörflichen Gesellschaft eine Mischung aus Geselligkeit und Werthaltung, welche die Unterschichten zu ihrer eigenen machten und durch die sie ihre eigenen Ziele und Bedürfnisse gegenüber der außerdörflichen Welt, aber auch gegenüber den Bauern artikulierten. Um diese Bedeutung der Kriegerve reine für die ländlichen Unterschichten zu verstehen, müssen zunächst die Hürden der Rezeption außerdörflicher Ideen für diese Unterschichten vergegenwärtigt werden. Das weltliche Ideen- und Wertangebot der städtisch-bürgerlichen Welt mußte drei Hürden bewältigen, um auf die Unterschichten einwirken zu können. Erstens wurden alle Ideen durch Bauern und Tagelöhner selektiv rezepiert, weil sie von Vertretern der Obrigkeit stammten und auf eine gegenüber der städtischen zunehmend fremde Lebenswirklichkeit stießen. Zweitens mußten sie für Bauern und Unterschichten akzeptabel sein. Sie durften die dörfliche Nachbarschaftlichkeit nicht gefährden. Aber drittens mußten sie den Unterschichten darüber hinaus ein eigenständiges Selbst­ wertgetuhl im Unterschied zu dem bäuerlichen Besitzstandsdenken anbie­ ten, so wie das der Status als vollwertiges christliches Gemeindemitglied bereits tat. Es wurde zudem auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Behörden400 und durch die Gegenstände der aus der Stadt rezipierten populären Unterhaltung vorstrukturiert. Auf der Suche nach verbotenen Druckschriften im Kreis stießen die Gendarmen in der Schwalm zwischen 1866 und 1893 beispielsweise auf die »Liebesgeschichten einer schönen Viehhändlerin«, die »Reisen und galanten Abenteuer der bärtigen Louise« und zweiundzwanzig weitere Titel, zu denen auch die »wunderbaren Erscheinungen einer armen Dienstmagd in der Pfarre Kirchdorf«, aus der Zeit des hessischen Kirchenkampfes ein Exemplar von »Bismarck wider Christus« und 1888 eine Nummer des antisemitischen Reichsgeldmono­ pols zählten.401 Wanderbühnen mit Stücken wie »Fridericus Rex«, »Nach Tisch in Sancoussi«, »Der dritte November 1760«, »Friedrich der Große und Maria Theresia«, der Trilogie »Drei Siege«, »Königin Louise« oder »Der Philosoph von Sanscoussi und die junge Antoinette« runden dieses Bild der Dominanz bürgerlich-nationaler Vergnügungsliteratur unter den säkularen Schriften ab.402 Die erste Hürde der Rezeption städtisch-bürgerlicher Ideen war die Lebenswirklickeit der ländlichen Klassengesellschaft und die Ablehnung des obrigkeitlichen Eingriffs in das dörfliche Leben dort, wo sie als offen­ sichtliche Unterordnung unter die Obrigkeit verstanden werden mußte. Im Ergebnis schälte sich parallel zur Rezeption städtischer Vorbilder eine gegenüber dem Wandel der städtischen Welt sperrige und daher von ihr 205 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

immer unterscheidbarere Lebensweise heraus. Carl Bantzer traf bei seiner Suche nach geeigneten Statisten für sein Abendmahl-Gemälde nicht zu­ letzt deswegen überwiegend auf ihm ungeeignet erscheinende und zeitge­ nössischen Vorstellungen bürgerlicher Respektabilität wenig entsprechende betrunkene Tagelöhner, weil besonders der Branntweinkonsum nicht nur ein Betäubungsversuch gegenüber der Härte der Erntearbeit, sondern als Staubschnaps auch eine Folge der strategischen Personalisierung der Gesin­ deverhältnisse war403 - mit Folgen für den Zustand der Schwälmer Tagelöh­ ner, die sich bis in die 1930er Jahre abzeichneten.404 Der Kirche war es trotz ihrer fortgesetzten Bemühungen nicht gelungen, die im Vormärz angestie­ gene Illegitimität wieder zurückzudrängen, die ebenfalls von der Kirche systematisch bekämpfte voreheliche Konzeption war sogar zu einem festen Bestandteil der ländlichen Bevölkerungsweise in der Schwalm geworden.405 Selbst die scheinbare Entente Cordiale bürgerlicher und dörflicher Öffent­ lichkeit, die zahlreichen Sedans- oder Missionsfeste unter Beteiligung örtli­ cher Trachtenträger, fanden, sofern obrigkeitlich organisiert, oft nur gegen das Widerstreben der beteiligten Dorfbewohner statt, die sich nicht ausstel­ len lassen wollten.406 Umgekehrt wehrten sich Bauern und Tagelöhner in den Gemeinden energisch, wenn ihre eigenen Feste wegen der in ihnen zum Ausdruck kommenden und bürgerlichen Anschauungen zuwiderlaufenden Gewalttä­ tigkeit reglementiert wurden. Das läßt sich besonders gut an der großbäu­ erlichen und von der Kirche als besonders fromm bewerteten Gemeinde Holzburg veranschaulichen.407 Dort war nach mehreren Schlägereien, in denen die Söhne des großbäuerlichen Bürgermeisters im Juli 1888 mit Knüppeln und Steinen bewaffnet andere Jugendliche durch den Ort ge­ jagd, »geschlagen, gestoßen und getreten« und schließlich in der Orts­ schenke, in die sie geflüchtet waren, förmlich belagert hatten, der jährliche »Probetanz«, das traditionelle Dorffest, untersagt worden. Der örtliche Bürgermeister war schließlich nicht eingeschritten. Seine Söhne hatten obendrein die Forstsetzung der Jagd angedroht.408 Als im übernächsten Jahr der Probetanz wieder verboten werden sollte, weil erneut Schlägereien vorgekommen waren, verwandten sich in einer Bittschrift am 12. Juli 1890 fünfunddreißig Holzburger für die Genehmigung des Festes. Es gebe keine prinzipiellen ortspolizeilichen Einwände. Zwar habe »Pfarrer Daube einen Bericht dagegen gemacht ... und die hiesige Jugend als unmenschlich hingestellt ...«, es liege darin aber eine »zu große Übertreibung der hiesigen Jugend«. Wohl habe es Streit zwischen einigen Burschen gegeben, »und fällt letzteres nicht überall vor? Dies fällt vor zwischen arm und reich und hoch und niedrig ... Wie soll man da häufig Duelle zwischen Studieren­ den und den Herren Offizieren bezeichnen, soll das auch unmoralisch sein? Wir können nicht begreifen, warum ein ganzes Dorf wegen einer strafbaren 206 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Handlung eines Einzelnen leiden soll!« Der Widerstand gegen die obrig­ keitliche Bevormundung schloß einerseits die mit dieser identifizierte bür­ gerlich-obrigkeitliche Welt - Studierende und Herren Offiziere - ein und forderte andererseits emphatisch die Gleichbehandlung von »hoch und niedrig, arm und reich«. Die Gemeinden schlossen sich hier an die Polemik der Pfarrer gegen die Ritter an und übertrugen sie auf andere Konfliktge­ genstände. Die Liste der fünfunddreißig Petenten wurde von einem sieb­ zigjährigen Auszögner und fünf Großbauern angeführt, denen sich der Gastwirt, in dessen Haus sich die Verfolgten verschanzt hatten, und schließlich einige Tagelöhner des Ortes anschlossen. Die Bauern waren unter den Petenten zwar überrepräsentiert, Bauern und Unterschichten zogen aber an einem Strang.409 Zu dieser sich seit dem 18. Jahrhundert in den großbäuerlichen Gemeinden abzeichenden gemeinsamen Haltung der beiden sozialen Klassen gab es für die Unterschichten nicht nur aufgrund ihrer materiellen und sozialen Lage ohnehin keine grundsätzliche Alterna­ tive. Gegenüber Eingriffen der Obrigkeit in Gemeindebelange und im Rahmen der immer wieder geäußerten Ressentiments gegen die jüdischen Nachbarn,410 die Beamten und den Staat411 deckten sich ihre eigenen Ziele schließlich tatsächlich häufig mit denen der Bauern. Die zweite Hürde war die Akzeptanz neuer Ideen und Werthaltungen durch die Bauern. Sie legten sich zwar ihrem Besitz entsprechende und sie von den Unterschichten unterscheidende Statusmerkmale zu, durften aber ihrerseits nicht ohne weiteres offen provoziert werden. Beispielsweise wur­ den die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts von städtischen Fabrikanten durch die wohlhabenderen Bauern käuflich erworbenen Schwälmer Trach­ ten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch von den Tagelöhnern getragen, sofern ihre Erwerbslage ihnen das gestattete. Die Photographien von Schwälmer Kirmeszügen aus den frühen 1890er Jahren zeigen eine fast einheitlich in Trachten gekleidete Dorfbevölkerung. Seit der Jahrhundert­ wende verloren die Trachten unter der männlichen Bevölkerung dagegen wieder an Boden und wurden zu einer Domäne der Frauen.412 Die Trach­ ten waren in einer Zeit stagnierender Gesinde- und fallender Reallöhne413 unter den Bauern in Gebrauch gekommen und unterschieden sie von den Unterschichten. Ihr Erwerb durch die Unterschichten kennzeichnete da­ her zunächst nur ein Gleichziehen mit dem bäuerlichen Lebensvorbild. Demgegenüber boten die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts florieren­ den Kriegervereine vornehmlich den Unterschichten die Möglichkeit, sich innerhalb der Gemeinden und unter bäuerlicher Duldung ein eigenes Betätigungsfeld zu erschließen. Sie bezwangen dadurch auch die dritte Hürde. In den Kriegervereinen fanden die Unterschichten, je nach dem Gemeindetyp in unterschiedlichem Maße, eine eigene Heimstatt und einen Ort der Selbstbestätigung. Diese Feststellung ergibt sich aus der sozial und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

207

zeitlich differenzierten Genese, Mobilisierung und Mitgliederstruktur des Kriegervereinswesens und aus dem Verlauf der Konflikte zwischen Tage­ löhnern, Bauern und Obrigkeiten innerhalb dieser Kriegervereine. Seit dem völligen Niedergang des Vereinswesens in Nieder- und Ober­ hessen nach der Revolution von 1848/49, das ohnehin auf dem Lande von den Honoratioren bestimmt wurde,414 führte die Gründung von Krieger­ vereinen zu der nächsten großen Vereinswelle im Kreis. Sie wurden im gesamten Reich zu einer der größten deutschen Massenorganisationen und gelten als besonders eindringliches Beispiel für die Annahme bürgerlich­ nationaler Werthaltungen durch Personengruppen, die nicht dem Bürger­ tum angehörten. Immerhin 28,8% der Mitglieder des deutschen Krieger­ bundes waren 1911 Landarbeiter oder Parzellisten, 27,8% gewerbliche Arbeiter, 24,9% Gewerbetreibende und Handwerker und nur 18,5% Beam­ te und Angestellte. Umgekehrt wurde die Zurückhaltung von Bürgern und Beamten beim Beitritt zu den Vereinen von den Behörden selbst beklagt.415 Das ländliche Kriegervereinswesen mußte sich jedoch den sozialen Ver­ hältnissen seiner Region einfügen und vermochte in großbäuerlich-guts­ herrlich bestimmten Mischgebieten der preußischen Provinz Sachsens oder Schleswig-Holsteins nur bedingt, die dort schon seit der Frühen Neuzeit viel schärfer als in den Mittelgebirgen ausgeprägten Unterschiede zwischen Bauern und Tagelöhnern zu überbrücken.416 Die Bauern und parzellenbe­ sitzenden Unterschichten der hessischen Mittelgebirge, die häufig in kei­ nem direkten oder andauernden Arbeitsverhältnis mehr zueinander stan­ den, taten sich da leichter. Den Vorsitz über die Vereine übernahmen ebenso wie im Reich häufig Honoratioren und Rittergutsbesitzer. Von den dreiundzwanzig Kreisvorsitzenden waren 1904 zehn leitende Beamte wie Oberförster, Landräte oder Amtsgerichtsräte. Sechs waren Guts- und Fa­ brikbesitzer, je drei akademisch gebildete Honoratioren wie Ärzte oder Rechtsanwälte oder lokale Verwaltungshonoratioren wie Bürgermeister oder Kreissekretäre. Die Mehrheit, sechzehn der dreiundzwanzig Vorsit­ zenden, zählten durch Amt oder Besitz zu den Repräsentanten des Staates. Daran änderte sich bis 1912 nichts. Nur die Zahl der Adligen unter den Kreisvorsitzenden stieg von fünf auf neun, eine Folge ihrer Zunahme unter den Landräten, die durch den Kreisvorsitz bis in die Führung der Krieger­ vereine hineinwirkte. Der Vorsitzende im Kreis Ziegenhain war selbstre­ dend der Landrat Baron von Schwertzell.417 Die zweiundzwanzig Vorsitzenden, stellvertretenden Vorsitzenden, Schriftführer und Kassierer der sechs Kriegervereine der Samplegemeinden setzten sich aus lokalen, z.T. bäuerlichen Honoratioren zusammen. In dem Flecken Oberaula war das der ördiche Gerichtsvorsteher und in Frielendorf der Lehrer. In den vollbäuerlichen Gemeinden Holzburg und Loshausen wurde der Vorsitzende jeweils von den großen Landwirten gestellt, die 208 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Stellvertreter oder Kassierer waren jedoch Handwerker. In Wasenberg und Willi ngshausen rekrutierten sich die Vorsitzenden sogar selbst aus den Handwerkern, allerdings handelte es sich jeweils um Personen mit weitver­ zweigter Verwandtschaft in der Gemeinde.418 Für die Bauern und Tagelöhner dürfte die Erfahrung eines Krieges als Grund für ihren Beitritt keine Rolle gespielt haben. Die erste Gründungs­ phase lag in den Jahren von 1887 bis 1893. Die Vereine entstanden in der Regel nach 1890. Das Durchschnittsalter ihrer Mitglieder lag im Zeitraum von 1896 bis 1901 von Gemeinde zu Gemeinde zwischen 39.7 und 47.3 Jahren. Die Mehrheit der Vereinsmitglieder war bei Ausbruch des letzten Krieges, des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71, zu jung, um am Kriege teilgenommen haben zu können, der Krieg selbst bildete offenbar auch nicht den Anlaß zur Vereinsgründung und die Mehrheit der Vereins­ mitglieder trat den Vereinen offenbar auch nicht direkt nach der Ableistung des Dienstes bei der preußischen Armee ein. Angesichts der sozialen Zusammensetzung der Vereine könnte die gewerblich-industrielle Kon­ junktur nach dem Ende der Deflation eine wichtigere Rolle gespielt haben. Die Zahl der Vereinsmitglieder erhöhte sich von 398 in elf Orten im Kreis (1890), also rund 6,1% der männlichen Haushaltsvorstände in 13,9% der Gemeinden, in nur drei Jahren auf 612 Mitglieder in siebzehn Orten (1893). Nun besaß jede fünfte Gemeinde einen eigenen Kriegerverein, und rund jeder zehnte männliche Haushaltsvorstand im Kreis war einem Verein beigetreten.419 Unter diesen Gemeinden mit einem Kriegerverein gab es zwar große Mobilisierungsunterschiede. In Seigertshausen waren 1890 11% der Haus­ haltsvorstände Mitglied, in Lingelbach sogar 40%. Der Median dieser Werte lag 1890 noch bei 17,8%, 1893 bereits bei 23,2%. In den meisten Gemeinden des Samples zählte jedoch wenigstens jeder dritte Haushalts­ vorstand zum örtlichen Kriegerverein. Selbst in Orten mit 40% oder sogar 46% für den Kriegerverein mobilisierter Haushaltsvorstände gelang es nie, auch nur die Hälfte aller Haushaltsvorstände für den Kriegerverein zu gewinnen.420 Die Kriegervereine blieben die Sache bestimmter sozialer Klassen innerhalb der Gemeinden. Wer engagierte sich dort besonders? Der folgenden Zuordnung der in den Listen namentlich genannten Mitglieder zu den Berufsgruppen der Bauern und Kleinbauern bzw. der Handwerker und Tagelöhner liegen die Wählerlisten von 1893 zu Grunde, in denen sich möglicherweise auch eigentlich Landarme als Bauern oder Kleinbauern ausgaben. Der Anteil der Bauern in den Kriegervereinen wurde also möglicherweise überschätzt. Das fällt gerade im kleinbäuerlichen Oberaula auf, wo sich in der Wählerli­ ste von 1893 zwei Drittel der Haushaltsvorstände als Bauern ausgaben. In dem sozial relativ egalitären Mittelgebirgsflecken Oberaula (Typ II) 209 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

bildeten die Bauern und Kleinbauern die größte soziale Gruppe im Krieger­ verein. In den sozial differenzierteren ehemals adligen Schwalmgemein­ den, in denen die Tagelöhner aber, beispielsweise in den Teilungsfragen, einen gewissen Einfluß geltend machen konnten und durch eigenen Grundbesitz einen größeren Spielraum gegenüber den Bauern besaßen (Typ IIIa), bildeten Handwerker und Tagelöhner gegenüber den Bauern bereits eine Mehrheit; in den besonders schroff geschichteten bäuerlichen Schwalmdörfern mit einem besonders geringen Handlungsspielraum der Unterschichten waren dagegen von Verein zu Verein fast zwei Drittel der Kriegervereinsmitglieder Handwerker oder Tagelöhner. Entsprechend un­ terschiedlich, je nach Gemeindetyp, gestaltete sich die Mobilisierung unter den einzelnen sozialen Klassen im Dorf für den Kriegerverein. Während

Tabelle 25: Soziale Zusammensetzung der Schwälmer Kriegervereine und Mitgliedermobilisierung in den Gemeinden (1893) II IIIa IIIa IIIb Ober­ Willings- Merz- Wasenaula hausen hausen berg

IIIb Holz­ burg

IIIb Wiera

IIIb Loshausen

Frielen dorf

Mitgl. in % der Wähler Mitgl. abs.

37,3 53

36,5 46

38,6 59

23,7 41

73,5 50

37,8 37

57,6 59

45,5 90

Bauern u. Sonst. im KV (in%)

56,6

43,5

45,8

37,5

46,8

36,4

33,9

36,6

TG u. Hdwk. im KV (in%)

43,4

56,5

54,2

62,5

53,1

63,6

64,1

63,3

Bauern u. Sonst. (in%)

61,5

44,4

38,6

47,4

58,9

47,3

47,5

4(0,4

TG u. Hdwk. (in%)

38,5

55,6

61,4

52,6

41,1

52,7

52,5

57,6

210 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Tabelle 25a: Anteile der Kriegervereinsmitglieder an den Haushaltsvor­ ständen der dörflichen Besitz- und Erwerbsklassen (1893 und 1901/1905) II IIIa IIIa Ober­ Willings- Merz­ aula hausen hausen Bauern 1893 1901/ 1905

IIIb IIIb Wasen- Holz­ berg burg

IIIb Wiera

IIIb Los- Frielen hausen dorf

41,2

16,2

32,4

17,7

37,8

14,8

34,4

63,2

-

-

-

-

62,2

25,9

-

-

Hdwk. 1893 1905

45,4 -

21,7 -

40,6 -

20,0 -

45,5 72,7

21,1 26,3

92,8 -

32,1 -

TG 1893 1905

37,5 -

34,8 -

30,6 -

34,8 -

70,5 88,2

33,4 40,0

68,4 -

62,9 -

Sonst. 1893 1905

32,6 -

30,4 -

68,2 -

12,5 -

100,0

23,5 27,4

64,3 -

36,2 -

Abk.: KV= Kriegerverein; Sonst.= Sonstige, in erster Linie Auszögner, Lehrer, Kaufleute usf.; TG= Tagelöhner; Hdwk.= Handwerker. Die Anteile wurden auf der Grundlage der Wählerli­ sten von 1893, Bestand 180 LAZ Nr. 2 5 2 1 , berechnet.

sich die Parzellenbesitzer des Mittelgebirgsfleckens zu gleichen Anteilen dem Verein anschlossen, war der Anteil der Tagelöhner und Handwerker in den differenzierteren Schwälmer Dörfern (IIIa) und besonders den polari­ sierten Schwälmer Bauerndörfern (Illb) bisweilen doppelt so hoch wie der der Bauern. Gerade die Tagelöhner zählten beispielsweise in Holzburg zu fast 90% zum Kriegerverein.421 Je schärfer sich die soziale Differenzierung, je schroffer sich die soziale Abhängigkeit der Unterschichten als Mieter und je eingeschränkter sich der Handlungsspielraum für die Unterschichten gemeindespezifisch darstellte, desto mehr wurden die Kriegervereine eine Sache der Tagelöhner und Handwerker, der Landarmen und Landlosen im Dorf. Nur in Frielendorf mit seiner Zeche, seinen Bergleuten und Grubenangestellten, bildete der Kriegerverein auch eine Organisation der Bauern und der in den Gruben beschäftigten Tagelöhner. Dagegen waren die Angestellten der Grube (unter »Sonstige« eingeordnet) nur zu einem deutlich geringeren Anteil Vereinsmitglieder. In den Kriegervereinen der Gemeinden ohne ein solches 211 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Angestelltenelement organisierten sich jedoch innerhalb der Gemeinden vor allem die Unterschichten, und zwar umso deutlicher, je drückender die bäuerliche Vorherrschaft war.422 Das Gewicht der Bauern und ihr am Hof orientiertes Besitzstandsdenken in den meisten dörflichen Lebensbereichen muß berüchsichtigt werden, um die Bedeutung dieses Befundes zu würdigen. Durch die Kriegervereine ergab sich für die Unterschichten die erste Chance, sich als Unterschicht innerhalb der Gemeinde eine eigene Öffentlichkeit zu schaffen. Was sie mit dem stummen, massenhaften Beitritt zu den Vereinen inhaltlich verbanden, geht jedoch nicht aus der Schilderung der Sedansfeste oder der regulären Sitzungen der Vereine hervor. Wo das Vereinsleben sich alltäglich und ohne Anfechtungen von außen entfaltete, bestand für die Vereinsmitglieder kein Anlaß, sich über ihre Ziele und Wünsche bewußt Rechenschaft abzulegen. Es entstanden keine schriftlichen Quellen, auf die der Historiker sich stützen könnte. Demgegenüber zwang der Ausnahmefall der Auseinander­ setzung innerhalb des Vereins sogar die Unterschichten, Wünsche und Ziele auch schriftlich zu artikulieren. Nur in solchen Konflikte entstanden die Quellen, durch deren Interpretation sich die Zähigkeit erklären läßt, mit der die Unterschichten von Fall zu Fall bereit waren, ihren neu gewonnenen Handlungsspielraum innerhalb der Gemeinden, so klein er war, sowohl gegen ihre bäuerlichen Nachbarn als auch gegen die bürgerli­ chen Außenseiter und die Obrigkeit zu verteidigen. Das läßt sich an den vereinsinternen Konflikten der bäuerlichen Schwalmdörfer Loshausen und Holzburg (IIIb) verfolgen, die beide Paradebeispiele für die Artikulation des neuen Selbstbewußtseins der Unterschichten durch die Kriegervereine gerade in bäuerlich dominierten Dörfern sind - eines Selbstbewußtseins, welches durch sein Medium eine nationale Färbung erhielt. Von den achtundsechzig Haushaltsvorständen in der Wählerliste von 1893 waren im Jahre 1901 fünfiinddreißig und 1905 fünfzig Mitglieder des Holzburger Kriegervereins, darunter rund zwei Drittel der örtlichen Bauern, 72% der Handwerker und rund 88% der Tagelöhner, die schon 1901 mit einer Mobilisierungsquote von 70% gegenüber den Bauern 1901 nur 37% - mit den Handwerkern die größte soziale Gruppe im Verein stellten. Der Mitgliederschub von 1901 auf 1905 war nötig geworden, weil jeder der Schwälmer Kriegervereine, also auch der Holzburger, den Erwerb einer eigenen Vereinsfahne zum höchsten Ziel erklärt hatte, und dazu laut der Statuten des Kriegervereinsverbandes mindestens fünfzig Mitglieder zählen mußte. In der kleinen Gemeinde mußte also fast jeder Mitglied werden, wollte der Verein eine Chance haben, die begehrte Fahne gleich den Vereinen anderer, größerer Dörfer auch zu erhalten. Für Holzburg hieß das, daß die offenbar zunächst wiederstrebenden Bauern ebenfalls beitreten mußten. Ein erster Antrag auf Fahnenverleihung war aus Mangel 212

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

an Mitgliedern bereits gescheitert. Zusätzlich schieden im Jahr 1902 bei der Geburtstagsfeier des Kaisers sechs Mitglieder »wegen Streitigkeiten« aus. Im Verein aber rumorte es weiter, und 1903 wurde an den Landrat gemeldet, daß »in dem Verein eine mißmutige Stimmung herrscht, falls es keine Genehmigung der Fahnen geben wird, [der Vorschlag gemacht worden sei, R. v. F.] den Verein aufzulösen, und aus dem deutschen Kriegerbunde und dem Kreisverbande auszuscheiden«. Vor allem der acht­ undvierzigjährige Maurer Bohnert, seinem Alter nach 1870 gerade fünf­ zehn Jahre alt und kein Veteran, dafür aber Mitglied der landlosen Unter­ schicht Holzburgs und insofern ein typischer Vertreter der kriegsunerfahre­ nen Unterschichten, die das Gros der Kriegervereinsmitglieder stellten, drang auf Aktivität in der Fahnenfrage und votierte für den Austritt des Vereins aus dem Kriegerbund, sollte der Landrat keine bewilligen. Wenig­ stens diesem Maurer ging es um den eigenen Verein, nicht um die Unter­ ordnung unter die Honoratioren des Vereinswesens im Kreis und Regie­ rungsbezirk. Renitenz gegen die Obrigkeit und Drohungen, aber alles unter der Formel, die Fahne für den Kriegerverein zu erobern, kennzeich­ nen daher sein Verhalten. Erst die Drohung des Landrates, der Verein werde bei weiterer Renitenz nie eine Fahne erhalten, schüchterte den Maurer ein. Der bäuerliche Vorsitzende des Vereins konnte schon 1904 berichten, »daß der Bohnert die am 3. Dezember ausgesprochenen Worte zurücknimmt« und überdies erklärt habe, »niemals einem demokratischen Verein beigewohnt« zu haben.423 Über die richtige politische Ausrichtung dörflicher Vereine herrschte zwischen den Unterschichten und den Bauern also offenbar bereits Einigkeit. Damit war der Konflikt zwischen Bauern, Tagelöhnern und Herrschaft aber noch nicht aus der Welt geschafft. Knapp zehn Jahre später traten die Söhne des Maurers, Melchior und Johannes Bohnert, im Verein auf und revoltierten gegen den bäuerlichen Vorstand Heinrich Glänzer, dessen Söhne sich mit seiner Billigung als dörfliche Schläger hervortaten. In der betreffenden Sitzung »hat der Melchior Bohnert und Johannes Bohnert geäußert, Ich sei kein Vorstand, ich könnte nichts ... Sie haben mich so heruntergesetzt, daß jeder Angst hat, noch in eine Versammlung zu gehen. Die beiden sagten, wir brauchen keine Lehrer und keine Pfarrer im Verein und sie nannten den ganzen Verein eine Gesellschaft, darauf war ich gezwungen, die Versammlung zu schließen. Ich nehme an, daß diese beiden keine ächte deutsche Männer sind und keine kameradschaftliche Liebe mehr ausüben wie ihnen zusteht. Die Mehrheit der Kameraden hat gesprochen die beiden aus dem Verein auszuschließen«.424 Sieht man einmal von der manchmal unfreiwillig unbeholfenen Rhetorik des Bürgermeisters bei seinem Versuch ab, die Obrigkeit im Konflikt mit den Unterschichten für sich zu gewinnen - seine Rede von »Kamerad213 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

schaft« und »echten deutschen Männern« - , und der Tagelöhner, ihre Gegner zu diskreditieren - die Rede von der »Gesellschaft« -, bleibt der Angriff der Maurer auf die bürgerlichen Außenseiter, die Lehrer und Pfarrer. Offenbar wollten die Brüder den kaiserlichen Kriegerverein für sich und ihresgleichen beanspruchen und den im Vergleich zu ihnen gebildeten Außenseitern, ebenso aber auch dem Vollbauern der eigenen Gemeinde streitig machen. Die Auseinandersetzungen in den Kriegervereinen bieten jedoch deswe­ gen einen wichtigen Einblick in die Wege des dörflichen Interessenaus­ gleichs zwischen Bauern und Tagelöhnern gegenüber der Obrigkeit, weil sie auch erlauben zu zeigen, wie sich die Bauern im Konfliktfall vor die revoltierenden Unterschichten des Vereins stellten und die Gemeindeein­ heit damit erhielten, obwohl sich die Unterschichten dort ein eigenes Betätigungsfeld geschaffen hatten. Der Kriegerverein und seine mehr oder minder nationalen Losungen befriedigte nicht nur die Suche der Unter­ schichten nach einem eigenen Selbstbewußtsein, sondern einte zugleich die Gemeinden gegen die Obrigkeit. Das läßt sich an den Vorgängen in der Gemeinde Loshausen veranschaulichen, auf die daher ausführlicher einge­ gangen werden muß. Auch in Loshausen (Typ IIIb) war der Kriegerverein in erster Linie eine Sache der Tagelöhner und Handwerker. 68,4% der Tagelöhner und sogar 92,8% der Handwerker, aber nur 33,4% der Bauern waren Mitglieder. Rund zwei Drittel der Mitglieder zählten daher zu den Landarmen und Landlo­ sen (66,1%). Ehrenvorsitzende des Vereins waren jedoch Repräsentanten der Obrigkeit, nämlich der Rittmeister und der Oberstleutnant von Nor­ mann, die Besitzer des örtlichen Rittergutes. Den Vorsitz führte der Privat­ förster der von Normann, Hans Heinrich Ide. Sein Stellvertreter war der Vollbauer Steinbrecher. Ide repräsentierte in seiner Doppelfunktion als Förster, also direkter Gegner der Bauern und vor allem der Unterschichten in Sachen Holz und Wilddieberei, und als Bediensteter der adligen Herren geradezu idealtypisch den Feind des traditionellen Gemeindeprotests. Nur die Stellen des Schriftführers und des Kassierers teilten sich ein Maurer und ein Schneider. Als der Butterhändler Heinrich Boppert, ein typisches Mit­ glied der dörflichen Unterschicht, gegenüber dem Vorstand behauptete, eine Einzahlung von ihm in die Vereinskasse sei nicht ordnungsgemäß quittiert worden und tauche auch nicht in den Vereinseinnahmen auf, kam es 1904 mit dem Vorstand des Vereins Förster Ide wegen der Unregelmä­ ßigkeiten in den Vereinsrechnungen zum Zusammenstoß. Die Tätigkeit als Butterhändler war eine Möglichkeit der »händlerischen Warenvermitt­ lung« für die Landarmen im Dienste der großbäuerlichen Milch- und Butterproduzenten der Schwalm. Sie gehörten in den Klassensteuerlisten in der Regel zum bäuerlichen Haushalt und waren unverheiratet. Boppert 214 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

gehörte also in jedem Fall zur dörflichen Unterschicht. Boppert beschwer­ te sich im Oktober 1904 beim Landrat und wurde daraufhin am 30. April 1905 aus dem Verein ausgeschlossen. Darauf forderte er schriftlich beim Landrat, bis zu einer endgültigen Entscheidung im Verein bleiben zu können, beklagte die Machinationen des Försters, erwähnte eine »General­ versammlung« des Kriegervereins und betonte, er sei »doch auf das Wohl des Vereins gesonnen, da ich doch für den Verein streite, und das Recht muß doch oben bleiben. Ich bin doch ein Vereins Mann und will doch bleiben, Hochachtungsvoll, Heinrich Boppert«.425 Ohne Rast wandte er sich kurz darauf erneut an den Landrat, betonte die Richtigkeit seiner Angaben, beklagte das Komplott der Vereinsvorstände gegen ihn und seine lautere Gesinnung gegenüber dem Verein und erwähnte erneut die »Gene­ ralversammlung«: »Ich bin ein Vereinsmann, ich habe mich noch mit keinem Kameraden gezankt noch wollen schlagen, das recht muß doch oben bleiben, da ich nur ... Wahrheit gesprochen habe, das Übrige wird sich von selber finden, Recht bleibt oben, ich Boppert 4 beantrage dieses Schriftstück der Generalversammlung vorzulegen«.426 Bemerkenswert für die Entschlüsselung der Ziele der Unterschicht ist an diesen Äußerungen dreierlei. Da ist erstens Bopperts Ankündigung, seine Sache einer »Generalversammlung« vorzutragen. Daß der Charakter dieser Versammlung ebenso im Dunkeln bleibt wie der Charakter des »obersten Senats vom Fuldastrom«, in dessen Namen ein Rotenburger Fluglatt 1819 antisemitische Übergriffe androhte, unterstreicht nur die zunehmend enge Verquickung partizipatorischer Forderungen der ländlichen und kleinstäd­ tischen Unterschichten mit politisch antisemitischen und deutsch-nationa­ len Wcrthaltungen. Die Hoffnung auf Hilfe gegen die Verschwörung der Obrigkeit - auch der Landrat wollte schließlich nicht helfen - durch eine imaginierte partizipatorische Instanz, die ihm sein »Recht« zurückgeben würde und dazu verhülfe, daß es »oben bleibe«, war durchaus kein völlig neuer Topos der Rhetorik antiobrigkeitlicher Kritik. Die Vorstellung einer überörtlichen »Generalversammlung« zur Durchsetzung der emphatisch vorgetragenen, aber völlig verschwommen bleibenden Gerechtigkeitsidee war im 19. Jahrhundert offenbar ein Topos des traditionellen Gemeinde­ protestes geworden.427 Die selektive Rezeption von Partizipationsforderungen der bürgerlichen Gesellschaft trug zweitens offenbar im Zusammenhang der nationalen Kriegervereine erneut Früchte. Deutschsein - als »deutsche Männer« - und die Forderung nach Partizipation waren zusammengewachsen. Drittens zielte Bopperts Angriff auf den dörflichen Außenseiter und herrschaftlichen Förster Ide statt auf den stellvertretenden Vorsitzenden des Vereins, den örtlichen Bauern Steinbrecher. Ob dieser Wahl intuitive Solidarität mit dem sozial Ungleichen, aber Dorfnachbarn, taktische Überlegung, besser einen 215 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Außenseiter anzugreiten, oder schlicht die besondere Verantwortung des Försters für die Rechnungslegung zu Grunde lag, ist im nachhinein schwer zu ergründen. Im Verlauf der Willensbildung in der dörflichen Politik war diese Wahl ein Stück weit zur Selbstverständlichkeit geronnene Entschei­ dungsfindung, für die der Landarme sich nicht mehr eigens zu entscheiden brauchte - ein Verhalten, das, weil taktisch immer wieder richtig, zugleich zur Selbstverständlichkeit geworden war. Sowenig den Landrat der dörfliche Sturm im Wasserglas des Vereins stören mußte, so wenig sah sich der Förster Ide selbst in der Lage, die schließlich auch als Klage gegenüber der Staatsanwaltschaft geäußerten Beschuldigungen Bopperts stillschweigend hinzunehmen. Sein dörflicher Status verlangte nach Satisfaktion. Er klagte wegen Verleumdung vor Gericht. Dort kam es im November 1905 jedoch nur zu einem Vergleich, weil Boppert seinen Standpunkt verteidigen konnte, daß Unregelmäßig­ keiten in der Rechungsführung richtig zu stellen seien.428 Bopperts Gerechtigkeitsvorstellung gegenüber dem Zugriff der Obrig­ keit ließ es jedoch nicht zu, die Sache nach dem gerichtlichen Vergleich auf sich beruhen zu lassen. Er drang nach wie vor auf eine erneute Überprü­ fung der Unregelmäßigkeiten in der Vereinsrechnung. Die anderen Tage­ löhner und Handwerker im Verein schienen nun ebenfalls zur Opposition gegen den Förster der Ritter ermutigt, jedenfalls schloß der stellvertretende Vorsitzende, Bauer Steinbrecher, laut der Information des Bürgermeisters und Bauern Hoos noch im Dezember 1906429 eine Vereinssitzung, kurz bevor Boppert angesichts der Stimmung unter den Mitgliedern wieder aufgenommen zu werden drohte. Während Bauer Steinbrecher als Stellver­ treter des Försters offenbar zu Loyalität diesem gegenüber verpflichtet war und sich noch nicht offen gegen Ide stellen wollte, hielt sich Bürgermeister Bauer Hoos aus dem Konflikt heraus und wartete ab, ohne Stellung gegenüber dem Landrat zu beziehen. Boppert kämpfte weiter und drohte nun dem Landrat,430 es sei ihm »gesagt worden, daß ich in meinem Willen recht stehe, recht bleibt obe[n] ... teile ich nun dem Herrn Landrat von Schwertzell mit, daß ich mich nun an den Herrn Landesverbandsvorstand wenden muß, um die Rechnung prüfen zu lassen, weil ich bei Herrn Landrat von Schwertzeil abgewiesen bin, wo Boppert 4 doch in seinem vollen Recht steht, und Vorstand Ide und Kassierer Knauff im Unrecht stehen, werde auch bei Herrn Landesvorsitzenden Beschwerde fuhren wegen meiner Ausschließung aus dem Kriegerverein, ich bin auch recht, und werde Recht bekommen«. Der Michael Kohlhaas der Schwalm suchte, durch die Zustimmung im Verein offenbar ermutigt, in der Hierarchie aufwärts Recht und Gerechtig­ keit, deren Durchsetzung mit der Selbstbehauptung gegenüber dem so­ wohl sozial überlegenen als auch die Obrigkeit repräsentierenden Förster 216 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

verknüpft war. Dieser antiobrigkeitliche und soziale Konflikt fand seinen Ausdruck in der Verteidigung seiner Ehre als Kriegervereinsmitglied, weil offenbar nur die Geselligkeit der Kriegervereine es den Unterschichten gestattete, sich als vollwertige Mitglieder des Dorfes und der Gesamtgesell­ schart zu verteidigen, ohne mit den Bauern zusammenzustoßen. Deshalb traten dem Kohlhaas der Schwalm schließlich auch die anderen Vereinsmit­ glieder gegen den herrschaftlichen Förster zur Seite, indem sie in einer Bittschrift an den Landrat die Wiedereinsetzung Bopperts in den Verein forderten. Boppert habe ein »großes Interesse für das Gedeihen und die Weiterentwicklung des Vereins« gehegt, er sei »in jeder Beziehung ein­ wandfrei«, er erfreue sich »bei dem weitaus größten Teil der Kameraden größter Beliebtheit«, er sei »vom Vorstand unseres Vereins eigenmächtig ausgeschlossen« worden, weil er Mängel in der Vereinsfuhrung aufgedeckt habe, die durch öffentliche Prüfung bestätigt worden seien, er habe »vor allen Dingen das Wohl des Vereins im Auge gehabt«. Der Wiederaufnahme­ antrag Bopperts sei vom Vorstand eigenmächtig abschlägig beschieden worden, »der weitaus größte Teil des Vereins ist über das despotische Benehmen des Vorstandes empört und unser blühender Verein wird nicht eher zur Ruhe kommen, bis Boppert wieder Mitglied des Vereins ist.« Die Unterzeichner der Petition erklärten sich weiter bereit, »noch andere Tatsachen und Statuten widrigen Verfahrens durch den Vorstand beizu­ bringen, wenn das gewünscht wird«. Bis auf zwei lassen sich die siebenundzwanzig Petenten in der Liste der Kriegervereinsmitglieder von 1906 finden. Nur acht waren Bauern, die anderen waren neben einem Händler elf Handwerker und fünf Arbeiter. Gegenüber dem Übergewicht der Unterschichten unter den Vereinsmit­ gliedern waren die Bauern mit 32% und die Handwerker mit 44% (gegen­ über 18,6% und 22% im Gesamtverein) überrepräsentiert. Die Bauern übernahmen erneut ihre traditionelle Rolle als Repräsentanten der Ge­ meinde, freilich zu einem Preis, den sie in den von ihnen dominierten Gemeinden lange nicht mehr hatten zahlen müssen, nämlich der Artikula­ tion zunächst von den Unterschichten aufgegriffener Forderungen. Der Rücktritt des herrschaftlichen Försters aus dem Verein und vom Vorsitz widersprach freilich nicht ihren ureigensten Interessen. Bauer Steinbrecher rückte als Ersatzmann zum Vorsitzenden auf, obwohl er indirekt gegen Boppert Stellung bezogen hatte, als er die notorische Vereinssitzung vor­ zeitig schloß, um Bopperts Wiederaufnahme zu verhindern - die bäuerliche Dominanz unter den Petenten sicherte vermutlich auch seine Position. Den Platz des stellvertretenden Vorsitzenden übernahm jedoch ein Schrei­ ner. Obgleich sich die Unterschichten nicht nur durch die Beharrlichkeit von Boppert, sondern vor allem durch ihre Präsenz in dem zur eigenen Sache erklärten Verein gegen den Förster durchgesetzt hatten, verteidigten 217 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

die Bauern ihren Anspruch auf die Führung durch rechtzeitiges Ein­ schwenken auf die Linie der Opposition gegen die Obrigkeit. Bürgermei­ ster Hoos konnte an den Landrat berichten, »der jetzige Vorstand ist geeignet, Zucht und Ordnung im Verein wieder herzustellen«. Die Kriegervereine boten mithin weder ein Forum ausschließlich apoliti­ scher Geselligkeit noch nationaler Ertüchtigung auf der Grundlage ge­ meinsamer Kriegserfahrung,431 sondern der selektiven Rezeption der Ideen und Werte des staatsnahen gebildeten Bürgertums unter den Lebensbedin­ gungen der ländlichen Klassengesellschaft. Die Gemeinden rezepierten die nationalen Ideale nicht nur ohnehin selektiv, sondern innerhalb der Ge­ meinden wurden sie für unterschiedliche Gruppen mehr oder minder brauchbar. In der Rhetorik gegenüber der Obrigkeit suchten sich Bauern und Tagelöhner gemeinsam nationaler Vokabeln zu bedienen. Gegenüber den Bauern und Tagelöhner gleichmäßig integrierenden herkömmlichen dörflichen Festen rekrutierten die Kriegerve reine in den bäuerlichen domi­ nierten Schwalmdörfern jedoch sozial selektiv vor allem unter den Unter­ schichten ihre Mitglieder, für die anders als in den Mittelgebirgsflecken die Gemeinde und die von ihr bislang konstituierte Öffentlichkeit selbst keinen vergleichbaren Spielraum bot. Der Kriegerverein bildete dort für die land­ armen und landlosen Unterschichten offenbar ein Vehikel von Ehrbarkeit, Ansehen und Selbstbewußtsein in einer dörflichen Gesellschaft, deren traditionelle Werthierarchien an den Besitzstandskategorien der Bauern ausgerichtet blieben. Die mehr oder minder an Nation, Kaiser und Reich ausgerichtete Botschaft der Kriegervereine verband für die Unterschichten überdies eine von dem bäuerlichen Hofdenken unabhängige Wertschät­ zung als »deutsche Männer« mit der Forderung nach allgemeiner Partizi­ pation.

2.8. Sozialgeschichte, Verfassungsgeschichte und die Entstehung der kulturellen Eigenständigkeit der ländlichen Gemeinden Obwohl sich aus den herrschaftsbedingten Klassen des 18. Jahrhunderts im Verlauf des 19. Jahrhunderts marktbedingte Klassen herausschälten, zer­ brach das Bündnis dieser beiden Klassen gegen die Obrigkeit nicht. Es hätte der Belastung der auseinanderstrebenden Interessen beider Klassen kaum standgehalten, wäre es nicht auch immer durch die zweckrationalen Inter­ essen der Bauern und Tagelöhner zusammengehalten worden, die sich aus den Erfordernissen des Zusammenlebens in den ländlichen Gemeinden 218

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

ergaben und die im ersten Kapitel erörtert wurden. Eine offene Konfronta­ tion mit den Bauern, beispielsweise in Sachen Allmende, wie sie sich zwischen Kleinbauern und Bauern gegen Ende des 18. Jahrhunderts ange­ bahnt zu haben schien, mochte den Tagelöhnern angesichts ihrer Abhän­ gigkeit von den Bauern nicht nur unklug erscheinen, sie wäre für die Nutzungsberechtigten unter den Parzellenbesitzern ohnehin sinnlos gewe­ sen. Schließlich verstanden es die Bauern, sich immer wieder auf die Belange der Unterschichten einzustellen, bevor für die Unterschichten keine Alternative zu einer Revolte gegen die Bauern mehr bestanden hätte. Die Bauern ihrerseits konnten die Interessen der Unterschichten berück­ sichtigen, weil sich diese nicht zuletzt gegen die Obrigkeit richteten. Das Bündnis der Bauern und Tagelöhner wurde ganz wesentlich durch deren Lasten- und Steuerdruck geschmiedet. Dieser Druck motivierte aber nicht nur direkt den Widerstand der Dörfer. Er führte auch indirekt bis zum Ende des 19. Jahrhundcrs zur Entstehung einer kulturellen Eigenständig­ keit des Landes gegenüber der städtisch-bürgerlichen Gesellschaft. Durch diese wachsende Eigenständigkeit wurde das Bündnis aus Bauern und Unterschichten mehr als eine zweckrationale Allianz auf Zeit. Der direkte Widerstand gegen die obrigkeitlichen Lasten und seine indirekte Wirkung, die Entstehung und Verfestigung einer von den Gemeinden emphatisch verteidigten kulturellen Eigenständigkeit, bildet die antietatistische Di­ mension des traditionellen Gemeindeprotestes. Um die soziale und die antietatistische Dimension des traditionellen Gemeindeprotestes zueinan­ der in Beziehung zu setzen, eignet sich Lawrence Stones Unterteilung lang- und mittelfristiger Faktoren zur Erklärung von Verhaltensweisen in Strukturen - über lange Zeiträume verfestigte Gegebenheiten - und Konjunkturen - langfristig und in eine Richtung wirkende Veränderungen. Der Konflikt zwischen Landgemeinde und Obrigkeit läßt sich, trotz aller Veränderungen des Charakters dieser Obrigkeit, als Struktur, die Entste­ hung, die Zunahme und der wachsende Handlungsspielraum der dörrli­ chen Unterschichten als Konjunktur für den traditionellen Gemeindepro­ test zwischen dem späten 17. und dem späten 19. Jahrhundert verstehen. Die Obrigkeit konstituierte zunächst die Gemeinde als Handlungsein­ heit. Die grund-, gerichts- und landesherrlichen Befugnisse der deutschen Reichsstände setzten die Gemeinden seit dem Ende des 17. Jahrhunderts einem Lastendruck aus, der die Vielzahl der Konstellationen zwischen den unterschiedlichen Rechtsgruppen in der ländlichen Bevölkerung und der Landes-, Gerichts- und Grundherrschaft zur Auseinandersetzung zwischen Obrigkeit und Untertan verschmolz. Erst unter diesem Druck verformten sich die innerdörflichen Konflikte schließlich zu Koalitionen gegen die Obrigkeit. Keine der beiden sozialen Klassen auf dem Lande verlor deswe­ gen ihre spezifisch eigenen Interessen aus den Augen. Sie fanden durch das 219 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Medium der dörflichen Politik, und das heißt, abhängig von den jeweils vorherrschenden innergemeindlichen Machtverhältnissen, aber Eingang in eine gemeinsame Rhetorik. Diese Rhetorik entstand unter dem Einfluß der selektiven Rezeption der Begriffe von Pfarrern und anderen akademisch Gebildeten und verhalf der Mentalität der Abwehr gegen die Obrigkeit zur Artikulation. Je nach den reichsrechtlichen Machtmitteln der verschiedenen Reichs­ stände hatte der Konflikt zwischen Landgemeinde und entstehendem Staat in kleinen Herrschaften ohne und in einem mittleren Territorium wie Hessen-Kassel mit Privilegium de non appellando sehr unterschiedlich aus­ geprägte öffentliche Eormen angenommen.432 In allen Territorien des Oberrheinischen und Fränkischen Reichskreises behauptete sich jedoch die Gemeinde als Institution eigenen Rechts, in der häufig auch ärmere Parzel­ lenbesitzer vollberechtigte Gemeindemitglieder blieben. Diese verfas­ sungsrechtliche Konstellation zwischen Obrigkeit und Gemeinde wirkte sich durch das Medium der dörflichen Politik beispielsweise bis auf die Kriegervereine des späten 19. Jahrhunderts aus. In ehemaligen Gutsgebie­ ten ohne vergleichbare gemeindliche Institution oder in Gebieten ohne vergleichbare antiobrigkeitliche Tradition gelang es dem Kriegervereinswe­ sen nicht, die gesamte ländliche Bevölkerung vergleichbar zusammenzufas­ sen.4“ Die Auseinandersetzung mit der Obrigkeit führte in Franken, Baden und Hessen zur Beibehaltung und passiven Verteidigung von Lebens- und Umgangsformen, deren Reform als weitere Zumutung der Obrigkeit emp­ funden und daher abgelehnt wurde. Die demographischen und sozialen Aspekte dieser Lebensweise wurden zudem von den Gemeinden in dem Maße als Teil einer eigenen Identität erkannt, in dem die Verhaltensmaßstä­ be der Vertreter der Obrigkeit sich wandelten. Die dörfliche Gesellschaft erhielt dadurch im Laufe der Zeit eine kulturelle und habituelle Erkennbar­ keit, die sie zu Beginn des Untersuchungszeitraumes so noch nicht beses­ sen hatte. Für die Unterschichten erhielt die Rhetorik des traditionellen Gemeinde­ protestes wachsende Plausibilität. Die Überwindung verbleibender Rechts­ unterschiede gegenüber den Bauern und dieEmanzipation von den Bauern als Arbeitgebern ließ die Parzellenbesitzer von Arbeitskräften zu Nachbarn der Bauern werden. Den Bauern allein aus taktischer Rücksicht, beispiels­ weise um Repressalien zu vermeiden, zu folgen, war für die Unterschichten immer weniger notwendig. Einerseits trugen jedoch alte Motive in neuem Gewand zu dem Zusam­ menhalt der Dörfer bei. Der Wunsch nach Parzellenbesitz blieb beispiels­ weise von den Fährnissen der gewerblichen Konjunktur abhängig. Tage­ löhner und Handwerker setzten deshalb ihre Hoffnungen immer auch auf den Zugriff auf Land außerhalb des Marktnexus.434 Die Forderung nach 220 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Aufteilung der Staatsdomänen mobilisierte daher noch 1919 die hessischen Unterschichten.435 Bis in die dreißiger Jahre hinein bildete die Hoffnung auf die Umverteilung von Staats- und Adelsland - neben den Problemen von Steuern und Umlagen - eines der wichtigsten Motive des Antietatis­ mus der ländlichen Unterschichten.436 Andererseits erkannten sich die Unterschichten in der emphatisch vorge­ tragenen Verteidigung ländlichen Lebens gegenüber den städtisch-bürger­ lichen Normen zunehmend wider. Sie schlossen sich darin nicht nur passiv den Bauern an. Insbesondere die Unterschichten verteidigten schließlich ihre Gemeindeländer und Armenkästen gegen die Juden, ihre Gesangbü­ cher und Agenden gegen die Landeskirche und ihre Kriegervereine gegen Lehrer, Pfarrer und Förster. Nicht nur Lebensumstände und Bevölkerungsweise, sondern gerade auch diese Beharrlichkeit in der Behauptung eigentlich überkommener Lebens- und Werthorizonte konstituierte, was vielen Beobachtern im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend als fremde ländliche Welt er­ schien. Die Beharrlichkeit ihrer Verteidigung wurde in dem Maße ge­ schichtsmächtig, in dem die Unterschichten ihren Antisemitismus, ihre Frömmigkeit und ihre Gemeinden zumindest auf den ersten Blick zuneh­ mend um ihrer selbst willen zu behaupten suchten. Mit dem Hebel dieses vermeintlich weder sozial- noch verfassungsgeschichtlichen, sondern men­ talitätsgeschichtlichen Befundes und seiner Bedeutung für die Haltung der badischen, fränkischen und hessischen Unterschichten setzte in jüngerer Zeit die Kultur- und Mentalitätsgeschichte an. Die Genese dieser Mentali­ tät ist aber nur mit Hilfe der verfassungs- und sozialgeschichtlichen Rah­ menbedingungen der ländlichen Gesellschaft zu verstehen. Denn erstens erklärt allein die sozialgeschichtliche Position der Unterschichten ihre Aufnahmebercitschart für diese Topoi. Zweitens speisten sich die Topoi der Rhetorik des traditionellen Gemeindeprotestes, welche die Unterschichten besonders ansprachen, aus dem Denken der Juristen und der Pfarrer. Gerade mit dem wachsenden Gewicht der Unterschichten gewannen diese Topoi innerhalb der Gemeinden an Gewicht, denn das zwar genuin dörfliche, aber bäuerliche bestimmte Hof- und Besitzstandsdenken bot den Parzellenbesitzern keine Identifikationsmöglichkeit. Für die Parzellenbe­ sitzer mußten deshalb diejenigen Wertangebote besonders attraktiv sein, die Selbstbestätigung in der kleinen dörflichen Welt auch ohne bäuerlichen Hotbesitz boten. Diese Angebote konnten letztendlich nicht von den Bauern kommen - auch wenn die Bauern sich in ihren Forderungen anzupassen suchten, soweit ihre eigenen Interessen ihnen das gestatteten. Sie mußten von außerhalb der dörflichen Welt stammen. In den kleinräu­ migen territorialen Verhältnissen des alten Oberrheinischen und Fränki­ schen Kreises erhielten dadurch die Kirche und die staatsnahen Bürger 221 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

fundamentale Bedeutung für die Formulierung von Wertvorstellungen der Gesamtgemeinde als auch eigener Werte der Unterschichten. Die Topoi des traditionellen Gemeindeprotestes stammten ihrem Ursprung nach da­ her von Pfarrern und Juristen, deren Werte und Begriffe nicht zuletzt auch durch die regional unterschiedlich dichte Publizistik über bäuerliche Unru­ hen zugänglich waren und für die eigenen Zwecke umgedeutet wurden.437 Diese Werthaltungen und Ideen wurden durch die Auseinandersetzun­ gen innerhalb des staatsnahen Bürgertums und dessen Einfluß auf das Verwaltungshandeln seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt an die Gemeinden herangetragen. Die Pfarrer unterstützten die Gemeinden aber bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts gegen die Obrigkeit und ihre Lasten. Die Kirche wurde seit dem Vormärz aus in ihrer eigenen Geschichte liegenden Gründen erneut zum Fürsprecher der Gemeinden, nun gegen den säkularisierten Staat und die bürgerliche Industriegesellschaft. Seit dem Ende des Jahrhunderts versicherten sich besonders die Unterschichten in den Kriegervereinen ihrer Gleichwertigkeit als »deutsche Männer« mit Honoratioren in Stadt und Land. Was den Gebildeten gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Ausdruck einer fremden ländlichen Mentalität erschien, war durch die Rezeption der Begriffe und Werthaltungen von Pfarrern, Advokaten und Beamten erst zwischen dem späten 17. und dem späten 19. Jahrhunders dazu geworden. Die unregelmäßig und stockend, aber insge­ samt wachsende Bedeutung und Unabhängigkeit der Unterschichten in den Gemeinden förderte diesen Prozeß der Rezeption und Neuinterpret­ ion gemeindefremder Wertangebote zuungunsten des genuin ländlichen bäuerlichen Hof- und Besitzstandsdenkens. Weniger für die Bauern, aber umsomehr für die Unterschichten boten die antiklerikale Frömmigkeit, der gemeindliche Antisemitismus und das Deuschtum der Krieger vereine alter­ native Hierarchien, in denen auch der Parzellenbesitzer und Tagelöhner als Gemeindemitglied, Christ und Deutscher soviel wert war wie der bäuerli­ che Nachbar und die Repräsentanten der Obrigkeit. Deshalb waren die Unterschichten gewillt, ihre Gemeindeländer und Armenkästen gegen die Juden, ihre Gesangbücher und Agenden gegen die Landeskirche und ihre Kriegervereine gegen Lehrer, Pfarrer und Förster zu behaupten. Jedes dieser drei Momente ländlicher Identitätsbildung ruhte auf der selektiven Rezeption der Ideen und Forderungen der Beamten und der Kirche. Es unterschied sich durch diese Selektivität von den Ideen der städtisch­ gebildeten Welt und bot zugleich eine mögliche Anknüpfung an ihre Debatten. Mit diesem mentalitätsgeschichtlichen Ergebnis der Verfassungs- und Sozialgeschichte des Alten Reiches und des Deutschen Bundes mußten im 19. Jahrhundert alle politischen Parteien rechnen, die um die ländlichen Wähler warben. Denn die kulturelle Eigenständigkeit der ländlichen Welt 222

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

war politisch nicht neutral.438 Als es beispielsweise unter den rund dreihun­ dert Bergleuten der Frielendorfer Zeche 1907 zum Streik kam, schloß der örtliche Kriegerverein fünf seiner Mitglieder wegen ihrer Parallelmitglied­ schaft im deutschen Bergarbeiterverband aus. Drei Jahre später befand sich unter den Arbeitern kein einziges Mitglied dieses Verbandes mehr, und der örtliche Kriegervereinsvorsitzende, ein Bäckermeister, sah keine Hindernis­ se mehr für die Wiederaufnahme der ausgeschlossenen Bergleute. Frielen­ dorf wurde eine der Hochburgen des parteipolitischen Antisemitismus im Kreis, und seine Bergleute zeigten dem Werben der Sozialdemokratie noch 1919 die kalte Schulter.439 Im Prozeß der ländlichen Identitätsbildung gegenüber der Obrigkeit entstand in der ländlichen Bevölkerung eine Affinität zu denjenigen Formen politischer Mobilisierung, die ihrerseits in der Lage waren, Antietatismus und Antiliberalismus zu verbinden und Bauern und Tagelöhner gegen die als feindlich empfundene Außenwelt zu fuhren. Die soziale und kulturelle Eigenständigkeit der Dörfer, die sich im Verlauf des Untersuchungszeitraumes gegenüber der Stadt und der Obrig­ keit als Folge der sozialen und der antietatistischen Dimension des traditio­ nellen Gemeindeprotestes entwickelt hatte, gewann in dem Maße wachsen­ de Bedeutung für die Gesamtgesellschaft, in dem der deutsche Konstitutio­ nalismus Bauern und Tagelöhner zu Wählern machte. Die Gewerbe- und Industriekrisen des 19. Jahrhunderts und die wachsenden politischen Parti­ zipationsmöglichkeiten für die ländliche Bevölkerung wurden, um noch einmal auf Lawrence Stones Schema zurückzugreifen, zu Auslösern politi­ scher Wahlhaltungen, die ihrerseits schwerwiegende Folgen für die Ge­ samtgesellschaft zeitigen sollten.

223 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

3. Kapitel: Die politische Dimension des traditionellen Gemeindeprotestes

3.1. Die Politisierung des Konfliktes mit der Obrigkeit Die Beschäftigung mit der politischen Dimension des traditionellen Ge­ meindeprotestes gilt der Frage, wie die ländliche Bevölkerung zwischen Eder und Werra ihre wachsende Chance zur politischen Partizipation im 19. Jahrhundert nutzte und welche Bedeutung der traditionelle Gemein­ deprotest für die politischen Parteien und Vereine besaß, die um die Stimmen der Landbewohner warben. Die Bauern, landarmen Leineweber, Maurer und Tagelöhner zwischen Eder und Werra rezipierten im 19. Jahrhundert nicht mehr nur die Wertvorstellungen der Beamten und Advokaten. Ihre aus dieser selektiven Rezeption entstehende eigene Wert­ haltung erhielt in dem Maße für die entstehenden Parteien und Vereine wachsende Bedeutung, in dem Bauern und Unterschichten im Zuge der massenpartizipatorischen Reorganisation der deutschen Gesellschaft seit der Genese des deutschen Nationalstaates an dessen Geschicken beteiligt wurden. Diese Enwicklung speiste nicht nur die Konjunktur der wachsen­ den Bedeutung der Unterschichen innerhalb der Gemeinden. Sie war zugleich ein Auslöser, durch den der traditionelle Gemeindeprotest für die politischen Geschicke des neuen Staates bedeutsam wurde. So gelangte selbst ein typisches Arme-Leute-Dorf wie die Sample-Gemeinde Nordeck1 in die politische Mythologie der Entstehungsgeschichte einer Partei des Kaiserreiches. 1882 wurde ein jüdisches Ehepaar dieses Ortes ermordet. Das antisemitische Brauchtum der Gemeinde lebte bei der Beerdigung der Ermordeten nicht nur erneut auf.2 Für ein Mitglied des gebildeten staatsna­ hen Bürgertums, den Marburger Archivar Otto Böckel, wurde der Prozeß gegen den Mordverdächtigen und die Haltung der ländlichen Bevölkerung seiner eigenen Aussage nach vielmehr zum Anstoß der Gründung einer antisemitischen Protestpartei, die fünf Jahre später einen spektakulären Wahlerfolg in der Region feierte.3 Diese Gleichzeitigkeit, ja Rückkoppelung von antisemitischem Brauch­ tum in den Gemeinden und parteipolitischer Mobilisierung im Kaiserreich war eine späte Folge der Gleichzeitigkeit verschiedener Problemstränge 224 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

und Bewußtseinslagen in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Sie wird an kaum einem anderen Gegenstand deutlicher als an der wachsen­ den direkten und indirekten politischen Partizipation weiter Kreise der ländlichen Bevölkerung, die bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts als Untertanen4 von jeder direkten Kontrolle der hoheitlichen Befugnisse weitgehend ausgeschlossen blieben.5 Zwar baute der deutsche Frühkonsti­ tutionalismus auch in Kurhessen auf der ständischen Vertretung des Ancien Regime auf.6 Andererseits wurde die partizipatorische Grundlage dieser Vertretung rasch erheblich erweitert.7 Die ländliche Bevölkerung zwischen Eder und Werra kam durch die Einrichtung einer bäuerlichen Kurie 1815, die Verfassungen von 1831 und 1848 und das allgemeine Männerwahl­ recht von 1867 in jedem der ersten drei Viertel des 19. Jahrhunderts in den Genuß einer Ausweitung der politischen Partizipation, die ihresgleichen suchte. Die parzellenbesitzende Unterschicht der Mittelgebirgsflecken und der gewerblicheren Gemeinden (Typen II und IIIa) konnten ihren ohnehin größeren gemeindlichen Handlungsspielraum seit 1831 auf die Wahlbe­ rechtigung stützen. Der gegenüber der Unterschicht der gewerblicheren Gemeinden geringere Spielraum der tagelöhnernden Mieter der Bauern­ dörfer überschnitt sich dagegen mit den neuen politischen Partizipations­ chancen des Wahlrechtes von 1848.8 Seit 1867 wurden Bauern und Tage­ löhner regelmäßig an die Wahlurnen gerufen und von konkurrierenden Parteien umworben. Die Gewerbe- und Agrarkrisen des Vormärz und zwischen den 1870er und 1890er Jahren gaben Bauern und Tagelöhnern allen Anlaß, diese neuen Möglichkeiten auszuschöpfen, um Druck auf die Obrigkeit auszuüben. Diese Situation wird durch die Forschung unterschiedlich konzeptuali­ siert. Erstens unterstrich die auf die Zeit seit dem Vormärz bezogene Wahl­ und Vereinsforschung die Politisierung weiter Kreise der Bevölkerung,9 während die Protestforschung eine klare Differenzierung zwischen Form und Inhalt bürgerlicher Politik einerseits und den Zielen der nun mehr oder minder beteiligten Bauern und Unterschichten andererseits zog.10 Die Wahlsoziologie situierte den Kern dieser Differenz im Rollenverständnis der Beteiligten. Während die moderne politische Partizipation auf den Staatsbürger abziele, sei für die Mehrheit der Wahlberechtigten das Ergeb­ nis der Willensbildung gesellschaftlicher Subkulturen über den Zeitpunkt der Gewährung politischer Partizipationsrechte hinaus bindend geblieben. Diese Feststellung ergab sich aus der Existenz regionaler Hochburgen für bestimmte Parteien und Parteiengruppierungen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; die Gründe für den Bestand solcher Hochburgen wurden in kulturellen und besonders konfessionellen Gemeinsamkeiten der betref­ fenden Regionen vermutet.11 225 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Demgegenüber unterstrich die Forschung zum Alten Reich zweitens nicht nur die Rechtsförmigkeit seiner Konfliktregelungen, in die durch die Reichs- und territorialen Appellationsinstanzen auch die Untertanen einge­ gliedert blieben, sondern auch die Bedeutung dieser Instanzen zur Ein­ übung rechtlichen und zur Entwicklung eines mindestens vorpolitischen Selbstverständnisses, das insbesondere am Alten Reich orientiert blieb, dessen Gerichte gegen die eigene Obrigkeit von Fall zu Fall angerufen wurden.12 Obwohl einige wenige der alten Landesherrschaften des Ober­ rheinischen und Fränkischen Reichskreises ihre Hoheitsrechte nach dem Zerfall des Alten Reiches zur formalen Souveränität als Einzelstaat im Deutschen Bund ausbauten, versiegte diese Tradition möglicherweise nicht. Die bürgerliche Öffentlichkeit erhielt durch die Diskussion um die Einheit der deutschen Nation die Erinnerung an übergeordnete Appella­ tionsinstanzen aufrecht, an die der Reichspatriotismus der Gemeinden von Fall zu Fall anknüpfen konnte. Die Souveränität der neuen Staaten erwies sich überdies häufig nicht nur de facto machtpolitisch, sondern auch de iure durch den Hebel der Bundesakte und die an sie anknüpfenden Interventionen Preußens und Österreichs verfassungsrechtlich als fragil. Der Artikel 13 der Bundesakte verpflichtete die deutschen Einzelstaaten auf die Einrichtung einer »landständischen Verfassung«, deren repräsentati­ ver Charakter zwischen den Vertretern der politischen Restauration und dem vor allem südwestdeutschen Konstitutionalismus jedoch umstritten war. Im Sinne Metternichs interpretierte Friedrich Gentz den Begriff der landständischen Verfassung als dem der »Repräsentatiwerfassung« strikt entgegengesetzt, weil durch die Bundesakte nur die Vertretung der »Ge­ rechtsame und Interessen einzelner Stände«, keineswegs aber die »Reprä­ sentation der Gesamtmasse des Volkes« gemeint sei. Die hessischen Kurfür­ sten standen nicht nur ohnehin in engem Kontakt zu Wien und Berlin, sondern orientierten ihre Bundespolitik wie beim Abzug des hessischen Gesandten vom Bundestag 1823 zur Schwächung der antigentzschen Opposition und ihre Hoffnung auf Schutz vor der liberalen Bewegung letztlich an den beiden deutschen Großmächten und ihrer militärischen Stärke. Es waren konsequenterweise auch österreichische und bayerische Bundestruppen, die den Konflikt zwischen Kurfürst und Ständen nach 1848 entschieden.13 Die Verfassungsfrage in den Einzelstaaten - und damit letztlich auch die Eingriffe in die Verhältnisse der Gemeinden durch die innerterritorialen Verfassungsbewegungen - blieb daher auch eine Frage der Umgestaltung ganz Deutschlands, weil die deutschen Großmächte durch den Deutschen Bund wie ein Schatten über der Verfassungsentwicklung der kleineren Territorien wie Baden oder Kurhessen hingen. Welche Gemeinsamkeiten ergaben sich aus dieser Konstellation zwischen der Verfassungsbewegung 226 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

und der auf überterritoriale Bezüge angewiesenen Strategie der Gemein­ den im Konflikt mit ihrer wechselnden Obrigkeit? Kenner der ländlichen Gemeinden zwischen Eder und Werra mutmaßten drittens noch anläßlich der Erfolge antisemitischer Splitterparteien in den 1890er Jahren, daß entweder »ein großer Teil der antisemitischen Stimmen aber auch dadurch gewonnen [wird], daß sich die antisemitische Agitation vor allem gegen das Regierungssystem richtet, und sie [die ländliche Bevölkerung, R.v. F.] werden abfallen, sobald neue Propheten in noch grelleren Farben Opposition predigen« oder daß die antisemitischen Pro­ testparteien der örtlichen Opposition in innergemeindlichen Konflikten ihre Stimme liehen, wie das am Beispiel des Fleckens Burghaun bereits verfolgt werden konnte.14 Die Frage nach der politischen Dimension des traditionellen Gemeindeprotestes mündet daher in die Frage nach der sich wandelnden Gemengelage zwischen diesen drei möglichen Bedeutungen parteipolitischer Mobilisierung. Bis zu welchem Grade bestimmten Sach­ fragen im Konflikt mit der Obrigkeit um die Steuern, die Ablösung oder die Wälder und Weiden direkt oder die Schärfe sozialer Schichtung innerhalb der Gemeinden indirekt, nämlich vermittelt durch die gemeindliche Wil­ lensbildung, auch die politische Haltung der Gemeindemitglieder, sofern sie sich durch Petitionen und Wahlabstimmungen entschlüsseln läßt? Wel­ che Rolle spielte bei ihren Wahlentscheidungen aber auch die selektive Rezeption von Werthaltungen und politischen Zielen des staatsnahen Bürgertums, und in welchem Verhältnis stand dabei der Reichs- und Nationsgedanke zur Loyalität gegenüber dem Landesherren, gerade wenn es zur Konfrontation mit der Obrigkeit kam? Wann brachen schließlich Parteien im Sinne von Interessengruppierungen der verschiedenen sozialen Klassen auf dem Lande in die Gemeinden ein und zersetzten den traditio­ nellen Gemeindeprotest zur Willensentscheidung einzelner Staatsbürger gemäß ihrem je unterschiedlichen Interesse? Auf diese Fragen läßt sich durch den Blick auf Baden und Franken15eine vorläufige Antwort zum Verhältnis zwischen politischer Bewegung und Gemeinden finden, bevor an Hand der Samplegemeinden der Blick in die Gemeinden hinein und auf das Verhalten ihrer sozialen Klassen getan werden kann. Dabei zeigt sich erstens, daß weniger die politische Program­ matik einzelner Parteien als solche, sondern vielmehr ihre Haltung zur Obrigkeit und ihre Fähigkeit, Gemeinsamkeiten in ihrer Programmatik zu den Zielen und den Bräuchen des traditionellen Gemeindeprotestes zu entwickeln, von entscheidender Bedeutung für ihre Fähigkeit war, ländli­ che Wähler an sich zu binden. Zweitens wird die Bedeutung der territorial­ geschichtlichen Vergangenheit der betroffenen Regionen für die Haltung der Gemeinden gegenüber der neuen Staatlichkeit unterstrichen. Die zwiespältige Haltung der ländlichen Bevölkerung Badens im Vor227 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

märz zur großherzoglichen Obrigkeit und die Politisierung der badischen Agrarkonflikte durch den vormärzlichen Liberalismus bis zur Revolution von 1848/49 spiegelte nicht nur die gemeinsame Frontstellung des Kam­ merliberalismus und der untertänigen Bevölkerung zu den Standesherren, sondern auch die Bedeutung der christlichen Gemeinde für die liberalen Abgeordneten wider.16 Der badische Kammerliberalismus blieb in seiner reservierten Haltung gegenüber einer völligen Nivellierung der korporati­ ven Rechte der Gemeinden, seiner lange zwiespältigen Haltung gegenüber der Emanzipationsfrage und durch seine offensive Haltung gegenüber ständischen Reservatrechten daher bis über die Revolution hinaus ein potentieller Repräsentant gemeindlicher Interessen. Das galt umsomehr, als sich ihm gerade die traditionellen gemeindlichen Führungsgruppen in ihren Ablösungskonflikten und in ihrer Behauptung gegenüber der groß­ herzoglichen Obrigkeit anschließen konnten. Umgekehrt blieb den Unter­ schichten, sofern sie überhaupt einen eigenen Spielraum zur Artikulation ihrer Interessen besaßen, in dieser Konstellation nur eine politisch-konser­ vative Haltung.17 Demgegenüber gelang es dem bayerischen Staat angesichts seiner zö­ gernden Haltung in der Ablösungsfrage weder vor noch nach der Revoluti­ on von 1848/49, die Bedeutung konfessioneller Bindungen zu überbrük­ ken oder die Entwicklung eines fränkischen Sonderbewußtseins und dessen Anknüpfung an den alten Reichs- und Orientierung an den entstehenden Nationalpatriotismus - mit antibayerischer und antiobrigkeitlicher Stoß­ richtung - im Vormärz zu verhindern. Gerade in der Arme-Leute-Region Unterfranken wurden die Bürgergarden in der Revolution von 1848/49 Ausdruck des gemeindlichen Selbstbewußtseins gegen den bayrischen Zen­ tralstaat - und deswegen zu einem Kristallisationspunkt breiter gemeindli­ cher Mobilisierung. Die Unterschichten entzündeten in Verquickung von antiklerikaler Frömmigkeit und antibayerischem Radikalismus sogar Ker­ zen vor dem Bild des getöteten Revolutionärs Robert Blum. Den Angriffen auf den Klerus und auf die Beamtenwillkür und der Forderung nach entschädigungsloser Ablösung durch die radikale demokratische Oppositi­ on konnte die ländliche fränkische Bevölkerung folgen, deren tatsächlich wahlberechtigte Minderheit durch ihr Votum für diese politische Oppositi­ on die Landarmut in den Gemeindeprotest integrierte.18 In dem Maße, in dem der »Liberalismus als regierende Partei« in Baden selbst zur Obrigkeit wurde, verlor er die Fähigkeit, sich durch Opposition gegen die Obrigkeit zum Sachwalter der Gemeinden zu machen. Er wurde nun selbst zum Verantwortlichen der prekären sozialen und wirtschaftli­ chen Lage der ländlichen Bevölkerung. Für den überwiegend katholischen Teil der ländlichen Bevölkerung trat die Zentrumsbewegung an seine Stelle. Die badischen Kriegervereine auf dem Lande wurden, wie ihre 228 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Vorsitzenden klagten, entweder von der katholischen antietatistischen und antiliberalen Opposition instrumentalisiert oder fanden keinen Anhang. Die 1860er Jahre wurden nicht nur in Baden, sondern auch in Franken zum Katalysator dieser Integration. Der durch die verschleppten Ablösungpro­ bleme (bis 1923) und die chronische Krise der Landarmut genährte konfes­ sionelle Gegensatz zwischen der katholischen Landbevölkerung und dem durch das protestantische Bürgertum repräsentierten Staat wurde in Fran­ ken in dieser Zeit durch die Polemik des politischen Katholizismus gegen­ über Preußen und gegenüber dem bayrischen Beamtenliberalismus aufge­ nommen. In Baden ermöglichten die gewerbliche Krise im selben Zeitraum und der beginnende Kulturkampf dem Zentrum, die materiellen Interessen und die Frömmigkeit der überwiegend katholischen ländlichen Bevölke­ rung zu bündeln und sie für seine antiliberale Opposition zu gewinnen,19 Für die evangelische ländliche Bevölkerung gab es demgegenüber keine vergleichbar geschlossene politische Repräsentation, die Antietatismus, Marktkritik und Frömmigkeit wie das Zentrum verbunden hätte.20 Insbe­ sondere die fortwährend prekäre Lage der Landarmut und ihre mehr oder weniger freiwillige Anpassungsbereitschaft an die führenden Landbesitzer der Gemeinden erzwang aber eben diese Verbindung.21 Die verschiedenen liberalen und konservativen Parteien der evangelischen Landgebiete kulti­ vierten demgegenüber eine mehr oder weniger verschwommene nationale Perspektive, ohne ihre Wähler so fest an sich binden zu können wie das Zentrum.22 Zwei Fragen kristallisieren sich aus diesem Überblick. Wie wirkte sich der Handlungsspielraum der Landarmut auf die politische Haltung der Land­ gemeinden insgesamt aus, und welche Parolen mußten die Verfassungsbe­ wegung und die Parteien aufbieten, um, abhängig von diesem Handlungs­ spielraum, nicht nur die Bauern, sondern die evangelische Landbevölke­ rung insgesamt an sich binden zu können? Diesen Fragen wird in zwei Schritten nachgegangen. Erstens wird die Ausgangsbedingung der Politi­ sierung des Konflikts der Gemeinden mit der Obrigkeit in der westfälischen Zeit und während des Verfassungskonflikts zwischen Kurfürst und Ständen resumiert. Die Mobilisierung der Bürgergarden in den Gemeinden in den 1830er Jahren, die kurhessische Petitionsbewegung von 1848/49 und fünf Fallstudien dörflicher Revolutionen werden Hinweise auf die Schnittstellen dieser Politisierung mit der dörflichen Politik ergeben (3.2.). Zweitens wird das Verhältnis zwischen dem Handlungsspielraum der Bauern und Tagelöhner in den Gemeinden, der politischen Mobilisierung der Unter­ schicht und der landwirtschaftlichen Interessenvertretung der Bauern durch den BdL zum Wahlverhalten der Gemeinden im Kaiserreich erörtert (3.3.). 229 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

3.2. Konflikt mit der Obrigkeit und Politik auf dem Dorf V: Bauern, Tagelöhner und kurhessische Verfassungsbewegung, 1813-1866 Selbst im scheinbar23 in restaurativer Beharrung stagnierenden Kurhessen stellte der Berater des Kurfürsten in den Verhandlungen mit den Ständen bereits 1815 fest, »verbergen kann man sich freylich nicht, daß die außeror­ dentlichen Ereignisse der letzten 25 Jahre auf die Gesinnungen und Begrif­ fe über die Verhältnisse zwischen Fürsten und Unthertanen mächtig ge­ wirkt, und eine große Veränderung darin hervogerufen haben. Die ständischen Vorträge tragen die Zeichen der Zeit«.24 In der Auseinander­ setzung zwischen der kurhessischen Verfassungsbewegung und dem Kur­ fürsten mündeten im Verlauf der Zeit bereits von den alten Ständen vorgetragene Forderungen25 und die Politisierung des häufig staatsnahen Bürgertums26 tatsächlich schließlich in Verfassungsforderungen.27 Wie ver­ standen und instrumentalisierten Bauern und Tagelöhner die neue politi­ sche Rhetorik, wie nutzten sie die neuen staatsbürgerlichen Rechte, beson­ ders das Wahlrecht, wie setzten sie den Konflikt um Abgaben und Steuern fort? Bauern und Tagelöhner mußten zunächst einmal zu ganz unter­ schiedlichen Bewertungen des Wandels ihrer politischen Umwelt kommen. Erstens wünschte zwar die gesamte ländliche Bevölkerung eine Erleich­ terung der Lasten, Steuern und Sportein. Aufgrund der Struktur der bodenrechtlichen Gefälle waren die Lehnlandbauern jedoch diejenigen, die einerseits weit mehr als die Besitzer zersplitterter Erblandgüter von einer Ablösung der bodenrechtlichen Lasten (besonders Zehnt, Grundzins und Fahrdienste) profitierten - von den lästigen verbliebenen Diensten und der materiellen Beeinträchtigung in der Wald- und Jagdfrage ganz zu schwei­ gen28 - und andererseits die notwendigen Ablösungszahlungen aufbringen konnten. Die Forderung nach einer Regelung der Ablösung,29 welche die Erschütterung der öffentlichen Ordnung auf dem Lande in den Revolutio­ nen von 183030 und 1848/49 31 begleitete, war daher eine zentrale Forde­ rung der bäuerlichen Gemeindefuhrungen. Diese Forderung machte sich der ständische Verfassungsliberalismus schließlich zu eigen und schuf sich dadurch potentiell einen Rückhalt unter den bäuerlichen Hofbesitzern, den eigentlichen Gewinnern der Ablösung.32 Die Hofbauern sahen in den Gesetzeswerken der Revolutionen von 1830 und 1848 aber zweitens keineswegs nur Vorteile. Die Schwälmer Bauern beklagten beispielsweise nicht nur die Armenrechtsregelung der neuen Verfassung. In ihren Augen gefährdeten die Reformgesetze unmit­ telbar materiell die gemeindlichen Ressourcen und in einem allgemeineren Sinne auch die moralische Disziplin der Unterschichten, mit denen diese

230 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Bauern in den Armenrechtskonflikten ständig konfrontiert wurden. Bei einigen bäuerlichen Vertretern, wie dem bäuerlichen Ständevertreter und Sohn des Wasenberger Bürgermeisters Knoch oder dem Landwahlbezirks­ vertreter Ziegenhains von 1832-33, dem Bürgermeister von Wiera Schäfer, zeichnete sich die Entstehung eines genuin politischen, nicht ausschließlich aus dem Konflikt um die Ablösungs-, Steuer- und Armenrechtsfrage, son­ dern auch aus der Bewertung gesamtgesellschaftlichen Wandels entstehen­ den Konservativismus ab. Keine der beiden Pole der fraktionell ohnehin selbst nach 1848 nicht verfestigten politischen Richtungen der Konservati­ ven - denen sich Schwälmer Lehnlandbauern mit einschlägigen Erfahrun­ gen mit dem neuen Armenrecht als bäuerliche Ständevertreter wie der Sohn des Wasenberger (Typ IIIb) Bürgermeisters Knoch oder der Bürger­ meister von Wiera (Typ IIIb)33 anschlossen -, der Konstitutionellen oder der Liberaldemokraten34 bot auch nur für die Hofbauern ein als ganzes schlüssiges Programm. Die öffentliche Spaltung der bäuerlichen Ständever­ treter im Verfassungskonflikt bis 186035 reflektierte keine Uneinigkeit über den Wunsch nach Steuerbefreiung und Ablösung, sondern die Instrumen­ talisierbarkeit der materiellen und immateriellen Wünsche der bäuerlichen Führung durch sich gegenseitig bekämpfende politische Richtungen.36 Die Verfassungsbewegung bot aber nicht nur für die eigentlichen Hof­ bauern unvereinbare Aspekte. Die gewerblich tätigen Parzellenbesitzer und Tagelöhner gewannen im Zuge der Wahlrechtserweiterung von 1834 und 1848 potentiell an Gewicht. Das kam den parzellenbesitzenden Unter­ schichten bereits 1834 zu Gute. In Gemeinden mit vielen Parzellenbesit­ zern wie dem oben beschriebenen Flecken Burghaun eroberten diese landarmen Unterschichten schon vor 1848 Boden im Gemeinderat. Die Reform des Armenrechts und das neue Wahlrecht waren jedoch nur dann Gewinne, wenn nicht zugleich andere Rechtsgruppen, wie beispielsweise die jüdischen Nachbarn, ebenfalls in den Genuß neuer Rechte kamen. Die Gewerbefreiheit und die Ansätze zu einer Emanzipation der Juden drohten in den Augen der Unterschichten den bisher rechtlich geschützten Nah­ rungsspielraum der Gemeinden einzureißen, eine Bedrohung, der die Unterschichten nun ihr neues Gewicht in den Gemeinden und bei Wahlen entgegenwerfen konnten.37 Steuern und Sportein blieben schließlich gera­ de für die Parzellenbesitzer und Tagelöhner ein Problem, das nicht mit der Ablösung, sondern erst mit der Aufhebung der Landeshoheit erledigt schien. Nicht zuletzt, weil sich beide Klassen einzelne Punkte aus dem jeweiligen Gesamtprogramm heraussuchen mußten, den Unterschichten aber ohnehin häufig nur ein eingeschränkter Handlungsspielraum beschie­ den war, besaß keines der entstehenden politischen Lager einen grundle­ genden materiellen Ausgangsvorteil bei der Mobilisierung der Gemeinden. Die konkurrierenden politischen Gruppierungen mußten daher immate231 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

rielle Ziele in die Waagschale zu werfen. Die fränkischen Demokraten behalfen sich, in dem sie bei der Mobilisierung der ländlichen Bevölkerung für die Reichsverfassungskampagne das Eigengewicht des alten Reichspa­ triotismus der Gemeinden gegen ihre Landeshoheit zugunsten einer geein­ ten Nation gegen den bayerischen Staat ausspielten. In den Kerngebieten der alten Landgrafschaft fehlte in den Gemeinden eine vergleichbare Inten­ sität reichspolitischer Erfahrung. Nur in den neugewonnenen ehemals reichsritterlichen Randgebieten Kurhessens gehörte der Appell an konkur­ rierende Obrigkeiten und an das Reich zum traditionellen Repertoire der Auseinandersetzung mit der eigenen Obrigkeit.38 Während die Verteidi­ gung der angestammten Kirche gegen liberale Reformen und neue religiöse Bewegungen39 zur Trumpfkarte der Konservativen wurde, ließ sich die Abwehr äußerer Feinde von Heim und Herd auch durch oppositionelle Strömungen instrumentalisieren. Hessen teilte mit Franken die Erfahrung der wiederholten Plünderung durch fremde Truppen.40 Die besonderen Härten der französischen Herrschaft nach 1807 führten zu Massendeser­ tionen (1806), kollektiven Dienstverweigerungen (seit 1812) und, ein Gegenstück zu der fränkischen Legion des Grafen Nostitz, zu einem regelrechten Aufstand unter besonders aktiver Beteiligung der Schwälmer Bevölkerung (1809). 41 Dieser Aufstand wurde von einem Advokaten ange­ führt, der sich der ersten Welle des deutschen Intellektuellennationalismus zurechnen läßt.42 Seine Forderung nach der Einigung der deutschen Nati­ on ließ ihn für die kurfürstliche Verwaltung, ja, sogar für die Mainzer Untersuchungskommission der Reaktionszeit, zum mißtrauisch beäugten potentiellen Umstürzler werden. Der Weg in den landesherrlichen Dienst blieb ihm versperrt.43 Er wurde in den Augen der Gemeinden dadurch nie ein Repräsentant der Obrigkeit, mit der die Gemeinden nach 1813 ihren Kampf um Lasten und Steuern fortsetzten. Stattdessen formulierte er für die Schwälmer Bauern 1830 eine Petition mit der Bitte um eine Lastenverringerung und um die Ablösung.44 Radikalen Appellen politischer Exzentriker standen mindestens die Lehnlandbauern skeptisch gegenüber.45 Die Erschütterung der kurfürstlichen Autorität in der französischen Zeit und die Forderungen der Verfassungsbewegung nach Ablösung der Lasten46 ließen jedoch auch die Bauern nach einer politischen Alternative fahnden, die innere Ordnung, Schutz gegen die Unterschicht und Lastenabbau verband. Politische Au­ ßenseiter wie Martin konnten durch engagierte praktische Parteinahme gegen die Franzosen und für die Ablösung für ihre Ideen werben. Sie blieben Außenseiter. Aber die Gemeinden wurden mit der Idee einer deutschen Nation als neuer möglicher Appellationsinstanz gegen die lan­ desherrliche Obrigkeit bekannt. Wie instrumentalisierte der traditionelle Gemeindeprotest diese neuen 232 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

potentiell obrigkeitskritischen politischen Ideen und die neuen Möglich­ keiten politischer Partizipation, mit denen er im Verlauf der Revolutionen von 1830 und 1848 in Berührung kam? Wirkten diese Ideen und Möglich­ keiten umgekehrt auch in die innergemeindlichen sozialen Konflikte hinein und veränderten das Selbstverständnis der Gemeinden und ihrer Bewoh­ ner? Diesen Fragen soll an Hand der sozialen Zusammensetzung und des öffentlichen Verhaltens der Bürgerwehren und des Umfangs und der Zielrichtung der Petitionsbewegung von 1848/49 nachgegangen werden. Die erste in die Gemeinden unmittelbar hineinreichende Berührung der Verfassungsbewegung mit den Bauern und Tagelöhnern war, neben der Veränderung des Wahlrechtes, die Organisation der Bürgerwehren.47 Die Verfassung von 1831 sah die Errichtung von Bürgergarden in den Städten und Landgemeinden des Kurstaates im Rahmen des Bürgergardengesetzes vor. Die Verfassungsbewegung suchte sich in den Bürgergarden ein eigenes Instrument der selbständigen Haushaltsvorstände zu schaffen.48 Die ländli­ chen Gemeinden bewiesen vereinzelt 1830 und 1848, unter welchen Bedingungen sie zur Anwendung kollektiver Gewalt ohnehin bereit waren, suchten sich aber von der als zusätzlicher obrigkeitlicher Last empfundenen formalen Organisation einer Bürgergarde zu drücken, soweit möglich besonders im vollbäuerlichen Kreis Ziegenhain.49 Dort hatte sich das Bür­ gergardewesen bis Ende 1839 daher völlig aufgelöst.50 Im Gefolge der Märzereignisse wurden die Bürgergarden bis Mai 1848 auf den obrigkeitli­ chen Druck der Landräte hin jedoch reorganisiert, aber auch jetzt noch spiegelte die Rekrutierung für die Bürgergarden in den Landgemeinden die lokalen Machtverhältnisse wider. Der Anteil der beteiligten Gemeindebe­ wohner war in den oberhessischen Kreisen nicht nur recht unterschied­ lich,51 weil beispielsweise von den siebenundsiebzig Landgemeinden im Kreis Frankenberg nur dreißig eine Garde aufbauten (39%), während sich im Kreis Ziegenhain von neunundsiebzig Landgemeinden siebzig an der Aufstellung beteiligten (88%).52 Systematische Unterschiede im Grad der Mobilisierung zeigen sich überdies beim typenspezifischen Blick auf die Samplegemeinden. Die kleinen bäuerlichen Weiler und mehr oder minder bäuerlich be­ stimmten Schwälmer Dörfer wiesen geringere Gardistenanteile auf als die Mittelgebirgsgemeinden Nordeck und Oberaula. Denn die Aufstellung der Garden und ihre Zahl hingen auf der Ortsebene nicht zuletzt damit zusammen, wen der örtliche Gemeindevorstand für zuverlässig hielt, eine Waffe, und sei es eine Pike, zu tragen. Solche Überlegungen über die Zuverlässigkeit der Gemeindemitglieder drängten sich bei den Schwälmer Bauern vermutlich nicht nur durch die Erfahrungen mit der Unterschicht in den Armenrechtskonflikten und den nächtlichen Rügeritualen, sondern auch wegen der Nachrichten über die Bürgergarden aus den Mittelgebirgs233 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

flecken auf. Dort nutzten die Parzellenbesitzer wie in Unterfranken ihren Handlungsspielraum, um die Bürgergarden nicht nur gegen den Landes­ herren, sondern auch gegen ihre eigenen Gemeindevorderen, soweit sie sich nicht ohnehin zum Schulterschluß mit den Unterschichten verstanden, einzusetzen und zu einem Forum ihres Protestes zu machen. In diesen von Parzellenbesitzern dominierten Gemeinwesen, den Flecken und Ackerbür­ gerstädten wie beispielsweise Kirchhain, die bereits 1830 das eigentliche Zentrum politischer Aktivität gewesen waren, kam es zwischen 1833 und 1839 zu Krawallen betrunkener Gardisten, welche die Bürgergarde als Druckmittel zur Durchsetzung ihrer Forderungen nutzten. Zu den Offi­ zieren und Unteroffizieren der städtischen Bürgergarde von Kirchhain zählten schließlich auch landarme Handwerker, die sich gegenüber der städtischen Obrigkeit und den Gendarmen bei einem Tumult mit dem Hinweis rechtfertigten, »Ei was, Aufruhr. Wir sind Bürgergardisten und haben das Recht!«53 Aber auch in den Arme-Leute-Gemeinden des Burg­ waldes im Kreis Frankenberg rückten parzellenbesitzende Unterschichten und Handwerker, ja sogar Tagelöhner bis in die Unteroffiziersränge der Bürgergarden auf, die sich wie in dem Arme-Leute-Dorf Nordeck oder der Ackerbürgerstadt Frankenberg in der Märzrevolution aktiv am Widerstand gegen die kurfürstlichen Truppen bzw. am Sturm auf das adlige Schloß beteiligten.54 In den von Handwerkern und kleinen Parzellenbesitzern bestimmten Orten vertraten die Bürgergarden ebenso wie in Unterfran­ ken55 die Autonomie der Gemeinde gegenüber der Obrigkeit und befan­ den sich dadurch mal im Einklang, bei Krawallen gegen die jüdischen Nachbarn jedoch auch im Widerspruch zu den Zielen der liberalen Verfas­ sungsreformbewegung.56 Aber auch den wenigen Hofbauern dieser Ge­ meinden konnte die Oganisierung von Tagelöhnern und landarmen Hand­ werkern unter dem Dach solcher Bürgergarden kaum genehm sein. Im großbäuerlicheren Kreis Ziegenhain mit seiner alten Truppen- und Festungsstadt stellten sich das Selbstverständnis und die Funktion der Bürgergarde anders dar. Die Ziegenhainer Bürgergarde beteiligte sich nicht an Tumulten, nahm noch 1839 Diebe fest57 und zählte von Beginn an die jüdischen Nachbarn, als treue Untertanen des Kurfürsten gleich ihren christlichen Mitbürgern, in ihren Reihen.58 Schon die Kirchenmänner, die anläßlich der Errichtung der Ziegenhainer Garde 1834 und erneut 1840 predigten,59 verstanden sich als Teil einer Monarchia Christiana, die den Rekurs auf den modernen Partizipationsstaat nicht benötigte. Prediger Schantz60 erinnerte 1834 an die Heldentaten des Festungskommandanten Hans von Lüders 1534 im Schmalkaldischen Krieg, an den Festakt von 1815, als die Befreiung von Napoleon gefeiert wurde, und interpretierte die Verfassung von 1831 und die Bürgergarde ganz im Licht der Gentz­ schen Auslegung. »Die Bürgerbewaffhung ist nicht eine neue, sie ist eine 234 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Tabelle 26: Die Bürgergarden in den Sample-Gemeinden Typ

Bevölkerung 1846

II Oberaula Nordeck III a Merzhausen Willingshausei ι Frielendorf IIIb Schrecksbach Wasenberg Holzburg Loshausen Wiera Zella IV Leimbach Ransbach

Haushalts­ vorstände 1855

Gardisten

in % der Bevölk.

986 655

190 125

93 55

9,4 8,4

48,9 44,0

1641

315

148

9,0

46,9

704 688 787 2197

144 152 160

8,4 6,3 8,3

40,9 28,3 40,6

456

59 43 65 167

7,7

36,6

772 740 373 501 420 396

140 134 63 115 85 86

69 51 41 39 17 26

8,9 6,9 10,9 7,8 4,0 6,6

49,3 38,1 65,1 33,9 20,0 30,2

3202

623

243

7,6

39,0

72 keine Bürgergarde aufgestellt

2

in % der Haushalts­ vorstände

2,8%

Quelle: Bestand 19G Nr. 164.

uralte Veranstaltung unseres hessischen Vaterlandes, welche wir schon unter Landgraf Philipp dem Großmütigen finden«. Obwohl Schanzt die Nivellierung der sozialen Unterschiede durch den Dienst im »bürgerlichen Militär« würdigte,61 sah er ihr wichtigstes Anliegen doch in der Verteidi­ gung von »Besitzthum und sicheren Erwerb, bestehendem Recht, Obrig­ keit und öffentliche Sicherheit vor dem zahlreichen Haufen unruhiger Menschen« und in der Abwehr äußerer Feinde wie schon im Dreißigjähri­ gen Krieg.62 Obgleich die Verteidigung von Besitz und Recht gegen die »Eigentums­ losen«63 durchaus auch eine liberale Forderung der Zeit war, folgt die umstandslose Identifikation der neuen Institutionen der Verfassung von 1831 mit den altständigen Partizipationsrechten der restaurativen Deu­ tung Gentz‹ von 1819.64 235 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Die sechs Jahre später von Pfarrer Stolzenbach gehaltene Predigt setzte mit dem Lob auf die Landgräfin Amalie Elisabeth, die Führerin Hes­ sen-Kassels in der Endphase des Dreißigjährigen Krieges, und die »Stand­ haftigkeit der evangelischen Fürsten und Völker« ein, die bereit gewesen seien, »lieber alles zu verlieren«, als die evangelische Lehre aufzugeben. Die Ziegenhainer Schützen hätten entscheidend an der Verteidigung Hessens im Dreißigjährigen Krieg mitgewirkt. Der Krieg sei zwar eine »Zeit des Jammers« gewesen, diese Zeit habe aber auch zur »Bildung des Mutes, der Standhaftigkeit, der Glaubenskraft, des Gottvertrauens und der freudigen Hingebung für das teure Vaterland« beigetragen. Von den liberalen Errun­ genschaften der Verfassung von 1831, als deren Kind gerade die Bürgergar­ de entstand, weil einzig hier die liberale Verfassungsbewegung das Gewalt­ monopol des Fürsten wenn nicht durchbrach, so doch relativierte, war keine Rede mehr. Während die Predigt von 1834 wenigstens im Ansatz die Gesellschaft der Staatsbürger zu thematisieren schien, blieben 1840 nur noch die protestantische Konfession, das hessische Vaterland und der Dreißigjährige Krieg die Leitbilder dieser Traditionsbildung. Angesichts des Symbolstreits zwischen eng am Bekenntnis der Kirche orientierten Klerikern und für eine liberalere Auslegung plädierenden Juristen, der schließlich in die Etablierung der hessischen »Lichtfreunde« als kirchen­ und staatskritischer Sammlungsbewegung mündete, war das auch eine Option zugunsten des Fürsten - wenn auch innerhalb seiner Funktion und Aufgaben in der Monarchia Christiana, nicht unbedingt gegenüber der Obrigkeit des säkularisierten Staates, wie sich später konsequent gegenüber Preußen zeigte.65 Für die Schwälmer Bauern lag es angesichts ihres innergemeindlichen Handlungsspielraumes und ihrer skeptischen Bewertung der Verfassungsre­ formen nahe, sich trotz der Konflikte mit der Obrigkeit um den Fürsten als Symbol der gegebenen Ordnung zu sammeln, solange dieser die Besitzver­ hältnisse auf dem Lande zu garantieren versprach und die Ablösung nicht gefährdet schien. Die alte Ordnung verbürgte zumindest Sicherheit gegen­ über dem »zahlreichen Haufen unruhiger Menschen, durch die Ideen falscher Freiheit bethörter Leute, ohne Besitzthum und sicheren Erwerb«, die, »weil sie nichts zu verlieren haben ihre Hände nach dem Eigenthume der besseren Bürger räuberisch austrecken«. Die Erschütterung der kurfürstlichen Obrigkeit durch die Märzereignis­ se von 1848, der Zusammenstoß der Garde du Corps mit Kassler Bürgern in der Nacht vom 9. zum 10. April und die neue Revolution66 führten jedoch zu einer neuen Erschütterung der Ordnung, auf die sich auch die Bauern einstellen mußten. Durch das Paulskirchenparlament geriet, wenig­ stens für kurze Zeit, erstens eine neue Appellationsinstanz in das Blickfeld von Bauern und Tagelöhnern, durch welche die kurfürstliche Ordnung 236 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

relativiert wurde. Es kam überdies zweitens zur Erweiterung des Wahl­ rechts auf alle männlichen Haushaltsvorstände, die über dreißig Jahre alt waren und eine direkte Steuer entrichteten. Auch die Mieter gelangten dadurch in den Genuß des Wahlrechtes.67 Die Verfassungsreform akzentu­ ierte nicht mehr nur die ohnehin bereits bestehenden Handlungsspielräu­ me der Unterschichten, sondern erweiterte sie. Obendrein wurde den Greben die Kontrolle über den Wahlvorgang entzogen und den gemeind­ lichen Vorstehern übertragen.68 Während sich für Bauern und Unterschich­ ten potentiell neue Möglichkeiten der Interessendurchsetzung eröffneten, mußten sich die Bauern auf die neuen Rechte der Unterschichten in den Gemeinden einstellen. Die Konsequenzen dieser Sachlage lassen sich von ›außen‹, durch die Untersuchung des Verhaltens der Gesamtgemeinden, und von ›innen‹, durch die Rekonstruktion der Meinungsbildung in der dörflichen Politik, feststellen. Die folgende Untersuchung der Petitionsbe­ wegung von 1848/49 dient dem ersten Zweck. Die Petitionsbewegung an die Frankfurter Paulskirchenversammlung in der Revolution von 1848/49 mit ihren insgesamt 25.000-30.000 Petitio­ nen und die Beteiligung hessischer Gemeinden an ihr werden in der Forschung als ein Reflex nicht nur der kollektiv-gemeindlichen Forderun­ gen, sondern auch der Fundamentalpolitisierung jedes einzelnen Gemein­ deangehörigen verstanden.69 Es lohnt daher zu fragen, ob sich, wenn schon nicht an den Bürgergarden, so doch an Hand der Petitionsbewegung tatsächlich eine Fundamentalpolitisierung der ländlichen Bevölkerung be­ obachten läßt. Oder gab es zwischen Bauern und Unterschichten auf der Grundlage des jeweiligen örtlichen Handlungsspielraumes im Rahmen der dörflichen Politik nur neue Übereinkünfte, durch die der traditionelle Gemeindeprotest Anschluß an die neue Obrigkeitskritik fand und dadurch politisiert wurde, in seiner die dörflichen Eigentumsverhältnisse bewahren­ den und zugleich obrigkeitskritischen Struktur aber unverändert blieb? Selbst im politisch regeren Südhessen blieben die ländlichen Unterschich­ ten schließlich im Schlepptau ihrer Pfarrer, Bürgermeister und lokalen traditionalen Interessenvertretung.70 Der Frage nach dem Einfluß der erweiterten politischen Partizipation auf die Spielregeln der dörflichen Politik der Gemeinden läßt sich an Hand der Häufigkeit und politischen Färbung der kurhessischen Petitionen und ihres Bezugs zu der jeweiligen dörflichen Willensbildung nachgehen. Die politische Färbung der Petitionen läßt sich an Hand ihrer Forderun­ gen und der politischen Gesamtentwicklung ermitteln. Im politisierteren Frankfurter Raum bahnte sich seit dem Sommer 1848 eine deutliche Differenzierung zwischen konstitutionellen und demokratischen Vereinen an. Beide rückten in der Frage der Reichsverfassung im März und Mai 1849 zwar wieder zusammen. Seit Ende 1849 führte der Fatalismus der Konsti237 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

tutionellen dann jedoch zur Aufnahme konservativer und antisemitischer Parolen.71 Angesichts der politisch weniger mobilisierten ländlichen Regio­ nen Ober- und Niederhessens und der Fluktuationen unter den noch nicht zu modernen Parteien verfestigten politischen Strömungen läßt sich für Kurhessen eine gröbere Differenzierung vertreten.72 Die unmittelbar poli­ tischen Forderungen in den Petitionen werden daher in eindeutig demo­ kratische, eindeutig konstitutionelle und solche eingeteilt werden, die sich sowohl dem demokratischen als auch dem konstitutionellen Spektrum zuordnen lassen.73 Die Petitionen wurden darüber hinaus den Bereichen ›Politik‹, ›sozioökonomische Forderungen und ›lokale und regionale Spe­ zifika‹ zugeordnet. Die Petitionen gegen die Mediatisierung Kurhessens und zur künftigen Militärverfassung Deutschlands, die regelmäßig gemein­ sam aus denselben Gemeinden auftauchten, wurden gesondert beobachtet. Die sozioökonomischen Forderungen behandelten Zollschutz, Schutz von Handel und Gewerbe, sie wandten sich gegen die Gewerbefreiheit;74 die Petitionen mit regionalen und lokalen Spezifika bezogen sich auf Ablö­ sungsfragen und Einquartierungen. In katholischen Gegenden ging es außerdem um Schule und Religion. Damit sind zugleich die wichtigsten Gegenstände der Petitionen genannt.75 Die einundzwanzig kurhessischen Kreise lassen sich nach dem Anteil der Gemeinden im Kreis, die Petitionen nach Frankfurt sandten, und nach der Zahl der Kreiseinwohner je Petition grob in fünf Gruppen einteilen. In Kurhessen insgesamt kam auf 1255 Einwohner eine Petition, von 16.5% der Orte ging wenigstens eine Petition aus. Deutlich über diesem kurhessi­ schen Durchschnitt lagen der Kreis Schmalkalden (auf 272 Einwohner eine Petition, 80% aller Orte mit Petitionen) und eine Gruppe aus drei hanaui­ schen, zwei oberhessischen und zwei niederhessischen Kreisen. In ihnen lag die Zahl der Einwohner pro Petition bei bis zu 1600 und der Anteil der durch Petitionen hervortretenden Gemeinden bei mindestens 25%. Aus diesen acht ›politisierten‹ Kreisen gingen alleine 371 (66,6%), also zwei Drittel aller Petitionen aus Kurhessen hervor. Von diesen waren 191 auf Fragen der Reichsverfassung gerichtet und nicht mit lokalen oder regiona­ len Spezifika beschäftigt. 162 dieser 191 Petitionen (84,8%) waren demo­ kratischen Inhalts oder lassen sich dem demokratisch-konstitutionellen Schulterschluß für die Reichsverfassung Anfang 1849 zurechnen. Die mit regionalen Spezifika beschäftigen Petitionen teilten sich in solche von Katholiken für religiöse Freiheit, in Forderungen für Gewerbe- und Zoll­ schutz und, vor allem, in Proteste gegen die Mediatisierung Kurhessens; sie nahmen unter den Petitionen der politisierten Kreisgruppe die andere knappe Hälfte der 371 Petitionen ein. Diese Durchschnitte verdecken, daß es innerhalb dieser ›politisierten‹ Gruppe von Kreisen wiederum zwei Untergruppen gab. In den Kreisen 238 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Hanau, Frankenberg, Gelnhausen und Schlüchtern betrug der Anteil der reichspolitischen Petitionen über 75%, zum Teil über 90% aller von dort nach Frankfurt gesandten Petitionen. Der Anteil der demokratischen oder demokratisch-konstitutionellen Forderungen unter ihnen lag bei über zwei Drittel. Hanau ist als besonders unruhige kurhessische Provinz bekannt, Frankenberg mit 93% politischen Petitionen wird unten eine eigene Fallstu­ die gewidmet. In Schmalkalden, Kirchhain, Hünfeld und Eschwege kam der Anteil reichspolitischer Petitionen dagegen nie auch nur auf ein Drittel aller Petitionen. Dort dominierten stattdessen Forderungen nach Gewer­ beschutz und Proteste gegen die Mediatisierung Kurhessens. In Hünfeld und Eschwege kam es 1848 zu antisemitischen Ausschreitungen. Kirchhain hatten wir bereits als den oberhessischen Kreis kennengelernt, in dem im Vormärz Rügen gegen Gemeindevorgesetzte eine wichtige Rolle spielten und die Bürgergarde von Kirchhain 1839 das Rathaus zu stürmen suchte. Der Protest in diesen Kreisen war also intensiv, aber er richtete sich gegen die Juden oder im Rahmen traditionellen Gemeindeprotests gegen unter­ drückerische Ortsvorgesetzte, er setzte sich für Gemeindeautonomie sowie für den Schutz des traditionellen Handwerks und für den Bestand des kurhessischen Staates ein. Der soziale Protest blieb also auf den Bestand gegebener Ordnungen und die Gemeindeautonomie gerichtet, die Reichs­ verfassung spielte dagegen nur eine untergeordnete Rolle.76 Die restlichen elf nur schwach politisierten Kreise wiesen einen ebenso hohen Anteil reichspolitischer Petitionen auf wie die acht stärker politisier­ ten Kreise. Allerdings lag der Anteil demokratischer Petitionen unter diesen reichspolitischen Petitionen mit 7,3% deutlich unter dem in den politisier­ ten Kreisen mit 16,9%. Dagegen lag der Anteil der rein pro-konstitutionel­ len Petitionen mit 10,4% deutlich über dem entsprechenden Anteil in den politisierteren Kreisen mit nur 2,2%. In den städtisch dominierten Kreisen wie Kassel, Marburg oder Hanau war der Anteil reichspolitischer Petitionen besonders hoch. In den geringer politisierten Kreisen war der Anteil demo­ kratischer Petitionen geringer als in den politisierteren Kreisen. Aus fünf Beobachtungen hinsichtlich Häufigkeit, Gehalt und regionalem Hintergrund der Petitionen folgt jedoch, daß der Häufigkeit der Petitio­ nen keine bestimmte politische Haltung entsprach und daß der Absender der Bitten keine von dem traditionellen Gemeindeprotest emanzipierte Bevölkerung war. Erstens waren die acht relativ politisierteren Kreise keine ausgesprochenen Stadtkreise im Umkreis des Einflusses der Verfassungsbe­ wegung. Zweitens bildeten nur in vier der acht politisierteren Kreise Petitionen für die Reichsverfassung die Mehrheit aller Eingaben. In den vier anderen formierte sich traditioneller Protest, der sich seiner Form nach, nämlich als Eingabe an das Frankfurter Parlament, der neuen Adresse für die traditionell längst bekannten Gravamina, angepaßt hatte, seinem Inhalt 239 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

240

1255

Kurhessen

865

497

1599

1031

919

752

1388

Hanau

Frankenberg

Kirchhain

Gelnhausen

Hünfeld

Schlüchtern

Eschwege

Politisierte Kreise insges.

272

Schmalkalden

Politisierte Kreise

Einw. je Petition

Kreis

25,0

28,3

30,8

33,3

34,9

36,2

42,6

80,0

16,5

% der Orte

99 26,7

16,9

3 10,0

63

18 40,9

8 18,2

_ -

-

2,2

8

1 3,3

1 2,3

-

5,7

21

2 6,7

7 15,9

_ -

1 3,1

-

6 18,8

3 18,7

-

-

5 11,6

3 4,5

_

47 8,4

un­ klar

1 2,3

3 4,5

2 1,8

24 4,3

konst.

26 60,5

25 37,3

21 19,4

146 26,2

demokr./ konst.

22 68,7

2 12,5

8 18,6

23 34,3

-

91 16,3

demokr.

(51,5)

(191)

(6) (20,0)

(34) (77,3)

(-) (-)

(29) (90,6)

(5) (31,3)

(40) (93,0)

(54) (80,6)

(23) (21,3)

(308) (55,3)

Anteil Polit.

Tabelle 27: Kurhessische Petitionen an die Frankfurter Nationalversammlung

11,1

41

17,5

65

2 6,7

8 18,2

7 23,3

30 96,8

2 6,3 1 3,2

1 3,1

3 6,9

-

11 68,7

9 13,4

-

-

93 16,7

lok. Spez.

4 5,9

28 25,9

64 11,4

sozio ökon.

100

371 74 19,9

30 100

44 100

31 100

32 100

16 99,9

15 50,0

2 4,5

_ -

_

-

43 99,9

67 99,9

_ -

108 99,9

557 100

Insges.

57 52,8

92 16,6

Med. KH

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

241

4209

6711

7993

10305

12149

Fritzlar

Witzenhausen

Homburg

Melsungen

Schaumburg

3,2

4,7

4,7

4,6

6,0

2,7

14,3

11,4

3,4

4,4

Quelle: Geisel, Kurhessische Petitionen.

Weniger politisierte Kreise insges.

3286

3012

Ziegenhain

3822

2808

Hersfeld

Rotenburg

2675

Fulda

Wolfhagen

2563

Hofgeismar

5,8

9,8

1483

Kassel

Weniger politisierte Kreise

9,6

865

Marburg

Durch Städte dominierte Kreise

1

7 7,3

2

-

32 33,3

2

4

3

-

-

2

8,3

75,0

-

10 10,4

4

-

-

1

1

9

-

1 7,7

1 5,6

2 13,3

5 10,6

1 2,3

3 23,1

3 16,7

5 33,4

11 23,4

4 9,3

2 15,4

2 11,1

1 6,7

5 10,6

16 37,2

(64) (66,7)

(6)

15 15,6

(7)

(2)

(2)

(5)

(1)

(-)

(83,3)

(10)

(7) (53,8)

(14) (77,8)

(10) (66,7)

(27) (57,4)

(26) (60,5)

3

1

-

-

1 7,7

8 44,4

2 13,3

6 12,8

5 11,6

1

12 12,5

2

1

13 13,5

-

1

1

1

1

1

7 7,3

-

-

3

16,6

2

2

1 7,7

96 100

9

8

3

3

7

2

6

99,9

12

13 100

18 100,1

-

3 16,7

15 100,1

1 6,7

47 100

6 12,8

8 17,0

3 20,0

43 99,9

5 11,6

8 18,6

1

-

-

5 38,5

1 5,6

1 6,7

6 12,8

4 9,3

nach aber durch die Verteidigung bestimmter partikularer Interessen be­ stimmt blieb. In der Regel gingen solche Petitionen von Ortsvorstehern, Bürgermeistern oder Zunftmeistern aus, also den Repräsentanten der tradi­ tionellen lokalen Organisationsformen Gemeinde und Zunft, nicht von den in der Revolution neugründeten Vereinen. Falsch wäre es drittens, auf weniger krisenhafte Verhältnisse in diesen weniger von der Verfassungsbewegung berührten Kreisen zu schließen. In Hünfeld wüteten die Tagelöhner der Gegend bereits 1846 gegen Lebens­ mittelexporte und Branntweinbrennereien. Im Kreis Schmalkalden, in dem auf nur 272 Einwohner und aus vier von fünf Orten ein Petition kam, wandten sich über die Hälfte der Petitionen gegen die Mediatisierung Kurhessens, und weniger als ein Fünftel läßt sich dem demokratisch­ konstitutionellen Lager zurechnen. Schmalkalden war jedoch durch die Krise seiner Kleineisenindustrie der am schwersten von der vormärzlichen Gewerbekrise erschütterte Kreis Kurhessens. Die Revolution von 1848 brachte dieses Pulverfaß zur Explosion. Im März demolierten die Kleinei­ senhandwerker eine Drahtstiftfabrik. Die Waldfrevel nahmen sprunghaft zu.77 Die Beamten berichteten schreckerfüllt von der »Rebellion und Meuterei des Pöbels«, der an einigen Orten »mit Trommeln und Fahnen« die »Demolierung und Plünderung der Wirtshäuser« in Angriff nahm. In Brachfelde ging das nicht ohne »Brand und Plünderungen« und der Forderung nach »Abgabenerlaß, Aufhebung von Dienstbarkeiten, Theilung der Waldungen« und obendrein mit »Unterstützung der Bürgergar­ de« vonstatten. In Brotterode wurde das Magazin geplündert. Obwohl »die besitzlose Klasse der Bevölkerung sehr zahlreich und raubsüchtig ist, unter ihr sich viele gefährliche Verbrecher befinden und ein unheilvoller Instinkt sie zur Vereinigung treibt«,78 gelang es den Demokraten im Gegensatz zu Franken jedoch selbst hier nicht, sich an die Spitze dieses Protestpotentials zu stellen. Ebenso wie in Kirchhain stellte sich die Bürger­ garde auf die Seite der revoltierenden Parzellenbesitzer, aber keineswegs auf die Seite der Verfassungsbewegung. Weniger als ein Fünftel der Petitio­ nen lassen sich der Kampagne für die Reichsverfassung zuordnen, aber über die Hälfte wendete sich gegen die Mediatisierung Kurhessens. Die divergie­ rende territorialgeschichtliche Vergangenheit im Alten Reich erklärt die divergierende Haltung der unterfränkischen und schmalkaldischen Unter­ schichten in der Revolution. Während die antibayerische und reichspatrio­ tische Tradition Frankens für die Agitation der fränkischen Demokraten einen Hebel bot, orientierte sich die Hoffnung der verarmten Unterschich­ ten Schmalkaldens am Schutz durch den angestammten Landesherren. In der weniger politisierten Mehrheit der Kreise wie Ziegenhain und Hofgeismar dominierten viertens Forderungen, die sich dem konstitutio­ nellen Lager zurechnen lassen. In Hofgeismar waren zwar in einigen Orten 242 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

republikanische Ideen durch einen Advokaten und einen Fabrikanten in Umlauf gebracht worden. »Diese haben unter den Einwohnern die Ansicht verbreitet, daß ein Wildschadensgesetz nicht mehr genüge, vielmehr alles Wild sofort fortgeschossen werden müsse. Die große Masse der Einwohner hat ungeachtet des Widerstrebens der Ortsvorstände diese Ansicht schnell ergriffen, und hat die übrigen Einwohner durch Drohungen gezwungen, eine allgemeine Treibjagd anzustellen«.79 Das Vereinswesen in den Kreisen entsprach weitgehend dem durch die Petitionen gezeichneten Bild.80 Au­ ßer Marburg verfugten nur die Landstädte wie Frankenberg, Kirchhain und Rauschenberg über Volksvereine mit demokratischer Tendenz. Stattdessen entstand im Kreis Ziegenhain in Neukirchen ein Vaterlandsverein. Fünftens läßt sich zwischen dem politischen Verhalten der Deputierten der Landwahlbezirke bei der Abstimmung von 1860 über die neue okroy­ ierte Verfassung und dem politischen Erscheinungsbild der von ihnen vertretenen Kreise in der Petitionsbewegung von 1848/49 kein Zusam­ menhang erkennen. Die Petitionen der Heimatkreise der sieben im Verlauf des Verfassungskonfliktes 1860 gegen die Verfassung von 1831 stimmen­ den Bauern unterschieden sich weder der Häufigkeit noch dem Inhalt nach von denen der anderen kurhessischen Kreise.81 Die Unterstützung für die Reichsverfassung durch die meisten Kreise erklärt sich offenbar weniger durch ein grundsätzliches Bekenntnis zu einer Verfassung, sondern bestenfalls durch den Wunsch, die eigene Obrigkeit und ihre bekannten Lasten durch eine andere, noch nicht diskreditierte übergeordneten Größe zu ersetzen. Eine besondere Regsamkeit bei der Formulierung von Positionen determinierte weder ein ausgeprägtes verfas­ sungspolitisches gegenüber einem lokal-partikularistischem Interesse noch eine bestimmte politische Zielrichtung.82 Die Petitionsbewegung von 1848/49 signalisierte in diesem Rahmen die Wahrnehmung zeitlich be­ schränkter und thematisch eng eingegrenzter Interessenvertretung gegen­ über einer offenbar beeindruckbaren Obrigkeit und die Bereitschaft, Ele­ mente der neuen politischen Rhetorik zu übernehmen. Die Artikulation der Bauern und Tagelöhner blieb auf die Zeit der unmittelbaren Schwä­ chung der Obrigkeit und auf den Versuch der Durchsetzung konkreter materieller Forderungen beschränkt.83 Sie orientierte sich überdies an den innerhalb der gesamten Gemeinde durchsetzbaren Zielen und Wünschen und blieb im politischem Meinungsstreit daher ohne feste Zuordnung84 zu einer der entstehenden Parteien, soweit diese nur den sozialen Protest der Unterschichten und den Wunsch nach Ablösung bei den Bauern unter­ stützten. Spricht der Konstitutionalismus selbst der Mehrheit der weniger regen Kreise nicht aber ftir ein breites Einsickern nationaler und verfassungslibe­ raler Ideen in die ländliche Bevölkerung? Trotz des dominierenden groß243 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

bäuerlichen Konservativismus im Kreis Ziegenhain, der zu dieser Kreis­ gruppe gehörte, ging auf der Woge des neuen Wahlrechtes, der PetitionsZ­ bewegung und der Reichsverfassungskampagne schließlich selbst von hier eine Petition für die Reichsverfassung aus. Die Bevölkerung der irn Um­ kreis Ziegenhains liegenden Gemeinden fand sich im April 1849 sogar auf einer Volksversammlung des »Schwalmbezirks« zusammen. Die dort be­ schlossene Petition wurde von den Vorständen des Bürgervereins der Stadt Ziegenhain und den Vereinsvorständen der Volksvereine der Landgemein­ den getragen, darunter Weiler, Bauerndörfer und gewerblicher orientierte Gemeinden wie Ascherode, Merzhausen (IIIa), Niedergrenzebach, Rans­ bach (IV), Schrecksbach, Wasenberg (IIIb) und Willingshausen (IIIa). Der Merzhausener Volksverein unterstützte darüber hinaus eine Volksversamm­ lung in der eigenen Gemeinde, in der später verfolgte Demokraten auftra­ ten. Wenn eine umstandslose Unterscheidung zwischen dem Radikalismus unterfränkischer oder hessischer Parzellenbesitzer gegenüber dem Konser­ vativismus der großen Bauern, wenigstens was den tagespolitischen Aus­ druck ihrer Ziele anginge, schon falsch wäre, vielleicht machte sich die ländliche Bevölkerung insgesamt die neuen Ideen zu eigen? Selbst die Schwälmer Bauern waren offenbar zu Kompromissen mit der neuen politi­ schen Entwicklung bereit und in der Lage. Da sich die Unterschiede in der Häufigkeit und politischen Zielrichtung der Petitionen nicht auf die unter­ schiedlichen Interessen der verschiedenen sozialen Klassen auf dem Lande zurückführen lassen, ermöglicht vielleicht der Rekurs auf die dörfliche Politik und die Regeln des traditionellen Gemeindeprotestes - Wahrung der örtlichen Besitz- und Machtverhältnisse, Konzentration auf die Obrig­ keit als Gegner -, die verschiedenen Haltungen der Gemeinden 1848/49 aus den verschiedenen Handlungsspielräumen dieser Klassen zueinander schlüssig zu erklären. Die folgenden Mikrostudien von fünf örtlichen Revolutionsverläufen dienen diesem Ziel. Für die auf der Anhöhe ›Der kalte Steg‹ gelegene Arme-Leute-Gemein­ de Nordeck (Typ II)85 bildete die im nur knapp drei Stunden entfernt liegenden Marburg verlaufende Märzrevolution86 die Möglichkeit, auf ei­ nen Schlag wenigstens den obrigkeitlichen Teil der drückenden Lasten, zu denen bis 1848 auch 3600 Taler durch Ablösungsschulden gekommen waren, abzuwerfen. Die landarmen Handwerker und Tagelöhner konnten sich von ihren im Erbgang der Realteilung zersplitterten Parzellen ohnehin nicht ernähren. Es herrschte »Mangel an Brotfrucht«: »Brotfrucht erzeugt der Ort nicht über seinen Bedarf wegen der vielen armen Leute«. Kein einziger Bewohner besaß auch nur dreißig Acker des ohnehin schlechten Bodens, über die Hälfte aller Haushalte zählte zur Gruppe der Landar­ men87 und ernährte sich als Schmiede, Wagner, Weißbinder, Schreiner, Schuhmacher und, allein zwanzig, Leineweber, die allesamt 1855 als »arm« 244 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

charakterisiert wurden.88 Der Bevölkerungsanstieg und der Zusammen­ bruch des Leinenexports nach Amerika hatten hier wie anderswo aus den ehemaligen Kleinbauern Mitglieder der Unterschichten werden lassen. Im Unterschied zu den Schwälmer Bauerndörfern wurde ihr Handlungsspiel­ raum jedoch nicht durch bäuerliche Arbeitgeber, Ortsarmenvorsteher oder Vermieter89 eingeschränkt. Deshalb zählten 8.3% der Haushaltsvorstände90 zur lokalen Bürgergarde, darunter die wenigen Kleinbauern, aber auch die Parzellenbesitzer mit weniger als 1.25 ha.91 Am Abend des 14. März »um 9 Uhr zogen die Einwohner Nordecks unter Rufen Freiheit, Gleichheit schaarenweise vor das hiesige von Rauische Schloß. Dort angekommen forderten dieselben mit dem größten nur zu denkenden Unfug, Lärm, Schimpfreden, daß man die Thüren öffnen solle.« Nach kurzen, ergebnislo­ sen Verhandlungen stürmten sie wie ihre fränkischen Vettern das Schloß, setzten ihre Forderungen gegenüber dem eingeschüchterten adligen Her­ ren mit Drohungen durch, erpreßten etwas Bargeld, betranken sich mit dem erbeuteten Branntwein, plünderten das Schloß und zechten dort bis zum Morgen.92 Erst die Einquartierung kurhessischer Truppen überzeugte die Unterschicht von der relativen Kurzfristigkeit des Zusammenbruchs der obrigkeitlichen Ordnung und zwang sie, sich erneut auf das Instrument der traditionellen Gravamina zu verlegen. Auf den Zusammenbruch ihrer gewerblich-agrarischen Mischexistenz durch die vormärzliche Gewerbekrise und die örtlichen Mißernten hatten die von Rau durch die agrarische Modernisierung ihrer Rentengrundherr­ schaft weitere Belastungen getürmt. Dazu zählte die Einziehung bisher verpachteter Parzellen und Weideflächen93und die zweckmäßige Handha­ bung und gegebenenfalls Einschränkung oder Umlage des Holzregals, der Wegekosten und der Zehntablösung.94 Die Antwort der Unterschichten, die Verteidigung der traditionellen Nahrung gegen die Obrigkeit, die »Pferd und Ochse oder Kuh nicht mehr nimmt, sondern auch gar schlacht und frißt«,95 bemächtigte sich vermutlich durch die in unmittelbarer Nähe zirkulierenden Pamphlete96 derTopoi der Revolution. Die Behörden erteil­ ten den Nordeckern noch 1855 für diese Revolution die Quittung, als sie ihnen im Gegensatz zu den meisten anderen 1855 in der Erhebung dieses Jahres untersuchten Orten Mangel an Fleiß und Strebsamkeit bescheinig­ ten.97 Tatsächlich waren die Bergbewohner des Burgwaldes der Revolution nur gefolgt, wie ein einsichtigerer Beobachter ihnen später bescheinigte, weil sich ihre »Agitation vor allem gegen das Regierungssystem richtet, und sie [die ländliche Bevölkerung, R.V.F.] werden abfallen, sobald neue Pro­ pheten in noch grelleren Farben Opposition predigen«.98 In der gesamten Mittelgebirgslandschaft von Keller- und Burgwald zwi­ schen Marburg und Frankenberg war es bereits 1830 zu Dienstverweige­ rungen gekommen. Nun war für eine kurze Zeit »die Wirksamkeit der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

245

Behörden völlig gelähmt«. Der Oberförster und der Rentmeister wurden sogar aus der Amtsstadt Frankenberg vertrieben, deren Bürgergarde den anrückenden Husaren den Einzug in die Stadt verweigerte. Die Parzellen­ besitzer und Unterschichten schlugen nun ihr Holz im Staatsforst mit der Begründung, der Wald gehöre jetzt jedermann, randalierten gegen den Amtmann in Rosenthal, überfielen und beraubten den Geldeinnehmer des Klosters Haina, bewarfen Beamte mit Steinen und rotteten sich als Bürger­ gardisten wie in Frankenau zusammen, um den mißliebigen Bürgermeister loszuwerden. Der Frankenberger Magistrat handelte unter diesem Druck folgerichtig, als er schwarz-rot-goldene Fahnen aus der Bürgermeisterei hängte, öffentlich überlegte, Freiwillige nach Baden zu schicken und am Tage des Waldfrevelgerichts die durch Landbewohner mit Knüppeln be­ drohten Vollzugsbeamten zwar schützte, gegen die Einstellung der Verfah­ ren aber auch nichts einzuwenden hatte. Er setzte sich an die Spitze der ohnehin laufenden Bewegung, als er die neuen und eigentlich für die Bürgergarde beschafften Perkussionsgewehre an den neugründeten Turn­ verein weitergab, der sich schließlich gegen die Fürsten in Baden und nicht gegen die städtischen Honoratioren wandte. Zu einer innerstädtischen Auseinandersetzung zwischen Magistrat und Bürgerverein oder zwischen konservativem Bürgertum und liberalem Bürgerverein konnte es unter den kleinräumigen Verhältnissen Frankenbergs, im Gegensatz zur Entwicklung größerer Städte im Vormärz, nicht kommen.99 In den kleinen Ackerbürger­ städten und den Dörfern vom Typ II des Burg- und Kellerwaldes blieben die sozialen Unterschiede in der Regel ohnehin zu gering, so daß ein gemeinsamens Vorgehen gegen die Obrigkeit am nächsten lag. In den sozial differenzierteren Gemeinden kam entweder ein Kompro­ miß gegen die Obrigkeit zustande. Oder die Unterschichten besaßen keinen eigenen Handlungsspielraum, der Zugeständnisse von seifen der Bauern erzwungen hätte. Selbst an dem Tag, an dem von der Wasenberger Nachbargemeinde Merzhausen im Mai 1849 eine revolutionäre Volksver­ sammlung abgehalten wurde, konnte die Gemeinde Wasenberg ihre Bür­ gergarde beispielsweise vollzählig vor dem Landrat antreten lassen, weil die Wasenberger Bauern ihre Gardisten an einer Teilnahme in Merzhausen hindern konnten.100 Die konservative Haltung der Vertreter der Landgemeinden in der unruhigen Provinz Hanau101 und der Charakter solcher Kompromisse wird am Verlauf der Revolutionen in Merzhausen und Romsthal (beide IIIa)102 deutlich, in denen Bauern und Tagelöhner gemeinsam die Kirche oder die örtliche adlige Herrschaft bedrohten.103 Im Gegensatz zu Nordeck und Frankenberg war die Gemeinde Romsthal scharf in wenige Lehnlandbau­ ern der geschlossen vererbten Hufengüter und eine große Mehrheit der überwiegend landlosen Mieter-Tagelöhner polarisiert (Typ IIIa), 104 die 246 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

sich, wie im gesamten Bezirk, durch gewerbliche oder landwirtschaftliche Wander- und Pendelarbeit im Rhein-Main Raum durchschlugen105 und existentiell auf das Holz der 579 Acker Forst angewiesen waren, die dem örtlichen adligen Herren, dem von Hütten, gehörten. Allein schon aus dieser Konstellation ergab sich die Koalition der Bauern und Tagelöhner gegen den Adel, ohne daß die bäuerliche Führung dadurch in Frage gestellt und deren Präferenz für eine konservative Haltung in der Verfassungsfrage verändert worden wäre. Obwohl der zuständige Landrat die Entstehung der Schwälmer Volksver­ eine mißtrauisch beobachtete, wurden auch sie in den meisten Schwälmer Gemeinden ohnehin als Aktionsausschüsse zur Abwendung der befürchte­ ten obrigkeitlichen Pfändungen zur Eintreibung von Ablösungszahlungen verstanden.106 Aber einzelne Gemeinden hielten darüber hinaus an ihren besonderen lokalen Traditionen fest, so die Gemeinde Merzhausen an ihrem Antiklerikalismus, der sie in der Revolutionszeit zu einer aktiveren Vereinstätigkeit trieb.107 In Merzhausen wurde »auf Antrag der geringen Einwohner ... ein Aufruf zur Ausweisung von Rottland aus dem Staats­ wald« aufgesetzt - eine Verteilung von Staatsland, die im Zuge der Teilung der Gemeinheiten Wirklichkeit wurde und einigen Tagelöhnern tatsächlich den langersehnten Bau eigener Häuser ermöglichte - und die Teilung der Pfarrgüter (98 Acker Land) gefordert. Im Verlauf dieser Entwicklung nahm der Merzhäuser Volksverein Kontakt mit demokratischen Aktivisten, be­ sonders ein Lehrer und ein Buchdrucker, aus der näheren Umgegend wie z.B. der Nachbargemeinde Schrecksbach auf und organisierte mit ihrer Unterstützung auf der Gemarkung der Gemeinde im Mai 1849 eine Volksversammlung.108 Wenigstens in Schrecksbach knüpften die örtlichen demokratischen Aktivisten bereits zu Beginn des Jahres 1849 möglicher­ weise an gemeindeinterne Spannungen zwischen Bauern und Unterschich­ ten an109 und fanden genügend lokalen Rückhalt, um das Schrecksbacher Wirtshaus als Versammlungsort nutzen zu können.110 Die Themen der in Merzhausen geplanten Volksversammlung waren laut der an die »Bewoh­ ner der Umgegend« schriftlich verteilten Einladung die »Darlegung des von dem Volke einzuhaltenden Verfahrens zur unverkümmerten Durch­ führung der deutschen Reichsverfassung gegenüber den rebellischen Gelü­ sten vornämlich der preußischen Regierung« und: »Welche Forderungen hat das kurhessische Volk zur Wahrung seiner Interessen an die demnächst zu wählenden Landtagsabgeordneten? «111 Der Beginn dieser scheinbaren Fundamentalpolitisierung war die Erlaub­ nis des in Willingshausen residierenden reformkonservativen Bernhardt von Schwertzeil, das Willingshäuser Wochenblättchen zu drucken. Das Blatt wurde durch den demokratischen Aktivisten und Buchdrucker Siedentopf schließlich in Alsfeld gedruckt und in Ziegenhain, Niedergrenzebach, 247 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Merzhausen, Willingshausen, Wasenberg, Schrecksbach und Rölishausen verbreitet. Nach dem Tod Schwertzells wurde die Redaktion des Blattes durch den Merzhäuser Volksverein übernommen, der sich in der Zwischen­ zeit gebildet hatte. Der Volksverein hielt weiterhin Kontakt mit Siedentopf in Alsfeld und Ludolph in Schrecksbach. In dem Wochenblatt erschienen seit Juni 1849 nun Angriffe auf landesherrliche Beamte, denen »ungeeigne­ tes und anmaßendes Benehmen« gegenüber dem Volksverein vorgeworfen wurde.112 Das Blatt entwickelte sich nach Bewertung des Landrates mit Anspielung auf das radikale Marburger Blatt Hornisse »zu einer Art Hornis­ se der Schwalmgegend. Nach Ableben des von Schwertzeil erschien das Blättchen ohne Angabe des Redakteurs und ich habe deßhalb sofort eine Anzeige an den öffentlichen Ankläger wegen Bestrafung der Verbreitung des Blattes, als welcher Judenlehrer Kaufmann aus Merzhausen ermittelt worden war ... diese hat dann den großen Zorn der ehrenvollen Herausge­ ber zu hellen Flammen angefacht« und provozierte die Pressekampagne gegen die landesherrlichen Beamten.113 Der materielle Kern dieser politischen Mobilisierung war der Wunsch der Merzhäuser Unterschichten, den Staatswald und das Pfarrland unter sich aufzuteilen. Es war daher auch der Pfarrer, der sich noch im Januar 1851 über die Verhältnisse im Dorf beschwerte.114 Merzhausen bestand »größ­ tenteils aus unbemittelten Einwohnern«, von denen auch die Besitzer größerer Parzellen, mit Ausnahme der sieben Lehnlandbauern, nicht genü­ gend Vieh und damit Dung für ihre Felder besaßen. Sie wohnten jedoch untereinander, weniger bei den Bauern, zur Miete und besaßen daher einen eigenen Handlungsspielraum, der sich auch in ihrer Beteiligung an der örtlichen Bürgergarde ausdrückte.115 Für diese Unterschichten, die über gerade ein Fünftel des Ackerlandes der Gemarkung116 verfugten, boten die erweiterten Partizipationsmöglichkeiten und die Vereine der Revolution die Vehikel, um den Zugriff auf die 1600 Acker Staatswald der Gemarkung zu wagen. Das adlige Gut (330 Acker) und die fünf geschlossenen Fahrgü­ ter der örtlichen Lehnlandbauern gerieten bezeichnenderweise nicht in die Schußlinie ihrer Forderungen, denn das Holz mußte im Staatswald gekauft werden. Die auf dem adligen Gut zu leistende Fron von sechzehn Tagen Dienst, von der die bäuerlichen Fahrgüter ausgenommen waren, war 1834 in ein Dienstgeld umgewandelt worden - eine Belastung, die allerdings zur Verschuldung und damit zum Verlust der ohnehin kleinen Parzellen beitra­ gen konnte.117 Die Rede des Pfarrers von »communistischen Gelüsten nach den Pfarrgütern«, die der Volksverein als »Anlockung zum Beitritt« nut­ ze,118 klingt angesichts dieser Situation zwar plausibel, wird durch die prosopographische Rekonstruktion der Mitglieder und der Führung des Volksvereins jedoch nicht bestätigt.119 Der Volksverein in Merzhausen war ein in seinem Kern von den wenigen 248 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Großbauern geführtes Bündnis aus Bauern und Unterschichten. Zwar nannte der Pfarrer in seiner Klage nur den israelitischen Lehrer der jüdi­ schen Gemeinde als Hauptträger der dörflichen Revolution. Das lag aber wohl daran, daß er den eigentlichen Obmann des Vereins, den Vollbauern, Greben und Gemeindewirt Johannes Schember, nicht offen anzuklagen und damit anzugreifen wagte. Dieser Bauer lag seit 1822 mit der landesherrlichen Verwaltung im Streit. Dabei ging es um das Recht der Gemeinde, das Bierbrauen und die dazu nötige Lizenzvergabe in eigener Regie vorzunehmen. Als Grebe und Schankwirt der Gemeinde betrieb Schember die örtliche Brauerei in Perso­ naleinheit mit dem Grebendienst. Das war durch die neue Kommunalver­ fassung von 1821 aber untersagt worden, weil nicht ein und dieselbe Person in ihrer Funktion als Grebe sich selbst in ihrer Person als Wirt beaufsichtigen sollte.120 Der Merzhausener Grebe Schember führte daher zwischen 1822 und 1839 einen Streit mit dem Landratsamt, indem er entgegen der neuen Regelung noch im März 1831 darauf beharrte, »die Gemeinde habe von alter Zeit her zwei adeliche Standesherren angehört und habe jede derselbe für seine Vasallen eigene Gerichtsherren gehabt. Die Familie eines der ersteren sey ausgestorben und hierauf dessen Rechte an den Staat übergegangen. Unter diesen Rechten bestehe nun auch seit unvordenklichen Zeiten das Bierbrauen und Verschenken, und niemand habe es sich vor der Organisation einfallen lassen, dasselbe der Gemeinde streitig zu machen«.121 Mit der Verwaltungsorganisation von 1821 kam neues Recht auf die Gemeinde zu, gegen das sich der in diesem Fall vor allem Betroffene, der größte örtliche Bauer, Grebe und Wirt Schember, mit Bezug auf das alte Herkommen »seit unvordenklichen Zeiten« wehrte. Im weiteren Verlauf des Streites brachte Schember 1839 die sechs Gemeinde­ ältesten - zwischen 60 und 83 Jahre alt - zusammen, die ihn unterstützten: »Wir die Unterzeichneten, als älteste Männer der hiesigen Gemeinde Merzhausen, bezeugen hierdurch, daß von jeher das hiesige Herbergie­ rungsrecht mit dem Bierbrau- und Schankrecht ungetrennt gewesen sei, welches der seitherige Brauer, der Wirt Schember, in ihrem und dem Gemeindenamen haben ausüben lassen«.122 Daß der größte Bauer und örtliche Grebe der wichtigste Nutznießer des alten Herkommens war, blieb auch in der Revolution von 1848/49 ein integraler Teil der Spielregeln der dörflichen Politik. Die Hilflosigkeit des Pfarrers und der beiden Kirchenäl­ testen, beides Kleinbauern,123 und die Rolle des örtlichen jüdischen Lehrers lassen die Vermutung zu, daß der Antiklerikalismus dieser Gemeinde auch um die Mitte des Jahrhunderts noch erheblich war. Ebenso wie im badi­ schen Ettlingen124 übernahm die traditionelle Ortsfuhrung diejenigen Ele­ mente der revolutionären Phraseologie, die sich gegen die Obrigkeit wen­ den ließen. Sie untermauerte durch die Übernahme der neuen politischen 249 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Führung ihre eigene traditionelle soziale und wirtschaftliche Vormacntstel­ lung. Zu diesem Zweck mußte sie allerdings auch Wünsche der Unter­ schichten in das eigene Programm übernehmen. Nur in völlig bäuerlich dominierten Gemeinden wie Wasenberg waren selbst solche Konzessionen der Bauern an die Unterschichten unnötig. Die Untersuchung des Verlaufs von fünf dörflichen Revolutionen125 ermöglicht, das Verhalten der Gemeinden weder auschließlich auf die materiellen Interessen der beteiligten sozialen Klassen noch auf die Füh­ rung der Gemeinden durch wenige Honoratioren, sondern auf die im Verlauf des Revolutionsprozesses zwischen Bauern und Unterschichten gewonnenen Kompromisse zurückzuführen, die sich in Abhängigkeit von dem jeweils vorhandenen Handlungsspielraum entwickelten. Deren Quali­ tät schließt keine der eingangs erwähnten Interpretationsmöglichkeiten völlig aus, sondern ordnet sie einander in neuer Weise zu. Die Thesen zur Fundamentalpolitisierung in den Städten und Kleinstädten des Rhein-Main Gebietes, Badens oder Württembergs126 durch die Vereine und Petitionen, zum Nebeneinander von Elitenpolitik und traditionellen Gemeindczie­ len127 und zur Kontinuität der Auseinandersetzung mit der Obrigkeit müssen jedoch auf ihre jeweilige Reichweite überprüft werden. In die Gemeinden hinein - im Sinne einer Instrumentalisierung der neuen politischen Ideen durch unterschiedliche soziale Klassen zur Ausein­ andersetzung innerhalb der Gemeinde und zur Erreichung der jeweils eigenen Ziele - reichte die Politisierung des Vormärz und der Revolution nämlich nicht. Die Erweiterung des Wahlrechts in den Jahren 1831 und 1848 trug nur dort zu einem Bodengewinn der Unterschichten gegenüber den Bauern bei, wo sie ohnehin als Parzellenbesitzer einen eigenen Spiel­ raum besaßen und die Bauern zu Kompromissen nötigen konnten. Selbst wo sich im Verlauf des Vormärz Machtverschiebungen zwischen Parzellen­ besitzern und Bauern in Flecken und gewerblich strukturierten Orten wie Burghaun tatsächlich abzeichneten und zur Neubesetzung der Gemeinde­ vertretung führten, kam es bezeichnenderweise nicht zu einer Instrumen­ talisierung der neuen revolutionären Rhetorik durch eine der konkurrieren­ den Gruppen, sondern bestenfalls zur Diffamierung des Gegners mit antisemitischen Topoi. Daran änderte selbst die Präsenz bereits in Fabriken beschäftigter proletaroider landloser Unterschichten wie im badischen Ett­ lingen oder im kurhessischen Burghaun nichts.128 Die Probleme der landarmen und landlosen Unterschicht mit den örtli­ chen Bauern blieben gemeindeinterne personalisierte Konflikte in einzel­ nen Armenrechtsfällen oder einzelnen Fragen der Nutzungsberechti­ gung.129 Sieht man von vereinzelten Fällen wie in Frankenau im Kreis Frankenberg ab, waren die soziale Differenzierung den Gemeindetypen entsprechend erstens entweder zu gering (Nordeck), die Anpassungsfähig250 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

keit der örtlichen Honoratioren zu groß (Merzhausen, Frankenberg), der gemeinsame Gegner ohnehin zu bedeutend (Rhomsthal) oder das Überge­ wicht der bäuerlichen Führung zu erdrückend (Wasenberg), als daß der Umbruch der Revolutionen von 1830 und 1848/49 einen Einbruch der neuen Topoi gesellschaftlicher Konflikte in die mnergemeindlichen sozia­ len Streitigkeiten bewirken konnte. Gegenüber den tatsächlich bestehen­ den obrigkeitlichen Lasten, besonders den vor allem für die Unterschicht drückenden Steuern und Sportein und der bereits über hundertjährigen Tradition des innergemeindlichen Interessenausgleiches zugunsten einer gemeinsamen Haltung gegen die Obrigkeit kamen die Revolutionen zu früh oder zu spät, als daß ihre Ziele oder ihre Rhetorik anders als kollektiv rezipiert werden konnten. Die Möglichkeit einer Fundamentalpolitisie­ rung auf dem Lande war an der existentiellen Bedeutung des Verteilungs­ kampfes zwischen Obrigkeit und Gemeinde um die traditionellen Besitz­ stände zerschellt. Das kollektive Verhalten der Gemeinden setzte jedoch auch voraus, daß die bäuerlichen Führungsgruppen Rücksicht auf die Forderungen der Unterschichten nahmen, umsomehr, als diese durch die Erweiterung des Wahlrechts sukzessive an Gewicht gewannen. In den unterfränkischen und hessischen Realteilungsgebieten hatte die radikale Rhetorik ohnehin leich­ tes Spiel, wenn sie die Aufteilung bestehender obrigkeitlicher Besitzstände im Rahmen des alten Verteilungskonfliktes zwischen Obrigkeit und Ge­ meinde forderte. In den Gemeinden, in denen auch Besitzende lebten, erfüllte die Konzentration auf den Besitzstand der Obrigkeit dieselbe Funktion. Die daran durch die Demokraten geknüpfte Forderung nach der Feinheit der Nation war unter den Verfassungsverhältnissen des Deutschen Bundes verständlich und angesichts der spezifischen landesgeschichtlichen Bedeutung des Reichspatriotismus für die Gemeinden sogar plausibel. Obwohl die vormärzliche Politisierung nicht zu einem Instrument einer der sozialen Klassen in der Gemeinde gegen eine andere wurde, blieb sie nicht an den Toren der Gemeinden stehen, sondern führte dem traditionel­ len Gemeindeprotest neue Topoi der Auseinandersetzung mit der Obrig­ keit zu. 3.3. Konflikt mit der Obrigkeit und Politik auf dem Dorf VI: Bauern, Tagelöhner und die Parteien des Kaiserreichs Die Annexion Kurhessens durch Preußen und die Gewährung des allgemei­ nen gleichen Männerwahlrechtes veränderten sowohl die Rahmenbedin­ gungen, unter denen die Bauern und die Unterschichten ihre Interessen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

251

verfolgen mußten, als auch den Handlungsspielraum der Unterschichten. Ihr Einfluß erweiterte sich nicht nur durch das allgemeine gleiche Männer­ wahlrecht für das Bundesparlament bzw. den Reichstag 1867/71, sondern auch durch das neue kommunale Wahlrecht von 1897.130 Welche Folgen zeitigten diese Veränderungen für die politische Dimension des traditionel­ len Gemeindeprotestes, und welche Parteien erwiesen sich bei dem Werben um Bauern und Tagelöhner am erfolgreichsten? Waren Parteien am erfolg­ reichsten, die sich zu einem Anwalt einer der beiden sozialen Klassen auf dem Lande machten - zerfiel der traditionelle Gemeindeprotest in seine Klassen -, oder erwiesen sich nur diejenigen Wahlkampfparolen als wirk­ sam, welche sowohl die sozialen Interessen der Unterschichten als auch die Besitzinteressen der Bauern zu berücksichtigen suchten? Lassen sich die Wahlen während der Agrarkrise der 1870er Jahre und der »Großen Deflati­ on« auf die Funktion als »Auslöser« reduzieren, durch welche die antietati­ stische und soziale Dimension des traditionellen Gemeindeprotestes für die Öffentlichkeit und die politische Mechanik der Kaiserreiches problematisch wurden? Wie stabil konnte eine Interessenvertretung beider sozialer Klas­ sen sein, und welche Zerreißproben standen ihr bevor? Welche politische Rhetorik war womöglich am ehesten in der Lage, die Gesamtvertretung des Landes zu übernehmen? Um diese Fragen zu beantworten, müssen die Veränderungen im korporativen Gefiige der Landgemeinde, der sozialen Lage der Bauern und der Unterschichten, die Struktur des Parteiensystems und die Wahlentwicklung im Regierungsbezirk zueinander in Beziehung gesetzt werden, bevor die Wahlentwicklung im Schwälmer Raum und in den Samplegemeinden im engeren Sinne weitere Aufschlüsse liefern kann. Eine Reihe von Anzeichen sprechen auf den ersten Blick dafür, daß der traditionelle Gemeindeprotest während der Wahlen im Kaiserreich in seine beiden sozialen Klassen zerfiel. Die Wahlbeteiligung nahm auch auf dem Lande zu und die Geschlossenheit des ländlichen Wahlverhaltens insgesamt ab, weil die ländlichen Wähler immer häufiger verschiedenen Kandidaten ihre Stimme gaben.131 Im Zuge der Vollendung der Ablösung und der Teilung der Gemeinheiten ging die korporative Dorfgemeinde überdies ihrem Auflösungsprozeß entgegen. Die einseitige Abhängigkeit der Unter­ schicht von den bäuerlichen Armenverbandsvorsitzenden blieb zwar bis 1914 bestehen. In der Konjunkturphase nach der »Großen Deflation« seit 1895 verfestigte sich aber das alternative gewerbliche Arbeitsangebot und damit auch der Handlungsspielraum der Unterschichten. Nach wie vor fragil, aber stetig wachsend, manifestierte er sich seit den 1890er Jahren innerhalb der Gemeinden in der Etablierung der Kriegervereine als gemei­ neinterner Öffentlichkeit der Unterschichten.132 In der dörflichen Politik mußten die Bauern daher stärker als je zuvor nach einer politischen Repräsentation des Landes Ausschau halten, die auch 252 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

den Unterschichten plausible Parolen bot. Die Wahlkampferfolge der um die ländlichen Wähler konkurrierenden Parteien lassen sich als das Ergebnis der mehrfachen Brechung der individuellen Wahlentscheidung durch die Abhängigkeit der Unterschichten und der Bauern füreinander, durch die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entstandene eigene ländliche kulturelle und habituelle Identität der Dörfer und durch den Antagonismus gegen­ über dem Staat und seinen Behörden verstehen. Die Parteien mußten den Wünschen der Bauern nach gesichertem Absatz und bezahlbaren Arbeits­ kräften, der Tagelöhner nach einer schuldenfreien Parzelle und gesichertem Erwerb und beider nach geringen Steuern und Abgaben entsprechen. Sie durften überdies das nachbarliche Nebeneinander der aufeinander ange­ wiesenen sozialen Klassen nicht belasten.133 Opposition gegenüber staatlichen Lasten erwies sich in dieser Sachlage wie im Vormärz als eine Möglichkeit der politischen Propaganda. Der Zusammenhang zwischen dem Wechsel der ländlichen Bevölkerung von einer Partei zur nächsten und der Etablierung dieser Partei als neuer Protestpartei fiel bereits den Zeitgenossen auf.134 Die Sicherung der Ablö­ sung und der Fortbestand der alten Gemeindeordnung beruhigte die Bauern zwar gegenüber den preußischen Behörden. Dafür wurden die Steuern als drückender empfunden. Als fundamentale Weichenstellung für die Perpetuierung des traditionellen Gemeindeprotestes gegen den Staat erwies sich jedoch, daß das erste Jahrzehnt der preußischen Herrschaft mit dem Ende der Agrarkonjunktur, der Agrarkrise von 1876 und der »Großen Deflation« koinzidierte. Die Gefährdung der Getreidepreise verunsicherte die Bauern. Die Wanderarbeiter waren die ersten Arbeitskräfte, auf welche die Unternehmen nach dem Abflauen der Konjunktur verzichten zu kön­ nen glaubten. An keiner dieser Entwicklungen trug Berlin die Schuld. Für Bauern und Tagelöhner ließ die neue Zeit jedoch viel zu wünschen übrig. Die konkreten Auseinandersetzungen um die Ablösung mußte sie vollends von dem feindseligen Charakter der neuen Obrigkeit überzeugen, die überdies in der Regel aus denselben Amtsträgern wie die alte bestand.135 Das Parteiensystem des Kaiserreiches stülpte dieser Konfrontation zwi­ schen Obrigkeit und Gemeinde und den jeweils besonderen Zielen der Bauern und der Tagelöhner seine spezifische Parteienkonstellation über. Diese Parteien waren sukzessive aus den verfassungspolitischen,136 konfes­ sionellen137 und sozialen Konflikten zwischen dem preußischen Staat und der Verfassungsbewegung, dem politischen Katholizismus138 und der Ar­ beiterbewegung139 entstanden. Für die katholische Landbevölkerung der Gebiete des Fränkischen und Oberrheinischen Kreises in Franken, Hessen, Baden140 und darüber hinaus im Rheinland141 und in Württemberg142 bot diese Genese dem Zentrum eine einzigartige Mischung aus konfessioneller Orientierung, Obrigkeits- und Sozialkritik, die keine der anderen Parteien © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

253

für die protestantischen Wähler aufweisen konnte.143 Die Sozialdemokratie schied, obwohl selbst sie traditionelle Frömmigkeit und sozial konnotierte Obrigkeitskritik regional unterschiedlich und zeitlich begrenzt sogar auf dem Lande für sich nutzen konnte, aufgrund der kirchlichen Bindung weiter Teile der ländlichen Bevölkerung144 und der Problematik jeder auch nur annähernd Gut und Boden in Frage stellenden Agitation bis zum Weltkrieg aus.145 Die Deutschkonservativen wurden, je länger desto mehr, zur Interessenvertretung der großen Landwirte.146 Das hinderte sie nicht, gegenüber den Nationalliberalen und den Behörden vereinzelt obrigkeits­ und sozialkritisch aufzutreten.147 Weil Wahlkämpfe die ländlichen Wähler über reichspolitische Fragen und das Verhalten der Parteien zu diesen Fragen informierten,148 mußten die konservativen Parteien für ihr parla­ mentarisches Verhalten beispielsweise bei der Reichsfinanzreform und der Frage der Erbschaftssteuer 1909 vor den Wählern gerade stehen. Die deutschkonservative und die antisemitische Partei büßten dadurch ihre Glaubwürdigkeit als Interessenvertretung der Unterschichten ein. 149 Die wachsende Kenntnisnahme reichspolitischer Kontroversen in der dörfli­ chen Politik und der gewachsene Handlungsspielraum der Unterschichten verhalf ihnen dazu, die politischen Folgen ihrer Stimmabgabe besser bewer­ ten zu können und gegebenenfalls enttäuscht nach einer neuen Vertretung zu suchen. Die innere Gegensätzlichkeit der materiellen Interessen der beiden sozialen Klassen auf den Dörfern trat dadurch schärfer hervor. Die Schwierigkeiten für die um die ländlichen Wähler werbenden Parteien, diese Interessen durch eine geeignete Rhetorik zu integrieren, wuchsen. Diese These läßt sich am sukzessiven Austausch der im Regierungsbezirk erfolgreichen Parteien illustrieren. Es etablierte sich im Regierungsbezirk Kassel kein die unterschiedlichen Interessen von Bauern und Tagelöhnern oder wenigstens die Interessen beider gegenüber der Gesellschaft dauerhaft repräsentierendes Parteienge füge. Stattdessen wechselten die kurhessischen Wahlkreise150 zwischen den 1870er Jahren und dem Beginn des neuen Jahrhunderts dreimal die politische Repräsentation. Die meisten Wahlkreise schwenkten seit dem Ende der 1870er Jahre von den Nationalliberalen zu den Konservativen, seit den späten 1880er und frühen 1890er Jahren zu verschiedenen antise­ mitischen Splitterparteien und seit der Jahrhundertwende wieder zu unter­ schiedlichen, in mehr oder minder lockerem Kontakt zum politischen Liberalismus befindlichen kleinen Parteien und Gruppierungen. Der Wahl­ kreis Fritzlar-Homberg-Ziegenhain repräsentiert diese Entwicklung. Mit Ausnahme des Zentrums im katholischen Fuldaer Raum hielt keine dieser evangelischen Gruppierungen einen der evangelischen Wahlkreise in mehr als neun der fünfzehn offiziellen Reichstagswahlen zwischen 1867(I) und 1912.151 254 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Im Schatten der Gewerbe- und Agrarkonjunktur der späten 1860er und frühen 1870er Jahre und einer nach der ersten Wahl von 1867 geringen Wahlbeteiligung, bei der die ländlichen Unterschichten fast völlig ausschie­ den und die verschwindend geringe Zahl stadtbürgerlicher Honoratioren scheinbar die politische Führung übernahm, dominierten die Nationallibe­ ralen als Partei des neuen Königreiches und Garanten der Ablösung auch auf dem Lande den gesamten Regierungsbezirk.152 Die anlaufende Ratio­ nalisierung der Forstverwaltung, die Konflikte zwischen Gemeinden und Förstern seit 1871 und die Rückkehr entlassener bettelnder Wanderarbeiter aus dem westfälischen Industriegebiet seit Beginn der »Großen Deflation« Ende 1873 zersetzten diese Dominanz schnell wieder. Eine politische Alternative fehlte jedoch. Nur die »Macht der Gewohnheit« rettete den Liberalen ihre ländlichen Wahlkreise.153 Die politische Selbstdarstellung der Nationalliberalen als dem eigentlichen Repräsentanten von Kaiser und Reich blieb gegenüber dem durch die Agrarkrise und die soziale Krise an Kraft gewinnenden antiobrigkeitlichen Ressentiment, das sich bis 1877 in Übergriffen auf Juden, Förster, Bürgermeister und sogar einem Brandan­ schlag auf ein bürgerliches Casino entlud, völlig blind. Aufgrund reichspo­ litischer Veränderungen traten bei der nächsten Reichstagswahl die Konser­ vativen als neue Protestpartei auf. Ihre Aufforderung zum Kampf zwischen »Land und Schwerkapital« und ihre Verteidigung traditioneller Besitzstände der Gemeinden gegen die Behörden, beispielsweise des Rechtes, Holz in den Staatsforsten zu sam­ meln, mochte sie zunächst auch für die Tagelöhner und Wanderarbeiter attraktiv machen. Die Verbreitung dieser Polemik in der offiziösen Kreis­ zeitung weist nicht nur auf die Unterstützung der Konservativen durch die Behörden hin. Sie dokumentiert auch die widersprüchlichen Verhaltens­ weisen, zu denen die Obrigkeit bei ihrem Versuch, auf die Bedürfnisse des traditionellen Gemeindeprotestes zu reagieren, gezwungen war.154 Mit einer einzigen Ausnahme155 verloren die Nationalliberalen bei der ersten Wahl nach dem Streit um die Schutzzölle im Herbst 1878 ihre bereits knappen Mehrheiten an die jeweils am erfolgreichsten agitierende Opposi­ tion. Nur im Hanauer Wahlkreis stand deren politische Ausrichtung in direktem Zusammenhang mit den sozioökonomischen Spezifika des Wahl­ kreises.156 In den anderen, ländlicher dominierten Wahlkreisen waren mal die Deutsche Reichspartei,157 die Deutsch-Konservativen158 oder auch die Linksliberalen erfolgreich.159 Der politisch opaque Charakter des traditio­ nellen Gemeindeprotestes, der sich bereits während der Revolution von 1848 abgezeichnet hatte, trat erneut hervor. Solange die neuen linkslibera­ len oder konservativen Gruppierungen sich nur als neue Opposition dar­ stellen konnten, besaßen sie auch die Chance auf einen Wahlerfolg. Eine präzisere Standortbestimmung hätte demgegenüber Bauern oder Tagelöh255 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

ner zwangsläufig abgeschreckt und damit der neuen Opposition ihre Basis entzogen. Der Sturz des »Kartells« und der Antritt der Regierung Caprivi wurde auch im Regierungsbezirk zum Auftakt einer noch unverhohleneren land­ wirtschaftlichen Interessenverfolgung der Deutsch-Konservativen,160 nun aus der Opposition heraus. Wo sie jedoch bereits bis zu dieser Intensivie­ rung einen Wahlkreis hielten, tauchten antisemitische Splitterparteien als neue Protestmöglichkeit auf, die zwischen 1887 und 1903 außer in Hanau und dem katholischen Fulda in allen Wahlkreisen wenigstens einmal einen Erfolg feierten. Die Niederlage der eigentlichen Partei der agrarischen Opposition, der Deutsch-Konservativen, gegen die antisemitischen Split­ terparteien kam überraschend und wurde daher von vielen Zeitgenossen überbewertet. Sie gewannen tatsächlich nur die Hälfte der achtundvierzig Wahlkämpfe der sechs offiziellen Reichstagswahlen bis zum Krieg (18901912) und wechselten sich selbst in den sechs überwiegend ländlich­ evangelischen Kreisen (ohne Hanau und Fulda) mit verschiedenen libera­ len und konservativen Gruppierungen ab.161 Diese instabile Situation ist keineswegs untypisch für die Situation der Parteien im Kaiserreich. Sie wird in der Forschung durch zwei Vorschläge konzeptualisiert. Der Begriff des »Milieus« entstand am Vorbild des deut­ schen Katholizismus mit seiner starken konfessionellen und durch den Kulturkampf auch politischen Konturierung gegenüber dem protestanti­ schen Bildungsbürgertum und seinem Kaisereich. Er überschätzt die kausa­ len Beziehungen zwischen sozialen und kulturellen Charakteristika der Wähler und unterschätzt die Heterogenität des deutschen Katholizismus im besonderen und der Anhängerschaft aller deutschen Parteien im allge­ meinen.162 In stärkerer Anlehnung an politologische Konzepte, die der historischen Genese jedes politischen Parteiensystems eine gewisse Eigenmächtigkeit bei der Strukturierung der politischen Etikettierung der Wahlalternativen zusprechen und am Vorbild der nationalliberalen Partei im Ruhrgebiet, die von evangelischen Arbeitnehmern, Angestellten und Unternehmern glei­ chmermaßen unterstützt wurde, entstand demgegenüber der Begriff der »Wählerlager«. Er bezeichnet zunächst nur die Summe derjenigen Wähler, deren Parteien ihre Wähler untereinander, nicht aber gegenüber Parteien außerhalb dieses Lagers rekrutierten.163 Dieser zweite Begriff erscheint auch für die Wahlhaltung der evangelischen ländlichen Wähler in Franken und Hessen angemessener, weil trotz aller tagespolitischen Polemik zwi­ schen Liberalen und Konservativen, Konservativen und Antisemiten Wahl­ absprachen auf Wahlkreisebene zur Regel wurden. Gerade die kleinen liberalen und antisemitischen Splittergruppierungen wie Naumanns Natio­ nal-Soziale, der Deutsche Bauernbund, Böckeis Reformpartei oder Lieber256 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

manns Deutsch-Soziale Partei bzw. Wirtschaftliche Vereinigung zeichneten sich durch diese Bündnisfähigkeit mit den anderen nichtsozialistischen Parteien aus. Der Erfolg der antisemitischen Splittergruppen beruhte gera­ dezu auf den seit den 1890er Jahren häufiger werdenden Stichwahlen,164 in denen sie einerseits der Führung der konkurrierenden Liberalen und Kon­ servativen als akzeptable Bündnispartner und andererseits der großen Mehrheit der ländlichen Bevölkerung als politische Repräsentation geeig­ net erschienen. Welche gemeinsamen politischen Ziele verbanden Nationalliberale, Kon­ servative, Linksliberale und Antisemiten, die einerseits diese Bündnisse untereinander ermöglichten und die andererseits zugleich den Bauern und den Unterschichten Grund genug boten, sie zu wählen? Schon Splitter­ und Untergruppen der größeren nichtsozialistischen evangelischen Partei­ en bekämpften sich bis auf Kreisebene in den Wahlen.165 In ihrer Wahl­ kampfrhetorik vor Ort verbanden jedoch alle in den ländlichen evangeli­ schen Wahlkreisen des Regierungsbezirks erfolgreichen Parteien seit den späten 1870er Jahren Loyalität zu Kaiser und Reich166 mit einer sozialkri­ tisch verfärbten Obrigkeits- und Behördenkritik.167 Die antiklerikalen Töne der Nationalliberalen in ihrer Verteidigung gegenüber den Deutsch-Kon­ servativen168 und der Versuch der Sozialdemokraten, die Parzellenbesitzer und tagelöhnernden Mieter gegen die größeren Bauern zu gewinnen, scheiterten demgegenüber.169 Die Topoi der Obrigkeitskritik und der Reichsloyalität erhielten seit dem Bruch zwischen Konservativen und Na­ tionalliberalen über der Zollfrage eine betont antiliberale, antisemitische und antikapitalistische Note,170 die von den Konservativen selbst forciert, von ihnen und den Nationalliberalen als »Ordnungsparteien«171 aber zu­ gleich als Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung empfunden wurde.172 Die reichspolitischen Veränderungen wie der Bruch der nationallilberal­ konservativen Koalition Ende 1879 und der Antritt der Regierung Caprivi 1890 gaben dem Rechtsruck der Nationalliberalen zur antisemitisch pro­ noncierten agrarischen Interessenvertretung in Hessen173 und der antikapi­ talistischen und seit 1890 auch antietatistischen Wende der Deutschkonser­ vativen174 zwar klare chronologische Konturen. Diese Veränderungen und ihre Richtung ergaben sich jedoch ihrerseits durch den Versuch dieser Parteien, gerade ihre ländlichen Wähler gegen Kokurrenten zu verteidigen. Die spektakulären Erfolge der populistischen Protestparteien legten es für die etablierten Parteien nahe, deren Parolen wenigstens zum Teil zu kopieren.175 Die innere Zerstrittenheit und Fragilität, der Zerfall und die Integration dieser Protestparteien durch die Deutschkonservativen manife­ stiert die fortlaufende enttäuschte Suche der ländlichen Wähler nach neuen politischen Alternativen. Diese fortlaufende Enttäuschung hing mit der Anforderung an die politische Repräsentation der ländlichen Bevölkerung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

257

zusammen, einerseits die Tagelöhner gegenüber den Bauern, andererseits die landwirtschaftlichen Interessen der Bauern und zugleich die Gemein­ den gegenüber der Obrigkeit zu vertreten.176 Am Beispiel des parteipolitischen Antisemitismus im Regierungsbezirk lassen sich die parteipolitischen Konsequenzen dieses Strukturproblems ländlicher Interessenvertretung verfolgen. Der politische Antisemitismus war eines der vielen parteipolitischen Gewänder, seien es Deutschkonserva­ tive östlich der Elbe, BdL-affiüerte Nationalliberale in Hessen-Darmstadt oder der Pfalz, antiklerikale Bauernbünde oder Bauernvereine,177 die dem traditionellen Gemeindeprotest in der Ära des politischen Massenmarktes jeweils für eine gewisse Zeit Ausdruck gaben. Obgleich Otto Böckel und Max Liebermann von Sonnenberg, die beiden Protagonisten des poli­ tischen Antisemitismus, parteipolitisch antikonservativ bzw. konservativ orientierten verfeindeten Flügeln des politischen Antisemitismus angehör­ ten,178 verbanden beide als erfolgreiche Wahlkämpfer agrarische Interessen­ vertretung und Sozialkritik an Staat und Markt. Selbst der eigentlich konservative Liebermann focht drei Wahlkämpfe gegen den BdL und die Konservativen und stand aus der Perspektive der Wähler bis zur Jahrhun­ dertwende in der Oppositionsrolle gegen die Behörden und die Gutsbesit­ zer.179 Der parteipolitische Antisemitismus kam ebensowenig wie die Funktio­ närseliten der Bauernvereine und Bauernverbände vom Land. Es handelte sich nicht zuletzt um gescheiterte bürgerliche Akademiker oder kleinadlige Offiziere, nicht unähnlich jenen, die in den Kolonien Dienst taten.180 Der antisemitische Hersfelder Wahlkreiskönig Ludwig Werner war ein Kauf­ mann, der bekanntere Otto Böckel ein Archivar, der mit zwei Studenten, einem Ex-Leutnant und einem Maler, aufs Land zog. Liebermann von Sonnenberg bekleidete bis zu seinem Abschied ebenfalls den Rang eines Subalternoffizier. Geboren im Revolutionsjahr 1848 in Weißwasser im Kreis Marienwerder, Ostpreußen, gehörte er einer jüngeren Generation an als der 1819 geborene Wilhelm Marr, der den Begriff Antisemitismus geprägt hatte. Der hatte sich im Jahr 1848 bereits als Revolutionär enga­ giert. Liebermann war aber älter als Böckel, der erst 1859 geboren wurde. Während Böckel Mythologie und Literatur in Marburg studierte, trat Liebermann nach Besuch des Gymnasiums in Rastenburg 1866 in die Armee ein, wurde zum Kriegsinvaliden und verließ die Truppe 1884. Bereits 1881 wurde er als Herausgeber und Organisator antisemitischer Publikationen und Organisationen tätig, zählte zu den antisemitischen Protagonisten des Berliner Antisemitismusstreits seit 1879 und seit der Mitte der 1880er Jahre zum Führungspersonal des rechten antisemitischen Flügels.181 Seine Verschuldung als junger Offizier und die angebliche Verantwor-

258 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

tung eines jüdischen Kameraden für diese Verschuldung gehören wohl in den Bereich der politischen Mythenbildung, mit der Liebermann seine eigene Lebenserfahrung mit dem von ihm vertretenen politischen Pro­ gramm zu vereinbaren suchte. Plausibel wäre immerhin, daß das Ende seiner Karriere bei der Armee seine Bereitschaft weckte, sich andere Betäti­ gungsfelder zu suchen. Der Berliner Antisemitismus-Streit erwies sich jedenfalls als eine prägende Erfahrung für seine politische Karriere. Als seine erste Betätigung ist sein Auftritt in der Berliner Bockbrauerei im Dezember 1880 überliefert, auf dem er den Wahlkampf gegen die Berliner Liberalen begann und alle »antifortschrittlichen Wähler« zu sammeln suchte. Ebenso wie bei anderen Konservativen oder dem ebenfalls antisemitisch agierenden Hofprediger Stoecker ging es darum, der traditionellen Verdammung von Reform und Wandel angesichts der anhaltenden Desillusionierung breiter Teile der Bevölkerung mit der Wirtschaftslage den Angriff auf das »Großka­ pital« beizufügen und die Arbeiterschaft Berlins den Linksliberalen und der SPD zu entreißen. Das Resultat war eine Mischung aus »praktischem Christentum«, Angriffen auf das »gewissenlose Ausbeutungssystem durch das vaterlandslose Capital«, gegen die »Fremdherrschaft des internationa­ len Mammonspriesterthums« und den »total unfähigen Liberalismus«, schließlich auch gegen die »Judenherrschaft im Staat« und die »Übermacht der Juden in den Parlamenten«. Man wolle der Arbeiterschaft »beistehen, sich zu befreien gegen das verjudete Manchesterthum, dem wir alle Übel­ stände zu verdanken haben [und gegen die] zersetztenden Tendenzen jener, welche nur den Einzelnen loslösen und unterjochen wollen. Dies trifft die Arbeiter und das Handwerk. Das Großkapital nutzt sie aus«.182 Nach dem Scheitern der antisemitischen Kampagne in Berlin waren ihre Protagonisten keine Arbeiterführer geworden, aber ihr lauter Antisemitis­ mus hatte ihnen Popularität verschafft. Das hessische Kassel bot sich als neues Aktionsfeld an, weil dort seit 1881 der Kassler Reformverein, einer der ersten antisemitischen Vereine, bestand. Liebermann war bis zu diesem Zeitpunkt durch seine Angriffe auf die »verjudete Berliner Fortschrittspar­ tei«, auf einen sozialdemokratischen Kandidaten, dem er die Unterstüt­ zung durch »englisches Geld« vorgeworfen hatte, und auf den Abgeordne­ ten Dr. Otto Hermes ein bekannter Protagonist der städtisch-bürgerlichen antisemitischen Opposition gegen die Sozialdemokratie, das wirtschafts­ bürgerliche Establishment und die Obrigkeit geworden. Möglicherweise knüpfte der Schrecksbacher Auszögner und Altbauer Johannes Hoos des­ wegen mit ihm Kontakt an, als sich im nahegelegenen Kreis Frankenberg die Hilflosigkeit der eigentlichen bäuerlichen Option, des politischen Kon­ servativismus, gegenüber dem neuen Antisemitismus im Verlauf des Wahl­ kampfes erwies. Die Schwälmer Bauern mußten angesichts des öffentlichen Zulaufs für diese neuen Protestpartei befürchten, auch die Unterschichten 259 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

der eigenen Gemeinden würden zu einer antibäuerlichen Protestpartei Zuflucht nehmen, wenn man ihnen nicht beizeiten eine akzeptable Alter­ native zu den Konservativen bot. Liebermann begann seinen Wahlkampf im Schwälmer Wahlkreis jedenfalls erst wenige Wochen vor der Wahl von 1887, nachdem sich die spektakulären und völlig unerwarteten Mobilisie­ rungserfolge seines späteren Kontrahenten Böckel herumgesprochen hat­ ten. Nachdem auch er auf Anhieb über ein Drittel der abgegebenen Stimmen gewonnen hatte, versuchte er es 1890, nun erfolgreich, noch einmal und blieb bis zu seinem Tode 1911 der Repräsentant des Kreises im Reichstag.183 Die Auswahl der Wahlkreise durch die Antisemiten hing mithin im Gegensatz zu der gezielten Agitation in Berlin in erster Linie von Zufällig­ keiten ab. Man muß sich rückwirkend davor hüten, in den als antisemiti­ schen Hochburgen berüchtigt gewordenen Regionen nach besonderen sozialen Voraussetzungen für die antisemitischen Erfolge zu fahnden bzw. das Fehlen dieser angeblich besonderen Ausgangsbedingungen in anderen Wahlkreisen anzunehmen. Schließlich fußten die ohnehin häufig nur kurz­ fristigen Erfolge der expressis verbis antisemitischen Kandidaten nicht auf völlig anderen Erwartungen der Wähler als die der ebenfalls von Fall zu Fall antisemitisch argumentierenden katholischen oder konservativen Kandida­ ten. Auf die Austauschbarkeit liberaler, konservativer und antisemitischer Wahlrhetorik kommen wir unten eigens zurück. Abgesehen davon, daß der betreffende Wahlkreis weder überwiegend katholisch sein noch seine Be­ völkerung sich in völliger Abhängigkeit zu konservativen Gutsbesitzern befinden durfte, kamen die meisten ländlichen evangelischen Wahlkreise in Frage, in denen die neuen Kandidaten nun noch gegen ihre häufig ebenfalls mehr oder minder offen antisemitisch argumentierende Konkurrenz antre­ ten mußten.184 Der Bürgerschreck Liebermann, der Archivar Böckel und andere Antise­ miten begannen die Repräsentation des ländlichen Antietatismus und so­ zialen Protests unverhofft. Ihre Karriere als »Bauernfuhrer« hatten sie weder vorhergesehen noch geplant. Sie brachte sie in ein spannungsreiches Verhältnis zur eigentlichen agrarischen Interessenvertretung der evangeli­ schen Bevölkerung im Reich, der Deutsch-Konservativen Partei. Ebenso wie die Nationalliberalen und das Zentrum verunsichert und in der Phase zunehmender Massenmobilisierung um jeden ländlichen Wähler kämp­ fend, schwankten die Konservativen zwischen Adoption und Verdammung der neuen Konkurrenten, um ebenfalls »unter die Sozialdemokraten (zu) gehen und ernsthaft gegen die Regierung Front (zu) machen«.185 Obwohl die regionalen Konservativen vor Ort selbst den konservativen Liebermann noch 1890 als Konkurrenten bekämpften, stellte ihm das konservative Wahlkomitee zu Berlin bereits für diese Wahl 20.000 Reichsmark zur 260 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Verfügung, um seine Schulden zu begleichen und um ihm überhaupt zu ermöglichen, weiter als Reichstagskandidat auftreten zu können. Auch der Berliner Großkonfektionär Rudolph Hertzig unterstützte Liebermann. Trotz seiner Nominierung als konservativer Verbündeter durch den Kassler konservativen Wahlverein im Jahre 1893 opponierten die Konservativen im Kreis noch immer mit eigenen Gegenkandidaten. Der endgültige Erfolg seines Werbens um die Konservativen war eine Folge der Behauptung seiner Protestpartei gegen sie in den Wahlen von 1890, 1893 und 1903. Erst 1898 und 1907 kooperierten Konservative, BdL und Liebermann.186 Selbst Böckel, der Protagonist des ›linken‹ Flügels der antisemitischen Gruppierungen, fand schließlich den Weg in den BdL.187 Die scharfen persönlichen Angriffe der ›linken‹ Antisemiten bezeugen dennoch die Konfliktträchtigkeit der Liebermannschen Kontakte zu den Konservativen, die seine Gegner als Verrat an dem gemeinsamen Angriff auf das Establishment anprangerten.188 Umgekehrt bezeugt ein Brief Lie­ bermanns an den Deutsch-Konservativen Otto von Manteuffel über die bevorstehende Wahl von 1893, wie schwer sich auch die Konservativen taten, selbst den konservativsten unter den neuen Konkurrenten als Junior­ partner zu akzeptieren, und wie ernst gegen Ende des 19. Jahrhunderts die sozial- und obrigkeitskritischen Elemente der die »agrarische Massenbewe­ gung« integrierenden »national-revolutionären Bewegung«189 tatsächlich genommen wurden.190 Liebermann visierte demgegenüber auch in diesem Schreiben das in Baden Wirklichkeit gewordene oppositionelle Bündnis zwischen Zentrum, Konservativen und Antisemiten gegen den liberalen Staat an.191 Liebermanns und Böckeis Stärke war das Spiel auf den beiden Klaviatu­ ren, die den traditionellen Gemeindeprotest konstituierten. Deswegen hatte der Schwälmer Bauer vermutlich mit Liebermann Kontakt aufge­ nommen. Dazu gehörte aber nicht nur die agrarische Interessenvertretung für die Schwälmer Lehnlandbauern selbst. Unter den Bedingungen der dörflichen Politik, also des gewachsenen Handlungsspielraums der an die Wahlurnen drängenden Unterschichten, war die Sozialkritik ein ebenso bedeutender Teil der politischen Rhetorik geworden, um, wie Liebermann es selbst formulierte und nach außen propagierte, die »kleinen Landwirte gegen die Großen« zu vertreten.192 Weil die Bildung sozialer Klassen in den badischen, fränkischen und hessischen Landgemeinen aber quer zu den Residuen landesherrlicher Herrschaftsbefugnisse lag, an denen die Gemein­ den ihre politische Opposition orientierten, schloß diese Vertretung »ge­ gen die Großen« nur die Wahlkampfrhetorik gegen die Beamten, das Großkapital und, im Falle des Linksliberalen Naumann wie des Antisemiten Böckel, gegen die Junker ein. Die Interessen der Hofbauern in den Ge­ meinden durften nicht berührt werden. Das Arrangement der tagelöhnern© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

261

den Parzellenbesitzer und Mieter mit einer Partei, die auch die Bauern zufrieden stellte, läßt sich sicherlich auch durch ihre Abhängigkeit von ihnen erklären. In erster Linie waren die Tagelöhner jedoch während der ersten Wahlen von 1887 und 1890 von dem Protestcharakter der Antisemi­ ten genuin überzeugt. Nur das sicherte erst den Konservativen, dann den Antisemiten und schließlich ihren Nachfolgern ihre Anfangserfolge unter der ländlichen Bevölkerung.193 Die erneut sinkende Wahlbeteiligung in den ländlichen hessischen Wahl­ kreisen bei den folgenden drei Juniwahlen von 1893, 1898 und 1903,194 an denen die tagelöhnernden Wanderarbeiter nicht teilnahmen, gaben den inzwischen etablierten antisemitischen Kandidaten zunächst einmal eine Verschnaufpause.195 Wie wenig sich die evangelischen Parteien aber allein auf die Reichsrhetorik verlassen konnten und wie wenig krisensicher ihre Wähler tatsächlich waren, zeigte bereits die Januarwahl von 1907, in der die Wanderarbeiter erneut mitstimmten und die Wahlbeteiligung stieg. Die Kooperation von Deutsch-Konservativen, Nationalliberalen, linksliberalen und antisemitischen Parteien im Bülowblock ließ den ländlichen Wählern zwar keine mehrheitsfahige wählbare Alternative - Zentrum und Sozialde­ mokratie schieden aus. Dennoch kostete die gestiegene politische Mobili­ sierung Liebermann rund ein Drittel der Stimmen an verschiedene Splitter­ gruppen.196 Das Votum von Zentrum, Konservativen und konservativen Antisemiten in Vertretung der Bauern und Gutsbesitzer gegen die Erweite­ rung der Erbschaftssteuer, die in erster Linie die Hof- und Gutsbesitzer belastet hätte, führte 1909 jedoch nicht nur zum Bruch des Bülowblockes und damit zu einer Erneuerung der Konkurrenz um die ländlichen Wähler durch die Nationalliberalen. Diese neue Opposition nutzte die Haltung der Konservativen und ihrer Verbündeten in der Erbschaftssteuer frage, um die Antisemiten als bäuerliche Interessenvertretung bei den Tagelöhnern zu diskreditieren und sie damit auch für die Bauern ihres Nutzens zu entzie­ hen.197 Liebermann formulierte gegenüber parteiinterner Kritik seine Gründe, die ihn zur Ablehnung der Steuer bewogen hatten. »Zur Zeit hat sich durch die Agitation des Bundes der Landwirte in meinem Wahlkreis eine Stimmung entwickelt, die bei einer Auflösung [des Reichstages in Folge einer Ablehnung der Steuervorlage wegen der Frage der Erbschaftssteuer und Ausschreibung von Neuwahlen] wenn ich den Kreis halten wollte, mich gezwungen hätte, mein eigenes Werk zu zerstören und die kleinen Landwirte gegen die Grossen wieder in Gegensatz zu bringen«. Für die ehemalige Protestpartei lagen demnach die sozialen Spannungen ihrer eigenen Wählerbasis ständig in der Luft und drohten sie, in den Augen Liebermanns, zu zerreißen. Fast scheint es, als ereilte Liebermann das Schicksal Stöckers, der sich, in den Worten von Gerlachs, zwischen »Herren 262

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

und Knechten« nicht entscheiden konnte und schließlich daran scheiterte. Der ehemalige Anhänger Stöckers neigte mit dieser Formulierung jedoch zu einer Heroisierung der Dialektik jeder konservativen Protestpartei bei dem Versuch, die »Knechte« und »Herren« zugleich zu sammeln. Zu den Spannungen innerhalb der Wählerschaft, auf die Liebermann anspielte, kam überdies die politische Abhängigkeit Liebermanns, die er durch seine Kooperation mit Deutschkonservativen und BdL selbst eingegangen war und die sich nun nicht mehr ohne weiteres zugunsten einer klaren Option für die Erbschaftssteuer lösen ließ. Indem Liebermann die Konservativen zu seiner Adoption zwang, gewann er auch den BdL, ihre Wahlkampfma­ schine, auf den seine Gruppierung 1907 und 1912 je mehr angewiesen war, desto weniger sie für die Tagelöhner nach 1893 noch eine Alternative bot. Das Steuer nun plötzlich herumzureißen erschien ihm genausso schwierig wie risikoreich.198 Seine Arbeit am Bild des Landesvaters199 und die Unterstützung durch den BdL und die Pfarrer200 halfen ihm dabei sowenig wie ihm die Etablie­ rung der Raiffeisenbewegung zur Organisation des ländlichen Kreditwe­ sens schadete.202 Zu dem Verlust der Glaubwürdigkeit als Protestpartei der Unterschichten kam die Wendung der Propaganda des politischen Antise­ mitismus nach der Daily Telegraph-Affäre gegen den Kaiser202 und angebli­ che verächtliche Äußerungen Liebermanns über die Schwälmer Bauern.203 Der von den Nationalliberalen organisierte Deutsche Bauernbund204 konn­ te nun nicht nur die Haltung seiner Gegner in der Steuerfrage, sondern auch die Loyalität gerade der Unterschichten für Kaiser und Reich gegen die Antisemiten ausspielen.205 Dabei zeigte sich die erstaunliche Austauschbarkeit der Wahlpolemik aller um die ländlichen Wähler erfolgreich werbenden Parteien. Die neue Opposition richtete, wie die Konservativen und nach ihnen Antisemiten, dieselben Angriffe auf die persönliche Reputation des politischen Gegners, nun Liebermanns und seines Nachfolgers Hennigsen, die einst gegen den Nationalliberalen Wehrenpfennig geführt worden waren. Hennigsen wur­ de vorgeworfen, er sei katholisch, Bordellbesitzer und Inhaber einer Fabrik mit viertausend Arbeitern.206 Angriffe auf die Jagd- und Wildschutzgesetze, auf die Zusammenarbeit der »Junker von Oldenburg, von Kanitz und von Liebermann«, auf die »Parteilichkeit [des Landrats in Sachen Maul- und Klauenseuche] gegen die Bauerndörfer«, auf die Behörden, welche die »Landgemeinden mit Maßregeln scharf bedrückt« hätten, kurz auf »die Herren, [die] machen, was sie wollen«, repräsentierten zusammen mit der Forderung nach Aufteilung der Domänen und vereinzelten Ausfällen ge­ gen die jüdischen Nachbarn noch 1912 die Topoi der Rhetorik des traditio­ nellen Gemeindeprotestes seit seiner Politisierung 1848/49. Die Aufforde­ rung der Sozialdemokraten an die tagelöhnernden Parzellenbesitzer und 263 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Mieter, sich ihren »Klassengenossen« anzuschließen, blieb selbst bei den Frielendorfer Bergleuten unverändert erfolglos.207 Ein traditionelles Merkmal erfolgreicher politischer Propaganda auf dem Lande hatte jedoch eine neue Bedeutung erhalten. Die Kritik der Gemein­ den an ihrer Obrigkeit hatte sich bereits im 18. Jahrhundert auf die geradezu zur Schau getragene Loyalität zu mächtigeren Herren gestützt, von denen sie Hilfe gegen die Beamten vor Ort erwarteten. Das mochte der badische Markgraf gegen den eigenen Abt oder der Kaiser in Wien gegen den eigenen Landesherren sein. Daraus schöpfte noch der fränkische Reichspatriotismus des 19. Jahrhunderts. Die hessischen Gemeinden hat­ ten sich gegen Amtleute und Kreisräte an ihren Landesherren nach Kassel gewandt. Bis zur Wende zum 20. Jahrhundert lernten sie, sich nach Berlin umzuorientieren. Sie wandten sich beispielsweise im Kampf um ihre Agen­ den und Gesangbücher dorthin. Gerade für die innerhalb der Gemeinden immer wichtiger werdenden Unterschichten gewannen Kaiser und Reich als Symbole für »deutsche Männer« allerdings einen eigenen Wert, der sich nicht in der taktischen Suche nach Verbündeten gegen Anordnungen der Obrigkeit erschöpfte.208 Die Angriffe der Antisemiten auf den Kaiser waren für eine Partei, deren politischer Erfolg unter der gesamten ländlichen Bevölkerung von der Unterstützung durch die Unterschichten abhing, daher eine wahltaktische Todsünde. Der parteipolitische Antisemitismus fand zu einer Überwindung seiner Zersplitterung jedoch nur unter dem Dach radikalisierter völkischer Parolen, die ihn nach 1914 sogar in den offenen Konflikt mit dem Staat brachten. Er nahm dadurch ideologische Positionen ein, die durch ihre völkische, nationalistische und antietatisti­ sche Militanz eine besonders gute Ausgangsposition für die Mobilisierung der ländlichen Bevölkerung zwischen 1928 und 1932 bieten sollten. Im Wahlkampf von 1912 kennzeichnete diese Radikalisierung aber nur das Schicksal einer politischen Splittergruppe, der ein inhaltliches Programm fehlte und die nur durch die Radikalisierung ihrer Polemik ihre eigene Spaltung überwinden konnten, und sei es um den Verlust ihrer Wähler.209 Der Austauschbarkeit der Wahlpolemik von Nationalliberalen, Konserva­ tiven und Antisemiten entsprach die Unfähigkeit der Parteien des nationa­ len Lagers, die ländlichen Wähler dauerhaft an eine von ihnen zu binden. Neuen Protestgruppierungen bot sich in regelmäßigen Abständen die Chance, enttäuschte Wähler aufzunehmen. Eine dieser Protestparteien im Regierungsbezirk, der unter nationalliberaler Federführung gegründete Deutsche Bauernbund, war ein Kind der Krise um die Reichsfinanzreform, in deren Folge er als nationalliberales Gegengewicht zu den neuen reichs­ politischen Gegnern auf dem Lande im Juli 1909 gegründet worden war. Die Nationalliberalen verteidigten auch während der 1880er Jahre in der Provinz Sachsen, in Hannover, Oldenburg, Franken, Württemberg und 264 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Hessen ländliche Bastionen, indem sie sich dem antisemitisch verklausulier­ ten Sozialprotest und der agrarischen Interessenvertretung ihrer Konkur­ renten in ihrer Rhetorik vor Ort annäherten.210 Sie taten das zwischen 1893 und 1903 in aktiver Zusammenarbeit mit dem BdL, entfremdeten sich von diesem aber wegen seiner ständigen vehementen Polemik gegen den libera­ len Partner. Nach dem Streit um die Reichsfinanzreform und dem Zerfall des Bülowblocks schritten die Nationalliberalen, allen voran Stresemann in engem Kontakt mit dem Bund der Industriellen, zur Gründung einer Gegenorganisation zu den Konservativen auf dem Lande, dem Deutschen Bauernbund. An führender Stelle wirkten, unter der finanziellen Rückendeckung Stresemanns, der Freikonservative Richard Löscher und das ehemalige Mitglied von Liebermanns Deutsch-Sozialer Partei Karl Böhme. Diese Führungsriege repräsentierte einen Querschnitt durch die Organisationen der evangelischen nichtsozialistischen Parteien und Organisationen, freilich den einer jüngeren Generation, und rechtfertigt durch ihre Existenz den wahlanlytischen Begriff des »nationalen Lagers«. Von den neunzehn füh­ renden DBB-Funktionären waren allein drei 1909 erst 32 Jahre alt. Ein Beispiel ist Karl Böhme selbst, der auf dem Umweg einer Stelle als Assistent von Max Sering, dem »Apostel der inneren Kolonisierung«, zu einer vom BdL finanzierten Versicherungsfirma stieß und noch 1907 für Liebermanns Deutsch-Soziale kandidiert hatte. Ohne Frage berührte das Thema der inneren Kolonisierung insofern, als es versprach, Parzellen zu schaffen, wenigstens potentiell die Interessen der Tagelöhner. Der Weg zum natio­ nalliberalen DBB brachte für Böhme den Sprung von der mittleren Riege der BdL-Verwaltung in die Führung einer eigenen Organisation. 1908 trennte er sich offiziell vom BdL und publizierte im gleichen Jahr sein »Finanzreform und Bauernstand«, in dem er sich für die Erbschaftssteuer aussprach. Vor allem aber setzte er sich rhetorisch für die »nationale Sache, ohne Ausnahmen«, ein. Es ist bezeichnend, daß Böhme kein Antisemit wie Böckel, Marr oder gar Ahlwardt war. Zwar war sein Doktorvater der Antisemit Adolph Wagner, aber in seiner Dissertation finden sich keine antisemitischen Töne. Seine Wahlparolen feierten die Nation und ver­ dammten die Junker. Die organisationstechnische und propagandistisch­ polemische Kohärenz der evangelischen nichtsozialistischen Parteien, wel­ che die Entstehung dieser bunten Mischung politischen Karrieristentums erst ermöglichte, verhinderte nicht die tagespolitische Polemik des BdL, der den Bund als Organ des »Internationalen Judentums« angriff. Sie erklärt aber, weshalb die Ziele des DBB keineswegs spezifisch liberal waren. Diese Ziele waren stattdessen verschwommen genug, um der ländlichen Unterschicht wenigstens für kurze Zeit als bessere politische Repräsenta­ tion zu erscheinen, ohne die Bauern zu verprellen.211 265 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Die Vermutungen der Landräte und die Analyse der Strukturproblemes alter Protestparteien durch Liebermann selbst, denen zufolge sie einerseits die antietatistische Haltung der Gemeinden gegenüber der Obrigkeit und zugleich den Sozialprotest der pendelnden Unterschichten gegen die ge­ werbliche Wirtschaft, aber auch gegenüber den Besitzinteressen der Bauern repräsentieren und daran früher oder später scheitern mußten,212 wird durch die Entwicklung der Wahlbeteiligung und des Anteils des Wahlsie­ gers an den Wählern bestätigt. In den beiden zwischen Stadt und Land gemischten Wahlkreisen Hanau und Kassel bestimmte die Konfrontation zwischen preußischem Staat und Sozialdemokratie seit den 1880er Jahren die Wahlkämpfe. Die Sozialdemokraten gelangten durch die wachsende Mobilisierung ihrer städtischen Wähler zwischen 1898 und 1912 dort auf knapp über die Hälfte der Stimmen. Die ländliche Bevölkerung, zu der im Hanauer und Kassler Raum in besonderem Maße gewerblich tätige Parzel­ lenbesitzer und im Raum Hanau Arbeiter der darniederliegenden Zigarren­ industrie gehörten, wählte demgegenüber konsequent diejenigen Parteien, die aufgrund wechselnder Absprachen Kaiser und Reich gegen die sozialde­ mokratische Bedrohung zu verteidigen versprachen.213 Dem Zentrum kam in dem katholischen Fuldaer Wahlkreis die wachsende Wahlbeteiligung der Bevölkerung in der Regel direkt zugute.214 In den fünf anderen überwiegend evangelisch-ländlichen Wahlkreisen, in denen diese Konfrontation nicht gegeben war, nahm der Anteil der Wahl­ berechtigten gegenüber der Vorwahl in drei Schüben von 1874 bis 1881, 1887 bis 1890 und 1903 bis 1912 (gegenüber der Vorwahl) in der Regel zu. 1884 und zwischen 1893 und 1898 stagnierte die Wahlbeteiligung oder ging zurück.215 Der Anteil der Wähler der jeweils siegenden Partei sank von über neunzig Prozent für die Nationalliberalen in den Wahlen von 1867216 auf unter sechzig Prozent in den Wahlen von 1912. Selbst auf dem Höhepunkt politischer Mobilisierung errangen die Repräsentanten der ländlichen Bevölkerung in ihren Hochburgen jedoch insgesamt Ergebnisse von deutlich über fünfzig und bis zu achtzig Prozent.217 Die schubweise Mobilisierung der Wähler ging in der Regel mit dem Verlust des Vorsprungs der jeweils führenden Partei einher, deren Nachfolger sich in der Zeit nachlassender Wahlbeteiligung erneut einen wachsenden Anteil der Wähler sichern konnten - bis der nächste Kontrahent auf der Bühne auftrat.218 Die Bedeutung der häufig pendelnden Tagelöhner fiir die schubweise politische Mobilisierung in den Herbst- und Winterwahlen zwischen 1881 und 1890 bzw. 1907 und 1912 läßt sich am Wahlkreis Fritzlar-Homberg­ Ziegenhain und den Samplegemeinden verdeutlichen. Wie im gesamten Regierungsbezirk verstanden auch dort gerade die Liberalen das allgemei­ ne gleiche Wahlrecht als Bollwerk gegen die Tyrannei und fragten sich seit dem Ende der 1870er Jahre, weshalb die Wähler dieses Privileg nicht mit 266 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

parteipolitischer Loyalität quittierten.219 Ebensowenig wie in den anderen ländlichen und überwiegend evangelischen Wahlkreisen gelang es im Schwälmer Wahlkreis keiner der evangelischen Parteien, die im Prozeß der politischen Mobilisierung neu hinzukommenden Wähler völlig zu integrie­ ren, noch entstand eine dauerhafte Spaltung des Wahlkreises.220 Die Unter­ schiede zwischen den absoluten Wählerzahlen der Parteien lassen jedoch Vermutungen über die Unterschiede der Funktionen der Parteien für ihre Wähler und damit auf die Vermittlung zwischen dörflicher Politik und Parteiensystem zu. Während die Konservativen seit dem Zollstreit zwar als antiliberale und antikapitalistische Protestpartei antraten, blieben sie darüber hinaus im Gegensatz zu den Nationalliberalen die Interessenvertretung einer ge­ schlossenen sozialen Klasse, der Bauern. Im Gegensatz zu den Nationalli­ beralen verteidigten die Konservativen daher, so oft sie nur antraten, auch gegen die Antisemiten einen Block von rund zweitausend vermutlich bäuerlichen und kleinbäuerlichen Anhängern.221 Die eigentlich problemati­ sche Wählergruppe bestand jedoch aus der Mehrheit der Landarmen und Landlosen. Je nachdem, wie groß ihr Anteil und wie bedeutend ihr Einfluß in einer Gemeinde war, gestaltete sich auch das Wahlverhalten der Gesamt­ gemeinde, weil die Bauern über kurz oder lang ebenfalls nach einer neuen Protestpartei suchen mußten, wenn ihre eigene bäuerliche Vertretung die Landarmen nicht mehr integrierte. Unter den Samplegemeinden222 gab es daher im Hinblick auf die Wahl­ beteiligung, den Anteil der jeweils stärksten Partei an den Wählenden und den Wahlberechtigten und die Prozentpunktdifferenz zwischen dem Anteil der Wähler und der Wahlberechtigten der stärksten Partei regelrechte Zyklen politischer Mobilisierung, die mit den Gemeindetypen wechselten und von dem Handlungsspielraum der Unterschichten in den Gemeinden abhängig waren. Diese Unterschiede lassen sich vor allem an den verschiedenen Ge­ schwindigkeiten erläutern, mit der die Gemeinden die Zyklen politischer Mobilisierung und die Wechsel der Lagerrepräsentanz durchliefen. Diese Phasen gab es sowohl bei den von den Unterschichten beeinflußten als auch bei den bäuerlicher dominierten Gemeinden. Phase I bezeichnet die Konsolidierung der eroberten Position durch die jeweils neue stärkste Partei, mit einem hohen Stimmenanteil der Wähler und Wahlberechtigten bei noch hoher Wahlbeteiligung, aber einer noch geringen Prozentpunkt­ differenz zum gerade geschlagenen Gegner. Phase II bezeichnet die Zeit politischer Hegemonie dieser neuen stärksten Partei mit einem gewachse­ nen Wähleranteil und einem ebenfalls gewachsenen Vorsprung vor dem nun endgültig geschlagenen Gegner. Die Wahlbeteiligung und der Anteil an den Wahlberechtigten konnte freilich, wie 1898 für die Antisemiten, 267 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

zurückgegangen sein. Phase III überlappt zeitlich mit Phase I des neuen Zyklus. Während die nunmehr alte Hegemonialpartei noch immer die stärkste Partei bleibt, beginnt dennoch bereits die politische Mobilisierung der neuen Protestpartei, die Anteile der alten Hegemonialpartei an Wäh­ lern und Wahlberechtigten sinken, obgleich die Wahlbeteiligung steigt. In Phase I des neuen Zyklus übernimmt die neue Protestpartei die Lagerre­ präsentation auf dem Höhepunkt der politischen Mobilisierung, freilich mit einer noch geringen Prozentpunktdifferenz zum gerade geschlagenen Gegner. Tabelle 28: Gemeindetyp und politische Mobilisierung Wahl

Erster 1881 1884 1887

Gemeindegruppe I-IIIa Wahlbe­ Stärkste Partei teiligung % Wäh­ % Wahl­ ler berech­ tigte Zyklus 57,2 71,0 42,0 62,2 91,8 57,1 60,6 77,8 48,4

Diff.

Gemeindegruppe IIIb-IV Wahlbe­ Stärkste Partei Diff. Phase teiligung % Wäh­ % Wahller berech tigtc

29 34,7 31,4

1 II III

-

-

-

-

66,1

97,2

64,2

33

II

Zweiter Zyklus 1890 67,1 1893 68,5 1898 36,5 1903 57,6 1907 78,2

70,5 57,3 68,7 65,5 61,6

48,6 40,7 25,1 37,0 48,2

21,9 18,6 43,6 26,5 13,4

I I II II III

-

-

-

-

Dritter Zyklus 1912 85,4

68,9

58,7

10,2

I

83,6

66,3

55,5

10,8 III

71,7 42,3 57,0 75,7

86,4 86,2 82,6 78,9

61,9 36,5 48,7 57,8

24,5 47,7 33,9 17,1

II II II III

Quelle: Eigene Berechnungen nach Klein, Reichstagswähler.

Diese Phasen durchliefen die Gemeinden der Typen I-IV, zusammengefaßt in die zwei Gruppen der von Unterschichten beeinflußten (Typ I-IIIa) bzw. bäuerlich dominierten Gemeinden (Typ IIIb-IV) unterschiedlich schnell. Die Geschwindigkeit in der politischen Mobilisierung und des Wechsel zu einer neuen Protestpartei unterschied die vollbäuerlichen Ge­ meinden (IIIb-IV) nämlich von den Gemeinden, in denen Landarme und Landlose eine etwas unabhängigere Rolle spielten. Während die Unterschichtgemeinden 1912 bereits den dritten Zyklus begann, befanden sich die Bauerndörfer noch am Ende des zweiten Zy­ klus. Auch die Differenzierung der unterschiedlichen Phasen war bei den Bauerndörfern ausgeprägter. Die jeweils das nationale Lager repräsentie268

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

rende Partei mobilisierte in den Bauerndörfern, in denen eine von der Gemeinde abweichende Haltung kaum möglich war, regelmäßig mehr Wähler und Wahlberechtigte hinter sich, sie besaß einen deutlich größeren Vorsprung vor ihren Konkurrenten als in den Gemeinden mit einem größeren Einfluß der Unterschichten. Der Stimmenanteil der jeweils stärk­ sten Partei unter den Wählern lag dort im Durchschnitt zwischen 1881 und 1912 nur bei 67,3%, aber bei 81,3% in den Bauerndörfern. Der Stimmen­ anteil der »Dissidenten«, also all jener Wähler in einer Gemeinde, die im Gegensatz zur Restgemeinde noch nicht oder bereits auf die Linie einer neuen Protestpartei eingeschwänkt waren, in jedem Fall aber bereit waren, sich in ihrer Wahlentscheidung gegen die Mehrheit der eigenen Gemeinde zu stellen, lag in allen Gemeinden nie über einem Drittel aller Wähler, in den großbäuerlich dominierten Gemeinden aber sogar unter einem Fünf­ tel. Die unterschiedliche Wahlentscheidung der Gemeinden in der Reichs­ tagswahl von 1912 war eine Folge dieses Unterschiedes zwischen den Gemeindetypen. Innerhalb der Parzellengemeinden (II-IIIa) gaben vermutlich die Tage­ löhner und Handwerker durch ihren Parteiwechsel den Anstoß zum Wech­ sel der gesamten Gemeinde zu einer neuen Protestpartei. Je höher der Anteil der Parzellenbesitzer und Tagelöhner gegenüber den Bauern und Kleinbauern in den Samplegemeinden war, desto größer war 1893 auch der Anteil der Stimmen für die antisemitische Protestpartei.223 Die Vermutung, daß der politische Antisemitismus nach 1903 seine Mehrheit deswegen verlor, weil er seine Rolle als Protestpartei - und deshalb die Unterstützung der Tagelöhner - bis 1912 verloren hatte, läßt sich durch den Vergleich der Wahlergebnisse von 1887 und 1893 bzw. 1907 und 1912 in Orten mit unterschiedlich hohem BdL-Mitgliederanteil überprüfen. Der BdL war die Interessenorganisation der Großbauern und besaß besonders gegenüber der Regierung Caprivi den Charakter einer agrarischen Protestorganisation. Er war jedoch organisatorisch und inhalt­ lich mit den Deutschkonservativen im Kreis verknüpft. Diese blieben bis 1893 einschließlich die Gegner der Antisemiten. In den Wahlkämpfen von 1907 und 1912 traten die Deutschkonservativen jedoch nicht mehr eigens auf, weil die Antisemiten ohnehin ihre Verbündeten im Reichstag - in der Frage der Erbschaftssteuer - und vor Ort geworden waren. Die Ziegenhai­ ner Quellen erlauben, den Anteil der BdL-Mitglieder an allen Haushalts­ vorständen einer Gemeinde im Jahre 1904 zu bestimmen und die Orte des Kreises diesem Anteil nach zu ordnen. Diese Vorgehensweise folgt der Annahme, ein Ort mit besonders vielen BdL-Mitgliedern werde bei seinen Reichstagswahlentscheidungen auch besonders von der konservativen poli­ tischen Haltung des BdL beeinflußt. Die Gemeinden wurden außerdem ihrer Stimmenzahl nach in die Gruppen I bis IV eingeordnet, je nach ihrer 269 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Tabelle 29: BdL-Mitgliedschaft und Anteil antisemitischer Stimmen: Die Wahlen von 1887, 1893, 1907 und 1912 Anteil der antisemitischen Stimmen BdLMitgliederanteil

I

1887 II III IV

I

1893 II III IV

1907 I II III IV

1912 I II III IV**

20-64% 17 Orte*

4

2 2

3

1

3

4 9

_

2 7

8

_ 3 6

8

11-19% 17 Orte*

7

1 2

3

0

5

8 4

-

5 6

6

-

7

1-10% 17 Orte*

2

7 4

1

0

9

4 4

0

9 5

3

0. 11

keine Mtgl. 28 Orte

4

2 5

5

0

8 10

0 10 8

8

0 8 8 10

8

4 6 5

1

*1887 11, 13 bzw. 14 Orte mit Angabe; II-IV bezieht sich auf die Prozentanteile der Antisemiten in den Gemeinden mit antisemitischen Stimmen, aufgeteilt in drei Gruppen {II, III, IV). ** 1887 I=keine antisemit. Stimmen; 11=2,4-17,8%; III=›17,8%-‹57.3%; IV=57,3-97,1; 1893 I=keine antisemit. Stimmen; II=13-‹64,7%; 111=64,7-82,7; IV=83,5-100%; 1907 I=keine antisemit. Stimmen; II=-68,9%; III=70-87,9%; IV=90-100%; 1912 I-keine antisemit. Stimmen; 11=37,0%; III=40,0-58,3%; IV=57,3-100%. Ein Lesebeispiel: In siebzehn Orten lag der Anteil der BdL Mitglieder 1904 zwischen 20 und 64%. Nur in einem dieser Orte erhielt der politische Antisemitismus 1893 keine Stimme, in dreien 13-64,7%, in vieren 64,7-82.7% und in neun 83,5-100% der Stimmen. Innerhalb jeder Gemeindegruppe mit einer gegebenen BdL Mitglicderzahl verweisen die Zahlen rechts in jeder Kolumne auf relativ zur Gesamtwahl hohe antisemitische Stimmabgaben, die Zahlen links auf niedrige Stimmenzahlen Rir den politischen Antisemitismus im Kreis. Quelle: s. Tab. 28.

Zugehörigkeit zu den Gemeinden ohne antisemitische Stimmen (I) bzw. zu den Gemeinden in dem oberen, mittleren oder unteren Drittel aller Gemeinden, dem Anteil der abgegebenen antisemitischen Stimmen in der jeweiligen Reichstagswahl nach.224 Noch 1887 waren der Stimmenanteil der Antisemiten in den Gemeinden, in denen der BdL durch seine Mitglie­ der präsent war, niedriger als in den anderen Gemeinden. Unter den Orten mit ansässigen BdL-Mitgliedern wurden die Antisemiten in dreizehn gar nicht und in zehn mit nie über 17,8% der Stimmen gewählt. Nur in fünfzehn Orten erhielten sie bessere Ergebnisse. Liebermann stützte sich 270 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

nämlich auf diejenigen Orte ohne BdL-Mitglieder. Nur in sechs dieser Gemeinden erfuhren die Antisemiten schlechte Ergebnisse (bis 17,8%) oder wurden nicht gewählt, in zehn erreichten sie demgegenüber Stim­ menanteile von über 17,8%, davon in fünf Orten von über 59%. Für die Wahl von 1893 läßt sich keine eindeutige Aussage zum Verhältnis zwischem dem Erfolg des politischen Antisemitismus und der Präsenz des BdL machen, aber 1907 und 1912 hatte sich die Lage im Vergleich zu 1887 verkehrt. Nun erreichten die Antisemiten unter den vierunddreißig Orten mit über 11% BdL-Mitgliedern in 27 Gemeinden Stimmenanteile über 70% bzw. 40% und nur in sieben Gemeinden schlechtere Ergebnisse. In den dreiundvierzig Gemeinden mit weniger oder gar keinen BdL­ Mitgliedern ergaben sich dagegen nur in neunzehn Gemeinden gute Ergebnisse (also über 70% bzw. 40%), in vierundzwanzig Orten aber schlechte Noten für die Antisemiten. Das Verhältnis zwischen der Präsenz besonders vieler BdL-Mitglieder, also der vermutlich bäuerlich-konservativen Leitung der Gemeinde, und dem Erfolg der Antisemiten ist jedoch nicht der einzige Hinweis auf den Wandel ihrer politischen Rolle. Einige Orte ohne organisierte BdL-Mitglie­ der waren kleine Gemeinden.225 Diese Kleinstorte waren überwiegend großbäuerliche Weiler oder Bauerndörfer (IIIb), in denen das Wort der Bauern ohnehin viel galt. Gerade in diesen kleinen Orten entschieden sich Bauern und Tagelöhner bereits seit 1893 für den politischen Antisemitismus und blieben ihm bis 1912 weitgehend treu. Es waren demgegenüber die größeren Orte, mit oder ohne BdL-Mitglieder, in denen sich seit 1907 das Schicksal dieser Protestpartei entschied. Die wachsende Unglaubwürdigkeit der Antisemi­ ten als agrarischer Protestpartei der Unterschichten führte in diesen großen Orten zu dem Verlust von Wählerstimmen. Daran konnten auch die bäuerlichen BdL-Mitglieder wenig ändern, weil diese größeren Orte in der Regel zu denjenigen Gemeindetpypen zählten, in denen der Handlungs­ spielraum der Unterschichten eine völlige Kontrolle ihrer Wahlhaltung nicht zuließ (Typen II und IIIa). Während in den größeren Orten, auch denjenigen mit zahlreichen BdL-Mitgliedern, der als neue Protestpartei auftretende Bauernbund in den Wahlen von 1907 und 1912 wachsende Chancen besaß, wählten die kleinen Orte noch 1912 ganz überwiegend antisemitisch. Je größer eine Gemeinde war - und je häufiger daher auch die Zugehörigkeit des Ortes zu den Typen II und IIIa - und je geringer umgekehrt der Einfluß des BdL, desto bedeutender war mithin die Artiku­ lation des sozialen Protests der Unterschichten für den Erfolg der Parteien. Unter den Gemeinden des Samples lebten BdL-Mitglieder ohnehin über­ wiegend in den Bauerndörfern und Weilern (Typ Illb-IV), die in der Regel zugleich die kleineren Gemeinden waren.226 271 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Tabelle 30: Ortsgrößen der Gemeinden ohne BdL-Mitglieder und Stim­ menanteil für die antisemitische Partei Anteil der antisemitischen Stimmen Einwohner

1887 I/II III IV

1893 I/II III IV

1907 I/II III IV

1912 I/II III IV*

bis 300

2

3

4

4

7

7

6

6

7

4

7

8

bis 500

2

1

0

1

1

1

1

1

1

2

0

1

bis 1000

1

1

0

1

1

0

1

1

0

0

1

1

über 1000

1

1

2

2

2

* 1887 I=kcine antisemit. Stimmen; 11=2,4-17,8%; III«›17,8%-‹57,3%;IV=57,3-97,1; 1893 I=keine antisemit. Stimmen; II=13-‹64,7%;III=64,7-82,7; IV«83,5-100%; 1907 I=keine antisemit. Stimmen; II=-68,9%; III=70-87,9%; IV=90-100%; 1912 I=kcine antisemit. Stimmen; II=-37,0%; III=40,0-58.3%; IV=57,3-100%.

Die Suche der Parzellenbesitzer und Tagelöhner nach einer geeigneten Protestpartei schloß angesichts des bereits fest verankerten gemeindlichen Antisemitismus die Wahl einer antisemitischen Partei nicht aus. Eine positi­ ve Ermutigung zur Wahl einer antisemitischen Partei ging jedoch von der Erfahrung jüdischer Nachbarschaft gerade nicht aus. Die zwölf Gemeinden im Kreis,227 in denen trotz der Aus- und Stadtwanderung der jüdischen Bevölkerung auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch jüdi­ sche Nachbarn lebten, gaben ihre Stimme dennoch in geringerem Maße den antisemitischen Parteien als diejenigen Gemeinden, in denen keine Juden wohnten. Keine dieser Gemeinden war kleiner als 300 Einwohner, zehn größer als 500, und davon vier größer als 1000 Einwohner. Nur eine dieser Gemeinden zählte mit ihrem Votum von 1887, auf der Welle der antisemitischen Protestwahl, zum oberen Drittel der antisemitisch wählen­ den Gemeinden im Kreis, geordnet nach dem Anteil der Stimmen für den politischen Antisemitismus. Drei der Gemeinden mit jüdischen Einwoh­ nern zählten zum zweiten und sechs zum unteren Drittel. 1893 und 1907 gehörte keine der Gemeinden mit jüdischen Ortsbürgern mehr zum ober­ sten Drittel und nur drei zum mittleren Drittel antisemitisch wählender Gemeinden, weil der politische Antisemitismus für die ansässigen Parzel­ lenbesitzer und Tagelöhner ohnehin seine Anziehungskraft einbüßte. Eine Partei, die nur antisemitische Parolen bot, ihre Opposition zu den Behörden aber aufgegeben und die Artikulation sozialen Protests vernach272 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Tabelle 31: Ortsgrößen der Gemeinden mit BdL-Mitgliedern und Stim­ menanteil für die antisemitische Partei Anteil der antisemitischen Stimmen Einwohner

1 887 I/II III

IV

1893 I/II III IV

1907 I/II III IV

1912 I/ II III

IV*

bis 300

9

3

1

3

6

6

1

4

10

3

4

8

bis 500

7

1

3

6

5

5

6

7

3

6

5

5

bis 1000 7

2

3

8

4

6

7

7

4

8

7

3

bis 2000

2

1

1

0

2

1

1

*1887 I=keine antiscmit. Stimmen;II=2,4-17,8%; III=›17,8%-‹57.3%; IV=57,3-97,1; 1893 I=keinc antiscmit. Stimmen;II=13-‹64,7%;III=64,7-82,7; IV=83,5-100%; 1907 I=keine antiscmit. Stimmen; II-68,9%; III=70-87,9%; IV=90-100%; 1912 I=keine antiscmit. Stimmen; II=-37,0%; III=40,0-58,3%; IV=57,3-100%.

lässigt hatte, verlor auch die Unterstützung der wahlentscheidenden Un­ terschicht. Deshalb konnte sich im Regierungsbezirk keine der Parteien des nationalen Lagers auf Dauer behaupten. Die Unterschicht wandte sich nach einigen Legislaturperioden von jeder Protestpartei ab, weil keine ihr Los wirklich bessern konnte. Aus den Reihen der Wanderarbeiter besuch­ ten selbst aus dem Bauerndorf Wasenberg 1911 einige Tagelöhner die Wahlversammlungen der Fortschrittspartei - an ihnen kam selbst in den Bauerndörfern niemand mehr vorbei, wenn es um die Artikulation des traditionellen Gemeindeprotestes ging.228 Der Wahlkreis Fritzlar-Homberg-Ziegenhain ist kein Einzelfall. Die Ab­ folge der dort erfolgreichen Parteien war typisch für den gesamten Regie­ rungsbezirk. Auch im Wahlkreis Marburg-Kirchhain-Frankenberg wählten vornehmlich die Handwerker und Tagelöhner der Kleinstädte und gewerb­ lichen Landgemeinden die neue antisemitische Protestpartei (Typen I­ Illa). Die Erfolge des linken Antisemiten Böckel von 1887 und 1890 ruhten ganz wie die des rechten Antisemiten Liebermann auf der Mobilisie­ rung dieser Parzellenbesitzer, in deren Gemeinwesen (überwiegend Typ I­ Illa) sich die Wahlbeteiligung 1887 verdoppelte. Erst 1890 schlossen sich auch die Bauern Böckel an. Nun erst stieg auch in den kleinen, bäuerlich beherrschten Gemeinden die Wahlbeteiligung. Freilich verlor Böckeis Be­ wegung damit auch ihren Protestcharakter, und in den Landstädten und gewerblichen Gemeinden nahm die Wahlbeteiligung erneut ab. Bei der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

273

Wahl von 1893 ging die Wählerschaft Böckeis beispielsweise in der Land­ stadt Frankenberg von 2079 auf 1670 Wähler zurück. Eine Korrelation zwischen seinen Wählern und einer bestimmten sozialen Klasse, wie 1887 noch zu der landlosen oder der landarmen Unterschicht mit Parzellenbe­ trieben mit weniger als zwei Hektar, bestand nicht mehr. Die Erweiterung der sozialen Basis der Böckelbewegung auf die bäuerlichen Gemeinden kostete Böckel die Unterstützung der mittlerweile wieder enttäuschten Tagelöhner und Handwerker. Auch in diesem Teil des westhessischen Berglandes hinderten die antisemitischen Parolen die Wähler nicht an der Wahl einer Protestpartei - diejenigen Gemeinden mit jüdischen Nachbarn wählten allerdings zu einem geringeren Anteil die neue Partei -, die Artikulation von Reichstreue, Obrigkeitskritik und sozialem Protest stand für die Unterschichten aber im Mittelpunkt ihrer Interessen.229 Auch im Landkreis Hersfeld waren die unter Abzahlungslasten an die Landeskreditkasse leidenden Parzellenbesitzer die Basis der örtlichen Pro­ testpartei. Die Antisemiten stellten nur deshalb noch 1912 den Reichstags­ abgeordneten für den Wahlkreis, weil das Wahlbündnis mit dem Zentrum, den Konservativen, den Linksliberalen und dem Bauernbund gegen die Sozialdemokraten sie zu der einzigen Partei machte, die neben der Artiku­ lation sozialen Protests zugleich Kaiser und Reich verteidigte und die daher auch 1912 noch einen Stichwahlerfolg von 73.2% verbuchen konnte.230 Nur im Umkreis der industriestädtischen Ausstrahlungskraft Hanaus wuch­ sen die vereinzelten Wahlerfolge der Antisemiten in den 1890er Jahren, ähnlich der Situation im Königreich Sachsen, in die Konsolidierung der Sozialdemokraten hinein.231 Was ist diesen Mikrostudien zum Regierungsbezirk Kassel und einzelnen seiner Wahlkreise sowie aus den Überblicken zu Baden und Franken über die Konsequenzen der Vitalität des traditionellen Gemeindeprotestesfür die Parteien des Kaiserreiches zu entnehmen? Die Protestparteien in den Mittelgebirgswahlkreisen des ehemaligen Fränkischen und Oberrheini­ schen Kreises brauchten erstens die Sozialdemokratie nicht zu fürchten. Das lag nicht nur an dem bäuerlichen Besitzstandsdenken und dem Inter­ esse der Unterschichten, ihre bäuerlichen Nachbarn nicht zu offensichtlich zu brüskieren. Die ländlichen Wähler, und unter ihnen besonders die Unterschichten, formulierten ihre politischen Interessen schließlich durch die Rezeption der Ideen und Ziele der Kirche und der Kriegervereine. Der Appell an das Reich und die Nation zur Unterstützung gegen die eigene Obrigkeit war ihnen seit 1848/49 vertraut. Sie kleideten ihre Wünsche und Ziele daher in dieselbe nationale Rhetorik der Verteidigung von Kaiser und Reich und des Aufbegehrens gegen die Obrigkeit ein, der sich auch die nationalliberalen und konservativen Parteien und Vereine bedienten. Bauern und Tagelöhner interpretierten diese Rhetorik jedoch zweitens in 274

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

ihrem je eigenen Sinn. Die liberalen und konservativen Parteien, welche diese Wähler für sich gewinnen wollten, waren daher zu einer ständigen Opposition, wenn auch einer nationalen, gezwungen.232 Sofern sie nicht die einzige Alternative zur Bedrohung von Reich und Kaiser repräsentierten, sondern mit anderen nichtsozialistischen evangelischen Parteien konkur­ rierten, bot nur die ständige nationale Opposition die Möglichkeit, die Interessen der Besitzklasse der Bauern und die Strukturprobleme der Erwerbsklasse der Parzellenbesitzer und Mieter, die mit ihrer Mehrheit die Wahlen entscheiden konnte, wenigstens für kurze Zeit zu integrieren.233 Antikapitalistische oder antietatistische Rhetorik gegen die Beamten, die Unternehmer oder die Junker war in dieser Situation wohlfeil und gehörte daher bald zum Repertoire von allen antretenden Parteien in ihrer Rhetorik vor Ort. Bei bestimmten Konflikten wie bei der Reichserbschaftssteuer holte die Klassenbildung auf dem Lande drittens die politischen Parteien ein, ohne daß die ländlichen Wähler darauf verzichteten, nach einer gemeinsamen Partei zu suchen. Dazu wog die Tradition des gemeinsamen Protestes, die in der Lebenswirklichkeit der ländlichen Gesellschaft verankerte Trennung von der städtischen Gesellschaft und die Aktualität der gegenseitigen Abhängigkeit auf den Dörfern, aber auch der Konflikte mit dem Staat zu schwer. Keiner Partei konnte unter diesen Bedingungen die dauerhafte Integration der evangelischen Landbevölkerung in das moderne Parteien­ system gelingen. Der Niedergang der Nationalliberalen seit den späten 1870er Jahren und die Erfolge der konservativen und der antisemitischen Parteien auf dem Lande in den späten 1880er und frühen 1890er Jahren werden in der parteigeschichtlichen Forschung als Ausdruck der machtpolitischen Ge­ wichtverschiebung im Gefolge des Wechsels Bismarcks zu den Konservati­ ven seit 1878 und der Entstehung eines politischen Massenmarktes nach Bismarcks Sturz 1890 verstanden. Für die ländlichen Wähler der Liberalen in Hessen, Baden und Franken bildeten jedoch viertens weder die Jahre 1877/78 noch 1890 einen tiefen Einschnitt. Sie setzten vielmehr seit der Reichsgründung ihre Suche nach einer Interessenvertretung fort, die den in sich widersprüchlichen Interessen in den Gemeinden gerecht werden wür­ de. Die Ablösung der Nationalliberalen im Regierungsbezirk Kassel zeich­ nete sich daher bereits 1874 ab. Die Konservativen ernteten den ländlichen Protest bereits in den 1880er Jahren. Dafür gewannen die Nationallibera­ len seit 1907 die enttäuschten ländlichen Wähler wieder zurück. Aus der Perspektive dieser Wähler läßt sich weder 1877/78 noch 1890 von einer tiefen Zäsur sprechen. Sofern ein einzelnes Ereignis das ländliche Wahlver­ halten nachhaltig beeinflußt hat, war das die »Große Deflation« seit 1873 und, je nach der Struktur des bäuerlichen Betriebs, die Krise der Getreide © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

275

preise nach 1876. Diese Krisen bestätigten Bauern und Tagelöhner in ihrer abwartenden Protesthaltung gegenüber Staat und Gesellschaft, ohne daß sich diese Haltung deshalb alleine mit diesen Krisen und ohne Rückgriff auf das Verhältnis von Staat und Gemeinde und auf die Erfahrung der Gemein­ den bis zu diesem Zeitpunkt erklären läßt.234 Der traditionelle Gemeindeprotest, in dem sich aufgrund der im ersten und zweiten Kapitel geschilderten sozialen und verfassungsgeschichtlichen Bedingungen die verschiedenen Interessen der dörflichen sozialen Klassen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bündelten, wurde fünftens zur Bürde des bürgerlichen Parteiensystems. Durch das allgemeine gleiche Männer­ wahlrecht erhielten Bauern und Unterschichten eine nie dagewesene direk­ te politische Bedeutung als Wähler. Dem traditionellen Gemeindeprotest kam dadurch wenigstens indirekt mehr politisches Gewicht zu. Die ländli­ chen Wähler des alten Oberrheinischen und Fränkischen Kreises blieben aufgrund der Bündelung ihrer unterschiedlichen Interessen gegen die Obrigkeit unberechenbar und für jede neue, auch radikalere, nationale Opposition mobilisierbar. Die politische Rhetorik, die sich aus dieser Situa­ tion speiste, wurde schließlich zur Gefahr für die liberalen Züge des Gemeinwesens überhaupt.235

276 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

4. Schluß

4.1. Die Entstehung der ländlichen Eigenständigkeit als Lernprozeß der Gemeinden Diese Studie begann mit der Frage nach der sozialen, kulturellen und politischen Eigenständigkeit der ländlichen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert. Sie versteht diese Eigenständigkeit als Resultat des Lernpro­ zesses der ländlichen Bevölkerung im Verlauf der Auseinandersetzung mit der Obrigkeit - der Perspektive der Forschungen zum bäuerlichen Wider­ stand in der frühen Neuzeit -, der wachsenden Bedeutung der Landarmen im Verlauf der sozialen Differenzierung des 18. und 19. Jahrhunderts eine der Perspektiven der Erforschung sozialen Protests im 18. und 19. Jahrhundert -, und der Beziehung des traditionellen Gemeindeprotestes zur Verfassungsbewegung und zum entstehenden Parteien- und Verbände­ staat des 19. Jahrhunderts, sowohl der Instrumentalisierung seiner Mög­ lichkeiten durch die Gemeinden als auch der Beeinflussung der Gemeinden durch ihn. Dieser Lernprozeß bestand aus der Summe der zahllosen Aus­ einandersetzungen der Bauern mit den Unterschichten innerhalb der Ge­ meinden, der Gemeinden mit der Obrigkeit und aus der Rezeption der Argumente und Topoi der Gebildeten durch Bauern und Tagelöhner. Die von Fall zu Fall nützlichsten Verhaltensweisen und plausibelsten Argumen­ te wurden tradiert, andere als unzulänglich fallen gelassen. Im Verlauf der Zeit entwickelten sich Verhaltens- und Argumentationsweisen, die von Bauern und Tagelöhnern nach wie vor auf ihre Nützlichkeit hin überprüft wurden, aber aufgrund ihrer tradierten Brauchbarkeit ein gewisses Eigen­ gewicht erhalten hatten. Um ihnen nachzuspüren, wurde die dörfliche Politik untersucht. Die Konsequenzen dieses Lernprozesses wurden durch die Erweiterung der politischen Partizipation durch den deutschen Konsti­ tutionalismus für die gesamte deutsche Gesellschaft wirkungsmächtig. Solche Lernprozeße durchlief nicht nur die ländliche Bevölkerung des ehemaligen Oberrheinischen und Fränkischen Reichskreises. Auch die Nordamerikaauswanderer des Oberrheinischen Reichskreises mußten nach ihrer Ankunft in der Neuen Welt im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts neue Begriffe und deren Bedeutungen angemessene Verhaltensweisen er277 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

lernen, beispielsweise die neuen Bedeutungen der Begriffe »liberty‹ und »property«, um sich in ihrer neuen Heimat zurecht zu finden.1 Sie rrußten ihre genossenschaftliche Berechtigungsvorstellung durch eine privatrtchtli­ che Eigentumskonzeption ersetzen, sich ein neues Freiheitsverstindnis aneignen. Statt Freiheit ausschließlich als die gegen die Obrigkeit gerichte­ te Freiheit von etwas - Sportein, Steuern, Fronen, Zehnten - zu versxhen, mußten sie ihre neue Freiheit als verantwortliche Freiheit zu egener Organisation zu begreifen. Dieser Lernprozeß nahm Jahrzehnte in An­ spruch und wurde durch das geringere Maß staatlicher Belastung :n der neuen Heimat gefördert. In Nordamerika angekommene Siedler berichte­ ten an die Zurückgebliebenen im Oberrheinischen Reichskreis zunächst begeistert über die in der neuen Heimat wiedergewonnene und im alten Sinne verstandene Freiheit von hoheitlichen Lasten. Bis zum letzten Drittel des 18. Jahrhunderts waren aus diesen Bauern und Parzellenbesitzern jedoch Bürger geworden. Sie erlernten unter den gewandelten verfassungs­ und sozialgeschichtlichen Rahmenbedingungen die Anwendung eines an­ deren Freiheitsbegriffs, beteiligten sich an der Revolution ihrer englischen Nachbarn gegen die englische Krone und brachten ihren Landsleuten, die als Söldner nach Amerika kamen, Verachtung und Unverständnis entge­ gen.2 Auch die daheimgebliebene ländliche Bevölkerung in den Gebieten des alten Fränkischen und Oberrheinischen Kreis lernte zwischen dem späten 17. und dem späten 19. Jahrhundert, sich in einer Welt sozialen Wandels und wachsender politischer Partizipation zurechtzufinden. Was durch die gebildeten Stände und die zeitgenössischen Kommentatoren im Zusammenhang mit der Entdeckung des Landes als ländliche Mentalität beschrieben wurde, war ein Ausdruck von Verhaltensweisen, die ihrerseits als Resultat der sozial- und verfassungsgeschichtlichen Veränderungen seit dem späten 17. Jahrhundert auf dem Lande entstanden waren. In der deutschen Forschung der letzten Jahre wurden »Mentalität«, »Sozialdisziplinierung« und »politische Kultur« zu Schlüsselbegriffen, um das Verhältnis der ländlichen Bevölkerung zur Obrigkeit und zur entste­ henden Staatlichkeit des 18. und 19. Jahrhunderts zu beschreiben. Es ergaben sich wenig Hinweise, welche die These einer Sozialdisziplinierung untermauert hätten.3 Die engen Grenzen der direkten Beeinflußbarkeit durch Kirche, Schule und Obrigkeit zeigen sich ohnehin an der Bevölke­ rungsweise, den Trinkgewohnheiten und dem Wahlverhalten der ländli­ chen Bevölkerung, die allen direkten Versuchen der Regulierung wider­ standen. Schließlich stellten die Lehrpläne der kurhessischen oder preußi­ schen Volksschule nur einen sehr engen Ausschnitt der Bedingungen dar, unter denen die ländliche Bevölkerung Verhaltensweisen erprobte und beibehielt, die ihren Interessen nützlich erschienen. Besonders die Geschichte der ländlichen Bevölkerung wandte sich aus 278 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

diesem Grunde dem Begriff der Mentalität zu, der, bei aller Reflexivität seiner möglichen Definitionen, ein Stück weit eine Ursprünglichkeit und Einbettung in einen umfassenderen Begriff von Lebensverhältnissen sugge­ riert, als der Begriff der Ideologie ihn bietet.4 Diejenigen Verhaltensweisen, die sich als Ausdruck einer den Betroffenen selbst nicht jederzeit völlig bewußten und von ihnen nicht mehr eigens reflektierten, ihr Handeln jedoch auch über ihr unmittelbares eigenes Interesse steuernden Haltung beschreiben lassen, könnten als Mentalität bezeichnet werden.5 Der Wille der Lehnlandbauern, selbst nach der Auflösung der Agrarverfassung auch um den Preis des sozialen Abstiegs der weichenden Erben6 ihre Höfe zusammenzuhalten, und die Bereitschaft der Tagelöhner, sich auch um den Preis der Verschuldung in den Besitz einer Parzelle zu bringen, verweist auf Verhaltensweisen, deren Entstehung zwar ein Kern zweckrationalen Ver­ haltens zu Grunde lag, die im konkreten Einzelfall aber auch unabhängig von den gegebenen Umständen Geltung für das Handeln des einzelnen besaßen. Sie verweisen jedoch zugleich auf ein Problem der Identifikation der von den bürgerlichen Beobachtern diagnostizierten ländlichen Eigen­ ständigkeit mit der Mentalität von Bauern und Tagelöhnern. Bauern und Tagelöhner lebten unter sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen. So­ fern sich für diese beiden sozialen Klassen überhaupt Aussagen zu einer Mentalität formulieren lassen,7 müssen sie zumindest für diese beiden sozialen Klassen differenziert betrachtet werden. Die im Mentalitätsbegriff häufig unverändert fortlebende dichotomische Polarität von Land und Stadt ist jedoch weder der sozialen Differenzierung der Landgemeinde noch ihrer Verflechtung mit der Landesherrschaft angemessen und vermut­ lich eine späte Folge der Stereotypisierung der ländlichen Gesellschaft seitens der bürgerlichen Beobachter.8 Kehren wir daher zunächst zu den Bedingungen zurück, unter den Bauern und Tagelöhner ihre Interessen durchsetzen mußten. Da waren einerseits die Ruralisierung der Gewerbe und die regionalen Folgen der Industrialisierung. Bauern und Tagelöhner lebten andererseits unter dem Lastendruck der kleinräumigen deutschen Landesherrschaften auf dem Gebiet des Fränkischen und Oberrheinischen Reichskreises, deren macht­ politische Schwäche und anfechtbaren Herrschaftsansprüche ihnen im Ver­ lauf von »Tausch, Teilung und Länderschacher« wiederholt vor Augen geführt wurden. Dort lebten der Dualismus zwischen nichtsouveräner anstaltlicher Territorialobrigkeit und Reichs- bzw. Nationsidee und die Verflechtung der Obrigkeit mit grund- und gerichtsherrlichem Patrimonia­ lismus bis in das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts fort. Die anstaltliche Territorialobrigkeit blieb in der Auseinandersetzung mit den Landgemein­ den um lebenswichtige Ressourcen der bedeutendste Kontrahent, während Reich und Nation zu Quellen der Legitimation antiobrigkeitlichen Prote279 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

stes wurden.9 Die Gemeinden banden ihrerseits als korporative Rechtsper­ sonen und Verteilungsinstanzen für den Zugang zu Wald, Weide, Armen­ und Altersunterstützung und schließlich Arbeitskräften die beiden sozialen Klassen der Bauern und der landarmen oder landlosen Erwerbsklassen aneinander. Deswegen blieben die Gemeinden Kristallisationspunkte und Kanalisierungswege der sozialen und politischen Interessen, der Meinungs­ findung und Weltdeutung beider Klassen bis zum Ende des 19. Jahrhun­ derts. Die scharfe innergemeindliche soziale Differenzierung sprengte nicht die Gemeinden, sondern führte den Beschwerden der Gemeinden den sozialen Protest der wachsenden und an Bedeutung gewinnenden Unterschichten zu. Diese Konstellation erlangte im Zuge der gewerblichen und industriellen Krisen und der massenpartizipatorischen Reorganisation des deutschsprachigen Mitteleuropas in einen Nationalstaat im 19. Jahr­ hundert eine soziale und politische Dynamik, mit der schließlich auch die politischen Parteien des Kaiserreiches konfrontiert wurden. Die besondere Bedeutung der deutschen Staats- und Nationsbildung für die politische Haltung des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums10 ist unbe­ stritten. Die These, das Selbstverständnis der ländlichen Bevölkerung sei aus vormodernen Zusammenhängen der deutschen Staatsbildung in den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts hineingewachsen, hat daher eine lange historiographische Tradition.11 Dennoch wurde dieser Aspekt für die Erklä­ rung der sozialen, kulturellen und politischen Eigenständigkeit der ländli­ chen Bevölkerung gegenüber der Beschäftigung mit den rechtlichen und sozialen Folgen der Agrarreformen und der industriellen Revolution und der Konzentration auf die agrarische Interessenvertretung der Bauern und Gutsbesitzer in der jüngeren Parteien- und vereinsgeschichtlichen For­ schung nur mittelbar berücksichtigt.12 Bereits die tagespolitisch initiierte Diskussion unter Liberalen und Sozialdemokraten seit den 1880er Jahren über die politische Haltung der ländlichen Gesellschaft tendierte demge­ genüber angesichts der Wucht des industriellen Wandels im allgemeinen und des agrarischen Wandels östlich der Elbe im besonderen zur Ausklam­ merung der Bedeutung des Staates und zur Betonung des agrarischen Strukturwandels im 19. Jahrhundert.13 Die jüngeren Forschungen zum regionalen Charakter der deutschen Gewerbegeschichte und Industrialisierung14 rücken dagegen andere Typen agrarischer Entwicklung in den Vordergrund, deren soziale, kulturelle und politische Prägung durch die Untersuchung bäuerlich-agrarischer Interes­ senpolitik allein nicht verständlich wird. Für die Mittelgebirgsregionen Mittel-, Süd- und Südwestdeutschlands gerät als Folge ihrer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung die Bedeutung der Landgemeinde als wirt­ schaftliche, sozialisatorische und politisch-meinungsbildende Institution und als Folge ihrer territorialen Verfassungsgeschichte der Konflikt zwi280 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

schen Landgemeinde und Obrigkeit zwischen dem späten 17. und dem späten 19. Jahrhundert in den Blick. Statt die häufig festgestellte Gemen­ gelage agrarischen Protests im 18. und 19. Jahrhundert aus antiobrigkeitli­ chen und sozialen Elementen15 ausschließlich auf die bäuerliche Interessen­ lage oder eine häufig vage als kleinbäuerlich apostrophierte Mentalität16 zurückzuführen, gestattet die Sozialgeschichte der Auseinandersetzung von Obrigkeit und Landgemeinde die Beschreibung der historischen Gene­ se und der Konsequenzen des Bündnisses von Bauern und Unterschichten unter dem Druck einer in allen Lebensbereichen zunehmend präsenten Obrigkeit. Diese Perspektive ist für die agrar-, verfassungs- und schließlich auch gewerbe- und industrialisierungsgeschichtlichen Besonderheiten Mit­ tel-, Süd- und Südwestdeutschlands besonders fruchtbar. Die konfessionel­ len und verfassungsgeschichtlichen Spezifika einzelner Provinzen und Ter­ ritorien sind jedoch gerade eines der Signen der zerklüfteten deutschen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts, die in die Formierung des deutschen Nationalstaates Eingang fanden. Industrialisierung und Urbani­ sierung nivellierten diese Unterschiede nur zum Teil und verstärkten oder akzentuierten sie zugleich neu. Eine regional eingeschränkte Sicht trägt daher zu einer landesgeschichtlichen Entflechtung der deutschen Ge­ schichte bei und verhindert, die unterschiedlichen Strukturen und landes­ geschichtlichen Entwicklungen der verschiedenen Territorien, Staaten und Provinzen vorschnell einem preußisch-süddeutschen oder südwestdeutsch­ norddeutschen Dualismus unterzuordnen, dem unterschiedliche Chancen auf dem Weg zum modernen Verfassungsstaat zuzuordnen seien.

4.2. Die soziale, antietatistische und politische Dimension des traditionellen Gemeindeprotestes Soziale Differenzierung, Vergewerblichung und Landgemeinde Weshalb erhielt sich die korporative Landgemeinde in Mittel- und Süd­ westdeutschland bis zum späten 19. Jahrhundert? Die Landgemeinden boten den Parzellenbesitzern im 18. wie im 19. Jahrhundert, trotz des Einschnitts der Agrarreformen, die Chance für Haus- und Gartenbesitz und den Zugriff auf ihre Allmenden. Die hierauf gründende Parzellenexi­ stenz der ländlichen Unterschichten war ihrerseits ausgesprochen anpas­ sungsfähig. Sie verkraftete sogar den Übergang von ländlichen Heimgewer­ ben zu Pendelarbeit in die Industrieregionen. Im Zusammenspiel der naturräumlichen Bedingungen der Mittelgebirgsregionen mit der Agrar© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

281

Verfassung - besonders der herrschaftlichen Verfassung -, dem Erbrecht und der heimgewerblichen Verflechtung der landarmen Parzellenbesitzer seit der zweiten Hälfe des 17. Jahrhunderts entstanden Typen sozialer Differenzierung und unterschiedlicher Handlungsspielräume Mir die dörfli­ chen Unterschichten, die sich nicht trotz, sondern wegen der Integration dieser Gemeinden in die ländliche Vergewerblichung und später in die entstehende industrielle Volkswirtschaft bis zum Ende des 19. Jahrhun­ derts erhielten. Weil Wander- und Pendelarbeit und gewerblicher Verdienst für die entstehende landarme Erwerbsklasse keine neuen Formen der Beschäftigung war, führte auch die industrielle Revolution zu keinem so schroffen Bruch mit den bereits vorhandenen dörflichen Normen und Machtverhältnissen, wie bis heute häufig angenommen. Die Bedeutung gewerblich tätiger und pendelnder landarmer Haushaltsvorstände, die ne­ ben den Bauern eine eigene soziale Klasse auf dem Lande bildeten, darf für das gesamte Reichsgebiet nicht unterschätzt werden.17 In den behandelten Regionen spielten sie jedoch wegen ihrer Rechtsgleichheit mit den Bauern und wegen der gewerblichen Verflechtung von Stadt und Land eine beson­ ders große Rolle für die Haltung ihrer Heimatgemeinden gegenüber der Obrigkeit und der Öffentlichkeit.18 Die Schärfe der innergemeindlichen sozialen Konflikte wurde mehrfach unterstrichen. Die Auseinandersetzung mit der Obrigkeit und der Abgren­ zung gegenüber den Beamten, Pfarrern und dem landsässigen Adel kam für Bauern und Landarme jedoch eine noch bedeutendere Rolle zu. Nirgend­ wo in der deutschen Gesellschaft vollzog sich die Bildung sozialer Klassen ausschließlich in Anlehnung an die Marktchancen der Klassenmitglieder, sondern auch durch die Wirkung bestehender Herrschaftsverhältnisse.19 Die Mobilisierung ostholsteinischer Landarbeiter und Insten20 und städti­ scher Fabrikarbeiter21 durch die Sozialdemokratie knüpfte an die Aufleh­ nung gegen Herrschaftsverhältnisse oder ihre Residuen an. Die hessischen, badischen und fränkischen Unterschichten arbeiteten zwar als Pendelarbei­ ter saisonal auf den ostholsteinischen Gütern,22 ihre Sozialisation fand jedoch bis in das späte 19. Jahrhundert unter völlig anderen rechtlichen und materiellen Bedingungen statt als diejenige der Gutstagelöhner und Insten. Die Differenzierung der Dorfbewohner in Südwest- und Mitteldeutsch­ land in die beiden Klassen der Bauern und der Tagelöhner und Handwerker vollzog sich ohne kollektives Aufbegehren gegen als ungerecht empfunde­ nen Herrschaftsverhältnisse, sondern als Sozialisationsprozeß in innerge­ meidlichen Konflikten um Armenrecht und Allmende und gemeindlichen Konflikten mit der Obrigkeit. Die landarme und landlose Unterschicht bildete keine Besitzklasse wie ihre bäuerlichen Nachbarn. Sie erfuhr die dörfliche Klassengrenze in ihren Lebenschancen, in der Statuszuweisung 282

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

und dem Ausschluß von den bäuerlichen Heiratskreisen bereits seit dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts.23 Der Parzellenbesitz der Unter­ schichten und ihre typisch anzutreffende Erwerbsposition gewerblicher oder händlerischer Selbständigkeit ändert wenig an dieser Bewertung. Die Parzelle blieb häufig verschuldet und die Selbständigkeit war nur eine Durchgangsstation auf dem Weg in die Altersarmut.24 Die innergemeindli­ chen Konflikte um Allmende und Armenrecht wiesen die Unterschicht zudem im Einzelfall immer wieder auf die Herrschaftsverteilung in der Landgemeinde hin und hinterließen eine in den Beschwerdeschreiben der Unterschichten nachhallende Bitterkeit über die eigene Ohnmacht gegen­ über der bäuerlichen Gemeindeführung. Die Meinungsfindung im Rahmen der dörflichen Politik konnte sich jedoch nicht wie die der ostholsteinschen Gutsarbeiter gegenüber der Gutsherrschaft kontinuierlich an den Gegensätzen von Hand- und Kopfar­ beit oder Bildung und Unbildung orientieren. Durch die Entflechtung des agrarischen Gesinde- und Arbeitsverhältnisses zugunsten gegenseitiger Nachbarschaftshilfe verlor der Herrschaftscharakter der sozialen Beziehun­ gen innerhalb der Gemeinde überdies relativ an Bedeutung. Die Herr­ schafts- und Statusmerkmale markierten stattdessen die Grenze zur außer­ dörflichen Welt des Niederadels, der studierten Beamten oder der Pfarrer. Die innergemeindlichen Konflikte blieben personalisiert und bewirkten nie ein organisiertes kollektives Aufbegehren. Die ländliche Unterschicht kon­ stituierte sich gegenüber den Bauern daher als sozial und materiell unterpri­ vilegierte Klasse. Die auf den Konflikt mit den Bauern weisenden Merkmale ihrer Klassenstellung wurden aber durch die rechtliche Stellung der Unter­ schicht als Gemeinde- und Kirchenmitglieder und ihre wirtschaftliche Stellung als Erwerbspersonen außerhalb des agrarischen Gesindeverhältnis­ ses konterkariert. Ihr soziales Aufbegehren als Erwerbsklasse konzentrierte sich daher auf den Staat als Steuereinnehmer und als agrarischen Unterneh­ mer und die städtisch-gewerbliche Wirtschaft als saisonalen Arbeitgeber.25 Ihr politisches Aufbegehren gegen bestehende Herrschaftsverhältnisse und ihre materiellen Folgen, die Steuern, Abgaben und Sportein, richtete sich auf die Obrigkeit. Gegenüber der Bedeutung der Obrigkeit als Gegner in den existentiellen Verteilungskonflikten um Wald, Weide und Abgaben verlor die innergemeindliche Klassenbildung an öffentlichem Organisati­ onspotential, während ihr sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts langsam ansammelnder sozialer Sprengstoff sukzessive zur Munition der Gemeinde in dem Konflikt mit der Obrigkeit wurde, den die Gemeinde ohnehin führte und auf den die gemeindliche Öffentlichkeit eingerichtet war. Die Überschneidung von Klassen- und Herrschaftsverhältnissen leitete nicht in eine kleinbäuerliche Mentalität aller DorfbewOhner, sondern in das soziale Aufbegehren der sozialen Unterschichten gegen die Obrigkeit über. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

283

Die Periodisierung der Entstehung ländlicher Eigenständigkeit muß daher weit vor dem Beginn der Industrialisierung dort angesetzt werden, wo die soziale Differenzierung in den Gemeinden faßbar und die Integrati­ on dieser sozialen Differenzierung in die Auseinandersetzung mit der Obrigkeit verfolgbar wird. Gleich jüngeren anderen Periodisierungsvor­ schlägen26 rückt der Zeitraum zwischen dem Ende des 17. und dem Ende des 19. Jahrhunderts in den Vordergrund. Das Nebeneinander der moder­ nen Klassenbildung in der entstehenden industriellen Volkswirtschaft des Kaiserreiches mit der quer zu den Herrschaftverhältnissen verlaufenden Klassenbildung in den Landgemeinden erscheint als Ausdruck nicht nur des wirtschaftlichen, sondern auch des sozialen Dualismus genossenschaftlich­ vormoderner Elemente mit modernen Merkmalen in der deutschen Gesell­ schaft des 19. Jahrhunderts.27

Antietatismus, Konfession und Vereinswesen Zwei zentrale Thesen der Untersuchung sind, daß erst der Gegensatz von Landgemeinde und Obrigkeit den Gemeinden ihre Handlungsfähigkeit zur gemeinsamen Aktion gab und daß die industrielle Revolution und die Reformen des 19. Jahrhunderts diesen Gegensatz nicht verschwinden ließen. Die Gemeinden verfugten seit ihrer Entstehung über ein ausgefeiltes Reservoir an Mechanismen zur Selbstverwaltung. Diese ließen sich aber kaum in Forderungen und politische Grundsätze zur gesellschaftlichen Organisation außerhalb der Gemeinde münzen, weil die Interessen und Wünsche von Bauern und Landarmen dazu zu unterschiedlich waren und blieben. Die fundamentale Bedeutung der herrschaftlichen Lasten für alle Gemeindeangehörigen bot in dieser Lage die Möglichkeit zur Entwicklung einer antiobrigkeitlichen Rhetorik, in der sogar Forderungen nach Partizi­ pationsrechten Eingang fanden, welche die Bauern mit Bezug auf die Gemeinde selbst kaum je zu realisieren gedachten. Die Vermittlung zwi­ schen den materiellen Interessen von Bauern und Tagelöhnern und der Artikulation der Gesamtgemeinde gegenüber der Obrigkeit wurde als Ergebnis der dörflichen Politik verstanden, in der sich keine der beiden sozialen Klassen in der Regel völlig durchsetzen konnte. Bauern und Tagelöhner eigneten sich überdies selektiv Topoi der Pfarrer und Beamten an und verwendeten sie für ihre eigenen Zwecke weiter. Einer dieser Topoi, der durch die Pfarrer verbreitete Topos von der alles verschlingenden Herrschaft, war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts so tief verwurzelt, daß er tatsächlich zu einem Teil der ländlichen Mentalität geworden war und das Verhalten von Bauern und Tagelöhnern weit über die Voraussetzungen 284 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

seiner Entstehung hinaus prägte. Insofern die Perhorreszierung der Obrig­ keit einen Weg zur innerdörflichen Konsensstiftung wies, der schließlich zu einem Stück ländlicher Mentalität wurde, mag man in der Tat davon sprechen, daß sich die dörfliche Politik zu einer politischen Kultur des Dorfes gewandelt hatte, die sich durch einen festen Bestand an Feindbil­ dern kennzeichnen läßt. Die Bedeutung der traditionalen Vergemeinschaftung für die ostdeut­ sche und polnische Arbeiterschaft des Ruhrgebietes nicht nur trotz, son­ dern wegen der Wanderungsverschiebungen und sozialen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts, ist häufig unterstrichen worden.28 Die Bedeutung der Auseinandersetzung mit der Obrigkeit für die dörfliche Politik im Gebiet des alten Fränkischen und Oberrheinischen Kreises tritt angesichts der Kontinuität der Konflikte um Steuern und Wald und des langsamen Wan­ dels der Staatlichkeit noch wesentlich prägnanter zutage. Der Landesherr­ schaft auf dem Gebiet des Fränkischen und Oberrheinischen Kreises haftete im gesamten Zeitraum ein personaler Zug an, der ihre Vertreter bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts mit den Gemeinden in Konflikte um den Wald verwickelte und bedingte, daß auch andere hoheitliche Abgaben in das Zwielicht dieser Auseinandersetzung rückten. Selbst die agrarische Interessenvertretung anderer Regionen war bis in die 1870er Jahre in erster Linie eine Opposition gegen die staatlichen Steuern und geriet erst auf­ grund der politischen Gesamtkonstellationen im Reich zur Formulierung von Zollschutzforderungen.29 Bodenrechtliche Lasten und Armen- und Gemeindegesetzgebung bzw. Steuern, Sportein, Ablösungszahlungen und die Fährnisse des Marktes boten Bauern und Tagelöhnern verschiedene, aber gleichermaßen handfeste Gründe für ihre Opposition. Der traditionel­ le Gemeindeprotest konstituierte gegenüber seiner Obrigkeit keine ständig bestehende Opposition. Er spekulierte jedoch auf die tatsächlich immer wiederkehrenden Gelegenheiten ihrer Schwächung, um die eine oder an­ dere Last abzuschütteln.30 Die Landesherrschaften des Fränkischen und Oberrheinischen Kreises fiskalisierten jedoch nicht nur ihre hoheitlichen Rechte gegenüber den Untertanen. Ihre Untertanen konnten mit Grund auf ihre machtpolitische Schwäche hoffen - ein Problem von Kleinherrschaften im gesamten Reich.31 Die Interventionen größerer Territorien oder der Reiches gegen die eigene Obrigkeit prägte die Erfahrungen der ländlichen Bevölkerung, die sich daran gewöhnte, nach stärkeren Verbündeten von Fall zu Fall Ausschau zu halten. Das mochte in den Zwergterritorien das Reich, in der größeren Landgrafschaft der Kassler Landesherr selbst sein. Solche Unter­ schiede verschwammen seit den 1790er Jahren. Die Zeit zwischen dem Anfall Ansbach-Bayreuths an Hardenbergs Preußen (1792) und dem Wie­ ner Kongreß (1815) stellte sich für viele der badischen, fränkischen und 285 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

nordhessischen Gemeinden als drastische Verschärfung der hoheitlichen Anforderungen durch eine Obrigkeit dar, der die geburtsständische Legiti­ mität der alten Obrigkeit und die Vermittlungsinstanzen des Alten Reiches fehlten. Die im Alten Reich weitgehend verrechtlichte Form der Auseinan­ dersetzung zwischen Obrigkeit und Gemeinde machte im »Fränkischen Bauernkrieg« und dem Widerstand gegen das Königreich Westfalen daher von Fall zu Fall kollektiver Gewalt Platz, die sich vereinzelt bis in die Erhebungen von 1848/49 wiederholte. Aus der Fülle der punktuellen Widersetzlichkeiten und Abwehrversuche entstand im Lauf der Zeit eine Rhetorik, die geeignet sein mußte, Bauern und Unterschichten gegen die Obrigkeit zu einen. Schon deshalb unter­ strich sie den Gegensatz zwischen »geringen Leuten« und »Herren« und artikulierte die Bedeutung genossenschaftlicher Partizipation gegenüber obrigkeitlicher Verordnung - man denke an Maurer Boppert und seine Hoffnung auf eine fiktive »Generalversammlung« oder an die Rhetorik des Hessischen Bauernbundes im Wahlkampf seit 1911. Die Topoi dieser Rhetorik stammten aus der selektiven Rezeption von Argumenten der Gebildeten her. Sie spiegelten nicht die Interessen der beiden ländlichen sozialen Klassen im Einzelnen, sondern die innergemeindlichen Machtver­ hältnisse zwischen diesen beiden Klassen wider. An ihnen orientiert schöpf­ te sie aus aus den Predigten und Argumentationen der Pfarrer, Advokaten und Beamten.32 Die Gemeinden übernahmen beispielsweise aus der aufge­ klärten Kritik am Absolutismus den Angriff auf die Dienste als »Sklaverei« und auf die anderen grundherrlichen Lasten als »Feudalsattel«,33 obwohl die meisten Lasten landesherrlichen und keineswegs feudalen Ursprungs waren. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts inkorporierten die Gemeinden in der Auseinandersetzung um die Gemeindeländereien antijüdische Topoi in ihre Gravamina, die bis zur Revolution von 1848/49 in Hessen, Baden und Franken einen gleichwertigen Platz neben den Klagen über die obrigkeitli­ chen Lasten erhalten hatten. Trotz der »Großen Deflation« faßte die antikapitalistische Rhetorik der Deutschkonservativen seit den späten 1870er Jahren nicht Fuß. Die Diskreditierung des Kandidaten der konser­ vativ-antisemitischen Deutsch-Sozialen Partei im Wahlkampf von 1912 hinsichtlich Konfession, bürgerlichem Wohlstand und Respektabilität re­ flektierte demgegenüber diejenigen Wertvorstellungen, die aus der Rheto­ rik der Gebildeten im Verlauf des 19. Jahrhunderts in die Gemeinden ein­ gesickert, mit den dörflichen Wert- und Rangvorstellungen kompatibel waren und deswegen tatsächlich Fuß gefaßt hatten. Den Unterschichten kam bei der Rezeption dieser Topoi eine wachsende Bedeutung zu. Die Gemeindereformen seit 1834 und die gewerbliche Konjunktur nach 1895 stärkten nicht nur politisch und wirtschaftlich ihre 286 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Position. Während die Lehnlandbauern, ablesbar an ihrer über die Auflö­ sung der Agrarverfassung hinaus verfolgten Erbstrategie, in erster Linie an Hof und Scholle als Grundlage gegenseitiger Wertschätzung und parteipo­ litischer Loyalität festhielten, bot diese zur Mentalität geronnene Orientie­ rung den Unterschichten kaum eine eigene Identifikationsmöglichkeit. Von den bäuerlichen Nachbarn waren Werthaltungen, in denen auch die landarme und landlose Erwerbsklasse ihren Platz fand, nicht zu erwarten. Es waren daher vor allem die dörflichen Unterschichten, die sich der Angebote der Kirche und schließlich des säkularen Vereinswesens selektiv bedienten. Der einzige Bereich, in dem Bauern und Landarme allgemeinere Über­ zeugungen und Werte teilten, die sich nicht allein aus der Abwehr gegen die Obrigkeit schöpften, waren die Gebote des für alle verbindlichen christlichen Glaubens. Das Verhältnis von Kirche und ländlicher Bevölke­ rung läßt sich daher als fundamental auch für die politische Artikulation der Landgemeinden insgesamt bezeichnen. Die Rezeption der Gebote und Verbote der Landeskirchen durch die ländliche Bevölkerung wird durch den frühneuzeitlichen Begriff der Konfessionalisierung bis in das späte 19. Jahrhundert gut gekennzeichnet.34 Der Entstehung und dem Fortbestand verschiedener konfessioneller Lager und ihrer Fähigkeit, die Gläubigen in sie und gegeneinander zu integrieren, wird dieser Begriff ebenso gerecht wie den Strukturparallelen innerhalb dieser Lager. Diese Parallelen bezie­ hen sich sowohl auf die Auseinandersetzung zwischen orthodoxer Landes­ kirche und staatlichen Reformbemühungen als auch auf die Frömmigkeits­ praxis der Gemeinden. Die jüngere Kirchen- und Frömmigkeitsgeschich­ te35 betont nicht nur die soziale und kulturelle Heterogenität innerhalb der deutschen Katholiken und Protestanten der zweiten Hälfte des 19. Jahr­ hunderts, sondern insbesondere den Gegensatz zwischen den liberalen Theologen unter den Inhabern der protestantischen Universitätslehrstühle und den von konservativen Mehrheiten dominierten Synoden der evange­ lischen Landeskirchen. Diese Landeskirchen und ihre Pfarrer waren das Bindeglied zwischen dem kirchlich noch eng gebundenen ländlichen Teil der deutschen Bevölkerung und der Religion. Sie gerieten im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend in eine Frontstellung gegen den politischen Liberalismus und den modernisierenden Staat. Wo die Bindung an den angestammten Landesherren als Summus Episcopus fehlte, wurden sie wie die lutherische Landeskirche Hannovers und die ehemals reformierte Lan­ deskirche Kurhessens sogar zu Säulen des Widerstandes gegen Preußen und spielten ihr Gewicht bei der frommen ländlichen Bevölkerung gegen die neue Obrigkeit aus. Aber selbst die Kleriker der älteren preußischen Provin­ zen waren gegenüber den nationalliberalen Reformen skeptisch, auch wenn sie die Loyalität gegenüber ihrem Landesbischof, dem König von Preußen, 287 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

an einem vergleichbar offenen Widerstand hinderte. Trotz des Einflusses nationaler Gedanken in den Reihen der Kleriker nach 1871 blieb das Verhältnis zum modernisierenden Staat und den kulturkämpferischen Na­ tionalliberalen gespannt und waren politische Bündnisse zwischen kirch­ lich-orthodox-pietistischen Konservativen und dem Zentrum wie im Reich oder Baden gegen die Liberalen daher möglich.36 Die protestantischen Landeskirchen lutherischer und reformierter Prägung boten ihren Gläubi­ gen auf dem Lande wie das Zentrum, wenn auch in erheblich weniger spektakulärer und landesgeschichtlich unterschiedlich ausgeprägter Form, Frömmigkeit, Obrigkeits- und Sozialkritik. Ihre Klientel besaß quer zu ihrer konfessionellen Bindung zwei Gemein­ samkeiten. Die Bevölkerungsweise der reformierten Landbevölkerung Hessens als auch der katholischen Bevölkerung Badens unterschied sich durch das hohe Heiratsalter und die vergleichsweise hohe Vor- und Unehe­ lichkeit37 gegenüber der bürgerlicher werdenden Bevölkerungsweise ihrer jüdischen Nachbarn (wesentlich geringere Vor-, Unehelichkeit und Kinder­ sterblichkeit). Zu dieser fundamentalen Gemeinsamkeit christlicher Le­ benspraxis und -fuhrung auf dem Lande kam die Frömmigkeitspraxis. Die katholische Landbevölkerung Frankens und Badens und die protestanti­ sche Bevölkerung Hessens hielt gegenüber ihren jüdischen Nachbarn an abergläubischen Vorstellungen fest.38 Selbst die Frömmigkeitspraxis der reformierten Bevölkerung Niederhessens blieb von der Werkfrömmigkeit des »legalen Christentums« geprägt, welche die protestantischen Pastoren gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu akzeptieren gelernt hatten. Der reformierte Pfarrer Boettes predigte am Grabe eines tagelöhnernden Holz­ hauers und zugleich selbständigen Teerhändlers - eine typische Unter­ schichtenexistenz - mit anerkennender Note: »Er war übrigends ein legaler Christ ... und bekannte sich zur refomierten Konfession«.39 Der regelmäßi­ ge Kirchgang, das Festhalten an den hergebrachten Agenden, Liedern und Riten der Kirche und die Abwehr gegenüber Eingriffen der Pfarrer in die private Lebens- und Ehepraxis im Rahmen der Abendmahlszucht kenn­ zeichnen diese Frömmigkeit ebenso wie die abergläubische Elemente auf­ nehmende Praxis des Antisemitismus, die scharf von dem sich herauskristal­ lisierenden Rasseantisemitismus der bürgerlichen Gebildeten zu unter­ scheiden ist. Weil der politische Liberalismus über seine Oppositionsrolle und seine teils antifeudale Rhetorik im Vormärz hinaus ebensowenig wie der moderne Staat einen glaubwürdigen Schutz der Nahrung bot, der sich gegenüber den wirtschaftlichen Krisen der Zeitläufte als verläßlich erwiesen oder die materiellen Interessen von Bauern und Tagelöhnern langfristig befriedigt hätte, blieb die ländliche Bevölkerung ihrer alten Loyalität zu den angestammten Gemeindeinteressen und zur Religion treu. Die Treue zur Amtskirche hielt sich desto mehr, je mehr sie sich bereit 288

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

fand, der Opposition gegen den modernisierenden Staat ihre Stimme zu leihen.40 Das Engagement bei Petitionen gegen die neuen Agenden weist auf die besondere Bedeutung der Frömmigkeit für die Unterschicht hin. Noch deutlicher läßt sich das selektive Engagement der Unterschicht in den Kriegervereinen bestimmen. Dort schuf sie sich ein eigenes Betätigungs­ feld, in dem die Vorherrschaft der Bauern als Vereinsvorsitzende zwar je nach Gemeindetyp noch hingenommen werden mußte, in denen aber auch offene Kritik wenigstens an den nichtbäuerlichen Honoratioren formuliert wurde. Der Bedeutung ihres Status als vollwertiges Mitglieder der christli­ chen Kirchgemeinde - aus der sich auch die energischen Angriffe auf den Ausschluß vom Abendmahl oder persönliche Bemerkungen des Pfarrers bei der Predigt herleiteten - gliederte sich seit den 1890er Jahren für die Unterschichten die Bedeutung der Rolle als »ächte deutsche Männer« an, die »niemals einem demokratischen Verein« beiträten.41 Diese Formulie­ rung spiegelt die Instrumentalisierung kirchlicher und säkularer Ideen durch die ländlichen Unterschichten in ihrem Konflikt mit der Obrigkeit. Für die Besitzklasse der Lehnlandbauern entschied ihre Orientierung an der Besitzstandswahrung und Erweiterung von Hof und Scholle ohnehin ihr politisches Votum im Einzelfall. Die selektive Rezeption der Unter­ schichten sprengte ihrerseits weder die korporative Besitzstands- noch die Kirchgemeinde. Die Frömmigkeit, der Antisemitismus und die Deutschtü­ melei der Unterschichten - der Begriff des Nationalismus erscheint für die Äußerungen der Kriegervereinsmitglieder viel zu politisch und konkret sprengte weder die Regeln der dörflichen Politik noch schloß er die Bauern aus, sondern akzenturierte den traditionellen Gemeindeprotest in die Rich­ tung einer antiliberalen Obrigkeits- und Sozialkritik.42 Neben dem Antiet­ atismus als Struktur des traditionellen Gemeindeprotestes hatte der Einfluß der Unterschichten auf seine Ziele den vorläufigen Höhepunkt seiner Konjunktur erreicht. Für die Parteien des Kaiserreiches, die um die ländlichen Wähler warben, barg diese Konstellation ein unlösbares Dilemma. Sie mußten sich der zunehmend national gefärbten Rhetorik des traditionellen Gemeindepro­ tests annehmen. Die ländliche Bevölkerung blieb aufgrund der bäuerlichen Besitzinteressen, der kirchlichen Bindung und der Rezeption der nationa­ len Rhetorik seitens der Unterschichten für andere politische Argumente unempfänglich.43 Die sie vertretenden Parteien und Vereine waren zugleich zu einer ständigen Untermauerung ihrer oppositionellen Haltung gezwun­ gen, um ihre Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren. Die Agrar- und Gewerbe­ krise der 1870er Jahre tat ein übriges, den um die ländlichen Wähler werbenden Parteien eine oppositionelle Haltung gegenüber der sich gerade erst etablierenden bürgerlichen Marktgesellschaft aufzuzwingen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

289

In England44 etwa spielte nicht nur ein prinzipieller Antietatismus auf­ grund der unterschiedlichen Genese der englischen Staatsbildung keine vergleichbare Rolle. Der englische Staat wurde im Verlauf des 19. Jahrhun­ dert zu einer über den streitenden Parteien stehenden Institution. Die Symbolik und die Themen des politischen Radikalismus und seine Sozial­ kritik besaßen zwar ebenfalls bis in das 18. Jahrhundert zurückreichende Traditionsstränge, auf die jedoch besonders der politische Liberalismus und die entstehende Arbeiterpartei zurückgreifen konnten, weil sich die ländli­ chen Wähler ihrer materiellen Interessenlage nach schließlich in wenigstens zwei verschiedene Lager gespalten hatten. Auch in England bestimmte zwar bis weit in das 19. Jahrhundert hinein die Abhängigkeit von den Pächtern das soziale und politische Verhalten der ländlichen Bevölkerung. Der politischen Emanzipation der Landarbeiter und Parzellenbesitzer von den großen Pächtern und den Gutsbesitzern durch die Wahl- und Verwal­ tungsreformen seit den 1860er Jahren ging jedoch ihre kulturelle Emanzi­ pation durch die Einwirkung des protestantischen Nonkonformismus seit den 1840er Jahren voraus, der seinerseits zugleich eine der bedeutendsten Integrationsklammern des politischen Liberalismus war. Die Stimmen der ländlichen Arbeiterschaft fielen daher bei den Wahlen seit den 1880er Jahren häufig den Liberalen zu, während Pächter und Gutsbesitzer die Konservativen wählten. Die ländliche Gesellschaft lieferte beiden Parteien ein vergleichsweise stabiles Wählerreservoir. Für eine nationale und zu­ gleich antiliberale Obrigkeits- und Sozialkritik blieb während der Erweite­ rung des englischen Wahlrechts und der Formierung der konservativen und liberalen Partei seit den 1860er Jahren kein Raum. Daran änderte die Krise der englischen Landwirtschaft, die von der Konkurrenz billigerer Getreide­ produzenten ebenso wie die deutsche betroffen war, kaum etwas.45 Demgegenüber erhielt sich in den ländlichen Gegenden Frankreichs bei all ihrer sozialen, agarischen und kulturellen Heterogenität die Abhängig­ keit der Parzellenbesitzer und Landarbeiter von örtlichen Honoratioren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die agrarischen Erhebungen der Revoluti­ on von 1848/49 entstanden daher, wie auch der deutsche soziale Protest dieses Zeitraums, als traditionaler Abwehrmechanismus gegen den wirt­ schaftlichen Wandel und den modernisierenden Staat. Obwohl die Abwan­ derung aus den ländlichen Gebieten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­ derts die Sozialstruktur ländlicher Gemeinden nachhaltig veränderte, wirkte diese Abwehrhaltung vereinzelt bis in die politische Mobilisierung der Dritten Republik nach. Die Instrumentalisierbarkeit des ländlichen Antisemitismus zählte zu den Konsequenzen ländlicher politischer Mobili­ sierung.46 In Deutschland erhielt im 19. Jahrhundert nur eine politische Partei die Chance, die Frömmigkeit und die Obrigkeits- und Sozialkritik der ländli290 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

chcn Bevölkerung zu bündeln, ohne zugleich den Zusammenhalt der Gemeinden zu bedrohen und dadurch an die Grenzen der dörflichen Politik zu stoßen. Das war das Zentrum. Die ländliche katholische Bevölke­ rung wurde in der Auseinandersetzung mit dem politischen Liberalismus und dem Staat seine verläßlichste Wählerbasis.47 Die Sozialdemokratie eroberte eine vergleichbar verläßliche Klientel auf dem Lande nur dort, wo sich städtische Arbeiter in stadtnahen Gemeinden angesiedelt hatten48 oder die bereits bestehende Polarisierung von Herr­ schaft und Untertänigkeit und die Entstehung marktbedingter Klassen einen Keil zwischen Bauern und Unterschicht getrieben hatte. In den politischen Auseinandersetzungen in Ostholstein standen die Bauern auf der Seite der Gutsbesitzer, während sogar die Frömmigkeit der Unter­ schichten im Lassalle-Kult für die Arbeiterpartei in die Wagschale fiel.49 In den Gemeinden des ehemaligen Fränkischen und Oberrheinischen Reichskreises bot sich demgegenüber die Unterstützung derjenigen politi­ schen Größen als erfolgversprechender Weg für die politischen Parteien an, die von jeher gegen die eigene Obrigkeit ausgespielt worden waren - das Reich und schließlich die Nation. Angesichts des stetigen Bedeutungswan­ dels dieser Topoi und ihrer Instrumentalisierung durch unterschiedliche Gruppierungen im 19. Jahrhundert wechselte die ländliche Bevölkerung stetig ihre Loyalität.50 Während in der Revolution von 1848/49 Konstitutionelle und Demo­ kraten die Ablösungsfrage mit der Reichs- und Nationsrhetorik verbinden und die ländliche Bevölkerung in Baden, Franken und selbst Kurhessen, wo ein eigener Landespatriotismus für den angestammten Herrscher dem entgegenstand, partiell für sich gewinnen konnte, verknüpften im Kaiser­ reich nacheinander Nationalliberale, Konservative und diverse Protestpar­ teien diese Rhetorik mit der Kritik an Markt und liberaler Gesellschaft. Der Antisemitismus ging in die Rhetorik dieser Reichstreue seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ein und tauchte besonders im Zusammenhang mit Partizipationsforderungen gegenüber der Obrigkeit auf. Aufschluß­ reich ist besonders die erfolgreiche Rhetorik des Hessischen und des Deutschen Bauernbundes gegen die Junker und die »Herren«, die mit bemerkenswerter Unbekümmertheit an das Stereotyp des »Feudalsattels« aus der Revolutionszeit anknüpfte. Die bereits im 18. Jahrhundert weit über ihre tatsächliche materielle Bedeutung51 empfundene Benachteiligung gegenüber der Obrigkeit und ihren Beamten wirkte nicht nur in der Rhetorik des traditionellen Gemeindeprotestes und daher auch der Bauern­ bünde nach, sondern beeinflußte sogar direkt die Argumentation von Unterschichtmitgliedern wie dem Maurer Boppert oder dem Butterhänd­ ler Bohnert. Der Erfolg und die Langlebigkeit dieser Rhetorik lassen sich daher nicht allein mit ihrer Funktionalität für die dörfliche Politik erklären, 291 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

in der sie Bauern und Tagelöhner gegenüber äußeren Gegnern zusammen­ führte. Vielmehr ließ sich der Topos von der alles verschlingenden Herr­ schaft mit biblischer Obrigkeitskritik verbinden. Er sprach damit zugleich die Frömmigkeit der Unterschichten an und repräsentierte ihre sozialen Interessen, so wie sie sich im Rahmen der dörflichen Politik darstellten. Die Verbindung von Frömmigkeit mit sozialem, durch die Residuen überkom­ mener Herrschaftsverhältnisse geschärftem sozialem Protest verhalfen der nonkonformistischen Gewerkschaftsbewegung in Norfolk und Suffolk wie den Sozialdemokraten in Ostholstein als Interessenvertretung zu einer stabilen Gefolgschaft. Die konfessionelle, soziale und politische Schärfe der Konfrontation zwischen protestantisch-liberaler Beamtenschaft und katho­ lischer ländlicher Bevölkerung sicherte dem Zentrum selbst unter der sozial heterogenen katholischen Landbevölkerung Badens und Frankens eine stabile Gefolgschaft. Für die beiden sozialen Klassen der protestantischen Bevölkerung im alten Fränkischen und Oberrheinischen Kreis ergab sich keines dieser beiden Kontinuitätsmomente politischer Mobilisierung. Ein steter Wechsel der Protestpartei war die Folge.

4.3. Ausblick: Ländliche Sozial- und Obrigkeitskritik und parteipolitischer Nationalismus im 20. Jahrhundert in Mittel- und Südwestdeutschland Die Frage nach dem Verhältnis der ländlichen evangelischen Bevölkerung zu Staats- und systemkritischen Parteien im 20. Jahrhundert stellt sich am Ende dieser Untersuchung fast zwangsläufig angesichts der Mobilisierbar­ keit dieser Wähler durch Vorläufer der »konservativen Revolution« vor dem Ersten Weltkrieg und der Bedeutung dieses Bevölkerungsteiles für den Durchbruch der NSDAP zur Massenpartei seit 1930. Dieser Durchbruch wurde wesentlich von evangelischen ländlichen Wählern und der sich intensivierenden Staatskritik ihrer Organisationen seit dem Beginn des Ersten Weltkrieges getragen und durch die Lösung des hessen-nassauischen Landbundes von der DNVP und seine Suche nach radikaleren Protestalter­ nativen nach 1928 angeführt. Franken und Baden waren gleichfalls Reichs­ tagswahlkreise mit einer überdurchschnittlich großen - in Baden gemessen an dem bedeutenden Anteil der katholischen Bevölkerung - Anhänger­ schaft der NSDAP. Die Empfänglichkeit des traditionellen Gemeindeprote­ stes für eine Mischung aus konservativen und zugleich gegen die Obrigkeit und den Markt gerichteten politischen Parolen, wie sie die Protagonisten der »konservativen Revolution« in verschiedenen Färbungen anboten, 292 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

unterstreicht ihre Mobilisierbarkeit für systemkritische Losungen von rechts.52 Die ältere These von einem obrigkeitlich verformten deutschen Sonder­ weg ist in der jüngeren Forschung jedoch umformuliert worden.53 Umge­ kehrt wurde das eigenständige Selbstbewußtsein des deutschen Bürger­ tums auch im Vergleich mit anderen westeuropäischen Bürgertümern54 betont. Einige der jüngeren Studien, die sich dennoch nach wie vor mit den Wurzeln von Nationalismus und Antisemitismus in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert befassen, wendeten sich daher von der mit der älteren Sonderwegsthese verknüpften Sozial- und Verfassungsgeschichte ab und einer mentalitätsgeschichtlich verklausulierten Geistesgeschichte zu.55 Die Suche nach verfassungs- und sozialgeschichtlichen Besonderheiten der deutschen Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert, die nicht nur, aber auch dazu beitragen, die Stärke des deutschen parteipolitischen Nationalismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu erklären, muß deswegen aber nicht abgebrochen werden. Ohne die beträchtlichen Wandlungsprozesse seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu leugnen, besaß die Koexistenz zweier sozialer Klassen in den Landgemeinden Mittel- und Südwest­ deutschland und ihre Opposition gegen den Staat über den Ersten Welt­ krieg hinaus eine beträchtliche Kontinuität.56 Die ältere Studie Rudolf Heberies über die Kontinuität zwischen dem antietatistischen Protest im Kaiserreich und der nationalsozialistischen politischen Mobilisierung in den 20er und 30er Jahren in Schleswig-Holstein, die auf diesen Tatbestand hinweist, wurde zwar präzisiert, jedoch nicht falsifiziert.57 Allerdings stellt weder die Studie Heberies noch die vorliegende Unter­ suchung eine direkte Verbindung zwischen dem Sozial- und Obrigkeitspro­ test der Gemeinden und der Wahl nationalistischer Parteien fest. Schon die Werthaltungen der ländlichen Bevölkerung deckten sich nicht mit dem modernen Nationalismus der Oberlehrer und Professoren, Parteifunktio­ näre und Publizisten. Der Integration der Obrigkeits- und Sozialkritik der sozial heterogenen evangelischen dörflichen Bevölkerung durch die Partei­ en und Verbände des radikalen Nationalismus steht deshalb die immer wieder festgestellte Resistenz gemeindlicher Ordnungsmuster gegenüber dem modernen Nationalismus und Antisemitismus dieser Parteien und Verbände gegenüber.58 Diese Befunde verbieten, von einer nationalisti­ schen Massenbewegung auf dem Lande sui generis zu sprechen. Die Befunde dieser Untersuchung erlauben ebensowenig, von dem ländlichen Obrigkeits- und Sozialprotest direkt auf die Wahl von Parteien mit nationa­ listischen oder antisemitischen Programmen zu schließen. Sie erklären nur die Bedingung der Möglichkeit dieser Wahloption, weil die Gemeinsamkei­ ten zwischen der nationalistischen parteipolitischen Rhetorik und dem traditionellem Gemeindeprotest, vor allem weil die neue Rhetorik von 293 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

rechts konservative und antietatistische Topoi verband, besonders groß waren. Das Bündnis der Gemeinden mit den seit den 1890er Jahren immer wieder auf dem Lande erfolgreichen unterschiedlichen Protestparteien war jedoch nie von langer Dauer, weil auch diese Protestparteien die materiel­ len Ziele der Bauern und Tagelöhner schon mittelfristig nicht befriedigen konnten.59 Das Verhältnis zwischen den nationalistischen, häufig nicht nur milieu­ übergreifenden, sondern sich geradezu gegen die traditionellen Milieus wendenden Parteien und Verbänden und ihrer ländlichen Klientel ist jedoch nicht notwendig und ausschließlich als Zersetzung der vorhandenen Werthaltungen und Ordungssysteme zu verstehen. Es läßt sich auch als das Nebeneinander der modernen, verschiedene soziale Klassen nur oberfläch­ lich und zeitweilig integrierenden Volkspartei neuen Typs mit ganz unter­ schiedlich konstituierten Wählergruppen beschreiben.60 Diese Wähler mochten durch die Bildung marktbedingter Klassen, durch die Residuen überkommener Herrschaftsverhältnisse, durch die Bedeutung traditionel­ ler Frömmigkeit oder durch eine Gemengelage mehrerer dieser Dimensio­ nen Milieus, soziale Klassen oder Wählerlager bilden. Während im Fall des katholischen Zentrums noch am ehesten von einem geschlossenen Milieu oder wenigstens von einigen wenigen solcher Milieus die Rede sein mag, trifft dies auf die Vielzahl der evangelischen nichtsozialistischen Parteien kaum zu. Der an ihnen entwickelte Begriff des Wählerlagers, der seiner Genese nach eine wesentlich größere Heterogenität der Anhänger eines politischen Parteienspektrums konzediert als der des Milieus, würde sich mit der lockeren Affilierung der ländlichen evangelischen Wähler auf dem Lande mit wechselnden Protestparteien decken.61 Die Koexistenz eines modernen parteipolitischen Nationalismus in einer der modernsten bürgerlichen Gesellschaften Europas mit einer ländlichen Massenbasis, deren Werthaltungen durch traditionelle Frömmigkeit und traditionellen Antietatismus geprägt wurden, darf jedoch nicht mit dem Fortbestand einer gegenüber den ideologischen Unbilden der Moderne resistenten und deshalb heileren ländlichen Mentalität verwechselt werden. Erstens gilt es, die Bedeutung der modernen nationalistischen Gedanken für die landarmen protestantischen Wähler seit der Jahrhundertwende genauer zu erforschen. Wenigstens für die hessischen Unterschichten bilde­ ten die Kriegervereine möglicherweise auch eine Stätte der besonders intensiven Rezeption nationalistischer Gedanken seit den 1890er Jahren. Zweitens bereiteten in Franken und Hessen sowohl die katholischen als auch die reformierten Christen ihren jüdischen Nachbarn seit den 1930er Jahren die Hölle auf Erden, auch ohne dafür auf den modernen Rasseanti­ semitismus und gesteigerten Nationalismus angewiesen zu sein. Partei und Staat ermunterten und ließen gewähren. Sie fanden unter vielen Dorfbe294 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

wohnern willige Verbündete. Traditioneller Antisemitismus, Antietatismus und traditionelle Sozialkritik blieben von der nationalistischen Ideologie zu unterscheidende Werthaltungen, die jedoch nicht nur genügend oberfläch­ liche Gemeinsamkeiten mit dem modernen Nationalismus für die Wahl­ kämpfe besaßen, sondern sich mit ihm in den 1930er Jahren schließlich auf furchtbare Weise ergänzten. 62 Diese gegenseitige Ergänzung der neuen Ideologie und der alten Ressentiments zeigte sich am eindringlichsten bei den christlichen Kindern, die ohnehin schon um die Jahrhundertwende ihren jüdischen Mitschülern häufig das Leben schwer gemacht hatten. Der hessische Landjude David Grünspecht erinnert sich an ein Gespräch mit dem siebenjährigen Sohn eines christlichen Nachbarn aus dem Jahr 1937. Er lobte dessen neuen blauen Leinenanzug, worauf das Kind erwiderte, es habe noch einen schöneren auf dem Dachboden hängen. »Esisengäle [»Gäle Rock« meint die SA-Uniform]. Er hängtim Bode, und es hängt noch ebbes dabei.« »Was hängt denn noch dabei?« »En Gummiknüppel hängt dabei. Jung, wenn ich der Matze ο dunn und den Gummiknüppel nehm, da geht‹s in die Häuser der Juden, Jung, da gitz ere, immer gib ihm.« »Wo gehts Du denn zuerst hin?« »Net bei Euch, zuerst geht's bei dem Judenlehrer un dann zu Liebmann.«63

295 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Anhang

Tabelle 1: Prosopographisch rekonstruierte Gemeindekonflikte und ande­ res quantitativ ausgewertetes Material je Zeitraum Zeitraum

Zahl der prosopographisch rekonstruierten Gemeinde­ konflikte mit der Herrschaft

Anderes quantitativ ausgewertetes Material 77 Konflikte um landesherrliche Amtsträger

1648-1806

10

1813-1848

7

857 Kleinkriminalitätsdelikte in drei Kreisen 1839, 1842 und 1843 607 kurhessische Petitionen

1867-1914

5

Wahlen 1867-1912 Kommunikantenquoten 18871907 Schichtung der 435 Mitglieder der Kriegervereine der Gemeinden

Quellen (zu Tabelle 2): Preußische Statistik, Band 76, Die Ergebnisse der Berufszählung vom 5. Juni 1882, III: Landwirthschaftsbetriebe sowie Hauptberuf und Religionsbekenntnis der Bevölkerung, Berlin 1885; Band 142, Berufs- und Gewerbezählung vom 14. Juni 1895, II.Theil, Berlin 1902; Königliches Statistisches Landesamt Bayern (Hg.), Bayerns Entwick­ lung nach den Ergebnissen der amtlichen Statistik seit 1840, München 1915; Statistisches Landesamt (Württemberg) (Hg.), Statistisches Handbuch für Württemberg, 23, Stuttgart 1923; Großherzogliches Statistisches Landesamt (Baden) (Hg.), Statistisches Jahrbuch fiir das Großherzogtum Baden, 37, Karlsruhe 1909.

296 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Tabelle 2: Betriebsgrößenklassenverteilung in Preußen, Baden, Bayern und Württemberg, 1882-1895 (in Prozent aller Betriebe) › 5 ha

1882 2-5 ha

‹ 2 ha

› 5 ha

1895 2-5 ha

‹ 2 ha

Ostpreußen

32,2

13,9

53,9

29,4

13,5

57,1

Westpreußen

27,8

11,6

60,6

27,8

11,9

60,3

Pommern

24,1

12,6

63,3

25,9

12,2

61,9

Posen

30,9

12,2

56,9

27,4

11,5

61,6

Schlesien

25,2

23,2

51,6

26,7

22,7

50,5

Sachsen

20,5

12,9

66,5

19,6

11,9

68,4

Brandenburg

24,5

12,8

62,7

24,3

13,5

62,2

Schleswig-Holstein

32,3

12,0

55,7

33,7

11,6

54,7

Hannover

22,3

18,4

59,3

22,6

19,2

58,2

Westfalen

15,4

14,7

69,9

14,6

13,8

71,6

Hessen-Nassau

18,9

22,4

58,6

18,9

22,7

58,3

Rheinland

14,7

17,3

68,0

14,6

16,4

68,9

Hohenzollern

26,9

33,4

39,7

31,8

35,9

32,1

Bayern

37,2

24,3

38,5

39,5

24,9

35,6

Württemberg

20,1

26,3

53,6

21,4

27,5

51,1

Baden

17,1

28,6

54,3

14,8

26,1

59,1

Daten für 1907.

297 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Tabelle 3: Verteilung der Gesamtbetriebsfläche auf Betriebsgrößenkkssen in Preußen, 1895 (in Prozent der landwirtschaftlichen Betrebs­ fläche) Kleinbauern 2-5 ha

Bauern 5-20 ha

Großbauern 20-100 ha

Güter ›100 ha

(Gutsdominierte Gebiete: Güter mit ›40% der Fläche, Kleinbauern ‹5%) Ostpreußen

3,5

13,7

37,5

43,0

Westpreußen

3,6

17,2

32,7

43,7

Pommern

3,1

14,4

21,5

58,5

Posen

3,4

18,7

20,4

54,9

(Guts- und Großbäuerliche Gebiete: Güter 17-39%, Güter und Großbauern ›50%) Schlesien

9,5

25,7

21,2

39,4

Brandenburg

5,1

19,9

32,8

38,4

Sachsen

6,6

23,1

35,9

28,2

Schleswig- Holstein

3,6

17,2

60,4

17,7

(Bäuerliche Gebiete: Güter ‹ 10%, Kleinbauern 10-20%) Hannover

10,8

32,8

44,2

6,4

Westfalen

13,2

35,3

35,1

7,9

Hessen-Nassau

19,2

38,9

22,1

8,9

Rheinland

18,9

41,1

22,1

5,3

(Kleinbäuerliche Gebiete: Kleinbauern› 20%, Großbauern und Güter ‹20%) Hohenzollern

23,2

50,4

19,5

1,7

Quellen: Preußische Statistik, Band 142, Berufs- und Gewerbezählung vom 14. Juni 1895, II.Thcil, Berlin 1902.

298 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35780-5

Tabelle 4: Betriebsgrößenklassenverteilung, Zahl der landwirtschaftlich Beschäftigten und Erwerb von Parzellenbesitzern bis 2 ha in den preußischen Provinzen, 1882 Pro­ vinz

3 4 2 Klein­ Unter­ Betrieb bauern schicht insg. %v. ab 5 ha 2-5 ha